Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.Brauchen Sie noch länger für Ihre wechselseitige Be-grüßung? Sonst würde ich den Versuch unternehmen, indie vereinbarte Tagesordnung einzutreten.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Erhöhung der Sicherheit informations-technischer Systeme
Drucksache 18/4096Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
Drucksache 18/5121– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der GeschäftsordnungDrucksache 18/5122Dazu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Dass wir nicht über ein theoretisches Problem reden,sondern über eine handfeste Herausforderung, ist auchuns selber in den letzten Wochen hinreichend deutlichvor Augen geführt worden. Deswegen nutze ich die Ge-legenheit gerne, jedenfalls die anwesenden Kolleginnenund Kollegen auf die Unterrichtung aufmerksam zu ma-chen, die ich gestern nicht zum ersten Mal nach der in-tensiven Befassung im Ältestenrat auf der Basis der Un-terrichtung durch unsere dafür zuständige Kommissionfür Informations- und Kommunikationsdienste an alleKolleginnen und Kollegen verschickt habe.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Das ist of-fensichtlich unstreitig und damit so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demBundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!IT-Sicherheit, Cyberwar, Cybercrime, Cyberdefence: Anmarkigen Schlagworten mangelt es nicht, wenn es da-rum geht, die Herausforderungen der Digitalisierung zubeschreiben. Manche sprechen von gestohlenen Identitä-ten. Ich halte das für Unsinn. Die Identität wird nicht ge-klaut. Es geht um den Zugriff auf Passworte und aufGeld, aber nicht um gestohlene Identitäten. Wir solltenmit unserer Sprache aufpassen.Gehackte Datenbanken, sabotierte Infrastrukturen, aus-gespähte Unternehmen und ein ausgespähter DeutscherBundestag: Alle diese Szenarien prägen die öffentlicheDebatte. Es reicht aber nicht aus, solche Herausforderun-gen wortreich zu bestaunen oder Ängste zu schüren. Esgibt auch keinen Königsweg zur IT-Sicherheit. Es gibtkeinen Big Bang oder eine einzelne Maßnahme, mit dervon heute auf morgen IT-Sicherheit hergestellt ist.Es ist wie auch sonst in der Politik: Man muss die He-rausforderungen analysieren und dann Schritt für Schrittdie Lösungen angehen. Mit dem Entwurf des IT-Sicher-heitsgesetzes, der heute in zweiter und dritter Lesung be-raten wird, gehen wir einen wichtigen Schritt in Rich-tung mehr IT-Sicherheit, und dafür bin ich dankbar.
Meine Damen und Herren, wie sich der Staat im Cy-berraum strategisch aufstellt, was der einzelne Bürger tutund was die Wirtschaft tut, das wird uns lange und inten-siv beschäftigen, in vielen Jahren, die vor uns liegen. ImHinblick auf die Dynamik der Entwicklungen der Tech-nik werden wir wohl auch unsere Lösungsansätze, diewir jetzt haben oder die wir gestern hatten, neu hinterfra-gen müssen. Wir werden uns an schnellere Rhythmenstaatlicher Reaktion gewöhnen müssen.Unter dem Schlagwort „Cybersicherheit“ geht es umFolgendes: Es geht zunächst um IT-Sicherheit im Sinne
Metadaten/Kopzeile:
10564 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
(C)
(B)
von Safety, das heißt um die Härtung und den Schutz un-serer Systeme und Strukturen.Daneben geht es um die Verhinderung und Verfol-gung von Cyberkriminalität durch Polizei und Staatsan-waltschaften. Ich will hierzu nur noch einmal einen Satzmit Blick auf die Opposition sagen: Ich finde, der demo-kratische Rechtsstaat hat im Internet nicht mehr, aberauch nicht weniger Rechte als außerhalb des Internets,und das sollte der Maßstab für gesetzgeberisches Han-deln sein.
Wir müssen unsere Unternehmen vor Sabotage undAusspähung schützen. Der Wirtschaftsstandort Deutsch-land ist durch die Angriffe Privater, aber auch durch dieAngriffe anderer Staaten massiv gefährdet.Schließlich geht es auch um die Erwartung, dass sichder Staat mit seinen Einrichtungen selbst sicher undwehrhaft aufstellt.Cybersicherheit dient damit dem Schutz der Bürgerin-nen und Bürger, dem Schutz unserer Wirtschaft und un-serer Innovationsfähigkeit und dem Schutz der Funk-tionsfähigkeit des Staates. Sie ist ein zentraler Bausteinder inneren Sicherheit.Dort, wo wir handeln können, sollten wir das plan-voll, zügig und entschlossen tun, wie mit dem IT-Sicher-heitsgesetz, über das wir heute debattieren. Ich fand dieDebatte darüber mit der Öffentlichkeit schon vor der ers-ten Lesung durch uns im Parlament und auch nach derersten Lesung bei der Sachverständigenanhörung sowiedanach konstruktiv und sachorientiert. Die Ziele undMethoden des Gesetzentwurfs wurden nicht grundsätz-lich infrage gestellt. Den einen ging es zu weit, den an-deren nicht weit genug, aber im Prinzip stößt der Ansatzauf große Zustimmung.Wir müssen die kritischen Infrastrukturen schützen.Kritische Infrastrukturen sind solche Infrastrukturen,die, wenn sie ausfallen, dazu führen, dass es für uns kri-tisch wird – Stichworte: Energie, Wasser, Gesundheits-wesen, Banken, Versicherungen.Die Betreiber kritischer Infrastrukturen werden in Zu-kunft einen Mindeststandard an sicherer IT einrichtenund einhalten müssen und Vorfälle im Bereich der IT-Si-cherheit von erheblichem Ausmaß an das Bundesamt fürSicherheit in der Informationstechnik melden müssen.Wir wissen, das ist peinlich. Wir wollen das so regeln,dass nicht alles öffentlich gemeldet wird. Das soll ge-schehen, damit das Bundesamt für Sicherheit in der In-formationstechnik andere Betreiber kritischer Infrastruk-turen warnen kann.Ein Schaden bei einem Betreiber kritischer Infra-struktur kann zu einem Schaden für die Allgemeinheitwerden. Das wollen wir verhindern; das sind die innereRatio und das Ziel dieses Gesetzentwurfs.
Auch die Sicherheit des Internets insgesamt wirddurch das IT-Sicherheitsgesetz spürbar erhöht werden.Wir reden alle über die Grenzenlosigkeit des Internets.Da ist auch viel dran. Es gibt aber immer noch ein physi-sches deutsches Netz und IT-Systeme, die in Deutsch-land betrieben werden. Bei ihnen setzt unser Entwurf desIT-Sicherheitsgesetzes an.Der Gesetzentwurf passt in die internationale Diskus-sion. Wir verhandeln in Europa über eine Richtlinie derEuropäischen Union, die europäische NIS-Richtlinie.Sie ist unserem deutschen Gesetzentwurf praktisch nach-gebildet. Das ist IT-Sicherheit made in Germany für dieEuropäische Union. Was wir hier praktisch machen, istdie Vorwegumsetzung einer Richtlinie, die bald kommt.Natürlich haben wir das so verhandelt, dass beides kom-patibel ist. Das hat es bisher nur selten gegeben, aber wirhaben keine Zeit zu verlieren.
Meine Damen und Herren, was wir hier schaffen, istauch wichtig für das, was wir „Internet der Dinge“ nen-nen, für Industrie 4.0, für automatisiertes Fahren, für Lo-gistikketten und für vieles andere mehr. Ohne IT-Sicher-heit wird das nicht funktionieren. Niemand wird sich inein Auto setzen, das automatisch fährt, wenn dieses Fah-ren von außen leicht manipuliert werden kann. Niemandwird sich auf eine digitalisierte Logistikkette verlassen,wenn die einzelnen Schritte dieser Logistikkette und dieAbläufe, die damit verbunden sind, von außen leicht an-gegriffen werden können. Ohne IT-Sicherheit wird eseine Digitalisierung der Industrie und unseres Lebensnicht geben können. Deswegen ist das ein zentralerPunkt, damit die Digitalisierung überhaupt ein Erfolgwird.Dem Deutschen Bundestag liegt heute ein Gesetzent-wurf vor, der durch die Koalitionsfraktionen verändertund verbessert wurde, wofür ich dankbar bin. Es wird sosein, dass Hard- und Softwarehersteller in die Abwehrvon Cyberangriffen auf kritische Infrastrukturen mitein-bezogen werden. Es wird so sein, dass die Rolle desBundesamts für Sicherheit in der Informationstechnikgestärkt wird, auch gegenüber den Bundesressorts. Eswird Sanktionen und Bußgelder geben. Das war ein um-strittener Punkt. Aber wie auch immer man das sieht:Wir werden durch die europäische Richtlinie sowiesoBußgelder bekommen. Deswegen ist es nicht schädlich,das bereits jetzt einzuführen. Ich bin dankbar für dieseÄnderungen.Eines ist mir wichtig: Auch mit diesen Änderungenbleibt es grundsätzlich bei dem, wie wir es nennen, ko-operativen Ansatz dieses IT-Sicherheitsgesetzes. Washeißt das? Melden und Warnen, Standards und Siche-rungsmaßnahmen – das kann der Staat gerade hier nichtallein. Das IT-Sicherheitsgesetz will ein kooperativesVerhältnis zwischen dem Staat und der Wirtschaft beider Entwicklung der Standards, bei der Zertifizierungder Standards, bei der Weiterentwicklung der Standardsund beim Aufklären von Schadangriffen. Deswegen istdies auch methodisch ein interessantes, ein modernesund vielleicht für andere Politikbereiche wegweisendesGesetz.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10565
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
(C)
(B)
Ich möchte aus meiner Sicht ein Wort zum Thema„Angriffe auf den Bundestag“ sagen. Viele wissen dasnicht: Die Bundesregierung, die Bundesverwaltung be-treibt mit den Netzen des Bundes ein physisch getrenntesNetz. Auch dort haben wir vor einiger Zeit die Entschei-dung getroffen, dass wir uns von einem bestimmten aus-ländischen Betreiber lösen wollen. Mit nicht unerhebli-chen Geldmitteln sorgen wir dafür, dass das Netz künftignur durch deutsche Hersteller und Betreiber betriebenwird. Wir sind, wie Sie wissen, auch dabei, beim ThemaIT-Konsolidierung, also bei dem Zusammenführen derFachverfahren, dafür zu sorgen, dass wir gemeinsamerals bisher vorgehen. Der Schutzschild, den die Bundes-regierung und die Bundesverwaltung um sich gezogenhaben, funktioniert, und er funktioniert ziemlich gut.
Ich würde nicht sagen, dass er absolut sicher ist, aber erfunktioniert ziemlich gut. Das BSI hilft uns dabei.Natürlich respektiere ich er – ich halte das für vollverständlich –, dass der Bundestag einen anderen Weggegangen ist. Wir als Bundesregierung sind bereit – wirtun es auch –, durch das Bundesamt für Sicherheit in derInformationstechnik zu helfen.
Ich bin auch dafür, da einiges dafür spricht, dass es sichum einen Angriff eines ausländischen Nachrichtendiens-tes handelt, dass auch das gesetzlich dafür zuständigeBundesamt für Verfassungsschutz seine Hilfe anbietet.
All das sind aber Angebote. Die Entscheidung da-rüber, wie von diesen Angeboten Gebrauch gemachtwird und wie es mit dem Netz weitergehen soll, trifft al-lein der Deutsche Bundestag. Ich werde dazu weder in-tern noch öffentlich irgendwelche Ratschläge geben. Ichwollte nur einmal erläutern, dass die Netze getrennt be-trieben werden.Mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, gehtDeutschland einen wichtigen Schritt in Richtung mehrSicherheit und Verlässlichkeit, aber auch einen wichti-gen Schritt in Richtung Modernität und Technologieof-fenheit. Aber: Das ist nur ein wichtiger Rechtsrahmen.Ein nächster wird folgen. Es spricht viel dafür, dass wiram kommenden Montag bei dem Treffen der europäi-schen Innenminister eine abschließende Stellungnahmedes Europäischen Rates für die Datenschutz-Grundver-ordnung bekommen mit der Folge, dass dann der soge-nannte Trilog mit dem Parlament beginnt. Ich hoffe, dassdas Verfahren bis Ende des Jahres abgeschlossen seinwird und wir dann in der Europäischen Union eine Da-tenschutz-Grundverordnung haben, die durch mehr Da-tenschutz auf europäischer Ebene für mehr Sicherheit imInformationszeitalter sorgt.Dazu muss aber auch noch etwas anderes kommen.Digitale Verwundbarkeit hat auch mit digitaler Sorglo-sigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu tun. Man kannnoch so gute Gesetze machen, man kann noch so guteRahmenbedingungen schaffen, ohne verantwortungsvol-les und sicheres Fahren im Netz geht es nicht. Ich nenneIhnen ein Beispiel, das Sie alle kennen: Wir haben imKfz-Bereich Sicherheitsvorschriften. Wir verlangen, dassman einen Sicherheitsgurt anlegt. Wir verlangen Airbags,Knautschzonen und all das. Das ist der staatliche Be-reich. All das nützt nichts, wenn man unsicher Autofährt. Dann gefährdet man sich, und das führt zu Unfäl-len. Deswegen gehört zu all dem, was der Staat macht,was wir tun und tun wollen, ein verantwortliches eigenesVerhalten der Bürgerinnen und Bürger. Da ist noch vielzu tun. Das hat etwas mit Bildung und Aufklärung zutun, aber – wie gesagt – auch mit dem, woran wir vondiesem Pult aus immer gern appellieren, nämlich mit derEigenverantwortung der Bürger. Ohne diese gibt es aufDauer keine IT-Sicherheit in unserem Land.
– Absolut. Denjenigen, die sich ordentlich verhalten,wird es besser gehen als denjenigen, die sich nicht or-dentlich verhalten. Das ist im Internet so wie auch sonstin der Welt, und das finde ich auch richtig so.Wenn ich dies noch als vorletzten Gedanken sagendarf: Ich halte viel davon, dass wir uns Versicherungslö-sungen nähern. Bei anderen Sachverhalten haben wirauch Versicherungslösungen. Wenn ich ein Fahrrad nichtabschließe, dann sagt die Diebstahlversicherung: DerSchaden wird nicht ersetzt. Wenn ich es abschließe, wirdder Schaden ersetzt, wenn das Fahrrad trotzdem geklautwird. Auf Dauer müssen wir wohl dazu kommen, dassderjenige, der sich sicherer verhält, einen Vorteil hat ge-genüber dem, der sich unsicherer verhält. Dafür sind zi-vilrechtliche Versicherungslösungen oft besser als staat-liche Eingriffslösungen. Ich finde, daran müssen wirauch arbeiten.
Am heutigen Tag aber konzentrieren wir uns auf dasIT-Sicherheitsgesetz, das unsere kritischen Infrastruktu-ren schützt. Die Menschen in Deutschland vertrauen da-rauf, dass sie in einem sicheren Land leben. Sie wissen,dass es keine absolute Sicherheit gibt. Sie verlangen underwarten, dass wir das uns Mögliche tun, sie zu schüt-zen. Das gilt im normalen Leben genauso wie im Inter-net. Mit dem IT-Sicherheitsgesetz werden wir einenwichtigen Schritt in diese Richtung machen. Ich hoffeauf eine breite Zustimmung zu diesem Gesetz.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Pau für dieFraktion Die Linke.
Metadaten/Kopzeile:
10566 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
(C)
(B)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir beraten heute final über ein Gesetz zurErhöhung der Sicherheit informationstechnischer Sys-teme, kurz IT-Sicherheit. Ein solches Gesetz ist überfällig.Immer mehr Prozesse und Abläufe sind computergestütztund basieren auf Datennetzwerken. Die Digitalisierungder Gesellschaft nimmt zu; rasant und umfassend.IT-Pannen oder gar gezielte Angriffe könnten ver-heerende Folgen haben. Man stelle sich nur einmal denAusfall der Wasser- oder der Energieversorgung oderwesentlicher Teile des Verkehrs vor. Die gesamte Gesell-schaft käme zum Erliegen. Insofern unterstelle ich, dassalle Parteien ein großes Interesse an einer höchstmögli-chen IT-Sicherheit haben. Die Linke hat es jedenfalls.
Der Gesetzentwurf kommt von der Bundesregierung,und über ihm schwebt ein finsterer Schatten; spätestensseit den Enthüllungen von Edward Snowden über dieMachenschaften der NSA und weiterer Geheimdienste.NSA und Co. beherrschen das Internet und nutzen esweltweit als riesigen Datenstaubsauger in einem bisherunvorstellbaren Ausmaß, und das ist ein Skandal.
Politisch und praktisch handelt es sich um den bislanggrößten Angriff auf Bürgerrechte, auf die Demokratieund auf den Rechtsstaat in der Geschichte der Bundesre-publik. Das heißt auch: Weniger IT-Sicherheit ist kaumdenkbar.Und wie sehen die Reaktionen der Bundesregierungdarauf aus? – Durchaus digital. Vor die binäre Hand-lungsalternative von eins oder null gestellt, entschiedenSie sich für null. Ich finde, das grenzt an Verfassungs-bruch und ist nicht hinnehmbar.
Wer sich nun in den vorliegenden Gesetzentwurf ver-tieft, stößt schnell auf Seltsamkeiten. Vieles, was gere-gelt werden müsste, bleibt ungeregelt. Aber untermStrich bleiben zwei Gewinner: der BND und der Verfas-sungsschutz, also Geheimdienste. Die Linke bleibt da-bei: Ein Wettlauf der Geheimdienste schafft nicht mehrIT-Sicherheit, sondern weniger. Deshalb sagen wir Nein.
Herr Minister, gestatten Sie mir in diesem Zusam-menhang eine Bemerkung zu Ihrem Einwurf zu unsereneigenen Angelegenheiten, zu den Angriffen auf IT-Sys-teme des Bundestages. Es ist eine pure Selbstverständ-lichkeit, dass auch der Deutsche Bundestag die Informa-tionen, die dem Bundesamt für Verfassungsschutz,welches nach dem Gesetz für die Spionageabwehr zu-ständig ist, nach Recht und Gesetz übermittelt werdenmüssen, diesem übermittelt. Genauso halte ich es auchfür eine pure Selbstverständlichkeit, dass das Bundesamtfür Verfassungsschutz dem Deutschen Bundestag und alldenen, die im Moment damit befasst sind, diesen tat-sächlich ernsthaften Angriff abzuwehren und Vorkeh-rungen dafür zu treffen, dass wir besser geschützt sind,seine Erkenntnisse übermittelt, gegebenenfalls auch überschon erfolgreiche Abwehrstrategien in der Auseinan-dersetzung mit dem Angreifer. So weit, so gut. Aber ichverstehe die Pappkameraden nicht, die in den letzten Ta-gen in diesem Zusammenhang aufgebaut wurden. Ichverstehe auch nicht die Aufforderung, der Bundestagsolle doch bitte mit der genannten Behörde kooperieren.
Damit komme ich zurück zum Gesetzentwurf. IT-Si-cherheit ist mehr als Innenpolitik. Deshalb haben für dieLinke zwei Strukturveränderungen Vorrang vor allemanderen.Erstens. Das Bundesamt für Sicherheit in der Infor-mationstechnik, kurz BSI, sollte aus dem Bundesinnen-ministerium herausgelöst und zu einer ressortübergrei-fenden und zeitgemäßen Bundesbehörde entwickeltwerden.
Dazu gehörten ein umfassender Auftrag und klare Quali-tätsansprüche und selbstverständlich auch entsprechendefinanzielle und personelle Ressourcen.Zweitens. Das Amt der Beauftragten für den Daten-schutz und die Informationsfreiheit ist noch weiter auf-zuwerten, von seiner Ausstattung her, aber auch von denKompetenzen, bis hin – darüber sollten wir diskutieren –zu einem Vetorecht.
Wir haben es in dieser Woche erlebt: Bei der Anhö-rung zu einem Gesetzentwurf, mit dem tiefgehend in denDatenschutz eingegriffen wird, nämlich das geplante Ge-setz zum Verfassungsschutz, wurde die Bundesbeauf-tragte schlicht ignoriert: ein Affront wider den Bundes-tag und die Demokratie.
Bündnis 90/Die Grünen haben einen Entschließungs-antrag zum Regierungsentwurf vorgelegt. Er enthält eineumfassende Mängelliste und einen Forderungskatalog.Darauf werde ich aber nicht im Einzelnen eingehen.Schließlich fordern Sie in Ihrem Antrag, den Regie-rungsentwurf abzulehnen und sich dem Komplex IT-Si-cherheit kompetenter zu widmen. Dem schließe ich michan. Auch die Fraktion Die Linke wird das tun.
Ein schlechtes Gesetz schafft nun einmal nicht mehr Si-cherheit im digitalen Zeitalter. Die aber ist für die Bürge-rinnen und Bürger, für die Wirtschaft, für die Gesell-schaft sowie für die Zukunft dringend geboten.Ich danke Ihnen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10567
(C)
(B)
Gerold Reichenbach ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne und anden Bildschirmen! Ein Ende der Durchdringung unseresLebens durch Digitalisierung ist nicht absehbar – das istgenannt worden –: automatisierte Fahrzeuge, Gesund-heitsdienstleistungen, intelligente Fabriken oder gar in-telligente Städte.Sicherheitslücken und Cyberangriffe können dramati-sche Folgen haben. Nehmen wir das von Ihnen genannteBeispiel der immer komplexer werdenden Logistikket-ten. Heute wissen nur noch die Computer, in welchemRegal, auf welchem Schiff oder welchem Lkw sich Wa-ren befinden. Eine Störung oder ein Ausfall von Rech-nern und Netzwerken hätte zur Folge, dass niemandmehr darauf zugreifen kann. Die Waren wären zwarnoch da, aber keiner weiß mehr, wo. Nicht auszudenken,was das für unsere Versorgung bedeutet, etwa mit Nah-rungsmitteln oder Arzneimitteln. Wie wir gerade imBundestag leidvoll erleben, können sich solche Störun-gen nicht nur über Stunden, sondern über Tage oder viel-leicht sogar über Monate hinziehen. Um solche Situatio-nen geht es beim IT-Sicherheitsgesetz, über dessenEntwurf wir heute in zweiter und dritter Beratung bera-ten.Es geht um den Schutz kritischer Infrastrukturen, alsodie Bereiche, die für die Bevölkerung und für die Auf-rechterhaltung unseres Staatswesens elementar sind.Weil die Strukturen im modernen, digitalisierten undvernetzten Zeitalter sehr verwundbar sind, wollen wirmit dem IT-Sicherheitsgesetz verbindliche Mindeststan-dards setzen. In den in Rede stehenden Bereichen geht esnicht nur um die Frage, ob sich Unternehmen selbstschädigen, wenn sie aus Kostengründen auf Sicherheits-maßnahmen verzichten, sondern auch darum, ob damitauch eine Schädigung der Allgemeinheit einhergeht.Aber das betrifft nur eine Säule des Gesetzes. Die Op-position erhebt den Vorwurf, hier handle es sich um einreines Meldegesetz oder hier gehe es nur, wie Sie, FrauKollegin Pau, behaupten, um eine Kompetenz- und Stel-lenerweiterung beim Verfassungsschutz. Zu einem sol-chen Vorwurf kann man eigentlich nur kommen, wennman relativ früh beim Lesen des Gesetzentwurfs aufge-hört und seinen alten ideologischen Katalog herausge-holt hat.
Das Gesetz verstärkt die Pflichten der Telekommuni-kationsanbieter, die eine zentrale Rolle für die Sicherheitim Netz spielen. Wir stärken das Bundesamt für Sicher-heit in der Informationstechnik, BSI, in seiner Funktion,die Bürgerinnen und Bürger, Behörden und Unterneh-men bei der Herstellung von mehr Sicherheit für sichselbst und im Netz zu beraten und zu unterstützen.Durch mehr Aufklärung der Öffentlichkeit soll ein wei-terer Beitrag zur Verbesserung der IT-Sicherheit geleistetwerden. Nicht zuletzt werden wir die Zuständigkeitendes Bundeskriminalamtes zur Bekämpfung von Cyber-kriminalität erweitern.Das Parlament hat – auch hier gilt das Struck’scheGesetz, wonach kein Gesetz den Deutschen Bundestagso verlässt, wie es hineingekommen ist – eine Experten-anhörung durchgeführt. Die Koalitionsfraktionen habenwichtige Anregungen der Experten, die sich alle grund-sätzlich über die Bedeutung und Wichtigkeit dieses Ge-setzes einig waren, aufgenommen. Auch auf europäi-scher Ebene – das wurde bereits genannt – beraten wirzurzeit über eine Richtlinie, die im europäischen Rah-men für mehr Sicherheit im Internet und in den informa-tionstechnischen Systemen sorgen soll; das ist die soge-nannte NIS-Richtlinie. Deswegen haben wir Vorgaben,die diese Richtlinie absehbar enthalten wird, per Ände-rungsantrag der Koalition bereits in den Gesetzentwurfaufgenommen. Das betrifft die Möglichkeit der bußgeld-bewehrten Sanktionen, wenn Betreiber kritischer Infra-strukturen gegen die im Gesetz festgeschriebenen Pflich-ten wie etwa die Meldepflicht verstoßen.Keinerlei Sanktionsbefugnisse vorzusehen, wie vonTeilen der Wirtschaft gefordert, stünde nicht nur im Wi-derspruch zur absehbaren europäischen Richtlinie, son-dern würde auch zu Ungleichbehandlungen führen; dennin der Telekommunikation und im Energiebereich gibt esbereits Sanktionsmechanismen. Schließlich wäre es un-sinnig, ein Gesetz zu beschließen, das für diejenigen, diees nicht befolgen, keine Folgen hätte. Damit verhielte essich wie mit einem Parkverbot ohne Bußgeld.
Das alles widerspricht aber keineswegs dem grund-sätzlich kooperativen Ansatz des Gesetzes, wie es derMinister genannt hat. Für IT-Sicherheit kann Politiknicht alleine sorgen. Wir sind auch wegen der Komplexi-tät der Materie auf die Mitarbeit der Unternehmen undihr Know-how angewiesen. Deshalb binden wir die Un-ternehmen und die Verbände mit ihrem Sachverstandein. Das BSI wird die vorzugebenden Sicherheitsstan-dards gemeinsam mit der Wirtschaft erarbeiten.Während der parlamentarischen Beratungen wurdenvon vielen Stellen die fehlenden Mitwirkungspflichtenvon sogenannten Komponentenherstellern, also den Zu-lieferern von Soft- und Hardware für die Betreiber kriti-scher Infrastrukturen, kritisiert; denn diese Betreibersind bei der Erfüllung der ihnen auferlegten Pflicht,mehr Sicherheit herzustellen, unter Umständen auf dieMitarbeit der Zulieferer angewiesen.Das ist natürlich zuvörderst vertraglich zwischen denUnternehmen und ihren Vertragspartnern zu regeln; aberbei Monopolsituationen oder auch im Streitfall kann esbei der Durchsetzung dieser Mitwirkung durchaus zuSchwierigkeiten kommen. Gerade bei kritischen Infra-strukturen, wie der Stromversorgung, der Nahrungsmit-telversorgung und, und, und, können wir nicht warten,bis die Streitigkeiten auf zivilrechtlichem Wege geklärt
Metadaten/Kopzeile:
10568 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Gerold Reichenbach
(C)
(B)
sind. Deswegen besteht in diesen Fällen – dies ist einerder Änderungsvorschläge, den die Koalition in den Ge-setzentwurf eingebracht hat – eine Anordnungsbefugnisdes BSI gegenüber den Herstellern, die in einem soge-nannten kritischen Fall bei der Beseitigung einer Störungmitwirken müssen.Außerdem haben wir als Ergebnis der Anhörung dieUntersuchungsbefugnisse des BSI und die Zweckbin-dung klarer gefasst. Wir haben explizit klargestellt, dasssie nur für die Erfüllung folgender Aufgaben des BSI ge-nutzt werden dürfen: zur Abwehr von Gefahren für dieSicherheit der Informationstechnik des Bundes, zur Be-ratung und Warnung, zur Erfüllung der Aufgaben desBSI als zentrale Meldestelle für die Sicherheit in der In-formationstechnik bei kritischen Infrastrukturen nach§§ 8 a und 8 b des BSI-Gesetzes – für nichts mehr. DieOpposition mutmaßt, es bestehe dennoch die Gefahr,dass diese Daten auch für andere Interessen verwendetwerden könnten. Dem ist ein klarer gesetzlicher Riegelvorgeschoben.Wenn wir allerdings in einer allgemeinen Verschwö-rungstheorie davon ausgehen, dass diese Gesetze ohne-hin nicht eingehalten werden, wie übrigens auch andereGesetze, dann brauchen wir als Gesetzgeber kein Gesetzmehr zu machen.
Ich sage in diesem Zusammenhang noch etwas ande-res. Wenn sich ein Mitarbeiter des BSI, etwa wenn erjetzt im Bundestag tätig ist, nicht an das Gesetz hält undes missbraucht, dann landet er vor dem Kadi und zuvorvielleicht vor einem Untersuchungsausschuss. Wenn dasein Mitarbeiter eines ausländischen Geheimdienstesmacht, bekommt er höchstens den Vaterländischen Ver-dienstorden. Auch diesen Unterschied sollten Sie in die-ser Debatte berücksichtigen.
Die Vorfälle, mit denen wir selbst ja auch zu kämpfenhaben, machen deutlich, wie wichtig es ist, dass dieStandards, die wir der Wirtschaft vorgeben und die wirvon der Wirtschaft verlangen – auch das haben wir auf-grund unseres Änderungsantrages in den Gesetzentwurfaufgenommen –, auch für die Behörden des Bundes – füralle Behörden des Bundes – gelten. Dazu gehört übrigensauch der nichtparlamentarische Teil der Bundestagsver-waltung. Das BSI muss die Informationen bekommen, diees braucht, um entsprechende Sicherheitsstandards vor-zugeben.Last, but not least – ich glaube, auch das muss man ineiner Beratung zugestehen –: Auch die Veränderungenim Gesetz sind Ergebnisse von Kompromissen in einerKoalition. Man kann nicht alles durchsetzen. Aber ichbin der festen Überzeugung: Es sind gute Kompromisse.Natürlich hätten wir an der einen oder anderen Stelleauch noch andere Veränderungen vorgenommen. MeineFraktion und ich sind der Auffassung, dass angesichtsder Aufgaben, die dem BSI, also dem Bundesamt für Si-cherheit in der Informationstechnik, zuwachsen, einestärkere Unabhängigkeit und Selbstständigkeit gebotengewesen wären.Aber ich gebe zu, dass all dies innerhalb dieses Ge-setzgebungsverfahrens zu regeln, die Komplexität über-stiegen hätte. Das ist übrigens auch das Problem des Ent-schließungsantrags der Grünen. Deswegen haben Siewohlweislich keine Gesetzesänderungsvorschläge ge-macht.
In vielen Bereichen ist Ihr Entschließungsantrag nachdem Motto gestrickt: Wir schreiben jetzt in das IT-Si-cherheitsgesetz hinein, was wir alles im digitalen Be-reich, von Datenschutz bis sonst wo, gerne mal gehabthätten. Ich halte das erstens für wenig praktikabel undzweitens für wenig redlich.
Weil wir es aber gerade bei kritischen Infrastrukturen,aber auch in der gesamten IT-Branche mit rasanten Ent-wicklungen und Neuerungen zu tun haben – dessen sindwir uns bewusst –, haben wir als Koalition vorgeschla-gen und in den Gesetzentwurf einfließen lassen, dass dasGesetz nach vier Jahren wissenschaftlich evaluiert wird.
Ich glaube, das ist eine sehr vernünftige Position.
Es trägt übrigens auch dem Umstand Rechnung, dasswir mit diesem Gesetz das Thema „IT-Sicherheit, Ver-trauen in IT“ und die Fragen, die der Minister angespro-chen hat, nicht abschließend werden regeln können; viel-mehr ist dies ein erster Schritt. Wir werden uns mitweiteren Themen in diesem Bereich beschäftigen müs-sen. Ich nenne nur ein Beispiel, Herr Minister: die vonIhnen genannten Versicherungslösungen, die ich sehrsympathisch finde. Aber das funktioniert natürlich nurdann, wenn wir auch gegenüber der Wirtschaft, ähnlichwie beim Beispiel mit dem Fahrrad, klare Haftungsrege-lungen haben. Wer sein Fahrrad nicht abschließt, wirdhaftbar gemacht, wenn er Schäden gegenüber Drittenverursacht.
Das heißt, auch in diesem Bereich brauchen wir klareHaftungsregelungen. Die Debatte geht weiter.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir hier mit die-sem IT-Sicherheitsgesetz und mit den von der Koalitionvorgelegten Änderungen einen richtigen und wichtigenSchritt getan haben. Frau Pau, mit Ihrem Beispiel habenSie übrigens leider nur deutlich gemacht, dass die Linkeimmer noch ein bisschen in der Vergangenheit ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10569
Gerold Reichenbach
(C)
(B)
Herr Kollege, Sie achten bitte auf die Uhr.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Denn in
der digitalen Welt ist die Null nicht gleich null wie in der
analogen Welt, sondern von der Information gleichwer-
tig gegenüber der Eins.
Auch in diesem Sinne bitte ich Sie, dem Gesetz zuzu-
stimmen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun der Kollege Dieter Janecek für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter HerrMinister! Sehr geehrter Herr Reichenbach, danke für dieEinführung in die binäre Logik.
Das können wir dann später noch ausführen. Aber jetzteinmal ernsthaft.Das Computernetz des Deutschen Bundestages ist,wie wir seit circa 36 Stunden wissen, wohl zumindest inTeilen nicht mehr zu retten. Machen wir uns doch einmalehrlich: Wir als Parlament und auch Sie als Bundesregie-rung, als Koalition stehen ganz schön peinlich da, wennwir, wenn Sie heute über ein IT-Sicherheitsgesetz bera-ten, das den Anspruch hat, anderen – den Betreibern kri-tischer Infrastruktur – IT-Sicherheit zu gewährleisten,wir das aber selber, Sie das aber selber nicht hinkriegen.Das ist ein Widerspruch, den Sie nicht auflösen können.
Auch wir als Abgeordnete haben ein Informationsbe-dürfnis, das in den letzten Wochen und Monaten nichtgerade erfüllt worden ist. Wir haben im Ausschuss Digi-tale Agenda des Deutschen Bundestages Forderungengestellt, ob wir einen Bericht bekommen können überdas, was seit Wochen passiert. Wenn jetzt in den Mediengeschrieben wird, dass die Verantwortung, wie ich heutein der FAZ lesen darf, bei den Abgeordneten liegt, weildie vielleicht USB-Sticks in den Bundestag eingeführthaben, dann sage ich: Es ist richtig, dass 50 Prozent derIT-Sicherheitslecks entstehen, weil Menschen nicht ver-antwortungsbewusst handeln. Es ist aber auch richtig,dass die Bundesrepublik Deutschland in Sachen IT-Si-cherheit ein Entwicklungsland ist. Auch das beweist dieheutige Debatte.
Ich komme zum Gesetzentwurf. Der Gesetzentwurf,den wir heute in zweiter und dritter Lesung behandeln,kommt mit marginalen Änderungen daher. Die vielenMängel am ersten Gesetzentwurf, die von vielen Seitenbenannt wurden, haben Sie kaum korrigiert. Sie kommenJahre zu spät, und in der Reichweite ist das Ganze kläg-lich. Es passt auch gut in den Kontext der Debatten, diewir führen.Vorratsdatenspeicherung. Der Bundesjustizministerlegt jetzt ein offensichtlich verfassungswidriges Gesetzvor.
Das kann man ja nur begrüßen. Vielleicht ein geschick-ter Schachzug, mit dem verhindert werden soll, waskaum noch aufzuhalten ist? Sie können beim IT-Sicher-heitsgesetz nicht genauso vorgehen, in einem Bereich,wo wir es mit einem dynamischen Prozess – Herr Minis-ter, das Internet ist dynamisch; deswegen kann man da-rauf nicht rein bürokratisch reagieren – zu tun haben. Siekönnen mit diesem Gesetz nicht einfach eine Hacker-meldezentrale etablieren. Das ist das, was am Ende übrigbleibt. Sie können auch nicht all das ignorieren, was Sienicht vorsehen: dass es zum Beispiel auch um denSchutz der Bürgerinnen und Bürger geht,
dass es zum Beispiel auch darum geht, dass BITKOMsagt, dass nicht einmal die Hälfte von gut tausend be-fragten Unternehmen Festplatten oder andere Datenträ-ger verschlüsseln, dass Sie also Aufklärung betreibenmüssen, gerade bei den mittelständischen Unternehmen.Sie halten im Wirtschaftsministerium eine Plakatseriezur IT-Sicherheit bereit – ich glaube, sechs Plakate kannman dort bestellen –: Das ist alles schön und gut, aberder intensive Dialog mit der Wirtschaft, auch mit denBehörden, hat über die Jahre nicht stattgefunden. Des-wegen sind wir heute so anfällig. Das ist auch ein Versa-gen, das Sie zu verantworten haben.
Es ist ja auch ganz interessant, dass sich Teile derWirtschaft, wie der Bankenverband, mit einer Stellung-nahme zu diesem Gesetzentwurf geäußert und die Emp-fehlung abgegeben haben, das Gesetz auf weitere sys-temrelevante Player zu erweitern. Es kommt auch nichtalle Tage vor, dass Unternehmensverbände umfassendeRegulierung anmahnen.Wieso schaffen Sie es nicht – das ist ein Vorschlag,den auch wir machen –, zentrale IT-Anlaufstellen einzu-richten, die speziell KMUs bei der Schaffung einer ho-
Metadaten/Kopzeile:
10570 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dieter Janecek
(C)
(B)
hen und zeitgemäßen IT-Sicherheit unterstützen? Essollte so sein, dass die Unternehmen zu diesen Anlauf-stellen kommen können und ihnen gesagt wird: Wir hel-fen konkret aus einer Hand. – Das ist ein Vorschlag, denauch Professor Kagermann von der ACATEC jüngst beiuns im Ausschuss Digitale Agenda erhoben hat.Ich will auch ein paar lobende Dinge sagen. Mit demvon der Großen Koalition vorgelegten Änderungsantraghat es durchaus Bewegung in die richtige Richtung gege-ben. Sie sehen Bußgelder, das heißt das Instrument derSanktionen, vor. Das Problem ist aber: Wenn Sie einBußgeld für Unternehmen verhängen – das kann bis zu100 000 Euro gehen –, wird es nur dann fällig, wenn diebetreffende Störung tatsächlich zum Schaden führt. Wel-chen Anreiz bieten Sie damit? Sie geben nicht den An-reiz, dass entsprechende Fälle gemeldet werden. Also,auch das passt nicht zusammen, auch das ist nicht ziel-führend.
Es fehlt bei Ihnen einfach die Anreizmotivation für dieUnternehmen. Und weil die eben fehlt, können Sie auchnicht die entsprechenden Maßnahmen durchführen, diewir brauchen.Ich komme jetzt – Herr Reichenbach hatte darauf ab-gehoben – zur Rolle des BSI. Wir haben durchaus aufdie SPD gesetzt. Sie haben immer wieder die Unabhän-gigkeit des BSI proklamiert und gefordert, das BSI ausder Verantwortung des BMI herauszunehmen. Das istjetzt liegen geblieben wie anderes auch. Es ist ein grund-legender Konstruktionsfehler des Gesetzes, wenn Sie ei-nerseits dem BSI eine zentrale, gewichtige Rolle zuwei-sen, andererseits aus dem BSI aber kein unabhängiggestelltes Bundesamt machen. Das ist unsere Forderung.In die Richtung müssen Sie gehen. Solange Sie das nichttun, verfolgen Sie auch nicht den richtigen Ansatz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Zeiten von NSAund Snowden sorgt all das, was Sie vorlegen – auch das,was wir gerade erleben –, nicht gerade für Vertrauen auf-seiten der Bürger und auch nicht aufseiten der Unterneh-men. Wir haben in unserem Entschließungsantrag Vor-schläge gemacht, die in die richtige Richtung gehen.Schaffen Sie positive Anreize für die Wirtschaft, ihreIT-Sicherheitskonzepte stetig und proaktiv fortzuentwi-ckeln und zu pflegen! Setzen Sie einen IT-Sicherheitsan-satz um, der möglichst auf der unabhängigen Auditie-rung und Zertifizierung von Produkten und Verfahren,also auf sogenannten Penetrationstests, basiert!
Denn es macht doch keinen Sinn, dass Sie nur auf Mel-dungen setzen und nicht dynamisch prüfen. Sie müssendynamisch prüfen. Das Internet ist dynamisch, die Büro-kratie ist bürokratisch. Das muss zusammengehen; aberdas kommt in diesem Gesetz nicht zusammen.Ich komme zum Schluss. Wir lehnen das von Ihnenvorgelegte Gesetz ab, da es keinen Ansatz für präventiveMaßnahmen bietet. Sie schaffen damit keine Sicherheitbei Wirtschaft, Verwaltung und Bevölkerung. Das Ge-setz trägt einen Titel; es hält aber dieses Versprechennicht. Deswegen lehnen wir dieses Gesetz ab.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Stephan Mayer für
die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Ich glaube, man kann mitFug und Recht behaupten, dass die digitale Infrastruktur,die Systeme der Information und der Telekommunika-tion mittlerweile das Rückgrat unserer modernen Gesell-schaft sind. Unser Arbeits- und Wirtschaftsleben, die eh-renamtliche Tätigkeit, aber auch in vielen Bereichenunser privates Leben wären ohne eine funktionierendeIT-Infrastruktur nicht mehr denkbar. Unser Leben wirddadurch in vielerlei Hinsicht einfacher und bequemer.Wir erleben es ja derzeit selbst als Parlamentarier: Inallen Lebensbereichen steigt in zunehmendem Maßeauch die Abhängigkeit von einer funktionierenden undsicheren IT-Infrastruktur. Deshalb ist es richtig undwichtig, dass wir dieses IT-Sicherheitsgesetz – diesesGesetz zum Schutz kritischer Infrastrukturen – so strin-gent vorangetrieben haben und heute in der zweiten unddritten Lesung abschließend behandeln.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dasBundesamt für Sicherheit in der Informationstechnikgeht davon aus, dass bundesweit mehr als 1 Million In-ternetrechner Teil eines sogenannten Botnetzes sind. Dasheißt, die Inhaber eines Rechners wissen nichts davon,dass ihr Rechner mittlerweile von einer hochkriminellenOrganisation gekapert wurde und jederzeit für deren per-fide Zwecke ferngesteuert werden kann. Man geht mitt-lerweile davon aus, dass es über 250 Millionen verschie-dene Varianten von Schadprogrammen gibt. Angeblichkommen jeden Tag 300 000 neue Varianten hinzu.Das zeigt, wie groß die Dimensionen sind und wiebrisant dieses Thema ist. Das betrifft alle Bereiche, abervor allem natürlich die Bereiche, die existenziell, zumin-dest essenziell für unser tagtägliches Leben sind. Dassind die Bereiche der Daseinsvorsorge. Es geht um Ener-gie, Telekommunikation, Ernährung, Transport, Bankenund Versicherungen, aber auch um die Wasserversor-gung.Es ist richtig, dass wir mit dem Gesetzentwurf zumSchutz kritischer Infrastrukturen Mindeststandards fürdie Sicherheit der Betreiber kritischer Infrastrukturenschaffen. Herausragend finde ich an diesem Gesetz denkooperativen Ansatz. Es ist nicht so, dass den Betreibern
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10571
Stephan Mayer
(C)
(B)
kritischer Infrastrukturen von oben aufoktroyiert wird,was sie zu tun und zu lassen haben; vielmehr werden dieBetreiber kritischer Infrastrukturen in die Erarbeitungder Mindeststandards intensiv mit eingebunden. Sie wer-den einbezogen von dem Kompetenzzentrum, dem zu-künftigen Meldezentrum, dem Bundesamt für Sicherheitin der Informationstechnik.Mir ist es auch wichtig, darauf hinzuweisen, dassnicht jede Störung mit Klarnamen des Unternehmens ge-nannt werden muss. In der Wirtschaft wurde die Be-fürchtung geäußert, dass sich eine Prangerwirkung da-durch ergibt, dass, wenn jede Störung genannt werdenmuss, letzten Endes auch ein großer Schaden, vielleichteine gewisse Rufschädigung für das Unternehmen ent-stehen kann. Dem ist nicht so. Es müssen nur die erheb-lichen Störungen gemeldet werden, die zu einem Ausfallbzw. einer Funktionsbeeinträchtigung führen. Ich glaube,das ist ein sehr vernünftiger, ein sehr weiser Ansatz.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirverpflichten darüber hinaus Telekommunikationsunter-nehmen, dass sie in Zukunft ihre Kunden informieren,wenn bekannt ist, dass die Infrastruktur eines Kundenschadhaft ist. Das haben bisher schon viele Telekommu-nikationsunternehmen gemacht, aber mit diesem Gesetzwird es verpflichtend für alle.Wir erteilen darüber hinaus dem BSI die Erlaubnis,dass es in Zukunft IT-Produkte auch auf Sicherheit über-prüfen und diese Überprüfungen entsprechend kommu-nizieren kann. Auch dies ist ein wichtiger Mehrwert.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirhaben es uns mit diesem Gesetz nicht einfach gemacht.Wir haben eine intensive Sachverständigenanhörungdurchgeführt. Wir haben viele Gespräche mit betrof-fenen Unternehmen, mit Unternehmensverbänden, aberauch mit vielen anderen Vertretern der Community ge-führt. Wir haben gemeinsam einen Änderungsantrag er-arbeitet, der meines Erachtens wesentliche Verbesserun-gen enthält. Zum einen wird die Rolle des Bundesamtesfür Sicherheit in der Informationstechnik deutlich ge-stärkt. In Zukunft ist es möglich, dass das Bundesamt fürSicherheit in der Informationstechnik nicht nur für denRessortbereich des BMI zuständig ist, sondern für diegesamte Bundesregierung, also für alle anderen Res-sorts, Mindeststandards für die IT-Sicherheit festlegendarf.
Des Weiteren haben wir eine Mitwirkungspflicht vor-gesehen für die Hersteller von IT-Produkten, vor allemvon Softwareprodukten. Es ist auch ein wichtiger Mehr-wert, dass in Zukunft eine gesetzliche Verpflichtung be-steht, dass also die Hersteller der Softwareprodukte vomBSI verpflichtet werden können, zur Vermeidung vonStörungen oder zur Behebung von eingetretenen Störun-gen beizutragen.Umstritten sind in der Wirtschaft die Sanktionsmög-lichkeiten, die wir vorsehen. Es ist mir wichtig, daraufhinzuweisen, dass es bei den Sanktionsvorschriften nichtdarum geht, die Wirtschaft zu gängeln; vielmehr geht esdarum, dafür zu sorgen – jeder muss Interesse daran ha-ben –, dass dieses Gesetz kein zahnloser Tiger ist. Nurmittels dieser Sanktionsvorschriften wird erreicht, dassStörungen, die zu einem Schaden geführt haben, gemel-det werden. Das entspricht dem kooperativen Ansatzdieses Gesetzes. Es geht nicht nur darum, dass wie in ei-ner Einbahnstraße Störungen gemeldet werden müssen.Die Betreiber kritischer Infrastrukturen erfahren im Ge-genzug vom BSI, wie die Bedrohungssituation ist, dassman sich gegen bestimmte mögliche Angriffe zur Wehrsetzen muss und dass man mehr tun muss. Es ist alsokeine Einbahnstraße; vielmehr geht der Ansatz in beideRichtungen. Das kann nur funktionieren, wenn die be-troffenen Unternehmen, die einen konkreten Schadenerfahren haben, verpflichtet werden – durchaus auchbußgeldbewehrt verpflichtet werden –, diesen Schadenzu melden. Darüber hinaus entspricht diese Sanktions-vorschrift auch den Regelungen, die schon heute imEnergiewirtschaftsgesetz für Energieversorgungsunter-nehmen oder auch im Telekommunikationsgesetz fürTelekommunikationsunternehmen enthalten sind. In derparallel sich auf europäischer Ebene in Verhandlung be-findlichen NIS-Richtlinie – das ist auch schon erwähntworden – werden nach dem aktuellen Stand der Ver-handlungen verpflichtende Sanktionsvorschriften mitvorgesehen. Deswegen ist es nur richtig, dass wir jetztauch schon mit diesem Gesetz Sanktionsvorschriften im-plementieren.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirsehen eine Evaluierung des Gesetzes vier Jahre nach In-krafttreten der Verordnung vor. Ich glaube, dass diesrichtig ist; denn wir sehen selbst – man ist ja selbst fas-sungslos –, wie rasant die Entwicklung ist, wie komplexdie Angriffe mittlerweile sind, wie schwer sie teilweiseüberhaupt zu detektieren sind. Insofern ist es richtig,dass wir dieses Gesetz und die damit in Verbindung ste-hende Verordnung vier Jahre nach ihrem Inkrafttreten ei-ner intensiven Evaluierung unterziehen.Wichtig war es auch vielen Vertretern der Unterneh-men, aber vor allem auch vielen Kollegen, dass wir, auchwas die Verordnungsermächtigung anbelangt, klareVorgaben machen, nach welchen Kriterien festgelegtwerden soll, welches Unternehmen jetzt zur kritischenInfrastruktur gehört und welches nicht, also welchesUnternehmen vom Gesetz betroffen sein wird und wel-ches nicht. Deswegen ist es richtig, dass wir in der Ver-ordnung branchenspezifische Schwellenwerte festlegenund dies auch im Gesetz entsprechend deutlich machen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die-ses Gesetz ist aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt nachvorne, was die Erhöhung der IT-Sicherheit anbelangt. Esist ein Etappenerfolg. Es ist mit Sicherheit nicht dasEnde unserer Bemühungen und der Gespräche zur Ver-besserung der IT-Sicherheit. Aber ich glaube, wir kön-nen mit Fug und Recht behaupten: Wir sind als deut-scher Gesetzgeber mit diesem Gesetz Schrittmacher aufeuropäischer Ebene. Eines – das möchte ich zum Ab-schluss sagen – muss uns auch klar sein: IT-Sicherheitkann nie an den nationalen Grenzen enden, sondern esbedarf immer eines europäischen, vielleicht sogar eines
Metadaten/Kopzeile:
10572 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Stephan Mayer
(C)
(B)
weltweiten Ansatzes. Sehr geehrter Herr KollegeJanecek, wir sind alles andere als ein „Entwicklungs-land“. Ich glaube, mit diesem Gesetz sind wir durchausSchrittmacher, was die jetzt laufenden Verhandlungenauf europäischer Ebene anbelangt. Deswegen bitte ichherzlich um Zustimmung zu diesem zukunftsweisendenGesetz.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die
Kollegin Petra Sitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das IT-Si-cherheitsgesetz soll den Schutz kritischer Infrastrukturenvor Angriffen auf deren IT-Netze unterstützen. Komi-scherweise ist im Gesetz aber gar nicht definiert, was un-ter diesen kritischen Infrastrukturen zu verstehen ist.
Das soll künftig erst eine Verordnung regeln. Ich finde,Gesetzentwürfe, bei denen unklar ist, worauf sie sich ei-gentlich konkret beziehen, bedürfen keiner Beratungdurch den Bundestag, sondern einer Überarbeitungdurch den Einreicher.
Unser Hohes Haus, der Bundestag selbst, hält im bes-ten Wortsinne auch kritische Infrastrukturen vor – derOpposition sei Dank. Nehmen wir doch mal an, das Ge-setz gälte eben auch für uns als Parlament. Etwa20 000 Accounts haben Zugriff auf Server und Netze desBundestages. Schon jetzt ist der Begriff „Drucksache“eigentlich ein Anachronismus. Künftig werden wahr-scheinlich nur noch Alterspräsidenten oder -präsidentin-nen wissen, was man damit anfangen kann.
Ein Parlament ohne funktionierendes und sicheresDatennetz ist heutzutage, wie wir erfahren haben, leiderziemlich aufgeschmissen. Wir alle haben größtes Inte-resse daran, dass unsere Rechner funktionieren und dasseben keine Daten abfließen. Trotz aller Bemühungen umIT-Sicherheit im Bundestag hat es einen Angriff geben.Technisch versiert ist man ziemlich tief in die Daten-netze des Bundestages eingedrungen. Daten sind ebenabgeflossen, und das Netz ist kompromittiert.Nach IT-Sicherheitsgesetz müsste nun gemeldet wer-den. Solche Vorfälle dürfen also nicht verschwiegenwerden, sie dürfen nicht als Interna behandelt werden,schon gar nicht dürfen sie ausgesessen werden.
Vielmehr sollen sich die Betreiber kritischer Infrastruk-turen an Prävention, an Aufklärung und natürlich erstrecht an der Beseitigung der Folgen von Angriffen betei-ligen. Der Bundestag versucht das seinerseits. Er arbeitetan der Aufklärung des Angriffes und an der Beseitigungder Folgen. Die zuständige Kommission des Ältestenra-tes bemüht sich ebenfalls um Aufklärung und um Infor-mation. Für uns Abgeordnete geht es natürlich in ersterLinie um die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit desBundestages.Bekanntermaßen sind die Verwaltung des Bundesta-ges, daneben aber auch beratend das Bundesamt für Si-cherheit in der Informationstechnik, das Bundesamt fürVerfassungsschutz und – bezogen auf die gesamte straf-rechtliche Relevanz – der Generalbundesanwalt, eventu-ell auch das BKA, die Instanzen der Aufklärung. An-griffe einiger Pressekommentatoren, wie in den letztenTagen erfolgt,
gegen die IuK-Kommission und vor allen Dingen gegendie Vorsitzende dieser Kommission gehen daher voll-kommen an der Sache vorbei.
Es gibt keinerlei Belege, nach denen an der Integrität derKommissionsvorsitzenden und Vizepräsidentin gezwei-felt werden könnte. Das will ich hier ganz klar sagen.
Zu nachhaltiger Aufklärung gehört aus unserer Sichtvor allem Transparenz, und zwar nicht erst am Ende,wenn es um den Täter und dessen Ziele geht, sondernbereits im Prozess der Aufklärung, der wohl noch Mo-nate dauern wird. Aber wir alle sind doch mündige Nut-zer und sollten wissen, was mit unseren Daten geschieht.IT-Angelegenheiten dürfen keine Blackbox sein, erstrecht nicht in öffentlichen Bereichen. Diese Auffassungwiderspricht keinesfalls hohen Standards für die IT-Si-cherheit, im Gegenteil: Offene Software, offene Pro-zesse und offene Kommunikation unterstützen die Be-seitigung von Datenlecks und helfen nun einmal vielbesser bei der Aufklärung als jegliche Geheimniskräme-rei.
Das IT-Sicherheitsgesetz sieht nun einen ordentlichenAufwuchs an Stellen nicht nur beim BSI und beim BKA,sondern auch bei den Geheimdiensten, beim Bundes-nachrichtendienst und beim Verfassungsschutz vor.Meine Kollegin Petra Pau hat es vorhin erwähnt: Ge-heimdienste mischen, wie wir durch Edward Snowdenwissen, beim Datenklau kräftig mit. Sogenannte Sicher-heitskreise, die derzeit in den Medien zitiert werden, ver-muten auch hinter dem aktuellen Angriff auf den Bun-destag einen sogenannten feindlichen Geheimdienst. Sogesehen sind Geheimdienste eher ein Sicherheitsrisiko.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10573
Dr. Petra Sitte
(C)
(B)
Seitdem wir wissen, dass deutsche Dienste zusammenmit NSA und Co. auch Daten der eigenen Bürgerinnenund Bürger sowie der europäischen Partner sammelten,
stecken diese Dienste in einer tiefen Vertrauenskrise; daskann doch überhaupt nicht verwundern. Warum bittesollte eine Firma, die Sicherheitslecks im eigenen Daten-netz gefunden hat, diese Information ausgerechnet mitden Geheimdiensten teilen wollen, denen Beihilfe zurWirtschaftsspionage vorgeworfen wird? Das klingt dochalles ziemlich abstrus.
Ich komme zum Schluss. Wir sind uns einig: Wirbrauchen mehr IT-Sicherheit. Die im vorgelegten IT-Si-cherheitsgesetz enthaltenen Maßnahmen gehen jedochan einer echten Problemlösung vorbei. Es ist vor allemein „Geheimdienstaufbaugesetz“. Außerdem führt es– meine Damen und Herren, das ist nicht zu vergessen –von hinten durch die kalte Küche die Vorratsdatenspei-cherung ein. Besser als die Blogger von netzpolitik.orgkann man es nicht auf den Punkt bringen: Es wird hierund heute ein „IT-Sicherheitssimulationsgesetz“ verab-schiedet werden.
Der Kollege Metin Hakverdi ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das IT-Sicherheitsgesetz ist ein überfälliger,notwendiger Schritt zum Aufbau einer Sicherheitsarchi-tektur für das digitale Leben in unserem Land. Die Ent-hüllungen Edward Snowdens und millionenfacher Da-tendiebstahl haben das Vertrauen der Menschen in diedigitale Zukunft tiefgreifend gestört. Kriminelle, Hacker,ausländische Geheimdienste – sie alle verlagern ihre Ak-tivitäten mit der wachsenden digitalen Durchdringungaller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebensbe-reiche eben in diese digitale Welt.Heute kann man aus der Ferne von nahezu jedem Ortder Welt zu jedem beliebigen Zeitpunkt einen Angriffstarten. Laut Lagebericht zur IT-Sicherheit in Deutsch-land übersteigt die Gesamtzahl der PC-basierten Schad-programmvarianten inzwischen die 250-Millionen-Marke, es gibt in Deutschland jeden Monat mindestens1 Million Infektionen durch Schadprogramme, und dieZahl der Schadprogrammvarianten steigt täglich um300 000. Diese schier unglaublichen Zahlen zeigen: Mitsolchen Angriffen finanziert sich heute schon eine ganzekriminelle Industrie. Diese kriminelle Industrie ist ar-beitsteilig organisiert: von der Aufdeckung von Soft-wareschwachstellen über die Entwicklung von Produk-ten zur gezielten Ausnutzung dieser Schwachstellen undder Vermarktung dieser Produkte bis hin zur wirtschaftli-chen oder anderweitigen Verwertung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es nichtmit jungen Hackern zu tun, wie sie in den 90er-Jahren inHollywood-Blockbustern vom FBI gejagt wurden; dieseZeiten sind vorbei. Es handelt sich heute um professio-nell organisierte kriminelle Strukturen oder gar um Ge-heimdienste, die ohnehin mit ganz anderen Ressourcenausgestattet sind.Das IT-Sicherheitsgesetz ist ein wichtiger Schritt fürdie Sicherheit unserer industriellen Produktion. Systemezur Fertigungs- und Prozessautomatisierung werden imZeitalter von Industrie 4.0 mit dem Internet vernetzt.Dieser Prozess schreitet voran. Das Risiko, dass unsereindustrielle Produktion durch Angriffe aus der digitalenWelt existenzbedrohliche Auswirkungen erleidet, steigt.Die Digitalisierung unserer Industrie darf nicht zurAchillesferse unserer Wirtschaft werden!
Das ist die Bedrohungslage, mit der wir es zu tun ha-ben.Mit dem IT-Sicherheitsgesetz schreiben wir vor, dassUnternehmen, die von großer Bedeutung für unser Ge-meinwesen als Ganzes sind, ihre IT-Sicherheit auf demStand der Technik halten müssen. Bereits heute wäre fürmehr Sicherheit gesorgt, wenn die vorhandene und ins-tallierte Sicherheitstechnik adäquat eingesetzt würde.Ein großes Handicap hierbei ist, dass Sicherheitstechnikals nicht anwenderfreundlich empfunden wird. Hier scheintes Verbesserungsmöglichkeiten zu geben. Sicherheitstech-nik muss anwenderfreundlich entwickelt werden. Wichtigsind neben der Technik die Menschen, die diese Technikanwenden. Der beste technische Standard hilft überhauptnicht, wenn er falsch eingesetzt wird. Die Unternehmentrifft die wichtige Aufgabe, ihre Mitarbeiterinnen undMitarbeiter besonders zu schulen und zu sensibilisieren.Für IT-Sicherheit sorgen gut ausgebildete Menschen undnicht die Technik allein.
Auf einen Aspekt möchte ich besonders hinweisen:Nach § 100 Telekommunikationsgesetz dürfen Unter-nehmen zur Störungserkennung und -beseitigung Datensammeln. Die Praxis zeichnet sich durch unterschiedli-che Speicherdauern aus. Beim Thema Datensammelnstehen Freiheit und Sicherheit in einem besonderenSpannungsverhältnis. Die Balance zwischen Freiheitund Sicherheit ist ein ständiger Abwägungsprozess. Beider Abwägung, wie viele Daten und für wie langediese Daten gespeichert werden, müssen die Unter-nehmen besonders sorgfältig sein. Ich frage mich, wiedie unterschiedliche Speicherdauer bei den verschiede-nen Telekommunikationsdienstleistern gerechtfertigtwerden soll. Die Internetprovider oder Telekommunika-tionsdienstleister müssen zu einheitlichen Speicherdau-ern bei sensiblen Daten kommen. In der Kürze liegt dieWürze, dieser Grundsatz ist besonders bedeutsam, wenn
Metadaten/Kopzeile:
10574 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Metin Hakverdi
(C)
(B)
es um die Speicherung von sensiblen Daten der Bürge-rinnen und Bürger geht.Der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil aus demletzten Jahr erklärt, dass § 100 Telekommunikationsge-setz mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts und des Europäischen Gerichtshofs vereinbar ist.Die genaue Lektüre des Urteils zeigt, dass der Bundes-gerichtshof wegen der kurzen Speicherdauer keinenKonflikt mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung ge-sehen hat. Deshalb lege ich den Telekommunikationsun-ternehmen den Grundsatz der Datensparsamkeit beson-ders ans Herz.
Nachdenklich hat mich ein Punkt im Gesetzentwurfgemacht, über den ich hier sprechen möchte: Der Kom-petenzzuwachs beim Bundesamt für Sicherheit in der In-formationstechnik, insbesondere die Einbeziehung derBundesbehörde in den Anwendungsbereich des Geset-zes, ist – das muss man hier deutlich sagen – heikel. Ichbin mir nicht sicher, ob die Anbindung des Bundesamtesfür Sicherheit in der Informationstechnik beim Bundes-innenministerium heute noch gerechtfertigt ist. Immer-hin ist das BSI berechtigt, von anderen BundesbehördenProtokolldaten abzufragen.
Verträgt sich dies mit der Staatsorganisation unseresLandes? Wie verträgt sich das mit dem Ressortprinzip?Am Ende kommt es darauf an, lieber Herr Kollege, wiedie Anbindung vonseiten des Bundesinnenministeriumstatsächlich, faktisch gelebt wird.Ich kann mir vorstellen, dass das Bundesamt für Si-cherheit in der Informationstechnik perspektivisch zu ei-ner unabhängigen Behörde nach dem Vorbild der Bun-desdatenschutzbeauftragten weiterentwickelt wird. Einesolche unabhängige oberste Bundesbehörde hätte dieAufgabe, die IT-Sicherheit bei allen Verfassungsorganensicherzustellen. Eine solche Behörde würde über dieIT-Sicherheit in unserem Land wachen. Eine solche un-abhängige oberste Bundesbehörde wäre die Partnerin derBundesdatenschutzbeauftragten.Insgesamt liegt uns ein Gesetzentwurf vor, der rundund auch für die Opposition zustimmungsfähig ist. DieKoalitionsfraktionen haben bei der Verbesserung diesesGesetzes gute Arbeit geleistet. Wir haben die wesentli-chen Kritikpunkte aus der öffentlichen Anhörung aufge-nommen. Das betrifft den Punkt der Sanktionsregime fürden Fall von Verstößen gegen IT-Sicherheitsstandards,und das betrifft die Einbeziehung von Bundesbehördenin den Anwendungsbereich des Gesetzes. Besondersfreut mich die obligatorische Evaluation, die aus diesemHaus gefordert wurde und nun Gesetz wird. Dafür eingroßer Dank an die Kolleginnen und Kollegen!IT-Sicherheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, isteine Daueraufgabe. Wir sollten uns nicht scheuen, auchbei der Entwicklung des rechtlichen Rahmens auf derHöhe der Zeit zu sein.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun Renate Künast, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selten warja eine Debatte im Deutschen Bundestag so tagesaktuellwie diese. Lassen Sie mich auf ein Zitat, das ich gesterngelesen habe, zu sprechen kommen. Da wurde geschrie-ben, das Bundesamt für Sicherheit in der Informations-technik sei zu dem Ergebnis gekommen, dass das Netzdes Bundestages nicht mehr gegen den Angriff verteidigtwerden könne und aufgegeben werden müsse.
Das hat mich eine Sekunde lang fasziniert.
– Ja, eine Sekunde lang hat mich das fasziniert, HerrBinninger, weil mir gleich das Bild einer Schlacht durchden Kopf ging.
Wir haben eine Schlacht verloren, meine Damen undHerren – so kann man das sehen –,
eine Schlacht gegen eine Cyberattacke, einen Cyber-angriff.Aber sehen wir uns einmal an, wie wir darauf reagie-ren. Fakt ist doch: Wir wissen nicht einmal, gegen wenwir die Schlacht verloren haben, oder?
– Na ja, Preußen wusste schon, gegen wen es dieSchlacht bei Jena und Auerstedt verloren hatte.
– Genau; nicht, warum. – Wir aber wissen nicht, gegenwen wir sie verloren haben; das ist für die Analyse abernicht unwichtig. Wir wissen auch nicht genau, warumwir sie verloren haben.
Wir haben aber eine Ahnung, liebe Kolleginnen undKollegen, dass der Bundestag mit seiner Software und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10575
Renate Künast
(C)
(B)
seinen Kontrollmöglichkeiten hier nicht wirklich ordent-lich aufgestellt war. Jetzt höre ich in dieser Debatte, inder es um tatsächliche Cyberangriffe geht, die also nichtetwa in höheren Sphären stattfindet, plötzlich etwas vonRessortprinzip und Meldepflicht. Das ist meine zweiteVerwunderung: Ich finde, das passt nicht zusammen undist dem Problem nicht angemessen, meine Damen undHerren.
Ja, wir brauchen eine gesetzliche Regelung, und es istgut, dass wir eine Anhörung hatten. Aber ich muss Ihnensagen: So wie dieser Gesetzentwurf gemacht wurde– selbst mit den Änderungen, die noch vorgenommenwurden –, ist er nicht angemessen. Er geht schon von ei-nem alten IT-Verständnis aus. Es geht, ganz bürokra-tisch, um Meldepflichten und Sanktionen. Als ob es unshilft, wenn jemand zum Beispiel 10 000 Euro zahlenmuss, weil er seiner Meldepflicht nicht nachgekommenist! Ich finde, der Gesetzentwurf ist handwerklichschlecht gemacht. Es kommt zu einer Fokussierung aufdie Meldepflicht. Aber es fehlt eine Aktivierung derWirtschaft und der eigenen Interessen der Unternehmen,für Sicherheit zu sorgen.
Ich finde, dieses alte IT-Verständnis ist ein bisschenmittelalterlich – es erinnert an die Frühphase der Erfin-dung des Computers –, und aus den NSA-Vorkommnis-sen und den Snowden-Berichten wurde nichts gelernt,meine Damen und Herren. Wir sind zum Teil nicht ein-mal in der Lage, die Selektoren, die uns die NSAschickt, zu verstehen. Wir wissen ja gar nicht, was dieseNullen und Einsen materiell eigentlich bedeuten, umnachvollziehen zu können, ob wir selber ausgespähtwerden. Nein, das reicht nicht.Die Frage muss doch lauten: Wie muss unsere Infra-struktur aussehen, und wo bzw. wie können wir uns kon-kret schützen? Herr Mayer hat in seinem Beitrag vorhinvon einem kooperativen Ansatz geredet. Ich sage Ihnen:Ja, okay, Herr Mayer; ein kooperativer Ansatz ist gut.Aber wenn Sie nicht auf der richtigen Ebene agieren,sondern auf der Ebene von Meldepflichten und Ähnli-chem, nützt Ihnen die Kooperation an dieser Stelle auchnichts.Wir müssen uns wirklich mit der Prozesshaftigkeitdes Themas auseinandersetzen. Die Gewährleistung vonSicherheit ist nämlich kein Produkt, das von einem Bun-desamt oder einer Bundessicherheitsbehörde zertifiziertwird und an das dann ein Haken gemacht wird. Es reichtauch nicht, den neuesten Stand der Technik zu berück-sichtigen, vielleicht sogar noch unter finanziellen Ge-sichtspunkten. Nein, Sicherheit kann hier nur gewähr-leistet werden, wenn man jemanden zwingt, Standardseinzuhalten, regelmäßige Risikoanalysen durchzuführen,Gefahrenlagen zu konkretisieren, Szenarien zu entwi-ckeln, und zwar stündlich und täglich neu. Da passt Ihrbürokratisches System gar nicht hinein.
Neulich habe ich auf einer Reise in die USA sehenkönnen, wie dort Sicherheit hergestellt wird. Dort lässtman sich nicht von Sanktionen beeindrucken. Dort wer-den Teams aufgestellt. Es gibt ein red Team und ein blueTeam, also ein rotes Team und ein blaues Team. Die Ro-ten müssen ständig angreifen, und die Blauen müssenverteidigen, müssen diesen Angriff überhaupt erst ein-mal ausfindig machen.
Das hört sich vielleicht kurios an, aber dadurch wirdKreativität freigesetzt. Ihr technokratischer Gesetzent-wurf hingegen enthält null Angebote, um das Spiel derHacker mit uns zu simulieren.
Sie reden immer vom Schutz der kritischen Infra-struktur. Es ist ja richtig, dass dieser Schutz wichtig ist,aber Sie erwähnen an keiner Stelle den Schutz desGrundrechts auf Vertraulichkeit und Integrität der infor-mationstechnischen Systeme. Dazu hat das Bundesver-fassungsgericht schon 2008 eine Entscheidung gefällt.Es hat festgestellt, dass der Staat Bürgerinnen und Bür-ger und Unternehmen schützen muss.Angesichts der Aktualität dieses Themas muss ich Ih-nen sagen, was mich besonders verwirrt: Uns liegt heuteein Gesetzentwurf zur IT-Sicherheit vor, der angesichtsder rasanten Entwicklung im Bereich der Informations-technologie regelrecht mittelalterlich erscheint. Abergleich, in der anschließenden Debatte zur Vorratsdaten-speicherung, wird gesagt werden, in welchen Bereichenwir Massen an Daten speichern werden, obwohl wir andieser Stelle noch gar nichts gelöst haben. Legen Siediese beiden Gesetzentwürfe in ihrer ganzen Unzuläng-lichkeit einmal übereinander. Jetzt wollen Sie eine Mel-depflicht normieren, und gleich werden Sie sagen, dassdie Telekommunikationskontaktdaten aller Bürgerinnenund Bürger zentral, wenn auch offline, gespeichert wer-den sollen. Es gibt aber einen Zugang, und die Datenwerden zum Teil auch abgefragt werden. Ihr Gesetzent-wurf bietet an dieser Stelle überhaupt keine Sicherheit.
Mein Vorschlag lautet: Legen Sie gleich beide Ge-setzentwürfe weg. Organisieren Sie Sicherheit als Pro-zess. Sorgen Sie für einen ständigen Anreiz für die Wirt-schaft und die Betreiber der kritischen Infrastruktur,dranzubleiben. Setzen Sie Standards, und fangen Sie an,auch die sonstigen Rechtsbereiche anders zu regeln.Sicherheit stellen Sie übrigens nur her, wenn SieOpen-Source-Produkte nutzen.
Frau Kollegin.
Metadaten/Kopzeile:
10576 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
(C)
(B)
Letzter Gedanke. – Bei Open-Source-Produkten kann
man Sicherheitslücken nicht verstecken, sondern jeder
kann schauen, ob Sicherheitslücken bestehen und Ab-
hilfe schaffen.
Sorgen Sie dafür, dass der Staat Sicherheitslücken nicht
geheim hält oder sogar anhäuft. Fangen Sie endlich an.
Sorgen Sie endlich für Sicherheit, nicht nur mittels mo-
derner Technik, sondern auch durch kreative Analysefor-
men und das Durchspielen von Gefahrensituationen.
Clemens Binninger ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Der Innenminister hat vorhin einen interessanten Satzgesagt, den man etwas mit Fakten untermauern muss;denn dann wird das Problem, glaube ich, deutlich. Er hatgesagt: Über das Netz des Bundes, zu dem der DeutscheBundestag nicht gehört, hat das BSI einen stabilenSchutzschild gelegt. Er verhindert Angriffe wie den, denwir jetzt erleben müssen.
Wenn man wissen will, wie viele Angriffe jeden Tag ver-hindert werden, um die Dimension der Bedrohung wahr-nehmen zu können, muss man sich die Zahlen an-schauen: Dieser Schutzschild verhindert jeden Monat90 000 Zugriffe von Rechnern der Bundesverwaltungauf infizierte Server. 90 000 Mal wäre es sonst dazugekommen, dass ein Mitarbeiter durch einen verse-hentlichen Klick auf einem Server landet, der mitSchadsoftware infiziert ist oder Teil eines Botnetzes ist.In 90 000 Fällen ist das verhindert worden.Dieser Schutzschild verhindert jede Woche 15 bis 20oder gar mehr hochkomplexe Angriffe auf das Netz.
Darunter ist jeden Tag mindestens einer mit Nachrich-tendiensthintergrund. Das ist die Dimension der Bedro-hung. Hier wissen wir es. Bei uns selber, wo wir für dieIT-Sicherheit verantwortlich sind, wissen wir das nursehr begrenzt.Frau Kollegin Pau, ich bin Ihnen dankbar für dieKlarstellung, dass Sie natürlich nichts dagegen haben,dass auch der Deutsche Bundestag, wenn er so ange-griffen wird, wie er jetzt angegriffen wurde, auf dieExpertise der Sicherheitsbehörden, des BSI und desBundesamts für Verfassungsschutz, zurückgreift, ja, zu-rückgreifen muss.Frau Kollegin Künast, es war eben ein anderer Ein-druck, den man in den letzten Tagen aus der Debatte ha-ben musste. Man musste den Eindruck gewinnen, dassdie Opposition angesichts dieses Angriffs auf den Deut-schen Bundestag, anstatt sich der Expertise der Sicher-heitsbehörden zu bedienen, lieber alleine vor sich hinge-wurstelt hätte. Das ist so ähnlich, als ob bei einemHausbrand der Besitzer vor dem Haus steht und die Feu-erwehr ablehnt, weil ihm die Farbe nicht gefällt, undstattdessen eine Löscheimerkette machen würde. Sowurde Ihre Position wahrgenommen.
– Mit der Farbe hättet ihr kein Problem, Gerold, und mitder Feuerwehr wahrscheinlich auch nicht. – Aber das be-schreibt das Problem, vor dem wir stehen. Deshalb, weilwir kein Lagebild haben, was die Bedrohung der Indus-trie angeht, das so konkret ist wie beim Netz des Bundes,brauchen wir ein Gesetz, in dem wir festlegen, was einekritische Infrastruktur in den Bereichen Logistik, Ver-kehr, Energie, Wasser, Gesundheit oder Ernährung ist.Wir müssen Mindeststandards vorgeben. Dagegen kannman doch nichts sagen. Ich weiß nicht, ob ich Sie, FrauKünast, falsch verstanden habe. Aber Sie sagen ernst-haft, das sei schlecht, und fordern dann gleichzeitigStandards.
Wir geben sie jetzt vor. Aber zunächst einmal mussman wissen, welche Bereiche zur kritischen Infrastruk-tur gehören. Was sind die Standards für die Sicherheitdes IT-Systems eines Energieversorgers? Wollen wirgroße Stadtwerke so laufen lassen, wie sie sind? Viel-leicht gibt es dann einen Blackout in einer großen Stadt.Um das zu vermeiden, wollen wir Standards vorgeben.Das machen wir jetzt. Wir geben sie auch für die Bun-desregierung vor. Wir haben etwas gemacht, was dasRessortprinzip gerade aufhebt.In der Vergangenheit war es so, dass jedes Ministe-rium am besten wusste, was für die IT-Sicherheit dasBeste ist. Das haben wir jetzt geändert. Das BSI gibt dieStandards vor, und damit hat man einheitliche Sicher-heitsmechanismen. Das ist der einzige Weg, der richtigist. Wir wollen keinen Flickenteppich mit Insellösungen,wir wollen nicht, dass jeder etwas anderes macht. Wirwollen einheitliche Standards. Die geben wir mit demGesetz vor, und damit leisten wir einen wichtigen Bei-trag zur IT-Sicherheit auch des Bundes.
Jetzt komme ich zum Thema Meldepflicht. Frau Kol-legin Künast, ich weiß nicht, ob Sie die Bestrebungender letzten Jahre mitverfolgt haben. Es gab eine ganzeReihe von kooperativen Ansätzen mit der Industrie. Esgibt KRITIS, es gibt Austauschplattformen, aber diese
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10577
Clemens Binninger
(C)
(B)
basierten immer auf freiwilliger Meldung. Jetzt machenwir uns nichts vor: Es ist für ein Unternehmen überhauptnicht attraktiv, sagen zu müssen: Gestern wurde unserRechenzentrum angegriffen. – Wer will denn das in dieÖffentlichkeit tragen? Deshalb brauchen wir ein Verfah-ren, dass der Vorgang gemeldet wird, damit wir Lageer-kenntnisse haben. Aber wir garantieren auch Anonymi-tät oder Vertraulichkeit.Aber ohne die Meldepflicht wissen wir nicht, wie um-fangreich die Angriffe sind, wissen wir nicht, welcheneue Schadsoftware kommt, wissen wir nicht, wo esvielleicht fast zu einem Ausfall der Energieversorgunggekommen wäre. All die Informationen, die wir im Netzdes Bundes haben, brauchen wir auch bei kritischen In-frastrukturen. Das erreichen wir mit diesem Gesetz, daserreichen wir mit der Meldepflicht.Dass wir Verstöße mit Bußgeld bewehren müssen, istklar. Ich verstehe gar nicht, warum die Grünen jetzt iro-nisieren. Ich meine, mich zu erinnern, dass Sie das im-mer verlangt haben und Begriffe wie „zahnloser Tiger“verwendet haben. Unser Gesetz ist kein zahnloser Tiger.Wir haben die Meldepflicht, und wir haben auch eineBußgeldandrohung. Aber wir setzen darauf – das sindauch die Signale, die wir aus der Industrie haben –, dasskooperativ im Interesse der Sache mitgearbeitet wird.Dann haben Sie sich immer im Innenausschuss be-klagt, dass man eine Meldepflicht für die Unternehmeneinführe, aber die Bundesverwaltung selber mit Aus-nahme der Standards im Gesetzentwurf gar nicht vor-komme. Dazu muss ich Ihnen sagen: Da hinken Sie deraktuellen Rechtslage weit hinterher. Eine Meldepflichtfür die Bundesverwaltung gibt es seit 2010. Seit 2010müssen Behörden der Bundesverwaltung jeden IT-kriti-schen Angriff unverzüglich oder, wenn er nicht ganz sobedeutend war, innerhalb eines Monats melden. Das ha-ben wir dort schon.Im Bereich der Bundesverwaltung haben wir denSchutzschild, wir haben die Meldepflicht, und das über-tragen wir jetzt, wo es Sinn macht, auch auf die Betrei-ber kritischer Infrastrukturen. Das zu tun, ist mehr alsrichtig und wichtig. Bitte, nehmen Sie diese Platz-patrone, die Ihnen als Argument dient, einfach aus IhremMunitionsvorrat. Sie ist einfach falsch und wird nichtbesser, wenn man sie dauernd wieder herausholt.
Jetzt zum Verfahren bzw. zu dem, was wir dafür getanhaben, die Wirtschaft nicht zu überfordern. Ich denkedabei an den Kollegen Pfeiffer, dessen Anliegen es ist,dass die Unternehmen nicht überfordert werden. Wir las-sen den Unternehmen zwei Jahre Zeit für die Umset-zung. Das, was der Gesetzgeber nicht konkretisierenkann, weil es technische Fragen betrifft, regeln wir in ei-ner Verordnung. Diese Verordnung wird nicht allein vomBSI erarbeitet, sondern gemeinsam mit der Wirtschaft,mit den Betreibern und den Verbänden. Wir haben zweiJahre Umsetzungszeit vorgesehen, bevor die Regelungverpflichtend wird, und nach vier Jahren – KollegeReichenbach hat es angesprochen – folgt eine Evalua-tion.Ich glaube, das ist ein sehr gutes, kluges und koopera-tives Vorgehen. Wir leisten damit einen großen undwichtigen Beitrag zur Sicherheit der IT in unseremLand. Sicherlich könnte man noch viel mehr machen.Wir beginnen mit den Bereichen, die besonders heikelsind: Energieversorgung, Wasser, Finanzen und Tele-kommunikation. Weitere Schritte müssen folgen.Ich habe mir erlaubt, den Entschließungsantrag derGrünen zu lesen, den sie im Innenausschuss vorgelegthaben.
– Beifall kann ich leider nicht spenden. Es war ein Sam-melsurium an Wünschen, die das grüne Herz begehrt.Die roten und blauen Teams kamen nicht vor, FrauKünast, aber jede Menge grüne Wünsche. Man kann sa-gen: viele Wünsche, aber keine Lösungen. Insofern istder vorliegende Gesetzentwurf deutlich besser und kon-kreter. Er dient der Sicherheit der IT in diesem Land,und deshalb hat er unser aller Zustimmung verdient.Herzlichen Dank.
Christina Kampmann ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Sicherheit spielt in der politischen Rhetorik eine immensgroße Rolle, egal ob wir über den G-7-Gipfel, den inter-nationalen Terrorismus oder den Schutz vor Einbruchund Diebstahl reden. Für einen Bereich aber wurde die-ses Thema viel zu lange vernachlässigt, nämlich für diegesamte Informationstechnologie. Bei aller Kritik andem Gesetzentwurf, bei allen berechtigten Forderungen,noch weiterzugehen, und bei allen Zweifeln an den De-tails in der Umsetzung ist es gut, dass damit endlichSchluss ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. Gut, dasswir dieses Thema endlich auf die politische Agenda ge-setzt haben. Gut, dass die Große Koalition mit dem IT-Sicherheitsgesetz eines der ersten Vorhaben im Rahmender Digitalen Agenda umsetzen wird.
Um es vorwegzunehmen: Auch ich finde, das Gesetzdürfte an der einen oder anderen Stelle noch weiter ge-hen. Ich bin aber davon überzeugt, dass es uns trotzdemrichtig gut gelungen ist und dass wir damit einen Anfanggemacht haben, der sich sehen lassen kann. Das ist einguter Tag für die IT-Sicherheit in Deutschland. Es ist eingutes Beispiel für gesetzliche Rahmenbedingungen in-nerhalb der Europäischen Union.
Metadaten/Kopzeile:
10578 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Christina Kampmann
(C)
(B)
Herrn Janecek sage ich: Wer uns als Entwicklungs-land in Sachen IT-Sicherheit bezeichnet – darin bin ichganz bei Herrn Binninger –, von dem erwarte ich auchganz konkrete Vorschläge und Lösungen zur Verbesse-rung statt einer Aneinanderreihung von Forderungen,wie sie Ihrem Antrag entsprechen, die bei wohlwollen-der Betrachtung gerade noch etwas mit dem Thema „Di-gital“ zu tun haben, aber mit Sicherheit nicht mit der IT-Sicherheit.
Aber lassen Sie mich das näher ausführen. IT-Sicher-heit ist kein Selbstzweck. Für mich ist sie das Funda-ment der Digitalisierung. Industrie 4.0 ohne Sicherheitist komplett undenkbar. Autonomes Fahren – der Minis-ter hat es eben angesprochen – ohne Sicherheit ist gera-dezu lebensgefährlich. Cloud-Technologie ohne Sicher-heit ist überhaupt nicht möglich. Kein Unternehmen,keine Verwaltung und kein privater Nutzer werden ihreDaten in einer Cloud speichern, wenn sie nicht zutiefstüberzeugt sind, dass sie dort sicher sind.Egal wohin man schaut: Die Digitalisierung unsererGesellschaft wird nicht funktionieren, wenn wir nichtein Maximum dessen gewährleisten, was an Sicherheitmöglich ist. Deshalb bin auch ich davon überzeugt, dasses einen staatlichen Handlungsauftrag gibt. Es ist konse-quent und folgerichtig, diesen im Bereich der kritischenInfrastrukturen zu sehen. Denn hier ist die Gesellschaftbesonders verletzlich. Deshalb müssen wir ein Mindest-maß an IT-Sicherheit gesetzlich regeln und zur Pflichtmachen.Wenn wir über die Meldepflichten reden, dann sehenwir: Ohne diese haben wir heute eine komplett unklareGefährdungslage. Wenn wir nicht wissen, wie groß dieGefahr ist: Wie sollen wir dieser Gefahr dann begegnen?Deshalb brauchen wir die Meldepflichten. Was wir abernicht brauchen, sind Unternehmen, die sich an dieserStelle wegducken, weil sie den Wert eines umfassendenLagebildes und die sich daraus ergebenden Chancen fürein gezieltes Vorgehen gegen Angreifer verkennen.Stattdessen brauchen wir Unternehmen, die in dieSicherheit ihrer IT investieren. Das gibt es nicht zumNulltarif; das ist klar. Investitionen kosten Geld und sindteuer. Ich bin aber überzeugt davon, dass sich dort jedereinzelne Cent lohnt; denn für den, der es versäumt,rechtzeitig zu investieren und sich zu schützen, wird esam Ende noch teurer werden. Deshalb muss dieses Ge-setz auch mehr sein als nur eine Vorgabe für Betreiberkritischer Infrastrukturen.Ich wünsche mir, dass wir damit einen Anstoß füreine gesamtgesellschaftliche Debatte über das ThemaIT-Sicherheit geben können. Die ist längst überfällig,und deshalb ist es auch gut, dass wir das heute diskutie-ren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit der letzten Le-sung hat es einige Änderungen gegeben, über die wirheute schon gesprochen haben. Es gibt aber auch As-pekte, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben und– davon bin ich überzeugt – die in diesem Gesetzentwurfnoch ihren Platz hätten finden können, dieses Mal abernoch außen vor geblieben sind.Ich denke zum Beispiel – damit bin ich bei den Grü-nen – an das Grundrecht auf Gewährleistung der Ver-traulichkeit und Integrität informationstechnischer Sys-teme, das endlich mit Leben erfüllt werden muss. DieNutzung von Methoden zur Anonymisierung und Pseu-donymisierung und all das, was wir unter den Stichwor-ten „Privacy by Design“ und „Privacy by Default“, alsodem technikgestützten Datenschutz und dem Daten-schutz durch Voreinstellung, diskutieren: Das haben wirim Koalitionsvertrag vereinbart, und das dürfen wirnicht aus den Augen verlieren, sondern sollten es ent-schieden weiterverfolgen.
Ich wünsche mir aber auch – hier bin ich auch auf derLinie der Opposition –, dass wir zu einer größeren Unab-hängigkeit des BSI kommen und dass wir uns endlichGedanken darüber machen, wie wir in dieser Richtungdie richtigen Weichen stellen können; denn das BSI wirdmit diesem Gesetz bezüglich der Abwehr von Gefahrenfür die Sicherheit der Informationstechnik in Unterneh-men, in den Verwaltungen und in Bezug auf die Bürge-rinnen und Bürger deutlich gestärkt, und das ist auch gutso.Die Anbindung an das BMI in diesem Bereich bringtaber eine Gefahr mit sich, die über die Probleme hin-sichtlich der Zuständigkeit für die defensive Sicherheitdeutlich hinausgeht. Um diesen Konflikt gar nicht erstentstehen zu lassen, werden wir uns auch weiterhin füreine größere Unabhängigkeit einsetzen. Das ist meinerMeinung nach nicht nur glaubwürdiger, sondern wirdder Rolle des BSI im Rahmen der gesamten Sicherheits-architektur des Bundes auch wesentlich besser gerecht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit derletzten Lesung hat sich einiges getan, und viele derneuen Ansätze, die sich in dem aktuellen Entwurf fin-den, sind absolut zu begrüßen. So haben die jüngstenVorfälle gezeigt – das wurde heute schon vermehrt ange-sprochen –, dass sich die IT-Sicherheitslage im Bund ste-tig verschärft und dass Angriffe nicht nur immer zahlrei-cher, sondern auch immer komplexer werden. Deshalbist es folgerichtig, dass der veränderte Gesetzentwurfauch den Bund in die Pflicht nimmt; denn auch hierbrauchen wir verbindliche Mindeststandards, um diesenHerausforderungen begegnen zu können.Genauso verhält es sich mit der nun vorgesehenenEinbeziehung von Hard- und Softwareherstellern; dennwenn Betreiber kritischer Infrastrukturen Sicherheitslü-cken nicht vollständig beheben können, dann dürfen dieHersteller an dieser Stelle nicht untätig bleiben. Deshalbist es nur konsequent, dem BSI hier das Recht einzuräu-men, von diesen auch die Mitwirkung an der Beseiti-gung einer Störung zu verlangen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10579
Christina Kampmann
(C)
(B)
Es ist auch richtig, über den kooperativen Ansatz hin-auszugehen und ein Bußgeld für diejenigen vorzusehen,die im Rahmen dieses Gesetzes nicht dazu bereit seinwerden, ihren Beitrag zu leisten. Frau Künast, das be-trifft nicht nur die Meldepflichten, sondern auch dieMindeststandards. Das ist aus meiner Sicht auch keinMangel an Vertrauen, sondern unterstreicht nur die poli-tische Bedeutung, die IT-Sicherheit im Rahmen kriti-scher Infrastrukturen hat und die wir ihr auch zugeste-hen.
Diese Veränderungen bringen erhebliche Verbesse-rungen an wichtigen Stellen und zeigen damit, dass wires mit der Umsetzung von mehr IT-Sicherheit inDeutschland ernst meinen. Dafür haben wir heute einenentscheidenden Schritt getan.
– „Wir von der Koalition“, genau.
Bei der ersten Lesung habe ich gesagt – ich zitieremich einmal selbst –, dass ich mir in diesem Gesetzent-wurf eine Verpflichtung zur Transportverschlüsselungfür Telekommunikationsunternehmen gut hätte vorstel-len können, weil so etwas wie eine marktgetriebene Ver-schlüsselung in etwa so häufig zu finden ist wie eineNiederlage von Arminia Bielefeld im DFB-Pokal, näm-lich quasi nie. Dieter Janecek von den Grünen meintedaraufhin, dass dieser Entwurf fußballkategorisch docheher in der Kreisklasse statt in der Champions League zuverorten sei. Inzwischen ist Arminia Bielefeld aufgestie-gen, das Champions-League-Finale hat am vergangenenSamstag stattgefunden, und ich bin nach den benanntenÄnderungen geradezu zutiefst davon überzeugt, dass wirmit diesem Entwurf in der sicherheitspolitischen Cham-pions League angekommen sind. Vielleicht sind wirnoch nicht der FC Barcelona – da ist, glaube ich, nochein bisschen Luft nach oben –;
aber im Halbfinale ausscheiden wird dieser Gesetzent-wurf mit Sicherheit nicht.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Hansjörg Durz für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beider Einbringung und auch heute haben alle Redner be-tont: Die IT-Sicherheitslage in Deutschland ist ange-spannt. Der Hackerangriff auf unser Parlament – auchdas wurde in vielen Reden erwähnt – ist das jüngste Bei-spiel dafür, wie verwundbar informationstechnische Sys-teme sind. Für unsere Wirtschaft hat KPMG ermittelt,dass 40 Prozent der deutschen Firmen in den vergange-nen zwei Jahren Ziel von Computerkriminalität waren.Die dabei entstandene Schadenssumme geht in die Mil-liarden. Gestern hat BITKOM kommuniziert, dass Un-ternehmen bei der IT-Sicherheit deutlich nachbessernmüssen. Die Schadsoftware wird immer komplexer undbleibt nicht selten unerkannt. Auch der letzte Bericht desBSI zur Lage der IT-Sicherheit in Deutschland stellteklar heraus, dass durch die zunehmende digitale Durch-dringung und Vernetzung aller Lebensbereiche und Ar-beitsbereiche eine dynamische Gefährdungslage ent-steht. Anders ausgedrückt: Die zunehmende Vernetzungmacht unsere Systeme insgesamt immer anfälliger.Genau hier setzt das IT-Sicherheitsgesetz an. ImGrundsatz klingt das Ziel des Gesetzes zunächst einfach:Um die Chancen der Digitalisierung erfolgreich nutzenzu können, ist es erforderlich, das IT-Sicherheitsniveauzu erhöhen. Das klingt einleuchtend, man könnte fast sa-gen: banal. Dass es aber alles andere als selbstverständ-lich ist, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, belegendie eben zitierten Studien sehr eindeutig.In Deutschland existieren eine Reihe freiwilliger Ini-tiativen und Angebote zur Erhöhung der IT-Sicherheit,die äußerst sinnvoll sind. Eine Vielzahl von Firmen han-delt vorbildlich, allein schon aus eigenem Interesse.Aber Freiwilligkeit allein reicht insbesondere bei kriti-schen Infrastrukturen eben nicht aus, um die IT-Systemegegen Angriffe zu schützen. Oftmals wird das Bewusst-sein für Handlungs- und Investitionsbedarf bei der IT-Si-cherheit erst geweckt, wenn tatsächlich ein Schaden ein-getreten ist. Dann ist es meist zu spät. Das können unddürfen wir uns als hochentwickelte Industrienation nichtleisten. Das IT-Sicherheitsniveau verschiedener Infra-strukturen innerhalb der Sektoren, die für die Daseins-vorsorge in unserem Land als kritisch anzusehen sind, istsehr unterschiedlich. Es ist daher absolut dringlich,durch dieses Gesetz die Widerstandsfähigkeit kritischerInfrastrukturen zu erhöhen.Deutschland nimmt damit eine Vorreiterrolle im Be-reich der IT-Sicherheit ein. Beispielgebend ist dabei abernicht nur die Tatsache, dass wir dieses Gesetz auf denWeg bringen, sondern vor allem auch die dahinterste-hende kluge Philosophie des kooperativen Ansatzes.Dieser besteht auf der einen Seite aus einer engen Betei-ligung der Unternehmen, also der Betroffenen, über ihreVerbände. Auf der anderen Seite stehen ein wirksamerSanktionsmechanismus sowie die Kontrolle der Einhal-tung der zu definierenden Verpflichtungen durch dasBSI. Ich bin der Überzeugung, dass es mit diesem An-satz gelingt, ein funktionierendes System zu etablierenund passgenaue und branchenspezifische Standards zuerreichen, die dem notwendigen Sicherheitsniveau einerdigitalen Gesellschaft entsprechen. Nur mit diesem An-satz werden wir der dynamischen Entwicklung begegnenkönnen.
Metadaten/Kopzeile:
10580 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Hansjörg Durz
(C)
(B)
Von einem höheren Sicherheitsniveau wird unseregesamte Wirtschaft in Deutschland profitieren. UnsereWirtschaft ist auf das Funktionieren kritischer Infra-strukturen angewiesen, der eine mehr, der andere weni-ger. Kein Unternehmen in unserem Land kann es sichleisten, dass es in für die Daseinsvorsorge elementarenBereichen über einen längeren Zeitraum beeinträchtigtist. Daher erreichen wir mit einem Mehr an Sicherheitfür die Betreiber kritischer Infrastrukturen automatischauch ein Mehr an Sicherheit für unsere Wirtschaft.Welche weiteren Vorteile hat dieses Gesetz für dieWirtschaft? Ein Punkt kommt mir in der Diskussion ge-legentlich etwas zu kurz: Das durch das IT-Sicherheits-gesetz geschaffene Meldesystem ist – Stephan Mayer hates vorhin erwähnt – alles andere als eine Einbahnstraße.Die Unternehmen, die an dem System mitarbeiten, be-kommen Rückmeldungen vom BSI auch über andereVorfälle. Insofern sind die Unternehmen zu einem privi-legierten Meldesystem zusammengeschlossen. Ich möchtegar nicht in Abrede stellen, dass den Unternehmen natür-lich auch ein Aufwand entsteht; aber durch die Melde-pflicht, die im Übrigen in der Regel anonym erfolgt, unddurch den Austausch von Informationen über sicher-heitsrelevante Aspekte profitieren die Unternehmen inhohem Maße voneinander. Durch das System von Mel-dung und Rückmeldung können wichtige Informationenzu einem Frühwarnmechanismus beitragen und zu einemeinheitlichen Lagebild führen.Ein weiterer Mehrwert für die Unternehmen liegt inder Erarbeitung von IT-Mindeststandards. Dies gilt inzweierlei Hinsicht: Wir wissen, dass das Sicherheitsni-veau bei den einzelnen Unternehmen sehr heterogen ist.Auf der einen Seite bieten die Standards Orientierung,da sie den Unternehmen aufzeigen, ob und in welchemBereich der IT-Sicherheit Handlungsbedarf besteht. Daauch bei der Erarbeitung der Standards der kooperativeAnsatz verfolgt wird, haben die Firmen zudem die Gele-genheit, über ihre Verbände ihre Erfahrungen undKenntnisse in den Prozess einzubringen. Auf der ande-ren Seite bieten die Standards aber auch Rechtssicherheitfür die Unternehmen, da das BSI die Eignung der erar-beiteten Standards feststellt.Im parlamentarischen Verfahren konnte eine weitereVerbesserung erzielt werden. Die Einbindung der Soft-warehersteller ist hier zu nennen.Als letzten Punkt möchte ich einen zentralen Kritik-punkt aus der Wirtschaft aufnehmen und verdeutlichen,weshalb es so schwer ist, bereits heute den Kreis der Be-troffenen definitiv festzulegen. Angesichts der Dynamikder Digitalisierung ist es sehr komplex, die kritischen In-frastrukturen zu identifizieren und dauerhaft festzu-schreiben. Zunächst sind im Gesetz Sektoren und Bran-chen definiert. Es dürfte aber jedem klar sein, dass alleindie Zugehörigkeit zu einer Branche eine nicht hinrei-chende Bedingung darstellen kann. Ein Beispiel aus demBereich der Energie: Es gibt in Deutschland aktuell circa1,6 Millionen Erneuerbare-Energien-Anlagen. Die meis-ten davon sind klein und absolut unkritisch. Schließtman hingegen viele EEG-Anlagen, beispielsweise vieleWindkraftanlagen, über eine gemeinsame Leitwarte zueinem virtuellen Kraftwerk zusammen, so kann aus vie-len kleinen Anlagen eine kritische Infrastruktur wer-den. – An diesem Beispiel wird deutlich, dass man sichbei der Festlegung der Schwellenwerte an den Dienst-leistungen und am Versorgungsgrad orientieren mussund eben nicht nur an der Größe der Anlagen. Dieserkomplizierte Vorgang muss für alle Branchen entspre-chend durchgearbeitet werden.Das Gesetz verfolgt einen neuen und modernen An-satz, einen kooperativen Ansatz. Angesichts der Kom-plexität, vor allem aber der Dynamik der Digitalisierungist das genau der richtige Weg. Dieser kooperative An-satz muss allerdings auch gelebt werden. Deshalb wärees schön, wenn wir Parlamentarier in die Erarbeitung derVerordnung mit einbezogen werden könnten.
Dabei muss uns allen aber bewusst sein, dass sowohl fürdie Verordnung als auch für das Gesetz stetige Kontrolleund Evaluierung erforderlich sein werden. Sicherheit istein dynamischer Prozess.Die Koalition macht heute auch im Sinne unsererWirtschaft einen klugen und großen Schritt RichtungStabilisierung unserer IT-Sicherheit.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Marian Wendt ist der letzte Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Der Stirb langsam-Filmheld John McLane kom-mentierte seinen Sieg über das Böse immer mit den Wor-ten „Yippie-ya-yeah“. Auch in der vierten Folge mit demfinalen Sieg über den Cyberterroristen Thomas Gabrielnutzte er diese Worte. Dieser Cyberterrorist hatte zuvordie gesamte IT-Infrastruktur der Ostküste der Vereinig-ten Staaten lahmgelegt, um einen riesigen Raubzugdurchzuführen. Das wäre ihm auch fast gelungen, hättees nicht John McClane und seinen Mitstreiter gegeben. –Alles nur Film? Alles nur ausgedacht? Davon hat man2007, als der Film veröffentlicht wurde, vielleicht nochüberzeugt sein können. Jetzt und heute zu glauben, dassdiese Geschichte – abgesehen von einigen Details – anden Haaren herbeigezogen ist, ist weltfremd.Da ich nun Ihre volle Aufmerksamkeit habe, könnenwir den vorliegenden Gesetzentwurf näher betrachten.Das IT-Sicherheitsgesetz, dessen Entwurf uns hier vor-liegt, ist sicherlich sachlicher und dröger als der Klassi-ker Stirb langsam. Es gibt keine bekannten Helden, au-ßer vielleicht dem BSI-Präsidenten Hange, und nur rechtwenig Action.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10581
Marian Wendt
(C)
(B)
Aber die Auswirkungen von IT-Angriffen sind genausogefährlich wie im Film dargestellt.Wenn heutzutage Angriffe auf die digitalen Struktu-ren von Unternehmen oder Behörden durchgeführt wer-den, dann sind die Helden stille Fachleute in den IT-Ab-teilungen der Unternehmen, Männer und Frauen, dieversuchen, die Dinge wieder geradezurücken. Sie schät-zen den Schaden ein und ergreifen Gegenmaßnahmen.Sie sitzen dabei oft in Kellern, in hochgesicherten Anla-gen oder Bunkern. Sie bieten eine Dienstleistung an, dieman eigentlich nur benötigt, wenn etwas schiefgeht. Hiermöchte ich einmal ein Lob und meine Anerkennung fürdie Leistung dieser Menschen aussprechen.Für erfolgreiche IT-Angriffe gibt es leider medien-wirksame Beispiele: Regin, Stuxnet und andere Angriffeaus dem asiatischen Raum oder aus Russland auf Indus-trieunternehmen, Unternehmen der öffentlichen Da-seinsvorsorge und andere KRITIS-Betreiber. Ein aktuel-les Beispiel gab es auch im Vorfeld der sächsischenKommunalwahl am letzten Sonntag, als der Ausfall desKISA-Servers die Briefwahl um bis zu zwei Tage verzö-gerte.Die Zahl der Angriffe und Angriffsversuche istschwer abschätzbar; den Meldungen nach gehen sie je-den Tag in die Abertausende. Ich möchte Ihnen ein klei-nes Beispiel nennen: Am 18. Mai dieses Jahres fandenbis 14 Uhr weltweit über 100 000 Angriffe auf IT-Sys-teme statt. Davon kamen allein 24 000 Angriffe ausChina. Das alles geschah binnen 14 Stunden. – Deshalbreden wir heute über die Angriffe auf unsere kritische In-frastruktur, diejenige Infrastruktur also, die für das ge-ordnete Zusammenleben und den Fortbestand der frei-heitlich-demokratischen Grundordnung in unserem Landessenziell ist.Dabei sind wir als Nutzer durch unser Verhalten maß-geblich mitverantwortlich für die IT-Sicherheit; denn diegrößte Sicherheitslücke in der IT ist und bleibt derMensch. Haben Sie schon einmal einen gefundenenUSB-Stick ins Laufwerk gesteckt, einen Link auf einerSchmuddelseite geklickt oder hat sich einmal ein ent-sprechendes Pop-up geöffnet? Ein Klassiker ist auch, diePIN auf die Bankkarte zu schreiben oder – ein anderesBeispiel – bei verschiedenen Onlinekonten – im Schnittbesitzen wir 14 – die gleiche Passwortkombination zunehmen, bestehend beispielsweise aus dem Vornamender Mutter und der alten Postleitzahl oder dem eigenenGeburtsdatum.
Schon steht man vor den Scherben jeder noch so ausge-klügelten IT-Sicherheitstechnologie. Da können wir nochso lange über das IT-Sicherheitsgesetz und das hoheitli-che Handeln des BSI reden.Wenn sich die Sicherheitskultur in unserem Landnicht ändert, dann können wir, wie schon gesagt, noch soausgeklügelte Maßnahmen, noch so hohe Standards oderauch noch so strafbewehrte Mechanismen haben: Wirwerden den Kampf gegen Cybercrime verlieren, undzwar auf allen Ebenen. Die digitale Verwaltung wirdsich nicht weiterentwickeln; denn ohne Vertrauen gehtdas nicht. Gleiches gilt für das Onlinebanking, die Indus-trie 4.0 und im Grunde genommen für jede Dienstleis-tung im Netz.Das große Problem ist, dass die Nachlässigkeit vielerEinzelner andere massiv gefährdet. Wenn in der FrageIT-Sicherheit Risiko und Haftung Hand in Hand gingen,würde sich das Problem fast von selbst lösen: Jeder hätteden Anreiz, darauf zu achten, dass die eigenen Systemeausreichend – wenigstens mit einem Mindeststandard –abgesichert sind. Jedoch ist das bisher noch nicht derFall. Nachlässige Nutzer sichern ihre Systeme nicht. Wirwerden die heutige Verabschiedung des IT-Sicherheits-gesetzes zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken,wie wir unsere Gesellschaft für mehr Sicherheitskulturgewinnen können.Ungesicherte Systeme werden kompromittiert undmissbraucht, verbreiten Infektionen, bilden Botnetze undbefeuern die Cyberkriminalität. Sie können für alle mög-lichen kriminellen Zwecke missbraucht werden; mankann sie sogar mieten. Dem einzelnen Nutzer geht imZweifel nur der Rechner kaputt. Der gesamtwirtschaftli-che Schaden ist ungleich höher. Wer sich nicht impft,gefährdet sich und andere. Diese Parallele kann manauch in der IT-Sicherheit ziehen. Deswegen brauchenwir eine weitere Debatte über die Sicherheitskultur. DieMenschen müssen aufgeklärt werden. Die Initiative„Deutschland sicher im Netz“ beispielsweise leistet guteArbeit bei der Aufklärung. Diese Initiative möchte ichhier lobend erwähnen und herausstellen.Das vorliegende IT-Sicherheitsgesetz ist ein entschei-dender Schritt hin zur Absicherung unserer kritischenInfrastruktur und zur allgemeinen IT-Sicherheit inDeutschland. Die klarere Rolle des Bundesamtes fürSicherheit in der Informationstechnik ist zum Beispielein großer Erfolg. Dennoch ist das IT-Sicherheitsgesetznur ein Mosaiksteinchen im immer wichtigeren Gesamt-bild bei der Bekämpfung von Cybercrime, das meineKollegen und ich im Rahmen der digitalen Agenda aufdem Schirm haben. Ich sehe das Gesetz – auch im Vor-feld der europäischen NIS-Direktive – als wegweisendenSchritt und freue mich daher heute über diesen Erfolg.Ich möchte fast sagen: Yippie-ya-yeah!
Ich schließe die Aussprache.Bevor wir zu den Abstimmungen über den von derBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf und denEntschließungsantrag kommen, will ich noch eine Be-merkung zu dem in der Debatte aus guten Gründenmehrfach hergestellten Zusammenhang zwischen denGesetzesvorschlägen und den konkreten Angriffen aufdas Datennetz des Bundestages machen. Dazu hat es inden letzten Tagen neben begründeten Nachfragen man-che bemerkenswerten öffentlichen Erklärungen einigerKolleginnen und Kollegen gegeben, die für mich nochplausibler gemacht haben, warum wir in diesem Gesetz-
Metadaten/Kopzeile:
10582 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
entwurf betroffenen Unternehmen die Vertraulichkeitzusagen, die wir für uns selbst offenkundig nicht geltenlassen wollen im Umgang mit der Aufklärung solchersensibler Zusammenhänge.Zweitens, nur zur Klarstellung. All das, was die Si-cherheitsarchitektur des Bundestages betrifft, haben wirselbst beschlossen. Mir ist auch kein Streit in Erinne-rung. Mit der Aufklärung wie den zu ziehenden Schluss-folgerungen ist eine Kommission des Ältestenrates be-fasst, die sich aus Mitgliedern aller Fraktionen diesesHauses zusammensetzt. Ich habe keinen Grund, daran zuzweifeln, dass die Fraktionen in diese Kommission Kol-leginnen und Kollegen entsandt haben, die sie nicht nurfür an dem Thema interessiert, sondern auch für beson-ders sachkundig halten. Es hat im Übrigen gestern imÄltestenrat keine einzige Fraktion Kritik an der Arbeitdieser Kommission oder Kritik an der Bundestagsver-waltung geäußert. Warum dann in der Öffentlichkeit dergegenteilige Eindruck erzeugt wird, erschließt sich mirnicht so richtig.
Ich möchte mich jedenfalls ausdrücklich sowohl beiden Mitgliedern der Kommission, insbesondere bei derVorsitzenden Frau Pau, als auch bei den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung bedan-ken, die nun seit Wochen einen außerordentlich unge-mütlichen Job erledigen. Sie erledigen ihn mit einembemerkenswerten Einsatz und einer Unauffälligkeit, dieoffenkundig nicht allen gefällt, von der ich aber den Ein-druck habe, dass sie dem Thema angemessen ist.
Jetzt kommen wir zu den Abstimmungen. Der Innen-ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/5121, den Gesetzentwurf der Bundes-regierung auf Drucksache 18/4096 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratungmit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen derOpposition angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich von den Plät-zen zu erheben. – Wer stimmt gegen diesen Gesetzent-wurf? – Damit ist der Gesetzentwurf mit dem geradegenannten Mehrheitsverhältnis vom Bundestag ange-nommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/5127. Wer stimmt diesem Entschlie-ßungsantrag zu? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Ent-haltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Ent-schließungsantrag mehrheitlich abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Einführung einer Speicher-pflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrs-datenDrucksache 18/5088Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss Digitale Agendab) Beratung des Antrags der Abgeordneten JanKorte, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAuf Vorratsdatenspeicherung verzichtenDrucksache 18/4971Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss Digitale AgendaAuch für diese Debatte ist interfraktionell eine Debat-tenzeit von 96 Minuten vorgesehen. – Das findet offen-kundig Zustimmung. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demBundesminister der Justiz, Heiko Maas.
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Bei dem vorliegenden Gesetzent-wurf stehen sich zwei große Werte gegenüber: Freiheitund Sicherheit. Da ist auf der einen Seite das Recht derBürgerinnen und Bürger auf eine unkontrollierte, freieTelekommunikation. Sie wird geschützt durch Artikel 10des Grundgesetzes. Zu ihr gehört nicht nur der Inhaltvon Gesprächen, sondern auch die Information, wannvon welchem Telefonanschluss welche Nummer ange-wählt worden ist. Auf der anderen Seite steht der An-spruch der Menschen auf eine effektive Strafverfolgung,auf eine rasche Aufklärung und Ahndung von Verbre-chen und damit darauf, einen Beitrag zu leisten, dassweitere Verbrechen erst gar nicht geschehen. Hierfür ge-ben wir mit diesem Gesetz den Sicherheitsbehörden beischwersten Straftaten ein zusätzliches Instrument.Um zu beurteilen, wie tief der Eingriff in diese Werteund auch in die Rechte von Einzelpersonen ist, ist essinnvoll, sich mit der Rechtslage auseinanderzusetzen,die wir jetzt haben. Nach § 100 g Absatz 1 der StPO istes bereits heute, das heißt ohne dieses Gesetz, erlaubt,Verkehrsdaten zu erheben, und zwar ohne Wissen derBetroffenen – es handelt sich also um eine heimliche Er-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10583
Bundesminister Heiko Maas
(C)
(B)
mittlungsmaßnahme –, um Straftaten von erheblicherBedeutung aufzuklären. Die Erhebung bezieht sich aufVerkehrsdaten, das heißt auf alle Verbindungsdaten undauch auf alle Standortdaten, die bei der Telekommunika-tion und ihren Unternehmen gespeichert werden.Wir haben die Situation – dies ist insbesondere vonden Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren immerwieder moniert worden –, dass es bei den Telekommuni-kationsanbietern völlig unterschiedliche Speicherfristengibt. Deshalb führt bei der Verbrechensaufklärung sozu-sagen das Zufallsprinzip Regie. Dort, wo die Daten zumBeispiel aus Kostengründen gar nicht gespeichert wer-den, ist eine Strafverfolgung oftmals nicht möglich.Dort, wo sie sehr kurz gespeichert werden, trifft diesesProblem ebenfalls oft zu.Der Datenschutzbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein, Thilo Weichert, ist sicherlich einer, der in derDatenschutzszene einen besonders guten Ruf genießt.
Er hat zu diesem Thema Folgendes gesagt:Während heute TK-Provider teilweise Verkehrsda-ten sofort oder – aus Gründen der IT-Sicherheit –nach einer kurzen Frist von 7 Tagen löschen, gibt esAnbieter, die Verkehrsdaten monatelang oder garunbefristet aufbewahren, und Sicherheitsbehörden,die hierauf für ihre Zwecke– auch nach bereits geltendem Recht –zugreifen. Nur mit einer gesetzlichen Regelungkann Rechtsicherheit für alle Beteiligten – Behör-den, Provider und Betroffene – erreicht und so derWeg zu einem effektiven Rechtsschutz eröffnetwerden.Das, was die Bundesregierung mit diesem Gesetz vorge-legt hat, ist ein „valider Kompromiss“, ein Interessen-ausgleich zwischen unterschiedlichen Werten. Dem kannich nur zustimmen, meine sehr verehrten Damen undHerren.
Wir haben uns, als wir dieses Gesetz erstellt haben,insbesondere an zwei dazu vorliegenden Urteilen orien-tiert. Das sind zum einen ein Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts und zum anderen ein Urteil des Europäi-schen Gerichtshofes. In der Diskussion wird teilweiseausgeführt, dass die anlasslose Speicherung von Ver-kehrsdaten schon per se dem Grundgesetz und denGrundrechten widerspreche. Auch hier hilft ein Blick indas Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2010.Dort wird ausgeführt:Eine … anlasslose Speicherung von Telekommuni-kationsverkehrsdaten für qualifizierte Verwendun-gen im Rahmen der Strafverfolgung … ist mitArt. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar.Diejenigen, die behaupten, dass dies schon grundsätzlichein Verstoß gegen Artikel 10 sei, werden durch das Bun-desverfassungsgericht widerlegt.Nun gibt es einige, die die Notwendigkeit oder dieSinnhaftigkeit solcher Maßnahmen infrage stellen. Auchhierzu macht das Bundesverfassungsgericht Ausführun-gen:Es werden hierdurch– nämlich durch die anlasslose Speicherung von Ver-kehrsdaten –Aufklärungsmöglichkeiten geschaffen, die sonstnicht bestünden und angesichts der zunehmendenBedeutung der Telekommunikation auch für dieVorbereitung und Begehung von Straftaten in vielenFällen erfolgversprechend sind.
Damit ist, wenn man sich am Bundesverfassungsgerichtorientiert, klar: Der Eingriff in die Rechte durch eine an-lasslose Speicherung von Verkehrsdaten wird vom Bun-desverfassungsgericht nicht grundsätzlich abgelehnt. Ermuss verhältnismäßig sein. Das Bundesverfassungsge-richt hat hierfür in seinem Urteil hohe Hürden gesetzt,und wir haben diese Hürden alle in diesen Gesetzentwurfintegriert.Wir haben erstens einen Gesetzentwurf vorgelegt, beidem wir Höchstspeicherfristen definieren. In der Vergan-genheit ging es im Wesentlichen um Mindestspeicher-fristen. Oftmals ist noch nicht einmal geklärt gewesen,was mit den Daten nach Ablauf der Mindestspeicherfristgeschieht. Vielfach sind sie einfach weiter verwaltetworden. Mit den Höchstspeicherfristen führen wir aucheinen ganz grundsätzlichen Paradigmenwechsel ein: DieDaten müssen nach Ablauf der Fristen gelöscht werden.Unternehmen, die sich nicht daran halten, werden mithohen Geldstrafen von 500 000 Euro pro Fall belegt. DieDefinition von Höchstspeicherfristen ist also die erstegroße Übernahme dessen, was das Bundesverfassungs-gericht uns vorgegeben hat.Zweitens speichern wir die Daten nicht, wie im altenGesetz vorgesehen, ein halbes Jahr und auch nicht, wiein vielen anderen europäischen Staaten, ein Jahr oderzwei Jahre. Wir speichern die Standortdaten vier Wo-chen, weil sie ganz besonders sensibel sind, und die Ver-kehrsdaten, die beim Telefonverkehr entstehen, und dieIP-Adressen, die im Webverkehr entstehen, zehn Wo-chen. Meine Damen und Herren, das sind die mit Ab-stand niedrigsten Speicherfristen in ganz Europa. Wirhaben damit auch dem Urteil des EuGH entsprochen, derdarauf hingewiesen hat, dass zwischen den Datenartenzu differenzieren sei und dies auch Einfluss auf die Spei-cherfristen haben müsse. Deshalb ist die Festlegung vonso kurzen Speicherfristen nichts anderes als die Beach-tung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, sowohlvon Karlsruhe als auch von Luxemburg.Wir haben auch, wie es uns diese Urteile vorgegebenhaben, einen Straftatenkatalog, in dem nur schwereStraftaten aufgeführt sind. Das heißt, der Aufruf vonVerkehrsdaten, die im Rahmen dieses Gesetzes gespei-chert werden, ist nicht bei Ordnungswidrigkeiten oderbei kleineren Bagatelldelikten möglich, sondern nur bei
Metadaten/Kopzeile:
10584 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Bundesminister Heiko Maas
(C)
(B)
Mord, Totschlag, bei Straftaten gegen die sexuelleSelbstbestimmung, bei Kinderpornografie und, und, und.Auch damit haben wir einer wesentlichen Vorgabe derGerichte entsprochen.Des Weiteren haben wir in diesem Gesetz ein Verwer-tungsverbot für Berufsgeheimnisträger vorgesehen, füralle, die in § 53 StPO aufgezählt sind, also Journalisten,Geistliche, Ärzte, Abgeordnete. Auch das ist uns vonden Gerichten vorgegeben worden. Nun gibt es einenStreit darüber, ob insbesondere das Urteil des EuGHnicht auch feststellt, dass die Berufsgeheimnisträgerschon auf der Speicherebene und nicht erst auf der Ver-wertungsebene durch ein Verwertungsverbot ausge-schlossen werden.
Natürlich haben wir auch das überprüft. Dazu mussman darauf hinweisen, dass bei der Prüfung der Verhält-nismäßigkeit durch die Gerichte natürlich auch geprüftwird, ob Regelungen, die man schafft, technisch undpraktisch überhaupt anwendbar sind. Das Problem beider Ausnahme der Berufsgeheimnisträger auf der Spei-cherebene besteht ganz einfach darin, dass das Ziel, dasdamit verfolgt wird, nicht erreicht wird. Denn man kannden Festnetzanschluss, wenn er von einem Berufsge-heimnisträger genutzt wird, über eine Meldung beim Te-lekommunikationsanbieter sicherlich freistellen. Es istaber nun einmal so, dass etwa in der mobilen Kommuni-kation und über die Vergabe sogenannter dynamischerIP-Adressen überhaupt nicht klar ist, wie viele IP-Adres-sen ein Berufsgeheimnisträger täglich hat. Deshalbwürde eine Regelung auf der Speicherungsebene völligins Leere gehen. Deshalb glauben wir und sind davonüberzeugt, dass die Interessen und die Berufsausübungs-pflichten von Geheimnisträgern nur dann ausreichendgeschützt werden können, wenn es ein umfassendes Ver-wertungsverbot gibt. Auch das steht in diesem Gesetz. Inihm steht auch, dass keine Zufallsfunde genutzt werdenkönnen. Das heißt, es kann auch nicht über die Hintertüran solche Daten herangekommen werden. Es ist ganzwichtig, auch das einmal deutlich zu machen.
Wir haben die Sicherheitsanforderungen, die das Bun-desverfassungsgericht in sein Urteil hineingeschriebenhat, einfach übernommen: hohe Sicherheitsanforderun-gen an die Speicherung; Speicherung auf Servern, die inDeutschland stehen; Vier-Augen-Prinzip beim Abruf,was bedeutet, dass es zwei digitale Schlüssel – einenbeim Provider und einen bei den Behörden – gibt. Einerallein kann gar nicht mehr an die Daten herankommen,die beim Provider liegen. Das geht nur, wenn diese bei-den digitalen Schlüssel zusammengelegt werden. Ichwürde mir wünschen, dass viele andere Daten auch sogesichert werden wie die, die in diesem Gesetz aufge-führt sind.
Man kann überhaupt nur an die Daten kommen, wennes eine richterliche Entscheidung gibt, und zwar eineohne Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft. Wir wissen,dass die Staatsanwaltschaft – in Eilfällen, wenn Gefahrim Verzug ist – heute oftmals die Entscheidung desRichters ersetzt. Auch das schließen wir aus. Es könnenkeine Daten abgerufen werden, wenn nicht ein Richterdarüber entschieden hat.Meine Damen und Herren, ein Punkt, der auch ausden Urteilen der Gerichte übernommen wird, ist die Be-nachrichtigung an die Betroffenen. Ich will das nocheinmal ausführen, weil das auch aktuell aufgegriffenworden ist. Die Maßnahme ist als eine offene Ermitt-lungsmaßnahme ausgestaltet. So steht es im Gesetz. Dasheißt, die Betroffenen sind grundsätzlich vor der Daten-erhebung zu informieren. Die Zurückstellung der Be-nachrichtigung ist ausnahmsweise nur dann möglich,wenn andernfalls der Ermittlungszweck bzw. der Ermitt-lungserfolg gefährdet wird. Ich halte es für eine Selbst-verständlichkeit, eine solche Regelung in das Gesetzaufzunehmen. Es gibt aber ein Ausnahme-Regel-Ver-hältnis. Der Regelfall ist, dass die Betroffenen über dieDatenerhebung informiert werden. Auch damit ist einewesentliche Vorgabe aus der Rechtsprechung übernom-men worden.Wenn man sich das alles zusammen anschaut, wirdman feststellen, dass wir das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichtes, das sich insbesondere mit dem Zugriffauf die Daten beschäftigt, nicht anders als eins zu einsübernommen haben. Ich kann nur jeden unterstützen, derdieses Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorlegt.Ich bin davon überzeugt, dass dieses Gesetz vor demBundesverfassungsgericht Bestand haben wird, weil wirdas Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht andersals eins zu eins übernommen haben.Dies gilt auch für das Urteil des EuGH so. In ihmwird ein Thema ganz besonders diskutiert. Im Urteilwird nämlich an einer Stelle – zusammengefasst – aus-geführt, dass die anlasslose Speicherung aller Verkehrs-daten unzulässig sei. Das tun wir mit diesem Gesetzauch nicht. Es hätte die Möglichkeit gegeben, einen An-lass – eine erhöhte Terrorwarnstufe; Großereignisse, dieganz besonders anschlagsgefährdet sind – zu definieren.Die räumliche und zeitliche Abgrenzung einer solchenMaßnahme ist aber so schwierig, dass wir uns dafür ent-schieden haben, nicht bei den Ausführungen zur anlass-losen Speicherung im EuGH-Urteil anzusetzen, sondernnicht alle Verkehrsdaten zu erfassen. Der komplette Be-reich der Massenkommunikation über E-Mails und alleIP-Adressen, die dazu gehören, werden von dem Geset-zestext und dem Wirkungskreis des Gesetzes überhauptnicht erfasst. Deshalb werden wir auch dem Urteil desEuropäischen Gerichtshofes gerecht. Auch da bin ichsehr sicher, dass dieses Gesetz – sollte es zu einer Über-prüfung kommen – vor dem EuGH und seiner Recht-sprechung Bestand haben wird.Meine Damen und Herren, ich möchte etwas noch zurEinführung des Tatbestands der Datenhehlerei sagen. Ichfinde, dass das auch notwendig ist; denn wir haben andieser Stelle eine Strafbarkeitslücke. Wir leben immer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10585
Bundesminister Heiko Maas
(C)
(B)
mehr in einer digitalen Gesellschaft, in der Daten aucheine Form von Währung werden. Ich bin der Auffas-sung, dass, wenn mit Daten gehehlt wird, das nichts an-deres ist, als wenn mit Sachen gehehlt wird. Deshalb ha-ben wir einen entsprechenden Tatbestand geschaffen.Nun wird vielfach kritisiert, das würde die Arbeit derJournalisten und der Medien beeinträchtigen.
– Man muss einmal den Gesetzestext lesen, dann ist esmanchmal ganz einfach, die Dinge geradezurücken.
Es mag sein, dass es nicht in die eigene politische Ar-gumentation passt, aber im Gesetz steht: Journalistenund ihre Recherchen sind besonders geschützt. Journa-listen machen sich nicht strafbar, selbst wenn sie die ille-gal beschafften Daten eines Whistleblowers erwerbenund für ihre Berichterstattung verwenden. Sie machensich auch dann nicht strafbar, wenn sie diese Daten vonDritten erwerben. Sie machen sich überhaupt nicht straf-bar. Deshalb ist diese Diskussion, die an dieser Stelle ge-führt wird, eine, die völlig in die Irre führt. Das ist sonicht richtig, das steht nicht im Gesetz. Wir beschneidenmit dem neuen Tatbestand der Datenhehlerei überhauptnicht die Arbeit und die Möglichkeit von Journalistenoder von Medien.
Meine Damen und Herren, ich bin weit davon ent-fernt, zu behaupten, dass die Vorratsdatenspeicherungein Allheilmittel ist, um alle Straftaten sicher aufklärenzu können.
Aber wir werden mit dem Instrument, das wir schaffen,und der Art und Weise, wie wir den Eingriff in die per-sönliche Freiheit auf ein Minimum begrenzt haben, denErmittlungsbehörden zusätzliche Möglichkeiten geben,schwerste Straftaten – Mord, Totschlag, Straftaten gegendie sexuelle Selbstbestimmung, Kinderpornografie –besser aufzuklären, als es bisher der Fall gewesen ist.Dafür lohnt es sich, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Egal was Sie erzählen, wie Sie es nennen: Eine Vorrats-datenspeicherung bleibt eine Vorratsdatenspeicherungbleibt eine Vorratsdatenspeicherung. Deswegen lehnenwir sie ab.
Wir wollen versuchen, dies bei diesem ganzen Ge-schwurbel, das hier erzählt wird, ein wenig zu überset-zen. Es geht heute ganz konkret um einen Gesetzentwurf– es ist das zweite Mal, dass eine Große Koalition dasGanze einführt –, es geht um die Totalerfassung desKommunikationsverhaltens fast aller Menschen in derBundesrepublik.
Jedes Telefongespräch, jede SMS, jeder Internetbesuch:Die Dauer und die IP-Adresse werden zehn Wochen ge-speichert, die Standortdaten vier Wochen.
Man muss einmal 30 Jahre zurückblicken, wie dorteine Vorratsdatenspeicherung ausgesehen hätte, um esfür Sie ein wenig zu versinnbildlichen. Am Beispiel derBibliothek hätte es bedeutet, dass ein Bibliotheksmitar-beiter immer und ausnahmslos exakt mitgeschriebenhätte, welche Seite ich mir in welchem Buch angesehenhätte.
Man hätte kein Telefonbuch mehr durchblättern können,ohne dass ein Mitarbeiter der Bundespost dabei zusieht.Das muss man sich einmal überlegen. Deswegen geht eshier um einen Generalverdacht gegen die gesamte Be-völkerung. Das ist mit dem demokratischen Rechtsstaatschlicht nicht vereinbar, liebe Kolleginnen und Kolle-gen.
Es gibt überhaupt gar keinen nachweisbaren Nutzenfür das, was Sie einführen. Das BMJ hat es selber mehr-fach gesagt: Es gibt gar keinen Nutzen, wir können garkeine Fälle benennen. – Es ist unverhältnismäßig, und– das ist das eigentlich Schlimme – es verändert die Ge-sellschaft. Das schleichende Gift der Überwachung führtzu Angst, zu einer Lähmung und schlussendlich zu einerAnpassung des Kommunikationsverhaltens. Das wollenwir auf keinen Fall.
– Herr Grosse-Brömer, das sollten Sie auch nicht wollen.
Nun wollen wir das Ganze mit weiteren sachlichenArgumenten begleiten und auseinandernehmen.
Metadaten/Kopzeile:
10586 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Jan Korte
(C)
(B)
Ich will deswegen – es tut mir leid – auf die SPD einge-hen. Ich glaube, bei der CDU/CSU ist in dieser Fragenichts mehr zu retten.
Kollege Korte, bevor Sie das tun: Der Kollege Wendt
wünscht, eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu
machen.
Je mehr Zeit für die Opposition, desto besser.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor ich meine Frage
an Sie richte, gestatten Sie mir die Zwischenbemerkung,
dass ich es als kleinen Treppenwitz der Geschichte be-
trachte, dass sich gerade die Linkspartei als Nachfolge-
rin des SED-Staates zum Rechtsstaataufklärer und -ver-
teidiger aufschwingt.
Sie sprachen davon, dass dieser Gesetzentwurf keinen
Nutzen bringt. Das Bundeskriminalamt hat erfasst, dass
ungefähr 85 bis 90 Prozent der Fälle von Kinder- und Ju-
gendpornografie nicht ermittelt werden konnten, der Tä-
ter nicht dingfest gemacht werden konnte, weil heutzu-
tage die Nutzer oder Konsumenten von diesem Material
diese Dinge nur noch streamen. Sie besitzen es zu Hause
nicht physisch als Videokassette, als CD-ROM, als
USB-Stick oder Datei auf der Festplatte, sondern sie
streamen es und sind im Nachhinein als Nutzer nur noch
über die IP-Adresse zu identifizieren.
Deswegen frage ich Sie: Was ist – ganz konkret – Ihr In-
strument, um die Kinder- und Jugendpornografie einzu-
dämmen? Welches Instrument wollen Sie dem BKA an
die Hand geben, damit es diese 90 Prozent der Straftaten
aufklären kann?
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Zunächst: Bei der Vor-ratsdatenspeicherung geht es um anlasslose Speiche-rung, nicht um anlassbezogene.
Das ist der wesentliche Unterschied; das ist der Kern desGanzen. Es scheint noch nicht angekommen zu sein.Zu Ihrer ersten Bemerkung will ich natürlich eine Ge-genbemerkung machen. Gerade weil wir wissen, welcheGeschichte unsere Partei hat, haben wir uns damit ausei-nandergesetzt und gesagt: Nie wieder Sozialismus ohnedemokratischen Rechtsstaat! – Der demokratischeRechtsstaat ist über alles zu stellen. Ich sage Ihnen: Wirhaben daraus eine Lehre gezogen.
Das könnten Sie mit Ihren Blockfreunden – es sind ja einpaar unter uns – auch einmal machen.
Jetzt zu Ihren Fragen. Wir haben heute bei Straftatenim Zusammenhang mit dem Besitz und der Beschaffungvon Kinderpornografie eine Aufklärungsquote von85 Prozent. Insgesamt, bei allen Straftaten, liegt die Auf-klärungsquote im Schnitt bei 54,9 Prozent. Also wird indiesem Bereich schon sehr gut ermittelt.Das eigentliche Problem in diesem Bereich ist doch– wie wir in den letzten anderthalb Jahren erleben konn-ten – nicht eine fehlende Vorratsdatenspeicherung, son-dern die Tatsache, dass es viel zu wenige Ermittler gibt,die das Material sichten können.
Das ist doch das Problem in diesem Bereich. Was erzäh-len Sie denn für einen grotesken Unsinn? – Vielen Dank,dass ich das noch unterbringen konnte.Nun aber zu den Freunden der Sozialdemokraten.Was sagen die Befürworter? Sie sagen: Keine Vorratsda-tenspeicherung vorzunehmen, wäre fahrlässig im Kampfgegen den Terror. Da Sie es mir nicht glauben, möchteich den Bundesjustizminister zitieren. Er hat auf eineentsprechende Frage geantwortet:Nein. Fahrlässig ist allenfalls, den Leuten weiszu-machen, dass die Vorratsdatenspeicherung geeignetwäre, solche Anschläge zu verhindern. In Frank-reich gibt es eine Vorratsdatenspeicherung, sie hatdie Anschläge nicht verhindert.Recht hat der Bundesjustizminister.
Was heißt Vorratsdatenspeicherung für den demokra-tischen Rechtsstaat? Der Bundesjustizminister in seinerAntwort:Das heißt, wir würden genau das machen, was dieTerroristen eigentlich wollen, nämlich unsere Frei-heit und unseren Rechtsstaat einschränken, unddeshalb finde ich das auch aus diesem Grund völligkontraproduktiv.Recht hat der Bundesjustizminister.
Zur Frage, ob die Vorratsdatenspeicherung mit derEntscheidung des Europäischen Gerichtshofs vereinbarist, sagt der Bundesjustizminister:Wenn der Europäische Gerichtshof entscheidet,dass etwas nichtig ist, weil es gegen die Grund-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10587
Jan Korte
(C)
(B)
rechte verstößt, dann kann die Politik nicht hinge-hen und sagen, interessiert uns nicht.Recht hat der Bundesjustizminister.
Zur Frage, ob Vorratsdatenspeicherung sicherheits-mäßig einen Vorteil bringt, sagt der Bundesjustizminis-ter im Deutschlandfunk:… es ist im Übrigen auch so, dass es keinerlei Be-weise dafür gibt, dass die Vorratsdatenspeicherungzu all den Segnungen führt, die mit ihr verbundenwerden.Recht haben Sie, Heiko Maas.
Aber dann stehen Sie auch dazu! Stellen Sie sich nichthin und machen das Gegenteil von dem, wofür Sie gutargumentiert haben.
Man muss sich die Argumente, die in diesem Inter-view sehr sachlich vorgetragen sind, auf der Zunge zer-gehen lassen. Was ist Ihre Konsequenz, Herr Justiz-minister, was ist die Konsequenz der Sozialdemokraten?Sie führen die Vorratsdatenspeicherung einfach ein. Dasist wirklich schon sehr grotesk. Wie unglaubwürdig kannman eigentlich in dieser Debatte sein?Herr Justizminister, eine Ausrede kann im Übrigennicht zählen: Es kann doch nicht sein, dass Sie einfachumfallen, nur weil die Spitzenkraft Sigmar Gabriel, derVorsitzende Ihrer Partei ist, gerade eine Laune hat undauf einmal für die Vorratsdatenspeicherung ist. KehrenSie um, liebe Freunde der SPD! Sie veranstalten doch ei-nen Konvent. Hören Sie auf Ihre Parteibasis, und stop-pen Sie dieses Projekt!
Ich will ergänzen – das ist insbesondere zwischen unseine beliebte Debatte –: Wenn Sie von der SPD für dieVorratsdatenspeicherung sind, dann sind Sie für dieLinke übrigens nicht regierungsfähig – um das auch malklar zu sagen und es zurückzugeben.
Dann kann man mit Ihnen eine fortschrittliche bürger-rechtsorientierte Politik nicht machen. Ich kann es janicht ändern. Das ist Ihre Entscheidung.Insgesamt: Juristen, Bürgerrechtler, zwei Gutachtendes Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, Jour-nalistenverbände, Rechtsanwaltsverbände und im Übri-gen auch die aus den Reihen der CDU/CSU stammendeBundesbeauftragte für den Datenschutz haben es deut-lich gesagt: Die Vorratsdatenspeicherung – so wie Sie siewollen und überhaupt – ist grundrechtswidrig, und sie istverfassungswidrig. Dass man das im Jahr zwei nachSnowden hier immer noch betonen muss, das ist wirk-lich nicht zu fassen.
Noch eine Sache. Wir Linke müssen uns ja mittler-weile wirklich um alles kümmern.
Haben Sie einmal darüber nachgedacht, was für Kostenfür die Internetwirtschaft und für die Kommunikations-unternehmen anfallen? Damit meine ich nicht die großenPlayer wie die Telekom, sondern die vielen kleinen Un-ternehmen, die ernsthafte Probleme haben, diese Spei-cherkapazitäten bereitzustellen.
Daran hätten Sie denken müssen, wenn Sie sich die Mit-telstandsförderung groß auf die Fahne schreiben. Auchhier sind Sie schlicht unglaubwürdig.
Fassen wir zusammen: Warten Sie nicht auf dienächsten Gerichtsentscheidungen. Der Zweck heiligtnicht die Mittel, auch nicht im Kampf gegen den interna-tionalen Terrorismus. Unsere Antwort auf die Bedro-hung durch den internationalen Terrorismus, die es inder Tat gibt, kann nur lauten: mehr Freiheit, mehrRechtsstaat, mehr Demokratie. Das bedeutet vor allemdie Verteidigung und Rückeroberung der freien Kommu-nikation und damit des aufrechten Ganges. Das wäre dasrichtige Signal von hier aus, meine Damen und Herren.
Da ich noch fünf Sekunden Redezeit habe: Der Kol-lege von Notz und ich haben heute 112 000 Unterschrif-ten entgegengenommen, die in kürzester Zeit von Cam-pact, AK Vorrat und der Digitalen Gesellschaftgesammelt wurden.
Das ist eine gute Sache. Wir bedanken uns für die Initia-tive. Herr Maas, ich darf Ihnen die Unterschriften über-geben.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
10588 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
(C)
(B)
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Günter Krings.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der letzte Redebeitrag hat gezeigt, dass zumin-dest der linke Teil der Opposition die verfassungsrechtli-che Orientierung in Fragen der Speicherfristen für Ver-kehrsdaten ganz offensichtlich verloren hat. Ich möchteIhrem politischen Tunnelblick gerne die verfassungs-rechtliche Orientierung entgegensetzen und Ihnen dieseOrientierung zurückgeben
und dazu schlicht und ergreifend mit einem Zitat desBundesverfassungsgerichts aus einer Entscheidung überdie Vorratsdaten beginnen:Eine vorsorglich anlasslose Speicherung von Tele-kommunikationsverkehrsdaten zur späteren anlass-bezogenen Übermittlung an die für die Strafverfol-gung oder Gefahrenabwehr zuständigen Behörden… darf der Gesetzgeber zur Erreichung seiner Zieleals geeignet ansehen. Es werden hierdurch Aufklä-rungsmöglichkeiten geschaffen, die sonst nichtbestünden und angesichts der zunehmenden Be-deutung der Telekommunikation auch für die Vor-bereitung und Begehung von Straftaten in vielenFällen erfolgversprechend sind.Treffender und prägnanter als der Erste Senat des Bun-desverfassungsgerichts kann man den Entwurf eines Ge-setzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einerHöchstspeicherfrist für Verkehrsdaten nicht zusammen-fassen. Die Entscheidung des Gerichts war für unsRichtschnur bei diesem Gesetzentwurf.
Meine Damen und Herren, Ziel des Entwurfs ist inerster Linie, für die Strafverfolgungsbehörden im Be-reich besonders schwerer Kriminalität brauchbare Er-mittlungsansätze zu generieren, wo bislang alle Spurenins Leere führten. Der Austausch kinderpornografischenMaterials – Herr Wendt hat das eben schon angespro-chen –, die Verabredung sowie die Begehung schwererStraftaten im Bereich der organisierten Kriminalität, derZusammenschluss zu terroristischen Vereinigungen, diesalles geschieht heute überwiegend mittels Telekommuni-kation oder im virtuellen Raum des Internets. Nur dorthinterlassen Täter und Beteiligte ihre Spuren. Diese Spu-ren sind die Daten, die bei der modernen Kommunika-tion anfallen: zum Beispiel angerufene Telefonnum-mern, die Funkzelle, aus der mit dem Handy telefoniertwurde, oder die IP-Adresse, die dem Computer beimSurfen im Internet vom Provider zugewiesen wurde.Die Fälle, in denen Verkehrsdaten die Aufklärung vonVerbrechen künftig erleichtern werden, sind vielfältig:Bei Tötungsdelikten lässt sich durch eine Funkzellenab-frage klären, welche Mobiltelefone zum Tatzeitpunkt indie am Tatort gelegene Funkzelle eingebucht waren. BeiBandendiebstählen kann ermittelt werden, welche Mo-biltelefone sich am Begehungsort befanden; ergebensich hier Übereinstimmungen mit anderen Tatorten,kann dies die Aufklärung voranbringen. Wenn die Straf-verfolgungsbehörden einen Verdächtigen überprüfen,können durch die Auswertung seiner Kommunikations-beziehungen auch seine Hintermänner und Netzwerkeidentifiziert werden. Das ist ein Beispiel dafür, wo dieVorratsdatenspeicherung auch bei der Terrorbekämpfungwirksam ist. Ihre Bewährungsprobe hat sie manchmalleider erst nach einem Anschlag: Dann muss das Netz-werk komplett ausgehoben werden, damit, meine Damenund Herren, der nächste Anschlag wirksam verhindertwird.
Die Beispiele zeigen: Mit der Wiedereinführung derVorratsdatenspeicherung bringen wir die Strafverfol-gungsbehörden wieder ein wenig mehr „auf Augenhöhe“mit den Tätern. Das haben die Mitarbeiter dieser Behör-den auch verdient, damit sie wirksam ihre Arbeit ma-chen können.Natürlich liefern die Verbindungsdaten alleine nochkeine gerichtsfesten Beweise, um einen Täter auch zuverurteilen; aber sie liefern den zuständigen Behördendie entscheidenden Ermittlungsansätze, um die notwen-digen Nachweise zu erlangen oder – auch das gehört jazur Aufgabe der Staatsanwaltschaft – einen unberechtig-ten Verdacht im Einzelfall zu widerlegen.Dabei ist der Entwurf, meine Damen und Herren,wirksam und maßvoll zugleich. Er bringt die darge-stellten, dringend notwendigen Verbesserungen für dieStrafverfolgungsbehörden, wahrt dabei aber strikt denGrundrechtsschutz und den Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit. Ich will Letzteres an drei Beispielen – nureine Auswahl – als Prinzip deutlich machen.Bei der Auswahl der Daten, die von den TK-Anbie-tern zu speichern sind, nimmt der Entwurf die Daten derE-Mail-Kommunikation vollständig aus. Wer sich die inseinen E-Mail-Postfächern lagernden E-Mails einmalanschaut, weiß: Da gibt es große und interessante Daten-mengen; aber wir haben uns entschieden, diese Daten-sätze herauszunehmen, obwohl hier ebenfalls Informa-tionen, die für die Strafverfolgungsbehörden wertvollwären, enthalten sind.Die Speicherfristen sind wohldosiert und sehr diffe-renziert. Standortdaten der mobilen Kommunikationdürfen nur vier Wochen gespeichert werden. So wird dieErstellung umfassender Bewegungsmuster Verdächtigerverhindert. Alle übrigen Kommunikationsdaten werdenfür zehn Wochen und damit weniger als drei Monate ge-speichert – weniger als in allen anderen Ländern, die dasin Europa eingeführt haben.Der Katalog der Straftaten ist auf besonders schwereTaten beschränkt. Der Entwurf erlaubt die Nutzung der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10589
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
(C)
(B)
Daten also nicht für die Aufklärung jeder Form von All-tagskriminalität; er ist hier sogar strenger als die Regelnbei der Telekommunikationsüberwachung.Meine Damen und Herren, daneben treffen wir indem Entwurf zahlreiche weitere Vorkehrungen, um dieRechte der Betroffenen zu wahren: Es gibt einen stren-gen Richtervorbehalt ohne Eilkompetenz der Staatsan-waltschaft. Das heißt, dass jeder einzelne Zugriff der Be-hörden auf die gespeicherten Daten sorgfältig von einemunabhängigen Richter geprüft wird. Die Telekommuni-kationsunternehmen dürfen die Daten ausschließlichzum Zwecke der Übermittlung an die Behörden spei-chern. Eine Nutzung dieser Daten zu geschäftlichenZwecken ist verboten. Verstöße gegen dieses Verbotkönnen mit Bußgeldern bis zu 500 000 Euro geahndetwerden.Der Entwurf macht auch strenge Vorgaben für die Da-tensicherheit bei den TK-Unternehmen: Speicherung nurin Deutschland, entkoppelt vom Internet, unter Einsatzbesonders sicherer Verschlüsselungsverfahren.Meine Damen und Herren, wir haben hier nicht nurdie Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eingehal-ten, sondern – unabhängig von der juristisch spannendenFrage, inwieweit bei nationalen Gesetzen die europäi-sche Grundrechtecharta anwendbar ist – auch die Vorga-ben des Europäischen Gerichtshofs. Auch dessen Ent-scheidung – das hat Minister Maas dargelegt – hat ja beialler Kritik an der damaligen Ausgestaltung ausdrück-lich klargestellt, dass eine Vorratsdatenspeicherung zurVerbrechensbekämpfung sinnvoll und grundsätzlichauch zulässig ist nach europäischem Recht.Der vorliegende Gesetzentwurf führt Deutschlandbeim Thema Speicherfristen zurück in den Mainstreamder europäischen Staaten. Richtig ist: Regelungen zurVorratsdatenspeicherung gibt es in über 20 EU-Mitglied-staaten, und dort, wo Gerichte konkrete Regelungen auf-gehoben haben, erleben wir, dass die Parlamente verfas-sungskonforme Neuregelungen verabschieden. Es istalso schlichtweg falsch, wenn aus der Opposition herausbehauptet wird, es gebe in der Europäischen Union eineallgemeine Abkehr von der Vorratsdatenspeicherung.
Für eine sachliche Debatte des Themas wäre es hilfreich,wenn auch die Kritiker einer Vorratsdatenspeicherungzumindest die Wirklichkeit in Europa zur Kenntnis neh-men würden. Ein Gerichtsurteil ist nicht das Ende derDiskussion, sondern es führt in der Regel in Europa zueinem angepassten neuen Gesetzentwurf, und das ausguten Gründen.Ich fände es ebenso peinlich wie gefährlich für unserLand, wenn wir uns von den europäischen Standards inder Frage der Vorratsdatenspeicherung abkoppeln wür-den und damit Deutschland zu einem sicheren Hafen fürSchwerverbrecher und Terroristen machen würden,meine Damen und Herren.
Wenn ich die Wirksamkeit und Ausgewogenheit un-seres Gesetzentwurfs lobe, dann will ich damit natürlichauch ausdrücklich einen Dank an den Bundesministerder Justiz für die gute und vertrauensvolle Zusammenar-beit im Rahmen der Erarbeitung des Gesetzentwurfs ver-binden. Ich muss nur an einer kleinen Stelle einen Wi-derspruch zu den Ausführungen des Herrn Ministerseinlegen: Wir erfüllen die Vorgaben des Bundesverfas-sungsgerichts nicht nur, sondern wir übererfüllen sie.Wir gehen – das war ja auch von Ihnen vorher schon soangelegt – an einigen Stellen – ich habe die Fristen ge-nannt; man könnte andere Beispiele nennen – sogar überdie Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinaus.Das beweist, wie ernst wir die Grundsätze der Verhält-nismäßigkeit und die Grundrechte nehmen. Auch das ha-ben wir gemeinsam mit diesem Gesetzentwurf geleistet.Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger und richtigerPunkt.Meine Damen und Herren, wir dürfen nach einer jah-relangen, zum Teil sehr hitzigen Debatte dem DeutschenBundestag heute einen Gesetzentwurf vorlegen, der dieGrundrechte schützt – zumal den Staat aus den Freiheits-rechten heraus ja auch eine Schutzpflicht trifft, die ihndazu anhält, Verbrechen zu verhindern und aufzuklären;mit solchen Gesetzen schützen wir also auch die Freiheitder Bürger –, und wir legen zugleich einen Gesetzent-wurf vor, der gefährliche Sicherheitslücken in unseremLand schließt, damit aus versuchten Terroranschlägenmöglichst keine vollendeten Anschläge werden und da-mit Netzwerke von Schwerverbrechern und Terroristenbesser ausfindig und unschädlich gemacht werden kön-nen. Wir brauchen dieses Gesetz für die Sicherheit unddie Freiheit unserer Bürger. Deshalb bitte ich Sie umeine gründliche und zügige Beratung.Vielen herzlichen Dank.
Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt hat für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Lieber Herr Maas, das war wirklich eine schwereRede für Sie. So viel habe ich Sie hier im Plenum nochnie ablesen sehen.
rade sagen!)
Metadaten/Kopzeile:
10590 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Ende 2007 stand schon einmal Brigitte Zypries hier. Siemusste den ersten Anlauf für die Vorratsdatenspeiche-rung verteidigen.
Brigitte Zypries hat damals – ich habe mir ihre Redenoch einmal durchgelesen – folgendermaßen argumen-tiert:
Sie sagte, sie hätte den Zwang, die EU-Richtlinie umzu-setzen. Das klang wie: Sie müsse sich entscheiden zwi-schen dem Grundrechtsschutz auf der einen Seite undden Richtlinien der EU auf der anderen Seite. DieserKonflikt, meine Damen und Herren, hat sich 2015 aufge-löst.
Den Grundrechtsschutz gibt es auf der europäischenEbene, und zwar keinen schlechten, und Sie führen hierdie Vorratsdatenspeicherung ein, Herr Maas, und zwarfreiwillig.
Herr Maas, Sie könnten anders.
Es gibt keine Richtlinie der EU mehr. Es gibt höchstensnoch eine Richtlinie von Sigmar Gabriel. Wenn das sowichtig ist, dann haben Sie jedenfalls mit den Grund-rechten nichts mehr zu tun.
Vor kurzem – wir können Ihnen das nicht ersparen;Herr Korte hat das ja zu Recht schon erwähnt – sagtenSie noch wörtlich: Die Vorratsdatenspeicherung lehneich entschieden ab. Sie verstößt gegen das Recht auf Pri-vatheit und den Datenschutz. – Ja, so ist es. Besser hät-ten wir das auch nicht sagen können.
In der Tat: Sie bringt eben nicht mehr Sicherheit. HerrKrings, Herr Maas, die Argumentation, mit der Sie hierversucht haben darum herumzureden, trägt nicht; sieführt nicht zu mehr Sicherheit. Im Gegenteil: Dort, woman Sicherheit bräuchte, dort, wo man dafür sorgenmüsste, dass man tatsächlich ermitteln kann, kann manes nicht mehr tun, weil man nicht nur anlasslos, sondernauch massenhaft Daten erfasst. Da, wo man Kapazitätbräuchte, da, wo man Leute bräuchte, die diese Datenauswerten, können sie es nicht mehr machen. Deswegen:Sie sorgen hier nicht für mehr Sicherheit, sondern esgeht darum, dass Sie eingeknickt sind, und es geht umeine Ideologie, die Sie brauchen und die zu nichts weiterführt.
Mir wäre es sehr viel lieber gewesen, Sie hätten nichtein paar Zitate bei Twitter und Facebook gepostet, son-dern hätten an dieser Stelle tatsächlich gekämpft. Ichverstehe nicht, wieso Sie sich auf europäischer Ebenenicht dafür eingesetzt haben. Eine rechtspolitische Initia-tive im Europäischen Rat wäre möglich gewesen. Dannhätten Sie hier keine Sprüche klopfen müssen und dieVDS-Ablehnung nicht als Attitüde titulieren müssen. Siehätten das machen können.Bis zur Vorlage des Gesetzentwurfs hat es übrigens80 Tage gedauert. In dieser Zeit kann man um die Weltsegeln – das hat uns Jules Verne beigebracht. Diese Zeitreicht aber nicht, um einen anständigen Gesetzentwurfvorzubereiten. Dafür bedarf es der Ressortabstimmungen.Man muss dafür sorgen, dass das Bundeskabinett zusam-menkommt usw. Sie haben das in 80 Tagen geschafft. Da-für kann es zwei Gründe geben: Entweder haben Sie dieÖffentlichkeit hinter die Fichte geführt, weil Sie dasDing schon in der Schublade hatten, oder Sie habenschlampig gearbeitet. Beides wäre gleich schlimm. Siehaben noch nicht einmal die Verbände angehört. Dazukann ich nur sagen: Das ist absurd.
Deswegen sage ich Ihnen: Das Gesetz wird keinenBestand haben. Es ist genauso wenig verfassungsgemäßwie das letzte. Das hat Ihnen Ihre Bundesdatenschutzbe-auftragte gesagt. Das hat Ihnen der WissenschaftlicheDienst des Bundestages gesagt.
Das hat Ihnen die Bundesrechtsanwaltskammer gesagt.Das werden Ihnen auch die Gerichte sagen. Ich kann Ih-nen versichern: Wieder werden Leute klagen. Gesternhat das Verfassungsgericht von Belgien Nein zur Vor-ratsdatenspeicherung gesagt.
So wird es auch in Deutschland kommen. Sie werdenwieder auf die Nase fallen, und das zu Recht.
Ihre neue Vorratsdatenspeicherung ist nichts anderesals ein Verfahren nach dem Motto: Raider heißt jetztTwix. Vorratsdatenspeicherungen heißen nun Höchst-speicherfristen. Treffender wäre es gewesen, das Gesetz„Eine anlasslose Vollprotokollierung unseres Telekom-munikationsverhaltens“ zu nennen, weil es Ihnen genaudarum geht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10591
Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Das ist das, was Sie im Kern wollen. Das ist der Kerndessen, was Sie jetzt hier vorgelegt haben.Wenn es einen Anlass gibt, wenn es wirklich um dieSicherheit geht, dann kann man in dem Moment auf dieTaste drücken, wo es diesen Anlass gibt. Dann kann manaufnehmen, dann kann es Hausdurchsuchungen geben,
dann kann es Beschlagnahmungen geben. Dann kann esall das geben. Aber wo mein Handy im Netz war, daswollen Sie immer wissen. Das führt nicht zu mehr Si-cherheit, sondern zu einem geringeren Schutz derGrundrechte. Diese Aushöhlung von Grundrechten wer-den wir nicht mitmachen.
Wenn man ein bisschen zynisch wäre, Herr Maas,würde man vielleicht fragen: Warum bleiben Sie auf hal-bem Wege stehen? Die Smartphones haben schließlichauch Mikrofone und Kameras. Wann wird es den erstenFall geben, bei dem gefordert wird, diese Möglichkeitenauch noch auszuschöpfen? Das ist die Öffnung derBüchse der Pandora. Das sollten wir uns in diesemRechtsstaat nicht leisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, esverwundert nicht, dass Sie dieses Gesetz wollen. Das sa-gen Sie schon lange; darüber muss man nicht weiter de-battieren. Eine Frage will ich Ihnen aber schon stellen:Wer soll das bezahlen? Ihre Antwort ist: „Die Wirtschaftzahlt das“, was mich wundert. Es war ja die Union, dievor nicht allzu langer Zeit, nachdem sie die Rente mit 63und den Mindestlohn beschlossen hatte, gesagt hat, alles,was zusätzliche Belastungen und neue Unsicherheitenfür die Wirtschaft schaffe, müsse vertagt werden.
Ich habe Gerda Hasselfeldt zitiert. Aber vielleicht sindeine halbe Milliarde Euro, die dafür gezahlt werden soll,nur Peanuts für Sie. Es wird aber nicht reichen, diesenBetrag einmal auszugeben.Ihr Gesetz wird dazu führen, dass bei den Unterneh-men riesige Datenmengen angehäuft werden. Durch dieCyberattacke auf den Deutschen Bundestag wird jetztauch der Letzte mitbekommen haben, wie sensibel Da-teninfrastrukturen sind.
Ich bin wirklich gespannt, wann die ersten Meldungenerscheinen, nach denen ein Mobilfunkunternehmen, beidem Sie Kunde sind, Opfer eines Angriffs geworden ist.Fremde Geheimdienste oder Hacker werden sich nichtdarum scheren, welche Eingriffsschwellen Sie in derStrafprozessordnung vorgesehen haben.Meine Damen und Herren, Sascha Lobo hat leiderrecht, wenn er sagt:Deutschland ist ein „digitally failed state“.Die Vorratsdatenspeicherung ist ein weiterer Schritt aufdem Weg des Scheiterns. Dieser Schritt wird vorange-trieben von jemandem, der es eigentlich besser wissenmüsste, der es eigentlich besser weiß. Dieser Schritt wirdvorangetrieben von dem, der die Grundrechte und dieBürgerrechte schützen müsste, vom Justizminister diesesLandes.Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist ein Drama, und wirwerden alles tun, um zu verhindern, dass dieses Gesetz,dass diese Art von Massenüberwachung Wirklichkeitwird.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Högl für die SPD
Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Jahr1987 habe ich gemeinsam mit vielen Bürgerinnen undBürgern in der Bundesrepublik Deutschland gegen diegeplante Volkszählung demonstriert. Vielleicht habendas auch einige von Ihnen gemacht.
Wenige Jahre später polarisierte der große Lauschangriff– der wurde auch hier im Deutschen Bundestag intensivdiskutiert – die Debatte. Selbstverständlich waren derLauschangriff und auch die Volkszählung wesentlicheEingriffe in unsere Grundrechte. Deswegen diskutierenwir immer hier im Deutschen Bundestag und in der ge-samten Gesellschaft sehr sorgfältig über das Sammeln,Speichern, Erheben und Verwerten von privaten Daten.Wir machen das auch emotional und leidenschaftlich;denn es geht um unsere Grundrechte. Das ist nur richtigund angemessen. Wir beschäftigen uns jetzt hier mittler-weile seit zehn Jahren mit der Einführung einer Spei-cherpflicht für persönliche Daten, die von Strafverfol-gungsbehörden zur Verbrechensbekämpfung genutztwerden sollen. Wir machen uns diese Entscheidung nichtleicht.Seit 1987, seit der Volkszählung – wenn man sich dasheute anschaut, kommt es einem fast lächerlich vor, ge-gen was wir damals mobilisiert haben –, hat sich unsereZeit verändert. Die Verbrecher und Verbrecherinnen nut-zen digitale Daten und Telekommunikation zur Vorbe-reitung und Durchführung ihrer Verbrechen. Auf der an-
Metadaten/Kopzeile:
10592 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dr. Eva Högl
(C)
(B)
deren Seite werden auch immer mehr persönliche Datengesammelt und gespeichert. Dadurch entsteht auch – dasgehört ebenfalls zur Wahrheit – ein Dickicht, ein Wustvon Daten, der bei vielen Bürgerinnen und Bürgern – soformuliert es im Übrigen das Bundesverfassungsgerichtin seiner Entscheidung 2010 – ein diffuses Gefühl desBeobachtetseins entstehen lässt.Dieses Gefühl nehmen wir bei unserer Debatte sehrernst. Dieses Gefühl verstärkt sich – wie ich finde, merk-würdigerweise – bei den Bürgerinnen und Bürgern noch,wenn der Staat, wenn Strafverfolgungsbehörden die Da-ten nutzen. Ich finde, man müsste viel sensibler sein,wenn private Unternehmen die Daten nutzen. Ich wun-dere mich manchmal über diese Schieflage in der Dis-kussion.
Wenn wir staatliche Behörden ermächtigen, die Datenfür die Strafverfolgung zu nutzen, ist das natürlich einEingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbe-stimmung. Dieser Eingriff muss selbstverständlich ge-rechtfertigt sein. Das hat das Bundesverfassungsgericht inseinen Urteilen zur Volkszählung, zum großen Lausch-angriff und auch zur sogenannten Vorratsdatenspeiche-rung 2010 klargestellt. Dasselbe gilt für das Urteil desEuropäischen Gerichtshofs 2014. Die Daten können ge-nutzt werden, und es gibt eine Verhältnismäßigkeit beider Nutzung.Es gibt also gute Gründe für die Vorratsdatenspeiche-rung. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel nennen. Ichnehme kein Beispiel aus dem Bereich des Terrorismus,der Kinderpornografie und auch nicht der Vergewalti-gung, sondern ich nehme ein sehr praktisches Beispiel.Jahrelang hat ein Mann aus seinem Lkw auf Transporter,Pkws und Gebäude geschossen – vielleicht erinnern Siesich daran –, deutschlandweit insgesamt über 760-mal.Eine Pkw-Fahrerin wurde schwer verletzt. Es war puresGlück, dass es nicht mehr Verletzte, geschweige dennTote gab.Die Ermittlungsbehörden haben daraufhin die Mobil-funkdaten eines Tatverdächtigen mit den Funkzellenmutmaßlicher Tatorte und Tatzeiten auf Hunderten vonKilometern deutscher Autobahnen abgeglichen. DieserAbgleich der Daten verstärkte den Verdacht der Ermitt-ler zum Beweis. Der Täter konnte letztlich überführtwerden.
– Ich komme darauf; ich kenne die Kritik. – Es war purerZufall – darum geht es mir –, dass die Ermittlungsbehör-den überhaupt die Daten abgleichen konnten; denn esbestand überhaupt keine gesetzliche Pflicht für die Mo-bilfunkunternehmen, die Daten zu erheben, zu speichernund vorzuhalten. Hätte der Täter ein anderes Mobilfunk-unternehmen gewählt, das die Standortdaten nicht ge-speichert hätte, dann wäre der Täter nicht ermittelt wor-den.Solche Beispiele gibt es viele. Deswegen diskutierenwir heute über die Einführung einer Speicherpflicht. Wirdürfen es nicht dem Zufall überlassen, ob die Strafver-folgungsbehörden Zugriff auf Daten haben, und wir dür-fen es nicht dem Zufall und der Wahl des Telekommuni-kationsunternehmens überlassen, ob diese Straftatenaufgeklärt werden können.
Ja, das geschieht anlasslos. Das geschieht notwendi-gerweise anlasslos; denn das Beispiel zeigt: Es hätte imVorhinein gar keinen Anlass gegeben, die Daten genaudieses Täters zu speichern, weil man den Täter gar nichtkannte. Deswegen kommt man an der Hürde „anlasslos“nicht vorbei, weil man in vielen Fällen gar keinen kon-kreten Anlass für die Speicherung hat. Deswegen müs-sen wir die anlasslose Speicherung ermöglichen, unddeswegen ist es richtig, dass wir andere Wege gefundenhaben, der Einschränkung des Europäischen Gerichts-hofs gerecht zu werden, dass nicht anlasslos alle Kom-munikationsdaten gespeichert werden dürfen, weswegenjetzt auch nach der Datenart und der Dauer der Speiche-rung differenziert wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage es ganzdeutlich: Das ist keine leichte Entscheidung; das habeich schon erwähnt. Die Hürde „anlasslos“ ist eineschwierige. Aber ich finde, Bundesjustizminister HeikoMaas und Bundesinnenminister Thomas de Maizière ha-ben maximal gut verhandelt und einen exzellenten Ge-setzentwurf erarbeitet, der im Übrigen die europaweit re-striktivste Speicherfrist von Telekommunikationsdatenvorsieht.Es geht darum, dass Richterinnen und Richter dieMöglichkeit bekommen, nach sorgfältiger Abwägung al-ler Interessen den Zugriff auf Telekommunikationsdatenzu erlauben, wenn es um schwerste Straftaten geht. Ge-nau darum geht es. Die Betroffenen werden vorher infor-miert. Das ist eine ganz entscheidende Eingrenzung. Bis-her – das war auch bei dem Beispiel der Lkw-Anschlägeder Fall – erfolgte der Zugriff ohne die vorherige Infor-mation.Die jetzt vorgesehene Speicherung der Daten ist– auch darauf möchte ich hinweisen – viel restriktiverund eingeschränkter als die gegenwärtige Praxis vielerTelekommunikationsunternehmen, die Daten vorzuhal-ten.
Das ist eine ganz entscheidende Einschränkung. Ichglaube, das muss ein Weckruf sein, dass wir viel sensi-bler damit umgehen sollen, wem wir erlauben, unsereDaten zu speichern und letztendlich auch zu nutzen.
Heiko Maas hat das Thema Berufsgeheimnisträgerbereits erwähnt. Ich will den Punkt noch einmal aufgrei-fen. Das ist selbstverständlich ein sensibles Thema, undes ist für uns sehr wichtig, dass Berufsgeheimnisträgerausgenommen werden. Wir können das nicht im Vorhin-ein machen, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil wirdie Berufsgeheimnisträger und -trägerinnen schützenwollen. Denn wir wollen sie nicht nur dann schützen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10593
Dr. Eva Högl
(C)
(B)
wenn sie über ihre Festnetznummer, die sich dann viel-leicht in einer Datei findet, telefonieren, sondern auchdann, wenn sie unterwegs sind oder wechselnde Anbie-ter nutzen.Deswegen kann man keine Datei der Berufsgeheim-nisträger erstellen, sondern wir nehmen sie von der Ver-wertung ihrer Daten aus. Sie sind ausgenommen, wenndie Daten genutzt werden sollen, und da sie vorher infor-miert werden, haben sie die Gelegenheit, gegenüber denStrafermittlungsbehörden anzugeben, dass sie als Be-rufsgeheimnisträger ein Auskunftsverweigerungsrechthaben und ihre Daten nicht genutzt werden können. Ichfinde, das ist eine sehr gute und richtige Regelung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen den Tä-tern die Möglichkeit nehmen, nur deshalb straflos da-vonzukommen, weil wir ihre Daten unangetastet lassen.Ich halte das für unbedingt notwendig. Ich halte die vor-gesehene Speicherpflicht für geeignet und nach dem,was wir miteinander diskutiert haben, auch für verhält-nismäßig und damit für verfassungsgemäß.Wir machen uns trotzdem die Entscheidung nichtleicht. Wir diskutieren hier und auch in der Gesellschaftausführlich über die gesamten Aspekte. Ich finde denVorschlag gut. Wir können ihn guten Gewissens anneh-men. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Bisher dürfen Telekommunikationsanbie-ter zu Abrechnungszwecken Daten speichern. Wenn dieVorratsdatenspeicherung durchkommt, müssen sie esmachen.Dass der Gesetzentwurf Grundrechte einschränkt, istunstreitig. Wenn wir grundrechtseinschränkende Geset-zesvorhaben beraten, dann prüfen wir, ob sie geeignet,erforderlich und angemessen sind. Meistens diskutierenwir über die Angemessenheit bzw. die Verhältnismäßig-keit im engeren Sinne. Doch so weit kommen wir mitder Vorratsdatenspeicherung gar nicht. Denn die Erfor-derlichkeit der Vorratsdatenspeicherung ist nicht beleg-bar.
Eine Einschränkung eines Grundrechtes ohne Erforder-lichkeit ist nun einmal im Rechtsstaat nicht möglich. Soeinfach ist es in diesem Fall.Es wird immer gesagt, die Vorratsdatenspeicherungsei für die Strafverfolgung und die Gefahrenabwehr not-wendig. Das konnten Sie aber bisher an keiner einzigenStelle belegen.
Im Gesetzentwurf gibt es keinen einzigen Beleg.In einer schriftlichen Nachfrage zur Äußerung vonBundesminister Maas, er habe in der VergangenheitGespräche geführt, und es habe viele Fälle gegeben, indenen aufgrund nicht vorhandener Daten, weil sie nichtgespeichert wurden, Straftaten nicht aufgeklärt werdenkonnten, habe ich gefragt, um welche Straftaten es gingund welche Fakten zu dieser Erkenntnis geführt haben.Die Antwort: Es handelt sich um allgemeine Erkennt-nisse, die in Gesprächen gewonnen wurden. Die Aus-sage bezieht sich nicht auf konkrete Einzelfälle. – Wasdenn nun? Ist das, oder ist das nicht?
Sie stellen immer wieder dieselbe These in den Raum,aber Sie können sie nicht beweisen. Man muss hier ein-fach einmal sagen: So geht man mit Grundrechten nichtum. Weil Sie sie nicht beweisen können, sagen Sie denGegnerinnen und Gegnern der Vorratsdatenspeicherung,sie sollten einmal erklären, warum das Grundrecht nichtangetastet werden soll. Wo leben wir denn, dass die Ver-teidiger von Grundrechten erklären müssen, warumGrundrechte nicht angetastet werden sollen? Wenn SieGrundrechte einschränken wollen, dann müssen Sie be-weisen, warum das notwendig ist.
Sie können das aber einfach nicht. Immer wieder– auch jetzt eben – hören wir zur Begründung Beispieleanlassbezogener Telekommunikationsüberwachung. Esist aber ein Unterschied, ob sie anlasslos oder anlassbe-zogen ist. Zwischen den Wörtern gibt es nur einen klei-nen Unterschied: Der zweite Teil des einen Wortes fängtmit „l“ an, während der zweite Teil des anderen Wortesmit „b“ anfängt. Diesen Unterschied müssten Sie eigent-lich kennen.
Sie können die Erforderlichkeit der Vorratsdatenspei-cherung nicht beweisen, weil alle vorliegenden beleg-baren Fakten Ihrer These von der Lücke in der Strafver-folgung widersprechen. Ich zitiere jetzt einmal aus derStudie des Max-Planck-Instituts für ausländisches undinternationales Strafrecht aus dem Jahre 2011. Zu deraufgeworfenen Frage zur Schutzlücke durch den Wegfallder Vorratsdatenspeicherung sagt die Studie, „dass dieAufklärungsquote in Deutschland in keinem Fall unterden für die Schweiz mitgeteilten Aufklärungsquotenliegt“ – und das, obwohl es dort eine Vorratsdatenspei-cherung gibt.Die Untersuchung der deliktsspezifischen Aufklä-rungsquoten für den Zeitraum 1987 bis 2010 zeigt,dass sich der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung– die es damals gab –
Metadaten/Kopzeile:
10594 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
nicht als Ursache für Bewegungen in der Aufklä-rungsquote abbilden lässt. …Betrachtet man insbesondere das Jahr 2008, in demVorratsdaten grundsätzlich zur Verfügung standen,so kann für keinen der hier untersuchten Deliktsbe-reiche eine mit der Abfrage zusammenhängendeVeränderung der Aufklärungsquote im Hinblick aufdas Vorjahr oder die Folgejahre 2009/2010 be-obachtet werden. …Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Er-mittlungen zu „Enkeltrickbetrügereien“ ist deutlichgeworden, dass der strafrechtliche Schutz … nichtallein durch Rückgriff auf Vorratsdaten bedingt seinkann.Für Kapitaldelikte sind Veränderungen in den Auf-klärungsraten wegen fehlender Vorratsdaten nichtsichtbar geworden. Die gesonderte Überprüfung derin der BKA-Fallsammlung enthaltenen Tötungs-delikte ergibt keinen Hinweis darauf, dass beischwerster Kriminalität durch die Entscheidung desBVerfG die Aufklärung überhaupt behindert wor-den wäre.Mit anderen Worten: Die einzige wissenschaftlicheStudie belegt: Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht er-forderlich.
Das sind fünf Fakten einer wissenschaftlichen Studie,die gegen die Erforderlichkeit sprechen. Diese fünf Fak-ten können Sie nicht ignorieren, jedenfalls dann nicht,wenn Sie eine seriöse Rechtspolitik machen wollen.
– Ich lasse die Frage zu.
Herr Kollege Wiese, Sie haben das Wort zu einer
Frage oder einer Bemerkung.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben
gerade ausführlich aus dem Gutachten des Max-Planck-
Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht
vom Juli 2011 zitiert. Dieses Gutachten ist sehr umfang-
reich. Stimmen Sie mir zu, dass auf Seite 218 des Gut-
achtens steht, dass es sich um eine „Momentaufnahme“
handelt? Bestätigen Sie weiterhin, dass auf Seite 218 des
Gutachtens steht, dass es sich um eine „unsichere statis-
tische Datengrundlage“ handelt?
Da die von mir zitierten Passagen – die Einschätzung
des Max-Planck-Instituts – auf den Seiten 219 und 220
stehen, ist Ihre Erkenntnis überholt, da die Seiten 219
und 220 nach der Seite 218 kommen.
Es hilft also nichts, einzelne Änderungen an Ihrem
Gesetzentwurf anzuregen. Der Gesetzentwurf ist rechts-
politisch eine Katastrophe und rechtsstaatlich nicht ak-
zeptabel, und es gibt nur einen Ort, wo er hingehört: in
den Reißwolf.
Der Kollege Thomas Strobl hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Auch in der heutigen Debatte ist insbesonderevon der Linken davon gesprochen worden, dass es beiuns Massenüberwachung, Massenspeicherung, Total-überwachung geben soll.
Massenüberwachung, Massenspeicherung, Totalüberwa-chung – das gab es in totalitären Staaten, und das gibt esin totalitären Staaten.
Bei uns im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepu-blik Deutschland werden aber die Freiheit und die Si-cherheit der Bürgerinnen und Bürger nicht durch denStaat, nicht durch unsere Polizeibeamten bedroht, son-dern die organisierte Kriminalität, diejenigen, die mitKinderpornografie handeln, und der islamistische Terro-rismus, sie alle bedienen sich insbesondere der sozialenNetzwerke und des Internets. Wir können doch nicht,wenn sie unsere Freiheit und unsere Sicherheit mit derLaserpistole bedrohen, unseren Ermittlungsbehördenund Polizistinnen und Polizisten sagen: Ihr dürft nur miteiner Gummischleuder und mit Pappknöllchen schießen.
Das Ermittlungsinstrument, das heute vorgestelltwird, ist strafprozessrechtlich Schlüssellochchirurgie.Das ist polizeilich minimalinvasiv. Das ist ein außeror-dentlich maßvoller Vorschlag. Das bleibt weit hinterdem zurück, was der Europäische Gerichtshof und wasdas Bundesverfassungsgericht zugelassen haben. Das,was wir hier machen, ist sehr zurückhaltend – wir haltendie verfassungsrechtlichen Grenzen strikt ein –, aber es
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10595
Thomas Strobl
(C)
(B)
ist im Interesse der Sicherheit und der Freiheit der Bür-gerinnen und Bürger zwingend notwendig.
Deswegen möchte ich ausdrücklich für diesen klugen,guten und maßvollen Gesetzentwurf den beiden Verfas-sungsministern, dem Bundesminister des Innern,Thomas de Maizière,
und dem Bundesminister der Justiz und für Verbraucher-schutz, Heiko Maas, Dank sagen.
Um was geht es? Das kann man bei diesem Themanicht oft genug sagen. Massenüberwachung, Totalüber-wachung – zunächst einmal speichert der Staat über-haupt keine Daten. Richtig ist, dass die Telekommunika-tionsunternehmen schon heute Daten speichern; siegehen aber völlig unterschiedlich vor. Das eine Unter-nehmen speichert sie gar nicht, ein anderes Unterneh-men speichert sie eine Woche, ein weiteres Unternehmenspeichert sie was weiß ich wie lange.
Jetzt regeln wir das einheitlich. Alle Telekommunika-tionsunternehmen müssen die Daten nach vier Wochenbzw. nach zehn Wochen definitiv löschen. Wir regeln,dass die Daten nur in Deutschland gespeichert werdendürfen. Das ist ein Beitrag zu mehr Datensicherheit.
Zum Zweiten: Was für Daten werden gespeichert? Eswerden keinerlei Inhalte gespeichert. Das ist im Übrigenauch ein Unterschied zu totalitären Staaten. Diese inte-ressieren sich vor allem auch für Gesprächsinhalte. Hiergeht es ausschließlich um Verbindungsdaten. Diese sol-len gespeichert werden und werden im Übrigen bereitsheute gespeichert. Nur regeln wir jetzt, dass sie nach be-stimmten Fristen zu löschen sind.Wann darf der Staat Zugriff auf diese Daten nehmen?Er darf das nur, wenn ein Staatsanwalt dies beantragtund ein Richter es genehmigt. Insofern, Herr Bundesjus-tizminister, haben wir nicht nur zwei, sondern sogar dreiSchlüssel: Wir haben den Provider, den Staatsanwalt undden Richter, der unabhängig seine Genehmigung gebenmuss. Der Richter muss immer einverstanden sein. Esgibt kein staatsanwaltschaftliches Eilverfahren. Es istauch nur möglich – das ist wichtig –, wenn es sich umbestimmte Straftaten handelt: um Mord oder Totschlag,um schwerste Straftaten aus dem Bereich der Sexualver-brechen, um organisierte Kriminalität. Weil es hier da-rum geht, die Freiheit und die Sicherheit unserer Bürge-rinnen und Bürger zu schützen und weil genau in diesenKriminalitätsbereichen das Internet eine so große Rollespielt, brauchen wir dieses Ermittlungsinstrument. Unddeswegen ist dieser Gesetzentwurf auch so notwendigund so richtig.Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Ko-alition aus CDU/CSU und SPD handelt im Bereich derInnen- und Rechtspolitik. Wir haben gleich zu Beginnder Legislaturperiode etwa im Bereich der Kinderporno-grafie das materielle Strafrecht verschärft. Wir haben aufeinen Gesetzentwurf des Bundesjustizministers hin dieBekämpfung terroristischer Organisationen im materiel-len Strafrecht verbessert.Uns haben dann unsere Polizistinnen und Polizistenund die Ermittlungsbehörden gesagt: Ja, es ist richtig,dass ihr das materielle Strafrecht im Bereich der Kin-derpornografie verschärft habt, aber ihr müsst uns jetztauch die Möglichkeiten geben, die Täter zu ermitteln.Beispielsweise brauchen wir mehr Polizistinnen undPolizisten. Insbesondere zur Ermittlung von Straftatenim Bereich der Kinderpornografie brauchen wir, weildies oft der einzige Ermittlungsansatz ist, einen Zugriffauf die Verbindungsdaten.Die Koalition hat im laufenden Haushalt für das Jahr2015 eine zusätzliche dreistellige Anzahl von Personal-stellen bei der Bundespolizei beschlossen. Wir schaffenmehr Personal für unsere Polizei, und wir statten sie miteinem zweistelligen Millionenbetrag auch technisch bes-ser aus. Dabei bleibt es aber nicht, sondern wir nehmendas, was uns Polizistinnen und Polizisten und unsere Er-mittler sagen, nämlich dass sie auch Ermittlungsinstru-mente mit Blick auf die neuen Medien und das Internetbrauchen, ernst. Deswegen bringen wir heute Gott seiDank diesen Gesetzentwurf zur Verbindungsdatenspei-cherung ein. Das ist richtig, das entspricht den sachli-chen Erfordernissen, und das entspricht dem, was unsErmittlungsbehörden und Polizistinnen und Polizistenseit Jahren sagen. Es ist verfassungsrechtlich ausgewo-gen, und es ist ein guter Vorschlag.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in Artikel 6der Europäischen Grundrechtecharta steht:Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicher-heit.Dem fühlen wir uns in dieser Großen Koalition vonCDU/CSU und SPD verpflichtet. Wir haben eine zuneh-mende Bedrohung der Freiheit und der Sicherheit unse-rer Bürgerinnen und Bürger im Bereich der organisiertenKriminalität bis hin zur bandenmäßig organisierten Ein-bruchskriminalität, in deren Zusammenhang diese Ko-alition im Übrigen auch handelt: Wir legen beispiels-weise jetzt im präventiven Bereich ein Programm auf,um denen, die sich besser schützen wollen, zu helfen.All dies ist eine Gesamtschau, weil wir sehen, dass esdiese Gefahrenlagen gibt: organisierte Kriminalität, diePerversen und die Händler im Bereich der Kinderporno-grafie, die Bedrohung durch den islamistischen Terroris-mus.Wir sind der Auffassung, dass es darum geht, unsereBürgerinnen und Bürger davor zu schützen und ihnenFreiheit und Sicherheit zu geben. Wir sehen nicht dieBedrohung durch die Beamten in unseren Ermittlungs-behörden und durch unsere Polizistinnen und Polizisten,
Metadaten/Kopzeile:
10596 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Thomas Strobl
(C)
(B)
die ihre Arbeit machen, sondern es sind die Verbrecherund die Kriminellen, die die Freiheit und Sicherheit indiesem Land bedrohen, und denen sagen wir tatkräftigden Kampf an.Ein entscheidendes Instrument in diesem Kampf ge-gen das Verbrechen sind die Verbindungsdaten; denn dasInternet spielt eine immer größere Rolle für die Verbre-cher und die Straftäter. Deswegen dürfen wir unsere Er-mittler sowie unsere Polizistinnen und Polizisten nichtlänger dumm und blind sein lassen, sondern wir müssenMöglichkeiten schaffen, dass sie auch in diesem Bereichsehen können.
Im Sinne von Freiheit und Sicherheit in diesem Landist somit der heutige Tag, an dem wir diesen Gesetzent-wurf einbringen, ein außerordentlich guter Tag.
Danke fürs Zuhören.
Die Kollegin Katja Keul hat für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Am 18. März dieses Jahres haben wir hier ineiner Aktuellen Stunde über die geplante Vorratsdaten-speicherung debattiert. Gestern habe ich mir noch ein-mal das Protokoll angesehen und darin interessante Zwi-schenrufe aus der SPD gefunden. Als ich sagte, dieVorschläge der SPD-Führung ließen an deren Rechtsver-ständnis zweifeln, da riefen die Kollegen Flisek undKlingbeil, die heute im Übrigen wohl aus gutem Grundegar nicht da sind: „Es gibt doch gar keine Vorschläge!“,und: „Welche Vorschläge denn?“
– Gut, das mag sein. – Ich sage nur: Die Zwischenrufewaren: „Es gibt doch gar keine Vorschläge!“, und: „Wel-che Vorschläge denn?“ Also aufwachen, liebe Sozialde-mokraten!Hier liegt er jetzt schwarz auf weiß: euer Vorschlagzur Vorratsdatenspeicherung, vom Kabinett beschlossenund in den Bundestag eingebracht.
Ihr habt zwar dem Gesetz einen anderen Titel gegeben,aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass es genau dasbleibt, was der EuGH für grundrechtswidrig erklärt hat:eine anlasslose Speicherung der Daten unverdächtigerBürger.
Das Ganze vermittelt uns weder Sicherheit, nein,noch nicht einmal die Illusion von Sicherheit. Das Ge-genteil ist der Fall: Die Bürgerinnen und Bürger sindverunsichert. Es werden noch mehr Daten gespeichert,und niemand kann mehr genau sagen, wer alles in wel-chem Umfang auf diese Daten zugreift.Schon das Verfassungsgericht hat 2010 klar erkannt,dass die Gefahr eines illegalen Zugriffs auf eine solcheDatensammlung besonders hoch ist. Seitdem haben wirreichlich an Erkenntnis dazugewonnen. Wir erleben ge-rade, wie durch einen in das Bundestagsnetzwerk einge-schleusten Trojaner selbst vermeintlich sichere Datenabsaugt werden. Die Sicherheitsdienste können nichteinmal die Handydaten der Kanzlerin schützen. Das Ver-fahren ist heute, wie wir gerade erfahren haben, einge-stellt worden. Wie wollen Sie uns dann glauben machen,die Telekommunikationsunternehmen könnten die Si-cherheit der Daten von 80 Millionen Bundesbürgern ge-währleisten? So naiv kann doch heute keiner mehr sein!
Auch der im Gesetzentwurf beschworene Stand derTechnik und die angeblich sicheren Verschlüsselungs-verfahren werden professionelle Hacker und Geheim-dienste aus aller Welt nicht daran hindern, sich aus demdann gespeicherten Datenpool zu bedienen.
In diesem Pool befinden sich dann auch noch die Verbin-dungsdaten von Berufsgeheimnisträgern wie Ärzten,Rechtsanwälten und Priestern. Diese Berufsgruppen un-terliegen aber nicht ohne Grund der Verschwiegenheits-pflicht.In der Begründung Ihres Gesetzentwurfs schreibenSie – Zitat –:Die Berufsgeheimnisträger in ihrer Gesamtheitschon von der Speicherung ihrer Verkehrsdatenauszunehmen, ist nicht möglich.Das ist schon einmal eine weise Erkenntnis. Sie habennur leider keine Schlüsse daraus gezogen.
Wenn das unmöglich ist, dann muss man es eben lassen,
zumal sich die Aufklärungsquote mit Vorratsdatenspei-cherung nach einer europäischen Studie – das haben wirgerade ausführlich gehört – gerade einmal um 0,006 Pro-zentpunkte erhöht. Der Vorteil ist also, statistisch gese-hen, kaum messbar und kann die Grundrechtseingriffenicht rechtfertigen.Jetzt haben Sie sich aber noch etwas Neues ausge-dacht, und zwar – was für eine Überraschung! – einenneuen Straftatbestand: die Datenhehlerei. Vielleicht kön-nen wir uns einmal darauf einigen, dass wir für jedenneuen Straftatbestand einen alten streichen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10597
Katja Keul
(C)
(B)
Das StGB schwillt ansonsten langsam immer mehr an.Jetzt soll also bestraft werden, wer sich rechtswidrig er-langte Daten verschafft oder verbreitet. Sie denken viel-leicht an die armen Finanzminister, die sich die CDs mitden Schweizer Bankdaten besorgen. Nein, Amtsträger,die Daten in einem Besteuerungsverfahren verwendenwollen, sind im Gesetz explizit ausgenommen. Wer alsosind die anderen Bösewichte? Richtig, Edward Snowdenzum Beispiel, also all diejenigen, die wir Grüne mit un-serem Whistleblower-Schutzgesetz schützen wollen. Ei-gentlich wollte sich doch auch die Koalition mit derenSchutz beschäftigen. Aber stattdessen werden sie jetztalle erst einmal unter Strafe gestellt. Das ist ja toll!
Was ist denn mit den Journalisten, die von Whist-leblowern kontaktiert werden? Fallen die jetzt unter dieAusnahme der beruflichen Pflichterfüllung?
Wer darf denn die Berufsbezeichnung „Journalist“ über-haupt führen und wer nicht? In der Begründung heißt es,die Ausnahme umfasse „journalistische Tätigkeiten inVorbereitung einer konkreten Veröffentlichung“. Ja,wann ist denn eine Veröffentlichung konkret? Was istdenn mit der vorgeschalteten Hintergrundrecherche?
Liebe Mitglieder der schreibenden Zunft, mich wür-den diese Ausführungen im Kleingedruckten nicht wirk-lich beruhigen. Vom Tatbestand sind Sie und all IhreQuellen jedenfalls erst einmal erfasst. Im Hinblick aufdie Pressefreiheit finde ich das auch verfassungsrecht-lich höchst bedenklich.Fazit: Ihr neuer Straftatbestand ist genauso missglücktwie die ganze Vorratsdatenspeicherung. Die große He-rausforderung für den freiheitlichen Rechtsstaat wäre,der allgemeinen Verunsicherung standzuhalten. Weichtder Rechtsstaat angesichts der Angst vor dem Terror zu-rück, indem er die Freiheit beschneidet, haben die Terro-risten bereits gewonnen, ohne einen Anschlag zu ver-üben. Insofern gebe ich dem Bundesjustizministerausdrücklich recht, der sich früher entsprechend geäu-ßert hat. Mit dem Sammeln größerer Datenmengen unddem Erlass neuer Strafvorschriften werden Sie jedenfallsdieser Herausforderung nicht gerecht.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Johannes
Fechner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn wirVerbindungsdaten anlasslos speichern, dann ist das ohneZweifel ein Grundrechtseingriff, den wir als Gesetzgebergut begründen und rechtfertigen müssen. Ich meine, dasses vor allem zwei Aspekte sind, die es rechtfertigen, denvorliegenden Gesetzentwurf zu beschließen, zwei As-pekte, weshalb dieser Gesetzentwurf sinnvoll und erfor-derlich ist.Erstens. Wir haben uns in vielen Gesprächen mitPraktikern, Richtern und Staatsanwälten – es warenkeine Scharfmacher, sondern erfahrene und besonneneRichter und Staatsanwälte – davon überzeugt, dass esBeispielsfälle gibt, in denen dieses Instrument notwen-dig ist, weil damit Verbrechen aufgeklärt werden kön-nen, weil dadurch Täter ermittelt werden können undweil dadurch zukünftig Verbrechen verhindert werdenkönnen.
Zweitens bringt dieses Gesetz schlicht mehr Rechts-sicherheit und Klarheit. Es wird klar geregelt, dass dieVerkehrsdaten nur auf richterlichen Beschluss abgefragtwerden können. Es wird klar geregelt, welche Daten ge-speichert werden dürfen und welche nicht. Ausdrücklichwird es keine Verpflichtung geben, Kommunikationsin-halte, etwa Inhalte von E-Mails, zu speichern. Das ist ab-solut tabu – ein ganz wichtiger Punkt für uns. Und: DieAbfrage von Verkehrsdaten ist nur noch bei schwerenStraftaten möglich, und das nur – ich erwähnte es – aufrichterlichen Beschluss, ohne Eilkompetenz für dieStaatsanwaltschaft oder gar für Polizeibehörden.Wichtig ist auch, dass die Standortdaten von Funkzel-len nur vier Wochen und alle anderen Verkehrsdaten nurzehn Wochen gespeichert werden dürfen. In Frankreichgibt es Überlegungen, auch die Inhalte der Daten zuspeichern, und das wesentlich länger. Ganz zu schwei-gen davon, dass es Internetdienstleister gibt, die E-Mailsauswerten und lesen. Und: Nach vier Wochen ist auf dieetwaig geschäftsmäßig gespeicherten Standortdaten keinZugriff der Sicherheitsbehörden mehr möglich; denn wirals SPD wollen nicht, dass es möglich wird, Bewegungs-profile über Monate zu erstellen.Wir haben es also im europäischen Vergleich mit ei-nem äußerst restriktiv gestalteten Instrument zu tun.Wir sorgen für bessere Datensicherheit. Wir regeln diegesetzliche Verpflichtung, dass Betroffene, deren Datenabgefragt werden, darüber informiert werden müssen,dass Daten abgefragt wurden. Es gibt eine klare Verpflich-tung, die Daten zu löschen. Wenn ein Unternehmen daswiderrechtlich nicht tut, erhält es ein Bußgeld in Höhevon bis zu 500 000 Euro. Ein ganz wichtiger Punkt indiesem Zusammenhang ist, dass die Speicherung inDeutschland stattfindet, nicht etwa in den USA oder ananderen Orten, wo wir keine Kontrolle über die Datenhaben.Ganz neu ist der Straftatbestand der Datenhehlerei.Wer also heimlich etwa Daten weiterverkauft, machtsich strafbar. Wichtig ist dabei, dass wir, Frau Kollegin
Metadaten/Kopzeile:
10598 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dr. Johannes Fechner
(C)
(B)
Keul, das Gesetz extra so gestaltet haben, dass wederJournalisten noch Whistleblower befürchten müssen,sich strafbar zu machen.
Wenn gesagt wird, dass sich zahlreiche Verbände ge-gen die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen haben,dann muss auch gesagt werden – auch das gehört zurWahrheit –, dass dieser Gesetzentwurf manchen Verbän-den nicht weit genug geht,
etwa dem Richterbund. Ich möchte auch ausdrücklichdarauf verweisen, dass es Verbände gibt, die sich mit un-serem Vorschlag einverstanden erklären. Stellvertretendmöchte ich den Deutschen Kinderschutzbund nennen,der sich ausdrücklich für dieses Instrument ausspricht.
Da sehen Sie: Einigen Verbänden geht es nicht weit ge-nug, andere sagen: „Macht das so!“ Also scheinen wirdoch einen sehr guten Kompromiss gefunden zu haben.
Noch ein Wort zu den Gutachten des Wissenschaftli-chen Dienstes des Deutschen Bundestages, über die indieser Woche diskutiert wurde. Mit solchen Gutachtenmuss man ja immer sehr sorgfältig umgehen.
Das eine Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass dieanlasslose Speicherung rechtlich nach dem Urteil desEuGH nicht unmöglich ist;
das steht explizit so drin. Das andere Gutachten besagtauch nicht, dass der Gesetzentwurf verfassungswidrigist; vielmehr wird eine Reihe von Vorschlägen gemacht,wie bestimmte Regelungen noch klarer gefasst werdenkönnen. Die Gutachten enthalten also interessante unddurchaus prüfenswerte Verbesserungsvorschläge, aberkeine K.-o.-Kriterien, die diesen Entwurf verfassungs-widrig erscheinen ließen.Es ist gut, dass wir durch das eingeleitete Notifizie-rungsverfahren bis September dieses Jahres Zeit haben,alle Anregungen zu prüfen. Wenn es vernünftige Verbes-serungsvorschläge gibt – ob vom WissenschaftlichenDienst, von Parteikonventen oder aus der Netzcommu-nity –, dann sollten wir sie uns durchaus anschauen.
Mir ist wichtig, dass diese Diskussion sachlich ver-läuft. Es gibt gute Argumente auf beiden Seiten. Nichtjeder Gegner der Vorratsdatenspeicherung ist gleich einStaatsfeind oder verharmlost Kinderpornografie. Ande-rerseits sollte man den Befürwortern nicht gleich unter-stellen, dass sie das Ende der modernen digitalen Gesell-schaft einleiten wollen.Zum Schluss will ich deshalb sagen, dass mit diesemGesetz in der öffentlichen Debatte für meinen Ge-schmack einerseits zu viele Befürchtungen, andererseitsaber auch zu viele Hoffnungen verbunden werden. Wasregelt dieses Gesetz denn tatsächlich neu? Was machenwir denn in der Sache neu? Wir schaffen – in Anfüh-rungszeichen – „nur“ die Möglichkeit, dass alle Unter-nehmen verpflichtet werden, ihre zu Abrechnungszwe-cken heute sowieso schon gespeicherten Verkehrsdateneinheitlich zehn Wochen bzw. bei Funkzellendaten vierWochen zur Verfügung zu halten, damit diese Daten, undauch nur bei schweren Straftaten, abgefragt werden kön-nen. Nicht mehr und nicht weniger regeln wir.Für mich ist dieser Gesetzentwurf deshalb ein Bau-stein für mehr Sicherheit, möglicherweise kein Allheil-mittel. Damit verbunden ist zugegebenermaßen einGrundrechtseingriff, aber kein ungerechtfertigter. Und erläutet bestimmt nicht das Ende der modernen digitalenGesellschaft ein. Dieser sehr restriktive Gesetzentwurfist ein gelungener Interessenausgleich zwischen der Si-cherung der bürgerlichen Freiheiten einerseits und demberechtigten Anliegen der Bevölkerung auf eine effek-tive Kriminalitätsbekämpfung andererseits.
Die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker hat für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörer! Sie haben es gemerkt: Wir freuen unssehr, dass wir heute mit diesem Gesetzentwurf endlichins parlamentarische Verfahren gehen können
und so dafür sorgen können, dass eine Mindestspeicher-frist für Kommunikationsdaten im Gesetzblatt verankertwird. Wir halten das für erforderlich, um schwere Straf-taten aufzuklären und Gefahren abzuwehren, und zwarvor allem im Interesse der Opfer, die keine andere Hilfehaben als unsere Polizei, unsere Staatsanwaltschaft, un-sere Gerichte und die deshalb auf deren Handlungsfähig-keit angewiesen sind. Deshalb wollen wir § 100 g StPO-Eund § 113 b TKG-E sowie angrenzende Paragrafen neuregeln. Gut, dass dafür jetzt endlich ein Vorschlag vor-liegt.Aus den Grundrechten ist zum einen abzuleiten, dasssich der Staat nicht zu weit ins private Leben einmischendarf; das ist ganz klar. Aber es sind dieselben Grund-und Menschenrechte, die ebenfalls erfordern, dass sichder Staat darum kümmert, Gefahren abzuwehren, dass eralso das materielle Strafrecht in der Praxis effektiv an-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10599
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(C)
(B)
wenden kann. Das haben sowohl der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte als auch der EuGH aus-drücklich zugestanden. Unsere Behörden haben ja diePflicht, bei Straftaten tätig zu werden. Dem zugrundeliegt das Legalitätsprinzip. Aber das Ganze nützt nichtsund geht ins Leere, wenn keine Instrumente zur Verfü-gung stehen, um das umzusetzen.Oft sind Verbindungsdaten die einzige Ermittlungs-grundlage, wenn es darum geht, eine Sache aufzuklären.Manchmal wirken diese Daten auch entlastend. Ein mirbekannter Fall aus der Praxis betrifft einen leicht behin-derten jungen Mann, der einen Mord an einem Bekann-ten zugegeben hatte. Darauf deuteten auch einige Spurenam Tatort hin. Er hatte gestanden, wurde verurteilt, hatdann sein Geständnis widerrufen. Es konnte nachgewie-sen werden, dass sein Handy zum Tatzeitpunkt an einemganz anderen Ort war. Er wurde dadurch entlastet, undhinterher wurde der wahre Täter gefunden. Auch so et-was ist möglich, wenn es Vorratsdatenspeicherung gibt.
Trotzdem handelt es sich nicht um ein populäresThema; der Koalitionspartner weiß das. Gleichwohlmuss ich sagen: Die Generalprobe hat hier doch bisherganz gut geklappt. Wenn da am Samstag der nächstenWoche nicht mehr kommt, dann mache ich mir keineSorgen.
Wir haben schon fast alle diesbezüglichen Stichwortegehört. Grob gesagt, handelt es sich um zwei Strategien:Einmal wird gesagt, der Eingriff, der mit der vorläufigenSpeicherung von Verbindungsdaten verbunden ist – denwill ich keineswegs bagatellisieren; aber er wird über dieMaßen dramatisiert –, sei nicht mit der Verfassung imEinklang. Zum anderen wird der Nutzen kleingeredet.Beides haben wir hier heute Morgen schon gehört.Bemerkenswert ist dabei, wem bereitwillig und kritik-los geglaubt wird. Deshalb will ich, auch auf die Gefahrvon Wiederholungen hin, noch einmal auf die Regelun-gen eingehen.Erstens. Die Aussagekraft der gesammelten Daten istdeutlich weniger gravierend, als viele befürchten. Esgeht nur um Verbindungen, nicht um Inhalte, nur um dieStandortdaten zu Beginn eines Gesprächs. Da fürchten jaeinige, dass auch nachvollzogen wird, wenn man mitdem angeschalteten Handy unterwegs ist, wann sich einHandy in eine neue Funkzelle einloggt. Das ist nicht derFall. Es geht auch um das, was Sie gerade gesagt hatten,Herr Korte: Mit der Speicherung der IP-Adresse wirdkeineswegs die Kontrolle des Surfverhaltens ermöglicht.Vielmehr regelt § 113 b Absatz 5 Telekommunikations-gesetz explizit:Der Inhalt der Kommunikation, Daten über aufge-rufene Internetseiten und Daten von Diensten derelektronischen Post dürfen auf Grund dieser Vor-schrift nicht gespeichert werden.Es ist gerade nicht so, dass man, wenn man eine IP-Adresse hat, kontrollieren kann: Was ist denn mit dieserIP-Adresse alles aufgerufen worden? Es geht nur anders-herum: Man hat eine inkriminierte Website und kannherausfinden, von welchen IP-Adressen diese besuchtwurde. Dann kann man heraussuchen, welche Person zudieser IP-Adresse gehört, welcher Anschluss dazu ge-hört. Da dürfen Sie nicht immer das Falsche sagen. Bittelesen Sie doch einfach einmal den Gesetzentwurf an die-ser Stelle.
Zweitens erfolgt eine dezentrale Speicherung der Da-ten bei den Providern, nicht beim Staat; auch das istschon gesagt worden. Wir haben ganz klare und sehrhohe Zugangshürden für eine Nutzung. Wir haben denRichtervorbehalt. Wir haben die Kennzeichnungspflichtim weiteren Verfahren. Wir haben hohe technischeAnforderungen. Und das alles für Daten, für derenSpeicherung durch die Provider aus vertraglichenoder technischen Gründen die Voraussetzungen desBundesdatenschutzgesetzes genügen. Für diesen Um-gang mit diesen angeblich so hochsensiblen Daten ge-nügt das Bundesdatenschutzgesetz. Nur weil sie jetzthier in einen anderen Zusammenhang gestellt werden,ohne dass sie dadurch sensibler werden, greifen die ge-nannten erhöhten Anforderungen. Wir genügen diesenauch. Aber die Daten werden dadurch, wie gesagt, nichtsensibler, und die Gefahr wird keinesfalls größer, son-dern – es verhält sich also gerade umgekehrt – kleiner.Aus den zwei Jahren, in denen die Vorratsdatenspei-cherung zulässig war, ist auch im Nachhinein kein einzi-ger Fall bekannt geworden, in dem es Missbrauch gege-ben hätte. Die Daten werden schlicht und ergreifendeinfach gelöscht, wenn die kurze Frist um ist. Im Fall derAbfrage wird transparent mitgeteilt, dass Daten erfasstworden sind. Was folgt daraus? Man muss sich vielleichtäußern. Man wird gefragt: „Haben Sie etwas gemerktvon einer Straftat, die stattgefunden hat?“, weil offenbardas eigene Handy am Ort der Straftat lokalisiert wordenist. Dann ist es doch nichts anderes als eine ganz nor-male Bürger- und Zeugenpflicht, dass man das, was mankann, dazu beiträgt, um einen Fall aufzuklären.
Allein aus der Tatsache, dass die eigenen Kommuni-kationsdaten in einer Abfrage ermittelt worden sind,geht kein einziger Verdacht hervor. Vielmehr müssenweitere Ermittlungen vorgenommen werden, um den Tä-ter zu überführen.
Wer hier von Generalverdacht spricht, den möchte icheinmal fragen, was denn die Alternative wäre. Wenn wirnicht alle Daten einbeziehen würden, würden wir nichtzu den relevanten Daten kommen. Wir müssten dannKriterien festlegen, die den Anlass ausmachen. Was istdenn dann das Kriterium: Ist es die Gesinnung? Ist es
Metadaten/Kopzeile:
10600 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(C)
(B)
das Geschlecht? Ist es der Glaube? Ist es die Herkunft?Was soll es denn dann sein? Alles andere ist diskriminie-rend. Deshalb müssen wir ebendiesen Ansatz so wählen.
Ich möchte auch auf die Studie des Max-Planck-Insti-tuts eingehen, die schon genannt worden ist. Das Instituthat ohne Zweifel einen sehr renommierten Namen. Eslohnt sich aber bei dieser Studie wirklich, genauer hinzu-sehen. Diese Studie der kriminologischen Abteilung desMax-Planck-Instituts beruht auf Interviews von einigenPolizisten, Staatsanwälten und fünf Richtern. Sie ist ins-gesamt nicht wirklich repräsentativ. Die damals bei denLändern geplante Erhebung war in der vorgegebenenZeit gar nicht möglich. Das wird in der Studie auch zu-gegeben. In ihr wird davon gesprochen, dass sie auf kei-ner wirklich verlässlichen Datengrundlage beruht. DieseStudie wurde von der damaligen Justizministerin – be-kanntermaßen keine Freundin der Vorratsdatenspeiche-rung –
in Auftrag gegeben.Interessant ist, dass es zwei Versionen dieser Studiegibt.
Die erste hat der Auftraggeberin offenbar nicht gefallen.Die Studie wurde zurückgegeben und musste überarbei-tet werden. Dabei ergaben sich interessante Differenzen.Die Presse hat darüber berichtet, was in der einen undwas in der anderen Studie stand.
Die Wertungen sind ziemlich unterschiedlich. Über dieerste Studie heißt es in der Süddeutschen Zeitung:Wörtlich: „Essentielle Bedeutung haben retrograde
Erfahrung der Polizeipraktiker“ besonders auch bei„Raubdelikten, schweren Gewalt- und Tötungsde-likten“.Über die zweite Version heißt es dann zu der Bedeutunghierbei:Eher nein – „für Kapitaldelikte sind Veränderungenin den Aufklärungsraten wegen fehlender Vorrats-daten nicht sichtbar geworden.“Oho! Was ist denn da passiert? Eigentlich war der Sach-verhalt abgeschlossen, und es ist nicht erkennbar, woherdiese unterschiedliche Bewertung kommt.
Ich bin sicher: Wenn diese Studie im zweiten Versuchnicht das gewünschte Ergebnis gebracht hätte, wäre sieso zerpflückt worden, wie sie es verdient hätte. Selbstder Direktor des Max-Planck-Instituts und Leiter derstrafrechtlichen Abteilung, Professor Dr. Ulrich Sieber,schreibt in dem Band über die Verhandlungen des Deut-schen Juristentages, den er mit herausgegeben hat:Die bisherige Vorratsdatenspeicherung war in zahl-reichen Fällen ein entscheidender und oft der ein-zige Aufklärungsansatz für die Verfolgung vonStraftaten. Sie hat auch eine große Bedeutung beider Ermittlung von organisierten Täterstrukturen.
Frau Kollegin.
Auch er hält das für wichtiger als die erkennbare Aus-
wirkung auf die Statistik.
Fragen Sie den Deutschen Richterbund, fragen Sie
die Generalstaatsanwälte, fragen Sie den Sachverstän-
digen Franosch, der als Sachverständiger vor kurzem im
Edathy-Untersuchungsausschuss ausgesagt hat. Wir wer-
den ihn auch als Sachverständigen in unserer Sachver-
ständigenanhörung hören.
Sehr geehrte Kollegin, ich muss Sie darauf aufmerk-
sam machen, dass Sie jetzt auf Kosten Ihrer noch nach-
folgenden Kollegen sprechen.
Entscheiden Sie, wem Sie mehr glauben und ver-
trauen. Ich vertraue auf die Praktiker, die uns das Rich-
tige sagen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Folgende Frage liegt der heutigen Debatte zu-grunde: Wie kann der Staat den Schutz der Bürger ge-währleisten und ihre Freiheitsrechte sichern, ohne selbstzu tief in Grundrechte einzugreifen? Dem Gesetzentwurfzur Einführung einer Speicherpflicht für Verbindungsda-ten gelingt diese Balance. Er ist eine geeignete und ver-hältnismäßige Antwort des wehrhaften und demokrati-schen Rechtsstaates.
Der Staat kann sich seiner Verantwortung nicht ent-ziehen, wenn die Grundlagen und der Grundkonsens un-seres Zusammenlebens erschüttert werden – erschüttertdurch schwerste Straftaten wie Mord und Totschlag,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10601
Dr. Volker Ullrich
(C)
(B)
Kinderpornografie, Terrorismus und organisierte Krimi-nalität –. Dem Staat obliegt es, diese Straftaten aufzuklä-ren und Täter in einem rechtsstaatlichen Verfahren zurRechenschaft zu ziehen. Das ist ein wesentlicher Auftragan ein rechtsstaatliches Gemeinwesen.
Diese Debatte darf damit auch nicht auf einen ver-meintlichen Gegensatz zwischen Freiheit und Sicherheitverengt werden.
Freiheit und Sicherheit schließen sich nicht gegenseitigaus. Sie bedingen sich.
Freiheit bleibt nur bestehen, wenn sie geschützt und ver-teidigt wird.
Ich bin daher dem Herrn Bundesjustizminister sehrdankbar, dass er in enger Abstimmung mit dem Bundes-minister des Innern einen von Verantwortung getragenenund grundrechtssensiblen Vorschlag in den Bundestageingebracht hat. Das ist eine klare und begrüßenswerteHaltung zum wehrhaften Rechtsstaat.Die Forderung nach der Speicherung von Verbin-dungsdaten als Instrument der Aufklärung und Präven-tion ist stets von vielen besonnenen Experten und Prak-tikern im Bereich der inneren Sicherheit aus gutenGründen empfohlen worden. Auch das Bundesverfas-sungsgericht hat dies nicht für verfassungswidrig erklärt.Im Gegenteil: Es hat einen klaren Rahmen aufgezeigt, inwelchem ein solches Instrument der digitalen Spurensi-cherung rechtlich möglich ist. Dieser Rahmen wirddurch das vorliegende Gesetz eingehalten.Der Staat, meine Damen und Herren, speichert nichtselbst. Die Speicherpflicht bleibt bei den Anbietern. ImEinzelfall können die Strafverfolgungsbehörden nachrichterlichem Beschluss innerhalb kürzester Fristen zurErmittlung schwerster Straftaten auf Verbindungsdatenzurückgreifen – und auch nur dann. Der Gesetzentwurfstellt den Schutz der Daten gegen unbefugten Zugriffsicher. Daten von Berufsgeheimnisträgern unterliegeneinem Verwertungsgebot. Inhalte werden nicht gespei-chert. Das ist doch eine gute Zusammenstellung.Wir wissen aber auch: Mindestspeicherfristen sindkein Allheilmittel. Dem Rechtsstaat sind bewusst undauch zu Recht Grenzen gesetzt. Deswegen ist dieser Ge-setzentwurf auch wohlüberlegt. Aber es bleibt auch fest-zuhalten: Zur Aufklärung schwerster Kriminalität sinddigitale Spuren oftmals der einzige erfolgversprechendeErmittlungsansatz. Diesen müssen die Strafverfolgungs-behörden nachgehen dürfen. Es geht darum, dass wirdurch die Entdeckung krimineller Strukturen wissen,was Straftäter und Terroristen vorhaben, wie sie sich be-wegen. Dadurch verhindern wir neue Anschläge.
Es geht also nicht darum, die Befugnisse von Sicher-heitsbehörden zu überdehnen. Es geht darum, dass wirihnen Chancengleichheit geben, dass wir ihnen die Mög-lichkeit geben, Sicherheitslücken zu schließen.
Meine Damen und Herren, bereits jetzt kann auf Da-ten zurückgegriffen werden, die bei den Anbietern ge-speichert sind. Es hängt aber vom Zufall ab, ob dieseDaten noch vorhanden sind. Die Frage, die wir uns stel-len müssen, ist folgende: Akzeptiert der Rechtsstaat indiesem Bereich eine Zufälligkeit, oder brauchen wir einerechtsklare und rechtssichere Regelung? Es verwundert,wenn in diesem Zusammenhang nicht Lösungen gesuchtwerden oder eine verantwortungsvolle Debatte geführtwird, meine Damen und Herren von der Linken und vonden Grünen, sondern wenn Sie von Überwachungsstaat,Generalverdacht oder Massenüberwachung sprechen. Eskann Sie niemand daran hindern, sachlich falsch zu lie-gen. Es kann Sie niemand daran hindern, zugespitzt oderpolemisch Ihre Meinung zu äußern.
Aber im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf vonMassenüberwachung zu sprechen, verbietet sich nichtnur aus Respekt vor historischen Gegebenheiten, son-dern es ist schlichtweg alarmierend und unanständig, ineinem sensiblen Umfeld ein Klima der Angst zu schü-ren. So geht man nicht mit Verantwortung um.
Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf istvon einer tiefen Sorge um unsere freiheitliche und demo-kratische Grundordnung geprägt. Wir haben in den ver-gangenen Monaten das Strafrecht zum Schutz unsererKinder und zur stärkeren Bestrafung terroristischer Vor-bereitungshandlungen reformiert. Der Bund wird imnächsten Haushaltsjahr viele Hundert neue Stellen beider Bundespolizei schaffen. In diesem Zusammenhangsind die Bemühungen um Speicherungen von Verbin-dungsdaten die sachlich gebotene Ergänzung.Natürlich könnte man sich auch zurücklehnen und be-quem den einen oder anderen Applaus einfangen. Be-quemlichkeit würde vielleicht auch Kritik ersparen.Aber das wäre kein geeignetes Handeln. Es wäre Preis-gabe von Verantwortung. Das ist mit uns nicht zu ma-chen.
Was unterscheidet uns am Ende des Tages?
Es ist unsere tiefe Sorge um die freiheitlich-demokrati-sche Grundordnung und unsere verantwortliche Haltung
Metadaten/Kopzeile:
10602 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dr. Volker Ullrich
(C)
(B)
zu Freiheit und Sicherheit. Die werden wir uns nichtnehmen lassen. Deswegen werden wir diesen guten Ge-setzentwurf in die weiteren Beratungen einbringen undam Ende des Tages auch verabschieden.Herzlichen Dank.
Der Kollege Thomas Jarzombek hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Wir wollen ein Internet der Freiheit. Dabei hat füruns Freiheit ohne Verantwortung keinen Wert.So schreibt es der cnetz e. V. in seiner Präambel. Das istnicht nur meine Leitlinie als internetpolitischer Sprechermeiner Fraktion, sondern die Leitlinie vieler, die in derVergangenheit beim Thema Vorratsdatenspeicherungdurchaus eine sehr kritische Position hatten. Eines ist füruns immer klar: Freie Wesen werden sich nur dann soverhalten, dass andere ebenfalls frei sein können, wennsie damit konfrontiert werden können, Verantwortungfür ihre Taten zu übernehmen. Ein Internet oder Kom-munikationsräume, in denen man vollkommen folgenlosauch schwerste Straftaten verüben kann, kann niemalsdas Ziel der Politik dieses Hauses sein.Insofern haben wir sehr mit der Frage gerungen, wieeine Vorratsdatenspeicherung, Speicherpflichten undHöchstspeicherfristen tatsächlich ausgestaltet werdenkönnen. Ich muss zugeben, dass ich selber zu den Kriti-kern gehörte, die sagten: Die im europäischen Rahmenvorgesehene Speicherfrist von 24 Monaten, das unge-klärte Verfahren der Datensicherung und der Zugriff ineiner relativ großen Breite – das kann, wenn man alleLänder der Europäischen Union betrachtet, keine klugePolitik sein.Ich glaube aber, dass wir bei dem, was hier heute vor-gelegt worden ist, einen ganz anderen Weg gegangensind und dass wir auch aus dem gelernt haben, was unszwei Verfassungsgerichte vorgegeben haben. Was dieVerfassungsmäßigkeit betrifft, verweise ich an dieserStelle auf das, was Günter Krings gesagt hat. Ich glaube,dem ist nicht viel hinzuzufügen.Es geht mir insbesondere um die Frage der Verhält-nismäßigkeit. In dem Entwurf, der uns heute vorliegt,sind Speicherfristen von zehn Wochen für Telefonateund SMS-Nachrichten und von vier Wochen für Stand-ortdaten vorgesehen. Diese Unterscheidung im Gesetzangesichts der höheren Sensibilität von Standortdaten istein kluger Gedanke gewesen.Ich glaube, dass die Nutzung dieses Instruments ins-besondere vor dem Hintergrund gerechtfertigt ist, dasses hier – anders, als es manchmal suggeriert wurde –nicht um Abmahnungen im Zusammenhang mit demDownload von Musikdateien geht, sondern nur um aller-schwerste Straftaten, die im Gesetz auch ausdrücklichdefiniert sind; das muss man ganz klar sagen.
Dass man im Falle eines Gewaltverbrechens – jemandwurde in einem Waldstück vergewaltigt und umge-bracht; solche schrecklichen Fälle – über eine Funkzel-lenabfrage nachvollziehen kann, welche Menschen sichim Umfeld aufgehalten haben, wird die Straftat im Zwei-felsfall nicht verhindern; aber es ist für die Aufklärungvon großem Wert.Ich glaube, es ist ein wichtiges Instrument, das in vie-lerlei Hinsicht verhältnismäßig ist. Das wird deutlich,wenn man sich mit der Frage beschäftigt: Wird eigent-lich in die Kommunikation hineingeschaut? Mir persön-lich ist wichtig, dass zwar aufgezeichnet werden soll,wer wen angerufen hat und wer wem eine SMS ge-schickt hat, aber nicht, was gesprochen wurde oder wasin der SMS stand. Es werden eben keine WhatsApp-,keine Threema- und keine sonstigen Messengernach-richten gespeichert.Es gibt natürlich die Sorge: Wo wird uns das, was wirheute machen, einmal hinführen? Deshalb ist es sehrverhältnismäßig, wenn wir eben nicht in ein expansivesGesetzgebungsverfahren einsteigen, das auf die Messen-gerdienste und auf Kommunikationsformen der Zukunftsetzt.Zu den Internetseiten. Man muss vielleicht noch ein-mal genauer erklären, was hier tatsächlich gespeichertwird. Das Wort „Verbindungsdaten“ bringt einen eigent-lich auf eine falsche Spur; denn so entsteht der Eindruck,dass die Daten jeder Verbindung im Internet abgespei-chert werden. Das ist vielleicht bei Google der Fall, aberdas gilt nicht für dieses Gesetz. Das Einzige, was gespei-chert wird, ist die Adresse, mit der Sie selbst im Internetfür 24 Stunden bekannt sind. Es handelt sich also umeine Information in 24 Stunden, zumindest im Regelfall.Um darauf zu schließen, auf welchen Servern man ge-wesen ist oder mit wem man kommuniziert hat, brauchtman das, was in der IT-Branche eine „Zwei-Faktor-Authentifizierung“ genannt wird: Sie brauchen eine Ge-genseite. Nur so kann beispielsweise festgehalten wer-den, auf welchem Server Nachrichten ausgetauscht wur-den bzw. wann welche IP-Adresse dort online gewesenist. Man kann also allein mit den Daten, die der Staat er-hebt, nichts, aber auch gar nichts anfangen, sondern manbraucht die Daten der Gegenseite.Ich glaube, uns liegt ein sehr ausgewogener Gesetz-entwurf vor. Viele aus der CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion – ich sehe, dass Frau Schwarzer hier sitzt, von derich weiß, dass sie durchaus einen kritischen Blick auf dieDinge hat –, aber auch darüber hinaus im cnetz und inanderen Organisationen, die sehr kritisch gewesen sind,sagen nun: Damit können wir leben. Das ist ein vernünf-tiger Weg, der hier gegangen wird. – Ich persönlich sageausdrücklich: Das ist ein guter Gesetzentwurf, der vielhilft und wenig schadet.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10603
Thomas Jarzombek
(C)
(B)
Schauen wir uns an, wie mit den Themen Anonymitätim Internet oder Datensicherheit im Internet umgegan-gen wird. Häufig werden wir mit dem Argument kon-frontiert: Der Staat muss bei diesen Themen besondereSensibilität zeigen; denn es kann sich keiner sozusagenaus den Fängen des Staates befreien, von dem Gesetzsind nun einmal alle betroffen. – Aber ein Blick auf Un-ternehmen wie Facebook mit dem angeschlossenenDienst WhatsApp genügt, um festzustellen: Das ist nurein theoretischer Gedanke, dass die Menschen heutenoch eine Wahl haben, mitzumachen oder nicht. RedenSie doch einmal mit jungen Menschen, die in der Schuleoder im Studium sind und für die solche Dienste wieFacebook und WhatsApp schlicht und ergreifend Teil-habe am gesellschaftlichen Leben bedeuten. Sie habende facto keine Möglichkeit, sich dessen zu entziehen, in-dem sie möglicherweise datenschutzsensiblere Plattfor-men wählen.Wir sollten in der weiteren Debatte unser Augenmerkganz klar darauf richten, wie bei solchen Plattformen,die eine so große Bedeutung haben, dass eine gesell-schaftliche Teilhabe für bestimmte Bevölkerungsteileohne sie kaum noch denkbar ist, mit den viel sensiblerenStandort-, Kommunikations- und Inhaltedaten umgegan-gen wird.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/5088 und 18/4971 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Dr. Diether Dehm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Paralleljustiz für internationale Kon-
zerne durch Freihandelsabkommen
Drucksache 18/5094
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Dank der Linken haben Sie wieder einmal dieMöglichkeit, tatsächlich die Interessen der Bürger aufzu-greifen: Sie brauchen sich nur mit dem von uns vorge-legten Antrag gegen die privaten Schiedsgerichte auszu-sprechen.
Das ist dringend notwendig, weil Sie bisher jede Klar-heit in dieser Frage vermissen lassen. Das gilt auch aus-drücklich – leider, sage ich – für die Sozialdemokrati-sche Partei.
Meine Damen und Herren, was haben wir diese Wo-che für ein Drama erlebt in Brüssel: Da wurde einAntrag vorgelegt, der vorher im Wirtschaftsausschussausgemauschelt worden war. In diesem Antrag warplötzlich eine Befürwortung privater Schiedsgerichteenthalten. Es zeichnete sich ab, dass eine Mehrheit dage-gen stimmen würde, und, schwups, wurde das mit zweiStimmen Unterschied von der Tagesordnung gekegelt.Meine Damen und Herren, was ist das für ein Demo-kratieverständnis? Sie hätten die Möglichkeit gehabt, imEuropäischen Parlament ein Zeichen zu setzen und dieKritik der Bürger daran, dass künftig private Schiedsge-richte darüber entscheiden sollen, wie viel Staaten zah-len müssen, wenn sich ein Unternehmer seiner Gewinneberaubt sieht, aufzunehmen. Sie hätten die Möglichkeitgehabt, Klarheit zu schaffen. Sie haben sie nicht genutzt.Das ist traurig, meine Damen und Herren, äußerst trau-rig.
Momentan – ich sage Ihnen das ganz deutlich – istdas Hamburger Hafenwasser klarer als Ihre Position indieser Frage.
Es wird Zeit, dass Sie endlich Ihre Positionen bestimmenund sagen, wo Sie hinwollen. Da sagt Herr Gabriel inder Erklärung, die er gemeinsam mit dem DGB heraus-gegeben hat:Investitionsschutzvorschriften sind in einem Ab-kommen zwischen den USA und der EU grundsätz-lich nicht erforderlich und sollten nicht mit TTIPeingeführt werden.
Jetzt legt er selbst einen Vorschlag vor für, ich sageeinmal, ein Abkommen über besondere Investitions-schutzvorschriften. Auch wenn Streitigkeiten zwischenInvestoren und Staaten jetzt vor einem internationalenHandelsgerichtshof geklärt werden sollen, bleibt es da-bei: Es sind Sonderrechte für die Unternehmen, die zwarimmer die Staaten verklagen können, wo aber nie einBürger die Unternehmen verklagen kann, wenn sie Um-weltschutzvorschriften nicht einhalten, wenn sie Ar-beitsschutzvorschriften nicht einhalten. Es geht also nurum Sonderrechte für die Unternehmen. Das gilt auch im
Metadaten/Kopzeile:
10604 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Klaus Ernst
(C)
(B)
Falle eines internationalen Handelsgerichtshofs. Was Siehier machen, meine Damen und Herren, ist, dass Sie eineNebelkerze werfen, und nichts anderes.
Ich habe zur Kenntnis nehmen müssen, reich und hys-terisch seien die Deutschen, weil sie sich gegen TTIPaussprechen – das ist ja lustig! Und dann sagt HerrGabriel:… wenn der Rest Europas dieses Abkommen will.Ich sage Ihnen: Deutschland wird dem dann auchzustimmen. Das geht gar nicht anders.Wo ist Ihre Haltung? Mein Gott, da kennt sich doch kei-ner mehr aus, was die Sozialdemokratie eigentlich will.Sie haben heute die Möglichkeit, Klarheit herzustellen.Jetzt sage ich Ihnen noch eines, meine Damen undHerren: Die Frage ist, ob wir in Europa wirklich ganz al-lein sind mit dieser Haltung. Wie sieht es in Europa aus?2 Millionen Unterschriften hat eine selbstorganisierteBürgerinitiative gegen TTIP und CETA, die Handelsab-kommen mit den USA bzw. Kanada, gesammelt. InDeutschland ist fünfzehnmal so viel zusammengekom-men, wie nach dem Quorum der Europäischen Unionnotwendig gewesen wäre. Welche Länder haben sich in-zwischen ebenfalls an dieser Abstimmung beteiligt unddas Quorum erfüllt? Österreich, Belgien, Bulgarien,Tschechien, Dänemark, Spanien, Finnland, Frankreich,Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Nieder-lande, Schweden. Es wäre an der Zeit, dass sich die So-zialdemokratie Deutschlands an die Spitze dieser Bewe-gung stellt und nicht außen vor bleibt
und herumeiert in dieser Frage; das wäre dringend not-wendig.
Ich habe auch noch Slowenien vergessen, um das deut-lich zu sagen. So, es sind 14 Länder. Offiziell nötig wä-ren nur 7, um eine entsprechende Europäische Bürger-initiative zum Erfolg zu bringen.Meine Damen und Herren, Investor-Staat-Klagemög-lichkeiten sind eine Gefahr für die demokratischenStrukturen. Das wissen Sie; deshalb gibt es bei den So-zialdemokraten Gott sei Dank auch erheblichen Wider-stand dagegen. Staaten können in Millionenhöhe, nein,in Milliardenhöhe verklagt werden – wie die Bundesre-publik Deutschland derzeit von Vattenfall verklagt wirdvor einem internationalen Schiedsgericht. Meine Damenund Herren, ausländische Investoren werden besserge-stellt als einheimische. Das Klagerecht bekommen nurinternationale Konzerne, aber nie die Bürger.Jetzt schlägt Herr Gabriel einen staatlich organisierteninternationalen Gerichtshof vor. Meine Damen und Her-ren, das ändert aber nichts an dem Punkt, und das wissenSie auch genau. Frau Malmström hat Ihnen gesagt, dasses kurzfristig schlichtweg nicht möglich ist, einen sol-chen Gerichtshof zu installieren. In CETA, in dem Ab-kommen mit Kanada, ist es nun eindeutig so, dass dieseSchiedsgerichte vereinbart sind, und zwar die alten,nicht die nach dem Vorschlag von Gabriel.Wenn Sie also wenigstens den Vorschlag Ihres eige-nen Parteivorsitzenden ernst nehmen würden, dannmüssten Sie aus diesem Grunde CETA ablehnen, weilSie diese Dinge sonst automatisch auch bei TTIP nichtmehr loswerden.
Aber auch das tun Sie nicht, sondern Sie eiern herum.Wer an einen solchen Gerichtshof glaubt, der glaubtauch, dass der Storch die Kinder bringt. Ich glaube, demeinen oder anderen ist aus der Realität etwas anderes be-kannt.
Meine Damen und Herren, wenn Sie Ihren eigenenVorschlag ernst nehmen würden, müssten Sie handelnund Klarheit herstellen. Es bleibt auch nach Ihrem Vor-schlag bei einer Paralleljustiz, obwohl es keinerlei empi-rischen Nachweis für die Notwendigkeit von Investi-tionsschutzabkommen gibt. Es gäbe außerdem weiterhinPrivilegien für internationale Konzerne.Wir brauchen tatsächlich einen internationalen Ge-richtshof. Es muss gewährleistet sein, dass die Bürgerin-nen und Bürger und die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer entlang der internationalen Handelskette dieMöglichkeit haben, vor Gerichten zu klagen, wenn inden Ländern, in denen internationale Konzerne tätigsind, Menschenrechte nicht beachtet werden. Wenn, wiein Bangladesch, Frauen in Fabriken verbrennen, weil dieLäden zugesperrt wurden, aber keine juristischen Konse-quenzen daraus gezogen werden, könnte es tatsächlichsinnvoll sein, derartige internationale Gerichte zu schaf-fen. Das machen Sie aber nicht.Deshalb bleibe ich dabei: Nutzen Sie Ihre Chance,diese Schiedsgerichte heute durch Zustimmung zu unse-rem Antrag abzulehnen. Die Bürgerinnen und BürgerEuropas würden es Ihnen danken. 40 000 Menschen ha-ben in München – allein in München – gegen die inter-nationalen Schiedsgerichtshöfe und TTIP demonstriert.Wenn Sie einmal etwas Vernünftiges machen wollen,schließen Sie sich dem Widerstand der Bürger an.Danke fürs Zuhören.
Der Kollege Andreas Lämmel hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Herr Ernst, Sie bescheren uns heute, am Freitag-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10605
Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
mittag, noch eine Debatte zu TTIP und Schiedsgerich-ten.
Das ist im Prinzip das Gleiche, was Sie im Abstand vonetwa drei Wochen immer wieder zelebrieren.
Es gibt nicht einen einzigen neuen Gesichtspunkt. Siekönnten uns viel Zeit ersparen, wenn Sie ganz einfachsagen würden: Wir wollen TTIP nicht.
Wir wollen über gar nichts reden. Wir wollen auch übernichts verhandeln. Wir wollen das alles nicht. – Daswürde ausreichen. Damit wäre Ihre Position klar be-schrieben. Dann müssen Sie auch nicht erst mit Nebel-kerzen werfen, wie Sie es hier tun. Sie werfen ja alles ineinen großen Topf, rühren um und wollen das dann alsLeipziger Allerlei servieren.
Herr Ernst, der Unterschied zwischen Ihnen und denKoalitionsparteien ist, dass wir uns der Kritik, die anverschiedenen Punkten nicht ungerechtfertigt ist, stellenund uns überlegen, wie man die Dinge besser machenkann. Die Linken sehen aber überhaupt keine Veranlas-sung, darüber nachzudenken, weil sie sowieso alles ab-lehnen. Sie sind eine noch schlimmere Ablehnerparteials die Grünen. Die machen das üblicherweise auch. Beider letzten Wahl haben sie aber gemerkt, dass man damitnicht durchkommt.
Ich habe noch nicht einen einzigen Vorschlag von Ihnengehört, wie man dieses Problem lösen könnte, außer dassSie sagen: „Wir wollen das alles nicht. Schluss, aus, ab-lehnen!“, und uns auffordern, Ihrem Antrag zuzustim-men, damit TTIP gestoppt wird.
Das ist doch keine Alternative; das ist eine Nullalter-native.
Mit genau dieser Haltung disqualifizieren Sie sich. Wennman in Verhandlungsprozessen etwas erreichen will,dann muss man ein bisschen Grips in der Birne haben,Herr Ernst.
Man muss sich überlegen: Was könnte man im InteresseEuropas ändern? Aber da das Neue Deutschland offen-sichtlich nicht mehr so viel Stoff liefert, gehen auch Ih-nen die Ideen aus.
Ich kann nur sagen: Das, was Sie hier zelebrieren,bringt in der Sache überhaupt nichts. Wir hingegen über-legen uns in der Koalition: Welche Vorschläge könnenwir machen? Frau Malmström hat die Kritik an den in-ternationalen Schiedsgerichtsverfahren ja aufgenom-men.Man muss deutlich sagen: Schiedsgerichtsverfahrengibt es auf der ganzen Welt, und zwar auf allen Ebenen.Sie tun aber immer so, als seien sie eine neue Erfindung.Wir sind zum Beispiel froh, dass es bei der WTO, derWelthandelsorganisation, schon seit vielen Jahren einetabliertes Schiedsgerichtssystem gibt. Diese Schiedsge-richte funktionieren, wie beispielsweise auch China er-kennen musste. Als China der Welt die Seltenen Erdenverweigern wollte, gab es ein Schiedsgerichtsverfahren,und letztendlich musste sich China dem Spruch fügen.Selbst wenn Sie Nachbarschaftsstreitigkeiten klärenwollen, die entstanden sind, weil Sie Ihren Knallbeeren-busch wieder nicht beschnitten haben, können Sie einenSchiedsrichter einsetzen. Außergerichtlich, bevor sichein Gericht damit befasst, kann man versuchen, mit demSchiedsrichter eine außergerichtliche Lösung zu finden.Genau das ist der Punkt.
– Es nützt nichts, wenn Sie nur rumschreien. Sie hattenvorhin die Möglichkeit, ein paar kluge Gedanken zu äu-ßern. Die Chance haben Sie vergehen lassen. Das istPech für Sie.
Frau Malmström hat eindeutig vorgeschlagen, dassman vorher wählen soll, ob man den gerichtlichen Weggehen oder ein Schiedsgerichtsverfahren anstreben will.Wir sollten über diese Vorschläge diskutieren.
Sie fragen uns aber nicht nach unserer Haltung dazu, fra-gen nicht, ob das für uns ein mögliches Modell ist. Ichweiß natürlich, dass auch unser Koalitionspartner Pro-bleme mit den Schiedsgerichten hat. Es geht doch aberdarum, das Verfahren so zu modernisieren und so trans-parent zu gestalten, dass es funktionieren kann und dassdie Ängste, die Sie schüren – das ist das Einzige, was Sieerreichen wollen,
obwohl damit der Sache nicht gedient ist –, nicht Wirk-lichkeit werden.
Metadaten/Kopzeile:
10606 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
Herr Gabriel hat einen Vorschlag zum internationalenHandelsgerichtshof unterbreitet.
Natürlich kann man den nicht über Nacht einrichten;aber das ist doch eine Idee, über die man einmal nach-denken kann: Was sind die Voraussetzungen dafür? Wasmuss man tun, auch gesetzlich, um einen solchen Han-delsgerichtshof einzurichten? Das wäre doch sinnvoll.Aber Sie verschwenden null Gedanken daran. Sie den-ken, Gabriel ist Ihr Gegner, und Sie müssen alles versu-chen, den Wirtschaftsminister kaltzustellen.Wenn man in der Bevölkerung wirklich Aufklärungbetreiben will, dann sollte man sachlich diskutieren.Man sollte die Argumente aller Seiten berücksichtigenund darüber diskutieren.
– Sie haben nicht ein einziges Argument vorgebracht.Das ist ja das Problem.
Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Ernst?
Eine würde ich versuchen. – Herr Ernst, legen Sie los,
die Zeit läuft mir sonst davon.
Die Uhr ist angehalten.
Herr Lämmel, Ihren Ausführungen ist deutlich zu ent-
nehmen, dass Sie ein Problem mit der Gerichtsbarkeit
der Bundesrepublik Deutschland haben.
Hätten Sie dieses Problem nicht, würden Sie nicht an-
nehmen, dass ein ausländischer Investor vor deutschen
Gerichten unfair oder schlecht behandelt wird. Das ist
nämlich die Voraussetzung für die Forderung nach ei-
nem internationalen Schiedsgerichtshof. Sie brauchen
ihn, weil Sie annehmen – sonst machte das ja keinen
Sinn –, dass ein internationaler Investor dort sein Recht
bekommt, das ihm vor deutschen Gerichten verweigert
werden könnte. Das ist bezeichnend.
Ein zweiter Punkt, Herr Lämmel. Wir haben ja die
Möglichkeit, unterirdisch zu diesem Saal zu gelangen.
Ich würde Ihnen empfehlen, einmal wieder von vorne in
diesen schönen Reichstag zu gehen. Dort steht: „Dem
deutschen Volke“, und nicht: „Der deutschen Export-
wirtschaft“.
Das war der gleiche Stil, den Sie schon in Ihrer Redegezeigt haben, Herr Ernst. Ich hatte gedacht, Sie hättenmir zugehört. Ich habe gesagt: Schiedsgerichte gibt esauf allen Ebenen in der Welt, und sie funktionieren.
Das bedeutet aber überhaupt nicht, dass ich der Meinungbin, dass die deutsche Justiz, dass die deutschen Gerichtenicht funktionieren.
– Natürlich brauchen wir sie.Man kann ja versuchen, auf außergerichtlichem Wegezu einer Einigung zu kommen. Zum einen kostet das vielweniger Steuergeld; denn Gerichte werden im Prinzipaus Steuergeldern finanziert. Zum anderen ist eine au-ßergerichtliche Einigung nicht schlechter als eine Eini-gung vor Gericht. Was haben Sie denn für eine Auffas-sung?
– Das hat doch mit einem privaten Gericht nichts zu tun.Herr Ernst, schauen Sie sich nur einmal die Schiedsge-richtsverfahren bei der WTO an. Dort können Sie sehen,was Schiedsgerichte leisten. Dann werden Sie Ihre Mei-nung dazu wahrscheinlich ändern.
Meine Damen und Herren, um das noch einmal zu-sammenzufassen: Wir gehen davon aus, dass das Verfah-ren zu den internationalen Schiedsgerichten im Zusam-menhang mit den TTIP-Verhandlungen im Momentausgesetzt ist und in den Verhandlungsteams in Brüsseldarüber diskutiert wird, wie man ein Schiedsgerichtsver-fahren, ein Investorenschutzverfahren so modern ausge-stalten kann, dass es in der Welt Maßstäbe setzt. TTIPwird, wenn es zum Abschluss kommt, Maßstäbe setzen.Dadurch werden natürlich gerade die Bedingungen fürSchiedsgerichte definiert. Diese Maßstäbe werden beianderen Abkommen nicht mehr unterschritten werdenkönnen.Wir lehnen es ab, über Ihren Antrag in der Sache zuentscheiden, und werden eine Überweisung beantragen.Ich kann nur dazu aufrufen: Wenn man dem deutschenVolke dienen will, dann muss man eine sachliche Dis-kussion führen, und man darf keine Polemik betreiben,wie es die Linke die ganze Zeit tut.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10607
(C)
(B)
Das Wort hat der Kollege Dieter Janecek für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Das ist eine lebhafteDiskussion. Aber ich muss Ihnen, Herr Lämmel, schonsagen: In den ersten Minuten hatte ich den Eindruck,dass Sie nicht über Schiedsgerichte im Rahmen der Frei-handelsabkommen zwischen den zwei größten Handels-zonen der Welt reden; es klang eher nach Nachbar-schaftsstreit und Schiedsrichtern auf dem Fußballplatz.Ein bisschen ernster sollten wir das schon formulieren;
denn hier geht es darum, ob wir wirklich eine Parallel-justiz für Konzerne etablieren wollen. Da muss ichHerrn Ernst beispringen. Diese Gefahr ist virulent. Dasind wir mit unserer Meinung nicht ganz alleine. Auchder Präsident des Bundesverbands mittelständischeWirtschaft sagt: Das wollen wir so nicht. – Ich glaube,viele im Mittelstand wollen das nicht, weil das nichtplausibel ist.
Ich sage einmal ganz grundsätzlich: Freihandel istdann eine gute Sache, wenn er Fairhandel ist. Wir wollenfairen Handel.
Wenn wir es hinbekommen, gute ökonomische und so-ziale Standards festzulegen – wir sind im Moment nochweit weg davon in den Verhandlungen –, dann sind wirnicht dagegen, sondern dafür. Wir sind aber noch weitweg.Ein weiterer Punkt ist: Wenn wir es in den zwei ent-wickelten Rechtssystemen der EU und der USA nochnicht einmal hinbekommen, dass wir Rechtsstreitig-keiten auf dem Rechtswege in diesen Staaten lösen kön-nen, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Auf allenPodiumsdiskussionen, auf denen ich in den letzten zweiJahren war – das waren nicht wenige; es waren auchPodiumsdiskussionen mit dem BDI und anderen Wirt-schaftsorganisationen –, konnte mir keiner plausibel er-klären, warum wir solche Schiedsgerichte brauchen. Siekönnen es auch heute nicht erklären.Sie haben bestenfalls das Argument, dass die anderenoder einige unserer Unternehmen aus der Exportindus-trie das vielleicht wollen. Aber es ist doch keine sinn-volle Argumentation, zu sagen: Andere wollen das, des-wegen müssen auch wir das machen. – Wir müssen dasnicht machen. Im Gegenteil: Wenn die entsprechendenRegelungen nicht aus dem Vertrag herausgenommenwerden, dann wird TTIP nicht kommen, und das ist gutso. Das sage ich Ihnen.
Im Europäischen Parlament hat etwas stattgefunden,wofür zwar nicht Sie, aber doch Ihre Kollegen verant-wortlich sind. Darauf kann man schon einmal verweisen.Ich nehme wahr, was in der SPD geschieht. Immerhinmacht Herr Gabriel etwas. Er versucht wenigstens, einenKurs zu finden,
während in der Union am Anfang gar nicht darüber gere-det wurde. Jetzt sagen Sie so nonchalant: Ja, wir warenschon immer für Schiedsgerichte, aber jetzt vielleichtdoch nicht so richtig.
– Sie sind dafür, aber andere sind nicht dafür. Es gibtnoch andere Stimmen bei Ihnen in der Union, die sehrkritisch sind. Auch die habe ich schon gehört.
Wer, bitte, führt denn die Diskussion? Warum führenwir sie? Weil die kritische Öffentlichkeit, die Grünenund die Linken das Thema auf die Agenda gesetzt ha-ben, weil 2 Millionen Menschen eine Petition unter-schrieben haben. Deswegen gibt es in der EU-Kommis-sion eine kritische Diskussion, und nicht deshalb, weilSie Ihre angebliche wirtschaftspolitische Kompetenz,die Sie in dem Bereich gar nicht haben, eingesetzt hät-ten.
Das sind doch die Fakten. Wir können stolz daraufsein, dass wir hier im Parlament immer wieder dieseDiskussion führen. Man kann von einer gewissen Regel-mäßigkeit sprechen.
Solange Sie nicht endlich zu einer Lösung kommen undwirklich den Druck machen, den wir brauchen, werdendiese Diskussionen weitergehen, und das ist auch gut so.Es ist die Rolle der Opposition, das zu befördern.
Schauen wir uns einmal die öffentliche Diskussionan. 150 000 Eingaben gab es im Rahmen der Konsulta-tionen. 97 Prozent der Eingaben haben sich gegen dieISDS-Regeln ausgesprochen. Es wächst der Widerstand.Deutschland ist die Speerspitze der kritischen Bewe-gung, und diese Bewegung ist nicht amerikafeindlichund nicht gegen Freihandel. Sie will einen guten Handel,einen fairen Handel, deswegen sind die Leute auf derStraße. Sie wollen erreichen, dass wir zu einem gutenStandard kommen. Sie haben es nicht gebracht. Weil Siees nicht gebracht haben, müssen Sie sich mit der vehe-menten Opposition auseinandersetzen. Das ist gut so.
Metadaten/Kopzeile:
10608 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dieter Janecek
(C)
(B)
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zu den Vorschlägen,die im Raum stehen. Ich selber habe im Handelsblatt ge-fordert – ich glaube, es war im Februar –, einen anderenWeg zu beschreiten und einen internationalen Handels-gerichtshof für Schiedsgerichtsfragen zu gründen. Daskann man machen, das sollte man anstreben.
: Guter Vorschlag!)
Warum hat man das nicht schon vor Jahren angestrebt?Das ist die erste Frage.Die Wahrheit ist – aus der Nummer kommt die SPDauch nicht heraus –: Es ist zwar gut, das jetzt zu fordern,aber das kommt nicht in das Abkommen. Wir alle wis-sen, dass das nicht hineinkommt. Vielleicht kommt es2025, wenn man sich darauf verständigt. Sollen wir jetzteinen bilateralen Handelsgerichtshof anstreben? Es kanndoch nicht Sinn der Sache sein, dass wir eine weitere In-stitution schaffen, wenn wir es nicht auf internationalerEbene hinbekommen.Wenn die ISDS nicht herausgenommen werden, dannist das kein gutes Abkommen. Dabei bleibt es am Ende.Denn Sie können nicht begründen, warum es für be-stimmte zahlungskräftige und wirkungsmächtige Unter-nehmen Sonderrechte geben soll. Dass diese nichts dafürtun werden, soziale und ökologische Standards auszuhe-beln, können Sie vielleicht dem Weihnachtsmann oderdem Osterhasen erzählen. Der Bevölkerung können Siedas nicht weismachen.In diesem Sinne fordern wir Sie weiter auf, das Vor-haben zurückzuziehen. Wir werden weiter darauf hinar-beiten, dass es nicht dazu kommt. Freihandel ist gut,wenn es fairer Handel ist. Sonst ist er schlecht.In diesem Sinne danke ich Ihnen.
Der Kollege Dirk Wiese hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist gut, dass endlich über das Für und Wi-der von Freihandelsabkommen diskutiert wird. Das isteine große Errungenschaft, die in den letzten Monatenendlich erreicht wurde.
Aber seien Sie ehrlich, lieber Kollege Klaus Ernst.Franz Müntefering hat einmal gesagt: „Opposition istMist“. Seien Sie wenigstens so ehrlich, und schreibenSie im September 2017 auf Ihre Wahlplakate: „Regierenist Mist“. Dann geben Sie den Bürgerinnen und Bürgernwenigstens eine ehrliche Antwort.
Sie haben jeglichen Gestaltungsspielraum aufgegeben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz dazuhat die deutsche Sozialdemokratie den Anspruch, zu ge-stalten, der Globalisierung Regeln zu geben, Leitplankenzu setzen und sich für eine Stärkung des internationalenRechts einzusetzen. Willy Brandt hat einst gesagt: „Derbeste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestal-ten“, und das macht die SPD.
Ich kann vor dem, was Bernd Lange in den letztenWochen und Monaten im Europaparlament geleistet hat,nur den Hut ziehen. Er versucht, Handelspolitik zu ge-stalten. Er duckt sich nicht weg, und er wird auch weiter-hin versuchen, etwas Gutes zu erreichen. Dafür gebührtBernd Lange ein großes Dankeschön von dieser Seite.
– Herr Ernst und Herr Kindler, Sie können noch mehrZwischenrufe machen. Aber die SPD-Bundestagsfrak-tion ist die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag,die sich seit Januar 2014 in einer Arbeitsgruppe mit denFreihandelsabkommen auseinandersetzt. Wo machen Siedas denn bitte schön?
Wir führen im Willy-Brandt-Haus eine Konferenz zuFreihandelsabkommen durch, auf der wir Reformvor-schläge diskutieren. Wir reden auch darüber, wie mandie ISDS reformieren kann. Das geht über TTIP undCETA hinaus. Wir haben mit den Kolleginnen und Kol-legen von CDU und CSU die Mauritius-Konvention aufden Weg gebracht. Damit gelten für schon bestehendeInvestitionsschutzverträge neue Transparenzregeln.Ich freue mich über die Worte des Kollegen Lämmelin der heutigen Debatte, als durchgeklungen ist, dass erdie Vorschläge von Sigmar Gabriel zu einem internatio-nalen Handelsgerichtshof begrüßt.
Kollege Janecek, Sie haben gerade gesagt, dass Sienicht für TTIP sind. Aber Sie entscheiden letztlich nichtdarüber. Ich glaube, das machen Winfried Kretschmannund die exportorientierte Automobilwirtschaft in Baden-Württemberg. Daran müssen Sie sich wahrscheinlichnoch gewöhnen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10609
Dirk Wiese
(C)
(B)
Aber zurück zu Ihnen von der Linksfraktion. HerrErnst, Sie merken doch gar nicht, dass andere Regionenin der Welt dabei sind, uns abzuhängen. Allein in Asiensind 100 Freihandelsabkommen in Kraft, und währendich spreche, werden gerade 75 weitere verhandelt. Siewerden es nie verstehen: Wenn man in der internationa-len Handelspolitik nichts macht, dann heißt das nicht,dass nichts passiert.
Es heißt vielmehr, dass die anderen es machen und manselber nur zuschaut. Europa ist keine Insel.
Deutschland ist in der internationalen Handelspolitikkein abgeschotteter Raum.
Wir als Sozialdemokratie wollen für unser Land unddie Menschen vor Ort
soziale und wirtschaftliche Perspektiven erreichen, stattden Stecker zu ziehen und zu hoffen, dass der Strom ir-gendwo anders herkommt.
Ihre Obstruktionspolitik, die sich auch in Ihrem An-trag zeigt, führt in der Konsequenz dazu, dass das alteIS-System mit allen seinen Defiziten bestehen bleibt. Siewollen gar keine Reform des bestehenden Systems.
Mit Ihrer Dagegen-Haltung unterstützen Sie doch geradeunregulierte Märkte. Sie wollen die Globalisierung garnicht gestalten. Die Großkonzerne werden Ihrer Fraktionfür diese Haltung danken. Herzlichen Glückwunsch da-für!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, BundesministerGabriel hat Vorschläge erarbeitet, die deutlich machen,wie man Handelspolitik gestalten kann, nämlich indemman sich auf den Weg zu einem internationalen Handels-gerichtshof macht. Diese Position der Sozialdemokratie– das wissen wir – ist nicht einfach. Aber das bedeutetes, Politik zu gestalten. Das ist Politikgestaltung: sichauf den Weg zu machen, statt sich wegzuducken, wie Siees machen.Sigmar Gabriel hat die Vorschläge des ProfessorsKrajewski aufgegriffen, die Ihnen bekannt sind. Für ver-gleichbare Rechtsstaaten soll es keine ISDS geben. Aberwir müssen darüber hinaus die ISDS reformieren. Essind doch viel mehr Abkommen in der Pipeline als nurdiese beiden. Das wissen Sie auch.
Weitere Punkte sind: keine weiter gehenden Rechtefür Investoren als nach dem Grundgesetz möglich, Ein-schränkung von Investorenrechten und die Präzisierungvon Schutzstandards. Alle Richter sollen unabhängig undkompetent sein, von den Vertragsparteien ernannt werden,und zwar mit einem festen Geschäftsverteilungsplan undeinem verbindlichen Verhaltenskodex.
Es sollen die UNCITRAL-Transparenzregeln gelten:transparent und öffentlich. Neben der Einrichtung einerzweiten Instanz soll auch über die Einklagbarkeit vonArbeits- und Sozialschutzstandards nachgedacht wer-den. An diesem Punkt bin ich doch bei Ihnen.Seien Sie doch einmal froh, dass Sigmar Gabriel soeinen Vorschlag zu den Schiedsgerichten gemacht hat.Ganz ehrlich: Bei Ihrer neuen Fraktionsdoppelspitzebrauchen Sie demnächst ein permanentes Schiedsgerichtim Deutschen Bundestag,
weil Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch in IhrerFraktion demnächst wahrscheinlich ständig Konflikteaustragen. Auf der Fraktionsebene könnten wir ein sol-ches Dauerschiedsgericht einrichten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wennSie in Ihrem Antrag schon Zitate verwenden, dann zitie-ren Sie den Interviewtext bitte als Ganzes und nicht so,dass es so aussieht, als ob die Sozialdemokratie in Eu-ropa zersplittert sei. Österreichs Bundeskanzler WernerFaymann sieht die Punkte strittig, mit denen sich auchdie deutschen Sozialdemokraten im Bundestag kritischauseinandersetzen. Er sagt:Freien Handel zu verbieten wäre sinnlos. KeineFrage, wir wollen Freihandelsabkommen, aberohne ISDS.
Metadaten/Kopzeile:
10610 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dirk Wiese
(C)
(B)
Faymann erteilt TTIP keine grundsätzliche Absage, son-dern will dieses Abkommen, wie die SPD, reformieren;er will gestalten. Das ist etwas ganz anderes, als Sie wol-len.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Abgeordneten Hänsel?
Ja klar, selbstverständlich.
Bitte schön, Frau Hänsel.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Lieber Kollege
Wiese, Sie machen hier jetzt den starken Max.
Das alles ist ja auch schön und gut. Sie sagen, wie
Gabriel sich hier einsetzt, was alles auf der Tagesord-
nung ist usw.
In dieser Woche erfolgte im Unterausschuss eine Un-
terrichtung. Es ging unter anderem darum, was beim
G-7-Gipfel diskutiert und behandelt wurde. Ich habe
nachgefragt, ob die alternativen Ideen zu einem interna-
tionalen Schiedsgericht zur Sprache gekommen sind und
ob die Diskussionen, die wir hier führen, beim G-7-Gip-
fel behandelt oder auch nur mit einem Wort einmal er-
wähnt wurden. Die Antwort war: Nein, es wurde auf
dem G-7-Gipfel überhaupt nicht darüber diskutiert, ob
die Schiedsgerichte vielleicht hinterfragt werden. Das
war kein Thema.
Ich frage mich, wie Sie sich eigentlich hierhinstellen
und uns so eine Nummer vorspielen können. Sie bauen
einen Popanz auf, hinter dem real überhaupt nichts steht.
Das ist nur heiße Luft.
Frau Kollegin Hänsel, ich danke Ihnen für die Frage
und dafür, dass ich das noch einmal klarstellen kann. –
Wir haben zusammen in dem Unterausschuss gesessen,
und die Verantwortliche aus dem Bundeskanzleramt, so-
zusagen die Sherpa, die den G-7-Gipfel vorbereitet hat,
hat auf Ihre Frage hin gesagt, dass das nicht konkret be-
sprochen worden ist. Sie müssen ja wissen, wer am
Tisch gesessen hat.
In der Abschlusserklärung steht etwas zum Freihan-
delsabkommen mit Japan und zum transpazifischen Ab-
kommen. Außerdem steht darin, dass der WTO-post-
Bali-Prozess vorangebracht werden soll, und am Ende
steht der entscheidende Satz – diesen haben Sie gerade
auch bewusst unterschlagen –, dass wir bis zum Jahres-
ende nicht zu einem Abschluss der TTIP-Verhandlungen
kommen werden. Sie sagen doch immer, das werde in
nächster Zeit abgestimmt und dass bis zum Jahresende
etwas vorliegen soll.
In der G-7-Erklärung steht, dass bis zum Jahresende
Grundzüge vorliegen sollen, worauf sich geeinigt wer-
den könnte. Es sind viele Konjunktive an dieser Stelle.
Das heißt, wir Sozialdemokraten – und Sigmar Gabriel
im Besonderen – haben noch Spielraum dafür, Verbesse-
rungen durchzusetzen. Lassen Sie uns das doch versu-
chen! Wieso sollen wir das denn nicht machen?
Wenn Sie mit Ihren Forderungen durchkommen, dann
bleibt das alte ISDS-System bestehen. Das kann doch
nicht richtig sein. Deshalb brauchen wir bessere Regeln
für den Welthandel. Darum machen wir das. Das ist der
Anspruch der Sozialdemokratie.
Das heißt aber auch – um darauf zum Schluss noch
einmal einzugehen –, dass wir auch stärker darauf drän-
gen müssen, dass die Buy-American-Clause fällt. Hier
haben wir ein offensives Interesse – gerade auch für un-
sere mittelständischen Unternehmen, zum Beispiel bei
mir vor Ort im Sauerland.
Wir wissen doch, wie die Debatte läuft. Im nächsten
Jahr stehen in den USA die Präsidentschaftswahlen an.
Das wird den ganzen Prozess verzögern; das wird nicht
vorangehen. Darum ist es gut, dass wir über den Freihan-
del diskutieren und Verbesserungen erreichen wollen.
Wir dürfen aber nicht den Kopf in den Sand stecken und
alles permanent ablehnen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Professor
Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist wie immer bei Anträgen von den Linken: sehr lautund nicht lustig. Lustig war es bei der SPD; das mussman eingangs wirklich einmal sagen.
Schauen wir uns den Antrag jetzt doch einmal genauan. Sie schreiben darin, dass Sie keine Paralleljustiz wol-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10611
Dr. Heribert Hirte
(C)
(B)
len. – Sie haben es noch nicht verstanden. Es geht hierum Abkommen zwischen Staaten, und zwischen Staatengibt es überhaupt kein staatliches Justizsystem.
Das wollen wir mit dem Handelsgerichtshof schaffen;dies wurde unter anderem von Sigmar Gabriel vorge-schlagen. Im Augenblick ist von Paralleljustiz gar keineRede. Erster Fehler in Ihrem Antrag.
– Sie sollten ein bisschen Redezeit beantragen. Aber Siehaben ja schon x-mal zu diesem Thema gesprochen. Wirkennen das alles. Das ist wirklich langweilig.
Gehen wir es weiter durch. Zweiter Fehler: Sie redenvon internationalen Konzernen und davon, dass das allesdiesen Konzernen nutzen soll. Nein, die internationalenKonzerne brauchen keine Freihandelsabkommen, diekönnen sich selber helfen.
Wir wollen den deutschen, den tschechischen, den nie-derländischen, den französischen
und umgekehrt auch den amerikanischen Unternehmenhelfen, damit sie auf der anderen Seite des Atlantiks Ge-schäfte machen können. Das ist unser Anliegen, und daskonterkarieren Sie. Damit handeln Sie gegen die Interes-sen der Arbeitnehmer.
Es geht nicht um Konzerne, sondern es geht um nor-male Unternehmen, ganz normale kleine und mittelstän-dische Unternehmen,
die nach dem augenblicklichen Stand nicht nach Ame-rika exportieren können. Diesen Unternehmen wollenwir die Chance geben, es den Großen gleichzutun. Siereden nur von den Großen. Wir reden von den kleinenund den mittelständischen Unternehmen. Das ist dieWahrheit. Das sollten Sie einmal begreifen.
Weiter heißt es hier, dass Sie gegen Sonderklage-rechte sind, die Investoren ein exklusives Recht einräu-men. Das ist doch auch falsch. Es geht um Abkommenzwischen Staaten. Da klagen normalerweise die Staaten.Der normale Weg wäre, dass ein Mensch aus dem einenStaat sagt: Ich möchte von meinem Staat, dass er gegenden anderen Staat vorgeht.
Wenn wir ihm das erleichtern, ist das gelebte Subsidiari-tät. Es geht darum, dass die Unternehmen des einenStaates unmittelbar in dem anderen Staat klagen können.Ich würde mir wünschen, wir hätten eine solche Rege-lung auch bei Doppelbesteuerungsabkommen, sodassdie Kläger ihre Rechte unmittelbar gegenüber den Be-günstigten geltend machen können.
Herr Kollege Hirte, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst?
Schon wieder? Vielleicht in ein paar Minuten; es
könnte sein, dass sich die Frage dann schon erledigt hat.
In ein paar Minuten haben Sie keine Redezeit mehr.
Dann geht es nicht mehr. Sie sagen also Nein? – Bitte
schön.
Das bedeutet doch, dass es um eines geht: Irrefüh-rung, Fehlangaben, Fehldarstellungen. Das verbreitenSie hier. Dem sitzen leider viele Leute in unserem Landauf. Das bedeutet: Wir müssen die Dinge richtigstellen.Daran arbeiten wir. Ich finde es bedauerlich, dass sichder Deutsche Gewerkschaftsbund jetzt auch in die Listeder TTIP-Gegner eingereiht hat.
Wissen Sie, der DGB hatte vorher Zeit; denn bei der Eu-ropäischen Kommission gab es eine Anhörung. Dort hatsich der DGB nicht geäußert. Der Vertreter des DGB,mit dem ich ein paar Mal auf dem Podium zusammen-saß, hat gesagt: Wir fanden es nicht wichtig. – Interes-sant, jetzt, wo Sie laut schreien, findet er das wichtig.
Das ist kein sachliches Argument. Aber sachliche Argu-mente liegen Ihnen ja sowieso nicht besonders.
Sie schreiben weiter in Ihrem Antrag: Wir wollen hoheSchadenersatzforderungen ausschließen. Haben Sie ei-gentlich einmal darüber nachgedacht, was die Alterna-tive im staatlichen Rechtssystem ist? Gerade im Fall Vat-tenfall wird ja auch vorm Bundesverfassungsgerichtgeklagt. Das Bundesverfassungsgericht kann die Ge-setze für unwirksam erklären. Das geht also viel weiterals das, was Sie hier für schrecklich halten. Auch dasmüssen Sie den Bürgern sagen. Auch hier Irreführungund Nebelkerzen, und zwar genau die Nebelkerzen, vondenen Sie eben gesprochen haben.Zu Schadenersatzforderungen – ich zitiere weiter ausIhrem Antrag –:Zudem darf sich ein souveräner Staat nicht einemKlagerisiko und dem mit diesem Risiko verbunde-nen Einschüchterungseffekt aussetzen.
Metadaten/Kopzeile:
10612 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dr. Heribert Hirte
(C)
(B)
Ehrlich gesagt, wenn es stimmt, dass ein Staat nicht ver-klagt werden darf, dann darf staatliches Unrecht nichtüberprüft werden. Das scheint aber Ihre eigentlicheDenke zu sein.
Da muss ich sagen: Sie haben mit dem Rechtsstaatsver-ständnis Probleme. Deshalb werden wir Ihren Antrag ab-lehnen. Das wundert Sie wahrscheinlich sowieso nicht.
Jetzt sollten wir über die Frage nachdenken: Was sinddie Alternativen? Ich bin den Grünen ausdrücklich dank-bar, die gesagt haben, dass wir natürlich über diese Fragenachdenken können. Wir haben das getan, und wir habenhier bisher nicht nur einen Antrag zu diesem Thema be-raten. Wir wissen, dass es bei Schiedsverfahren mancheDinge gibt, die nicht so laufen, wie man es sich wünscht.Das hängt nicht damit zusammen, dass es irgendwelcheanonymen großen Industrien gibt, die das so durchge-setzt haben, sondern es hängt schlicht damit zusammen,dass wir Hunderte von Schiedsverfahren in der Welt ha-ben, bei denen man über diese Frage nicht nachgedachthat. Ich bin Ihnen dankbar, dass wir das jetzt diskutierenkönnen. Das ist schon eine gute Sache. Aber die Frageist: In welche Richtung diskutieren wir? Ich möchte daswiederholen, was ich zu diesem Punkt schon mehrfachgesagt habe: Ich halte es für richtig, über ein stehendesinternationales Gericht nachzudenken, in dem Profis indieser Sache entscheiden. Das sind die Vorschläge, diejetzt von Gabriel und Malmström ins Gespräch gebrachtwurden.Ich habe hier gesagt: Wir können als Deutscher Bun-destag bei vorhandenen Freihandelsabkommen autonomdaran arbeiten, die Auswahlentscheidung in unsereHände zu nehmen. Wir haben die Entscheidungsbefug-nis über die Auswahl der Richter am Europäischen Ge-richtshof auch vom Wirtschaftsministerium auf unsübertragen. Das könnten wir bei Schiedsgerichtsinstitu-tionen genauso machen, und auf europäischer Ebenekönnte dies das Europäische Parlament machen. LassenSie uns doch über solche Vorschläge reden. Sie sind seitlängerem in der Welt. Das war wohl auch einer derGründe dafür, warum das Wirtschaftsministerium unddie Europäische Kommission über Alternativen nach-denken.Lassen Sie uns über die Frage reden, wie sich nationa-ler und internationaler Rechtsweg – jedoch nicht zwin-gend Schiedsrechtsweg – zueinander verhalten, dassman sich die Wege nicht aussuchen kann, sondern diesogenannte „fork in the road“ hat, nämlich dass man nureine Klage erheben und nicht zwischen den Rechtswe-gen hin und her wechseln kann.Wir können gern über eine Berufungsinstanz reden,aber ich sage auch: Das Bundesverfassungsgericht for-dert keine Berufungsinstanz. Wir sind an anderer Stelledurchaus auf der Linie, dass wir sagen: Verfahren sollennicht unnötig verlängert werden. Es gilt, das gegeneinan-der abzuwägen.Schließlich: Es ist richtig, Schiedsverfahren erfolgensozusagen auf der Basis von Stundenhonoraren. Dasheißt, sie sind für große Unternehmen relativ billig undfür kleine Unternehmen relativ teuer. Da haben Sie denVorsitzenden des Bundesverbands mittelständische Wirt-schaft in der Tat richtig zitiert. Aber deshalb wollen wirdaran arbeiten, solche Verfahren auch für die Unterneh-men zugänglich zu machen, die nach dem bisherigenSystem keinen Zugang dazu haben. Das bedeutet: Wirwollen TTIP auch für die kleinen und mittelständischenUnternehmen; denn transatlantischer Handel ist gut fürdie Bürger in Europa und auch für die Bürger auf der an-deren Seite des Atlantiks.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt der Kollege Klaus Ernst.
Herr Hirte, Sie haben uns vorgeworfen – ich darfzitieren –: Irreführung, Falschdarstellungen.
Jetzt haben Sie gesagt, es gehe Ihnen in dem Zusammen-hang gar nicht um die großen Konzerne, sondern umKleinbetriebe. Vorher hat Ihr Kollege Lämmel richtiger-weise gesagt – manchmal findet auch ein blindes Huhnein Korn –, dass es schon eine ganze Reihe von Schieds-verfahren gibt, die in Abkommen vereinbart sind. Da hater recht.Erstens. Können Sie ein Unternehmen mit unter100 Beschäftigten nennen, das vor einem bestehendeninternationalen Gerichtshof geklagt hat? Sie werden kei-nes finden. Alle Unternehmen, die bisher vor internatio-nalen Schiedsgerichten geklagt haben, waren großeKonzerne: Vattenfall, Lone Pine, Philip Morris. Sie be-haupten aber hier, es gehe bei diesen Fragen mehr umdie Kleinen, und Sie werfen uns Fehldarstellungen vor.Es ist eine eklatante Fehldarstellung, zu sagen, es gehebei diesen Fragen um die kleinen Unternehmen. Es gehtin der Praxis schlichtweg um die großen Konzerne.Zweitens. Sie haben gesagt, es gehe nun darum, dieseVorschläge ernst zu nehmen und zu implementieren.Glauben Sie wirklich, und das ist eine Frage, die Siegern beantworten können, dass im CETA, dem Freihan-delsabkommen mit Kanada, das fertig verhandelt wurde,die Vorschläge eines internationalen Handelsgerichtsho-fes noch eine Rolle spielen? Und wie würden Sie sichverhalten, wenn diese Vorschläge im CETA nicht be-rücksichtigt werden? Stimmen Sie dann zu, oder stim-men Sie dagegen? Und genau das müssen sich auch dieSozialdemokraten überlegen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10613
(C)
(B)
Jetzt hat der Kollege Hirte die Gelegenheit, zu ant-
worten. – Bitte schön.
Sie haben es richtig gesagt: Sie reden über die Ver-
gangenheit.
Wir wollen die Verfahren und auch die Abkommen so
erweitern, dass auch kleine und mittelständische Unter-
nehmen vom transatlantischen Handel profitieren kön-
nen.
Das ist die zukunftsorientierte Sichtweise unserer Frak-
tion, und im Übrigen ist es auch die der SPD.
Wenn Sie nach CETA fragen: Über CETA reden wir
gesondert, wenn die Abstimmung darüber ansteht. Dann
werden wir gucken, wie weit wir bei dem Thema
Schiedsverfahren sind, und dann werden wir da auch
eine Entscheidung treffen.
Danke schön. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Dr. Nina Scheer das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Ich denke, wir alle hier in diesemHaus sollten uns vergegenwärtigen, warum wir dieseDiskussionen führen. Der Grund ist, dass wir eine Pro-zessverantwortung zu übernehmen haben. Es geht da-rum, dass sich die Parlamentarier, auch wenn sie nichtunmittelbar am Verhandlungstisch sitzen, damit befassensollten, was zwischen der Erteilung eines Verhandlungs-mandats und dem späteren Abschluss eines Handelsab-kommens steht.Zwischen dem formaljuristischen Auftrag an dieKommission, doch bitte etwas auszuhandeln, und derspäteren Aufforderung zur Ratifizierung kann sich eini-ges verändert haben. Diese Änderungen liegen in derNatur der Sache von solchen über Jahre auszuhandeln-den Abkommen. Deswegen sollten wir uns hier nicht ge-genseitig das Leben schwer machen, wenn es darumgeht, genau diese Prozessverantwortung zu übernehmenund diese Dinge, die sich in den letzten Jahren und vorallem in den letzten Monaten im Laufe dieses Prozesses,also auch während der Verhandlungen, als Änderungsbe-darfe gezeigt haben, fortzuentwickeln.
Die SPD hat in dem Bereich der Fortentwicklung vonHandelsabkommen mit ihrem Konventbeschluss schonentscheidende Fortschritte erzielt. Sie hat aufgezeigt, woder Nutzen liegen könnte, hat aber auch ganz klar aufge-zeigt, wo die roten Linien sind. Ich sehe überhaupt nicht,dass wir zurzeit dabei wären, diese roten Linien zu über-schreiten. Ganz im Gegenteil: Der Vorschlag, zu einerordentlichen Gerichtsbarkeit bzw. weg von den Schieds-gerichten zu kommen, ist ein erster wichtiger Schritt. Esgeht in den weiteren Schritten darum, zu überprüfen, in-wieweit regulatorische Kooperationen möglicherweiseeine Aushebelung bedeuten können oder inwieweit derzurzeit noch verfolgte Negativlistenansatz tatsächlich in-nerhalb der roten Linien, die man definiert hat, umzuset-zen ist.Wenn wir jetzt – wir sehen ja, wie schwierig es ist, zuden einzelnen Punkten vorzudringen – einfach sagen:„Das Europaparlament hat eine Schlappe erlitten“, dannfinde ich das den Kollegen gegenüber nicht fair.
Es gab eine intensive Auseinandersetzung. Es gab einenBeschluss vom Handelsausschuss. Es gab auch noch zu-sätzliche Änderungen. All das zeigt: Die Debatte lebt.Gleichzeitig gilt aber die Verfahrensvorschrift: Wenn eszu viele Änderungen gibt, dann muss die Debatte vertagtwerden.
Was ist bitte schön daran das Problem? Insofern möchteich an Sie appellieren, diesen Prozess wertzuschätzen.Wir sind zurzeit dabei, die Gerichtsbarkeit zu ändern,obwohl das Verhandlungsmandat ebendiese Schiedsge-richtsbarkeit vorsieht. Das ist eigentlich ein historischerSchritt. Es ist die Arbeit der Parlamentarier, nicht die derKommission, zu sagen: Es gibt diese Gestaltungsspiel-räume. Wir brauchen sie, und wir haben ein Recht da-rauf.
Wenn Sie jetzt einfach behaupten, lieber Herr Ernst,dass mit der Schaffung der Gerichtsbarkeit der Investi-tionsschutz zementiert würde – so ähnlich haben Sie sichgerade ausgedrückt, auf den Wortlaut möchte ich michhier nicht festlegen –, dann ist das einfach falsch. DieVerhandlungen zur Gerichtsbarkeit sind, wie gesagt, einerster wichtiger Schritt, von der Schiedsgerichtsbarkeitwegzukommen. Aber was nun tatsächlich Rechtsmaterieist, ob die Bürger außen vor bleiben sollen, wie Sie dasunterstellt haben, ist überhaupt nicht geregelt.
Das Konzept, das zurzeit verhandelt wird, erhebt über-haupt nicht den Anspruch, materiell-rechtliche Vorgabenzu machen oder die Situation der Kläger zu beschreiben.Es geht einfach um das Format des Gerichtes an sich.
Metadaten/Kopzeile:
10614 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dr. Nina Scheer
(C)
(B)
In der Frage, was als Verhandlungsmaterie vor sol-chen Gerichten überhaupt rechtsfähig wird, ist es unsereAufgabe, das zu definieren und eben dafür Sorge zu tra-gen, dass die Gestaltungshoheit in den einzelnen Mit-gliedstaaten und auch aufseiten der Verhandlungspartnernicht ausgehebelt wird. Das müssen wir noch weiter ge-stalten.
Insofern sollten wir erkennen – diese kleine Kritikmuss sich die Europäische Kommission gefallen lassen –,dass wir in der Europäischen Union möglicherweise einDemokratiedefizit in der Form vorfinden, dass die Ertei-lung von Verhandlungsmandaten an die Kommission zuweitgehend ist, um diese Mandate, wenn sich Ände-rungsbedarfe ergeben, noch zu ändern. Daher sollten wiruns aufgrund dieser Prozesse grundsätzlich fragen, ob esnicht sinnvoll ist, schon im Prozess selbst Konsultations-verfahren und auch die Einbeziehung der Parlamentarierdes Europäischen Parlaments vorzusehen. Nur so kannman auch die rechtlichen bzw. die politischen Ansprü-che, die sich entwickeln, konform mit dem machen, wasformaljuristisch für diese Prozesse vorgesehen ist. Zur-zeit darf die Kommission alles geheim halten und sichins stille Kämmerlein zurückziehen. Wir müssen dannalles wieder mühselig hervorholen. Wir haben nun he-rausgearbeitet, dass es so nicht geht. Unsere Aufgabemuss sein, an der Wurzel anzusetzen und zu fordern: Fürdie heutigen und alle zukünftigen Verhandlungen gilt,dass der Parlamentarismus eine bessere Wertschätzungerfährt und dass er eingreifen können muss, wenn etwasschiefläuft.
Da sind wir mit dem, was auf Initiative von SigmarGabriel vorgeschlagen wurde, auf einem guten Weg. Ichbitte euch alle, daran anzuknüpfen.Vielen Dank.
Danke schön. – Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen nun zum Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/5094. Die Fraktion Die Linke
wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD wünschen Überweisung, und
zwar federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und
Energie und mitberatend an den Ausschuss für Recht
und Verbraucherschutz sowie an den Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der An-
trag angenommen, und zwar mit der Mehrheit der Stim-
men von CDU/CSU- und SPD-Fraktion. Dann ist die
Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute
nicht über den Antrag auf Drucksache 18/5094 in der Sa-
che ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung des nationalen Bankenabwicklungsrechts
an den Einheitlichen Abwicklungsmechanis-
mus und die europäischen Vorgaben zur Ban-
Drucksache 18/5009
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-
regierung hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Michael Meister. – Bitte schön.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben im vergangenen Jahr die Bankenab-wicklungsrichtlinie für das Jahr 2015 umgesetzt und da-mit die notwendigen Regelungen zur Bankenabwicklunggeschaffen. Nun beabsichtigen wir, mit dem Gesetz, des-sen Entwurf vorliegt, das nationale Recht so anzupassen,dass der einheitliche europäische Abwicklungsmecha-nismus ab 2016 seine volle Wirkung entfalten kann. Mitdiesem Gesetz sind wir Vorreiter in Europa. Viele andereMitgliedstaaten haben die neuen Abwicklungsregeln derBankenabwicklungsrichtlinie noch nicht umgesetzt undmüssen auch die intergouvernementale Vereinbarung zurBankenabgabe ratifizieren.Sinn und Zweck ist, dass wir zu geordneten Verfahrenin Krisensituationen von Banken und Bankinstitutenkommen, insbesondere dann, wenn es sich um grenz-überschreitende Konstellationen handelt. Wir wollennicht im Bail-out verbleiben, sondern zum Bail-in kom-men. Das heißt, nicht die Steuerzahler, sondern Eigentü-mer und Gläubiger der Banken tragen die Last von Fehl-entwicklungen.
Der volle Start des Einheitlichen Abwicklungsmecha-nismus wird das institutionelle Gefüge der Bankenab-wicklung künftig noch einmal verändern. Hierauf re-agieren wir mit dem Abwicklungsmechanismusgesetz.Der Gesetzentwurf stellt klar, inwieweit die nationalenBankenabwicklungsvorschriften neben der SRM-Ver-ordnung in der Praxis anwendbar sind.Die nationale Abwicklungsbehörde, die Bundesan-stalt für Finanzmarktstabilisierung, wird ermächtigt, Be-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10615
Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
(C)
(B)
schlüsse des Ausschusses, des handelnden europäischenOrgans des Einheitlichen Abwicklungsmechanismus,umzusetzen. Über diese Anpassung hinaus wird durchdas Abwicklungsmechanismusgesetz – das ist uns einbesonderes Anliegen – auch das neue Abwicklungsre-gime praxistauglich gestärkt werden. Das geschieht indreierlei Hinsicht:Erstens. Ich habe es eben erwähnt: Wir ziehen dieGläubiger heran. Diese Heranziehung der Gläubiger sollerleichtert werden. Dafür synchronisieren wir als Erstesdas Insolvenzrecht für Banken mit den Bedürfnissen ei-nes Bail-in-Mechanismus. Wir schaffen insolvenzrecht-lich Nachrang für Schuldtitel, deren Bail-in in besondersrascher und rechtssicherer Weise möglich ist und die re-lativ geringe Ansteckungsgefahren bergen. Aus Abwick-lungssicht ist dies ein wichtiger Schritt für die praktischeAnwendung der Abwicklung und damit der Glaubwür-digkeit des Bail-in insgesamt.Durch diese Rangabstufung wird es der Abwick-lungsbehörde erleichtert, eine Übersicht über den Um-fang und den Wert des Bail-in-fähigen Materials ineinem Institut zu gewinnen. Diese Regel begrenzt Anste-ckungsgefahren beim Bail-in und schützt dadurch auchdie Finanzstabilität. Ferner minimiert sie Rechtsrisikenbei der Anwendung des Bail-in-Instruments. Damit wer-den – das habe ich vorhin angesprochen – öffentlicheMittel und damit der Steuerzahler geschont.Je beherrschbarer die mit einem Bail-in einhergehen-den Risiken sind, desto sicherer kann das Instrument imKrisenfall eingesetzt werden. Je sicherer das Bail-in-In-strument praktisch zur Verfügung steht, desto glaubwür-diger ist es. Die Glaubwürdigkeit des Bail-in-Instru-ments aber ist von zentraler Bedeutung. Nur wenn dieMärkte das Haftungsprinzip verinnerlichen, verhindernwir im Vorfeld Fehlanreize und beugen damit schon demEntstehen der Krisen vor.Der zweite Aspekt betrifft die grenzüberschreitendeAbwicklung. Ob wir in der Lage sind, auch komplexegrenzüberschreitende Sachverhalte in der Krise zu be-herrschen, gilt als Praxistest für die Bankenabwicklungüberhaupt. Das betrifft fast alle denkbaren Abwicklungs-situationen; denn die allermeisten größeren Banken sindeben nicht nur national tätig, sondern grenzüberschrei-tend im Geschäft. Kernfrage ist hier, was passiert, wennwir im Rahmen des Krisenmanagements eine Maß-nahme treffen und Rechtsordnungen anderer Länderdiese schlicht nicht anerkennen. Exemplarisch dafür istfolgendes mögliche Problem bei der Abwicklung vonDerivateverträgen: Hier könnten über Kündigungsklau-seln Kettenreaktionen drohen, die ein Abwicklungssze-nario außer Kontrolle geraten lassen. AusländischeRechtsordnungen liegen aber selbstverständlich außer-halb unserer Einflusssphäre.Damit aber solche schwierigen Situationen gar nichterst eintreten können, gehen wir nun den Weg einer Ab-sicherung über die Vertragsgestaltung. Künftig müssenin Deutschland agierende Banken in den Finanzkontrak-ten, die außereuropäischem Recht unterliegen, die An-erkennung von Aussetzungsmaßnahmen der deutschenAbwicklungsbehörde zum Vertragsinhalt machen. Diesverhindert, dass im Abwicklungsfall grenzüberschrei-tende Derivateverträge gekündigt werden und dadurchdie Krise des Instituts vertieft wird.Drittens sorgen wir dafür, dass auch in der Zeit, in derder europäische Abwicklungsfonds noch aufgebautwird, die Handlungsfähigkeit erhalten bleibt. Die Mittel,die 2011 bis 2014 von deutschen Banken in den nationa-len Restrukturierungsfonds eingezahlt wurden, sollenaus diesem Grund zunächst weiter vorgehalten werden.Diese Mittel stehen während der Aufbauphase als Darle-hen an den europäischen Fonds zur Verfügung, um gege-benenfalls dort auftretende Finanzierungslücken, weildieser noch nicht voll befüllt ist, schließen zu können.Ein weiteres Element des Gesetzentwurfs hängt in-haltlich nicht mit dem Thema Abwicklung zusammen;zum Thema „praktische Durchsetzung von Regeln“passt es aber sehr gut. Wie im Koalitionsvertrag ange-kündigt, wird der Informationsfluss zwischen der BaFinund den Finanzbehörden verbessert, um Steuerhinterzie-hung wirksamer bekämpfen zu können. Die BaFin musskünftig bei allen Straftaten Informationen an die Steuer-behörden liefern.Um Probleme anzugehen, sind Regeln unverzichtbar.Zur wirklichen Problemlösung ist allerdings die Existenzvon Regeln nur der halbe Weg. Um wirken zu können,müssen die Regeln in ihren Auswirkungen vorhersehbarund die praktische Anwendung glaubwürdig sein.Hierzu leistet aus Sicht der Bundesregierung das Ab-wicklungsmechanismusgesetz für den Bereich der Ban-kenabwicklung einen wichtigen Beitrag. Es macht bes-ser vorhersehbar, womit Investoren im Falle einerBankenkrise zu rechnen haben, und erleichtert es denMärkten, sich darauf einzustellen. Insbesondere aber er-höht es die Glaubwürdigkeit der Kriseninstrumente. Nurmit glaubwürdigen Instrumenten sind wir gerüstet, künf-tigen Krisen begegnen zu können.
Deshalb werbe ich für dieses Gesetz und bitte Sie um dieentsprechende Unterstützung.Danke schön.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt Axel Troost.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte kurz auf den Beginn der Finanzkrise im Sep-tember 2008 zurückblicken. Nach der Pleite der US-Bank Lehman Brothers versuchte der damalige Finanz-minister Steinbrück uns noch weiszumachen, die Fi-nanzkrise sei vor allen Dingen ein amerikanisches Pro-blem. Wenige Tage später standen überall in Europa dieMenschen vor den Banken.
Metadaten/Kopzeile:
10616 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dr. Axel Troost
(C)
(B)
Während dieser Phase schlug der niederländische Fi-nanzminister Jan Pieter Balkenende einen europäischenRettungsfonds vor. Demnach sollten alle Mitgliedstaateneinen Beitrag von circa 3 Prozent des Sozialproduktesbereitstellen. Für Deutschland wären das damals 75 Mil-liarden Euro gewesen. Der Fonds sollte aus 27 separatenFonds bestehen, die nur dem jeweiligen Mitgliedstaatzur Verfügung standen, aber nach gleichen Richtlinieneingesetzt werden sollten. Dieser Vorschlag kommt unsheute bekannt vor. Auch der damalige französische Prä-sident Sarkozy hatte ähnliche Überlegungen in die Dis-kussion gebracht. Die Bundesregierung hat darauf abereben nicht reagiert, sondern auf eigene Faust gehandelt.Wir haben dafür erst rund 500 Milliarden Euro als Ret-tungsmaßnahme ins Schaufenster gestellt und amSchluss letztlich auf nationaler Ebene einen Restruktu-rierungsfonds für den Bankenbereich gegründet. Jetztwird dieser Fonds in einen europäischen Fonds über-führt.Der Unterschied zum damaligen Vorschlag ist aber:Nach dem Vorschlag von Balkenende hätte der EU-weiteFonds ein Volumen von 375 Milliarden Euro gehabt.Auf die Euro-Zone, also die Staaten der jetzigen Ban-kenunion, heruntergerechnet, wären das rund 280 Mil-liarden Euro gewesen. Der nun eingerichtete Einheitli-che Abwicklungsfonds der Euro-Zone hat aber nur einZielvolumen von circa 55 Milliarden Euro, und das sollerst in zehn Jahren erreicht werden. Selbst der jetzt abge-löste deutsche Rettungsfonds hatte ein Zielvolumen von70 Milliarden Euro, also ein deutlich höheres Volumenals der gesamte europäische Fonds. Allerdings – dasmuss man auch konkret sagen –: Obwohl wir ihn seitdrei Jahren haben, sind überhaupt erst 2,3 MilliardenEuro in diesen Fonds eingezahlt worden.Warum ist das aus unserer Sicht viel zu wenig? Neh-men wir an, der Fonds wäre wirklich in zehn Jahren mit55 Milliarden Euro befüllt. Was passiert, wenn einegroße Bank wirklich gerettet werden muss? Der Öko-nom Martin Hellwig hat in einer unserer zahlreichen An-hörungen gesagt: Um die Liquidität einer Bank mit ei-nem Bilanzvolumen von 500 Milliarden Euro zu sichern,ist eine Garantie in Höhe eines dreistelligen Milliarden-betrages erforderlich. – Das klingt plausibel. Schon dieAbwicklung einer einzigen großen Bank, von denen wirin Europa mehr als ein Dutzend haben, würde dahernicht nur diesen Abwicklungsfonds sprengen, sondernauch die Einlagensicherung und den ESM. Ich will garnicht darauf eingehen, wie viele Probleme mit den Ab-wicklungsmechanismen ansonsten noch verbunden sind,und auf die Frage, ob sie sich wirklich bewähren werdenoder nicht. Deswegen ist und bleibt aus unserer Sicht diezentrale Frage, wie wir die zu rettenden Einheiten we-sentlich kleiner machen können. Es ist nach wie vor so,dass „too big to fail“ genauso gilt wie vorher. Die Ein-heiten sind zum Teil sogar noch größer geworden.Daher ist es aus unserer Sicht wirklich zentral, dieFrage zu stellen, wie abgehobene Kapitalmarktgeschäfteeingegrenzt und eingedampft werden können, damit dieBanken ihre zentrale Aufgabe, Dienstleister für die Real-wirtschaft zu sein, wirklich erfüllen können. Wenn wirdas nicht machen, sondern nur immer wieder Schirmeaufspannen, sind diese im Zweifelsfall zu klein und füh-ren in der Tat dazu, dass wir am Schluss, wenn Rettungwirklich erforderlich wird, wieder erleben werden, dassdie Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Anspruch ge-nommen werden.Das ist in der Bundesrepublik Deutschland wenigerwahrscheinlich, aber es gilt für andere Länder in derEuro-Zone nach wie vor. Deswegen halten wir das, wasauf dem hier eingeschlagenen Weg gemacht werden soll,für zu kurz gesprungen und glauben, dass dieser europäi-sche Rettungsfonds in der vorgesehenen Größenordnungnicht ausreichen wird.Danke schön.
Vielen Dank. – Das Wort hat Manfred Zöllmer, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Keine Steuergelder für Pleitebanken – das ist unser poli-tisches Credo, das wir seit der Finanzmarktkrise wie einMantra vor uns hertragen und immer wiederholen. Des-wegen müssen wir uns in diesem Jahr fragen: Wie siehteigentlich der Weg vom Mantra zur Realität aus? Wostehen wir auf diesem Weg?Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus unserer Sichtein weiterer wichtiger Baustein, die politische Forde-rung, die ich eben formuliert habe, Realität werden zulassen. Mit ihm werden wir eine Vielzahl von gesetzli-chen Regelungen in Deutschland an eine Reihe von eu-roparechtlichen Vorgaben anpassen.Das ist, wie immer, wenn es um Bankenrecht geht,hochkomplex und kompliziert. In den letzten Jahren ha-ben wir in Europa als Konsequenz aus der Bankenkriseeine Bankenunion geschaffen. Sie sieht eine einheitlicheAufsicht der großen Banken durch die EZB vor. Seitdem 4. November 2014 ist dies in Kraft. Das stellt einevöllige Umgestaltung und Vereinheitlichung der Ban-kenaufsicht für 1 200 Kreditinstitute in Europa dar.Zusätzlich wurde ein europäischer Bankenfonds be-schlossen, der zukünftig im Falle der Zahlungsunfähig-keit einer Bank verhindern soll, dass wieder Steuerzahle-rinnen und Steuerzahler für die Zockereien von Bankenbluten müssen.
Auch systemrelevante Banken können damit zukünftigin einem geordneten Verfahren abgewickelt werden. Ri-siko und Haftung gehören in Zukunft auch bei Bankenwieder zusammen. Im Insolvenzfall sollen Eigentümerund Gläubiger – und nicht der Steuerzahler – haften. DerEinheitliche Abwicklungsmechanismus wird ab dem1. Januar 2016 einsatzbereit sein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10617
Manfred Zöllmer
(C)
Ich komme nun zur Kritik von Axel Troost, die er hiereben formuliert hat – wie immer bei den Linken nachdem Motto: Zu wenig. Sie besagt: Es ist zu wenig Geldim Topf.
– Genau! Oder zu spät oder zu früh! Das kann man sichdann aussuchen.
Der Vergleich, den du hier gezogen hast, trägt nicht. Wa-rum trägt er nicht? Weil wir seit Beginn der Finanz-marktkrise die Rahmenbedingungen, unter denen Ban-ken heute arbeiten, vollkommen geändert haben.
Das ist das Entscheidende. Man muss das einfach mitberücksichtigen, wenn man über diese Situation spricht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf werden wir erstens eine Anpassungdes Sanierungs- und Abwicklungsgesetzes vornehmen,zweitens das Restrukturierungsfondsgesetz an die euro-päischen Vorgaben zur Bankenabgabe anpassen und dieVerwendung der bisher erhobenen deutschen Bankenab-gabe regeln und drittens verschiedene Änderungen imKreditwesengesetz, im Pfandbriefgesetz, im Finanz-marktstabilisierungsfondsgesetz sowie in weiteren Ge-setzen, die ich hier aus Zeitgründen nicht nennen werde,vornehmen. Dies ist nicht sehr sexy, das ist sehr techno-kratisch, aber es ist sehr notwendig.
Wie immer bei einem solchen Gesetz gibt es natürlichauch ein paar vereinzelte Kritikpunkte, mit denen wiruns in dem parlamentarischen Verfahren intensiv be-schäftigen werden. Ein wichtiger Teil ist der Aufbau ei-nes einheitlichen europäischen Abwicklungsfonds; da-von haben wir gehört. Der Gesetzentwurf sieht vor, dassdie Mittel aus der deutschen Bankenabgabe, die bishererhoben wurden – die 2,2 Milliarden Euro, von denengerade die Rede war –, weiterhin für eine eventuell not-wendige Abwicklung eines deutschen Kreditinstituts zurVerfügung stehen sollen. Dies ist aus unserer Sicht imHinblick auf die Prämisse der Entlastung der Steuerzah-lerinnen und Steuerzahler nachvollziehbar. Aber hiergibt es Wünsche und Diskussionsbeiträge, die darauf ab-zielen, die Altmittel gegebenenfalls zu einer Beitragsent-lastung einzusetzen. Wir werden uns das in Ruhe an-schauen und diesen Wunsch prüfen.Ferner hat uns der Bundesrat gebeten, den vorgesehe-nen gesetzlichen Nachrang von Gläubigern bestimmterunbesicherter Schuldtitel intensiv zu prüfen. Davon hatauch der Staatssekretär gesprochen. Der Bundesrat be-fürchtet negative Auswirkungen und einen Verstoß ge-gen die Gläubigergleichbehandlung, die das Insolvenz-recht vorsieht. Auch die Versicherungsunternehmenhaben hier ein Problem. Auch das wird bei den Beratun-gen eine wichtige Rolle spielen.Wir werden eine sorgfältige rechtliche und ökonomi-sche Prüfung der Vorschläge der Bundesregierung vor-nehmen, und wir werden auch darauf achten, dass dieKontrollrechte des Parlaments nicht beschnitten werden.Dies gilt für die parlamentarische Kontrolle des Restruk-turierungsfonds durch das Finanzmarktgremium.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Bankenre-gulierung sind wir insgesamt auf einem guten Weg. Un-ser Mantra beginnt Realität zu werden. Der Steuerzahler– und die Steuerzahlerin natürlich auch – kann sichfreuen. Das zeigt das Verhalten der Ratingagenturen. Siehaben realisiert, dass der Gesetzgeber es ernst meint mitder Haftung von Eigentümern und Gläubigern. Die Ra-tingagenturen gehen nicht mehr von einer Staatsgarantiefür große systemrelevante Banken aus; Axel, ganz wich-tig. Die Ratings der Banken werden seit einiger Zeit im-mer schlechter. Das ist nicht so schön für die betroffenenBanken – das muss man wirklich sagen –, aber es zeigtuns, dass wir das Richtige getan haben. Die Anstrengun-gen haben sich gelohnt. Gesetzgeberisch haben wir un-ser Ziel fast erreicht.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat Dr. Gerhard Schick,Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man die Opposition kritisiert, lieber Herr Zöllmer,dann sollte man sich daran erinnern, was man noch vorwenigen Jahren selber gesagt hat.
Es war Position der SPD, dass dieser Fonds zu klein ist.Sie sollten uns vielleicht einmal erzählen, warum das,was Sie vor drei Jahren selber gesagt haben, heute plötz-lich falsch sein soll.
Es geht heute um einen weiteren Baustein der Ban-kenunion. Wir haben schon einiges, insbesondere dieBankenabwicklungsrichtlinie, in Deutschland umge-setzt. Die europäische Bankenunion ist grundsätzlich einsehr gutes Projekt. Die Kritik, dass gerade die deutscheBundesregierung dafür gesorgt hat, dass diese europäi-schen Mechanismen viel zu spät eingesetzt worden sind,muss man, wenn man sie damals so vertreten hat, auchaushalten. Sie bleibt richtig. Inzwischen ist Richtiges aufdem Weg.
Metadaten/Kopzeile:
10618 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dr. Gerhard Schick
(C)
(B)
Die Grünen haben es immer unterstützt. Wir haben al-lerdings an einigen Punkten gesagt, wo Fehler gemachtworden sind. Zum Beispiel gab es zu viele Ausnahmenbei dem Bail-in. Eine Frage zur Größe des Fonds: Gibtes eine Möglichkeit, den Fonds zu refinanzieren? Unse-rer Ansicht nach hätte ein wirksamer Backstop einge-richtet werden müssen. Wir finden auch, dass es zu spätist, dass der Restrukturierungsfonds erst 2024 voll funk-tionstüchtig ist.
Heute haben wir es mit einer Verordnung zu tun, diedirekt geltendes europäisches Recht ist. Damit kann derdeutsche Gesetzgeber gar nicht viel falsch machen. Dasist vielleicht auch gut so, da die Bundesregierung beidiesen Fragen manchmal zu spät war. Das Gesetz, dasjetzt vorliegt, passt sozusagen das deutsche Recht an dasan, was die Verordnung uns vorgibt, damit die europäi-schen Regeln und die deutschen Regeln zusammenpas-sen.Ich finde es gut, wenn wir uns die Sonderregel hin-sichtlich der Insolvenz von Banken, die in § 46 f KWGeingeführt werden soll, noch einmal im Ausschuss an-schauen. Gut finden wir, dass die bisher in Deutschlandgezahlte Bankenabgabe erst einmal im nationalen Topfverbleibt. Das unterstützen wir ausdrücklich; denn es istja nicht ausgeschlossen, dass ein nicht von der Europäi-schen Zentralbank beaufsichtigtes Institut Maßnahmenin Anspruch nehmen muss. Es wäre falsch, hier demDrängen der Institute nach Anrechnung der Beiträgenachzugeben.
Man stelle sich vor, die Banken sparten beim Aufbau deseuropäischen Topfes. Dann müsste im Zweifelsfall nocheinmal der deutsche Steuerzahler einspringen. Gut, dassdiese Regelung jetzt auf dem Weg ist!Zwei Klopse leistet sich die Bundesregierung aller-dings in dem Gesetzentwurf. Das eine betrifft die Tatsa-che, dass jetzt hier eine Verordnungsermächtigung zurKodifizierung der bisherigen Mindestanforderungen andas Risikomanagement, MaRisk, geschaffen wird. Dasist ein sehr seltsames Signal. Es spricht zwar einiges da-für, dass man die Verwaltungsvorschriften in Deutsch-land konkretisiert und sie in Verordnungen überführt;aber eigentlich ist dafür jetzt die Europäische Zentral-bank als Aufsicht zuständig. Es ist ein merkwürdigesSignal, das die Bundesregierung hier sendet.Das Zweite – Herr Kollege Zöllmer hat es schon an-gesprochen; ich habe entnommen, dass wir uns da einigsind –: Die Bundesregierung schlägt vor, die parlamenta-rische Kontrolle über den Restrukturierungsfonds ersatz-los zu streichen, die bisher durch das Finanzmarktgre-mium geleistet wird. Das ist ein interessantes Vorgehen:Die Bundesregierung schlägt uns vor, dass wir sie nichtmehr so gut kontrollieren sollen. Ich hoffe, wir sind unseinig, dass das nicht geht, sondern da weiter eine parla-mentarische Kontrolle nötig ist.
Ich finde es wichtig, an diesem Tag auch zu sagen,was die wichtigen Bausteine sind, und auf die Kritik, dieAxel Troost zu Recht geäußert hat, einzugehen. Selbstwenn jetzt einige Mechanismen auf den Weg gebrachtund aufgebaut werden – bei sehr großen Instituten wieder Deutschen Bank oder Barclays und anderen werdendiese Strukturen nicht ausreichen und die Mechanismennicht funktionieren, weil die Abwickelbarkeit dieser In-stitute nicht gewährleistet ist. Deswegen bleibt dasThema „too big to fail“ auf der Tagesordnung. Die sehrgroßen Banken müssen kleiner werden.
Ein zweites Thema bleibt auf der Tagesordnung: Wirwollen, dass die Mechanismen gar nicht erst zum Tragenkommen. Es muss das absolute Notfallszenario sein,solch einen Fonds der öffentlichen Hand und die Ab-wicklungsregelungen zu nutzen. Der Normalfall solltesein, dass die Aktionäre, dass das Eigenkapital Verlusteso absorbieren kann, dass die Bank erst gar nicht ins Wa-ckeln kommt. Insofern bleibt eine zweite wichtige Haus-aufgabe – da ist die Bundesregierung leider nicht richtigaufgestellt –: Es muss mehr echtes Eigenkapital im Ver-hältnis zur Bilanzsumme aufgebaut werden; es mussmittelfristig 10 Prozent der Bilanzsumme betragen. Damuss die Bundesregierung noch nachlegen und nicht aufdie angeblich wohlmeinenden Stimmen aus der Finanz-branche hören, die meinen, es sei doch schon alles stabil.Die Finanzmärkte sind heute nicht stabiler als 2007.
Deswegen bleibt es richtig: Wir brauchen mehr Eigen-kapital.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Klaus-Peter
Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Jahr 2014 war geprägt von der Diskussion auch indiesem Hause über das Thema Bankenunion. Hier ginges immer um zwei Themen. Auf der einen Seite ging esum die Aufsicht insbesondere über die großen, system-relevanten internationalen Banken. Auf der anderenSeite ging es um das Thema: Was passiert, wenn eineBank in eine Schieflage gerät? Wie kann sie abgewickeltoder gegebenenfalls saniert werden?Wir haben im Jahr 2008 – es ist sieben Jahre her – diegroße Banken- und Finanzkrise erlebt. Ein Jahr späterhatten wir eine Wirtschaftskrise, ein weiteres Jahr daraufeine Staatsschuldenkrise. In diesen Krisenjahren bestand
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10619
Klaus-Peter Flosbach
(C)
(B)
in der Tat immer die Gefahr, dass der Steuerzahler fürFehler herangezogen wird, die im Bankensystem passie-ren. Unser ganzes Bestreben in diesen sieben Jahren war,diese Gefahr zu überwinden und zu erreichen, dass,wenn Fehler in der Wirtschaft, im Bankenbereich ge-macht werden, jeweils diejenigen, die den Fehler ge-macht haben, dafür geradestehen und haften. Das warunser Bestreben, und das haben wir in all den Jahrenauch umgesetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir sind in all den Jahren oft kritisiert worden, wirwären zu langsam, wir hätten zu wenig gemacht. Dabeiwaren wir die Ersten in Europa, die ein Restrukturie-rungsfondsgesetz und ein Sanierungs- und Abwick-lungsgesetz auf den Weg gebracht haben. Was wir hiergeleistet haben, war eine Blaupause. Wir haben damiteine Vorreiterrolle in ganz Europa eingenommen; dennunsere Maßnahmen sind in Europa zum Teil übernom-men worden. Wir haben auf eine gemeinsame europäi-sche Aufsicht, auf eine europäische Abwicklung ge-drängt. Das war unser Erfolg in diesen Jahren.
Wir haben uns auch immer für eine gemeinsame Ban-kenunion ausgesprochen. Aber auch wenn wir in diesensieben Jahren 40 Regulierungsmaßnahmen umgesetzthaben – das betraf mehr Eigenkapital, Liquiditätspuffer;wir haben Derivate, Ratings, Verbriefungen und Vergü-tungen geregelt; wir haben ein Trennbankensystem ein-geführt –, kann sich dennoch die Situation ergeben, dasseine Bank in eine Schieflage gerät. Dann brauchen wireine wirksame Sanierungs- oder Abwicklungsmöglich-keit. Das haben wir mit der Bankenunion geschaffen;das ist hier auch eben diskutiert worden.Wir haben dafür gesorgt, dass erstens die Eigentümermit bis zu 8 Prozent der Bilanzsumme haften, dass zwei-tens Gläubiger herangezogen werden – Klaus Regling,der Chef unserer Rettungsschirme, sagt: wenn wir diesebeiden Mechanismen damals gehabt hätten, dann wärees nicht zu der Bankenkrise gekommen – und dass drit-tens erst dann, lieber Kollege Axel Troost, ein gemeinsa-mer europäischer Rettungsfonds, von den Banken finan-ziert, greift. Erst danach könnten Staaten herangezogenwerden oder gegebenenfalls auch die Rettungsschirme.Ich denke, es ist entscheidend, dass wir diesen Weg be-schritten haben.In dieser Phase ist mir wichtig – das haben auch ei-nige Kollegen angesprochen –, wie die Gläubigerbeteili-gung geregelt wird. Das wird entscheidend sein. Auchdie europäische Bankenaufsicht beschäftigt sich mit die-sem Thema, insbesondere mit der Frage: Welche Papierekönnen für das sogenannte Bail-in herangezogen wer-den, das heißt, welche Kredite an Banken, welche Pa-piere, welche langfristigen Verbindlichkeiten der Ban-ken können in haftendes Eigenkapital umgewandeltwerden? Hier brauchen wir eine saubere Regelung. Dieeuropäische Bankenaufsicht ist gerade dabei, eine Aus-wirkungsstudie zu erstellen und entsprechende Leitlinienvorzugeben.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es gibt eineHaftungsreihenfolge: erst das Eigenkapital und dann dieGläubigerbeteiligung. Wichtig für uns ist, dass diesrechtssicher ist und dass dies rasch geschehen kann. Vorallen Dingen die Ansteckungsgefahr muss gering sein.Die Ansteckungsgefahr war immer wieder das Problemin der Bankenkrise. Wenn wir es schaffen, dass Gläubi-ger herangezogen werden können, dann können wir dieSituation besser im Griff behalten.Für uns ist natürlich auch wichtig, dass wir damalsden deutschen Restrukturierungsfonds aufgelegt haben.Sicherlich war eine Planungsperiode von vielen Jahrenvorgesehen. Lieber Kollege Axel Troost, das Problemder Bankenkrise war eine Liquiditätskrise. Das kannman nicht mit einem Rettungsfonds in den Griff bekom-men. Jetzt soll ein von den Banken finanzierter europäi-scher Rettungsfonds mit einer Summe von 55 MilliardenEuro aufgebaut werden, der nach der Eigentümerhaftungund nach der Gläubigerhaftung greifen soll.
Wir haben in Deutschland bereits seit 2010 einen ei-genen Fonds aufgebaut. Ich halte es für richtig, dass dasGuthaben in diesem Fonds von über 2 Milliarden Eurozunächst zurückgehalten wird für eventuell notwendigeMaßnahmen im nationalen Bereich, als Risikopuffer, alssogenannte nationale Reserve. Dann kann natürlich da-rüber diskutiert werden, wie das übertragen wird.Zusammengefasst: Wir sind mit der geplanten Regu-lierungsmaßnahme auf dem richtigen Weg. Wir werdenmit diesem Gesetz deutsches Recht an die europäischenVorgaben, die wir gemeinsam in diesem Hause beschlos-sen haben, anpassen. Wir sind auf dem richtigen Weg;denn unser Ziel ist und bleibt, nicht den Steuerzahler he-ranzuziehen, wenn andere, beispielsweise im Bankenbe-reich, Fehler machen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Lothar Binding,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrte Damen und Herren! Wir sprechen immerdavon, dass unsere Politik den Weg beschreitet vomBail-out zum Bail-in. Ich will kurz erklären, was das ei-gentlich heißt. Bail-out heißt, dass, wenn eine BankSchulden hat und Probleme bekommt, die Schulden unddie Tilgung der Verpflichtungen der Bank oder die Haf-tung von jemand übernommen wird. Bei uns steht dann
Metadaten/Kopzeile:
10620 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Lothar Binding
(C)
(B)
immer vornehm: Das wird von Dritten übernommen. –Die Dritten, die sitzen hier oben auf den Zuschauerrän-gen: Das sind die Steuerzahler. Sie treten ein, wenn eineBank ein Problem hat. Das hat uns immer geärgert. Wirsagen: Wenn eine Bank ein Problem hat, dann soll sichdie Bank um die Problemlösung kümmern und nicht derSteuerzahler.
Deshalb sagen wir: Wir brauchen ein Bail-in: dass dieBanken sich nicht von außen freikaufen lassen, sondernzunächst von innen versuchen, das Problem zu lösen.Die Gläubiger der Bank, die Anleger, sollen sich inForm von Schuldtiteln der Bank an den Verlusten beiSanierung oder Abwicklung bei drohender Zahlungs-unfähigkeit beteiligen müssen. Insofern werden bei In-solvenzverfahren von Banken die Steuerzahler zunächstgeschützt sein, wenn das funktioniert.Da gibt es ein zusätzliches Problem: Die Eigenkapi-talgeber der Bank, die Aktionäre, und die Fremdkapital-geber, die Gläubiger, und die Banken selber haben eineganz unterschiedliche Interessenlage. Ich glaube, da-rüber werden wir in der Anhörung noch reden müssen.Diese Interessen gegeneinander auszugleichen, wirdkeine ganz leichte Sache.Jedenfalls sagen wir: Es ist in Ordnung, wenn ein gu-ter Manager, der Gewinne macht und gut Steuern zahlt,viel Geld verdient. Es muss aber Schluss sein damit,dass ein schlechter Manager, der Verluste macht undkeine Steuern bezahlt, immer noch sehr viel verdient,aber den Steuerzahler für seine Verluste zur Kasse bittet.Deshalb ist dieses Gesetz eine sehr gute Idee.
Zu der Frage, ob der Topf, der jetzt von den Bankengebildet werden muss – diese 55 Milliarden Euro –,reicht. Wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir zugeben:Das kann keiner wissen. – Vor einigen Jahren wusstenwir, dass das mit Garantie nicht reicht, weil da die Ideedes Bail-outs galt: Andere kümmern sich. Jetzt habenwir die Idee des Bail-ins. Das bedeutet, bevor dieserTopf überhaupt in Anspruch genommen werden kann,greifen sieben Stufen: Zunächst wird auf das harte Ei-genkapital zurückgegriffen, dann auf das zusätzliche Ei-genkapital, dann auf das Ergänzungskapital, dann aufnachrangige Schuldtitel von Fremdkapitalgebern, dannauf vorrangige Schuldtitel und dann auf die nicht gesi-cherten Einlagen privater Geldgeber und der Unterneh-men. Erst dann kommt dieser Topf ins Spiel. Erst wennall die genannten Eigenkapitalformen und die innereFinanzkraft der Unternehmen bereits gebündelt sind,kommen ergänzend die 55 Milliarden Euro hinzu. Dannsind wir schon nahe einer Größenordnung, von der wirglauben, dass sie sehr wohl ausreichen kann, das Systemstabil zu machen.Aber keiner kann in die Zukunft schauen und wissen,ob das letztendlich genügt. Vielleicht sagt einer in zehnJahren: Ich habe euch damals schon gesagt, es hätten200 Milliarden Euro sein müssen. – Das müssen wir aus-halten. Aber 55 Milliarden Euro sind viel mehr alsnichts. Deshalb wird das sehr gut funktionieren.Was folgt durch den Bail-in eigentlich für die Sparerund für die kleinen Kreditnehmer? Wer ist eigentlicheine Bank? Da zahlt jemand Geld auf ein Sparbuch einoder da nimmt jemand einen Kredit auf, weil er ein klei-nes Unternehmen gründen will. Jetzt muss man schauen:Was passiert eigentlich denen in der Insolvenz? Sind diedann auch plötzlich alle pleite? Kriegen irgendwelcheanderen Leute ihr Geld raus, aber die Sparer verlierenes? Hier greift die Idee, die ich für besonders gut gelun-gen halte: Die Einlagen von natürlichen Personen undkleinen und mittleren Unternehmen sowie der Einlagen-sicherung unterliegende Einlagen bleiben vom Bail-inausgenommen.
Ich schaue in alle Richtungen und sehe: Das wollen alleFraktionen. Das ist auch klug, weil ja die, die der Bankim Vertrauen auf ihre Expertise ihr Geld anvertraut ha-ben, hinterher nicht die Dummen sein dürfen.
Ich möchte noch eine Spezialität vortragen. Ichglaube, wir müssen uns um die Regelung des § 46 küm-mern. Da gibt es eine Empfehlung in diesem Referenten-entwurf, die möglicherweise das Investmentbanking för-dert. Aber das ist nicht unser erstes Ziel: Wir wollenkleinere, mittlere Unternehmen und Banken und insbe-sondere Bürgerinnen und Bürger der unteren und mittle-ren Einkommensgruppen fördern. § 46 benachteiligt imMoment Schuldtitel mit festen Konditionen, alsoSchuldtitel genau der Leute, die wir eigentlich schützenwollen. Er bevorzugt zwar Schuldtitel – das ist das Gute –,die der Absicherung von Währungsgeschäften dienen;aber – das ist das Schlechte – er sichert auch Wetten aufzum Beispiel Lebensalter, er sichert Wetten auf diePreisentwicklung von Nahrungsmitteln. Diese Möglich-keiten, die das Gesetz jetzt erlaubt, sollten wir ausschlie-ßen. Da haben wir noch ein bisschen Arbeit; aber es giltimmer das Struck’sche Gesetz, dass kein Gesetz denBundestag so verlässt, wie es eingebracht wird. Ichglaube, da sind wir auf einem sehr guten Weg.
Vielen Dank, Herr Kollege Binding. – Nur damitkeine Missverständnisse entstehen, möchte ich daraufhinweisen, dass nicht nur die Damen und Herren auf denTribünen, sondern auch die Damen und Herren hier un-ten im Saal Steuerzahler und Steuerzahlerinnen sind.
Nächster Redner ist Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10621
(C)
(B)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute de-
battieren wir den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung
des nationalen Rechts an den Einheitlichen Abwick-
lungsmechanismus. Es ist ja schon mehrfach gesagt wor-
den: Es ist ein wichtiger Baustein der Bankenunion, dass
keine Steuergelder mehr verwendet werden, sondern die
Banken selber haften sollen. Wir haben die nationale
Umsetzung im Rahmen des Gesetzes schon hinter uns.
Derzeit befindet sich die Behörde im Aufbau. Bereits
jetzt hat sie mit Frau König eine Präsidentin, die hart da-
ran arbeitet, qualifizierte Mitarbeiter zu bekommen.
150 sollen es dieses Jahr werden, bis 2017 sollen es
300 sein. Wir werden uns noch intensiv damit beschäfti-
gen, wie die Behörde zukünftig zu finanzieren ist. Natür-
lich beschäftigen wir uns aber auch damit, wie das, was
in der Theorie gut klingt – grenzüberschreitende Ab-
wicklung –, hinhaut. Dazu nehmen wir jetzt eine Anpas-
sung vor, um gesetzliche Hürden, die vorhanden sind,
abzubauen.
Das Bail-in ist schon angesprochen worden. Der Kol-
lege Binding hat uns gerade plastisch beschrieben, was
der Unterschied zwischen Bail-in und Bail-out ist. Dem
stehen konkrete Fragen gegenüber. Dabei geht es zum
Beispiel um das Insolvenzrecht und die Nachrangigkeit
der Papiere. Die Diskussion über die Nachrangigkeit der
Papiere beeinflusst schon jetzt die Frage, wie die Papiere
bepreist werden. Dies ist ein Thema, mit dem wir uns im
Gesetzgebungsverfahren – Herr Kollege Binding nickt –
beschäftigen müssen.
Es geht um die Fragen: Was bedeutet es, wenn wir
den Weg einer gesetzlichen oder den Weg einer vertrag-
lichen Lösung gehen, und was bedeutet es für die Finan-
zierung der entsprechenden Häuser, wenn wir gesetzge-
berisch bereits heute – wenn auch nicht gewollt, aber wir
tun es – auf den Preis Einfluss nehmen? Wir müssen
auch grenzüberschreitende Sachverhalte erfassen, wenn
der Abwicklungsmechanismus mit den nationalen Ge-
setzen Probleme bekommt. Wir werden uns die Frage
stellen müssen – auch das wurde schon angesprochen –,
wie wir mit nationalen Mitteln umgehen, die in den
europäischen Fonds zu überführen sind.
Wir haben Prioritäten zu setzen. Wichtig ist sicherlich
die Frage, wie Abwicklungsorganisationen und die ent-
sprechenden Einrichtungen parlamentarisch kontrolliert
werden. Es ist ganz wichtig, zu begutachten, wie die
Umsetzung in den anderen Mitgliedstaaten erfolgt.
Wenn es nicht eine gewisse Anzahl von Mitgliedstaaten
gibt, die dies schon umgesetzt haben, dann werden wir
zukünftig gar nicht damit starten können. Darum ist es
dringend notwendig, dass wir auch mit den Kollegen in
anderen Parlamenten darüber debattieren, wie dies erfol-
gen soll.
Ich hoffe, dass wir demnächst die konkreten Vorgaben
erfahren. Dann wissen wir, wie hoch die Abgaben für die
einzelnen Häuser sind. Auch die Zusammenarbeit zwi-
schen EBA, EZB und der Abwicklungsorganisation ist
wichtig, damit den Häusern die notwendigen Informatio-
nen zur Verfügung stehen.
Herr Kollege Schick, Sie haben die Anpassung der
MaRisk – ich habe es so verstanden – kritisiert. Ich bin
der Meinung, europäische Vorgaben und europäische
Anwendungen sind notwendig. Aber wir müssen uns
schon genau anschauen, ob es nicht auch notwendig ist,
dafür zu sorgen, dass sich europäische Einrichtungen,
wie es jetzt bei der Aufsicht der Fall ist, dann, wenn es
vonseiten des Gesetzgebers in Deutschland möglich ist,
an nationales Recht halten müssen. Dazu dient eine Ver-
ordnung. Nur dann, wenn eine solche Verordnung vor-
handen ist, werden sich die entsprechenden Einrichtun-
gen auch zukünftig daran halten müssen. Da gerade wir
die Subsidiarität und die Regionalbanken hochhalten
und sie immer wieder verteidigen, sollten wir diese auch
bei den Möglichkeiten, die wir haben, berücksichtigen.
Ich möchte einen weiteren Punkt aufgreifen, der in
der Debatte über die Einrichtung dieser Organisation
heftig diskutiert wurde: Sollen wir für den Fonds eine in-
tergouvernementale Vereinbarung treffen, oder reicht
das europäische Vertragsrecht dafür aus? Ich bin der
Bundesregierung und Wolfgang Schäuble zutiefst dank-
bar, dass durchgesetzt wurde, dass eine intergouverne-
mentale Vereinbarung als Rechtsgrundlage für den
Fonds gilt. Momentan erleben wir in Brüssel eine Dis-
kussion darüber, ob auch die Einlagensicherung, die wir
schon umgesetzt haben – manche in diesem Haus waren
ja schon früher der Meinung, dass die Einlagensicherung
europäisiert gehört –, in einen europäischen Fonds mün-
den soll. Hätten wir damals, als es um die Abwicklungs-
mechanismen ging, akzeptiert, dass europäisches Ver-
tragsrecht als Rechtsgrundlage ausreichend ist, dann
wäre damit bereits entschieden worden, ob allein das
Europäische Parlament und der Europäische Rat darüber
entscheiden, ob der Einlagensicherungsfonds zukünftig
europäisiert wird, oder ob die Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages mitentscheiden. Ich bin Wolfgang
Schäuble dankbar dafür, dass der Deutsche Bundestag
bei den weiteren Schritten in Sachen europäischer Fonds
mitentscheiden kann. Ich denke, das sollten wir berück-
sichtigen.
Ich wünsche uns für den weiteren Verlauf gute Bera-
tungen.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra-che angelangt.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/5009 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sinddamit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDEinhaltung der Menschenrechte in Aserbaid-schan einfordernDrucksache 18/5092
Metadaten/Kopzeile:
10622 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
(C)
(B)
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDemokratie, Rechtsstaatlichkeit und Men-schenrechte in Aserbaidschan auch bei denEuropaspielen 2015 einfordernDrucksache 18/5097
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat FrankHeinrich, CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Damen und Herren! Vielleicht erinnertsich der eine oder andere an das Gewinnerlied des Euro-vision Song Contest von Baku, der Stadt, um die esheute auch geht.
– Das Lied zu singen, würde mir wahrscheinlich nichtgelingen, Frau Künast. Entschuldigen Sie. – Es heißtEuphoria. Vielleicht klingt das bei dem einen oder ande-ren noch im Ohr. Euphorie mit der Menschenrechtssitua-tion in Aserbaidschan oder Baku zu verbinden, wäre al-lerdings, gerade heutzutage, vermessen. Mit dem BeitrittAserbaidschans zum Europarat im Jahr 2001 und der Ra-tifizierung der Europäischen Menschenrechtskonventionam Ende des Jahres 2001 waren viele Hoffnungen ver-bunden.Tatsächlich hat sich seit der Präsidentschaftswahl imJahr 2013 – Präsident Alijew ist damals wiedergewähltworden –
die Lage der Menschenrechte in Aserbaidschan drastischverschlechtert. Das wird von verschiedensten Seiten be-stätigt. Viele Regimekritiker verlassen das Land oder sindinhaftiert. Nach unterschiedlichen Quellen sind mindes-tens 50, wahrscheinlich mehr als 100 Gefangene aus poli-tischen Gründen in Haft. Die staatliche Repression richtetsich gegen Menschenrechtsverteidiger, Rechtsanwälte,Journalisten, Blogger, politisch aktive Personen, die eineunabhängige Meinung vertreten, auch gegen Personen,die mit internationalen Institutionen wie dem Europarat,dessen Mitglied Aserbaidschan selbst ist, zusammenar-beiten. Oft werden sie unter konstruierten Beschuldigun-gen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.Ich ahne, dass in diesem Moment andere sagen: Washeißt hier „konstruiert“? Ich war wenige Wochen vordem Eurovision Song Contest im Land. Ich habe mir einBild von der Lage gemacht, und man hat mir erlaubt, ei-nem Gerichtsverfahren gegen einen dieser – ich würdedas positiv werten – Überzeugungstäter beizuwohnen.Der Mann, der noch nicht verurteilt war, saß in einemKäfig im Gerichtssaal. Nach einer Dreiviertelstunde, vonder mir etwa zwei Drittel übersetzt wurden, hat sich dieRichterin mit ihrem Gremium zur Beratung zurückgezo-gen; so wurde es angekündigt. Drei Minuten später kamdas Gremium wieder heraus und verlas ein 13-seitigesUrteil.
– Die sind schnell, allerdings.Berichten zufolge sollen die politischen Gefangenenunter sehr schlechten Haftbedingungen, Misshandlungenund einer unzureichenden medizinischen Versorgung lei-den. Die Arbeit von NGOs, von Nichtregierungsorgani-sationen, wird eingeschränkt. Der Länderbericht unseresAuswärtigen Amtes bestätigt dies.Bei meinem Aufenthalt habe ich unter anderem auchRasul Jafarov besucht. Er hat mir verschiedene Organi-sationen vorgestellt, auch die Veranstaltung „Sing forDemocracy“, wegen der ich da war. Diese Veranstaltungsollte die Chance bieten, ein anderes Licht auf die Situa-tion zu werfen, eine andere Stimmung zu erzeugen undein farbiges Fest in dieser Stadt zu feiern, allerdings mitanderen Tönen. Diese Veranstaltung wurde abgesagt.Ich konnte mit Kollegen aus dem Parlament reden.Die Pressefreiheit kam zur Sprache. Ich wurde daraufangesprochen, warum denn die Bundesregierung inDeutschland so schlecht über Aserbaidschan spreche.Ich habe mich verwundert geäußert und gefragt, warumsie denn so darüber denken würden. Das stehe dort in derZeitung, sagte man mir. Als ich erklärte, dass bei uns dieZeitungen unabhängig seien, habe ich Unverständnis ge-erntet, nicht Widerspruch. Meine Gesprächspartner ver-standen nicht, was das ist. Eine unabhängige, freie Presselag außerhalb der Denkfähigkeit meiner Gesprächspart-ner. Das ist ein subjektives Beispiel. Das ist mir bewusst.Aber es wird von Fakten unterstützt.Die Organisation Reporter ohne Grenzen erstelltjährlich eine Rangliste, in der aufgeführt wird, inwelchem Maße die Länder die Pressefreiheit achten. Indieser Rangliste liegt Aserbaidschan auf Platz 162 von180 Plätzen. Wenn man das auf den Sport übertragenwürde – es sind ja die Europaspiele, die heute dort be-ginnen –, dann müsste man sagen: Das ist ziemlich weithinten in der Fairplay-Rangliste. Wenn man sich so oftwegen Fouls Rote Karten eingehandelt hat, dann brauchtman sich nicht zu wundern, wenn man hinterher dasSpiel von draußen beobachten muss.
Kritische Journalisten und Onlineaktivisten werdendrangsaliert, bedroht und inhaftiert. Human RightsWatch berichtet von 33 Fällen, in denen Aktivistinnenund Aktivisten der Zivilgesellschaft inzwischen verhaf-tet wurden, darunter auch mein guter Bekannter RasulJafarov. Er hat vor wenigen Wochen sechseinhalb JahreGefängnis für Bloggen, Posten auf Facebook und dafür,dass er eine andere Meinung hat, bekommen. Es gabeine Zeit, da haben sich die Regierungsmaßnahmen nur
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10623
Frank Heinrich
(C)
(B)
gegen einheimische Journalisten gerichtet. Inzwischenwerden auch ausländische Journalisten bei der Arbeit be-hindert.Heute steht ein europäisches Großereignis auf demProgramm. Die Hauptstadt Baku wird von heute an biszum 28. Juni die Europaspiele, European Games, veran-stalten. Das ist ein neuer Wettbewerb der europäischenolympischen Bewegung mit 20 Sportarten – 16 olympi-sche, 4 nicht olympische –, 31 Disziplinen, 6 000 Athle-ten und 253 Goldmedaillen, wenn nicht in irgendeinerDisziplin zwei Athleten gleichzeitig als Sieger durch dasZiel gehen. Elf Sportarten werden dabei direkte oder in-direkte Qualifikationsmöglichkeiten für Rio bieten.Unter den Athleten sind auch mehrere Sportler aus mei-ner Stadt Chemnitz. Ich selbst bin dort aktiv im Schwimm-club. Zwei meiner Sportfreunde, Paul Hentschel undPaulus Schön, haben sich letzte Woche in Berlin qualifi-ziert. Die sind natürlich heiß drauf. Facebook lässt grü-ßen. Ich habe schon einiges davon sehen können. DieWasserballerinnen von uns werden dort mitspielen.Jetzt steht Aserbaidschan wie damals wieder im Fo-kus der Öffentlichkeit. Jetzt die Frage: Ist das eineChance für die Öffentlichkeit? Ist das eine Gefahr für dieMenschenrechte? Deshalb haben wir diesen Antrag ge-stellt. Ich bin froh, dass auch ihr von den Grünen einengestellt habt. Nach Ansicht des Menschenrechtsbeauf-tragten Christoph Strässer werden die Spiele zu Pro-pagandazwecken missbraucht. Er hat in der FAZ vorwenigen Wochen den Auftritt des Botschafters vonAserbaidschan im Sportausschuss sehr deutlich kriti-siert. Das war ein einziger Werbeauftritt. Strässer nanntedie Zustände in dem Land schockierend und sprach vonsystematischer Repression.Die Nachrichten aus Aserbaidschan stützen die An-sicht des Menschenrechtsbeauftragten. Ich zitiere ausdem Newsticker von Zeit Online von vorgestern:Einer Delegation der Organisation Amnesty Inter-national ist die Einreise nach Aserbaidschan ver-wehrt worden, wo am Freitag die Europaspiele be-ginnen. Wie die Menschenrechtsorganisation amMittwoch erklärte, wollte sie im Vorfeld der Spielein der Hauptstadt Baku bei einer Pressekonferenzeinen Bericht zu Menschenrechtsverletzungen prä-sentieren. Die aserbaidschanischen Behörden hättenAmnesty mitgeteilt, dass sie derzeit „eine MissionAmnesty Internationals nicht empfangen“ könnten.Ich finde, noch schlimmer ist die Nachricht über dievöllig überraschende Forderung der aserbaidschanischenRegierung, das Büro des OSZE-Projektkoordinators, dasbislang außerordentlich gute Arbeit geleistet hat, bisEnde des Monats zu schließen. Das wirft ein ziemlichschlechtes Licht auf die Situation und die politischeLage in dem Land. Beides spricht eine deutliche Spra-che. Kritische Beobachter dieser Spiele sind nicht er-wünscht.Zugleich haben wir, wie bei dem European SongContest vor drei Jahren, noch einmal die Chance, Ver-besserungen der Menschenrechtslage zu fordern. Das hatder UN-Sonderberichterstatter Michel Frost getan. Erforderte die Freilassung aller politischen Gefangenen.Als das seinerzeit der Menschenrechtsbeauftragte derBundesregierung, unser Abgeordnetenkollege Strässer,tat, hat er die Rote Karte bekommen. Seitdem darf ernicht mehr einreisen.Meinen Respekt haben die deutschen Athleten, diesich Frosts Forderungen ungewohnt scharf angeschlos-sen haben. Christian Schreiber, der Sprecher der Athle-tenkommission, schreibt ebenfalls in der FAZ:Die Einhaltung von grundlegenden Menschenrech-ten und das Recht, deren Nichteinhaltung zu kriti-sieren, steht außer Frage. Unabhängig vom Sport,der Situation in Baku und den ersten EuropeanGames schließen wir uns der Forderung des UN-Beauftragten an und weisen darauf hin, dass dieseForderung für alle Länder gelten muss, in denenMenschen inhaftiert sind, die für die Einhaltung derMenschenrechte einstehen.So sind auch wir als Fraktionen und als Bundesregierunggefragt, deutliche Worte zu finden, was wir heute tun.Aserbaidschan ist – deswegen wollen wir es beimWort nehmen – Mitglied des Europarates. Aserbaidschanhat alle wesentlichen internationalen Menschenrechtsab-kommen unterzeichnet und ist Teil der EuropäischenMenschenrechtskonvention. Die EU führt im Rahmender Östlichen Partnerschaft regelmäßige Dialoge mit derRegierung. Darüber hinaus – das muss man wissen –gibt es im Zusammenhang mit Wirtschaftsverträgenviele Gelegenheiten, diese Themen anzusprechen, weilumfangreiche Gas- und Ölvorkommen Aserbaidschan zueinem gefragten Gesprächspartner machen.Es geht darum, alle Möglichkeiten zu nutzen und alleHebel in Bewegung zu setzen, um die Umsetzung derAbsichtserklärung von Präsident Alijew einzufordern.Die CDU/CSU-Fraktion hat daher Forderungen an dieBundesregierung formuliert. Sie fordert sie unter ande-rem auf, in bilateralen Gesprächen jeder Art, wie geradebeispielhaft von mir genannt, die aserbaidschanische Re-gierung auf die systematische Verletzung der Menschen-rechte anzusprechen und auf die Einhaltung der unter-zeichneten Konventionen zu drängen, sich fortgesetztfür die sofortige und bedingungslose Freilassung vonpolitischen Gefangenen einzusetzen, die Arbeit zivilge-sellschaftlicher Kräfte weiter zu fördern und im Europa-rat und in der EU weiterhin im Sinne der Menschen-rechte auf Aserbaidschan einzuwirken.Ich komme zum Schluss. Den Sportlerinnen undSportlern – in meinem Fall besonders Paul und Paulus –wünsche ich viel Erfolg bei dem, was sie dort sportlichtun. Vielleicht gelingt es dem einen oder anderen Sport-ler oder Funktionär, die Botschaft der Unteilbarkeit derMenschenrechte in Baku auf die eine oder andere Weisedeutlich zu machen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
10624 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
(C)
(B)
Vielen Dank. – Es spricht jetzt Dr. André Hahn, Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Die Linke teilt die Einschätzung, dass es inAserbaidschan beträchtliche Defizite bei bestimmtenMenschenrechten gibt. Hier darf nichts beschönigt wer-den. Es sollte aber auch nichts pauschalisiert werden.Defizite bei der Einhaltung von Menschenrechten undder Umsetzung von internationalen Konventionen gibtes leider auch in vielen anderen Staaten dieser Welt.Selbst Deutschland ist davon nicht ausgenommen. So istbeispielsweise die UN-Behindertenrechtskonvention be-reits seit 2009 in Kraft, die gesetzliche Umsetzung inBund und Ländern jedoch bis heute nur mangelhaft er-folgt.
Doch darüber reden wir heute nicht. Es geht aus-schließlich um Aserbaidschan, weil heute in diesemLand die European Games, die ersten europäischenSpiele eröffnet werden, an denen rund 6 000 Sportlerin-nen und Sportler aus allen 50 Staaten, die dem EOC,dem Europäischen Olympischen Komitee, angehören,teilnehmen werden, darunter auch eine Delegation desDeutschen Olympischen Sportbundes mit 265 Sportle-rinnen und Sportlern.Europa war bis dato der einzige Erdteil ohne Konti-nentalspiele im Sportbereich. Deshalb wurden vom EOCim Dezember 2012 die European Games ins Leben geru-fen und an die aserbaidschanische Hauptstadt Baku, demeinzigen Bewerber, vergeben. Auch der DOSB hat zuge-stimmt.Über die beiden vorliegenden Anträge soll heute nachknapp halbstündiger Debatte ohne Ausschussberatungsofort abgestimmt werden. Das war zuletzt bei denOlympischen Sommerspielen 2008 in Peking und beiden Olympischen Winterspielen in Sotschi im vergange-nen Jahr der Fall. Ich bin sehr gespannt darauf, ob dasauch so sein wird, wenn das nächste Sportgroßereigniszum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerikastattfindet, und ob dann Union und SPD oder vielleichtauch die Grünen einen Antrag vorlegen, der auf die Ab-schaffung der unmenschlichen Todesstrafe drängt, die esnoch in einigen Bundesstaaten der USA gibt.
Ich finde, dass es völlig legitim ist, im Zusammen-hang mit Sportgroßereignissen auch über Menschen-rechtsfragen im Austragungsland zu reden. Ich halte esaber für problematisch, wenn dabei dort mit zweierleiMaß gemessen wird.
Richtig ist, dass die Presse- und Versammlungsfrei-heit in Aserbaidschan eingeschränkt, die Unabhängig-keit der Justiz nicht hinreichend gewährleistet und Kor-ruption weit verbreitet ist.
Zu einer ehrlichen Bilanz gehören aber auch die erziel-ten Erfolge. Ist es nicht vielleicht auch Ausdruck vonReligionsfreiheit, wenn die Angehörigen der drei mono-theistischen Weltreligionen dort friedlich zusammenle-ben? Vielleicht sollten Sie auch das zur Kenntnis neh-men: Aserbaidschan ist eines der wenigen traditionellmuslimischen Länder, in denen der Neubau von Kirchenund Synagogen ermöglicht wird und stattfindet.
Und was ist mit der Senkung der Armutsquote in derBevölkerung von rund 50 Prozent auf aktuell 5 Prozentinnerhalb der letzten zehn Jahre? Davon findet sichnichts in den Anträgen. Ich bedauere, dass hochgradigselektiv auf das Land geblickt wird und dass man sichausschließlich auf die Defizite beschränkt. Wir leugnendiese Defizite nicht, wir sprechen sie klar an.
– Ich habe sie doch genannt. Sie sollten zuhören, oder le-sen Sie das im Protokoll nach. – Diese Dinge sind füruns auch nicht akzeptabel.
Die Menschenrechte sind unteilbar und bedingen ei-nander – hier stimme ich Ihnen zu –; da geht es auch umsoziale Fragen. Diese Dinge haben Sie zum Beispielnicht angesprochen.Ich füge hinzu: Sportliche Großereignisse sind keingeeignetes Mittel, um alle politischen Probleme zu klä-ren. Das kann der Sport nicht leisten. Solche Veranstal-tungen sollten vielmehr den Gedanken der Völkerver-ständigung und des friedlichen Miteinanders befördern,und die Politik muss in die Pflicht genommen werden,den Dialog fortzuführen.
Wir müssen den Menschenrechtsdialog dauerhaft auchmit schwierigen Partnern führen.
Diese Aufgabe darf nicht bei den Sportlerinnen undSportlern abgeladen werden. Deshalb werde ich am21. Juni 2015 nach Baku reisen und mir, wie andere Kol-legen aus dem Sportausschuss auch, als kritischer Be-obachter selbst ein Bild vor Ort machen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10625
Dr. André Hahn
(C)
(B)
Ich denke, wir sollten mit anderen Ländern einenMenschenrechtsdialog auf Augenhöhe und ohne Über-heblichkeit führen. Nur dann sind wir glaubwürdig undkönnen wir Erfolge erzielen.Ich wünsche mir ganz zum Schluss – hier schließe ichmich dem Kollegen Frank Heinrich von der CDU an –,dass wir den Sportlerinnen und Sportlern, die dort an denWettbewerben teilnehmen werden, gemeinsam die Dau-men drücken und ihnen beste Erfolge wünschen.
Denken Sie bitte an die Zeit, Herr Kollege. Sie sind
jetzt schon eine Minute über Ihrer Redezeit.
Sehr wohl, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
– Ich wünsche mir, dass wir den Menschenrechtsdialog
mit Aserbaidschan auch nach den Spielen weiterführen;
denn gerade wenn die Lichter aus sind und die Öffent-
lichkeit nicht mehr so präsent ist, ist er notwendig und
wichtig.
Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kol-
lege Frank Schwabe.
Herr Dr. Hahn, der Kollege Movassat hat in seiner
Rede zu Eritrea am Mittwoch Teilen des Hauses vorge-
worfen, bei Menschenrechtsfragen mit zweierlei Maß zu
messen. Mein Eindruck ist – das tut mir ganz schrecklich
leid –, dass genau Sie gerade zweierlei Maß angelegt
haben. Wie kann man hier fünf Minuten reden und die
Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan nicht
beim Namen nennen?
Sie werden mir ja vielleicht noch antworten. Würden
Sie bitte einmal benennen, dass es politische Gefangene
in Aserbaidschan gibt? Oder sehen Sie nicht, dass es sol-
che politischen Gefangenen gibt und dass es deshalb
auch notwendig ist, das hier im Deutschen Bundestag zu
benennen, um den Menschen vor Ort jedenfalls ein biss-
chen zu helfen?
Herr Kollege Hahn.
Frau Präsidentin, ich will gerne darauf reagieren. –
Herr Schwabe, ich bitte Sie einfach, zur Kenntnis zu
nehmen, dass ich in meinem ersten Satz davon gespro-
chen habe, dass es beträchtliche Menschenrechtsverlet-
zungen in Aserbaidschan gibt. Ich habe dann auch kon-
kret welche genannt, nämlich die Einschränkung von
Presse- und Versammlungsfreiheit, die nicht vorhandene
Unabhängigkeit der Justiz und die weitverbreiteten kor-
ruptiven Strukturen. Das habe ich aufgezählt.
Ich bestreite nicht, dass es politische Gefangene gibt.
Es gibt auch keinen Grund, das zu bestreiten. Ich habe
nur versucht, deutlich zu machen, dass Sie hier vor
sportlichen Großereignissen bei bestimmten Ländern
Anträge stellen, während Sie das bei anderen Ländern, in
denen es auch Menschenrechtsverletzungen gibt – dafür
habe ich als Beispiel die Todesstrafe in den Vereinigten
Staaten genannt –, nicht tun.
Ich glaube, dass es wichtig ist, mit den Verantwortli-
chen in Aserbaidschan einen politischen Dialog zu füh-
ren. Es hilft nicht, die Menschenrechtsverletzungen, die
es gibt, zu leugnen oder zu verharmlosen. Das will ich
auch nicht tun. Aber wir möchten uns dann bitte schön
alle ernst nehmen und andere Defizite, die es gibt,
ebenso deutlich ansprechen.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Ute Finckh-
Krämer, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf denTribünen! Vor gut vier Wochen hat die ArbeitsgruppeMenschenrechte der SPD-Fraktion die Initiative zu demKoalitionsantrag ergriffen, der heute zur Abstimmungvorliegt. Wir wollten die heutige Eröffnung der Europa-spiele in Baku zum Anlass nehmen, die Menschen-rechtssituation in Aserbaidschan zu reflektieren, die sichnach der Einschätzung von internationalen Menschen-rechtsorganisationen in den letzten Jahren deutlich ver-schlechtert hat.Insbesondere sind wir um das Schicksal der politi-schen Gefangenen im Land besorgt. Unter menschenun-würdigen Bedingungen sitzen immer mehr Menschen-rechtsverteidiger, Rechtsanwälte, Journalisten, Bloggerund politisch aktive Personen, die eine unabhängigeMeinung vertreten, im Gefängnis. Denken wir stellver-tretend für alle unrechtmäßig Inhaftierten an IntigamAliyev, Khadija Ismayilova, Rasul Jafarov, IlgarMammadov, Tofig Yagublu, Anar Mammadli, SeymurHaziyev, Rauf Mirgadirov, Ilkin Rustemzadeh und anLeyla und Arif Yunus.
Ihnen gilt unsere Solidarität.In den vergangenen Tagen erreichten uns weitere be-unruhigende Nachrichten aus Aserbaidschan. Das Ein-
Metadaten/Kopzeile:
10626 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dr. Ute Finckh-Krämer
(C)
(B)
reiseverbot für die Delegation von Amnesty Internatio-nal hat der Kollege Frank Heinrich eben erwähnt. Diebritische Zeitung Guardian teilte zudem gestern mit,dass ihrem Sportkorrespondenten Owen Gibson die Ak-kreditierung und damit die Einreise verweigert wurde,vermutlich aufgrund eines kritischen Berichtes im Vor-feld der Europaspiele.Noch gravierender ist die ebenfalls schon erwähnteTatsache, dass die Regierung Aserbaidschans Anfangdes Monats die OSZE aufgefordert hat, innerhalb einesMonats das Büro des OSZE-Projektkoordinators in Bakuzu schließen und ihre Programme im Land zu beenden;dies wurde in dieser Woche öffentlich bekannt. Die völ-lig überraschende ultimative Forderung der aserbai-dschanischen Regierung, das Büro, das bisher außeror-dentlich gute Arbeit geleistet hat, bis Ende diesesMonats zu schließen, wirft ein weiteres äußerst negati-ves Bild auf die politische Lage in dem Land. Die Regie-rung Aserbaidschans ist dringend aufgefordert, dieseEntscheidung zurückzunehmen und ihren OSZE-Ver-pflichtungen vollumfänglich nachzukommen.
Deutschland übernimmt nächstes Jahr den OSZE-Vor-sitz. Daher bitten wir die Bundesregierung um ein deutli-ches Zeichen der Missbilligung, das zum Beispiel darinbestehen könnte, den aserbaidschanischen Botschaftereinzubestellen und ihm die Forderung nach Rücknahmedieser Entscheidung zu übermitteln.
Wir müssen sorgfältig darauf achten, welche Auswir-kungen die Schließung des Büros auf die Beobachtungder Parlamentswahlen im November durch die OSZEhaben wird. Die Berichte über die Durchführung derParlamentswahlen 2010 und der Präsidentenwahl am9. Oktober 2013 haben zahlreiche Mängel offenbart; inihnen werden auch Empfehlungen für zukünftige Wah-len abgegeben.Herr Dr. Hahn, wenn Sie Aserbaidschan und die USAvergleichen, dann würde ich Sie bitten, auch einmal dieBerichte zu vergleichen.
– Sie haben jedenfalls den Eindruck erweckt, dass Siedas tun. – Es wäre gut, wenn Sie auch einmal in die Be-obachtungsberichte über die Wahlen in den USA undüber die in Aserbaidschan schauen. Dann sehen Sie viel-leicht, dass es um die Demokratie zumindest in Bezugauf das Thema Wahlen in beiden Ländern sehr unter-schiedlich bestellt ist.
Das gemeinsame Haus Europa wird nicht in erster Li-nie durch sportliche Großereignisse definiert, sonderndurch gemeinsame Regeln für Demokratie, Rechtsstaat-lichkeit und den Schutz der Menschenrechte. Daraufkönnen und müssen wir heute hinweisen.
Ich bitte daher um Zustimmung zu unserem Antrag.Danke schön.
Danke schön. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Özcan Mutlu das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istinteressant, dass sich bei einer Redezeit von insgesamtzehn Minuten kein einziger Sportpolitiker der CDU/CSU-Fraktion die Mühe gemacht hat, zu den EuropeanGames Position zu beziehen. Wir haben als Fraktion vormehreren Wochen einen Antrag in den Bundestag einge-bracht mit dem Titel „Für verbindliche politische Regelnim internationalen Sport – Menschenrechte achten, Um-welt schützen, Korruption bekämpfen“. Die jüngstenSkandale der FIFA und auch die aktuelle Debatte überdie European Games in Baku sind der beste Beweis da-für, wie richtig wir mit unserem Antrag liegen und wiewichtig es ist, dass wir uns an dieser Stelle endlich ein-mal bewegen. Ich empfehle Ihnen, vor allem der GroßenKoalition, unseren Antrag vor der zweiten Beratung hierim Bundestag noch einmal, dann aber bitte ohneschwarz-rote Scheuklappen, genau durchzulesen. Viel-leicht können Sie dann über Ihren Schatten springen.Unser Antrag bietet konkrete Lösungsansätze und for-muliert klare Kriterien, um Ausrichter von Sportgroß-veranstaltungen in der ganzen Welt insbesondere in derFrage der Einhaltung der Menschenrechte beim Wortund an die Kandare zu nehmen.Heute diskutieren wir über die Menschenrechtslage inAserbaidschan. Ehrlich gesagt: Ich hätte nicht gedacht,dass wir diese Diskussion führen; ich hätte Ihnen dasnicht zugetraut. Nach Tagen der Unklarheit darüber, obdiese Debatte überhaupt stattfinden wird, war ich wirk-lich überrascht, doch so klare Worte in Ihrem Antrag zufinden. Anscheinend haben sich bei Ihnen in den Reihender Großen Koalition die Freunde der aserbaidschani-schen Führung nicht durchsetzen können, und ich sagean dieser Stelle: Das ist auch gut so.Wir müssen in der Tat feststellen, dass sich der autori-täre Kurs des Landes trotz vielerlei Bemühungen in denletzten Jahren deutlich verschärft hat. Dies gipfelt ganzaktuell – wir haben es von einigen Vorrednern gehört –in der Forderung an die OSZE, das örtliche Büro zuschließen, und in dem Einreiseverbot für Amnesty Inter-national und zahlreiche internationale Medienvertreter;The Guardian wurde hier genannt. Dabei wollten allenur zu den European Games und darüber berichten.Kurz gesagt: Auch wenn Ihr Antrag bewusst mancheDinge außer Acht lässt, begrüßen wir im Grundsatz IhreForderungen an die Bundesregierung. Aber hier sind Ta-ten gefordert statt wohlgemeinter Worte. Ihre Politikspricht eine andere Sprache.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10627
Özcan Mutlu
(C)
(B)
Wir werden die European Games mit unserem Antragzum Anlass nehmen, dieses Thema anzusprechen. Heutewerden die ersten European Games in Baku eröffnet, dieden europäischen Kontinent bis zum 28. Juni mit Sportunterhalten sollen. Mir will einfach nicht in den Kopf,warum Sie dieses herausragende internationale Sporter-eignis des Jahres zwar in Ihren Reden, aber in Ihrem An-trag mit keinem einzigen Wort ansprechen. Ich frageauch deswegen, weil viele der inhaftierten Menschen-rechtler und Journalisten unter anderem auch wegen ih-rer Kritik an den European Games inhaftiert und verur-teilt wurden.Ich habe aber auch an weiteren Punkten Kritik. Siebeschönigen zum Beispiel den bisherigen Einfluss derBundesregierung bzw. ihre Absicht, überhaupt auf dieMenschenrechtssituation einzugehen. Die Bundesregie-rung selbst hat letzten Mittwoch im Ausschuss für Men-schenrechte vorgetragen, dass bis auf die Verbesserungder medizinischen Versorgung einer bekannten Inhaftier-ten der Einfluss der Bundesregierung auf den Menschen-rechtsdialog gleich null war; das muss man hier deutlichsagen. Deshalb sage ich: Hören Sie bitte auf, sich dieWelt schönzureden. Dies sage ich vor allem in Ihre Rich-tung, Herr Kollege Hahn. Ich schätze Sie sonst sehr; aberhier hatte ich wirklich etwas anderes von Ihnen erwartet.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns das Kindbeim Namen nennen. Das Land Aserbaidschan entferntsich immer mehr von universellen Werten wie demRecht auf freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit undMenschenrechte. Lassen Sie uns gemeinsam die Bun-desregierung auffordern, statt wirtschaftliche Interessenzu verfolgen, noch entschiedener gegenüber Aserbai-dschan und anderen Ländern, in denen Menschenrechtemit Füßen getreten werden, aufzutreten und sich für dieEinhaltung der Menschenrechte einzusetzen.
Enden möchte ich mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsiden-tin, mit einem schönen türkischen Sprichwort. Es heißt:„Dost aci söyler“. Ein Freund ist der, der auch unlieb-same Wahrheiten ausspricht. – Wir müssen hier deutli-che Worte sprechen und sagen: Die Menschenrechte sindnicht verhandelbar.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. Das ist auch der Grund, warum ich im-
mer an die Redezeitbegrenzung erinnern muss.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
spricht jetzt die Kollegin Michaela Engelmeier, SPD-
Fraktion.
Herzlichen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Drei Minuten Redezeit sindkurz. Deswegen komme ich schnell zur Sache. – Einesvorweg: Ich unterstütze den gemeinsamen Antrag vonCDU/CSU- und SPD-Fraktion voll und ganz. Aber ge-statten Sie mir als sportpolitische Sprecherin meinerFraktion, die übrigens nicht zu den European Gamesnach Aserbaidschan reist, auf die sportpolitischen Di-mensionen kurz einzugehen.Wir haben es gehört: Vom 12. bis zum 28. Juni 2015finden die ersten European Games in der aserbaidschani-schen Hauptstadt Baku statt. Diese Spiele sind nicht nurein sportliches Großereignis, sondern auch ein Politi-kum; das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Seit derPräsidentschaftswahl 2013 hat sich die Menschenrechts-lage in Aserbaidschan – Herr Heinrich, Sie haben es be-reits angeführt – massiv verschlechtert. Viele Regime-kritiker verlassen das Land, sind inhaftiert oder werdenüberwacht. Die staatliche Repression richtet sich gegenMenschenrechtsverteidiger, Rechtsanwälte, Journalistenund alle politisch aktiven Personen, die eine unabhän-gige Meinung vertreten. Um eine kritische Berichterstat-tung während der Europaspiele zu verhindern, drohendie Behörden den Journalisten mit dem Entzug der Ak-kreditierung und weiteren Strafmaßnahmen. Zugleichnutzt die aserbaidschanische Regierung die Europaspieleals politische Imagewerbung.Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich das für ekla-tant falsch und ungerecht halte. Natürlich stehen beiSportgroßveranstaltungen die Sportlerinnen und Sportlermit ihren Leistungen im Mittelpunkt, und das ist auchrichtig so. Aber deshalb dürfen Menschenrechtsverlet-zungen in Austragungsländern nicht einfach ausgeblen-det werden.
Solange sich autoritäre Staaten wie Aserbaidschan nichtglaubhaft um eine Demokratisierung und die Einhaltungder Menschenrechte bemühen, sollten große internatio-nale Sportereignisse nicht dorthin vergeben werden. Er-fahrungen mit den Olympischen Spielen in China undRussland sowie der Eishockey-Weltmeisterschaft inBelarus zeigen, dass positive Auswirkungen auf dieLage der Menschenrechte in den betreffenden Ländernleider ausbleiben.Seit Jahren sehen wir uns mit der Situation konfron-tiert, dass zahlreiche internationale Spitzenverbände ihreGroßveranstaltungen in Staaten vergeben, die autoritäreStrukturen aufweisen und die Menschenrechte nicht be-achten bzw. sie politischen Zielen unterordnen. Darummüssen wir in Gesprächen mit nationalen und internatio-nalen Sportverbänden nachdrücklich auf deren men-schenrechtliche, soziale und ökologische Verantwortungbei der Auswahl der Austragungsorte für Sportereignissehinweisen und empfehlen, diese Kriterien in die Aus-richterverträge aufzunehmen
Metadaten/Kopzeile:
10628 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Michaela Engelmeier
(C)
(B)
und ihre Umsetzung einzufordern und nachzuhalten.
Derzeit sind in Aserbaidschan mindestens acht Jour-nalisten und vier Blogger wegen ihrer Tätigkeit im Ge-fängnis. Ich will sie kurz aufzählen; Ute, du hast dasebenfalls gemacht. Ich fordere hiermit die Regierungvon Aserbaidschan auf: Lassen Sie diese Menschenfrei: Khadija Ismayilova, die seit fünf Monaten in Unter-suchungshaft sitzt, Rauf Mirgadirov, der seit über einemJahr in Untersuchungshaft sitzt, Sejmur Chasi, der we-gen „schweren Rowdytums“ zu fünf Jahren verurteiltwurde, und nicht zuletzt Leyla und Arif Yunus als Akti-visten gegen Menschenrechtsverletzungen. Lassen Siediese politischen Gefangenen frei, und wahren Sie dieMenschenrechte in Ihrem Land.
Mein letzter Satz. Im Übrigen finde ich es geradezueine Unverschämtheit und halte es für einen Affront,dass die aserbaidschanische Botschaft in einer Presse-mitteilung Journalisten in unserem Land brandmarkt,weil sie kritisch über die Spiele berichten. Sehr geehrterHerr Botschafter aus Aserbaidschan, zu Ihrer Informa-tion: In unserem Land herrscht Presse- und Meinungs-freiheit!
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/5092 mit dem Titel „Einhaltung der Menschenrechte
in Aserbaidschan einfordern“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag mit den
Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion bei Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Frak-
tion Die Linke angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/5097 mit dem Titel „Demokratie, Rechtsstaat-
lichkeit und Menschenrechte in Aserbaidschan auch bei
den Europaspielen 2015 einfordern“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU-
und SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abge-
lehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Tom Koenigs, Omid Nouripour, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Seenotrettung jetzt – Konsequenzen aus
Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer
ziehen
Drucksache 18/4695
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das Mittelmeer darf nicht zum Massengrab
werden – Für eine Umkehr in der EU-Asyl-
politik
Drucksache 18/4838
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Tom
Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Seenotrettung, das können wir, das geht. DieDeutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger mit180 Festangestellten und 800 Freiwilligen rückt jedesJahr 2 000-mal aus und rettet Hunderte. Nord- und Ost-see sind sicher. Das wünschten wir uns auch für das Mit-telmeer.
Das geht. Es ist eine Verpflichtung der Europäischen Ge-meinschaft; denn es handelt sich um unsere europäi-schen Grenzen. Es ist außerdem eine Verpflichtung jedeseinzelnen Mitgliedstaats. Stichwort „Mare Nostrum“,die italienische Marine hat gezeigt, dass es geht. Das zei-gen inzwischen auch eigentlich dafür nicht geschaffeneOrganisationen wie Frontex, Triton und Poseidon, oderwelche Meeresgötter wir noch anrufen. Hinzu kommt:Jeder einzelne Mitgliedstaat hat seine Verpflichtungen.Deutschland stellt Fregatten, Tender und Einsatzgrup-penversorger zur Verfügung. Das ist gut.
Was wir brauchen, ist eine effektive, koordinierte eu-ropäische Seenotrettung. Dahin müssen wir kommen,und auch das geht. Was leider noch nicht geht, ist dasAufnahmeverfahren. Wir brauchen ein menschenwürdi-ges, einheitliches und effektives europäisches Aufnah-meverfahren. Darüber wird jetzt noch verhandelt, hof-fentlich unter aktiver und erfolgsorientierter Beteiligung.Auch die Verteilung stellt noch ein Problem dar. Hierzu
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10629
Tom Koenigs
(C)
(B)
gibt es einen Vorschlag der EU-Kommission. Hoffent-lich kommen wir zu einem guten Ergebnis.Was noch überhaupt nicht geht, ist die Familienzu-sammenführung durch legale Einreise. Selbst bei Men-schen, die das Recht haben, hierher einzureisen, dauertdas konsularische Verfahren noch acht bis elf Monate.Syrische Flüchtlingsfamilien sitzen in irgendwelchenLagern und erhalten wegen eines Engpasses im Konsulatihre Papiere nicht. Das geht nicht.
Ja, das ist ein Verwaltungs- und Kapazitätsproblem. Daswird dann aber zu einem Menschenrechtsproblem. Ichweiß, dass es schwierig ist, Personal zu finden. Ich weiß,dass wir das im Nachtragshaushalt regeln. Wenn wiraber mit einem solchen Problem konfrontiert sind, müs-sen wir notfalls einen Krisenstab bilden. Schließlichkönnen wir auch auf Erdbeben innerhalb von zwei Tagenreagieren. Warum nicht auf diese humanitäre Katastro-phe?
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel fragte unlängst:Warum können syrische Flüchtlingsfamilien nicht mitder Fähre nach Europa kommen?
Das ist richtig. Das hat er aber leider nicht im Kabinettgesagt. Wir brauchen Möglichkeiten der legalen Ein-reise. Da geht mehr,
zum Beispiel humanitäre Visa wenigstens in den Fällen,wo das Recht zur Einreise, das Recht auf Asylgewäh-rung offensichtlich ist – wenigstens da, wenn nicht mehr.Was gar nicht geht, sind die Ablenkungsdiskurse, mitdenen versucht wird, von Themen zu reden, die offen-sichtlich nicht schnell lösbar sind. Das eine sind die Ur-sachen der Flucht im Heimatland. Wir haben über Eri-trea geredet. Da wird sich kurzfristig leider nichtsändern, bedauerlicherweise auch nicht in Syrien. Dassind Ablenkungsdiskurse.Ein anderer, noch sehr viel gefährlicherer ist derKrieg gegen die Schlepper. Im Chinesischen Meer ver-sucht man eine Militarisierung des Vorgehens gegenSchlepperbanden und geht damit letzten Endes wie ge-gen Piraten vor. Das sind aber keine Piraten, wie dieBundesregierung uns dankenswerterweise auf entspre-chende Fragen antwortet. Jetzt werden wir durch freund-liche Briefe des Außenministers und der Verteidigungs-ministerin darauf hingewiesen, dass es zunächst um dieerste Phase gehe, nämlich die Informationsgewinnungbezüglich der Schlepperbanden. Die nächste Phase seidann die militärische Intervention – ich frage mich: wieeigentlich? –; aber darüber sei man ja noch in Verhand-lung. Man ist aber nicht nur in Verhandlung. Auf euro-päischer Ebene hat man das schon beschlossen undlobbyiert kräftig, um ein Mandat des Sicherheitsrates zubekommen. Da kann man ja nur hoffen, dass die Russenihr Veto einlegen;
denn das ist quasi eine Aufforderung zum Kollateral-schaden. Wie soll das eigentlich gehen? Das sind allen-falls polizeiliche Aufgaben. Aber militärische? Wollenwir auf die Boote schießen, oder was? In der Öffentlich-keit ist man immer sehr zurückhaltend. Sehr viel weni-ger zurückhaltend ist man in den Verhandlungen. Ichhoffe, dass es dem Sekretariat der Vereinten Nationen,das auch schon seine Bedenken geäußert hat, gelingt, dieHerren permanenten Repräsentanten, auch der europäi-schen Länder, davon abzubringen,
einschließlich der Hohen Repräsentantin der Gemeinsa-men Außen- und Sicherheitspolitik, Mogherini.Ich fasse zusammen: Was wir brauchen, ist eine ef-fektive, koordinierte europäische Seenotrettung, einmenschenwürdiges, einheitliches, schnelles Aufnahme-verfahren und legale Einreisemöglichkeiten für Flücht-linge.Vielen Dank.
Danke schön. – Für die Bundesregierung spricht jetzt
der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Deutschland und Europa stehen vor der größtenHerausforderung im Bereich der Asylpolitik seit den90er-Jahren.
Seit Jahren steigen die Asylbewerberzahlen in Deutsch-land sprunghaft an: von circa 77 600 Asylbewerbern imJahr 2012 auf über 202 000 Asylbewerber im Jahr 2014.Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres sindüber 140 000 Asylbewerber zu uns gekommen; davonkam fast die Hälfte aus den als sicher zu betrachtendenWestbalkanstaaten, also aus Europa. Insbesondere un-sere Kommunen stoßen an ihre Belastungsgrenzen.Europaweit ist im Jahr 2014 die Zahl der registriertenAsylbewerber um knapp 50 Prozent gegenüber dem Vor-jahr auf einen Spitzenwert von 626 000 gestiegen.
Metadaten/Kopzeile:
10630 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
(C)
(B)
Natürlich, Kollege Koenigs, geht es darum, dass wir diehumanitäre Katastrophe auf dem Mittelmeer abwenden.Meine Damen und Herren, bisher ist es uns, wie auchder Vorredner deutlich gemacht hat, nicht gelungen, eineinheitliches Asylsystem in Europa zu implementieren.Wir haben zwar Richtlinien verabschiedet, aber wie sohäufig in Europa hapert es an der Implementierung.Stattdessen wandern Flüchtlinge von den europäischenAußengrenzen in großer Zahl, ohne registriert und ver-sorgt zu werden, weiter nach Nordeuropa.Wir haben zurzeit eine De-facto-Verteilung auf we-nige Mitgliedstaaten. Drei Viertel aller Asylverfahren in2014 entfallen auf nur fünf EU-Mitgliedstaaten, allenvoran Deutschland. Unser Ziel ist humanitäre Hilfe fürdie wirklich Schutzbedürftigen. Wir können aber nichtjeden aufnehmen, der sich ein besseres Leben verspricht.Das würde unser Asylsystem und vor allem auch dieWillkommenskultur in Deutschland und in ganz Europagefährden.
Der Europäische Rat hat am 23. April 2015 klarge-macht, dass es jetzt in erster Linie darauf ankommt, Le-ben zu retten und die Seenotrettung auf dem Mittelmeerzu gewährleisten. Als Sofortmaßnahmen sind die finan-ziellen Mittel für die Frontex-Operationen Triton undPoseidon verdreifacht worden. Der Einsatzraum derOperation Triton ist bis an die libysche Küste herange-führt worden. Seit Anfang Mai sind zwei deutsche Mari-neschiffe, die Fregatte „Hessen“ und der Einsatzgrup-penversorger „Berlin“, zur Seenotrettung im südlichenMittelmeer vor Ort. Aber natürlich müssen auch die afri-kanischen Staaten ihren völkerrechtlichen Verpflichtun-gen zur Seenotrettung nachkommen. Ich denke, dassmuss in einer solchen Debatte auch erwähnt werden.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt bei der Bekämpfungder kriminellen Schlepperbanden. Das ist ganz entschei-dend; denn natürlich stehen wir vor einem Dilemma: Jemehr Menschen wir retten, desto einfacher machen wires eben auch den Schleppern. Natürlich ist die Seenotret-tung notwendig. Gleichzeitig aber ist es notwendig, dieSchlepperbanden zu bekämpfen. Dazu zählt auch die Zer-störung der Schlepperboote, die Zerstörung der Werk-zeuge dieser Schlepper, wenn es völkerrechtlich möglichist.
Wir verbessern außerdem die Zusammenarbeit mitden Herkunfts- und Transitländern – das ist ganz ent-scheidend –, insbesondere mit Libyen und Ägypten. Nurso ist es möglich, auch die Fluchtursachen zu bekämp-fen.
Herr Kollege Schröder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Trittin?
D
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Schröder, kann ich Ihre Äußerung, dass
es nötig sei, Boote zu zerstören, so verstehen, dass Sie
hier namens der Bundesregierung erklären, dass Sie zur
Schaffung der völkerrechtlichen Voraussetzungen als
Bundesrepublik Deutschland aktiv ein solches Mandat
beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dafür anstre-
ben? Das wäre ja die Konsequenz Ihrer Äußerung.
Diese Frage sollten Sie hier vielleicht einmal beantwor-
ten.
D
Herr Trittin, wir sind uns doch darüber einig, dass esnotwendig ist, die Schlepperbanden zu bekämpfen. Ichhabe manchmal, wenn ich mir Reden von MitgliedernIhrer Fraktion anhöre, das Gefühl, dass Sie die Schleppermittlerweile als eine humanitäre Organisation ansehen.
Wir müssen das Treiben der Schlepper bekämpfen. Dazuist es selbstverständlich notwendig, deren Werkzeuge zuzerstören. Das wird ja schon auf hoher See gemacht. In-wieweit das innerhalb der 12-Seemeilen-Zone möglichist oder sogar auf libyschem Territorium, das wird ge-rade in der EU diskutiert. Dem Ergebnis kann ich natür-lich nicht vorgreifen. In der ersten Phase geht es erst ein-mal darum, sich überhaupt ein Lagebild zu machen undsich Klarheit darüber zu verschaffen, ob die zweite unddie dritte Phase notwendig sind, um die Schlepperban-den wirklich effektiv zu bekämpfen. Ich glaube dasschon. Ich stelle aber einmal die Frage zurück. WollenSie wirklich sagen – das klang ja aus der Rede von HerrnKoenigs heraus –: „Wir retten, da sind wir uns alle einig;aber die Bekämpfung der Schlepperbanden lassen wirsein“? Das wäre ja Ihre Schlussfolgerung, wenn ich Sierichtig verstanden habe, Herr Trittin.Meine Damen und Herren, ganz entscheidend ist,dass wir unseren humanitären Verpflichtungen nach-kommen, dass wir das ernst nehmen. Das werden wirauch weiter tun. Ganz besonders wichtig ist die Hilfe vorOrt im Nahen und Mittleren Osten. Hiermit erreichenwir die meisten Menschen. Das sehen auch alle Helferso.Außerdem haben wir unser nationales Resettlement-Programm für besonders Schutzbedürftige ausgebaut.Wir gehören damit zu den Vorreitern in Europa. DieKommission ist mit ihrem Vorschlag für ein EU-Resett-lement-Programm unserem Ansatz ja auch gefolgt. Jetztsollte schnell darüber entschieden werden, dass nach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10631
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
(C)
(B)
Möglichkeit auch alle anderen Mitgliedstaaten diesemBeispiel folgen.
Herr Staatssekretär, es sind noch zwei weitere Zwi-
schenfragen von den Herren Koenigs und Nouripour an-
gemeldet. Wollen Sie die zulassen?
D
Ich würde angesichts der fortgeschrittenen Zeit eine
Zwischenfrage zulassen.
Dann ist es der Kollege Nouripour. Er hatte sich als
Erster gemeldet. – Herr Kollege Koenigs, Sie dann nicht.
D
Bitte. – Ich beantworte eine Zwischenfrage. Sie kön-
nen sich ja das nächste Mal um mehr Redezeit bemühen.
Herr Staatssekretär, herzlichen Dank, dass Sie die
Frage zulassen. Wie wir in unserer Fraktion die Redezei-
ten verteilen, ist unsere Angelegenheit.
Ich möchte etwas zurückweisen und eine Frage stel-
len. Zurückweisen möchte ich das, was Sie permanent
als Pappkameraden aufstellen: Wir können nicht alle
aufnehmen. – Nein, wir können auch nicht alle Chinesen
aufnehmen. Das wäre zu viel. Das ist aber hier gar nicht
das Thema. Deshalb ist es einfach nur Stimmungsmache,
immer davon zu sprechen, dass wir nicht alle aufnehmen
können.
Ich komme zu meiner Frage. Sie haben ja gesagt, es
passiert bereits auf hoher See, dass die Werkzeuge der
Schlepper zerstört werden. Das ist so, wie Sie es formu-
liert haben, nicht richtig. Richtig ist, dass die Fregatte
„Hessen“ beispielsweise die Flüchtlinge aufnimmt und
dann die leeren Boote zerstört. Das geschieht nicht, weil
das Schlepperboote sind, sondern weil es das Internatio-
nale Seerecht so will, dass leere Geisterschiffe nicht ein-
fach so herumschippern; denn das wäre eine Gefährdung
der Sicherheit.
Wenn Boote draußen sind, befinden sich Menschen in
ihnen. Dann kann man sie nicht aus der Luft zerstören.
Wie wollen Sie denn – aus der Luft auf einen Hafen
schauend, in dem sich ein leeres Boot befindet – beurtei-
len, ob es ein Fischerboot ist, ob es ein Schlepperboot ist
oder ob es vielleicht tagsüber ein Fischerboot und nachts
ein Schlepperboot ist? Wie wollen Sie das eigentlich un-
terscheiden?
D
Ich glaube, Sie machen den Fehler, den zweiten vordem ersten Schritt zu machen. Zunächst einmal würdeich es begrüßen, wenn Sie sich, bevor Sie hier möglicheHindernisse benennen und Probleme formulieren, in ei-nem ersten Schritt einmal dazu bekennen würden, dasses richtig ist, Schlepperboote, wenn sie denn als solcheidentifiziert werden, zu zerstören. Dieses Bekenntnis zurBekämpfung der Schlepperkriminalität habe ich von Ih-nen bisher nicht gehört, sondern Sie haben bis jetzt nurProbleme formuliert.Für mich kommt es darauf an, dass wir uns zunächsteinmal darüber einig sind, was notwendig ist. Notwendigist, diesen kriminellen Schleppern und Netzwerken, diemit der humanitären Katastrophe, mit dem Leid derMenschen Millionen verdienen, das Handwerk zu legen.Ich glaube, darüber sollten wir uns erst einmal einig sein.
Natürlich ist es im Einzelfall nicht einfach, zu identi-fizieren, ob es sich um ein Schlepperboot handelt odernicht; aber natürlich ist das möglich. Vor diesem Pro-blem stehen wir auch bei anderen internationalen Einsät-zen. Natürlich kann man sehen: Ist das ein Fischerboot,das als solches betrieben wird, oder wird dieses Fischer-boot unter Umständen als Schlepperboot für den Men-schenhandel missbraucht? Es geht vielleicht nichtimmer, aber es gibt Möglichkeiten – auch durch interna-tionale Zusammenarbeit, durch Zusammenarbeit mit denTransitländern, beispielsweise durch Informationen, dieaus den Häfen kommen –, die Informationen so zu ver-dichten, um eine solche Entscheidung am Ende zu fällen.Ich glaube, dass Sie nicht nur Hindernisse bei der Be-kämpfung der Schlepperkriminalität sehen sollten, son-dern dass wir uns gemeinsam dafür einsetzen sollten,dass das, was wir vorsehen, möglich ist, um diese huma-nitäre Katastrophe zu bekämpfen.Meine Damen und Herren, für die Bundesregierungkommt es vor allem darauf an, dass wir die unkontrol-lierte Weiterwanderung und die De-facto-Verteilungnach Deutschland stoppen. Der Vorschlag der Kommis-sion für ein vorläufiges Verteilungssystem zugunsten vonItalien und Griechenland geht unseres Erachtens in dierichtige Richtung. Das betrifft circa 40 000 Personen. AufDeutschland entfallen davon insgesamt etwa 8 700.Dieser Vorstoß stößt innerhalb der Mitgliedstaatenteilweise auf Widerstand. Wir als Bundesregierung un-terstützen ihn, auch wenn natürlich noch einige Fragenzu klären sind. Asylbewerber müssen dort versorgt undregistriert werden, wo sie ankommen. Wir unterstützendeshalb die Einrichtung von sogenannten Hotspots. DieAsylbewerber, die erkennbar ohne Schutzgrund sind,müssen sofort wieder zurückgeführt werden.Voraussetzung für die Umverteilung von Asylbewer-bern ist in jedem Fall, dass die Mitgliedstaaten das ge-meinsame europäische Asylsystem auch konsequent undgleichwertig anwenden. Es geht also darum, dass wiranbieten – insbesondere Italien und Griechenland –,Flüchtlinge zu übernehmen. Im Gegenzug erwarten wir
Metadaten/Kopzeile:
10632 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
(C)
(B)
aber auch die Implementation des europäischen Rechts,das heißt Relocation gegen Implementation.Meine Damen und Herren, wir müssen in Deutsch-land unsere Hausaufgaben machen, auch innerhalbEuropas. Das heißt, wir müssen den Asylmissbrauch inBezug auf die Westbalkanstaaten effektiv bekämpfen,um genügend Kapazitäten zu haben, um uns um diewirklich Schutzbedürftigen zu kümmern.
Meine Damen und Herren, es muss europäische Akti-vitäten geben, wie wir das Problem der Asylbewerber inEuropa in den Griff bekommen. Die Bundesregierungstellt sich diesen Aufgaben. Ich fand es wohltuend, lie-ber Herr Koenigs, dass Sie heute nicht nur Betroffenheitformuliert haben, wie wir das so häufig aus Ihrer Frak-tion kennen, sondern sich auch intensiv mit Möglichkei-ten der Problemlösung auseinandergesetzt haben; denngenau darum geht es bei diesem komplexen und schwie-rigen Thema. Ich fordere Sie als Opposition auf, sich andiesem Diskurs zu beteiligen und für Problemlösung zusorgen. Das ist notwendig in dieser Zeit.
Vielen Dank. – Der Kollege Trittin hat eine Kurz-
intervention angemeldet. Bitte schön.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Kollege Herr
Schröder, ich finde, Sie haben hier ziemlich unglaubli-
che Äußerungen getan. Sie haben erstens gesagt, dass
jede Form von Rettung auch eine Erleichterung des Ge-
schäftes für Schlepper ist. Wollen Sie ernsthaft dann der
umgekehrten Logik folgen: „Je weniger wir retten, umso
schwieriger ist das Geschäft für Schlepper“? Oder ist es
nicht so gewesen, dass, als Europa weniger Menschen
gerettet hat, nicht weniger Menschen von Schleppern auf
See gesetzt worden sind, sondern einfach mehr ersoffen
sind? Das ist eine unglaublich unmenschliche Haltung,
die Sie an den Tag gelegt haben.
Zweitens. Ich weise mit Nachdruck die Unterstellung
zurück, dass Menschen, die Ihre Position nicht teilen,
Schlepperorganisationen für humanitäre Organisationen
halten. Wer effektiv etwas gegen diese Verbrecher ma-
chen will, muss den Weg gehen, den Tom Koenigs völlig
zu Recht beschrieben hat. Er muss legale Flucht- und
Zuwanderungsmöglichkeiten schaffen. Wer das macht,
verhindert, dass die Menschen in ihrer Not für teures
Geld auf schlechten Booten fliehen. Das ist Bekämpfung
und Austrocknung des Schlepperunwesens, und nicht Ihr
symbolisches Reden, dass man hart gegen Schlepper sei,
aber in Wirklichkeit ihr Geschäft nicht zerstört.
Letzte Bemerkung. Ich habe sehr genau zugehört. Sie
haben es noch einmal bestätigt. Sie haben hier für die
Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, sie
streben an, in Libyen Boote mit Anwendung militäri-
scher Gewalt zu zerstören. Damit setzen Sie sich in ei-
nen scharfen Kontrast zur Haltung zum Beispiel des UN-
Generalsekretärs Ban Ki-Moon, der ausdrücklich erklärt
hat: Diese Haltung ist aus seiner Sicht unverantwortlich,
weil genau diese Unterscheidung, die Sie gemacht ha-
ben, nicht gemacht werden kann. – Ich bin der Auffas-
sung, dass Deutschland auf den Kurs der Vereinten Na-
tionen zurückkehren und von dem Kurs der Eskalation
und des militärischen Abenteurertums in Libyen absehen
sollte.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt die
Gelegenheit, zu antworten. Bitte schön.
D
Herr Trittin, ich finde Ihre Äußerung ungeheuerlich.Ich finde es vor allen Dingen ungeheuerlich, dass esnoch nicht einmal möglich ist, im Bundestag ein Di-lemma darzustellen.
Selbstverständlich ist es ein Dilemma, dass wir, wennwir humanitäre Hilfe leisten und Menschen aus Seenotretten – dazu haben wir uns als Bundesregierung aus-drücklich bekannt und in Europa alles auf den Weg ge-bracht –, gleichzeitig das Geschäft der Schlepper er-leichtern. Auch das ist zurzeit auf dem Mittelmeer zusehen. Die Schlepper lassen die Flüchtlinge mit immeruntauglicheren Booten auf See. Das hängt natürlich auchdamit zusammen, dass wir mehr Rettung anbieten.Nichtsdestotrotz ist es unsere humanitäre Verpflichtung,zunächst zu retten, aber gleichzeitig ist es, um aus die-sem Dilemma herauszukommen, notwendig, dass wirnatürlich auch die Schleuser bekämpfen. Ich hätte mirgewünscht, Sie hätten in Ihrer Kurzintervention zumin-dest zum Ausdruck gebracht, dass dies auch notwendigist.Sie haben mich des Weiteren bewusst falsch interpre-tiert, indem Sie gesagt haben, ich hätte hier bereits einBekenntnis dazu abgegeben, dass es notwendig ist, dieSchlepperboote auf libyschem Territorium zu zerstören.Genau das habe ich nicht gesagt.
Vielmehr hat der Bundesaußenminister zusammen mitder Bundesverteidigungsministerin ein Phasenmodellvorgestellt, das vorsieht, in Phase eins zunächst einmalgenau zu beobachten: Es werden Informationen gesam-melt, um erkennen zu können, ob es wirklich notwendigist, auf libyschem Territorium, innerhalb der 12-Seemei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10633
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
(C)
(B)
len-Zone, operativ tätig zu werden, oder ob es beispiels-weise reicht, auf hoher See tätig zu sein. KollegeNouripour hat es ja schon zum Ausdruck gebracht: ZumGlück werden bereits heute Schlepperboote von der Ma-rine zerstört, weil sie eine schifffahrtspolizeiliche Gefahrdarstellen.
Aber man zerstört sie natürlich vor allen Dingen auchdeshalb, weil man dieses Werkzeug der Schlepper ver-nichten muss, damit sie nicht noch mehr Menschen inSeenot bringen und Geld mit dem Leid der Menschenverdienen.Insofern würde ich mir wünschen, dass Sie, HerrTrittin, nicht versuchen, hier Stimmung zu machen, son-dern sich der Verantwortung bewusst werden, gemein-sam nach Lösungen zu suchen, anstatt nur Probleme zusehen und nicht einmal bereit zu sein, sich dazu zu be-kennen, dass es notwendig ist, Schlepperkriminalität zubekämpfen.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrStaatssekretär Schröder, ich glaube, das Hauptproblemist, dass Sie immer wieder Schlepper als das Hauptpro-blem darstellen, wenn es um die Seenotrettung geht. Soist es eben nicht. Es ist zynisch, wenn man hauptsächlichdarauf abstellt und nicht selbstkritisch zur Debatte stellt,was denn in Sachen Bekämpfung von Fluchtursachengetan wurde, was denn getan wurde, um tatsächlich– wie eben schon erwähnt – legale, sichere Wege fürFlüchtlinge nach Europa zu schaffen. In diesen Berei-chen wird wirklich nichts getan.Sie entziehen den Schleppern eben nicht die Ge-schäftsgrundlage. Um das zu tun, könnten Sie zum Bei-spiel humanitäre Visa ausgeben und tatsächlich Fährenschicken. Sie könnten im Grunde genommen die Men-schen, die heute schon auf legalem Wege hierherkom-men könnten, viel schneller hierherholen, zum Beispieldiejenigen, die einen Anspruch auf Familienzusammen-führung haben und heute – das ist ein Skandal – über einJahr darauf warten, überhaupt nach Europa zu kommen.Diese wenigen Schritte sind Sie bisher überhaupt nichtgegangen, sondern haben nur ein Ziel und fragen sichimmer: Wie können wir Schlepper bekämpfen? Sokommt man meiner Meinung nach nicht zu einer ande-ren Flüchtlingspolitik, schon gar nicht dazu, dass dasMassensterben im Mittelmeer endlich ein Ende hat.
Ich will hier noch einmal sagen: In diesem Jahr sindetwa 2 000 Menschen, die verzweifelt versucht haben,über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, daran ge-scheitert und gestorben. Jedes Mal, wenn Hunderte vonFlüchtlingen ertrunken sind – ob es 2013 oder jetzt imApril 2015 war –, haben wir solche Töne gehört: Dasdarf sich nicht wiederholen, das ist eine Schande fürEuropa. – Ich meine nach wie vor, auch nach der heutegehörten Aufzählung dessen, was angeblich alles getanwird: Das reicht bei weitem nicht aus. Es müssen vielweiter gehende Schritte für eine veränderte Flüchtlings-politik in Europa durchgeführt werden.
An dieser Stelle möchte ich auch sagen: Unter morali-schen Maßstäben halte ich es für ein regelrechtes Verbre-chen, dass man Mare Nostrum eingestellt hat.
Man muss sich das einmal vorstellen: Zum damaligenZeitpunkt konnte man das Geld für Mare Nostrum an-geblich nicht aufbringen, aber jetzt steckt man Geld inFrontex, die Grenzabschottungsagentur, die eben nichthauptsächlich dafür zuständig ist, Seenotrettung zu be-treiben; das hat uns übrigens auch Herr Leggeri, Direk-tor der Agentur, am Mittwoch im Innenausschuss berich-tet. Nur im Notfall werden Flüchtlinge gerettet. Daszeigt, dass es im Grunde genommen nicht in erster Linieum die Flüchtlinge geht. Vielmehr ist in die Abschottungder europäischen Grenzen investiert worden. Ich will andieser Stelle darauf hinweisen: Frontex reicht nicht bisan die Grenze von Libyen. Aber wir wissen, dass vondort die meisten Flüchtlinge losfahren.Wie sieht die Seenotrettung gegenwärtig überhauptaus? Alleine im vergangenen Jahr sind 20 000 Menschendurch private Handelsschiffe gerettet worden, 1 700 indiesem Jahr von Frontex. Da Sie immer auf Frontex ab-stellen: Das macht sehr deutlich, dass eine Seenotrettungso nicht organisiert werden kann. Wenn wir Menschenretten wollen, dann brauchen wir eine koordinierte euro-päische Seenotrettung, und zwar für den gesamten Mit-telmeerraum. Das muss für uns alle an erster Stelle ste-hen.
Auch innerhalb Europas steht es nicht zum Besten. Al-leine am letzten Wochenende sind 5 000 Menschen ausSeenot gerettet und nach Italien gebracht worden. Fasttäglich kommen 600 Menschen auf den griechischen In-seln an. In beiden Ländern ist die Situation für Flüchtlingekatastrophal. Allein in Italien sind 180 000 Flüchtlinge inLagern untergebracht. Die Lager sind völlig überfordert,und die Flüchtlinge können nicht angemessen versorgtwerden. Vor diesem Hintergrund muss man sich einmalvorstellen, dass diskutiert wurde, als Notmaßnahme40 000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien in denMitgliedstaaten aufzunehmen, und man nun einmal ebenso aus den Medien erfährt, dass man diese Maßnahmeauf den Herbst verschoben hat. Geht es hier wirklich umdie Schutzsuchenden, um diejenigen, die Hilfe brau-
Metadaten/Kopzeile:
10634 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Ulla Jelpke
(C)
(B)
chen? Wie kann es sein, dass die nationalen Eigeninte-ressen innerhalb Europas so stark im Vordergrund ste-hen, dass es nicht möglich ist, die Flüchtlinge sofort inandere europäische Länder zu bringen und sie wirklichzu schützen?
Sie kommen bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ja, ich komme zum Schluss. – Lassen Sie mich noch
einen Aspekt des Militäreinsatzes ansprechen. Wer ver-
sucht, Schiffe durch das Militär zu versenken, wird die
Flüchtlinge auf noch unsicherere Schiffe bringen, näm-
lich auf Schlauchboote; denn die sind nicht so einfach zu
vernichten, die kann man sehr schnell aufpusten. Das be-
deutet noch mehr Tote. Deswegen ist es zynisch und un-
glaublich, wenn Sie an dieser Militäraktion festhalten
wollen, Herr Staatssekretär. Die Linke jedenfalls lehnt
das eindeutig ab.
Vielen Dank. – Bevor ich jetzt die nächste Rednerin
aufrufe, möchte ich noch etwas klarstellen: Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat noch Kurzinterventionen an-
gemeldet, aber ich habe entschieden, sie nicht zuzulas-
sen, weil ich glaube, dass die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen heute die Gelegenheit hatte, nicht nur zu reden,
sondern auch Zwischenfragen zu stellen, und zwar mehr
als eine, und auch eine Kurzintervention hatte.
Zwei Gründe spielen hierfür eine Rolle. Erstens. Wir
geben uns einen Zeitrahmen, auf den sich alle Kollegin-
nen und Kollegen einstellen. Was die Redezeiten, aber
auch, was die Zwischenfragen betrifft, war ich schon
sehr großzügig, weil es ein emotionales Thema ist.
Zweitens. Der Antrag wird heute nicht abschließend be-
raten. Er wird im gegenseitigen Einverständnis überwie-
sen. Wir haben in den Ausschüssen Gelegenheit, darüber
zu reden, und auch noch einmal im Plenum. Deshalb ist
die Entscheidung so gefallen, wie ich sie jetzt dargestellt
habe.
Die nächste Rednerin ist Christina Kampmann, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seitanderthalb Jahren bin ich jetzt hier im Bundestag undkann mit dazu beitragen, denen eine Stimme zu geben,die sonst keine Lobby haben. Ich habe verstanden, dassdas Bohren dicker Bretter mit ein Teil von Politik ist. Ichfinde aber: Wenn es um das Leben von Menschen geht,dann können wir uns nicht mit dem Bohren von Bretternaufhalten. Es sind dabei nicht ausschließlich die über800 Toten, die wir im vergangenen April zu beklagenhatten. Es sind auch nicht ausschließlich die fast2 000 Menschen, die in diesem Jahr umgekommen sind,und auch nicht die 366, die im Oktober 2013 umgekom-men sind und zu denen ich meine erste Rede hier imBundestag gehalten habe. Es ist diese unglaublich großeZahl von 25 000 Menschen, die seit Anfang des Jahrtau-sends beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, um-gekommen sind. 25 000, ich finde, das ist eine unglaub-lich große Zahl.
Seit so langer Zeit sehen wir zu, seit so langer Zeitlassen wir zu, seit so langer Zeit verschließen wir dieAugen vor einer menschlichen Tragödie, die sich mitgrausamer Alltäglichkeit an unseren Küsten abspielt. Ja,es sind unsere Küsten – es sind nicht die Küsten der Ita-liener, es sind nicht die Küsten der Griechen und auchnicht die der Malteser –, weil wir Europäerinnen undEuropäer uns dazu entschieden haben, dass Europa mehrsein soll als ein gemeinsamer Binnenmarkt, weil wir unsentschieden haben, gemeinsame Werte nach innen undnach außen zu vertreten, gegen alle Widerstände und fürdas, was uns wichtig ist und woran wir glauben.Wir beschweren uns zu Recht, wenn andere dieseWerte mit Füßen treten, weil sie uns schaden oder bedro-hen wollen. Aber was passiert eigentlich, wenn wir dieseWerte selbst aus den Augen verlieren? Liebe Kollegin-nen und Kollegen, die Erklärung des Europäischen Rateszur Flüchtlingskatastrophe im Mittelmehr beginnt mitden Worten:Die Lage im Mittelmeerraum ist eine Tragödie. DieEuropäische Union wird alles in ihrer Macht Ste-hende unternehmen, um den Verlust weiterer Men-schenleben auf See zu verhindern …
– Genau. – Aber was ist seitdem passiert? Ich möchtedrei entscheidende Maßnahmen vorstellen, die wir schonlange fordern und die durchaus zur Verbesserung beige-tragen haben.Die erste ist eine Verdreifachung der Finanzmittel fürTriton und Poseidon. Inzwischen – das ist meine Infor-mation – ist klar, dass es stimmt, was der Staatssekretärgesagt hat, Frau Jelpke: dass Triton sehr wohl bis vor dielibysche Küste fahren kann. Das ist eine unglaublichwichtige Maßnahme, weil da – wie Sie es gesagt haben –die meisten Boote starten; deswegen muss Triton auchda vor Ort sein. Das entspricht auch der Forderung ausdem Antrag der Grünen; auch sie fordern die Verdreifa-chung der Mittel. Deshalb glaube ich, dass das ein ganzentscheidendes Kriterium ist.Die zweite Maßnahme – darüber haben wir heuteschon gesprochen – ist eine verstärkte internationale Zu-sammenarbeit beim Vorgehen gegen Schlepper. Ichglaube, dass wir uns erst einmal einig sein sollten, ent-schieden gegen Schlepper vorzugehen; da hat HerrKoenigs recht. Was ich aber nicht sehe, Herr Staatsse-kretär, ist, dass wir, wie Sie es gesagt haben, den zweitenSchritt vor dem ersten machen, wenn wir uns erst einmal
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10635
Christina Kampmann
(C)
(B)
fragen: „Wie kann das Ganze eigentlich faktisch funktio-nieren, wie können wir das überhaupt realisieren?“, be-vor wir die völkerrechtlichen Möglichkeiten prüfen. Ichglaube, dass es an dieser Stelle noch ganz viele Fragezei-chen gibt. Auch ich habe von Ihnen dazu noch keineAntwort bekommen, wie das tatsächlich im Einzelnenaussehen soll.
Die dritte Maßnahme – auch die ist entscheidend – isteine schnelle und gemeinsame Durchsetzung gemeinsa-mer europäischer Standards. Bevor wir keine gemeinsa-men Standards haben und diese nicht auch tatsächlichdurchsetzen, werden wir immer wieder Migrationsbewe-gungen innerhalb der Europäischen Union haben. Des-halb müssen wir da auf jeden Fall heran, und deshalb istes gut, dass auch diese Maßnahme beschlossen wurde.Die Europäische Kommission hat in ihrer Migrations-agenda weitere Maßnahmen vorgestellt. Dazu gehört un-ter anderem, dass 40 000 Flüchtlinge aus Griechenlandund Italien auf der Grundlage eines Verteilungsschlüs-sels umzusiedeln sind, zum Zweiten, dass wir in dennächsten zwei Jahren 20 000 Flüchtlinge aufnehmen unddiese neu ansiedeln werden. Das Dritte – das ist zumin-dest eine Möglichkeit der erweiterten legalen Migration –ist die Überarbeitung der Bluecard-Regelung für hoch-qualifizierte Arbeitskräfte. Ich sage eindeutig: Auch dasist eine Maßnahme. – Ich wünsche mir aber, dass weiterehinzukommen.Ich finde, das sind wichtige Schritte, die zeigen: DerWille, hier zumindest auf der europäischen Ebene et-was zu ändern – ich rede noch nicht über die Mitglied-staaten –, ist endlich da. Das ist auch gut so, meine Da-men und Herren, dafür hat sich unsere Bundesregierunglange starkgemacht. Wir sind an dieser Stelle – das istmein Eindruck – schon sehr viel weiter, als wir es nochvor wenigen Wochen waren.
Einige der von Ihnen in den Anträgen aufgeführtenPunkte haben sich damit erledigt. Bei anderen gibt esweiterhin einen Dissens. An anderen Stellen sollten wir– da bin ich mit Ihnen einig – durchaus noch weiterDruck machen. Ich glaube, dass diese Migrationsagendaein guter Schritt in die richtige Richtung ist. Aber esmuss unbedingt noch weiter gehen.Wo es aber weiterhin einen Dissens gibt – Sie fordernes wieder in Ihrem Antrag –, ist das Free-Choice-Verfah-ren, das wir ablehnen. Free Choice bedeutet, dass sichjeder Flüchtling den Mitgliedstaat aussuchen kann, indem er seinen Asylantrag stellt. Wir haben die Befürch-tung, dass es dann zu einer Reduzierung der Standardskommt, weil die Mitgliedstaaten hoffen: Je geringer dieStandards sind, desto weniger Flüchtlinge kommen zuuns. – Deshalb lehnen wir das entschieden ab. Wir glau-ben, dass das auch im Sinne der Flüchtlinge ist, die zuuns kommen.Es gibt einen zweiten Punkt, bei dem noch ein eindeu-tiger Dissens besteht.
Frau Kollegin Kampmann, ich muss Sie an die Zeit
erinnern. Jetzt bitte nicht noch „zweitens“, „drittens“,
„viertens“, sondern bitte zum Schluss kommen!
Es gibt nur noch „zweitens“, liebe Frau Präsidentin;
das betrifft die Abschaffung von Frontex. Auch da kön-
nen wir nicht zustimmen. Wir sagen aber, dass es ein-
deutig ein Seenotrettungsmandat von Frontex geben
muss. Wir hatten dieses Thema diese Woche im Innen-
ausschuss. Da wurde eindeutig gesagt: Das macht einen
großen Teil der Arbeit von Frontex aus. Deshalb ist es
nur ehrlich, wenn wir hier ein rechtliches Seenotret-
tungsmandat hinbekommen. – Dafür werden wir uns
weiter starkmachen. Ich glaube, dass wir dann auf dem
richtigen Weg sind und weiter in eine gute Richtung ge-
hen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Nina Warken,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Immer wieder bestimmen die dramatischenEreignisse, die sich im Mittelmeer abspielen, die Schlag-zeilen unserer Nachrichten. Der traurige Höhepunkt indiesem Jahr ereignete sich am 19. April. Ein völlig über-ladenes Schlepperboot mit Flüchtlingen an Bord kenterteauf seinem Weg von Libyen nach Italien. Nach Schät-zungen sind dabei über 800 Menschen ums Leben ge-kommen, auch weil sie unter Deck zusammengepferchtwaren. Nur 28 Menschenleben konnten gerettet werden.Katastrophen wie diese machen uns alle tief betrof-fen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, von dem Un-glück ging auch ein Signal aus: Europa war bereit, sofortund entschlossen zu handeln. Auf dem EU-Sondergipfelam 24. April dieses Jahres wurden als Sofortmaßnahmedie Mittel für die Seenotrettung im Mittelmeer deutlichaufgestockt und ausgeweitet. Auch Deutschland stelltesich seiner Verantwortung und hat umgehend Schiffe derBundeswehr ins Mittelmeer entsandt. Letzten Samstagwurden bei einer Rettungsaktion von deutschen Schiffenrund 1 400 Menschen aufgenommen und versorgt. In-zwischen sind es insgesamt über 3 000 Flüchtlinge, diedie Bundesmarine aus Seenot gerettet hat. Für ihren un-ermüdlichen Einsatz möchte ich unseren Soldatinnenund Soldaten danken. Sie werden weiterhin im Mittel-meer Präsenz zeigen und unter psychisch wie physischschwersten Bedingungen dort Leben retten. Wir schul-den ihnen allen unseren Dank.
Metadaten/Kopzeile:
10636 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Nina Warken
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, Europa hat gemeinsam re-agiert und seine Präsenz im Mittelmeer verstärkt, umFlüchtlinge zu retten. Dennoch sollte uns eines bewusstbleiben: Alleine mit der Ausweitung von Seenotret-tungsmaßnahmen werden wir die Flüchtlingskatastropheim Mittelmeer nicht lösen. Stattdessen gilt: Nur wenn esuns gelingt, die Ursachen der Flüchtlingskatastrophen zubeseitigen und den Menschen in ihrer Heimat eine echtePerspektive zu geben, werden wir die Probleme nachhal-tig lösen. Auf dieses Ziel arbeiten wir hin.
Die Europäische Kommission hat mit der Migrations-agenda und ihren Umsetzungsvorschlägen einen Ansatzentwickelt, der sowohl kurzfristige als auch langfristigeMaßnahmen enthält. Ein solches aufeinander abge-stimmtes Vorgehen ist der einzig richtige Weg. An ersterStelle steht hier die noch konsequentere Bekämpfung derSchleuserbanden, auch wenn Teile von Ihnen das nichteinsehen. In allen Mitgliedstaaten sollen Ermittlungs-stellen eingerichtet werden, um die Boote aus dem Ver-kehr zu ziehen und das Vermögen der Schleuser zu be-schlagnahmen. Den Kriminellen muss endlich dasHandwerk gelegt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Lösung derFlüchtlingsproblematik gehört in meinen Augen auch,dass wir legale Wege nach Europa schaffen.
Im Gegensatz zu den Grünen bin ich aber der Auffas-sung, dass humanitäre Visa nicht der richtige Ansatzsind. Auch die Forderung der Linken nach einer visum-freien Einreise für Flüchtlinge wäre keine Lösung. Ers-tens sind es nicht nur Schutzsuchende, die nach Europakommen wollen. Ein großer Teil sucht nach Arbeit. Da-für brauchen wir andere Instrumente wie zum BeispielProgramme zur Anwerbung von Arbeitskräften inAfrika. Zweitens würde man durch die visafreie Einreisedie Sogwirkung, die Europa auf die afrikanischen Staa-ten ohnehin erzeugt, vervielfachen und damit dafür sor-gen, dass viele dieser Länder förmlich ausbluten würden.Für die Entwicklung eines ganzen Kontinents wäre daseine Katastrophe.Meine Damen und Herren, auch wenn Sie es nichtwahrhaben wollen: Wir können nicht alle, die in Afrikaauf der Flucht sind, zu uns holen. Deshalb halte ich diegeplante Schaffung von Migrationszentren in denHerkunfts- und Transitländern für zweckmäßiger undvielversprechender. Schutzbedürftige würden dorteine Anlaufstelle finden und könnten im Rahmen vonAufnahmekontingenten der Mitgliedstaaten nach Europagebracht werden.Gleichzeitig bietet es sich an, in den Aufnahmezen-tren auch über legale Zuwanderungswege nach Europaund über ernsthafte und glaubhafte Alternativen imHeimatland zu informieren. Bis zum Jahresende soll imafrikanischen Niger ein solches Aufnahmezentrum alsPilotprojekt eingerichtet werden. Ich glaube, in diesemAnsatz liegt viel Potenzial.Die Vorschläge der EU-Kommission gehen insgesamtin die richtige Richtung. Es soll erstmals ein europäi-sches Aufnahmeprogramm geben, wodurch 20 000 be-sonders schutzbedürftige Flüchtlinge nach Europa ge-bracht und auf die Mitgliedstaaten verteilt werden.Auch der zeitlich befristete Notfallmechanismus zurUmsiedlung von Flüchtlingen aus Italien und Griechen-land ist richtig. Da zurzeit die Lage auf den griechischenInseln immer kritischer wird, hat sich der Frontex-Direk-tor bei der Europäischen Kommission dafür eingesetzt,dass Griechenland umgehend zusätzliche Gelder für dieFlüchtlingsaufnahme bekommt. Teams von Frontex unddem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragenwerden Italien und Griechenland künftig bei der Auf-nahme von Flüchtlingen unterstützen. Europa zeigt da-durch Handlungsfähigkeit, Solidarität und Verantwor-tung.
Der langfristige Schlüssel zum Erfolg liegt aber in derBeseitigung der Fluchtursachen. Die Menschen brau-chen in ihrer Heimat eine echte Zukunftsperspektive.Hier muss Europa gemeinsam weiter nachfassen.Wir brauchen ein langfristiges und nachhaltiges Ent-wicklungskonzept für die betroffenen afrikanischenStaaten. Es muss – um den Bundesentwicklungsministerzu zitieren – zum Kerngeschäft europäischer Entwick-lungszusammenarbeit werden, den Menschen vor Ort zuhelfen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, Deutsch-land und die EU sind fest entschlossen, zu verhindern,dass Menschen weiterhin auf der Flucht ihr Leben riskie-ren müssen. Auch wenn wir bei der Beseitigung derFluchtursachen einen langen Atem brauchen werden, binich mir sicher, dass wir diese Aufgabe gemeinsam mitunseren europäischen Partnern erfolgreich bewältigenwerden. Stellen wir uns gemeinsam dieser Verantwor-tung!Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Lars
Castellucci, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es istdaran erinnert worden, dass im April schätzungs-weise 800 Menschen im Mittelmeer zu Tode gekommensind. Es ist gesagt worden, dies sei der Fall gewesen,weil sie sich auf diesen Weg begeben hätten. Sie hättensich auf den Weg über das Mittelmeer begeben müssen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10637
Dr. Lars Castellucci
(C)
(B)
und sie seien im Inneren dieses Bootes zusammenge-pfercht worden.Zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Sie sind umgekom-men, weil Europa nicht geholfen hat.
Unsere Verabredung in der Bundestagsdebatte war, dasswir das nicht noch einmal zulassen wollen. Jetzt ist dieFrage: Haben wir heute eine Seenotrettung, die der Lageangemessen ist, ja oder nein? Ich weiß es nicht.Ich sehe, dass sich viel bewegt hat. Ich sehe, dassviele europäische Staaten Schiffe entsenden.
Ich sehe, dass die italienische Regierung das ProgrammMare Sicuro gestartet hat, das Rettungseinsätze bis vordie libysche Küste umfasst.Es ist nicht so, Frau Jelpke, dass Flüchtlinge nur imNotfall gerettet werden, sondern im Notfall müssenFlüchtlinge gerettet werden. Das bedeutet Seenotrettung.Ich weiß nicht, was Sie an dieser Stelle kritisieren woll-ten.
Zurzeit ist es so, dass die Dichte von Schiffen im Mittel-meer zugenommen hat und damit die Wahrscheinlich-keit, dass Flüchtlinge, die in Seenot geraten, rechtzeitigaufgefunden werden können, gestiegen ist.Ich habe einige befremdliche Sitzungen hinter mir, indenen es um Listen ging, wie hoch die Zahlen bei MareNostrum waren und wie hoch sie jetzt sind und wie vieleFregatten und Helikopter im Einsatz waren. Ich muss Ih-nen sagen: Das ist mir völlig egal.
Denn die einzige politische Frage, die wir zu beantwor-ten haben, ist: Ist das, was zurzeit vorhanden ist, der ak-tuellen humanitären Lage angemessen? Wir müssen unsdafür einsetzen, dass es angemessen ist.
Wir waren mit der Deutsch-Italienischen Parlamenta-riergruppe in Italien und haben dort mit Verantwortli-chen gesprochen. Sie haben uns klar gesagt, im Momentsähen sie, dass die Ressourcen gestiegen sind und dasses viel europäische Unterstützung gibt. Das sind guteNachrichten. Dazu muss man sagen: Diese Aufstockungerfolgte erst nach der Katastrophe. Jeder, der in derKommunalpolitik ist, kennt das: Bevor ein Zebrastreifenaufgemalt wird, muss erst etwas passieren.Die Kapazitäten werden aber möglicherweise nichtreichen, wenn es noch einmal zu einer solchen Katastro-phe wie im April kommt, bei der die Menschen gerettetund an Land transportiert werden müssen, und im glei-chen Moment ein Signal vom anderen Ende des Mittel-meers gesendet wird. Das war auch eine Aussage, diewir von den Verantwortlichen auf den Schiffen gehörthaben. Mit anderen Worten: Wir werden in den nächstenWochen immer weiter und minutiös beobachten müssen,ob die Kapazitäten reichen. Wenn sie nicht reichen, mussdort auch mehr passieren; denn unsere erste Aufgabe ist,Leben zu schützen.
Wenn die Menschen an Land transportiert wordensind, dann stellt sich die Frage: Was passiert dann? DiePräfektin von Catania hat uns sehr eindrücklich gesagt:Vielen Dank, dass die Dänen, die Briten und die Deut-schen Schiffe entsenden, aber sie bringen all diese Men-schen zu uns nach Catania, einer Stadt mit 300 000 Ein-wohnern. – Deswegen kämpfen wir auch dafür, dass eseinen europäischen Verteilungsschlüssel gibt.
Das ist selbstverständlich. Es muss eine größere euro-päische Solidarität geben.
Man kann sich in Europa nicht immer nur das heraus-suchen, wovon man etwas hat und profitiert, sondernman muss auch die Lasten teilen. Es wäre sogar gut,wenn wir Flüchtlinge nicht als Lasten begreifen würden;denn die Bevölkerung unseres Kontinents altert undschrumpft. Wenn Menschen zu uns kommen, die einengroßen Lebenshunger haben, die sich mit ihren Familienein neues Leben aufbauen wollen und die Kompetenzenbesitzen, die vielleicht hier oder dort gebraucht werden,dann ist das auch eine Chance für unseren Kontinent,und diese Chance müssen wir auch bestmöglich nutzen.
Einen Punkt will ich noch verstärkt betonen, nachdemich für den Rückweg von Italien diese Zeitschrift, denaktuellen L‘Espresso, mitgenommen habe.
– Ja, so heißt sie. Das hat aber einen sehr ernsten Hinter-grund, weil sie eine Fotoserie von Menschen enthält, diesich auf Flüchtlingsbooten auf dem Meer befinden. – Ichmuss wirklich klar sagen: Ich bitte alle in diesem Hausdarum, hier kein Aber oder irgendwelche anderen Relati-vierungen zu gebrauchen, wenn es um Schleuser undSchlepper geht, sondern mit uns gemeinsam dafür zukämpfen, dass wir diesen Verbrechern das Handwerk le-gen. Das steht auf der Tagesordnung.
Sie können sich die Bilder in dieser Zeitschrift an-schauen. Die Menschen haben nichts am Leibe, dasHolzboot geht unter, und das Schlauchboot nebenan ent-fernt sich immer weiter. Es hatte nicht genügend Platz
Metadaten/Kopzeile:
10638 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015
Dr. Lars Castellucci
(C)
(B)
für alle Menschen und ist gar nicht mehr für alle erreich-bar. – Die Menschen werden von schlimmsten Verbre-chern ins Elend und in den Tod gestürzt. Denen müssenwir selbstverständlich das Handwerk legen. Das ist eineganz zentrale Aufgabe,
und hier darf es wirklich keine Relativierungen geben,zu denen es in diesem Hause immer wieder kommt.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Jetzt hat Andrea Lindholz, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Der Anlass dieser Debatte berührtuns alle, und das Kernanliegen der beiden Anträge halteich auch für berechtigt.Natürlich darf Europa nicht tatenlos zusehen, wennMenschen auf dem Mittelmeer ertrinken. Europa siehtauch nicht tatenlos zu. Europäische Marinesoldaten über-wachen in diesem Moment ein gewaltiges Gebiet vor dernordafrikanischen Küste und haben schon TausendeMenschenleben gerettet. Ihr Einsatz verdient unserehöchste Anerkennung.Genauso müssen wir auch den Besatzungen der Han-delsschiffe und den europäischen Grenzschutzbeamtendanken, die im Rahmen der Frontex-Operation Tritonebenfalls viele Tausend Migranten aus Seenot gerettethaben. Das zeigt auch, wie ernst Europa seine humani-täre Verpflichtung gegenüber den Bootsflüchtlingennimmt, auch wenn es nie genug sein kann. Trotzdemhalte ich die meisten Forderungen in den Anträgen fürüberholt und teilweise auch für nicht zu Ende gedacht.Fangen wir mit dem Antrag der Grünen an. Sie for-dern eine Rettungsmission auf dem Niveau der alten ita-lienischen Mission Mare Nostrum. Mit der Rettungsmis-sion Mare Sicuro der italienischen Marine gibt es daslängst. Im Gegensatz zu Mare Nostrum wird dieseMission auf bilateraler Ebene von zwei deutschenMarineschiffen, einem irischen und einem britischenMarineschiff unterstützt. Die Mittel für Frontex wurdenverdreifacht, und das Einsatzgebiet der Operation Tritonwurde stark ausgeweitet. Frontex überwacht jetzt nichtnur in Küstennähe, sondern ein Gebiet, das 250 Kilome-ter auf das offene Meer reicht.Auch Ihre Forderung, die Bundesregierung solltenoch mehr Aufnahmeplätze für schutzbedürftige Flücht-linge in Europa fordern, ist erfüllt. Die Bundesregierungfordert das seit Monaten, sogar seit Jahren. Sie setzt sichnachhaltig dafür ein, dass wir ein gesamteuropäischesAufnahmeprogramm bekommen. Wir alle mahnen das injeder Rede hier an. Wir alle sind uns einig: Europa darfkeine Einbahnstraße sein. Ich möchte ausdrücklich darananschließen. Wir brauchen eine gesamteuropäische Ver-antwortung, und wir brauchen auch mehr Aufnahme vonFlüchtlingen in ganz Europa. Aber sagen Sie mir dochbitte, mit welchen Mitteln wir das so umsetzen sollen,dass es auch gelingt. Wir sind in gewissem Maße aufFreiwilligkeit angewiesen. Es gibt keine Androhung vonunmittelbarem Zwang oder Ähnlichem.
Insofern sind wir hier auf die diplomatischen Kanäle an-gewiesen. Ich bin mir sicher, Sie alle werden in IhrenParteien auf allen Ebenen, vielleicht auch länderüber-greifend, dafür werben, dass uns das zeitnah gelingt.Der UN-Flüchtlingskommissar hat die deutsche Asyl-politik als Vorbild für ganz Europa bezeichnet. Wir ha-ben längst drei Sonderkontingente für syrische Kriegs-flüchtlinge aufgenommen. Ja, angesichts des Leideskann man sagen, dass es nie genug ist. Ich will aber andieser Stelle auch sagen – ich spreche hier ausdrücklichHerrn Trittin an –: Etwa 11 Millionen Syrier befindensich auf der Flucht, 4 Millionen in den Nachbarstaatenund 6,5 Millionen in Syrien. Ich spreche nur Syrien an.Dann sagen Sie mir bitte, wie man dieses Problem mitwie vielen Aufnahmeprogrammen hier lösen will.Deshalb ist es richtig, dass wir – ich höre das immerwieder – unseren Fokus auf die Hilfe vor Ort richtenmüssen. Nur wenn wir die Fluchtursachen bekämpfenund nur wenn wir die Krisenstaaten stabilisieren, kannuns wirklich die Linderung von Leid gelingen. Es ist seitJahren das zentrale Ziel der Außen- und Entwicklungs-politik dieser Bundesregierung, unseren Fokus auf dieHilfe vor Ort zu richten. Das halte ich angesichts vonüber 50 Millionen Menschen, die sich auf der Flucht be-finden, für den richtigen Weg.Ich möchte noch auf eine Forderung der Linken ein-gehen. Sie fordern in Ihrem Antrag die Auflösung vonFrontex. Wenn wir Frontex heute auflösen würden, dannwürden wir nicht nur die Sicherheit der Menschen in Eu-ropa gefährden, sondern auch das Leben der Migrantenauf dem Mittelmeer. Würde man diese Forderung umset-zen, hätten Schmuggler, die organisierte Kriminalitätund auch IS freie Bahn. Europa würde seine Kontrolleüber die Migrationsströme verlieren. Dadurch würdeauch die solidarische Lastenverteilung für den europäi-schen Grenzschutz abgeschafft werden. Sie würden da-mit auch das Leben der vielen Menschen gefährden, dieaktuell auf dem Mittelmeer gerettet werden.
Ein Seenotrettungsdienst, wie Sie ihn fordern, wärekein Ersatz für Frontex. Denn Frontex schützt nicht nurunsere Grenzen, sondern rettet auch im Notfall. Frontexleistet einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung und zurBekämpfung der kriminellen Schleusernetzwerke. Na-türlich müssen wir diese Schleusernetzwerke – ich sagedas an dieser Stelle – mit allen möglichen und uns zurVerfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Wir dürfendiese Schleuserkriminalität nicht länger zulassen. Wir
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 110. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Juni 2015 10639
Andrea Lindholz
(C)
müssen dem kriminellen Treiben ein Ende bereiten, so-weit uns das möglich ist.
Ich habe vorhin gehört, man solle das ganze Mittel-meer überwachen. Ich frage mich, ob Sie einmal ge-schaut haben, wie groß das Mittelmeer ist. Das Mittel-meer hat 2,5 Millionen Quadratkilometer. Erklären Siemir einmal, Frau Jelpke, in einer Ihrer nächsten Reden,wie Sie das bewerkstelligen wollen. Wir können dieFlüchtlingskrisen nur in den Herkunftsländern lösen. DieAnträge sind, wie ich schon sagte, teilweise überholt undnicht bis zum Ende gedacht. Gehen Sie doch auch ein-mal darauf ein, was wir mit den vielen Menschen ma-chen wollen, die sich innerhalb ihrer Länder auf derFlucht befinden. Auch dafür müssen wir Lösungen fin-den. Die Lösung kann nicht sein, unbegrenzt eine Brü-cke nach Europa zu bauen, so sehr man das auch sympa-thisch, menschlich und human finden kann. Aber es istkeine Lösung für über 50 Millionen Menschen auf derFlucht.Vielen Dank.
Danke schön. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/4695 und 18/4838 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
Mittwoch, den 17. Juni 2015, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen jetzt allen ein hoffentlich nicht so
arbeitsreiches und vor allen Dingen sonniges Wochen-
ende.
Die Sitzung ist geschlossen.