Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.Heute gibt es bedauerlicherweise keine Geburtstagezu erwähnen, sodass wir gleich in die Tagesordnung ein-treten können und müssen. Das muss aber der gutenLaune nicht im Wege stehen.Ich rufe unseren Zusatzpunkt 6 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister des AuswärtigenEuropas Weg aus der Krise: Wachstum durchWettbewerbsfähigkeitIch weise darauf hin, dass es hierzu einen Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke gibt.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offensicht-lich einvernehmlich und damit so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister des Auswärtigen, Dr. GuidoWesterwelle.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kolleginnen und Kollegen! Europa ist in einer Prä-gephase. Das Bild Europas in der Welt wird jetzt nach-haltig geprägt. Das Bild Europas bei den Bürgerinnenund Bürgern in Europa wird jetzt nachhaltig geprägt,aber auch das Bild Deutschlands in Europa wird jetzt fürviele Jahre nachhaltig geprägt.Wir haben es mit einer Staatsschuldenkrise zu tun.Die Schuldenstände einzelner Euro-Staaten sind zuhoch. Die Finanzmärkte haben infrage gestellt, ob dieseSchuldenberge jemals wieder abgetragen werden kön-nen. Aus der Staatsschuldenkrise ist somit eine Vertrau-enskrise geworden. Um Vertrauen zurückzugewinnen,müssen wir überzeugend darlegen, dass der Euro-Raumkünftig ein Ort dauerhafter finanzieller Stabilität seinwird. Dazu haben wir die richtigen Weichen gestellt. DerStabilitäts- und Wachstumspakt bekommt neue Autori-tät. Verstöße gegen den Stabilitätspakt werden in Zu-kunft früh und wirkungsvoll sanktioniert. Die Bundesre-gierung aus dem Jahre 2004 hat den Stabilitätspaktaufgeweicht. Diese Bundesregierung wird die Fehlervon damals nicht wiederholen.
Wir wollen raus aus der Schuldenpolitik hier bei unsin Deutschland, auch in den Bundesländern,
in Europa, weil wir der Überzeugung sind, dass das An-werfen von Notenpressen, das Drucken von Geld keineAntwort sein kann. Das führt zur Geldentwertung. Dasführte zur Inflation. Die Stabilität unseres Geldes ist einKernanliegen der Bundesregierung. Es ist auch eine so-ziale Herausforderung. Denn unter Inflation leiden dieÄrmsten am allermeisten.
Mit dem Fiskalpakt verpflichten sich die Regierungenin ganz Europa, nationale Schuldenbremsen einzufüh-ren. Der Fiskalpakt trägt die Unterschrift von 25 Staats-und Regierungschefs. Drei Mitgliedstaaten haben denFiskalpakt bereits ratifiziert, nämlich Portugal, Slowe-nien und auch Griechenland. Irland führt am 31. Mai einReferendum zum Fiskalpakt durch. In anderen Mitglied-staaten ist das parlamentarische Verfahren eingeleitet.Ich will es noch einmal mit großer Deutlichkeit sa-gen: Der Fiskalpakt ist beschlossen, und er gilt.
Das Ende der Schuldenpolitik in Europa ist vereinbart.Dabei bleibt es. Vereinbarungen zwischen Staaten wer-den durch Wahlen nicht ungültig.
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Deutschland hat für diesen Kurs unermüdlich gewor-ben und hart verhandelt: der Finanzminister, ich selbstals Außenminister, aber vor allem an der Spitze die Bun-deskanzlerin. In Europa und international setzt sichDeutschland für ein Ende der Politik des Schuldenma-chens ein. Es untergräbt die Glaubwürdigkeit unseresLandes, wenn einzelne Bundesländer in Deutschlandihre Schuldenpolitik trotzdem weiter fortsetzen wollen.
Die Ursache der Krise waren zu hohe Staatsschulden.Die Folge waren verantwortungslose Spekulationen. Ge-gen beides brauchen wir neue Regeln.Zu den richtigen Lehren aus der Krise gehört auch diebessere Regulierung der Finanzmärkte. Die Bundesre-gierung hat ungedeckte Leerverkäufe bereits im Mai2010 dauerhaft verboten. Wir sorgen für einen stabilerenBankensektor. Wir haben strengere Eigenkapitalvor-schriften eingeführt. Mit der Bankenabgabe haben wirRisiko und Haftung wieder zusammengebracht.Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Her-ren, die erste Säule unserer Politik ist der Fiskalpakt fürweniger Schulden; die zweite Säule unserer Politik istWachstum durch mehr Wettbewerbsfähigkeit. Zu einerwachstumsorientierten Politik muss diese Bundesregie-rung niemand überreden. Wachstum ist ein Kernanliegender christlich-liberalen Koalition.
Ohne Schuldenabbau kein Vertrauen. Ohne Vertrauenkeine Investitionen. Ohne Investitionen kein Wachstum.Ohne Wachstum keine Arbeitsplätze. Ohne Arbeits-plätze keine neuen Staatseinnahmen. Haushaltsdisziplinund Wachstum sind deshalb zwei Seiten derselben Me-daille.
Die Bundesregierung hat sich seit Beginn der Staats-schuldenkrise neben der notwendigen Haushaltskonsoli-dierung konsequent für mehr Wachstum durch Wettbe-werbsfähigkeit in Europa eingesetzt. Bereits vor zweiJahren wurde die neue Strategie für Beschäftigung undWachstum „Europa 2020“ beschlossen. Seither habensich alle – alle! – Europäischen Räte wie auch zahlreicheAllgemeine Räte und Fachräte mit den Themen Wachs-tum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung befasst,übrigens immer wieder auch auf deutsch-französischeInitiative.
Auch der letzte Europäische Rat im März dieses Jah-res betonte die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidie-rung wie auch die Notwendigkeit der Förderung vonWachstum, von Wettbewerbsfähigkeit und natürlichauch von Beschäftigung. Wie schon beim informellenSonderrat am 23. Mai – die Bundeskanzlerin hat gesternin ihrer Regierungserklärung darauf hingewiesen – stehtauch beim Europäischen Rat im Juni das Thema Wachs-tum erneut auf der Tagesordnung.Manche haben uns in den letzten Monaten und in denletzten beiden Jahren empfohlen, wir hätten von Anfangan einen anderen Weg einschlagen sollen, der im We-sentlichen in folgender Weise zusammengefasst ist: VonAnfang an hätte Deutschland, hätte die Bundesregierungeinen großen Batzen Geld ins Schaufenster legen sollenzur Stabilisierung und zur Abschreckung der Spekula-tion der Finanzmärkte. – Hätten wir als Bundesregierungzu Beginn der Krise gleich den von der Opposition ge-forderten Blankoscheck der Solidarität ausgestellt: Wirhätten in den Verhandlungen keine einzige der Gegen-leistungen für Stabilität durchsetzen können.
Es war richtig, dass Leistung und Gegenleistung von unsstets zusammen gesehen wurden.Wachstum kann man nicht mit Schulden kaufen.Wettbewerbsfähigkeit ist der Schlüssel für mehr Wachs-tum. Wettbewerbsfähigkeit erlangt man durch Struktur-reformen; darauf weist der Wirtschaftsminister zu Rechthin.
Gut zehn Jahre ist es her, da galt Deutschland als derkranke Mann Europas. Heute ist Deutschland wieder dieWachstumslokomotive in Europa.
Heute ist Deutschland wieder global wettbewerbsfähig.Die Arbeitslosigkeit sinkt; vor allem die Jugendarbeits-losigkeit ist so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa.Das ist der Lohn der Mühe unserer Bürgerinnen undBürger. Das ist das Ergebnis von verantwortungsvollemHandeln der Tarifparteien. Es ist auch das Ergebnis derneuen politischen Rahmenbedingungen durch die christ-lich-liberale Koalition.
Ich füge ausdrücklich hinzu: Auch die Agenda 2010 hatdie Grundlagen dafür gelegt, dass wir heute so gut daste-hen. Deswegen ist es gänzlich unverständlich, dass Siesich davon wieder abseilen wollen.
Wir wissen um den schweren Weg, den viele Men-schen in Europa derzeit gehen müssen. Dafür empfindenwir großen Respekt und höchste Anerkennung. DieMenschen, die derzeit in vielen Ländern Europas in ei-ner sehr schwierigen Lage sind, können persönlichnichts dafür, dass Reformen in ihren Ländern in den letz-ten Jahren unterlassen worden sind. Deswegen rate ichuns allen, nicht mit Hochnäsigkeit auf die Lage in diesenLändern zu reagieren, sondern Verständnis dafür zu ha-ben, was diese Menschen durchmachen. Diesen Ratrichte ich nicht nur an eine Seite, sondern an alle, die da-rüber diskutieren. Gerade weil wir derzeit wirtschaftlich
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so stark sind, müssen wir in den europäischen Diskussio-nen eine besondere Sensibilität zeigen.
Angesichts einer zum Teil stark schrumpfenden Wirt-schaft, angesichts hoher Arbeitslosigkeit, angesichts ei-ner vor allem erschreckend hohen Jugendarbeitslosigkeitsind die jetzt angepackten Reformen die einzige nach-haltige Chance. Nur so können wir die wirtschaftlicheund soziale Lage in den jeweiligen Mitgliedstaaten undüberall in Europa zum Guten wenden.Ein Wort zu Griechenland: Wir stehen zu unserenHilfszusagen. Das bedeutet aber auch, dass die verein-barten Reformen in Griechenland umgesetzt werden.Wir wollen die Euro-Zone zusammenhalten. Die Zu-kunft Griechenlands in der Euro-Zone liegt nun in denHänden Griechenlands. Wir wollen und werden Grie-chenland helfen. Griechenland muss sich aber auch hel-fen lassen wollen. Wenn der verbindlich vereinbarte Re-formweg verlassen werden sollte, dann ist dieAuszahlung weiterer Hilfstranchen nicht mehr möglich.Solidarität ist keine Einbahnstraße. Solidarität funktio-niert nicht ohne Solidität. Was vereinbart ist, muss gel-ten.
Das ist die Haltung der Bundesregierung, meine Damenund Herren Abgeordnete. Das ist die Haltung unserer eu-ropäischen Partner. Das ist übrigens auch die Haltungdes Präsidenten der Europäischen Kommission, und dasist die Haltung des Präsidenten des Europäischen Parla-ments.Für neues Wachstum liegt die Verantwortung zuerstund vor allem bei den Mitgliedstaaten. Durch nationaleStrukturreformen müssen die Mitgliedstaaten die Wett-bewerbsfähigkeit wieder herstellen, die für neuesWachstum zwingend ist. Hierzu gehört es beispiels-weise, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zumachen. Dazu zählt, die Arbeitsmärkte gerade für jungeMenschen stärker zu öffnen und Schwarzarbeit abzu-bauen.
Dazu bedarf es eines klaren Bekenntnisses zur Förde-rung von Bildung, Wissenschaft und Forschung. Auchauf europäischer Ebene wollen wir noch stärker aufWachstum setzen. Ein europäischer Wachstumspaktmuss folgende sechs Punkte beinhalten:Erstens. Die Europäische Union darf nicht mehr aus-geben als bisher. Sie muss aber ihre Mittel besser einset-zen als bisher.
Geld ist durchaus vorhanden. Der Zukunftshaushaltder Europäischen Union für die Jahre 2014 bis 2020sieht ein Volumen von über 1 Billion Euro vor. Aus die-sem Haushaltsplan muss der politische Anspruch der Eu-ropäischen Union ablesbar sein, Zukunft zu gestaltenund nicht nur Vergangenheit zu verwalten. Wir brauchenbei der Verwendung dieser Mittel ein neues Denken. Esdarf nicht mehr darum gehen, einfach möglichst vielGeld für die eigenen nationalen Steckenpferde zurückzu-holen. Das führt am Ende zu Fehlentwicklungen wie eu-ropäisch geförderte Wellnessoasen in Romantikhotels.Wir alle kennen solche Beispiele, übrigens auch aus un-serem eigenen Land.Strukturmittel, die die Europäische Union ausgibt,müssen zu mehr Wachstum und zu mehr Wettbewerbsfä-higkeit in Europa beitragen. Das sind wir nicht nur de-nen schuldig, die auf unsere Solidarität angewiesen sind,sondern das schulden wir allen europäischen Steuerzah-lern. Die Bundesregierung hat in die laufenden Haus-haltsverhandlungen in Brüssel einen Aktionsplan zumBetter Spending eingebracht. Gleichzeitig wollen wir,dass die Ausgaben stärker überwacht und an messbareKriterien geknüpft werden. Mit dem Geld der europäi-schen Steuerzahler wollen wir gute Ergebnisse befördernstatt Förderquoten zu erfüllen.
Zweitens. Aus den Struktur- und Kohäsionsfonds derlaufenden Haushaltsperiode stehen noch knapp 80 Mil-liarden Euro zur Verfügung, die bis heute noch keinenkonkreten Projekten zugeordnet sind. Wir wollen, dassdie Europäische Kommission diese Mittel nutzt und ge-meinsam mit den Mitgliedstaaten jetzt schneller und wir-kungsvoller in neues Wachstum durch bessere Wettbe-werbsfähigkeit investiert.Drittens. Weil der Bankensektor unter der Last faulerKredite leidet, klagen viele Unternehmen in Europa übereine Kreditklemme. Mit der Europäischen Investitions-bank verfügen wir über ein Instrument, das wir stärkerund gezielter nutzen sollten. Wir wollen den Zugang ge-rade kleinerer und mittelständischer Unternehmen zuKrediten verbessern und die Expertise der EuropäischenInvestitionsbank besser nutzen.
Viertens. Europas Straßen und Schienen, unsere Ener-gie- und Telekommunikationsnetze gehören zu dengroßen Trümpfen der europäischen Wirtschaft. Sie zu er-halten und zu verbessern, eröffnet neue Wachstumsper-spektiven. Für den grenzüberschreitenden Ausbau dereuropäischen Infrastruktur muss mehr privates Kapitalmobilisiert werden. Wir müssen hier auch innovativeWege im Bereich Public-Private-Partnership ausloten.Fünftens. Schon einmal wurden in den 80er- und90er-Jahren durch die Verwirklichung der sogenanntenvier Freiheiten im europäischen Binnenmarkt enormeWachstumskräfte freigesetzt. Heute bietet die Ausdeh-nung des Binnenmarktes auf neue Felder erneut großeChancen. Das gilt für die digitalisierte Wirtschaft undden Internethandel. Das betrifft den Energiesektor, womehr Wettbewerb zu niedrigeren Preisen und größererVersorgungssicherheit für die Verbraucher führen wird,und das zielt auf die Stärkung von kleinen und mittlerenUnternehmen durch den Abbau von Bürokratie, durchbesseren Zugang zu Risikokapital und eine Modernisie-rung des europäischen Vergaberechts.
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Sechstens. Wir wollen den Freihandel stärken. DreiViertel der Weltwirtschaft liegt außerhalb der Europäi-schen Union. Mehr als 80 Prozent des weltweiten Wachs-tums werden mittlerweile außerhalb der EuropäischenUnion erwirtschaftet, vor allem in Asien sowie in Nord-und Südamerika. Solange ein Abschluss der Doha-Rundefür ein weltweites Freihandelssystem nicht erreichbar ist,muss die Europäische Union daran arbeiten, weitere Frei-handelsabkommen mit den alten und neuen Kraftzentrender Welt abzuschließen.Die Verhandlungen mit Kanada und Indien wollenwir zügig zum Abschluss bringen. Mit Singapur undMalaysia sind die Verhandlungen auf gutem Wege. Aufdem EU-Asien-Außenministertreffen vor wenigen Ta-gen hat sich gezeigt, dass in der gesamten Region großesInteresse an Abkommen mit der Europäischen Union be-steht. Die Vorgespräche für die Aufnahme von Verhand-lungen zwischen der Europäischen Union und Japan ste-hen kurz vor ihrem Abschluss.Gegenüber Partnern wie den Golfstaaten und Brasi-lien werben wir dafür, den Verhandlungen neue Impulsezu geben. Mit den USA gibt es Vorgespräche und bereitserhebliche Vorarbeiten. Wir sind bereit zu einem umfas-senden Abkommen mit unseren engsten Verbündeten,den Vereinigten Staaten von Amerika.Diese sechs Punkte für mehr Wachstum in Europazeigen, dass man Wachstum schaffen kann, ohne neueSchulden zu machen.
Der Kurs der Bundesregierung bei der Bewältigungder Krise ist klar.
Wir sind der Überzeugung: Europa ist nicht das Pro-blem, sondern es ist Teil der Lösung des Problems. Esreicht nicht, aus der Krise nur finanz- und wirtschafts-politische Konsequenzen zu ziehen, so wichtig die natür-lich sind. Wir müssen strukturelle Antworten geben. DieEuropäische Union muss handlungsfähiger und effizien-ter werden. Auch das ist eine Lehre aus der Krise.Wir haben eine Zukunftsgruppe ins Leben gerufen,
in der wir institutionelle Verbesserungen diskutieren, dieauch unterhalb von Vertragsänderungen umgesetzt wer-den können. Wir werden alle europäischen Mitgliedslän-der und natürlich auch die europäischen Institutionen,insbesondere das Europäische Parlament und die Euro-päische Kommission, in diese Diskussion einbeziehen.Mit dem Präsidenten des Europäischen Parlamenteshabe ich dazu in dieser Woche hier in Berlin Gesprächegeführt.
Die große historische Frage ist, ob die Fliehkräfte, diein der Krise auf Europa wirken, größer sind als die poli-tische Kraft des Zusammenhalts. Es gibt Renationalisie-rungstendenzen, die mich besorgen. Die Reisefreiheitgehört für mich zu den kostbarsten europäischen Errun-genschaften. Sie zu bewahren und zu verteidigen ist einKernanliegen der Bundesregierung. Wer anfängt, Europastückweise aufzugeben, der wird es am Ende ganz ver-lieren.
Die Welt verändert sich, und die Architektur der Weltverändert sich, weil die Gewichte sich verschieben.Deutschland ist in Europa relativ groß, in der Welt istDeutschland relativ klein. Wir brauchen unsere europäi-schen Partner. Gefragt ist der ökonomische, politischeund kulturelle Selbstbehauptungswille von uns Euro-päern. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Deshalbschweigen wir nicht, wenn in unmittelbarer Nachbar-schaft auf unserem europäischen Kontinent gemeinsameWerte verletzt werden. Wir stehen an der Seite der Un-terdrückten in Weißrussland, übrigens auch dann, wenndies nicht jeden Tag Gegenstand medialer Betrachtungist. Das ist Europa, und das, was in Weißrussland statt-findet, ist eine Schande für Europa.
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind Grundpfeilerunserer europäischen Werteordnung. Ohne sie, ohne De-mokratie und Rechtsstaatlichkeit, kann es keine weitereAnnäherung an die Europäische Union geben. Das giltauch für die Ukraine.Es gibt ein europäisches Lebensmodell, auf das wirstolz sein können. Dazu gehört, dass Freiheit und Sicher-heit in Balance gehalten werden, dass der Einzelne etwaszählt und nicht nur das Kollektiv, dass wir nicht nur ma-terielle, sondern auch postmaterielle Werte schätzen,nämlich individuelle Freiheit, soziale Sicherheit,
Freiheit von Angst, kulturelle Vielfalt und eine lebens-werte Umwelt. In der Globalisierung müssen wir diesesLebensmodell gemeinsam verteidigen. Wir wollen, dasssich Europa als Kulturgemeinschaft behauptet.Die deutsch-französische Freundschaft ist für den Er-folg Europas unverzichtbar. Wir gratulieren dem neu ge-wählten französischen Präsidenten François Hollande.
Wir werden bewährt und eng mit der neuen französi-schen Regierung zusammenarbeiten und gemeinsam mitunseren europäischen Partnern die Lösung der Problemeanpacken. Ich denke – das hat der Beifall gezeigt –, wirgratulieren alle gemeinsam dem neu gewählten, dem de-mokratisch gewählten französischen Präsidenten.
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Ich bin gespannt auf das Folgende. Wir danken demscheidenden Präsidenten Frankreichs, Nicolas Sarkozy,für die freundschaftliche Zusammenarbeit der letztenJahre. Erlauben Sie mir, dass ich in diesen Dank auchAußenminister Alain Juppé und die anderen Kabinetts-kollegen einschließe.
– An dieser Stelle, Genossen, fehlt der Beifall.
Ich will es Ihnen ganz offen sagen: Ich finde, dass diedeutsch-französische Freundschaft von nationalen par-teipolitischen Präferenzen völlig unabhängig ist.
Wir kämpfen für Europa – mit Pragmatismus undWeitsicht, mit Verstand und Herz. Unser Auftrag ist das,was bereits in der Präambel des Grundgesetzes festge-legt wurde. An diese Präambel des Grundgesetzes, dieuns alle verpflichtet, möchte ich erinnern: „… in einemvereinten Europa“ – so heißt es dort – „dem Frieden derWelt zu dienen“. Europa ist die Antwort auf das dun-kelste Kapitel unserer Geschichte. Europa ist eine Ant-wort des Friedens auf Jahrhunderte der Kriege. Nochmehr aber ist Europa unsere Zukunft. Europa ist unserSchicksal, und Europa ist auch unsere Leidenschaft.Deshalb arbeiten wir alle gemeinsam dafür, dass Europadiese Bewährungsprobe besteht. Wir wissen, was wir anEuropa haben. Deshalb wollen wir, dass Europa dieseLage meistert.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Sehr geehrter Herr Westerwelle! Als Sie vor einigenTagen für heute eine Regierungserklärung zum Thema„Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch Wettbe-werbsfähigkeit“ angemeldet haben, hatte ich gewisseHoffnungen. Ich wollte eigentlich sagen: Willkommenin einer Debatte über Europa, an der Sie zwei, drei Jahrenicht teilgenommen haben. Herzlich willkommen in ei-ner Debatte über Wachstum, zu der Sie in den letztenWochen und Monaten nichts beigetragen haben. – Undjetzt höre ich 26 Minuten lang nichts anderes als heißeLuft und Stanzen. Der Verdruss über Europa hat auchmit dieser Art von Reden zu tun, die Sie hier liefern.
Es war kein einziger neuer Gedanke und kein konkreterVorschlag zu hören, sondern lediglich das Mantra vonGuido Westerwelle zwei Tage vor der nordrhein-westfä-lischen Landtagswahl. Das ist der Grund für Ihre Regie-rungserklärung. Das ist aber keine Regierungserklärungvon Guido Westerwelle. Das hätte eine Regierungserklä-rung der Bundesregierung sein sollen, die in diesemPunkt sträflich versagt.
Lassen Sie uns einmal Klartext reden, HerrWesterwelle, über das, was Sie in den letzten zwei, dreiJahren unterlassen haben: Ihr Zögern und Zaudern, auchdie Feigheit der Bundeskanzlerin, den Menschen dieWahrheit über das Ausmaß der Krise zu sagen, und dieUnfähigkeit, Wachstumsinitiativen auf den Weg zu brin-gen, sowie der Glaube daran, dass man allein mit Hilfs-krediten und kurzfristigen fiskalischen Auflagen Europaaus der Krise führen kann – dieser Weg ist es, derEuropa im Moment noch tiefer in die Krise führt, anstattEuropa herauszuführen.
Wenn Sie uns nicht glauben, Herr Westerwelle, dannhören Sie wenigstens auf das, was Ihnen inzwischen dieganze Welt ins Stammbuch schreibt. Hören Sie aufChristine Lagarde, die Chefin des IWF. Hören Sie aufBill Clinton, der sich zu diesem Thema geäußert hat. Hö-ren Sie auf den Nobelpreisträger für Ökonomie, PaulKrugman, der Ihnen das ins Stammbuch geschrieben hat.Ja, Strukturreformen sind notwendig. Das ist gar keineFrage. Davon haben wir übrigens ein bisschen mehr Ah-nung als diese Regierung; das will ich klar sagen.
Ich sage Ihnen einmal etwas, Herr Brüderle: Dampf-plauderreden, wie Sie sie hier halten, kann jeder. Wirhingegen haben uns darangemacht, schwierige und mu-tige Entscheidungen zu treffen, und das hat Deutschlandgedient. Das waren wir und nicht Sie.
Jetzt will ich Ihnen etwas zu dem Popanz sagen, denSie hier aufbauen: Es ist doch überhaupt gar keine Frage,dass Länder, die Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeithaben, auch langfristig wirkende Strukturreformen brau-chen. Das bezweifelt niemand. Es ist auch keine Frage,dass Europa Haushaltsdisziplin braucht. Die Staatenmüssen unabhängiger werden von den Launen der
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Finanzmärkte und ihrer Finanzierung. Ganz klar ist aberauch: Ohne Wachstumsperspektiven und wirtschaftlicheDynamik gelingt es nicht, die Haushalte zu konsoli-dieren, und Wachstum braucht Investitionen, HerrWesterwelle. Das ist in dieser Situation wichtig, aber dashaben Sie nicht begriffen.
– Private und öffentliche Investitionen; das sage ich Ih-nen. – Das haben Sie nicht begriffen. Private Investitio-nen fallen nicht vom Himmel, zumal nicht in dieser Si-tuation. Dafür braucht man mutige Politik und mutigeInitiativen. Ich will Ihnen dazu gleich ein paar Vor-schläge machen.
Niemand bezweifelt – das sage ich noch einmal –,dass wir von der Staatsverschuldung in Europa herunter-müssen. Aber schon die Krisenanalyse, die Sie hier zim-mern, stimmt so nicht.
Ja, es gab Staaten, die fiskalisch weit über ihre Verhält-nisse gelebt haben. Das ist Politikversagen. Aber es gabauch Staaten wie Irland und Spanien, wo es kein Politik-versagen oder Haushaltsversagen gab, das zu einem De-fizit führte. In Irland ist eine Finanzblase geplatzt, inSpanien eine Immobilienblase. Dann musste der Staatins Obligo gehen und Banken retten. Das ist der Grund,warum diese Länder im Defizit sind. Dort hat nicht Poli-tik versagt, sondern die Finanzkrise hat diese Länder inSchieflage gebracht. Das verschweigen Sie, weil es nichtin Ihr Weltbild passt.
Vor Jahren haben Sie uns Irland noch als leuchtendesBeispiel genannt. Der keltische Tiger, die Zukunft dertollen Finanzmarktdienstleistungen, der Abschied vonder Industrie – das war jahrelang das Mantra von GuidoWesterwelle in diesem Parlament. Wohin das führt, kön-nen wir gerade in Irland beobachten.
Darüber müssen wir einmal reden. Herr Westerwelle,wir haben Ihre fünf oder sechs Punkte mit großer Auf-merksamkeit verfolgt,
und wir haben festgestellt, dass Sie im Rahmen dessen,was man sich mit Copy and Paste an Überschriften auseuropäischen Papieren ziehen kann, einen großartigenRedenschreiber haben.
Lassen Sie uns jetzt über fünf konkrete Vorschläge re-den. Ich willen wissen, wie sich diese Bundesregierungdazu verhält.Erstens. Um öffentliche und private Investitionen zubündeln, um Investitionsimpulse für Wachstum inEuropa zu generieren, schlagen wir Ihnen die Gründungeines Investitions- und Aufbaufonds vor, gespeist ausden Mitteln der europäischen Strukturhilfen – die dasind –, aus einer Umsteuerung bei der Strukturförderungim Agrarsektor, die in den Krisenländern zum Teil voll-kommen falsch geleitet war – warum Sie dazu keinenSatz sagen, weiß ich nicht –, und dem Aufkommen einerFinanztransaktionsteuer; das Wort fehlt bei Ihnen.
Wir wollen nicht neue Schulden machen. Wir brau-chen die Besteuerung der Finanzmärkte, um Wachstums-impulse zu bekommen. Herr Westerwelle, da sind Sieder Bremser in Europa. Dass Frau Merkel hilflos inEuropa herumstrauchelt und sagt: „Privat bin auch ich ir-gendwie für eine Finanztransaktionsteuer, aber ichschaffe es nicht einmal, das in meiner eigenen Koalitiondurchzusetzen“, das zeigt, dass das Chaos von Schwarz-Gelb zum Problem für Europa geworden ist.
Also: Sind Sie für einen solchen Investitions- und Auf-baufonds, ja oder nein?Zweitens. Sind Sie für die Beteiligung des Finanz-sektors? Sagen Sie doch einmal einen Satz dazu, wasdiese Bundesregierung auf dem nächsten europäischenGipfel in Sachen Finanztransaktionsteuer auf den Wegbringen will. Die Chance ist jetzt nach der Wahl inFrankreich noch größer. Es gibt immer mehr Verbündete.Die Einzigen, die es nicht begriffen haben, sind die Men-schen, die der FDP angehören.Drittens. Sie haben erfreulicherweise – vielleicht hatHerr Hoyer, der neue Chef der Europäischen Investi-tionsbank, Ihrem Redenschreiber das zugearbeitet – dieEuropäische Investitionsbank als ein wesentliches In-strument genannt, um private und öffentliche Investitio-nen zu mobilisieren – vollkommen d'accord –, aber Siehaben keine Idee, wie Sie die Europäische Investitions-bank als Instrument in dieser Situation stärken können,um öffentliche und private Investitionen miteinander zuverbinden. Herr Westerwelle, sind Sie bereit, den Men-schen in Deutschland offen zu sagen, dass das nicht geht,wenn man nicht die Möglichkeiten der Europäischen In-vestitionsbank, zum Beispiel durch die Erhöhung desStammkapitals der Mitgliedstaaten, ausbaut?Viertens. Sie haben sehr nebelig davon gesprochen,dass man auch innovative Möglichkeiten der Public-Pri-
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vate-Partnerships zur Finanzierung von Infrastrukturnutzen soll. Was meinen Sie eigentlich damit? MeinenSie das Instrument der Projektanleihen? Das ist ein gutesInstrument. Meinen Sie die Möglichkeit, dass wir öffent-liches und privates Kapital in die Netze investieren, indie Telekommunikationsnetze, in Energienetze und inVerkehrswege? Dann sagen Sie das. Aber Sie habendoch Projektbonds schon fast wieder ausgeschlossen.Sie sagen den Menschen nicht, dass wir das brauchen,um diese Investitionen in diesem Land tatsächlich zu he-beln.
Nein, Sie sind jemand, der morgen schon wieder fressenmuss, was er gestern ausgeschlossen hat.Ich sage ihnen – fünftens – auch: Mich hat richtig ent-täuscht,
dass Sie neben den Weihrauchreden über Europa mit dengestanzten Formeln, die in Europa keiner mehr hörenkann und die das Vertrauen untergraben, nicht einen Satzzur Jugendarbeitslosigkeit in den Defizitländern gesagthaben. Sie sprechen von Herz und Leidenschaft. Ihnenfehlt aber jegliche Empathie mit den jungen Menschenim Süden Europas, die keine Perspektive haben.
Ihnen fehlt jede Idee für ein Sofortprogramm zur Be-kämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das wir fordern.Wenn in Spanien jeder dritte junge Mensch arbeitslos ist,wenn die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland bei fast50 Prozent liegt, dann kann man nicht dabei zugucken,dass eine ganze verlorene Generation perspektivlos ist.
Dann brauchen wir auch arbeitsmarktpolitische Maßnah-men und Qualifizierungsmaßnahmen. Dass Sie dazukonkrete Vorschläge machen, hätten wir erwartet.
Unter Strukturreformen, Herr Westerwelle, verstehenSie höchstens die Deregulierung des Taxigewerbes inGriechenland. Das hat mit wirtschaftspolitischem Sach-verstand nichts zu tun. Ich sage Ihnen: Der fehlende Mutdieser Regierung, der fehlende Mut von Angela Merkelund Guido Westerwelle,
hat Europa schon Schaden zugefügt.
Die Realität wird aber in diesem Sommer über Sie hin-weggehen. Dessen bin ich mir sicher.Herzlichen Dank.
Gunther Krichbaum erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Kollege Heil, ich habe Ihnen sehraufmerksam zugehört.
Eines ist sicher: Mit Ihnen hätten wir den Weg aus derKrise nicht geschafft, und mit Ihnen würden wir denWeg aus der Krise nicht schaffen.
Vor zwei Tagen jährte sich die Schuman-Erklärung.Robert Schuman, damaliger französischer Außenminis-ter, unterbreitete Deutschland einen revolutionären Vor-schlag: Nach einem entsetzlichen Krieg, von Deutsch-land verursacht, sollten Kohle und Stahl für die Zukunftunter eine gemeinsame Verantwortung gestellt werden,Rohstoffe, die leider auch für die Rüstungsindustriemaßgeblich waren und die deswegen auch mit die Ursa-che für viele Kriege waren. Dies war die Geburtsstundeder europäischen Integration. Sozusagen im Zeitrafferdargestellt: Es folgten 1957 mit den Römischen Verträ-gen die Gründung der Europäischen Gemeinschaft undmit dem Vertrag von Maastricht 1992 die Gründung derEuropäischen Union.Aus den Jahrzehnten der Zusammenarbeit erwuchsenFrieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie,Wohlstand und auch sozialer Fortschritt, wie Sie, HerrAußenminister Westerwelle, es vorhin richtig benannthaben. Der Wechsel von EG zu EU bedeutete sicherlichmehr als nur den Austausch eines Buchstabens. Mit derVerwirklichung einer Union war auch der Anspruch ver-bunden, Probleme in Zukunft politisch lösen zu wollen.Dies war ein politischer Anspruch. So ist es auch jetztein politischer Anspruch, auf die aktuellen Herausforde-rungen zu reagieren und diese Krise bewältigen zu wol-len.Ich glaube, an dieser Stelle dürfen wir die Ursachendieser Krise nicht ausblenden. Die Ursachen lagen darin,dass viele Staaten auf der Welt über ihre Verhältnisse ge-lebt haben
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Gunther Krichbaum
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und dass die Ausgaben weit über den Einnahmen lagen.Die Pleite einer Bank namens Lehman Brothers verän-derte, ausgehend von den Vereinigten Staaten von Ame-rika, die Welt und auch Europa. Das, was lange Zeit alsein Axiom galt, dass nämlich europäische Staaten ihrenRückzahlungsverpflichtungen nachkommen können, ge-riet plötzlich in Zweifel. Mit den Zweifeln schwand dasVertrauen. Mit dem schwindenden Vertrauen stiegen dieZinsen. Wir müssen genau dort ansetzen, wo die Ursa-chen dieser Krise liegen: bei einer überbordenden Ver-schuldungspolitik.Der erste Schritt ist, dass die Haushalte innerhalb derEuropäischen Union konsolidiert werden und die Staatenihrerseits Strukturreformen durchführen müssen, weilwir sonst gar keine Möglichkeit haben, mit Hilfe anzu-setzen.
Sie haben es richtigerweise gesagt, Herr Außenminister:Erst einmal müssen sich die betreffenden Staaten selbsthelfen. Da wir oftmals allgemein von Strukturreformensprechen, sei dies an nur zwei Beispielen etwas konkreti-siert.Beispiel Nummer eins: Spanien. Ja, es ist richtig: DieJugendarbeitslosigkeit ist hier viel zu hoch. Ich muss Ih-nen aber sagen, dass gerade auf dem spanischen Arbeits-markt abstrus hohe Abfindungsregelungen existieren,die mittelständische und kleine Betriebe davon abhalten– auch bei Auftragslagen, die das eigentlich rechtferti-gen würden –, Mitarbeiter einzustellen. Genau daranliegt es, dass der Arbeitsmarkt mit der Auftragslage derFirmen nicht zusammengebracht werden kann.Beispiel Nummer zwei: Griechenland. Die Außen-stände des griechischen Staates bei den Steuerforderun-gen liegen bei einer Größenordnung von 60 MilliardenEuro. Das ist deutlich mehr, als wir im ersten Griechen-land-Paket allein an möglichen Privatisierungserlösenangesetzt haben. Das heißt, es geht hier gar nicht darum,nur entsprechende Gesetzeslagen zu schaffen – sie exis-tieren dort bereits –, sondern darum, Gesetze zu vollzie-hen.Allein an diesen Beispielen wird deutlich, wo wir an-setzen müssen.Ich möchte auch den Blick auf die bisherige Politikder Europäischen Kommission und der EuropäischeUnion lenken:Gerade in diesen Tagen kann man schon etwas irri-tiert sein, wenn versucht wird, den Eindruck zu erwe-cken, als würden Wettbewerbspolitik und Wachstums-politik etwas ganz Neues für die Europäische Kommissionund die Europäische Union bedeuten. Seit wir ab 1957die Strukturfonds und später auch die Kohäsionsfondshaben, ist es eine der Maximen der Europäischen Union,Wachstum und Beschäftigung in der EuropäischenUnion zu fördern. Last, but not least dokumentiert sichdas in der Agenda 2020, einer Wachstumsagenda, undauch in den Beschlüssen des letzten Europäischen Rates,die Sie, Herr Außenminister, vorhin noch einmal darge-stellt haben. Deswegen möchte ich mir hier weitere Aus-führungen dazu sparen.
Eines ist aber sicher: Genau diese Dinge, die jetzt oft-mals lautstark gefordert werden – auch von einem Nach-barland –, gibt es längst, und sie werden jetzt mit Sicher-heit auch konkretisiert werden.Wenn wir über Europa, den politischen Anspruch unddie Krise sprechen, dann dürfen wir auch nicht das ver-gessen, was uns Europa in der Vergangenheit gebrachthat, nämlich Errungenschaften, um die wir weltweit be-neidet werden. Ich habe sie vorhin schon genannt: Frie-den, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. All das ist allesandere als selbstverständlich. Diese Werte und Errun-genschaften zu bewahren, muss eine Vision sein, die wirerfüllen müssen – erst recht vor dem Hintergrund, dasswir in Europa immer weniger werden.Heute repräsentieren wir Europäer nur noch einenBruchteil der Weltbevölkerung. Am Ende dieses Jahr-hunderts werden wir nur noch 4 Prozent sein. Die deut-sche Bevölkerung hat schon heute nur noch einen Anteilvon 1 Prozent an der Weltbevölkerung. Das bedeutet imZeitalter der Globalisierung, dass wir nüchtern auf dieRealitäten schauen müssen.Wir sind dazu verurteilt – in Anführungszeichen –,zusammenzuarbeiten und zusammenzuwirken. Die He-rausforderungen durch die Finanz- und Wirtschaftskrisesind unglaublich hoch. Dazu kommen noch: der Klima-wandel, die Gewährleistung von Sicherheit – allein mitBlick auf den Iran wird hier manches deutlich –, aberauch eine Industriepolitik, die uns unabhängig macht,auch von Märkten in der Welt. Hierzu kann ich Ihnenauch zwei Beispiele nennen: Hätten wir Airbus nicht,dann gäbe es in der Welt nur Boeing; hätten wir Galileonicht, gäbe es auf der Welt nur GPS. – Daneben geht esum die Sicherheit der Rohstoffversorgung, die Sicherheitder Energieversorgung und auch um die Bewahrung un-serer sozialen Standards. Deswegen müssen wir alles da-rauf richten, auch diese Werte zu bewahren.Eine Vision muss aber auch dem afrikanischen Konti-nent gelten. Die Bekämpfung des Hungers und dieSchaffung von Lebensperspektiven verlangen geradezunach einer europäischen Entwicklungspolitik. Der arabi-sche Frühling droht in einigen Ländern schon heute zueinem demokratischen Herbst zu werden.Es kann uns als Europäischer Union nicht egal sein,was dort vor Europas Haustüre passiert. Wir müssen des-wegen bereit sein, auch unsere Märkte zu öffnen, dortproduzierte Ware nach Europa hereinzulassen, auchwenn das mehr Wettbewerb und Konkurrenz für hiesigeLänder und hiesige Unternehmen bedeutet. Wenn wirdas nicht schaffen, wird der Migrationsdruck – das istbisher nur die Spitze des Eisberges –, der gegenwärtig inEuropa zu spüren ist, weiter zunehmen.Herr Außenminister, ich bin Ihnen dankbar, dass Sieauch die Verhältnisse in Belarus und der Ukraine ange-sprochen haben. Gerade dort sind die Wahrung von
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Gunther Krichbaum
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Menschenrechten und die Schaffung von demokratischerTeilhabe leider noch nicht verwirklicht. Bei dieser Gele-genheit möchte ich insbesondere den vielen NGOs undauch unseren politischen Stiftungen danken, die geradehier eine hervorragende Arbeit leisten. Das ist eine In-vestition in die Demokratie. Deswegen sollte geradeauch, lieber Norbert Barthle, was die Haushaltsverhand-lungen angeht, die Arbeit der Stiftungen eine ganz be-sondere Berücksichtigung finden.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir werdendie Herausforderungen, von denen ich eben gesprochenhabe, nur gemeinsam bewältigen können. Eines fällt auf:Wir werden von außen als wesentlich stärker wahrge-nommen als von uns selbst. Deswegen können wir es ru-hig einmal wagen, den Blick nach außen zu richten. DieUSA sind ein Land, das mit einer Staatsverschuldungvon 15 Billionen Dollar kämpft. Auf der anderen Seitehaben wir China, das freien Zugang zum Markt in denUSA bekommt, aber im Gegenzug die amerikanischenBonds kauft und damit den Markt finanziert. In Chinadarf die Duldsamkeit der Menschen nicht mit Stabilitätverwechselt werden; die Ereignisse von 1989 haben da-rauf ein Schlaglicht geworfen. Deswegen: Auch dieseLänder und Regionen haben ihre Probleme; mit ihnenmöchte ich nicht unbedingt tauschen.
Herr Kollege.
Die Ursache der Krise lag mit Sicherheit in einem Zu-
wenig an Europa. Die Lösung kann also nur darin liegen,
dass wir mehr Europa wagen. Wenn wir das beherzigen,
ist mir persönlich um die Zukunft unseres Kontinents
nicht bange.
Vielen Dank.
Sahra Wagenknecht ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Esist schon verblüffend, wie schnell sich die Rhetorik än-dert: Gestern ging es immer nur ums Sparen, jetzt istplötzlich Wachstum das neue Zauberwort. Aber wennman genauer hinhört, dann merkt man – das ist natürlichdas Problem –, dass diese ganze Wachstumsrhetorik ge-nauso verlogen ist wie vorher die Sparrhetorik. Daraufmöchte ich jetzt näher eingehen.Es wurde und wird in Europa überhaupt nicht gespart,sondern der Bevölkerung in Europa werden unter demVorwand der Schuldenbremse brachiale Kürzungspro-gramme diktiert. Gleichzeitig werden unverändert Mil-liarden Euro dafür verpulvert, um Banken, Hedgefondsund Spekulanten von ihrer Verantwortung und von ihrenVerlusten freizukaufen. Das läuft doch gerade.Der nächste große Bankenrettungsschirm ESM wirdin Kürze den Bundestag passieren. Wer tatsächlich dieseunglaubliche öffentliche Schuldenspirale stoppen möchte,der müsste etwas dafür tun, dass genau dieser Wahnsinnein Ende hat. Aber das ist leider noch nicht einmal vonSPD und Grünen zu erwarten.
Er müsste sich auch dafür einsetzen, beispielsweise denWettbewerb der Steuersysteme in Europa zu beenden.Nichts davon ist mit dem Fiskalpakt vorgesehen.Die Länder sollen die demokratische Souveränitätverlieren, dass sie über ihre Ausgabenpolitik selbst de-mokratisch entscheiden können. Aber es ist nicht ge-plant, etwa in Europa höhere und vor allem einheitlicheKonzernsteuern oder beispielsweise eine europaweiteMillionärssteuer für sehr Reiche einzuführen, die vonder Staatsverschuldung mit einem Zuwachs ihres Ver-mögens wesentlich profitiert haben. Nichts davon istvorgesehen.Das zeigt sehr deutlich: Es geht hier überhaupt nichtums Sparen. Es geht auch gar nicht um die Schulden, dieübrigens munter weiter wachsen, allen Konsolidierungs-und Kürzungsorgien zum Trotz,
sondern es geht in Europa um die Zerschlagung des eu-ropäischen Sozialstaats und die Außerkraftsetzung derDemokratie.
Darauf läuft Ihre Politik hinaus, und damit fahren SieEuropa im Eiltempo gegen die Wand. Das müssen wirändern.
Welche Art Wachstum mit dieser Art von Politik er-reicht werden kann, kann man besonders krass in Grie-chenland besichtigen: ein beispielloses Wachstum derArbeitslosigkeit – die Jugendarbeitslosigkeit wurdeschon erwähnt –, ein sagenhaftes Wachstum der Armutund der Obdachlosigkeit und ein erschreckendes Wachs-tum der Selbstmordraten. Die griechische Wirtschafts-leistung dagegen ist allein in den letzten zwei Jahren um11 Prozent geschrumpft, und die privaten Investitionensind sogar um 50 Prozent eingebrochen.Ist das Ihr Modell für Europa, eine verzweifelte Be-völkerung auf der einen Seite, der Löhne, Renten, Ge-sundheitsleistungen und Bildung gnadenlos weggekürztwerden, und eine reiche Oberschicht auf der anderenSeite, deren Vermögen allen Krisen zum Trotz nach wievor kräftig weiterwächst? Ich finde, es ist gut, dass sichdie Menschen in Europa gegen dieses Modell immerstärker zur Wehr setzen.
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Sahra Wagenknecht
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Man muss es immer wieder deutlich sagen: Ein öf-fentlicher Haushalt hat nicht nur eine Ausgaben-, son-dern auch eine Einnahmeseite. Man muss nicht Rentenkürzen und Schulen und Straßen verrotten lassen, damitdie Schulden nicht aus dem Ruder laufen. Man könnte jaauch die Reichen mal wieder etwas heftiger besteuern,nachdem sie jahrelang immer nur entlastet wurden.
Diese Entlastungen ziehen sich wie ein roter Fadendurch die Steuerpolitik in Deutschland, von Rot-Grünbis Schwarz-Gelb.Hätten wir in der Bundesrepublik heute noch dieSteuergesetze der Ära Helmut Kohl mit dem höherenSpitzensteuersatz und einer deutlich höheren Unterneh-mensbesteuerung, dann hätten Bund, Länder und Ge-meinden immerhin 75 Milliarden Euro mehr Einnahmenim Jahr. Allein ein Land wie Nordrhein-Westfalen hätte7,5 Milliarden Euro im Jahr mehr zur Verfügung.
Das heißt, bei gleichen Ausgaben gäbe es heute gar keinDefizit; man würde vielmehr einen Überschuss von4,5 Milliarden Euro erzielen, die man für ein Sozial-ticket und eine bessere Ausstattung der Kommunen ver-wenden könnte. Das wäre alles möglich gewesen.
Die tollen Strukturreformen, die Sie jetzt den anderenEuro-Ländern als Wachstumsbringer andienen, sind zumTeil in Deutschland Realität – das ist wahr –: die Agenda2010, die Deregulierung des Arbeitsmarktes, Hartz IVund die Zerschlagung der gesetzlichen Rente. Was ist da-bei herausgekommen? Herausgekommen ist seit demJahr 2000 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstumvon 1 Prozent. Das ist weniger als in Frankreich und vielweniger als in früheren Jahren der alten Bundesrepublik.Herausgekommen sind Wirtschaftsaufschwünge, die re-gelmäßig an der Mehrheit der Menschen vorbeigehen.Herausgekommen sind Aufschwünge der Profite, derLeiharbeit und Werkverträge. Herausgekommen ist eineSituation, in der immer mehr Menschen nicht mehr vonihrer Arbeit leben können, geschweige denn, dass sienoch irgendeine Aussicht auf eine auskömmliche Rentehaben.Das ist die wahre Bilanz der Agenda 2010. Es istpeinlich, Herr Heil, dass die SPD noch heute darauf stolzist, dass sie die Grundlage dafür gelegt hat.
Nun sollen dieser Generalangriff auf den Wohlstandder großen Mehrheit und die miserable Lohnentwick-lung, die wir infolgedessen in Deutschland seit Jahrenhaben und die inzwischen auch Herrn Schäuble aufgefal-len ist, offensichtlich als Erfolgsmodell auf ganz Europaübertragen werden. Dazu kann ich nur sagen: GuteNacht, Europa!Wer tatsächlich aus dem entstandenen Desaster Kon-sequenzen ziehen möchte, der müsste als Allererstes denESM und auch den Fiskalpakt da hinwerfen, wo sie hin-gehören: in den Reißwolf.
Wenn die SPD einen Rest von sozialem Verantwor-tungsgefühl hätte, dann würden Sie sich nicht immer nurheldenhaft zur Grundsatzkritik aufplustern und am Endedoch immer wieder Merkels Katastrophenkurs brav dieStimme geben. Dann würden Sie diese Art von Politiknämlich stoppen müssen. Aber Sie haben eben diese so-ziale Verantwortung nicht.
Das ist bedauerlich.
Eine Politik, die wild entschlossen scheint, demokra-tische Rechte immer dann außer Kraft zu setzen, wenndie Interessen der Finanzlobby und der Finanzbrancheberührt sind, werden sich die Menschen in Europa aufDauer nicht mehr gefallen lassen. Das ist das Ergebnis,und das zeigen die Wahlen in Griechenland und Frank-reich schon deutlich. Es wird noch mehr geben.Auch in Deutschland werden die Menschen beginnen,sich zu wehren, selbst wenn jetzt wie in Frankfurt ver-sucht wird, solche Proteste schlicht zu verbieten. Daswird nicht gelingen; das sage ich Ihnen.Europa braucht Gegenwehr. Denn Europa brauchteine andere Wirtschafts- und Finanzordnung. Dafürkämpft die Linke.
Ich erteile nun dem Kollegen Joachim Spatz für die
FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Kollegin Wagenknecht, wir tagen zwar hierim Reichstag. Trotzdem finde ich es nicht angemessen,dass Sie hier Reden von 1902 halten und uns alte Re-zepte vorstellen. Wir alle müssten aufgrund der Schul-denkrise erkannt haben, dass Schulden unfrei machen.Sie vergessen immer, dass alles, was Sie einfordern, ir-gendjemand finanzieren muss. Wir haben doch bemerkt:Die Dritten, die das finanzieren, tun das zu immerschlechteren Konditionen und engen die Spielräume derZukunft immer weiter ein. Darum kommen Sie nicht he-rum. Deswegen gibt es zum Konsolidierungskurs über-haupt keine echte Alternative.
Wenn Sie einen Schritt von der Weltkarte zurücktre-ten, werden Sie sehen, dass Europa in eine viel dynami-scher gewordene Welt eingebettet ist. Das macht – dasist unumgänglich – mehr Europa notwendig und nichtweniger Europa. Wir sind – Kollege Krichbaum hat dasschon erwähnt – in vielen Politikbereichen, nicht nur im
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Joachim Spatz
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ökonomischen Bereich – denken Sie nur an das ThemaSicherheit und die neue Schwerpunktsetzung der US-Amerikaner –, dazu verurteilt, mehr Europa zu wagen,um in dieser neuen Welt bestehen zu können. Natürlichmüssen wir uns im Ideenwettbewerb an den Bestenorientieren. Cicero hat einmal gesagt, dass man aufDauer die Schwachen nicht stärken kann, indem man dieStarken schwächt.
Das bedeutet zweierlei: Erstens. Es gab schon damalsUmverteilungspolitiker. Zweitens. Umverteilung warschon damals falsch. Deshalb haben wir uns in Deutsch-land – angefangenen mit der Agenda 2010 – dem neuenDenken und den Reformen gestellt. Das Traurige ist– um noch ein historisches Beispiel zu nennen –, dassSie die Namen derjenigen, die das damals gemacht ha-ben, aus den Geschichtsbüchern tilgen und von den Ste-len meißeln wollen, weil Sie nicht wahrhaben wollen,dass dieser Politikansatz richtig ist.Der ganze Kontinent übt sich im Paradigmenwechsel,weg vom süßen Gift der Verschuldung, hin zu neuer So-lidität. Deshalb ist der Dreiklang, den wir anbieten, näm-lich für Solidarität in Form des ESM zu sorgen, Soliditätin Form des Fiskalpaktes einzufordern und Wachstumdurch eine effizientere Ausgabenpolitik – auch aufseitender Europäischen Union – zu stimulieren, die richtigeAntwort auf die Herausforderungen der Zeit.
Selbstverständlich sind die Hilfen nur ein Angebot.Jede Nation muss sich entscheiden, ob sie den Weg mit-geht, die Griechen genauso wie die Portugiesen und dieIren. Gerade die Iren und die Portugiesen sind mit die-sem Kurs gut gefahren und auf einem richtigen Weg. InPortugal wurde sogar eine Regierung abgewählt, die dieentsprechenden Vereinbarungen unterzeichnet hat, unddurch eine Regierung ersetzt, die noch ehrgeizigere An-sprüche hat. So reif kann ein Volk sein. Aber wir könnenvon außen nur Angebote machen. Umgesetzt werdenmuss es durch die betreffenden Länder.Was das Wachstum betrifft, stehen wir vor Herausfor-derungen in Europa. Hier können wir gemeinsam gestal-ten. Modernisierungen und Investitionen sind dringendnotwendig. Das hat auch die Europäische Kommissionschon festgestellt. Wir alle werden im Zuge der Beratun-gen über den Finanzrahmen des EU-Haushalts für denZeitraum von 2014 bis 2020 die Gelegenheit bekommen,die neuen Schwerpunktsetzungen zu beachten. Ich bingespannt, wie mutig all jene, die das heute einfordern,sein werden, wenn die Mitgliedstaaten, der Rat, das Eu-ropäische Parlament und die Kommission neue Schwer-punkte setzen, und das – so viel wollen wir zahlen – beieinem begrenzten Volumen von 1,0 Prozent des EU-BIP.Ich bin gespannt, ob wir den Mut aufbringen, auch nureinen Bruchteil dessen zu leisten, was wir den Reform-staaten, die unseren Schutzschirm genießen wollen, imMoment abverlangen. Ich bin gespannt, ob wir alle mit-einander das hinbekommen.Meine Worte richten sich an alle, auch an den Kolle-gen Heil. Ich bin gespannt, ob er dazu steht. Er fragt, wodie Finanzierungsinstrumente seien. Er ist nicht mehrhier, aber bitte richten Sie ihm das aus.
Die Antwort darauf ist mit dem Beschluss des DeutschenBundestages zu dem Antrag der Koalition im Dezemberzum mehrjährigen Finanzrahmen gegeben worden. Wirhaben die Finanzierungsmittel ganz genau aufgezähltund dargelegt, wie die Rolle der öffentlichen Finanzie-rung dabei zu bewerten ist. Wenn er sich mehr um In-halte kümmern würde, anstatt oberflächliche Wahl-kampfreden zu halten, wäre ihm das vielleicht nichtentgangen.Wir alle wissen – das ist nicht die übliche Sonntags-rhetorik –, dass Europa die Basis unseres Zusammenle-bens ist. Das gilt für viele Politikbereiche. Wir sind, imbesten Sinne des Wortes, dazu verurteilt, zusammenzu-halten.
Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger Europa. Wirbrauchen es in der Form, in der wir es in 50 Jahren auf-gebaut haben. Dabei müssen alle mitwirken und ihre je-weilige Verantwortung wahrnehmen. Ich kann nur alljene warnen, die mit dem Gedanken liebäugeln, bei derEuropapolitik parteitaktische Erwägungen anzustellen,was gestern an der einen oder anderen Stelle zu befürch-ten war. Am Ende wiegt das Gemeinwohl Europas undDeutschlands mehr als parteitaktische Erwägungen.Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Frithjof Schmidt,Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Außenminister, lassen Sie mich mit einer Gemein-samkeit anfangen; viel mehr werden es leider nicht. Dieeuropäische Einigung ist ein gemeinsames Projekt. Wirverteidigen es gemeinsam, wir müssen gemeinsam daranweiterbauen, und ich glaube, dass wir da zentrale Zieleteilen. Aber was Sie in den letzten zweieinhalb Jahrenpraktisch gemacht haben, verdient wirklich Kritik.
Es gab ein Muster der Krisenreaktion der Bundesregie-rung: Ob Hilfe für Griechenland oder Aufbau des ESFSund dann des ESM – Sie haben erst gezögert, dann Neingesagt. Dann haben Sie zwar gehandelt, aber immer zuspät und immer zu wenig. Das war schlecht für Europaund schlecht für Deutschlands Ansehen.
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21338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Dr. Frithjof Schmidt
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Zwei Schwächen Ihrer Politik sind zentral. Der ersteFehler ist schon sprichwörtlich in Europa geworden.Man nennt ihn die „Methode Merkel“. Das ist – oderbesser: war – die Etablierung eines Direktoriums imEuropäischen Rat gemeinsam mit Herrn Sarkozy. Ja, diedeutsch-französische Kooperation ist zentral; aber siedarf eine Gründungsidee Europas nicht aushebeln,
nämlich die eines zentralen Interessenausgleichs zwi-schen den kleinen und den großen Staaten, zwischen dennördlichen und den südlichen Staaten und zwischen Ost-und Westeuropa. Hier haben Sie die Balance eindeutigverloren. Das wird in weiten Teilen Europas als Anma-ßung verstanden.
Der zweite Kardinalfehler ist Ihr Konzept, nur zu spa-ren, ohne auch zu investieren. Das ist Ihre einäugige Sta-bilitätspolitik. So verschärfen Sie die Krise, so fördernSie die Rezession in weiten Teilen Europas. Meine Frak-tion hat trotzdem den Rettungspaketen für Griechenlandund den Planungen zum ESM aus europäischer Solidari-tät zugestimmt, damit Geld an Krisenländer fließenkann, das sie dringend brauchen, weil sonst die Situationnoch dramatischer geworden wäre.
Das ist uns aber wegen der sozialen Schieflage dieserRettungspakete ausdrücklich nicht leichtgefallen. Wirhaben in den Debatten hier immer deutlich vor den poli-tischen Folgen gewarnt. Die Wahl in Griechenland zeigt,wohin eine Politik führt, die rücksichtslos die sozialenBelange ignoriert, Investitionen zur Stimulierung derKonjunktur unmöglich macht und den Menschen so dieHoffnung nimmt.
Das Scheitern von Präsident Sarkozy in Frankreichhingegen gibt Hoffnung. Gegen jeden politischen Stil hatdie deutsche Kanzlerin für Sarkozy in Frankreich Wahl-werbung betrieben. Damit ist seine Abwahl auch eineNiederlage für Frau Merkel.
Das ist gut so. Das Direktorium Merkozy wurde halbiert,und das ist ein Anfang. Jetzt muss es mit Kurskorrektu-ren an der einäugigen Stabilitätspolitik weitergehen.
Der Fiskalpakt ist ein Torso und eine befristete Hilfs-konstruktion. Er muss – so steht es darin – in maximalfünf Jahren in Europarecht überführt werden. Allerdingshabe ich hier von Ihnen keinerlei Vorschläge gehört, wieSie das machen wollen. Sie unterschlagen immer, dassdas verbindlich ist.
Außerdem muss der Fiskalpakt mit einem Investitions-programm verbunden werden, um dem Ungleichgewichtin der Gemeinschaft zu entgegnen. Darüber will Frank-reich verhandeln, und dafür haben wir bis Ende des Jah-res Zeit.
Es gibt kein objektives Junktim zwischen diesem Paktund der Ratifizierung des ESM. Das ist eine innenpoli-tisch motivierte Konstruktion von Ihnen.
Den ESM können wir sofort ratifizieren; dafür hätten Sieunsere Stimmen. Warum tun wir es also nicht? Hören Sieendlich mit der falschen Verknüpfung auf, dass beidesnur zusammen ginge. Das ist falsch.
Wir brauchen vor allem ein europäisches Programmfür die Entwicklung einer nachhaltigen Struktur mit ei-nem Schwerpunkt auf erneuerbare Energien, wenn wiraus der Krise kommen wollen. Lassen Sie mich zur Be-gründung nur eine Zahl nennen: Für circa zwei Drittelder Leistungsbilanzdefizite in Spanien und Frankreichist der Ölpreisanstieg verantwortlich. Das sind die Zah-len von Eurostat. Deshalb ist es gut, wenn FrançoisHollande Vorschläge zur Finanzierung solcher Investi-tionen macht wie die Ausweitung der Programme derEuropäischen Investitionsbank und eine Erhöhung desStammkapitals. Das brauchen wir.
Es ist falsch, wenn Deutschland hier bremst; es istfalsch, wenn die FDP da bremst. Sie sollten dabei helfen,die Banken und Märkte endlich zur Finanzierung derKosten der Krise heranzuziehen, aber Sie weigern sich.Eine Finanztransaktionsteuer ist notwendig, damitEuropa profitiert. Das haben Sie nicht verstanden.
Stattdessen macht der Bundesumweltminister imWahlkampf in Nordrhein-Westfalen polemische Stim-mung gegen den neuen französischen Präsidenten. HerrRöttgen schürt antieuropäische Affekte, um Stimmenvon rechts zu bekommen, und zündelt an der deutsch-französischen Freundschaft. Dass Sie das in Ihren Rei-hen dulden, ist ein völliges europapolitisches Versagen.Da nützen auch alle schönen Worte des Außenministersgar nichts.Danke für die Aufmerksamkeit.
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Der Kollege Thomas Silberhorn erhält nun das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wachstum ist kein Selbstzweck. Ziel der Krisenbewälti-gung muss sein, dass die Staaten der Euro-Zone ihreKreditwürdigkeit wiedergewinnen und damit auch ihrepolitische Handlungsfähigkeit wiederherstellen. Das istdie Zielsetzung unserer Strategie zur Krisenbewältigung,und dazu kann man in der Tat Wachstum gebrauchen.Aber vor allem müssen diese Staaten wettbewerbsfähigwerden. Um das zu erreichen, führt an einer Konsolidie-rung der öffentlichen Finanzen und auch an Struktur-reformen in Wirtschaft und Verwaltung kein Weg vorbei.
Mehr einnehmen als ausgeben wäre der richtige Weg;aber mehr ausgeben als einnehmen, das funktioniert nir-gendwo auf der Welt, auch nicht außerhalb der Euro-Zone.
Wir sehen in Griechenland, dass der Konsum der Ge-sellschaft größer ist als die Wirtschaftsleistung. Dabliebe theoretisch nichts mehr übrig für Investitionen deröffentlichen Hand oder für Zins- und Tilgungsleistun-gen. Deswegen müssen wir in einem Land wie Grie-chenland darauf achten, dass wieder Spielraum entsteht.Die Griechen müssen nolens volens billiger werden; siemüssen abwerten. Sie können nicht mehr konsumieren,als sie überhaupt erwirtschaften. Wenn man die Abwer-tung in der Euro-Zone vornimmt, dann führt natürlichauch kein Weg daran vorbei, dass Löhne und sozialeLeistungen gekürzt werden.Aber auch außerhalb der Euro-Zone ist es unabding-bar, dass die Staaten ausgeglichene Haushalte anstreben.Wir brauchen nachhaltige Solidität im Interesse künfti-ger Generationen, und deswegen ist die Konsolidierungder öffentlichen Finanzen der erste und wichtigsteSchritt in der Krisenbewältigung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die struktu-rellen Reformen, die wir in Wirtschaft und Verwaltungbrauchen, sind ein kostenloses Wachstumsprogramm.Das können alle tun, ohne neue Schulden zu machen. Esgibt genügend Handlungsspielräume und Ansätze, umdie Verwaltung in überschuldeten Staaten effizienter zugestalten, um die Arbeitsmärkte flexibler zu machen, umAnreize für Investitionen und für Innovationen zu set-zen, im Mittelstand wie in der Industrie. Wir brauchennatürlich europaweit auch ein gemeinsames Verständnisdafür, dass wir unsere sozialen Sicherungssysteme gene-rationenfest machen müssen; denn wir haben die Situa-tion, dass die Bevölkerungen in Europa kleiner werden.Ohne Sparen und ohne Reformen gibt es keinen stabilenEuro.
Nun sagt der Kollege Heil, Wachstum brauche Inves-titionen. Dem stimme ich durchaus zu. Aber wir brau-chen private Investitionen.
Wir müssen privates Kapital akquirieren. Das Problem,das wir in Griechenland und in anderen verschuldetenStaaten der Euro-Zone sehen, ist doch, dass eine Kapital-flucht aus diesen Ländern stattfindet. Das ist ein Belegdafür, dass ein Vertrauensverlust eingetreten ist. Die In-vestoren packen nicht an; sie warten ab. Deswegen müs-sen wir die Frage beantworten, was wir tun können,
um dafür zu sorgen, dass privates Kapital wieder inves-tiert wird. Man muss die Rahmenbedingungen für dieprivaten Haushalte und für die Unternehmen stärken,
um Konsum und Investitionen anzureizen. Aber dazubedarf es vor allem der Reformbereitschaft der Regie-rungen. Sie müssen unter Beweis stellen, dass sie sichernsthaft und zielstrebig den Realitäten stellen. Sonstbrauchen wir über Wachstumsprogramme nicht zu re-den.Wachstum braucht sicher Investitionen, aber Wachs-tum braucht keine neuen Schulden. Wer jetzt auf neueAusgabenprogramme setzt, der nährt geradezu neueZweifel am Reformwillen der Regierungen. Das wäreein fatales Signal im Sinne von Weiter-so. Ich kann ver-stehen, dass in manchen verschuldeten Staaten die Be-völkerung durchaus erwartet, im Wesentlichen so weiter-machen zu können wie bisher. Aber ich glaube, dass esin der politischen Verantwortung liegt, den Menschen zusagen, dass das nicht gehen wird. Wir müssen uns verän-dern. Ein Weiter-so kann nicht zum Erfolg führen. Des-wegen darf man nicht mit neuen Schuldenprogrammenfalsche Anreize setzen. Das würde die Probleme nur ver-schärfen.
Es gibt keine einfachen Lösungen. Ohne Sparen undohne Reformen geht es nicht.Wachstum ist dann vorhanden, wenn die Einnahmendes Staates steigen, und nicht, wenn die Schulden stei-gen. Deswegen ist es so wichtig, dass der Fiskalvertragumgesetzt wird, dass wir uns selbst disziplinieren durchdie Schuldenbremse, die wir im deutschen Grundgesetzbereits haben und die wir in ganz Europa einführen wol-len.Ich darf aus bayerischer Sicht hinzufügen: Es kanngelingen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
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21340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Thomas Silberhorn
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Wir haben in Bayern jetzt im siebten Jahr in Folge keineneuen Schulden im Haushalt.
Wir haben uns ganz konkret das Ziel gesetzt, auch die al-ten Schulden vollständig abzubauen. Das zeigt: Wirmüssen die richtigen politischen Ziele setzen und uns aufden Weg machen. Die politische Reformbereitschaft er-fordert auch ein klares politisches Bekenntnis zum Spa-ren und zu Reformen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die aktuelleKrise ist sicherlich zum einen Anlass, eine Standortbe-stimmung vorzunehmen – wo stehen wir gerade? –, zumanderen, eine strategische Debatte darüber zu führen,wohin uns das Ganze führt. Ich möchte an dieser Stelleein bisschen Wasser in den Wein gießen, der unter derChiffre „Mehr Europa“ ausgegossen wird.
„Mehr Europa“ ist offenkundig eine etwas elitäre Ant-wort einer Diskussion, die nur unter politischen Elitenund Akademikern geführt wird, bei der es darum geht,die Integration zu beschleunigen. Ist es nicht so, dass dieBevölkerung eine ganz andere Debatte führt, dass wir ei-nen Vertrauensverlust zu beklagen haben,
dass die politische Akzeptanz der europäischen Integra-tion schwindet? Glauben Sie wirklich, dass man dieKluft zwischen politischen Eliten und der Bevölkerungdadurch überwinden kann, dass man eindimensional auf„Mehr Europa“ setzt?
Müssten wir nicht die Frage „Wie kann man diese Kluftüberwinden?“ beantworten.
Ich glaube, dass viele in der Bevölkerung zumindestden Eindruck gewinnen, dass Europa schon mit den vor-handenen Aufgaben nicht ganz zurechtkommt.
Deswegen wird zu Recht die Frage gestellt: Kann mandas bewältigen, indem man darüber diskutiert, neue Auf-gaben auf Europa zu übertragen?
Wir müssen zunächst einmal die vorhandenen Aufgabenerfolgreich bewältigen. Angesichts dessen sollte mandiese Debatte nicht paralysieren, indem man über neueAufgaben für Europa nachdenkt.
Diese Eindimensionalität beklage ich.Was wir brauchen, ist nicht der eindimensionale Weg„Mehr Europa“, sondern eine dreidimensionale Lösung.Diese Lösung beinhaltet erstens, dass wir die vorhande-nen Aufgaben erfolgreich bewältigen und unsere inter-nen Mängel abstellen. Dazu gehört in der Tat ein biss-chen mehr Europa; denn die internen Mängel zeigen,dass wir mit dem Rahmen der Währungsunion so nichtzurechtkommen und nachjustieren müssen. Diese Lö-sung beinhaltet zweitens, dass wir die Frage stellen, wiewir Europa in der Welt starkmachen können. Europastark nach außen zu präsentieren, das ist eine wichtigeAufgabe. Diese Lösung beinhaltet drittens, dass wirschlanker nach innen werden. Europa muss stark nachaußen, aber schlank nach innen sein. Wir müssen inso-fern die Europäische Union umbauen und sie nicht nachinnen weiter ausbauen. Wir müssen auch darüber nach-denken, welche Kompetenzen man auf die nationaleEbene zurückverlagern kann. Das sollte aber nicht in derForm geschehen, in der es die Europäische Zentralbanktut, indem sie die Geldpolitik renationalisiert.
Ich rede nicht über Renationalisierung. Ich will nurvermeiden, dass es eine einseitige Zentralisierung inEuropa gibt. Was wir brauchen, ist eine ausgewogeneBalance zwischen der europäischen Ebene einerseits undden Mitgliedstaaten und den Regionen andererseits. Dasist kein nationales, das ist vielmehr ein gemeinsames eu-ropäisches Interesse; denn nur die Ausgewogenheit, dieBalance, garantiert, dass wir den eingetretenen Vertrau-ensverlust überwinden und neues Vertrauen in die euro-päische Integration begründen können.Europas Reichtum besteht in dieser Vielfalt, die un-sere Mitgliedstaaten und Regionen zum Ausdruck brin-gen. Wir sind in Europa über die Jahrhunderte deswegenso erfolgreich gewesen, weil wir nicht in großen Reichenorganisiert waren, wo niemand der Knute der Lehnsher-ren entkommen konnte. Der Reichtum Europas ist viel-mehr deshalb entstanden, weil wir so kleine Gebilde hat-ten, dass diejenigen, die mit ihren Lehnsherren nichtzurechtkamen, woandershin gehen konnten.
Das war eine Ursache für Aufklärung, für freiheitlicheGesellschaftsformen, die sich in Europa entwickelt ha-ben. Freiheit und Vielfalt sind also der Reichtum Euro-pas. Die europäische Integration wird dann erfolgreichvoranschreiten, wenn wir weiter auf Freiheit und Wett-bewerbsfähigkeit setzen.Vielen Dank.
Michael Roth ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21341
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Welches Bild haben viele, leider zu viele Bürgerinnenund Bürger derzeit von Europa? Dieses Bild ist ziemlichjämmerlich. Dieses Bild ist ziemlich deprimierend. Zusehen sind demonstrierende Jugendliche auf den Plätzender europäischen Hauptstädte, brennende Europaflag-gen, Nazisymbole, feilschende Staats- und Regierungs-chefs, die in Nachtsitzungen zusammenkommen unddann ihre mühselig erzielten Kompromisse schlecht-gelaunt und übernächtigt den Medienvertretern zu ver-kaufen versuchen. Ich frage Sie, Herr Außenminister,und ich frage die Bundesregierung: Was tun Sie konkret,um den Bürgerinnen und Bürgern ein anderes, ein hoff-nungsvolleres Bild von Europa entgegenzuhalten? Spä-testens nach dieser Rede von Ihnen, Herr Außenminister,ist deutlich geworden: Sie tun nichts. Sie tun rein garnichts.
Sie haben zwar vor wenigen Wochen eine Kommuni-kationsstrategie angekündigt, aber die ist nicht die Tintewert, mit der sie geschrieben wurde. Das alles ist eineAnsammlung von Allgemeinplätzen und trifft auch nichtdas Problem in seinem Kern, nämlich: Wie können wirdie Bürgerinnen und Bürger wieder davon überzeugen,dass Europa eben nicht Teil des Problems, sondern Teilder Lösung ist? Dazu habe ich außer dem allgemeinenplattitüdenhaften Vortragen von Dingen, die wir schonlängst irgendwo gelesen und gehört haben, nichts Neuesvermerken können. Da kann man nur sagen: Gut, dassSie nicht mehr Europaminister der BundesrepublikDeutschland sind!
Das Auswärtige Amt hat als Europaministerium aus-gedient. Wir erleben einen dramatischen Niedergang desAuswärtigen Amts als zentrales Steuerungsministerium,wenn es um Europaangelegenheiten geht. Dafür trägtnicht allein der Lissabon-Vertrag Verantwortung – diePosition des Regierungschefs, der Kanzlerin, die Posi-tion des Kanzleramts wurde gestärkt; Frau Merkel istseitens der Bundesregierung weitgehend die alleinigeGipfelstürmerin –, sondern das liegt auch an Ihnen per-sönlich. Sie haben viel zu lange geschwiegen, Sie warenviel zu lange der Herr Westerwelle und nicht der Bun-desaußenminister. Sie laden jetzt einmal ein paar Außen-minister ein – aber auch nur einige –, reflektieren, trin-ken zusammen eine Tasse Kaffee und meinen, damitwürden wir Europa voranbringen. Das alles ist nur Sym-bolpolitik, viel heiße Luft, wenig Substanz. Das ist auchheute in Ihrer Rede zum Ausdruck gekommen.
Auch da, wo das Auswärtige Amt noch über europa-politische Kompetenzen verfügt, nämlich wenn es da-rum geht, konkret dazu beizutragen, dass Europa mit ei-ner Stimme spricht, haben Sie versagt. Ich erinnere nuran das Libyen-Desaster, wo Sie sich mit Ihrer Enthaltungdagegen gesperrt haben, dass die Europäische Union ineinem der zentralen Felder der Außen- und Sicherheits-politik mit einer Stimme zu sprechen vermag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, welches Bild ver-mitteln wir als Europäer im Ausland? Da müssen wireinmal Amerikaner fragen. Da müssen wir einmal an-dere fragen. Wir bekommen überall dieselbe Antwort:Ihr Europäer bekommt die Probleme nicht in den Griff.Frau Merkel klopft bei Madame Lagarde an. Sie bittetdarum, dass der Internationale Währungsfonds die Mit-tel aufstockt. Was ist eigentlich aus dem Vorschlag derSozialdemokratie geworden, den BundesfinanzministerSchäuble dankenswerterweise aufgegriffen hat, einen ei-genen europäischen Währungsfonds zu schaffen? Sokönnten wir selber einen Beitrag dazu leisten, aus derKrise zu kommen. So bräuchten wir nicht ständig immernur die internationale Solidarität einzufordern, sondernkönnten sagen: Wir haben ein europäisches Problem,und dieses europäische Problem wollen wir auch ge-meinsam lösen. – Da kommt von Ihnen gar nichts.
Genauso desaströs sieht das Bild bei der Krisenbe-schreibung aus. Wir haben viel zu lange den Eindruckerweckt, wir hätten es in erster Linie mit einer Staats-schuldenkrise zu tun. Das hat mich jetzt etwas optimis-tisch gestimmt, weil ich den Eindruck hatte, Sie hättenverstanden, dass es nicht allein darum geht. Wir habendoch eine politische Krise. Wir haben eine institutionelleKrise. Alle wissen doch: Der Geburtsfehler von Maas-tricht wird durch all das, was Sie jetzt auf den Weg zubringen versuchen, nicht geheilt. Eine gemeinsameWährung funktioniert eben nicht ohne koordinierte Wirt-schaftspolitik, ohne abgestimmte Sozial-, Steuer- undBeschäftigungspolitik.
Sie aber reden ständig nur von Haushaltskonsolidierungund Schuldenabbau. Diesen Weg sind wir bereit mitzu-gehen, aber nur, wenn Sie Ihren wohlfeilen Worten zumehr Wachstum und Beschäftigung dann auch Taten fol-gen lassen. Wir sind ja dankbar, dass Sie langsam auf dieLinie der SPD einzuschwenken versuchen,
indem Sie sagen: Wir brauchen auch Wachstum und Be-schäftigung. – Das ist schon einmal anerkennenswert.Wir sind jetzt gespannt, was Sie gemeinsam mit FrançoisHollande und den anderen Staats- und Regierungschefshinbekommen.Wir fordern eine Wirtschaftskoordination, die demo-kratischen und sozialen Ansprüchen gerecht wird. Siehaben ein Europa der Hinterzimmer und der Regierun-gen geschaffen. Wir wollen ein Europa der Parlamente,ein Europa der demokratischen Strukturen und einEuropa der Solidarität. An diesem Europa haben Sie sich
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21342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Michael Roth
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versündigt, meine sehr verehrten Damen und Herren derBundesregierung.
Es ist eben auch beim Kollegen Silberhorn deutlichgeworden, dass bei vielen die Alarmglocken schrillen,wenn es um die vermeintliche Abgabe nationaler Souve-ränität geht. Ich lade uns alle dazu ein, etwas wenigerideologisch an diese Frage heranzugehen. Wir mögenzwar rechtlich Kompetenzen abgeben; aber politisch ge-winnen wir doch Handlungsspielräume zurück, die wirals Nationalstaaten in einer globalisierten Welt schonlange nicht mehr haben. Wir können den Bürgerinnenund Bürgern doch nicht vorgaukeln, dass es allein natio-nalstaatlich geht. Es geht nur gemeinsam in Europa.
Wir sagen: Es geht nur gemeinsam, solidarisch und de-mokratisch in Europa. Hier benötigen Sie noch Nach-hilfe, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Fraktio-nen der Koalition.
Wir müssen endlich die Wettbewerbslogik in Europaüberwinden. Ihr neoliberaler Dreisatz, Herr Bundes-außenminister, Steuersenkungen, Deregulierung, Sozial-abbau würden automatisch zur Lösung führen, ist ein Irr-weg. Ich dachte eigentlich, dass wir da gemeinsamweitergekommen sind. Wir müssen den Bürgerinnen undBürgern wieder Sicherheit vermitteln. Wir müssen deut-lich machen: Lohndumping muss verhindert werden.Wir brauchen auch in Deutschland nicht nur höhereLöhne, worum die Gewerkschaften erfolgreich kämpfen,sondern auch Mindestlöhne.
Wir müssen das Steuerdumping verhindern. Wir müssenSozialdumping verhindern. Wie können wir Europa inder Mitte der Gesellschaft verankern, wenn Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer Angst und Sorgen haben?
Insofern: Europa muss mit dem Herzen gestaltet werden.Es stimmt mich schon sehr nachdenklich, wenn diesausschließlich verdienstvolle alte Männer in diesen Ta-gen in Kommentaren eindrucksvoll zum Ausdruck brin-gen. Es werden eben Herr Genscher, Herr vonWeizsäcker, Helmut Schmidt oder Jürgen Habermas ge-fragt.
– Zum Glück werden Sie nicht gefragt, Herr Genscher– Entschuldigung! – Herr Westerwelle.
– Da haben Sie völlig recht.
Ich würde mich darüber freuen, wenn irgendwanneinmal ein Bundesaußenminister wieder in diesen Rei-gen eintreten und positiv, hoffnungsvoll, konstruktiv, mitVerve und Empathie über Europa sprechen würde. Siegehören bislang dezidiert nicht dazu.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Oliver Luksic für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Roth, in Ihrer Rede haben wir außer altenRezepten, die mit neuen Schulden finanziert werden,wenig gehört. Sie kritisieren immer, dass das ThemaEuropa auf unserer Seite einen so geringen Stellenwerthabe. Von Ihren drei Kanzlerkandidaten ist bei dieserDebatte niemand anwesend. Ich wäre insofern also et-was zurückhaltend.Vergangenen Sonntag wurde in zwei Ländern Euro-pas gewählt: in Frankreich und in Griechenland. Eswurde auch bei uns in einem Bundesland gewählt. DieBerichterstattungen und die Diskussion in unserem Landzeigen: In einem zusammenwachsenden Europa habenWahlen in Frankreich und Griechenland vielleicht mehrBedeutung für unser Land als die Wahl in einem unsererBundesländer. Ich glaube, wir erleben gerade einen Para-digmenwechsel in Europa. Die Stabilisierung des Eurowird eben nicht nur im Deutschen Bundestag oder inBrüssel entschieden, sondern vor allem in den einzelnenMitgliedstaaten; denn dort ist der Kern der Staatsschul-denkrise. Es ist wichtig, dass wir auch diese Wahlergeb-nisse diskutieren; denn es ist in hohem Maße bedenklich,wenn in Frankreich und Griechenland mit antieuropäi-schen Parolen Wahlkampf geführt wird und in beidenLändern die extremen Parteien gewinnen. In Griechen-land ziehen sogar Faschisten ins Parlament ein. Das istnicht gut für die Demokratie, und das ist nicht gut fürEuropa.
Im französischen Wahlkampf haben die Zentrumspar-tei von Bayrou und die Grünen für Europa geworben.Leider müssen wir feststellen, dass die Europakritikervon links und rechts im ersten Wahlgang mehr Stimmenals Hollande und Sarkozy zusammen bekommen haben,die übrigens beide auch nicht gerade mit proeuropäi-schen Ideen im Wahlkampf geworben haben. Hollande
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21343
Oliver Luksic
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hat den Fiskalpakt infrage gestellt. Sarkozy hat viel vomstarken Frankreich und wenig vom starken Europa ge-sprochen und das Schengen-Abkommen infrage gestellt,die Reisefreiheit.
Aber klar ist: Der deutsch-französische Motor wirdtrotz einiger Misstöne im Wahlkampf weiterlaufen. DieVergangenheit hat gezeigt, dass über Parteigrenzenhinweg gut zusammengearbeitet wird, ob es Giscardd’Estaing und Schmidt waren, Kohl und Mitterrand oderSchröder und Chirac. Das ist im Interesse beider Länderdringend notwendig und unabdingbar für den Erfolg Eu-ropas. Die deutsch-französische Freundschaft ist Staats-räson in Deutschland und in Frankreich, und das ist auchgut so.
Helmut Kohl sagte einmal: „Ich weiß nicht, was derfranzösische Staatspräsident denkt, aber ich denke das-selbe.“ Dieser Satz ist heute vielleicht nicht mehr wahr.Auch das müssen wir ansprechen und diskutieren. Ge-rade wenn es um den Euro geht, gibt es konzeptionellgroße Unterschiede. Wir stehen vor einer großen europa-politischen Herausforderung.Wenn Herr Hollande – wie auch Herr Sarkozy –Wachstum auf Pump finanzieren will, eine andere EZBals die Koalition und eine Aufweichung der Stabilitätsre-geln will, muss darüber nachgedacht werden. In der grie-chischen Innenpolitik berufen sich die Parteien auf dieGedanken des neuen Präsidenten und wollen die Schul-denrückzahlungen kippen. Das hilft den Griechen nichtweiter, und es ist nicht verhandelbar. Ich hoffe, dass derneue französische Präsident diesen Fehler korrigiert.Sie haben eben gesagt, man dürfe die Politik kritisie-ren; das haben Sie bei Sarkozy gemacht. Der Wahlsiegvon François Hollande basiert auf Versprechungen, dieso nicht einzuhalten sind: Senkung der Mehrwertsteuer,Renteneintrittsalter mit 60, Einfrieren der Benzinpreise.Er lehnt die Schuldenbremse ab – ich hoffe, dass sich dieSPD hierzu einmal positioniert – und will sie nicht in dienationale Verfassung übernehmen. Ich halte das für ei-nen Fehler.Ich hoffe, dass er nicht den gleichen Fehler macht wieFrançois Mitterrand in den 80er-Jahren, der nach zweiJahren völlig verfehlter Schuldenpolitik erst im Jahr1983 die Wende geschafft hat. Diese unbequeme Bot-schaft müssen wir mit unseren französischen Freundendiskutieren. Frankreich muss Partner bleiben, wenn esdarum geht, wieder eine Stabilitätskultur in Europa zuetablieren. Alleine schaffen wir das nicht. Dazu brau-chen wir unsere französischen Freunde. Wir stehen jetztvor einer zentralen europapolitischen Herausforderung.
Nicht nur die Wahlen in Frankreich zeigen deutlich,welchen Einfluss die Politik anderer Länder mittlerweileauf Europa, den Euro und damit auch auf uns hat, wennmühsam ausgehandelte Verträge wieder aufgeschnürtwerden. Auch in Griechenland wurde am Sonntag ge-wählt. Dort gestaltet sich die Regierungsbildung leideräußerst schwierig. Die einstigen Volksparteien wurdenabgestraft; beide haben das Land an die Wand gefahrenund damit die Krise der Währungsunion mit ausgelöst.In Griechenland steht für Europa viel auf dem Spiel.Wir müssen uns angesichts des instabilen politischenSystems Sorgen machen; denn dadurch wird das wacke-lige Wirtschaftssystem nicht gerade stabilisiert. Das ei-gentliche Problem besteht darin, dass viele Griechen beider Stimmabgabe gedacht haben, die harten Sparaufla-gen könnten nachverhandelt werden. Das fordern jetztauch alle Parteien. Dabei muss Griechenland in jedemFall sparen, weil das strukturelle Defizit schon ohneZinszahlungen riesengroß ist.Die Zeit drängt. Ich glaube, es ist gut und richtig, dasssowohl die Europäische Kommission als auch die deut-sche Bundesregierung klar gesagt haben, dass Verträgeeingehalten werden müssen. Solidarität ist keine Ein-bahnstraße. Vertragstreue ist ein zentraler europäischerWert; immerhin leben wir in Europa in einer Gemein-schaft des Rechts.Das Kernproblem liegt darin, dass 80 Prozent dergriechischen Bevölkerung, also eine große Mehrheit,den Euro wollen, aber keine Parteien wählen, die diesenKurs unterstützen. Wir haben großes Interesse daran,dass Griechenland auf europäischem Kurs bleibt. Esmuss klarer gesagt werden, was die Konsequenzen einerunkontrollierten Staatspleite in Griechenland wären.Ich bin der festen Überzeugung, dass die neue grie-chische Regierung sowie das griechische Volk eineGrundsatzentscheidung treffen müssen, denn ein Ja zumEuro, aber ein Nein zu den verabredeten Auflagen pas-sen nicht zusammen. Diese Frage muss in Griechenlandklar beantwortet werden.Die Krise des Euro ist im Kern eine Staatsschulden-krise. Da hilft die vulgäre Kapitalismuskritik nur wenigweiter. Die Staaten müssen sich unabhängiger von denFinanzmärkten machen, indem sie weniger Schulden ha-ben. Neben dem Sparkurs brauchen wir eine nachhaltigeWachstumspolitik, das ist völlig klar. Das Ganze mussaber auf finanzpolitischer Solidität aufbauen, denn we-der der Euro noch der Markt zerstören die Fundamentein Europa. Vielmehr ist es das süße Gift der Schulden. Esmuss uns gelingen, den Euro zu stabilisieren; denn sonstwird in allen Ländern Europas nicht nur der Euro, son-dern auch das europäische Projekt infrage gestellt.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. – Deswegen ist es wichtig,liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen,dass Sie in Bezug auf den ESM und den Fiskalpakt nichtwieder den gleichen Fehler machen wie 2010, als Siesich wegen der NRW-Wahl beim ersten Griechenlandpa-ket aus der Verantwortung gestohlen haben. Machen Sie
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21344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Oliver Luksic
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jetzt in Bezug auf den ESM und den Fiskalpakt nicht dengleichen Fehler!Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt der Kollege
Hunko das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Titel
dieser Debatte heute lautet: „Europas Weg aus der
Krise“. Nach der Regierungserklärung, Herr Westerwelle,
die ich eben gehört habe, muss ich sagen, der Titel sollte
heißen: „Europas Weg immer tiefer in die Krise“; denn
das ist die Konsequenz Ihres Programms, das Sie vorge-
stellt haben.
Herr Westerwelle, Sie sind in Ihrem Beitrag gar nicht
auf die Signale eingegangen, die am Wochenende aus
Griechenland und aus Frankreich gekommen sind. Die
Signale bedeuten, dass Ihre Politik gescheitert ist, dass
die Politik nicht nur sozial ungerecht ist, dass sie nicht
nur ökonomisch irrsinnig ist, sondern dass sie in Europa
politisch nicht mehr durchsetzbar ist. Das ist die Bot-
schaft der Wahlen in Griechenland und in Frankreich.
Nicht nur die Menschen in vielen europäischen Län-
dern lehnen diese Art der Krisenbewältigung ab. Es gibt
auch von Tag zu Tag mehr Ökonomen, die sich kritisch
zu der Krisenbewältigung äußern, die Sie auch heute
vorgestellt haben. Ich könnte viele zitieren. Herr Heil hat
vorhin Paul Krugman erwähnt. Ihn will ich zitieren. Es
lohnt sich wirklich, genau hinzuhören, was der Wirt-
schaftsnobelpreisträger von 2008 sagt:
Europas große Täuschung besteht in dem Glauben,
dass die Krise durch unverantwortliche Haushalts-
führung zustande kam.
Weiter heißt es:
Doch viele europäische Verantwortliche, allen vo-
ran deutsche Politiker, die Führung der Europäi-
schen Zentralbank und die Meinungsführer in der
Finanzwelt, wiederholen gebetsmühlenartig die
große Täuschung und lassen sich auch von handfes-
ten Gegenbeweisen nicht erschüttern. Sie kleiden
das Problem gern in ein moralisches Gewand: Die
betroffenen Länder haben gesündigt, und nun müss-
ten sie büßen – ein ganz schlechter Ansatz zur Lö-
sung der eigentlichen Probleme des Kontinents.
Was meint er zum Beispiel mit handfesten Beweisen?
Nehmen wir die Staatsverschuldung. Die Staatsverschul-
dung in der Euro-Zone ist vom Jahr 2000 bis Mitte 2008
im Durchschnitt tendenziell rückläufig gewesen, von
etwa 72 Prozent auf etwa 67 Prozent.
Das sind alles Zahlen, die man offiziell bei der EZB ein-
sehen kann. Erst Mitte 2008 ist die Staatsverschuldung
deutlich auf über 80 Prozent angestiegen. Was war die
Ursache? Unverantwortliche Haushaltsführung durch
Sozialausgaben oder durch Leben über die Verhältnisse?
Nein, die Bankenrettungspakete sind für den Anstieg
verantwortlich und nicht etwa unverantwortliche Sozial-
ausgaben.
Die zentralen Projekte dieser Bundesregierung sind
der Fiskalpakt und der ESM, die jetzt ratifiziert werden
sollen. Damit wird eine falsche Grundannahme in einen
Pakt gegossen, der Ewigkeitscharakter haben soll und
die Krise unnötig verschärfen wird. Der Fiskalpakt be-
deutet in der Konsequenz genau die gleiche Politik, die
jetzt Griechenland und anderen südeuropäischen Län-
dern auferlegt wird. Deswegen sagen wir Nein zum Fis-
kalpakt, deswegen sagen wir Nein zum ESM.
Es stehen noch Kollegen von SPD und Grünen auf
der Rednerliste. Mich würde schon interessieren: Wer-
den Sie dem Fiskalpakt am Ende zustimmen – dazu
braucht man in Deutschland eine Zweidrittelmehrheit in
Bundestag und Bundesrat –, oder werden Sie ihn ableh-
nen? Wir plädieren für die Ablehnung.
Ich beende meine Reden hier im Bundestag meistens
mit dem Satz: Europa wird sozial sein, oder es wird
nichts sein. Das ist natürlich weiterhin richtig. Ich will
aber heute angesichts der dramatischen Situation in
Griechenland folgendermaßen enden:
Ανατροπή στην Ελλάδα, μήνημα στην Ευρωπη,
για μια Ευρωπη τον λαών και όχι των τραπεζιτών!
Die Veränderungen am Wochenende in Griechenland
sind ein Signal für Europa, für ein Europa der Menschen,
der Völker und nicht der Banken und Konzerne.
Vielen Dank.
Der Kollege Sarrazin erhält nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte am An-fang meiner Rede kurz auf die Einführungsvorlesungvon Herrn Westerwelle eingehen. Herr Westerwelle – ersitzt gar nicht auf der Regierungsbank, sondern sprichtmit Herrn Ramsauer –, Sie sind als einen der sechsPunkte auf die Connecting Europe Facility eingegangen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21345
Manuel Sarrazin
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Ich glaube, dass man ein grundsätzliches Problem IhrerEuropapolitik benennen kann: Als die Kommission imletzten Herbst Vorschläge zu Projektbonds gemacht hat,ist aus Ihren Reihen viel über Herrn Barroso geschimpftworden, weil Sie das mit Euro-Bonds verwechselt ha-ben.
Und jetzt stellen Sie hier Ihr Aktionsprogramm vor.– Mögen Sie mir noch zuhören? – Dieses Aktionspro-gramm besteht – das ist auch bei anderen Dingen derFall – aus einem Vorschlag, den die Kommission schonim März vorgelegt hat. Abschreiben und Abkupfernreicht nicht für die Europapolitik Deutschlands!
Das andere ist – das muss man in dieser Debatte undnach dieser Vorlesung sagen – –
Sie haben die Lage richtig wahrgenommen. Der Kol-
lege Spatz möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stel-
len. Darf er das?
Klar.
Dem Kollegen Heil, der behauptet hat, wir hätten al-
ternativlos abgelehnt, habe ich das auch schon gesagt:
Wenn Sie sich ein bisschen intensiver mit den Details
befassen würden, zum Beispiel mit den Vorschlägen, die
in unserer Stellungnahme zum MFR enthalten sind, die
der Bundestag auf Antrag der Koalition beschlossen hat!
Darin steht, dass wir eine andere Form von Projektanlei-
hen wollen. Wir wollen keine Projektanleihen, bei denen
einfach nur öffentliches Geld ausgegeben wird, ohne
dass zusätzliches privates Geld mobilisiert wird. Es mag
ja sein, dass Sie das ablehnen. Aber die Behauptung, wir
hätten alternativlos abgelehnt, ist schlicht falsch.
Verehrter Herr Spatz, wenn Sie den Kommissionsent-wurf bezüglich Connecting Europe Facility vom Märzlesen, dann wird Ihnen ganz klar, was die Kommissionvorschlägt. Das ist eine Fazilität, die dafür sorgen soll,dass mithilfe öffentlicher Mittel, mit Mitteln aus Struk-turfonds aus anderen Bereichen gehebelt und mehr pri-vates Kapital mobilisiert werden kann. Da hat nie je-mand etwas anderes vorgeschlagen, auch Herr Barrosodamals nicht.
Das Problem an Ihrer Europapolitik ist, dass Sie nicht inder Lage sind, konstruktive, vorausdenkende Vorschlägezu machen. Sie müssen sich immer hinter den fehlendenMehrheiten in Ihren Reihen verstecken.
Das nimmt Stärke. Ihnen fehlt Stärke, um in Europa vor-anzugehen.
Eines muss man sagen – die Schuman-Erklärung istschon genannt worden –: Schuman hat damals geschrie-ben:Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werdenohne schöpferische Anstrengungen, die der Größeder Bedrohung entsprechen.Wenn wir diesen Satz als Blaupause nehmen und unsdas, was Herr Westerwelle gerade gesagt hat, und IhreBeiträge in dieser Debatte vor Augen führen, dann ist,glaube ich, die Analyse relativ klar.Die große Frage in dieser Krise ist doch, Herr Spatzund Herr Westerwelle, die integrationspolitische Demo-kratiefrage. Warum kommt von Herrn Westerwelle undaus Ihren Reihe zu dieser großen Frage dieser Krise sowenig, um nicht zu sagen: gar nichts?
Es ist doch bezeichnend, dass bei diesem Kernpunkt derEuropapolitik das Auswärtige Amt gar nicht präsent ist.Ich muss Ihnen noch eines sagen – der Schuman-Planist schon genannt worden –: Was war die große Idee vonSchuman neben dem, was Herr Krichbaum gewürdigthat? Es war die Hohe Behörde, die die gemeinsameMontanunion verwaltet. Die Europapolitik dieser Regie-rung bricht mit dem Erbe von Schuman, weil FrauMerkel in Brügge mit der Unionsmethode zum Angriffauf die Kommission und das Europäische Parlament ge-blasen hat.
Sie brechen mit einer großen Tradition, indem Sie reineRegierungspolitik machen und die Gemeinschaftsinstitu-tionen in dieser Krise schwächen.
Sie wissen, dass ich über die Geringschätzung derParlamente im Rahmen dieser Unionsmethode viel zusagen hätte. Deswegen haben wir in Karlsruhe geklagt.Diesbezüglich haben wir in diesem Haus gemeinsameAnliegen gegenüber der Regierung. Darüber werden wirsprechen.Ich möchte sagen, dass es aus meiner Sicht eine deut-sche Aufgabe ist, den Mut, die Verträge zu ändern, zuadressieren. Wir können ganz klar sagen, dass die Ana-lyse in der Erklärung von Laeken, dass die EuropäischeUnion für die Herausforderungen der Globalisierungnicht ausreichend gewappnet ist und dass die nationalenPolitiken besser koordiniert werden müssen, nochstimmt. In dem Aktionsprogramm, das Herr Westerwellehier gerade genannt und vorgestellt hat, fehlt dieserPunkt. Dort fehlt der deutsche Anspruch, dass wir die
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Manuel Sarrazin
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Vordenker- und Vorreiterrolle in Europa übernehmenmüssen, wenn es darum geht, das Mehr an Europa kon-kret zu machen und über Vertragsänderungen zu reden,und zwar mit einer Methode, die demokratisch undtransparent ist, also im Rahmen eines europäischen Kon-vents und nicht in den Hinterzimmern von Regierungs-konferenzen.
Ich möchte meine letzten Sekunden Redezeit nutzen,um etwas zu Griechenland zu sagen. Wenn ich mir diePresselage ansehe – vieles von dem, was hier heute ge-sagt wurde, hebt sich positiv davon ab –, habe ich dasGefühl, dass manche in Ihren Reihen noch nicht verstan-den haben, für wen sie Stichwortgeber sein können, obwillentlich oder aus Versehen. Ich frage mich manchmal:Für wen machen Sie eigentlich Wahlkampf? Sie erwe-cken den Eindruck, es wäre möglich, Griechenland ausder europäischen Schicksalsgemeinschaft auszuschlie-ßen, es wäre keine politische Wertentscheidung, dieEuro-Zone mit 17 Staaten zusammenzuhalten. Alle achtWochen wird aus den Reihen der Koalition diese politi-sche Wertentscheidung infrage gestellt. Das ist ein Zei-chen von politischer Schwäche. Diese politische Schwä-che Ihrer Koalition und Ihrer Regierung ist mit einGrund für die Krise.Vielen Dank.
Jürgen Hardt ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! WirEuropapolitiker und Außenpolitiker sind hier jetzt, dadie Debatte schon etwas fortgeschritten ist, relativ unteruns. Ich freue mich trotzdem, dass der Präsident derEuropäischen Investitionsbank auf der BesuchertribünePlatz genommen hat.
Ich glaube, wir alle setzen große Hoffnungen in dieMöglichkeiten und Perspektiven – diese gibt es zum Teilaufgrund der neuen Ausgestaltung des finanziellen Rah-mens der Europäischen Union –, die Instrumente, dieuns zur Verfügung stehen, zu schärfen und zu verbes-sern. Denn offensichtlich haben die Methoden, mitdenen wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehntenversucht haben, Impulse für Wirtschaftswachstum zusetzen, nicht ganz und nicht in allen Ländern den Erfolggehabt, den wir uns gewünscht haben.Ich möchte in dieser Debatte ganz konkret auf dieRede von Kollegen Roth eingehen – ich sehe ihn leidergerade nicht –, der hier vorhin ein ziemlich düsteres BildEuropas gemalt hat, um dann in den letzten zehn Sekun-den seiner Rede die Regierung zu mahnen, sie solle dochnicht alles so negativ malen und so schlecht sehen. Ichmöchte einen Beitrag dazu leisten, dass wir die Chancensehen, die vor uns liegen.Wenn wir auf das zurückblicken, was wir in den letz-ten zwei Jahren in der Europapolitik erlebt haben, sehenwir, dass wir viele Erschütterungen erlebt haben. Wir ha-ben viele Dinge erlebt, die wir uns so nicht vorstellenkonnten, aber wir haben natürlich auch erlebt, dass wirin den letzten 24 Monaten ganz gut um die vielen Klip-pen herumgeschifft sind, die uns im Weg standen.Wir hören immer wieder Ratschläge von außen. Wennich mir vorstelle, wir hätten vor 24 Monaten den Rat-schlag angenommen, die Griechenland-Illiquidität, diepraktische Insolvenz dieses Staates, einfach hinzuneh-men und nicht zu helfen, weil man als guter Kaufmanndem schlechten kein gutes Geld hinterherwirft – das warnur einer der Sprüche, die uns gesagt wurden –, dannhätten wir einen enormen Schaden für Europa produ-ziert, der weit über das hinausgeht, was man sich vorstel-len kann.Wir hätten selbst im günstigsten Fall auf das Wirt-schaftswachstum der letzten zwei Jahre verzichtet, das100 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen vonBund, Ländern und Gemeinden gespült hat. All denjeni-gen, die uns vorwerfen, dass wir die Rettung des Euround die Rettung Griechenlands mit zu viel Geld, mit zuviel gutem Willen und mit zu vielen Bürgschaften ange-hen, sei gesagt: Wenn wir diesen Vorschlag angenom-men hätten, wäre die Situation heute schlagartig schlech-ter, und es wäre für uns mit Sicherheit auch teurer.
Ein möglicher Weg wäre damals gewesen, den Din-gen einfach ihren Lauf zu lassen und das Auseinander-brechen der Euro-Zone hinzunehmen. Diesen haben wirzum Glück nicht eingeschlagen. Es gab einen anderenextremen Vorschlag, über den man auch nachdenkenmusste. Die Staats- und Regierungschefs hätten amAbend des Ausbruchs der Staatsschuldenkrise sagenkönnen: Wir haften alle gemeinsam für alles. – Das hättedie Märkte möglicherweise sogar beruhigt. Es hätte dasProblem der übermäßigen Verschuldung aber nicht ge-löst. Deswegen bin ich der Bundesregierung dankbar,dass sie diesen Weg nicht eingeschlagen hat, sondern ge-sagt hat: Wir versuchen, einen mühsamen, einen schwie-rigen, aber gleichwohl erfolgversprechenden Weg zu ge-hen, der insgesamt vier Elemente beinhaltet: erstensfaire Chancen für die Staaten, die in Schwierigkeitensind, zweitens die Absicherung unserer Verflechtungeninnerhalb der Europäischen Union, damit das Finanzsys-tem nicht zusammenbricht, drittens die Stärkung derrechtlichen Verbindlichkeit im Hinblick auf solide Haus-haltspolitik und viertens die Zähmung der ungehemmtenFinanzmärkte.Ich möchte auf den dritten Punkt, nämlich die Frage,wie wir Haushaltsdisziplin innerhalb der EuropäischenUnion verwirklichen wollen, näher eingehen. Da findeich die Haltung der Opposition, offen gesagt, etwas am-bivalent. Sie hat uns monatelang vorgehalten: Das, wasdie deutsche Regierung in Europa will, ist undurchsetz-bar; das ist wieder das typisch deutsche „Wir wissen al-les besser, und wir machen alles besser“. – Dann ist es zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21347
Jürgen Hardt
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einem Fiskalpakt gekommen, der in seinem Umfang, so-wohl was die Zahl der teilnehmenden Staaten als auchseine Elemente angeht, beachtlich ist und deutlich weitergeht als das, was viele erwartet haben. Jetzt heißt esplötzlich: Das ist alles viel zu streng. Das ist alles viel zusehr auf Austerität ausgerichtet. – Also: Sie müssen sichschon entscheiden, ob Sie einen stabilen Euro mit soli-den Staatsfinanzen wollen oder ob Sie weiterhin aufPump scheinbaren Wohlstand finanzieren wollen. Ichpersönlich bin der Meinung, die Bundesregierung hat andiesem Punkt alles richtig gemacht, und sie verdient un-sere volle Unterstützung, wenn es in den nächsten Wo-chen und Monaten in diesem Hause darum geht, die ent-sprechenden Entscheidungen zu treffen.
Ein Blick auf die Hilfen für Griechenland. Es ist nichtan uns im Deutschen Bundestag, dem griechischen VolkRatschläge zu geben, die Wahl zu kommentieren und zuanalysieren und dabei Kritik am Wählervotum zu äu-ßern.
Ich finde, die Bürgerinnen und Bürger in Griechenlandund auch die verantwortlichen Politiker wissen sehr ge-nau, dass das, was die alte Regierung und das alte Parla-ment verabschiedet und vereinbart haben, natürlich überden Wahltag hinaus Bestand haben muss, wenn man ineinem Staatenbund wie der Europäischen Union erfolg-reich zusammenarbeiten will. Ich glaube, die Anzeichen,die gestern aus Griechenland zu vernehmen waren, dasses vielleicht doch die Perspektive für eine Parlaments-mehrheit gibt, die möglicherweise eine Regierung trägt,die den Kurs fortführt, ohne dass man den Weg überNeuwahlen gehen muss, sind ein gutes Signal. Ich würdemir wünschen, dass wir schnell zu Ergebnissen kommen.
Das – notwendige – Sparen ist so zu gestalten, dassdie Menschen in den betroffenen Ländern dies akzeptie-ren und mittragen können. Ich glaube, in einem Landwie Griechenland sollte man damit anfangen, dass nichtzuerst der kleine Mann auf der Straße, sondern vielleichtzunächst einmal der höhere Beamte ein Opfer für die Sa-nierung des Haushaltes zu erbringen hat. Man sollte viel-leicht auch einmal darüber nachdenken, wie es gelingenkann, den großen Anteil der Schattenwirtschaft in das re-guläre Bruttosozialprodukt zu überführen und damit ei-ner Besteuerung zu unterziehen. So kann man sparen,ohne dass man irgendjemandem etwas wegnehmenmuss, was er dringend braucht und was ihm zusteht.Ich glaube, dass Wachstumspolitik nicht im Wider-spruch zu einer erfolgreichen und nachhaltigen sozialenPolitik steht. Auf diesem Weg werden wir gut voran-kommen. Ich glaube im Übrigen auch, dass wir im Rah-men der weiteren Strukturierung des Finanzrahmens derEuropäischen Union, den wir in den nächsten siebenJahren vorsehen, genau diese Impulse setzen müssen.Die Europäische Union hat sich auf den letzten zweigroßen Gipfeln ganz zentral mit den Quellen des Wachs-tums, der Stimulierung des Wachstums und der Schaf-fung eines sozialen Raums beschäftigt. Es gibt über-haupt keinen Grund, dahinter zurückzubleiben. Ich seheEuropa trotz allem auf einem guten Weg. Ich denke, dasswir mit dem eingeschlagenen Kurs der kleinen Schritteund der Konsolidierung der europäischen Finanzen denrichtigen Weg beschritten haben. Ich würde mir schonwünschen, dass wir das aus der Alltagspolemik der Poli-tik heraushalten, damit Europa in der Öffentlichkeit ebennicht nur negativ wahrgenommen wird.Herzlichen Dank.
Nun erhält die Kollegin Kerstin Griese für die SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mirfehlt aufseiten der Regierungsfraktionen in dieser De-batte ein wenig die Begeisterung für die europäischeIdee.
Ich glaube, wir werden die Zustimmung für Europa undauch für die schwierigen Schritte, die wir jetzt zu tun ha-ben, nur dann wieder bekommen, wenn die Menschenauch davon überzeugt sind, dass wir die Krise meisternkönnen. Diese Überzeugung fehlt bei Ihnen anschei-nend.
Es ist ja auch interessant, dass UmweltministerRöttgen versucht hat, die NRW-Wahl am Sonntag zu ei-ner Abstimmung über den Europakurs der KanzlerinMerkel zu machen.
Bevor er da deutlich zurückgepfiffen wurde, hat er tat-sächlich gedacht, dass er damit seine bescheidenen Zu-stimmungswerte steigern könnte. Welch ein Irrtum; denndie Menschen wissen, dass Sparen alleine kein zukunfts-fähiges Konzept ist, sondern dass Sparen und Wachstumzusammengehören. Hannelore Kraft hat mit ihrer vor-beugenden Politik überzeugend gezeigt, dass Sparen undInvestitionen in die Zukunft, in Bildung und in Kinderzusammengehören und zwei Seiten derselben Medaillesind.
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21348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Kerstin Griese
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Deshalb ist es uns Sozialdemokratinnen und Sozial-demokraten so wichtig, dass beides zusammengehört:Sparen und die Entwicklung von Wachstum, ein gemein-samer Binnenmarkt und gemeinsame soziale Standardsin Europa, soziale Gerechtigkeit und Innovation, die ge-meinsame Währung, der Euro, und offene Grenzen undFreizügigkeit. Europa ist nämlich mehr als die Krise,Europa bedeutet auch Jugendaustausch, Studentenaus-tausch, kulturelle Vielfalt und eine starke Zivilgesell-schaft.
Unser ehemaliger Bundespräsident Johannes Rau hat2003, in einem Jahr, in dem es um die Erweiterung derEuropäischen Union um zehn Staaten ging und in dem esdeshalb durchaus heftige Debatten gab, einmal gesagt– ich zitiere ihn –:Dauerhafte Fortschritte bei der Einigung unseresKontinents können wir nur erreichen, wenn dieeuropäische Idee in den Herzen und Köpfen derMenschen verankert wird, wenn die Einigung vonden Menschen bejaht und getragen wird. Diese Zu-stimmung ist möglich, aber sie fällt nicht vom Him-mel. Wer in Politik und Gesellschaft Verantwortungträgt, muss dafür werben.Auch heute geht es darum, mit Herz und Verstand dafürzu werben. Ich habe aber das Gefühl, dass wir heute von-seiten der Regierung viele Abgesänge und Trauerredengehört haben.Es geht nicht, für Europa zu werben, wenn man im-mer nur zögert und zaudert, wenn man zuerst auf die„faulen Griechen“ schimpft und jegliche Hilfen aus-schließt, um sie später dann doch zu gewähren – übri-gens zu spät; dadurch wurde es noch teurer –, und wennman zuerst nachhaltige Rettungsschirme ausschließt, siespäter dann aber doch einführen will. Es geht jetzt da-rum, dass wir in dieser Krise entschlossen und zielge-richtet für Europa werben. Dazu gehört, dass wir nebender Wirtschafts- und Währungsunion eben auch eine So-zialunion brauchen.
Unser Ziel ist das soziale Europa. Uns macht großeSorgen, dass sich eine soziale Schieflage entwickelt. Diewachsende soziale Ungleichheit in Europa gefährdet dieeuropäische Einigung und die Identifikation der Men-schen mit Europa.Die deutsche Bundesregierung zeigt leider keinerleiEhrgeiz, mehr Integration und Teilhabe für die Men-schen im eigenen Land zu erreichen. Sie engagiert sichnicht bei der Bekämpfung von Armut, sie hat die Lang-zeitarbeitslosen aufgegeben,
sie weigert sich, einen gesetzlichen Mindestlohn einzu-führen, und sie will ein unsinniges Betreuungsgeld ein-führen, statt in den Kitaausbau zu investieren. Ich könntedas ewig weiter fortsetzen.
Diese Bundesregierung zeigt leider auch kein En-gagement, soziale Verwerfungen in den Ländern Euro-pas, die jetzt unsere Hilfe brauchen, zu verhindern. Manmuss sich allein die Situationen in Spanien und Grie-chenland, wo die Hälfte der jungen Menschen arbeitslosist, vorstellen, um zu wissen, was das mit den Menschendort macht. Das ist ein dramatischer Zustand.
Der Mindestlohn ist gesenkt worden, und es sind geradeauch die gut ausgebildeten Menschen, die dort arbeitslossind.Hier zeigt es sich, dass wir dringend mehr tun müs-sen, um Hoffnung für diese junge Generation zu schaf-fen. Deshalb brauchen wir mehr Wachstum, einen besse-ren und zielgerichteteren Einsatz der europäischenMittel und ein konkretes Programm zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit.Für mehr Wachstum und Zusammenhalt in Europagibt es Beispiele. Wir brauchen Haushaltskonsolidie-rung, klare Sparziele und dazu ein Wachstumspaket. Wirhaben das in Deutschland schon einmal gezeigt, als so-zialdemokratische Minister mit den Konjunkturpaketendafür gesorgt haben, dass Kommunen gestärkt wurden,dass Arbeit geschaffen wurde und dass mit der Kurz-arbeit Jobs erhalten wurden – gerade bei uns in Nord-rhein-Westfalen.
Deshalb reicht es heute nicht, immer nur die gutenDaten und Zahlen zu loben, sondern man darf auch nocheinmal sagen, wer dafür gesorgt hat. Das waren nämlichsozialdemokratische Minister und ihre Konzepte.
Um die Identifikation mit Europa zu erhalten, müssenwir dringend die Verursacher der Krise an den Kostenbeteiligen. Dazu gehört eine Steuer auf Finanzgeschäfte,dazu gehört eine effektivere Kontrolle der Banken, dazugehört ein gesetzlicher Mindestlohn auch für Deutsch-land, damit nicht immer nur die kleinen Leute zur Kassegebeten werden.
Europa ist ein Europa der offenen Grenzen. Für vieleMenschen sind die gemeinsame Währung und die Reise-freiheit die beiden Dinge, durch die Europa ganz prak-tisch erfahrbar ist. Deshalb sage ich ganz deutlich: Esdient der europäischen Einigung nicht, wenn der Bun-desinnenminister zusammen mit seinem abgewähltenfranzösischen Kollegen über die Wiedereinführung vonKontrollen an den innereuropäischen Grenzen nach-
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Kerstin Griese
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denkt. Wir wollen ein offenes Europa und keine neuenSchlagbäume.
Wir wollen eine andere Flüchtlingspolitik; denn auchdie Bundesregierung muss dafür sorgen, dass keineMenschen mehr im Mittelmeer ertrinken und dass sichdie Lage in den griechischen Flüchtlingslagern verbes-sert. Auch das gehört zu einem sozialen Europa.
Ein letzter Gedanke. Damit auch die arbeitslosen jun-gen Menschen in Griechenland, Spanien und Portugaleine Zukunftsperspektive erhalten, ist es sehr wichtig, et-was für sie zu tun; denn anderenfalls werden sie Europainfrage stellen, was eine Gefahr für unsere Demokratiesein wird. Sie werden nämlich fragen, ob Demokratieund soziale Marktwirtschaft die richtigen Antwortensind. Wir haben am vergangenen Sonntag gesehen, dassRechtsextreme ins griechische Parlament eingezogensind. Das sollte uns zu denken geben. Deshalb ist unserEinsatz für ein soziales Europa ein Einsatz für ein demo-kratisches Europa der Zukunft.Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Detlef Seif für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol-legin Griese, wenn das keine Wahlkampfrede war!
Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Entwick-lung in der Bundesrepublik Deutschland, angesichts derBeschäftigungszahlen und der Arbeitslosenquote sowieder Einnahmen des Staates halte ich es für ein bisschenanmaßend, wenn Sie dieser erfolgreichen Bundesregie-rung vorwerfen, dass sie nichts täte. Wir sollten unsnicht gegenseitig vorwerfen, dass uns die Begeisterungfür Europa fehlt. Wir alle sind begeistert. Wir haben nurandere Lösungsansätze und Konzepte. Das sollten wirrespektieren.
Im März 2012 wurde der Fiskalpakt von den EU-Län-dern bis auf Großbritannien und Tschechien angenom-men. Er muss jetzt noch umgesetzt werden. Ich wider-spreche ausdrücklich unserem Kollegen Jürgen Trittin,der erklärt hat, dass dieser Fiskalpakt kein Meilensteinsei.
Juristen wissen: In diesen Fiskalpakt wird die verbindli-che Verpflichtung aufgenommen, eine Schuldenbremseverfassungsrechtlich zu implementieren.
Der Fiskalpakt beinhaltet Kontrollmechanismen, die au-tomatisch dazu führen, dass eine Verletzung der Krite-rien des Maastrichter Vertrages durch die Mitgliedstaa-ten Konsequenzen hat. Das ist ein Meilenstein, weil inden vergangenen Jahren Verletzungen nicht verfolgtwurden.
Herr Dr. Schmidt, natürlich gehören ESM und Fiskal-pakt zusammen. Wer als Mitgliedstaat nicht bereit und inder Lage ist, haushaltspolitisch seinen Laden in Ordnungzu bringen, der kann nicht erwarten, im Falle einer wirt-schaftlichen Schieflage von der europäischen Solidaritätzu profitieren. Beides gehört zusammen.
Die Erklärungen des neuen französischen PräsidentenFrançois Hollande haben hier viele Gedanken beflügelt,dass etwa über den Fiskalpakt neu verhandelt und einWachstums- und Beschäftigungspakt eingesetzt werdenmüsse. Der Kollege Jürgen Trittin sagt sogar: Wir müs-sen die Idee eines Schuldentilgungspaktes, den der Sach-verständigenrat empfohlen hat, aufgreifen.
Die Kanzlerin hat nachvollziehbar erklärt, dass einSchuldentilgungspakt in der Praxis nicht umsetzbar ist.
– Die Mitglieder des Sachverständigenrates haben Ah-nung von Wirtschaft, aber ich bezweifle, dass Sie mehrKenntnisse über Probleme bei der Implementierung poli-tischer Institutionen haben als wir, die wir in der Politikpraktisch unterwegs sind.
Einige haben in Anlehnung an Hollandes Äußerungendie Forderung erhoben, dass zunächst die Finanztransak-tionsteuer eingeführt werden soll. Ich persönlich binkein Freund dieser Steuer, aber meine Fraktion und auchdie Kanzlerin setzen sich seit letztem Jahr mit Nach-druck dafür ein.
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Detlef Seif
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Wie Sie wissen, wurde der letzte Versuch, das EU-weit zu implementieren, von neun Ländern gestartet.Dieser Versuch ist am Widerstand von zwei Ländern ge-scheitert. Auch der Versuch, das in der Euro-Zone umzu-setzen, ist ebenfalls gescheitert.
Man kann über alles diskutieren, Herr Heil. Auch Ih-ren Ansatz eines Investitions- und Aufbaufonds halte ichfür diskussionswürdig. Aber wir sind nicht in einemUniversitätsseminar, in dem wir viel Zeit haben, sondernwir sind in der europäischen Praxis, und die Zeit drängt.
Ein großer deutscher Politiker und großer Europäer,Willy Brandt, hat gesagt:Mit den Europaverhandlungen ist es wie mit demLiebesspiel der Elefanten: Alles spielt sich auf ho-her Ebene ab, wirbelt viel Staub auf – und es dauertsehr lange, bis etwas dabei herauskommt.Meine Damen und Herren, die Europapolitik der letz-ten zwei Jahre hat diesen Spruch widerlegt angesichtsder Geschwindigkeit von Entscheidungen und der Quali-tät in der Bearbeitung. Qualität erreicht man nicht, wennman sozusagen aus der Hüfte schießt; man muss natür-lich den Sachverhalt prüfen.
Wir stehen vor schwierigen Situationen und neuenHerausforderungen. Auch Sie wussten vor einem Jahrnicht, wie die weitere Entwicklung vonstattengeht. Eswurde jeweils angemessen, flexibel und vernünftig re-agiert.
Ich halte es geradezu für unerträglich, wenn HerrSteinmeier sagt, dass diese Regierung und die Kanzlerineinen Stillstand herbeigeführt haben.
Es ist ein Verdienst der Bundeskanzlerin und des Finanz-ministers, dass die Verhandlungen auf europäischerEbene in dieser Qualität und mit dieser Zügigkeit umge-setzt wurden.
Die Kanzlerin wird europaweit für ihre tolle Arbeit re-spektiert. Sie aber machen das Ganze mies.
Man darf den Bogen auch nicht überspannen, unab-hängig von den Signalen, die an die Märkte gesendetwerden. Wenn wir jetzt den Fiskalpakt noch einmal öff-nen, dann werden alle Länder auf die Idee kommen, ih-rerseits weitere Änderungen zu wünschen. Dann kom-men wir zu gar nichts mehr. Deshalb appelliere ich anSie, mit Nachdruck an der Sache zu arbeiten, aber denFiskalpakt in der beschlossenen, das heißt in der vertrag-lich vereinbarten Form umzusetzen.Wenn es in einem Kommentar der Welt heißt, dass dieSozialdemokraten Hochverrat begehen könnten, wennsie den Fiskalpakt blockieren,
dann halte ich diese Formulierung für sehr überspitztund auch nicht für angemessen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Ja.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege, für Ihren letzten Halbsatz
möchte ich Ihnen jetzt schon einmal danken, vorausge-
setzt, dass nicht noch ein Aber kommt.
Denn der Versuch auch von konservativen Journalisten,
politische Wettbewerber im Deutschen Bundestag, hier
die Sozialdemokraten, als vaterlandslose Gesellen oder
Volksverräter zu bezeichnen, hat eine unselige Tradition
in Deutschland.
Ich will Ihnen für den weiteren Verlauf Ihrer Rede
mitgeben, dass ich mich gestern an den Herausgeber der
Welt, Herrn Schmid, gewendet habe, der sich für diesen
Kommentar einer Mitarbeiterin dankenswerterweise ent-
schuldigt hat.
Meine Bitte ist, dass Sie mithelfen, dass dies auch in
Ihrer Fraktion nicht weitergeht. Denn ein paar Kollegen
in Ihrer Fraktion haben gestern den gleichen Unsinn er-
zählt. Ich könnte deren Namen nennen. Das vergiftet die
politische Kultur. Bei allem legitimen Meinungsstreit
über die Zukunft Europas sollten wir so etwas nicht ma-
chen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mithülfen, dass
diese Vergiftung aufhört. Denn an der einen oder ande-
ren Stelle brauchen wir auch Zusammenarbeit.
Herr Heil, ich verstehe das als ein Angebot von IhrerSeite, zur Sacharbeit zurückzukehren. Wenn Sie mir ge-nau zugehört hätten, wüssten Sie: Auch ich halte diese
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Detlef Seif
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Äußerung in der Welt für maßlos überzogen. Die Wahlder Begrifflichkeit ist für mich nicht vertretbar.
Sie sind keine Hochverräter, und es ist auch kein Lan-desverrat.Aber man muss sich schon Gedanken machen: Han-deln wir im Sinne von Europa und Deutschland, wennwir jetzt diesen Fiskalpakt mit weiteren Voraussetzungenbelegen, das Verfahren verzögern, ohne zu wissen, wiees endet? In diesem Sinne muss ich Ihnen sagen: Das istkein Handeln für Europa, sondern gegen Europa.
Aber noch einmal zur Klarstellung: Die Formulierung,die gewählt wurde, ist eindeutig überspitzt.
Neben der Einhaltung der Haushaltsdisziplin sind na-türlich Wachstumsimpulse erforderlich. Aber hier unter-scheiden wir uns. Wir brauchen keine staatlichen Sub-ventionen und keine Förderprogramme. Vielmehr mussdas Wachstum aus Angebot und Nachfrage entstehen. Esmuss ein unternehmensfreundliches Klima geschaffenwerden.In Griechenland hat es nicht an billigem Geld geman-gelt. Seit der Euro eingeführt wurde, waren die Zinsennoch nie so niedrig. Aber es ist nicht genutzt worden,weil die Strukturen für unternehmerische Entscheidun-gen und Investitionen nicht vorhanden waren. Tatsäch-lich hat man das Geld in den Konsum gesteckt. Weitest-gehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit, hat die vomDeutschen Horst Reichenbach geleitete Taskforce „Grie-chenland“ vieles erreicht. Kohäsionsmittel sollen natür-lich zügig eingesetzt werden, um Wachstumsimpulse zuschaffen. 181 Großprojekte wurden in Angriff genom-men. Finanzunterstützung für kleine und mittlere Unter-nehmen wurde bewilligt und technische Hilfestellunggeleistet.Aber gerade Griechenland ist ein Beispiel dafür, dassdie Strukturen in den vergangenen Jahren nicht stimm-ten. Die Bekämpfung der Bürokratie muss zu einer Ver-waltungsvereinfachung führen. Wirtschafts- und Unter-nehmensförderung waren teilweise nur mit Bakschischmöglich. Die Korruption muss bekämpft werden. Einegleichmäßige Steuererhebung und ein gleichmäßigerSteuereinzug waren nicht gegeben. Ich könnte in diesemZusammenhang noch ellenlange Ausführungen machen.Man ist dabei, die genannten Probleme zu lösen. Das istder richtige Ansatz.Wir müssen unsere griechischen Freunde und die an-deren betroffenen Partnerländer nachhaltig und spürbarunterstützen. Wenn wir mittelfristig keine Änderungenherbeiführen – ich nenne als Stichwort nur die fatale Ju-gendarbeitslosigkeit –, dann droht nicht nur eine Staats-schuldenkrise, sondern auch eine Identitäts- und Demo-kratiekrise. Europa ist zu wichtig, als dass wir einederartige Entwicklung tolerieren dürfen.Trotz aller Unterschiede – Herr Heil, obwohl Sie aufdie gebotene Fairness in der Diskussion verwiesen ha-ben, reden Sie immer dazwischen und waren in IhremRedebeitrag nicht immer fair – sollten wir sehen: Im Er-gebnis arbeiten wir an der Erreichung desselben Ziels.Europa ist für uns alle eine Herzensangelegenheit, umdie wir uns mit Begeisterung kümmern. Bleiben wirdran! Fassen wir mutige Beschlüsse, und lassen wir unsnicht von Wahlkämpfen in unseren Reden und in unse-rem Handeln beeinflussen!Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da sich das als Vor-urteil so zäh hält, will ich darauf hinweisen, dass nach§ 27 unserer Geschäftsordnung nicht nur Zwischenfra-gen, sondern auch Zwischenbemerkungen möglich sind.
Damit das endlich alle lernen: Beides ist erlaubt.Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/9595. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist mit den Stimmen von vierFraktionen gegen die Stimmen der Linken abgelehnt.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 32 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDSoziales Mietrecht erhalten und klimagerechtverbessern– Drucksache 17/9559 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelGroß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDSoziale Wohnraumförderung durch Bund undLänder bis 2019 fortführen– Drucksache 17/9425 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesFederführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen IngoEgloff für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Eine Debatte über die Frage des sozialen Miet-rechts in diesem Hause zu führen, ist meines Erachtensüberfällig.
Untersuchungen des Pestel-Instituts im Auftrag derKampagne „Impulse für den Wohnungsbau“ haben erge-ben, dass sich der Anteil der Haushalte mit einem Ein-kommen von weniger als 1 500 Euro im Monat vonknapp 39 Prozent im Jahr 2002 auf 44 Prozent im Jahr2010 erhöht hat. Das heißt aber auch, dass in den unterenEinkommensschichten der Anteil am Haushaltseinkom-men, der für Miete und Nebenkosten ausgegeben wird,deutlich angestiegen ist, und das, obwohl die betreffen-den Bevölkerungsschichten auf Wohnraumgröße ver-zichtet und kleinere Wohnungen in Anspruch genommenhaben.Wir haben insbesondere in den wachsenden Ballungs-zentren wie Hamburg, Berlin, Köln, München, Stuttgartund Frankfurt – um nur einige zu nennen – ein erhebli-ches Problem, auf das reagiert werden muss. Man mussauch deswegen reagieren, weil in diesen Städten gleich-zeitig ein Verdrängungswettbewerb im innerstädtischenRaum festzustellen ist. Dieser, auch mit dem BegriffGentrifizierung bezeichnet, führt dazu, dass die ange-stammte Bevölkerung aus ihrem Wohnviertel vertriebenwird, weil die Mietkosten so stark explodieren. In derFolge werden auch kleine Handwerksbetriebe und Ein-zelhändler verdrängt.Wenn in attraktiven Stadtteilen bei jeder Neuvermie-tung ohne Rücksicht auf die soziale Situation unbe-grenzte Mieterhöhungen vorgenommen werden können,steigt natürlich auch die ortsübliche Vergleichsmiete. Eswird eine Spirale in Gang gesetzt, die das Mietniveau inHöhen treibt, die wir nicht haben wollen, weil das ein-fach sozial unverträglich ist.
Diese Entwicklung in den Städten ist nicht gut, weilsie zur Spaltung der Städte und letztlich zur Spaltung derGesellschaft führt. Hier die guten, attraktiven Stadtteile,dort die unattraktiven, auf die in aller Regel dann auchnoch alle anderen Probleme der Städte abgeladen wer-den. Das verträgt eine Gesellschaft auf Dauer nicht.
Deshalb haben wir in unserem Antrag den Punkt derBegrenzung der Mieterhöhung aufgenommen: 15 Pro-zent in vier Jahren statt wie bisher 20 Prozent in dreiJahren. Bei Wiedervermietung wird die Erhöhung aufmaximal 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichs-miete beschränkt. Gleichzeitig soll der Referenzzeitraumder zu berücksichtigenden Mieten auf zehn Jahre erhöhtwerden und unter Einbeziehung der Bestandsmieten dasMietniveau ermittelt werden. Das führt dazu, dass Miet-erhöhungen, wie wir sie bisher feststellen können unddie zu der sozialen Unverträglichkeit in den Stadtteilengeführt haben, nicht mehr in dem Maße stattfinden kön-nen.
Davon lesen wir im Referentenentwurf der Bundes-regierung leider nichts. Unabhängig davon, dass wir im-mer noch auf den für Mai versprochenen Gesetzentwurfwarten, haben Sie, meine Damen und Herren von derKoalition, diese soziale Frage völlig ausgeblendet. Weraber die Augen davor verschließt, dass wir hier ein so-ziales Problem allererster Ordnung haben, das gewalti-gen Sprengstoff in den Städten birgt, der handelt fahrläs-sig.
Ich jedenfalls möchte keine Entwicklung wie in Pariserleben. Dort wurden systematisch Arbeiter, Angestellteund kleine Gewerbetreibende aus der Stadt gedrängt.Die sozialen Probleme kann man sich in der Banlieueanschauen. Das haben wir alles im Fernsehen gesehen.So etwas darf es in Deutschland nicht geben. Deswegenmüssen wir handeln.
Kommen wir nun zum Referentenentwurf, der überallherumgeistert, inzwischen vielfach kommentiert wurdeund hier im Plenum schon zu vier Debatten geführt hat,der aber bisher nicht in einen Gesetzentwurf mündete.Niemand in diesem Hause bestreitet die Notwendigkeitder energetischen Gebäudesanierung angesichts von85 Prozent nicht saniertem Altbaubestand. Aber auchhier gilt: Wir dürfen die soziale Dimension nicht aus denAugen verlieren. Es darf am Ende nicht sein, dass die amschlechtesten Verdienenden in den am schlechtesten iso-lierten Häusern mit den höchsten Energiekosten sitzen.
Deshalb ist eine Reduzierung der bei der Modernisie-rung umzulegenden Beträge von 11 auf 9 Prozent mode-rat, aber auch zielführend. Wer hier wie die Wohnungs-wirtschaft den Untergang des christlichen Abendlandesbeschwört, den Teufel an die Wand malt und das Endejeglicher energetischer Sanierung voraussagt, verursachtPanik, die mit der Realität nichts zu tun hat.
Schauen Sie sich doch die Realität an!
Wenn der Gebäudeeigentümer eine Sanierung angeht,dann macht er das einmal, und zwar richtig. Das wissenwir aus den Gesprächen mit den Experten und den Woh-nungsunternehmen. Dann werden nicht nur die Fassade
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Ingo Egloff
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und die Fenster saniert, sondern dann werden in der Re-gel auch die Sanitäreinrichtungen saniert und Umbautenzur Barrierefreiheit – Stichwort demografische Entwick-lung – durchgeführt. Deshalb ist es gerechtfertigt, dieUmlage zu strecken; denn die Kosten werden durch dieenergetische Gebäudesanierung noch mehr in die Höhegetrieben als durch die bisher erforderliche Sanierung.Deswegen müssen wir an dieser Stelle handeln.
Weil es so ist, dass energetische Gebäudesanierung,Modernisierung und Instandhaltung zusammenfallen, istdie Differenzierung bei der Mietminderung Unsinn. Daseröffnet höchstens neue Spielwiesen für Rechtsanwälteund ist in der Praxis schwer handhabbar. Im Übrigen istdas auch unserem auf Äquivalenz von Leistung und Ge-genleistung beruhenden Vertragsrecht wesensfremd.Wenn die vertragsgemäße Leistung von einer Seite nichterbracht wird, ist nicht einzusehen, dass die andere Seitevoll zahlen soll.
Dass nicht rückzahlbare Zuschüsse aus der Umlage he-rauszurechnen sind, versteht sich meines Erachtens vonselbst; denn niemand soll doppelt kassieren.
– Die Mietminderung hat doch nichts mit den geringerenHeizkosten zu tun, Herr Kollege. Über diese Frage soll-ten Sie noch einmal nachdenken.
Zwar sieht der Regierungsentwurf richtigerweisebeim Contracting Kostenneutralität für die Mieter auf-grund einer vergleichenden Betrachtung vor, da aberContracting-Unternehmen mittelfristig Gewinn machenwollen, müssen Sicherungen für die Zukunft eingezogenwerden, zumal die vorgeschlagene Regelung nur für dieUmstellung der Bestandsverträge und nicht für die Fol-geverträge gilt.Meine Damen und Herren, nun soll so nebenbei auchdas vermeintliche Problem der Mietnomaden gelöst wer-den. Festzustellen ist, dass es sich um eine verschwin-dend geringe Zahl an Fällen handelt, obwohl die Boule-vardpresse immer wieder gern darüber berichtet – amliebsten die BILD-Zeitung, wenn wieder irgendwelcheadeligen Personen aufgefallen sind, wie wir das in Ham-burg öfter feststellen können. Es sind jedoch Einzelfälle,und es handelt sich nicht um ein Phänomen, das dieWohnungsbaugesellschaften groß beeinträchtigt. WennSie mit den Wohnungsbaugesellschaften reden, werdenSie feststellen, dass diese sagen, sie zögen über ihre Mie-ter Auskünfte ein, sie wüssten, an wen sie vermieten.Hier wird versucht, mit dem vermeintlichen Problem desMietnomadentums Dinge in das Mietrecht hineinzubrin-gen, die nicht gerechtfertigt sind.Die Kündigung wegen Nichtzahlung der Mietkautionohne vorherige Abmahnung ist meines Erachtens wederdogmatisch vertretbar noch geboten. Hier kann aufgrunddes § 543 Abs. 1 BGB gekündigt werden. Einer solchenRegelung, wie sie hier vorgesehen ist, bedarf es nicht.
Ein Räumungstitel wegen Mietverzuges im Wege ei-ner einstweiligen Verfügung, ohne dass im Hauptsache-verfahren geprüft wurde, ob eine etwaige Mietkürzungvertretbar ist, ist eine Einschränkung der Mieterrechte,die überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Deshalb lehnen wirdas auch ab.
Hier wird versucht, über die Lösung eines Problems, dasnicht besteht, Mieterrechte in einer Art und Weise einzu-schränken, die nicht gerechtfertigt und nicht zielgerich-tet ist. Deshalb kann das im Gesetzentwurf unseres Er-achtens so nicht stehen bleiben.
Insgesamt ist festzustellen: Sie von der Koalitionspringen mit Ihrem Entwurf zu kurz, Sie blenden die so-ziale Dimension aus. Sie haben keine Lösung für Fragender sozialen Verdrängungsmechanismen in den Bal-lungszentren. Sie übersehen die soziale Dimension derKostenbelastung bei der energetischen Gebäudesanie-rung, und Sie regeln Probleme, die keine sind, und dannauch noch so, dass die Mieter benachteiligt werden.Wenn Sie wirklich bestehende Probleme nicht ange-hen wollen, dann lassen Sie den Referentenentwurf da,wo er ist, im Ministerium. Da ist er ganz unten in einerSchublade gut aufgehoben, und da sollte er dann auchbleiben.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Herr Jan-Marco Luczak von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Egloff, Sie haben in Ihren Bei-trag mit der Bemerkung eingeführt, die Debatte sei über-fällig.
Ja, damit haben Sie ein Stück weit recht. Wenn man sicheinmal die zeitlichen Abläufe genau anschaut, stellt manfest, dass genau vor einem Jahr, am 11. Mai 2011, dasJustizministerium den ersten Referentenentwurf für dasMietrechtsänderungsgesetz vorgelegt hat. Seitdem istdieser Entwurf bekannt, und seitdem wird er diskutiert.Auch wenn er noch einmal in Teilbereichen überarbeitetworden ist, ist er in seinem Kern und in seiner Ausrich-tung gleich geblieben.Sie haben sage und schreibe ein ganzes Jahr ge-braucht, um sich hierüber Ihre Meinung zu bilden. Dannmusste es offensichtlich auch noch sehr schnell gehen;
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Dr. Jan-Marco Luczak
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denn bis gestern Mittag war Ihr Antrag nicht einmal on-line verfügbar. Da fragt man sich schon: Wie kommt eseigentlich dazu? Die Antwort kann ich Ihnen geben, sieist nämlich ganz einfach: Am Sonntag haben wir Wahlenin Nordrhein-Westfalen.
Würde es Ihnen tatsächlich um ein soziales und klima-schützendes Mietrecht gehen, wäre jeder andere Zeit-punkt glaubwürdiger gewesen. Aber heute, zwei Tagevor der Wahl, kann ich nur sagen: Herzlich willkommenim Wahlkampf!
Natürlich werden Sie diesen Vorwurf ganz vehementzurückweisen; das ist klar. Aber schauen Sie sich dochnur einmal die Wortwahl an, die Sie in Ihrem Antragverwenden. Da sprechen Sie von einer „Explosion derMieten“ und davon, dass hier ein „Angriff“ der Bundes-regierung auf das bestehende Mietrecht stattfinde.
Wer solch eine Wortwahl in seinem Antrag wählt, dermuss sich nicht wundern, wenn ihm vorgeworfen wird,dass es ihm nicht um Sachpolitik geht, sondern einfachnur um Wahlkampfgetöse. Damit diskreditieren Sie sichselbst, meine Damen und Herren von der SPD.
Man kann es aber auch an anderer Stelle sehen, dasses Ihnen hier um Wahlkampf und nicht um die Sacheselbst geht.
Sie beschäftigen sich mit dem Referentenentwurf im De-tail überhaupt nicht. Zum Beispiel ist im Referentenent-wurf vorgesehen, dass der Mieter bei einer energetischenSanierung in den ersten drei Monaten einer Maßnahmedie Miete nicht mindern können soll. Einerseits wollenwir so vermehrt Anreize für energetische Modernisie-rung schaffen. Diese brauchen wir bei einer Sanierungs-quote von 1 Prozent auch; sie muss steigen. Wir habenuns auf der anderen Seite ganz bewusst gegen übermä-ßige Belastungen für die Mieter entschieden. Deswegenhaben wir auch gesagt: Einen vollständigen und zeitlichunbegrenzten Ausschluss des Minderungsrechts wird esmit uns nicht geben; denn das ist für die Mieter nicht zu-mutbar, und das vertragliche Gleichgewicht – Sie habenes angesprochen, Herr Kollege – wäre dann in der Tatgestört. Deswegen haben wir eine insgesamt sehr ausge-wogene Regelung beim Minderungsrecht geschaffen.
Jetzt fragt sich nur: Was machen Sie daraus? Sie spre-chen in Ihrem Antrag davon, dass Mieter im Wintermehrere Monate ohne Heizung sein könnten, ohne dasRecht auf Minderung zu haben, oder dass mehrere Maß-nahmen aufeinanderfolgen und sich der Minderungsaus-schluss auf bis zu neun Monate verlängern könnte. Wenndem so wäre, dann wäre das in der Tat problematisch.Nur, leider hat das mit unserem Gesetzentwurf und mitder Realität überhaupt nichts zu tun.
Denn wenn im Winter die Heizung ausfällt, dann geht esnicht mehr um die Minderung der Tauglichkeit einerWohnung, sondern dann ist die Gebrauchstauglichkeiteiner Wohnung komplett aufgehoben. Eine unbeheizteWohnung ist im Winter schlechterdings nicht nutzbar,und dann muss der Mieter selbstverständlich auch keineMiete zahlen. Deswegen geht Ihr Argument an dieserStelle von vornherein ins Leere.Was nun Ihre Befürchtung angeht, es könne hier zuKettenminderungsausschlüssen kommen, wenn sozusa-gen eine Modernisierungsmaßnahme auf die anderefolgt, muss ich mich schon ein bisschen wundern, HerrEgloff. Sie haben gerade gesagt: Wenn ein Vermieter soetwas macht, dann macht er es richtig. – Ja, da haben Sierecht.
Selbstverständlich wird er seine Modernisierungsmaß-nahmen koordinieren. Es macht ja auch keinen Sinn, erstdie Fassade zu dämmen und später dann die Fenster zuerneuern. Nein, er wird alles zusammen modernisieren;daran hat er auch ein wirtschaftliches Eigeninteresse.Bevor Sie so etwas schreiben, sollten Sie vielleicht mituns darüber diskutieren. Da sollte man sich doch einbisschen besser informieren.
Mit einem Wort: Ich finde, was Sie in Ihrem Antragschreiben, ist einfach falsch. Sie versuchen allein, denMietern Angst zu machen, um sich daraus Vorteile fürdie Wahl am Sonntag zu verschaffen.
Ich finde das unredlich, meine Damen und Herren vonder SPD.Aber Sie schreiben nicht nur Falsches in Ihrem An-trag, sondern Sie offenbaren auch – diesen Eindruckhabe ich –, dass der wirtschaftliche Sachverstand, denman eigentlich erwarten sollte, an der einen oder ande-ren Stelle fehlt. Sie wollen – Sie haben das ausgeführt –die Umlagefähigkeit der Kosten einer energetischen Mo-dernisierung von derzeit 11 auf 9 Prozent reduzieren.Zur Wahrheit gehört aber, dass die 11 Prozent, die wirderzeit haben, vielerorts am Markt überhaupt nicht reali-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21355
Dr. Jan-Marco Luczak
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sierbar sind. Das mag in Berlin, München oder anderenbegehrten Innenstadtlagen der Fall sein. In weiten Teilender neuen Bundesländer zum Beispiel sind Vermieterhingegen froh, wenn sie ihre Wohnungen überhaupt ver-mieten können. Da ist an eine Erhöhung der Miete über-haupt nicht zu denken, auch nicht nach einer energeti-schen Sanierung.
Insofern ist das falsch, was Sie schreiben.Aber was hätte es zur Folge, wenn man Ihrem Antragfolgen würde? Wirtschaftlich stehen hinter der Errich-tung und der Bewirtschaftung von Mietwohnraum er-hebliche Investitionen und ein dauerhafter finanziellerAufwand. Wenn Sie nun die Anreize für Vermieter sen-ken, Modernisierungen vorzunehmen, weil sie die Kos-ten nur mehr eingeschränkt umlegen können, werdendiese nicht mehr oder jedenfalls weniger investieren.Das aber gefährdet das, was wir brauchen, nämlich denErhalt eines qualitativ hochwertigen Wohnungsbestan-des, der energetisch saniert ist. Deswegen ist das einvöllig falscher Ansatz. Wir brauchen mehr Anreize fürenergetische Modernisierungen und nicht zusätzlicheStolpersteine, die wir den Vermietern in den Weg legen.
Außerdem – auch das gehört zur Wahrheit – ist es inder Regel so, dass ein Mieter unmittelbar davon profi-tiert, wenn eine energetische Modernisierungsmaß-nahme vorgenommen wird, weil dadurch seine Betriebs-kosten sinken. Er hat also auch etwas von dieserModernisierung.Meine Damen und Herren, noch ein Wort zum Klima-schutz. Auch das Contracting – Sie haben es angespro-chen –, die gewerbliche Wärmelieferung, kann dazu inder Tat einen wichtigen Beitrag leisten. Wir haben in un-serem Referentenentwurf vorgesehen, einen einheitli-chen Rahmen für die Umlagefähigkeit zu schaffen, derauch auf die Bestandsverträge Anwendung finden kann.Dafür haben wir zwei wesentliche Voraussetzungen ge-nannt: Auf der einen Seite muss eine Effizienzsteigerungdabei herauskommen, und auf der anderen Seite mussdie Contracting-Lösung für den Mieter kostenneutralsein. Denn – das stand für uns von vornherein fest – Ge-winne der Wärmelieferanten auf Kosten der Mieter darfes an dieser Stelle nicht geben. Das ist für uns ganz klar.Sie fordern in Ihrem Antrag eine Steigerung der Ener-gieeffizienz und Wärmemietenneutralität. Das ist in un-serem Gesetzentwurf schon längst enthalten.
Da fragt man sich doch, ob Sie unseren Entwurf nichtgelesen haben oder ob es sich, wie schon erwähnt, nurum Wahlkampfgetöse handelt.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Mietnomadensagen. Ich wundere mich, dass Sie in Ihrem Antragschreiben, dieses Phänomen spiele für die professionelleWohnungswirtschaft im Kern keine Rolle; die Vertrags-managementsysteme seien einfach zu gut. Ich weißnicht, ob es Ihnen entgangen ist: 60 Prozent der Miet-wohnungen, die in unserem Land angeboten werden,werden nicht etwa von professionellen Wohnungsver-mietern angeboten, sondern von privaten Kleinvermie-tern. Für diese spielt der Schutz vor Mietnomaden eineerhebliche Rolle. Wenn man einen Mietnomaden näm-lich einmal in seiner Wohnung hat, dann hat man ganzschnell Schäden von 20 000 Euro, und das ist für einenprivaten Kleinvermieter existenzbedrohend.
Für uns war ganz klar: Wir wollen einen besseren undwir wollen einen schnelleren Schutz gegen Mietnoma-den. Schließlich kann es nicht sein, dass es einzelne kri-minelle Mieter in der Hand haben, ihren Rauswurf umbis zu zwei Jahre zu verzögern. Das kommt mit uns nichtinfrage; das machen wir nicht mit.
In diesem Zusammenhang spielt die Frage der Kau-tion eine wichtige Rolle. Wir wollen es dem Vermieterermöglichen, schon relativ früh zu identifizieren, ob eres möglicherweise mit einem Mietnomaden zu tun hat.Es ist in der Tat so: Wenn man seine Kaution nicht recht-zeitig zahlt, dann kann das ein Indiz dafür sein, dass manes mit einem kriminellen Mieter zu tun hat. Dem Ver-mieter soll die Möglichkeit gegeben sein, sich von einemsolchen Mieter sehr schnell zu trennen.Da sagen Sie: Das braucht man alles nicht. – Wahr ist:Das ist tatsächlich schon geltendes Recht. Man hat schonbisher die Möglichkeit, fristlos zu kündigen. Das ist inder Rechtsprechung ganz eindeutig.
Wir stellen das also nur klar.Ich möchte noch etwas zur Hinterlegungsanordnungsagen. Sie haben gesagt, man dürfe den Räumungsschutzfür Mieter nicht über Gebühr verkürzen. Da haben Sievöllig recht. Wir haben mit der Hinterlegungsanordnung– sie wird vielleicht noch ein bisschen umgestaltet – einkluges Instrument geschaffen. Nur wenn die Zahlungs-klage des Vermieters eine hohe Aussicht auf Erfolg hatund eine umfassende Interessenabwägung ergeben hat,dass ein solches Vorgehen richtig ist, dann kann das Ge-richt eine Hinterlegungsanordnung erlassen.
Nur dann, wenn der Mieter dieser Hinterlegungsanord-nung nicht nachkommt, wenn er also dokumentiert, dasses ihm ganz offensichtlich darauf ankommt, die Mietenicht zu zahlen, ermöglichen wir einen schnellenRechtsschutz im Wege einer einstweiligen Verfügung.
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21356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Dr. Jan-Marco Luczak
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Ich glaube, das ist richtig. Wir dürfen die Vermieter hiernicht alleinlassen, also nicht schutzlos lassen.
Letzter Punkt; meine Zeit ist abgelaufen.
Ja.
Die christlich-liberale Koalition hat anders als die
SPD hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sehr ausge-
wogen ist.
Wir befördern die energetische Modernisierung, um dem
gesamtgesellschaftlichen Ziel des Klimaschutzes Rech-
nung zu tragen. Wir berücksichtigen dabei die Interessen
der Mieter, aber auch die der Vermieter.
Herr Kollege.
Es ist also insgesamt ein ausgewogener Gesetzent-
wurf. Wir machen genau das Gegenteil von dem, was
Sie machen, nämlich einseitig die Vermieter benachteili-
gen. Meine Damen und Herren, wir werden Ihrem An-
trag selbstverständlich nicht zustimmen können.
Das Wort hat nun Heidrun Bluhm für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Luczak, Sie haben hier eben sehr aufgeregt einenGesetzentwurf verteidigt, den es gar nicht gibt.
Es ist in der Tat so, dass wir an dieser Stelle über ei-nen Referentenentwurf diskutieren. Sie verteidigen et-was, was zunächst auf der Referentenebene zweimalverändert worden ist. Für Mai wurde die Vorlage diesesGesetzentwurfs angekündigt. Jetzt ist Mitte Mai. Wir ha-ben nur noch eine Sitzungswoche im Mai. Noch liegtdieser Gesetzentwurf nicht vor. Ich frage mich also:Bleiben Sie worttreu? Werden Sie im Mai liefern? Kön-nen wir dann die Rede, die Sie eben hier sehr eindrucks-voll gehalten haben, als Statement für Ihren Gesetzent-wurf werten, oder können wir das nicht?
Der SPD Wahlkampfgetöse vorzuwerfen, das kannman machen; gar keine Frage. Man steht vor einer ent-scheidenden Landtagswahl. Das gilt aber für alle. Inso-fern ist es legitim, endlich über das Thema Mieten undüber das Thema Wohnen hier in diesem Hause zu reden.Auf der anderen Seite möchte ich darauf hinweisen, dasswir dieses Thema hier vor einigen Wochen behandelt ha-ben. Eine kleine Kritik an die SPD: Wir sind im Bundes-rat initiativ geworden und haben dort einen Gesetzesan-trag eingebracht, dem auch Sie nicht abgeneigt sind. Eshat also schon einmal die Chance bestanden.
– Ja, aber nur halbwegs, nicht wahr?
– Gut.Worum geht es eigentlich? Was sind die dringendstenHerausforderungen der Wohnungspolitik heute? Wir tra-gen gemeinsam Verantwortung dafür, dass ausreichendenergetisch modernisierter, altersgerechter und barriere-freier Wohnraum überall zur Verfügung steht. Die Bau-wirtschaft braucht auch eine gewisse Sicherheit, wennsie sich auf diese Herausforderung einstellen soll.Wir sind gemeinsam für die Rahmenbedingungenverantwortlich, insbesondere dafür, dass alle Vermieterdie Ziele auch erreichen können, die wir als Gesellschaftihnen mit dem Mietrecht aufgeben und die sich durch dieHerausforderungen für die Wohnungswirtschaft stellen.Sie brauchen also eine Verlässlichkeit, was Fördermittelbetrifft.Wir müssen gemeinsam erreichen, dass alle Bürgerihre Wohnkosten auch bezahlen können. Das ist die zu-tiefst sozialpolitische Verantwortung, die wir in diesemHause tragen.
Wir müssen gemeinsam nach Lösungen suchen, dassdie Nettokaltmiete durch die Modernisierungsumlagenicht stärker steigt, als bei den Nebenkosten eingespartwird. Das ist ebenfalls die Verantwortung, die wir denMieterinnen und Mietern gegenüber haben, wenn wirden vorgenannten Punkt ernst nehmen.Wir müssen gemeinsam gewährleisten, dass Wohnenein Grundrecht für alle Menschen wird. Ich sage mit Ab-sicht nicht „bleibt“, sondern sage „wird“. Wenn wir unsansehen, wie sich die Wohnungslosenzahl entwickelt– wir haben in der vergangenen Sitzungswoche ein Ex-pertengespräch dazu gehabt –, müssen wir davon ausge-hen, dass diese Zahl noch weiter steigen wird. Für unsals Linke ist Wohnen ein Grundrecht, das wir für alle si-chern müssen.
Vor diesem Hintergrund, der sicher Konsens wenigs-tens der Oppositionsfraktionen in diesem Hause ist,werde ich den Antrag der SPD „Soziales Mietrecht er-halten und klimagerecht verbessern“ bewerten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21357
Heidrun Bluhm
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Was Sie dort fordern, klingt beim ersten Hinhörennicht schlecht.
Wir sind uns einig, dass wir ein soziales Mietrecht brau-chen und dass die Klimaziele im Wohnbereich durchge-setzt werden müssen. Aber das, meine Damen und Her-ren von der SPD, werden Sie mit diesem Antrag nichterreichen. Warum greifen Sie nicht einfach die Bundes-ratsinitiative auf, die wir Ihnen vor Wochen hier vorge-legt haben?
Den Entwurf hatte die SPD in Berlin gemeinsam mit derLinken im Bundesrat auf den Weg gebracht. Diesen Ent-wurf hat meine Fraktion vor Wochen hier vorgelegt; Siehätten nur mitstimmen müssen. Warum jetzt also dieserAntrag, der in seinem politischen Anspruch und – dasmuss man leider sagen – in seiner handwerklichen Qua-lität weit hinter dem zurückbleibt, was Ihre Berliner Ge-nossen schon vor zwei Jahren aufgeschrieben haben?Ein erstes Beispiel: die Mietsteigerung. Egal ob20 Prozent in drei Jahren oder, wie Sie vorschlagen,15 Prozent in vier Jahren – beides ist unsozial. SolchePreisexplosionen haben mit der realen wirtschaftlichenEntwicklung auf dem Mietmarkt überhaupt nichts zutun. Sie sind auch von der tatsächlichen Einkommens-entwicklung bei den Mieterinnen und Mietern völlig ab-gekoppelt und sprengen daher die wirtschaftliche Leis-tungsfähigkeit von immer mehr Mieterhaushalten; dasRealeinkommen ist in den vergangenen Jahren gesun-ken, und die Mieten steigen.Das hat auch ursächlich nichts mit energetischen Sa-nierungsmaßnahmen zu tun; das ist ein reiner Marktme-chanismus. Solche Steigerungen lassen sich nur dortdurchsetzen, wo Wohnraum knapp ist – das ist hierschon gesagt worden; an anderer Stelle eben nicht –, undzwar unabhängig davon, ob eine Wohnung energetischgebaut oder saniert ist.Eingeführt wurde die Regelung zu den Mietsteigerun-gen damals, um Miettreiberei zu verhindern. Heute wirdsie zur Miettreiberei benutzt, ohne Gegenleistung durchden Vermieter, dort nämlich, wo der Markt es hergibt.
Ein zweites Beispiel: die Wohnkosten insgesamt. Siesteigen auch dort rasant, wo die Kaltmieten aufgrund un-genügender Nachfrage stabil oder auch rückläufig sind,und zwar durch explodierende Energie- und Wasser-preise, durch steigende Gebühren und Abgaben, mit de-nen Kommunen, die klamme Kassen haben, versuchen,ihre Haushalte zu stabilisieren. Ein Beispiel ist dieGrundsteuererhöhung, die voll auf die Nebenkosten derMieterinnen und Mieter durchschlägt.Ein weiteres Beispiel: energetische Sanierung. Klar,sie ist zwingend notwendig. Das ist nicht nur eine Fragedes Klimaschutzes, sondern das ist angesichts der rasantsteigenden Wohnkosten auch eine zutiefst soziale Frage.Da schlagen Sie in Ihrem Antrag vor – ich zitiere –,… eine Regelung vorzulegen, durch die den Kom-munen in geeigneter Form ein Interventionsrechtgegen Maßnahmen zur Wohnwertsteigerung einge-räumt wird, um prekäre Mietsituationen in be-stimmten Wohnbereichen zu vermeiden.Wollen Sie Wohnsiedlungen schaffen, in denen dasPrekariat in unsanierten, energiefressenden Wohnungen,dafür aber zu niedrigen Kaltmieten wohnen muss, weilsich die Menschen nichts anderes leisten können oderdie Arge nichts anderes finanziert?Das Problem ist also nicht in erster Linie die luxu-riöse Wohnwertsteigerung, sondern schlicht – jetzt zi-tiere ich einmal eine andere Stelle aus Ihrem Antrag –:Die Verbesserung des Klimaschutzes als nationaleAufgabe darf nicht allein auf die betroffenen Mieterabgewälzt werden.Klar, da haben Sie recht. Leider sind Sie in Ihrem An-trag nicht konsequent und suchen nach scheinbarenKompromissen, um die Modernisierungskosten etwasgerechter zu verteilen.Dazu schlagen Sie zum Beispiel eine Reduzierung derUmlage sämtlicher Kosten für Modernisierungsmaßnah-men von 11 auf 9 Prozent vor. Aber weder die 11 noch die9 Prozent sind wirtschaftlich irgendwie gerechtfertigt.Wenn man die tatsächlichen Kosten der für die energeti-sche Modernisierung notwendigen Maßnahmen zugrundelegt und den Amortisationszeitraum der Investitionsmaß-nahme dagegenstellt, würde – das fordern wir – auch eine5-prozentige Umlage ausreichen.
Der Mieterbund fordert sogar die Abschaffung dieserUmlage, und das nicht zu Unrecht. Denn erstens bleibtdie höhere Miete auch nach Ablauf der Abschreibungs-frist erhalten, und zweitens wäre eine Rücknahme derMietsteigerung nach einem zwangsläufig sehr langenZeitraum nicht kontrolliert durchsetzbar. Eine solcheForderung klingt nett, aber sie ist weltfremd.Was aber bleibt, ist die Wirkung auf den Mietspiegel,weil von der Modernisierungsumlage die Nettokaltmie-ten betroffen sind und damit eine Mietsteigerung imMietspiegel festgeschrieben wird.Schließlich fordern Sie mit Ihrem Antrag,nicht rückzahlbare Förderungen zur energetischenModernisierung aus der Umlagefähigkeit herauszu-nehmen.Das unterstützen wir ausdrücklich, das ist selbstver-ständlich. Warum sollten Mieterinnen und Mieter nocheinmal bezahlen, was sie zuvor als Steuerzahlerinnenund Steuerzahler an den Staat abgegeben haben? Dennder hätte sonst die Möglichkeit, Fördermittel zur Verfü-gung zu stellen, nicht gehabt.Summa summarum: Dass die Politik angesichts stei-gender Mieten und Wohnkosten drohenden schwerwie-genden sozialen Verwerfungen vorbeugen muss, steht
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21358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Heidrun Bluhm
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für mich außer Zweifel. Ebenso unzweifelhaft ist, dassder weltweite Klimawandel uns zwingt, die Energie-wende auch im Gebäudebereich voranzutreiben. Für bei-des ist der Erhalt eines sozialen Mietrechts zwar nichtunbedingt der Schlüssel. Er ist aber notwendig, weil we-der die sozialen noch die klimatischen Probleme in derGesellschaft mit sozialem Unfrieden und der Vertiefungsozialer Gegensätze zu lösen sind.Das aber – darin stimmt die Linke mit der Intentiondieses Antrags überein – würde mit der Verabschiedungdes Referentenentwurfs zum Mietrechtsänderungsge-setz passieren, der immer noch nicht das Licht der Welterblickt hat. Er ist nichts anderes als die Verschiebungder Lasten allein auf die Schultern der Mieterinnenund Mieter. Er sollte – hier stimme ich Ihnen zu, HerrEgloff – tatsächlich dort bleiben, wo er ist: in den Schub-laden der Referenten.
Was den Erhalt des sozialen Mietrechts und seiner kli-magerechten Verbesserung angeht, unterbreite ich einenKompromissvorschlag: Lassen Sie uns doch zu dem Ent-wurf des Gesetzes zur Sicherung bezahlbarer Mieten undzur Begrenzung von Energiekosten und Energiever-brauch zurückkommen, der immer noch im Bundesratschmort. Im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklung – Sie haben es gerade gesagt – ist er zumindestnicht abgelehnt worden, sondern es wurde sich derStimme enthalten. Im Rechtsausschuss haben Sie ihmsogar zugestimmt.Wenn ich die Signale aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen richtig interpretiere, könnten sich auch dieseKolleginnen und Kollegen eher damit anfreunden. Daswäre doch einmal etwas. Das wäre ein Kompromiss.Jetzt noch ein letzter Satz zu dem zweiten von Ihneneingebrachten Antrag „Soziale Wohnraumförderungdurch Bund und Länder bis 2019 fortführen“: Ja, daskann man machen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Sebastian Körber von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die zwei Anträge, die wir vorliegen haben, sind mitsehr heißer Nadel gestrickt. Es sollte in diesen Anträgennoch einmal mit den Ängsten der Mieterinnen und Mie-ter, vielleicht sogar in Nordrhein-Westfalen – ich willhier nichts unterstellen –, gespielt werden und ein biss-chen Wahlkampf gemacht werden.Ihr Antrag lautet: „Soziales Mietrecht erhalten undklimagerecht verbessern“. Das ist gut so. Die Koalitionwird Ihnen dazu entsprechende Anträge vorlegen.
Wir sind hier auf einem sehr guten Weg.Wenn Sie von einem sozialen Mietrecht sprechen, soverschweigen Sie dezent, dass auch wir wollen, dass dieMenschen in vernünftigen Wohnungen möglichst ener-gieeffizient und barrierearm leben können. Wir zahlen indiesem Land Wohngeld. Das dürfen Sie nicht einfachverschweigen.
Als Sofortmaßnahme – damit wir bessere Gebäude inDeutschland haben – wäre es gar nicht so schlecht, wennin Nordrhein-Westfalen die Oberblockiererin HanneloreKraft abgewählt werden würde; denn sie verhindert dieZustimmung des Bundesrates.
Wir werden nicht müde, dies Ihnen immer wieder zu sa-gen.
Sie verhindern doch auf diese Weise, dass in diesemLand endlich Steueranreize für energetische Gebäudesa-nierungen möglich werden.
Ich kann Ihnen dazu noch etwas sagen: 75 Prozent derWohnungen in Nordrhein-Westfalen gehören nicht dengroßen Wohnungsbaugesellschaften, sondern sind imBesitz von kleinen, privaten Vermietern. Diese Gruppelassen Sie vollkommen aus.Voller Stolz erklären Sie, warum Sie den energeti-schen Abschreibungsmöglichkeiten im Bundesrat nichtzustimmen. Dabei gehen Sie in Nordrhein-Westfalen so-gar noch weiter: Dort wurde ein eigenes Förderpro-gramm aufgelegt, für das 200 Millionen Euro zur Verfü-gung gestellt werden. Hierzu muss man feststellen: DieKfW Bank hat Anfang dieses Jahres das aus Eigenmit-teln betriebene Programm „Wohnraum Modernisieren“eingestellt. Denn der Bund hat aufgrund seiner ambitio-nierten Klimaschutzziele höhere Förderstandards als dieKfW Bank festgelegt. Was machen Sie von der SPD undvon den Grünen in Nordrhein-Westfalen? Sie führen einneues Programm ein, mit dem Sie nur Mitnahmeeffektefördern; denn das Programm fördert nicht die hohenEnergieeffizienzstandards. Es ist wirklich ein Skandal,was Sie mit den Steuermitteln in Nordrhein-Westfalenanstellen.
Ich möchte der Justizministerin und Herrn Staatsse-kretär Stadler ausdrücklich für das danken, was im Miet-recht auf den Weg gebracht werden soll; denn diese Pro-gramme enthalten unbestritten einen hinreichendenMieterschutz
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21359
Sebastian Körber
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Dies steht im Gegensatz zu Ihren Programmen von derSPD, Herr Pronold. Sie können gleich ausführen, wieSie sich dazu verhalten.Sie produzieren ständig Zerrbilder in Bezug auf densogenannten bösen Miethai. Wir hätten allerdings über-haupt kein ausgeglichenes Wohnungsangebot in diesemLand, wenn es nicht die vielen kleinen Vermieterinnenund Vermieter gäbe. Allein 61 Prozent der Wohnungen– das sind fast 14,5 Millionen – werden von nichtprofes-sionellen Vermietern gestellt. Ich finde es unsäglich,wenn Sie sagen, Mietnomaden seien gar kein Problem.Ich hätte von jemandem, der einmal wirtschaftspoliti-scher Sprecher in Hamburg war, etwas mehr Sachver-stand erwartet; das muss ich an dieser Stelle klar sagen.Mietnomadentum kann für einen Vermieter ein existen-zielles Problem bedeuten, wenn er beispielsweise einZweifamilienhaus besitzt und eine Wohnung vermietet.Solche Konstellationen sind für viele Menschen in die-sem Lande ein Beitrag zur Altersvorsorge, auch in Nord-rhein-Westfalen, nicht nur in Hamburg.
– Sie haben einen Ballon aufgeblasen. Ich kann es Ihnengerne an Fakten aufzeigen.
Sie widersprechen sich sogar in Ihren Anträgen. Aufder einen Seite wollen Sie die derzeitige Umlagefähig-keit bei den Sanierungskosten von 11 Prozent auf 9 Pro-zent absenken. Auf der anderen Seite fordern Sie in Ih-rem zweiten Antrag bezüglich der Wohnraumförderungmehr barrierefreie und energieeffiziente Wohnungen.Dann können Sie doch nicht gleichzeitig die Anreize he-runterfahren. Das ist in Ihren Anträgen doch ein Wider-spruch in sich.
Ihnen geht es nur darum, schnell etwas mit der heißenNadel zu stricken und ein bisschen Wahlkampf zu betrei-ben. Dabei spielen Sie mit den Ängsten der Menschen.
– Das können Sie gleich alles erzählen, Herr Pronold.Hören Sie noch kurz zu; dann können Sie vielleicht nochetwas lernen.Zur Heizkostenersparnis. Es geht nicht um die Netto-kaltmiete, sondern es geht darum, dass die Heizkostenreduziert werden. Die energetische Sanierung eines Ge-bäudes kann in einzelnen Schritten umgesetzt werden:Da werden die Fenster oder die Heizungsanlage ausge-wechselt, eine Gebäudedämmung wird angebracht, dasDach wird neu isoliert. Dann reduzieren sich die Heiz-kosten. Wer profitiert davon?
Ist es der private Vermieter? Es sind die Mieter, die andieser Stelle profitieren; denn bei denen reduzieren sichdie Nebenkosten. Unterhalten Sie sich doch einmal miteinem Mieter; ich glaube, Sie haben davon keine Ah-nung.
Ich möchte Ihnen zu Ihrem anderen Antrag auch nochetwas aufzeigen: Im Rahmen der Föderalismusreformhaben wir eine neue Regelung getroffen; darüber ver-handeln derzeit der Bund und die Länder. Es wird ge-prüft, wie man ein Gesamtpaket schnüren kann, um dieBindung hinsichtlich der Ausgleichszahlungen fortzu-führen, die nur bis 2014 läuft. Insofern kann ich Ihnen andieser Stelle zustimmen. Es gilt, die Aufgabenerfüllungbis 2019 oder darüber hinaus sicherzustellen. Ich bin zu-versichtlich, dass das gelingen wird.Ansonsten finden sich in diesem Antrag lediglichLippenbekenntnisse, die zu nichts führen werden. Auchhier habe ich Ihnen eine Zahl aus dem größten deutschenBundesland herausgesucht: Ihr heutiger Antrag ist schondeshalb bemerkenswert, weil die rot-grüne Landesregie-rung 2011, gerade erst ins Amt gekommen, direkt dieWohnraumförderung um 20 Prozent gekürzt hat, obwohlin Ihrem Wahlprogramm noch eine Festschreibung auf1 Milliarde Euro stand.So viel zur Glaubwürdigkeit der Sozialdemokraten.
Deshalb werden wir die Anträge, die Sie vorgelegt ha-ben, kraftvoll ablehnen.Danke schön.
Das Wort hat nun Daniela Wagner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die Situation auf dem deutschen Wohnungsmarkt istschnell umrissen – in vielen Punkten sind wir uns relativeinig –: Auf der einen Seite gibt es Probleme durch zu-nehmenden Leerstand, auf der anderen Seite gibt es ab-surde Preisentwicklungen in bestimmten Ballungsräu-men, zum Beispiel im Rhein-Main-Gebiet, im GroßraumMünchen, im Großraum Stuttgart und in Teilen Berlins.Das sind die Probleme, auf die wir im Moment reagierenmüssen. Es gibt zudem eine Zunahme der Zahl vonHaushalten, die sich aufgrund ihrer Einkommensverhält-nisse nicht mehr mit Wohnungen über den freien Woh-nungsmarkt versorgen können.Die entscheidenden Herausforderungen bilden dieEnergiewende und der demografische Wandel. Grund-sätzlich ist festzuhalten: Die umfassende energetische
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21360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Daniela Wagner
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Gebäudesanierung ist kein Selbstzweck, sondern sie istangesichts der stetig steigenden Energiekosten notwen-dig, damit das Wohnen bezahlbar bleibt und der Klima-wandel aufgehalten werden kann.
Aber auch für die Eigentümerinnen und Eigentümer so-wie Vermieterinnen und Vermieter muss die Bereitstel-lung von Wohnraum finanzierbar bleiben. Deswegenmüssen die mietrechtlichen Schrauben so gestellt wer-den, dass die energetische Gebäudesanierung einerseitsbefördert wird und auf der anderen Seite die Mieterinnenund Mieter vor Verdrängungseffekten geschützt werden.
Dabei darf das Mietrecht nicht isoliert betrachtet wer-den; denn es ist nicht seine primäre Aufgabe, die energe-tische Gebäudesanierung voranzutreiben, es darf ihr le-diglich nicht im Weg stehen.Die energetische Gebäudesanierung muss in erster Li-nie durch entsprechende Förderprogramme und gegebe-nenfalls durch das Ordnungsrecht sichergestellt werden.Bei Förderprogrammen liegt die Betonung vor allenDingen auf „verlässlich“. Es darf nicht sein, dass es je-des Jahr neue Wasserstandsmeldungen gibt, dass das,was man im Januar geplant hat, schon im SeptemberMakulatur sein kann, weil es keine Fördermittel mehrgibt. Verlässlichkeit heißt, dass der Bürger genau weiß,dass er auch noch in einem Jahr damit rechnen kann,dass die Zuschüsse zur energetischen Gebäudesanierungfließen.
Das Mietrecht ist lediglich dazu da, die unterschiedli-chen und auf Mieterseite auch berechtigten Interessenauszugleichen. Der Antrag der SPD bezieht sich haupt-sächlich auf den Referentenentwurf der Bundesregie-rung vom Oktober 2011, der wie in der EchternacherSpringprozession seltsam vor- und zurückrückt, aber nieso richtig den Sprung in den Plenarsaal schafft. Viel-leicht schaffen Sie es ja noch vor der nächsten Bundes-tagswahl, wenn nicht, lassen Sie es einfach bleiben.
Sie lehnen die Aufhebung des Mietminderungsrechtsfür drei Monate bei energetischen Sanierungen ab. Dassehen wir ähnlich, insbesondere auch auf der Grundlageder rechtspolitischen Unsicherheiten; denn das Recht aufMietminderung stellt auf das Vorhandensein von be-stimmten Eigenschaften des Wohnraums bei Vertragsab-schluss und auf seinen Nutzwert ab und weniger auf diegute Motivation des Vermieters. Wir meinen, wenn derNutzwert gemindert ist – aus welchen Gründen auch im-mer –, dann ist das Mietminderungsrecht das Instrumentder Wahl, natürlich auch in den ersten drei Monaten.
Sie wollen, dass den Kommunen ein Interventions-recht gegen Maßnahmen zur Wohnwertsteigerung einge-räumt wird, um prekäre Mietsituationen zu vermeiden.Ich nehme stark an, Sie meinen in diesem Zusammen-hang Luxussanierungen und Gentrifizierungsprozesse.Allerdings unterlassen Sie es, die Instrumentarien zu be-nennen. Wir halten zwei Instrumente zur Begrenzungvon Wieder- und Neuvertragsmieten für notwendig. Wirwollen im BauGB bei der Ausweisung von Sanierungs-und Milieuschutzgebieten wieder Mietobergrenzen nach§§ 142 und 144 – Sanierungssatzung – und § 172 – Er-haltungssatzung – ermöglichen.Außerdem wollen wir im BGB die Landesregierun-gen ermächtigen, in Kommunen oder deren TeilgebietenMietobergrenzen einzuführen, wenn in einem bestimm-ten Quartier ein Wohnraummangel vorherrschend ist. Ichdenke, das sind geeignete Instrumente, um punktuell undsituationsgerecht Abhilfe zu schaffen.
Sie wollen ebenso wie wir die Modernisierungsum-lage nach § 559 BGB von 11 auf 9 Prozent absenken. Sieschlagen die Prüfung einer zeitlichen Begrenzung vor.Wir haben uns lange mit der zeitlichen Begrenzung be-fasst, sind aber zu dem Schluss gekommen, dass das inder Praxis sehr schwierig zu realisieren ist; denn Siemüssten die Miete theoretisch irgendwann wieder infla-tionsbereinigt absenken. Das könnte unter Umständensehr kompliziert werden und an der Praxis scheitern. DerGedanke ist natürlich nicht ganz von der Hand zu wei-sen.Für uns ist entscheidend, dass die Mieterinnen undMieter durch die Modernisierungsumlage eine Entlas-tung bzw. Wohnwertsteigerung erhalten und dass sienicht zu unnötigen Luxusmodernisierungen führt. Des-wegen wollen auch wir die Umlagemöglichkeit derHöhe nach begrenzen. Wir wollen sie darüber hinausaber auch auf die energetische Sanierung und den alters-gerechten Umbau begrenzen. Das ist aus unserer Sichtvordringlich. Das muss finanziert werden. Alles anderekann unterbleiben, weil es sich dabei schlicht und ergrei-fend um Luxusmodernisierungen handelt, die sich derMieter leisten können muss. Solche Modernisierungenmuss der Vermieter nicht vom Mieter erstattet bekom-men.In Ihrem Antrag fehlt uns eine energiepolitische Wei-chenstellung. Sie haben zum Beispiel nicht gefordert, dieenergetische Gebäudebeschaffenheit im Rahmen derortsüblichen Vergleichsmiete zu berücksichtigen, also soetwas wie einen ökologischen Mietspiegel. Das wäreaber richtig.
Es ist richtig, Zuschläge für einen hervorragenden Ge-bäudezustand vorzusehen. Bei einer schlechten energeti-schen Gebäudebeschaffenheit müssen auch Abschlägemöglich sein oder gegebenenfalls beides in Kombina-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21361
Daniela Wagner
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tion. Das wäre im Rahmen von Mietspiegel und ortsübli-cher Vergleichsmiete ein richtiges Instrument, um demZiel näherzukommen. Es gibt inzwischen ein paarStädte, die einen ökologischen Mietspiegel haben. Dasfunktioniert.Die Kappungsgrenze wollen Sie von 20 auf 15 Pro-zent absenken. Das sehen wir auch so.Weiterhin wollen wir den Klimaschutz in die Interes-senabwägung nach § 554 BGB aufnehmen.Zum Thema Contracting. Wenn es mehr als zwei Ver-tragspartner gibt, ist das nicht ganz unkompliziert. Des-wegen sagen wir nur so viel: Die wirtschaftlichen Vor-teile, die der Vermieter aus einem Vertrag mit demContractor zieht, sollten auch dem Mieter bzw. der Mie-terin zugutekommen.
Zu Ihren Einlassungen zu Mietnormaden: Das sehenwir ähnlich. Zu den Einlassungen der Bundesregierung:Das halten wir für falsch. Wir sind der Meinung, dasswir nicht den Rechtsschutz aller Mieterinnen und Mieterwegen einer verschwindend geringen Anzahl von Fälleneinschränken dürfen. Wir sind der Auffassung, dass dasgeltende Recht vollkommen ausreicht.Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort zur so-zialen Wohnraumförderung, zu der Sie auch einen An-trag gestellt haben, sagen. Eingangs ist von anderen Red-nern schon betont worden, dass der Anteil derjenigen,die sich auf dem freien Wohnungsmarkt aufgrund ihresEinkommens nicht mehr mit Wohnraum versorgen kön-nen, ständig wächst. Wir sind der Auffassung, dass esbesorgniserregend wäre, wenn die Entflechtungsmittelab 2013 auslaufen sollten und wir dann allein auf die Be-mühungen der Länder angewiesen wären. Bis jetzt gibtes nur in sieben Bundesländern Wohnraumförderungsge-setze. Wir wissen nicht, was aus der Wohnraumförde-rung wird. Wir wissen aber, dass im Moment jährlichetwa 100 000 Wohnungen aus der Sozialbindung fallen.Deswegen muss dringend dafür Sorge getragen werden,dass die soziale Wohnraumförderung über 2013, am bes-ten über 2019 hinaus verstetigt wird, damit nicht einwachsender Anteil der Bevölkerung überhaupt keinenWohnraum mehr findet.Wir halten es für ganz besonders wichtig, dass An-reize geschaffen werden, damit private Eigentümer in ih-ren Quartieren oder, wie man in Berlin so schön sagt, inihren Kiezen sozialgebundenen Wohnraum durch Ver-kauf von Belegungsrechten an die Stadt oder an den Be-zirk zur Verfügung stellen. Es erscheint uns als ganz be-sonders wichtig, dafür zu sorgen, dass in den schönenKiezen nicht nur Oberstudienräte und Bundestagsabge-ordnete wohnen und am Stadtrand in den Plattenbausied-lungen – meist in schlecht isolierten Wohnungen – dieje-nigen, die auf dem Wohnungsmarkt kaum mehrreüssieren können, die sich sogar schon bei mittlerenEinkommen im Grunde genommen nicht mehr mit ad-äquatem Wohnraum versorgen können.Das war der Grund, warum einmal die vereinbarteFörderung erfunden worden ist. Die Krankenschwesterist zu reich für den sozialen Wohnungsbau, aber auchviel zu arm für den freien Wohnungsmarkt. Es ist ganzwichtig, dass eine soziale Mischung dadurch geschaffenwird, dass der Rückkauf von Belegungsbindungen at-traktiv wird. Dazu brauchen wir den Fortbestand derEntflechtungsmittel über das Jahr 2019 hinaus.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Gero Storjohann für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „SozialesMietrecht erhalten und klimagerecht verbessern“ – ja-wohl. „Soziale Wohnraumförderung durch Bund undLänder bis 2019 fortführen“ – jawohl. Ich glaube, hierim Hause besteht eine große Einigkeit.
Hier wird der Eindruck vermittelt, dass etwas anderesgeplant ist. Mit Ihren Anträgen möchten Sie – vergeblich– den Eindruck erwecken, dass kein Mietrechtsände-rungsgesetz auf dem Weg ist. Über dieses gute Miet-rechtsänderungsgesetz wird hier sehr kurzfristig wiederdebattiert werden.
– Das wird der Präsident im Ältestenrat festlegen.
Unser gutes soziales Mietrecht werden wir als Koali-tion weiter verbessern.
Nach unserer Auffassung bestehen Regelungslücken.Diese werden wir schließen.
Der Wohnungs- und Immobilienmarkt in Deutschlandist stabil. Er war in den letzten Jahren ein stabilisierenderFaktor der deutschen Konjunktur, und das auch in Zeitender internationalen Wirtschaftskrise. Mit ihrem Antragzur sozialen Wohnraumförderung schrammt die SPD-Fraktion an den Vorgaben des Grundgesetzes nicht nurzielgenau vorbei, sondern vermittelt auch noch einen fal-schen Eindruck.Die christlich-liberale Koalition
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21362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Gero Storjohann
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ist sich ihrer Verantwortung für die soziale Wohnraum-förderung in Deutschland sehr wohl bewusst. Bekannt-lich ist die Kompetenz für die soziale Wohnraumförde-rung durch die Föderalismusreform vom Bund auf dieLänder übertragen worden.
Das, Herr Pronold, haben wir in der Großen Koalitionsogar gemeinsam beschlossen.
Es wurde vereinbart, dass der Bund den Ländern hierfürjährlich bis 2013 über 500 Millionen Euro Kompensa-tionsleistungen zahlt.
Derzeit verhandelt der Bund mit den Ländern über dieFortzahlung. Ab 2019 sollen die Zahlungen endgültigenden. Frau Wagner hat hier vorgeschlagen, diese Zah-lungen über 2019 hinaus fortzuführen. Ich glaube, wirsollten uns an das halten, was wir gemeinsam vereinbarthaben. Die CDU/CSU steht zu den Ergebnissen der Fö-deralismusreform
und den sie begleitenden Übergangsregelungen. Wirnehmen aber auch die Unterstützung sozial schwächererHaushalte bei der Wohnraumversorgung sehr ernst. We-sentliche Maßnahmen sind hier das Wohngeld und dieWohnraumförderung; die Verantwortung hierfür liegtseit der Föderalismusreform allein bei den Ländern.Es ist Ausdruck des Sozialstaatsprinzips, dass derStaat den Menschen Unterstützung gewährt, die sichnicht aus eigener Kraft angemessen mit Wohnraum ver-sorgen können. Wir wollen dafür sorgen, dass würdevol-les Wohnen auch in Zukunft möglich ist. Die Gründe,aus denen Menschen soziale Wohnraumförderung in An-spruch nehmen, sind vielfältig: Das Haushaltseinkom-men ist zu niedrig. Kinderreiche Haushalte benötigenbesonders große Wohnungen. Menschen mit Behinde-rungen sind auf barrierefreie Wohnungen angewiesen.Diese besonderen Bedürfnisse werden durch den Marktmitunter noch nicht ausreichend bzw. nicht zu vertretba-ren Preisen befriedigt.Sozial benachteiligte Menschen profitieren beson-ders von unseren Anstrengungen im Bereich der sozialenWohnraumförderung. Ihnen werden auf diese Weisepreiswerte Wohnungen zur Verfügung gestellt. Traditio-nell hatte der soziale Wohnungsbau das Ziel, Wohnungs-mangel zu beheben. Der Fokus hat sich jetzt verständli-cherweise verschoben. Die soziale Wohnraumförderungist besonders geeignet, unsere Stadtentwicklung wesent-lich mitzugestalten, vor allem in den benachteiligtenStadtvierteln.Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dassWohnraum bezahlbar bleibt. Sie setzt sich dafür ein, dassdie energetische Sanierung des Wohnungsbestandes,auch des sozialen Wohnraumbestandes, erfolgen kann.Die Bundesregierung hat dafür Planungssicherheit ge-schaffen. In den nächsten Jahren werden 1,5 MilliardenEuro für die CO2-Gebäudesanierung zur Verfügung ge-stellt. Damit das Wohnen bezahlbar bleibt, sind auchausgewogene Änderungen des bestehenden Mietrechtsnotwendig. In Kürze wird von uns ein Mietrechtsände-rungsantrag vorgelegt. Ich gehe fest davon aus, noch imMai.
– Der Mai ist ja immer der schönste Monat. Ich gehe da-von aus, in diesem Mai.
– Sie haben ja sehr deutlich gemacht, Herr Egloff, dassSie alle notwendigen Änderungen im Mietrecht ableh-nen; das entnehme ich Ihrem vorliegenden Antrag.Die Koalition verfolgt zwei Ziele. Wir wollen denMietbestand sanieren, um unsere Klimaschutzziele zuerreichen. Hierdurch gelingt es uns, die immer weitersteigenden Nebenkosten für die Energieversorgung fürdie Mieter zu begrenzen. Das ist unverzichtbar; dennWohnraum muss bezahlbar bleiben.
Darüber hinaus soll durch Änderungen im MietrechtMietbetrügern das Handwerk gelegt werden. Ich habedas hier schon einmal ausgeführt: Mein Vermieter istvon einem Mietnomaden massiv betroffen, und das, ob-wohl er sich verhältnismäßig professionell verhält. Dasheißt, er hat jedes Mal Titel für eine Räumung erwirkt,wenn nicht gezahlt wurde. Jedes Mal gab es ein Unter-mietverhältnis. Nachdem die Mehrfachuntervermietunginnerhalb der Familie oder innerhalb des Bekanntenkrei-ses nachgewiesen wurde, hat er versucht, den Porscheaus der Tiefgarage zu bekommen. Auch in der Tiefga-rage wurde ein Untervermietungsverhältnis nachgewie-sen. Und das alles im schönen Hamburg, Herr Egloff!Ich bin gerne bereit, mit Ihnen über diesen Fall zu spre-chen, damit Sie wenigstens einmal erkennen, dass es hierein Problem gibt, das mit der jetzigen Rechtslage nichtzu lösen ist – oder es liegt an der Richterschaft; ich weißes nicht.
Die Frage ist doch: Will die SPD kriminelle Mieterzukünftig weiterhin schützen? Wir meinen, dies ist einThema, das wir anpacken müssen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21363
Gero Storjohann
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Die Fraktion der CDU/CSU wird das nicht tatenlos hin-nehmen. Wir bleiben dabei, dass wir hier dringendenHandlungsbedarf sehen.Die SPD-Fraktion schreibt sich auch den Umwelt-schutz auf die Fahnen. Aber wenn es beim Mietrechtkonkret wird, dann ducken Sie sich natürlich weg. Wirverfolgen das Ziel, den Wärmebedarf im Gebäudebe-reich bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent zu senken. Dafürbrauchen wir ein Anreizsystem; denn das passiert nichtvon alleine. Investitionshemmende Regelungen im Miet-recht müssen entschärft werden, damit die Vermieterüberhaupt eine energetische Sanierung vornehmen. Wirstreiten ja nur darüber, was letzten Endes hilft. Ichglaube, wir sollten generell dazu übergehen, solcheHemmnisse abzubauen.
– Selbstverständlich. Es gehört ja zur Sozialverträglich-keit, dafür zu sorgen, dass die Nebenkosten im Hinblickauf den Wärmebedarf geringer werden. Wir sind aufdem Weg, dies auszutarieren. Aber zu sagen, dass dasnicht passieren soll, ist, glaube ich, keine Lösung. Ichdenke, das wollen Sie im Ergebnis auch nicht. Also: Wirladen Sie ein, hier auf uns zuzugehen.
Dazu, dass die Umlage künftig maximal 9 Prozentstatt 11 Prozent betragen soll, ist von meinen Kollegenschon einiges gesagt worden; das brauche ich nicht zuwiederholen.Wir als CDU/CSU möchten, dass das soziale Miet-recht – das ist ein eindeutiges Bekenntnis – erhaltenbleibt. Die Inflationsrate lag in den Jahren 2007 bis 2010bei 1,6 Prozent. Im gleichen Zeitraum stiegen die Mietenim Durchschnitt um 1,2 Prozent. Wir wissen, dass dieSituation in Ballungsräumen eine andere ist als im länd-lichen Bereich. Insofern, Frau Wagner, sind wir einerMeinung, dass es einen unterschiedlichen Markt gibt,mit dem wir unterschiedlich umgehen müssen.Die SPD-Anträge setzen nicht die richtigen Impulse,um das Mietrecht zu verbessern und ausgewogene Mo-dernisierungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. DieCDU/CSU wird weiterhin dafür sorgen, dass eine Ba-lance zwischen Mieterinteressen und Vermieterinteres-sen besteht und dass es in ganz Deutschland angemes-sene Wohnverhältnisse gibt. Ihre Anträge werden wir inden anstehenden Ausschussberatungen wohlwollendprüfen und dann wahrscheinlich verwerfen.
Das Wort hat nur Florian Pronold für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist ja gerade von Vorrednern mit dendurchschnittlichen Mieterhöhungen in Deutschland ar-gumentiert worden. Franz Josef Strauß hat einmal ge-sagt: Der Durchschnitt ist eine gefährliche Sache. Wermit dem Hintern auf der heißen Herdplatte sitzt und mitdem Kopf in der Gefriertruhe steckt, der hat im Durch-schnitt eine angenehme Körpertemperatur, aber beson-ders wohl fühlt er sich nicht.
So ist es auch mit der durchschnittlichen Mieterhöhung,die wir erleben.Ich frage Sie, ob Sie mit Menschen in Berlin undMünchen nicht reden und ob Sie die Zeitung nicht lesen.Die Abendzeitung in München titelte gestern zu dieserProblematik, weil das in München ein ganz existenziel-les Problem ist und weil wir in Metropolregionen einesolche Verknappung von Wohnraum erleben, dass sichdort auch exorbitante Mietsteigerungen durchsetzen las-sen,
die tatsächlich dazu führen, dass Menschen mit gerin-gem Einkommen ihre Heimat verlieren. Dagegen wollenwir uns wehren.
Herr Körber, reden wir doch einmal nicht abstrakt da-rüber, was eine Modernisierungsumlage von 11 Prozentoder auch 9 Prozent bedeutet, sondern schauen wir unsdoch einmal ganz konkret an, was das in solchen Bal-lungsräumen für die Mieterinnen und Mieter heißt. Washeißt das für die Krankenschwester, für den Polizeibe-amten oder für die Verkäuferin, die wir doch nicht alle50 Kilometer außerhalb der Stadt wohnen haben wollen,von wo aus sie zu ihrem Arbeitsplatz in der Stadt fahrenmüssen, sondern die in der Lage sein sollen, in der Stadtbleiben zu können?Nehmen wir einmal an, eine Wohnung wird für50 000 Euro energetisch saniert. Nach der geltendenRechtslage bedeutet das, dass 5 500 Euro im Jahr aufden Mieter umgelegt werden können. Das wären gut458 Euro im Monat. Wenn Sie jetzt sagen, dass50 000 Euro ein bisschen viel sind,
dann nehmen wir 25 000 Euro pro Wohnung; das istauch in Ordnung. Dann sind wir bei 2 750 Euro im Jahrund immer noch bei fast 230 Euro im Monat.
Bei einer kleinen Maßnahme, die nur 12 500 Euro kos-tet, sind wir immer noch bei einem Nettomonatsgehalt,das ein Mieter im Jahr für diese energetische Sanierungaufbringen muss.
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21364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Florian Pronold
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Ich finde, jetzt muss man gegenrechnen. Welche Ein-sparung gibt es hier denn? Wir wehren uns doch nichtdagegen, dass energetisch saniert wird, aber wir wollen,dass Lasten und Nutzen gerecht verteilt werden.
Sie schlagen aber keine gerechte Verteilung vor.Wir sind auch dafür, dass der Staat entsprechend för-dert, zum Beispiel über die KfW oder durch andereMaßnahmen. Wir wollen aber nicht, dass das, was schonaus Steuergeldern finanziert wird und dem Eigentümerzugutekommt, teilweise zusätzlich auf den Mieter umge-legt werden kann. Das ist doch nicht gerecht. Davonmuss etwas abgezogen werden können.
Die nächste Frage ist, in welchem Umfang man dasumlegen kann. Weil die Mieterinnen und Mieter auchvon der energetischen Sanierung profitieren, sind wir jadafür, dass hier etwas umgelegt werden kann; das istdoch überhaupt keine Frage.
Es muss aber vernünftig sein und den unterschiedlichenInteressen sozial ausgewogen gerecht werden. Deswe-gen schlagen wir die Reduzierung der Umlage vor, weildas ansonsten für einen normalen Menschen in der In-nenstadt in einer Metropolregion nicht zu bezahlen ist.Das ist doch der Grund!
Sie spotten ja darüber, dass wir hier sagen: Sie schü-ren die Ängste der Mieter. Wenn ich mir nur diese nack-ten Zahlen hier anschaue – und das ist auf Vermieter-märkten kein unrealistisches Szenario –, dann stellt sichmir die Frage, ob dort überhaupt noch Menschen woh-nen können.Die Anzahl der Haushalte in Deutschland, die mehrals 40 Prozent ihres Nettoeinkommens für das Wohnenausgeben, hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.Das heißt, in Metropolregionen stellt sich eine neue so-ziale Frage. Hierauf müssen wir eine Antwort geben.
Zur Frage der gerechten Verteilung von Lasten undNutzen gehört übrigens auch: Wie lange ist denn dieseModernisierungsumlage zu zahlen? Das, was jetzt gel-tende Rechtslage ist, heißt: Die Kosten können mit biszu 11 Prozent auf die Miete umgelegt werden. Das be-deutet, um in dem Beispiel von vorhin zu bleiben – wirnehmen jetzt den geringsten Betrag –: Jeden Monat wer-den von dem Mieter 120 Euro an Modernisierungsum-lage bezahlt. Nach neun Jahren ist damit die gesamteMaßnahme finanziert. Aber der Mieter zahlt auch imzehnten, im elften und zwölften Jahr jeden Monat weiterdie Modernisierungsumlage. Das hat nichts mit einer ge-rechten Lastenverteilung zu tun.
Ich verstehe Folgendes nicht: Warum wehren Sie sichgegen eine gerechte Lastenverteilung?
– Ja, ich habe kein Problem damit, dass wir ein Modellentwickeln, mit dem man dafür sorgt, dass Kosten undNutzen zwischen Vermieter, Mieter und öffentlicherHand aus dem gemeinsamen Interesse heraus, die Zahlder energetischen Sanierungen zu erhöhen, im Sinne ei-nes vernünftigen Mieterschutzes und der Bezahlbarkeitdes Wohnens vernünftig untereinander aufgeteilt wer-den. Niemand hat etwas dagegen. Aber Sie verfolgen mitIhrem Referentenentwurf beim Mietrecht genau das ent-gegengesetzte Ziel: Sie wollen die Rechtslage zulastender Mieterinnen und Mieter verändern.Es ist vorhin schon ausgeführt worden: Warum solldenn, wenn eine Gegenleistung nicht erbracht wird, keinRecht auf Mietminderung bestehen? Das hat sich in derganzen Geschichte des sozialen Mietrechts in Deutsch-land bewährt. Wenn wir immer vom Idealfall ausgingen,bräuchten wir keine Gesetze zu machen. Ich glaube, dassin 90 Prozent der Fälle alles wunderbar funktioniert. Al-lerdings werden es beim Bau wohl doch nicht 90 Prozentder Fälle sein. Sie sind Architekt und müssen das wis-sen.Aber was ist denn, wenn Mieterinnen und Mieter– das muss noch nicht einmal unmittelbar der Vermieterverschulden – auf einmal tatsächlich in einer fast nichtmehr bewohnbaren Wohnung leben? Was ist, wenn zweioder drei Sanierungsmaßnahmen in zeitlich geringemAbstand aufeinanderfolgen? Verdreifachen sich dann dieDuldungspflichten? Auf diese spannenden Fragen müs-sen Sie eine Antwort geben.Bisher haben Sie uns vorgeworfen, dass wir die An-träge so kurzfristig vorgelegt haben, aber selber habenSie Ihre Rede damit eingeleitet, dass seit einem Jahr einReferentenentwurf vorliegt. Das ist schön. Also eineDauer von einem Jahr ist schon sehr ambitioniert. Abergerade war es noch nicht sicher, ob der Gesetzentwurf indiesem Mai oder erst im nächsten Mai vorgelegt wird.Legen Sie einen Entwurf vor! Aber bei den darin enthal-tenen Ansätzen lassen Sie ihn lieber in der Schubladeliegen!
In den Metropolregionen gibt es eine Zunahme dersozialen Spaltung aufgrund der Bezahlbarkeit von Woh-nen. Deswegen ist auch kritisch auf den Prüfstand zustellen, was in der Föderalismuskommission gemeinsamvereinbart worden ist. Wir reden jetzt darüber: Was pas-siert in dem Zeitraum 2013 bis 2019?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21365
Florian Pronold
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– 2013 muss es eine Entscheidung geben. In den Jahren2014 bis 2019 wird dann aller Wahrscheinlichkeit nachdie Fördersumme immer weiter gekürzt. Wir stellen fest,dass es in den Metropolregionen zunehmend Problemegibt, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deswegen istdie Frage, wie Bund und Land gemeinsam auf diese Fra-gestellung reagieren.Was mich stört, ist, dass derjenige, der eigentlich da-für zuständig ist, ein bisschen Etikettenschwindel be-treibt, weil im Titel seines Ministeriums immer noch dasWort „Bau“ enthalten ist. Ich meine den Verkehrs- undBauminister, Peter Ramsauer, der bei dieser Debattewieder einmal nicht da ist.
Immer, wenn es um Fragen des Bauens geht, ist der HerrRamsauer ein Totalausfall. Dafür interessiert er sichnicht. Er ist gegangen, bevor diese Debatte begonnenhat.
So war das. Ich finde, es ist ungehörig gegenüber diesemHause, dass der zuständige Minister dann, wenn wir überdie Zukunft der sozialen Wohnraumförderung reden,durch Abwesenheit glänzt.
Das ist natürlich für die Debatte angesichts dessen, waser bisher gesagt hat – das gebe ich zu –, nicht schädlich.Aber trotzdem wäre es nicht schlecht, wenn er da wäre.Ich finde, wir müssen uns im parlamentarischen Ver-fahren bemühen, aus vielen guten Anträgen, die es auchvon der Linken und den Grünen gibt, die Ideen zusam-menzubringen, die darauf setzen, dass wir in der energe-tischen Sanierung einen ordentlichen Fortschritt ma-chen, die aber auch auf bezahlbares Wohnen setzen unddie darauf setzen, dass das soziale Mietrecht erhaltenbleibt und dass wir nicht einseitig zulasten der Mieterin-nen und Mieter die Gesetzeslage verändern.Jeder von uns kann doch nachvollziehen, was es be-deutet, wenn ein Vermieter von Mietnomaden in einedramatische Situation gebracht worden ist. Es gibt dochniemanden, der das nicht ernst nimmt. Aber Sie könnennicht, um so einen Einzelfall zu verhindern, alle Miete-rinnen und Mieter in Geiselhaft nehmen und Rechtsver-schlechterungen für sie hinnehmen. Das geht nicht. Da-gegen wehren wir uns.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bluhm?
Gerne.
Herr Kollege Pronold, habe ich Sie richtig verstan-
den, dass Sie eben eine Einladung an die Linke und die
Grünen ausgesprochen haben, gemeinsam an den vorlie-
genden Anträgen zu arbeiten, um Mieterschutz und Kli-
maschutz hinzubekommen? Wenn das so wäre, dann
würden wir uns sehr darüber freuen und unsere Bereit-
schaft dazu erklären.
Ich bin ein sehr netter, freundlicher und höflicher
Mensch, und ich habe an das ganze Haus die Einladung
ausgesprochen, gemeinsam an diesem Problem zu arbei-
ten und die guten Ansätze, die bei Ihnen, den Grünen
und uns vorhanden sind, die ich aber bei Schwarz-Gelb
vermisse, mit einer Mehrheit in diesem Hause zu verab-
schieden.
Ich werde aber insbesondere daran arbeiten, dass wir
bald wieder gestaltungsfähig sind und mit anderen
Mehrheiten vernünftige Gesetze machen können.
Sehr geehrte Damen und Herren, das Thema soziales
Mietrecht und bezahlbares Wohnen wird in den nächsten
Jahren in den Monopolregionen stark an Bedeutung ge-
winnen. Ich glaube, wir sind gut beraten, uns dieses The-
mas anzunehmen, und zwar ohne ideologische Scheu-
klappen genau hinzuschauen und die verschiedenen
Interessen vernünftig abzuwägen, aber auch dafür zu
sorgen, dass das, was in Ihrem Referentenentwurf ent-
halten ist, nicht zur Realität wird.
Ihr Referentenentwurf sieht vor, dass Mieter zu Melk-
kühen werden. Das wollen wir nicht. Wir wollen einen
gerechten und sozialen Ausgleich, und wir wollen für
die, die zu einem geringen Einkommen arbeiten, bezahl-
bares Wohnen in den Metropolregionen sichern.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Frak-
tion.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Ver-ehrte Kollegen! Herr Kollege Pronold, einmal wollenSie, dass die Regierung den Referentenentwurf als Ge-setzentwurf vorlegt; einmal wollen Sie, dass er in derSchublade verbleibt. Was denn nun?
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21366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Stephan Thomae
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Aber wie auch immer: Es gibt einen Referentenent-wurf, wie Sie wissen. Der normale Gang der Dinge ist,dass der Referentenentwurf jetzt an Länder und Ver-bände zur Stellungnahme verschickt wird, und dannwarten wir als Parlament das Verfahren ab.Am 23. Mai wird der Referentenentwurf im Kabinettberaten und beschlossen. Dann werden wir als Parlamentdie Chance haben, den Gesetzentwurf der Regierung zuberaten, nachdem die Regierung die Stellungnahmen derVerbände und Länder in den Referentenentwurf eingear-beitet hat.Das ist der normale Gang der Dinge. Was machen Sienun daraus? Mitten in diesem Verfahren, in dem wir zu-nächst abwarten sollten, was letzten Endes Beratungs-grundlage des Parlaments sein wird, bringen Sie denvorliegenden Antrag ein, in dem Sie den Referentenent-wurf diskutieren. Damit machen Sie sozusagen den Zwi-schenstand zum Gegenstand der Beratungen, bevor wirgenau wissen, was in dem Gesetzentwurf enthalten seinwird.Das wird der Wahl am Sonntag geschuldet sein.Wahlkampfzeiten haben ihre eigene Logik und Gesetz-mäßigkeit.
Hier blitzt durch jedes Knopfloch durch, dass eigentlichWahlkampf betrieben werden soll.Richten wir aber den Blick auf Ihre Vorstellungen.Nach Vorstellung der SPD ist das Mietrecht offenbar einMieterrecht bzw. alleiniges Recht des Mieters. Mietrechtist aber ein Recht der Vermieter und Mieter. Beide sindVertragsparteien, und beide müssen ein ausgewogenesRecht vorfinden, in dem sie sich wiederfinden können.
Denn der Vermieter investiert in den Mietwohnraum. Erfinanziert sozusagen vor.Nun wollen wir erreichen, dass möglichst viele Ei-gentümer bzw. Vermieter in Deutschland energetisch sa-nieren. In dieser Hinsicht sind die Vorschläge, die Sie,meine Damen und Herren von der SPD, unterbreiten,nichts anderes als Sanierungsverhinderungsprogramme.Genau das wollen wir nicht haben.
Sanierungskosten sind nachträgliche Anschaffungs-kosten und fließen in den Wert des Objekts ein. Sie be-stimmen am Ende auch die Miethöhe. Deswegen ist esvollkommen logisch, dass die Umlage der Modernisie-rungsinvestitionen, die der Vermieter tätigt, auch nachAblauf des Umlagezeitraums den Wert des Objekts unddamit die endgültige Miethöhe mitbestimmt. Wenn derEigentümer das Objekt verkaufen würde, hätte die Mo-dernisierung Einfluss auf den Wert und würde damit denVerkaufspreis bestimmen. Der Käufer würde diesenWert ebenfalls in die Miete einfließen lassen. Deswegenist es völlig logisch, dass dieser Wert erhalten bleibt.Die Duldungspflichten des Mieters werden von Ihnenangegriffen. Das ist nun einmal ein Teil des Anreizpro-gramms. Wir wollen erreichen, dass der Mieter eineenergetische Sanierung nicht verhindern kann. Wir wol-len, dass die Baumaßnahmen zur energetischen Sanie-rung nicht als Belastungen empfunden werden. Der Ver-mieter muss die Baumaßnahme als solche erklären underklären, dass es sich dabei um eine energetische Sanie-rungsmaßnahme handelt. Der Mieter hat die Möglich-keit, zu prüfen, ob die Modernisierung tatsächlich derenergetischen Verbesserung des Gebäudes dient
oder ob es sich um Maßnahmen handelt, die mit einerenergetischen Sanierung, zum Beispiel wenn es um Bar-rierefreiheit oder die Sanierung des Badezimmers geht,nichts zu tun haben. Das ist für uns ein Element der so-zialen Ausgewogenheit. Der Vermieter soll nicht mogelnund muss darlegen, dass es sich um eine energetischeSanierung des Objekts handelt. Daran führt kein Wegvorbei.
Wir wollen, dass das Energiesparpotenzial nach ausge-wogenen Spielregeln ausgeschöpft wird, die beiden Sei-ten zugutekommen. Auch der Mieter, der in einem ener-getisch sanierten Objekt wohnt, hat etwas davon; denn erspart Heizkosten. Das Erreichen dieses Ziels wollen wirnicht erschweren.
Sie haben das Thema Mietminderung schon ange-sprochen. Wir wollen das Recht auf Mietminderung –das könnte ein Verhinderungsgrund bzw. eine Anreiz-hemmung bei der energetischen Sanierung sein – ab-schwächen. Deswegen wollen wir bei energetischen Ge-bäudesanierungen die Möglichkeit, die Miete zumindern, für drei Monate nicht zulassen. Aber auch hierbehalten wir die soziale Ausgewogenheit im Blick.Wenn eine energetische Sanierungsmaßnahme länger alsdrei Monate andauert, dann hat der Mieter wieder dieMöglichkeit zur Mietminderung. Wenn beispielsweiseden ganzen Sommer über die Fenster verhängt sind, hatder Mieter nach drei Monaten das Recht, die Miete zumindern. Daran können Sie erkennen, dass wir die Inte-ressen des Mieters sehr wohl im Blick haben.Die rasant steigenden Mieten sind schon angespro-chen worden. Ich bin der Meinung, dass Sie hier einZerrbild gemalt haben. Natürlich gibt es Innenstädte, indenen die Mieten steigen und sehr hoch sind. Aber nichtalle Münchner können in Schwabing und nicht alle Ber-liner in Charlottenburg wohnen. Deswegen gibt es einausgereiftes ÖPNV-System in Ballungsräumen und gro-ßen Städten. In meinen Augen spucken Sie nur Wahl-kampftöne. Was Sie vorhaben, ist unausgewogen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21367
Stephan Thomae
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– Das mag in Hamburg so sein. Das gibt es auch in Mün-chen und Berlin, wie gesagt. Es gibt aber Gegenbei-spiele, Gegenden, in denen die Vermieter mit Leerstand,Mietausfällen und Mietrückgängen zu rechnen haben.Das Thema Einmietbetrug wurde ebenfalls bereits an-gesprochen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die SPDden Einmietbetrug – das ist der Rechtsbegriff für Miet-nomadentum – privilegieren will. Auch der Mieterbundwill das nicht wirklich und ist sich darüber im Klaren,dass Einmietbetrug nicht schützenswert ist. Es ist richtig,dass wir etwas gegen das Mietnomadentum unterneh-men. Der Rechtsweg wird übrigens nicht beschnitten.Wir haben bei der Nachbesserung sehr genau auf dieAusgewogenheit geachtet. Es wird nicht nur eine Hinter-legungsanordnung, sondern eine Sicherungsanordnunggetroffen, die vom Gericht bestätigt werden muss. DasGericht muss die Erfolgsaussichten prüfen und die Inte-ressen von Mieter und Vermieter gegeneinander abwä-gen. Es wird eine Beschwerdemöglichkeit geben. Wirhaben hier durchaus filigran gearbeitet und das Wohl derMieter im Blick gehabt.Fazit: Wir wollen ein sozial ausgewogenes Mietrechtbeibehalten, wir wollen aber auch die Anreize für ener-getische Sanierung erhöhen. Wir behalten also beide Sei-ten im Blick. Wir wollen keinen Wahlkampf betreiben,sondern ein sozial ausgewogenes, aber energetisch ambi-tioniertes Mietrecht schaffen. Das ist unser Anliegen.Dazu werden Sie noch in diesem Monat einen Gesetz-entwurf erhalten.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident, herzlichen Dank. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir de-
battieren heute über zwei Anträge, die von der SPD-
Fraktion vorgelegt worden sind. Über den Antrag zum
Mietrecht haben wir jetzt sehr lange und ausführlich dis-
kutiert. Deswegen möchte ich dazu nur noch zwei kurze
Bemerkungen machen.
Herr Egloff, Frau Bluhm, Sie haben übereinstimmend
den Antrag des Berliner rot-roten Senats gelobt und ge-
sagt, dass er richtig und wegweisend für den Schutz von
Mieterinnen und Mietern in den Bereichen von Ballungs-
räumen sei, in denen Gentrifizierung, also die Verdrän-
gung von nicht ganz so reichen Mietern, stattfinde. Ich
habe Ihre Berliner Politik in den letzten Jahren sehr in-
tensiv verfolgt. Herr Kollege Liebich und ich, wir haben
uns schon oft darüber gestritten. Wer erst 5 000 Wohnun-
gen in einem sozialen Brennpunkt geschlossen an
Hedgefonds verkauft, der kann nicht zwei Jahre später
ernsthaft und glaubwürdig hier einen solchen Antrag vor-
legen.
Zwischen Reden und Handeln besteht bei Ihnen einfach
ein riesiger Widerspruch.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebich?
Bitte schön, aber nicht wieder die alte Diskussion,
Herr Liebich.
Anschließend will auch Kollege Pronold eine Zwi-
schenfrage stellen.
Liebe Frau Kollegin Vogelsang, Sie haben es gesagt,
wir haben uns darüber schon häufiger gestritten. Aber da
Sie immer wieder, ohne auf den Zusammenhang hinzu-
weisen, dieselbe Behauptung erheben, möchte ich die
Möglichkeit einer Zwischenbemerkung nutzen und noch
einmal Folgendes klarstellen: Der Verkauf der Berliner
Wohnungsbaugesellschaft GSW ist vollkommen zu
Recht als ein Fehler zu bezeichnen. Das stimmt. Ich
möchte aber zugleich daran erinnern, dass es eine Koali-
tion von CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gewe-
sen ist, die den damaligen Haushalt der rot-roten Koali-
tion vor das Berliner Verfassungsgericht gezerrt hat,
obwohl in diesem Haushalt bereits massive Einsparun-
gen, die unter heftigen Auseinandersetzungen in der
Stadt durchgesetzt wurden, vorgesehen waren. Sie haben
damals gesagt, dass dieser Senat zu wenig gespart habe.
Sie, die CDU, die FDP und Bündnis 90/Die Grünen,
haben die damalige rot-rote Koalition massiv unter
Druck gesetzt, endlich Privatisierungen vorzunehmen.
Ich sage noch einmal: Die Entscheidung damals war ein
Fehler, aber die CDU sollte nun wirklich nicht so tun, als
wäre sie diejenige Partei, die damals für den staatlichen
Wohnungsbau gekämpft hätte.
Kollege Pronold, wollen auch Sie Ihre Zwischenfragestellen? Dann kann Frau Vogelsang zusammenhängendantworten.
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21368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
(C)
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Ich habe mit großer Überraschung zur Kenntnis ge-
nommen, dass Sie kritisieren, dass Wohnungsbaugesell-
schaften an Heuschrecken verkauft werden. Das ist Ihre
Position. Sprechen Sie da aber auch für Ihre Fraktion?
Heißt das, dass nach Ihrer Ansicht die Position der CDU/
CSU und der FDP, die immer noch für die steuerliche
Förderung von Real Estate Investment Trusts sind und in
dieser Wahlperiode diese Förderung sogar verbessert ha-
ben, revidiert werden muss?
Ich möchte zunächst gerne auf die Frage von Herrn
Liebich antworten. Herr Kollege, ich habe nicht den Ver-
kauf der GSW gemeint, sondern ich habe von dem Ver-
kauf von 5 000 Wohneinheiten der STADT UND LAND
Wohnbauten-Gesellschaft gesprochen. Das wissen Sie
ganz genau. Diese sind im Norden von Neukölln gele-
gen, in einem sehr schwierigen Bereich. Da verhält sich
das eben völlig anders. Sie haben nicht ein einziges Mal
die Position der CDU in dieser Frage zur Kenntnis ge-
nommen. Diese hat sich nämlich immer dagegen ge-
wehrt, in so großem Umfang städtischen Wohnungsbau-
bestand in sozialen Ballungsräumen zu veräußern. Es ist
einfach nicht wahr, was Sie sagen.
Herr Pronold, wenn Sie ansprechen, dass ich hier eine
Position gegen den Verkauf von großen Wohnungsbau-
beständen in sozialen Brennpunkten an sogenannte Heu-
schrecken eingenommen habe, an diejenige Immobilien-
wirtschaft, die nur herauszieht, anstatt den Mieter und
den Mieterschutz sowie die langfristige Perspektive im
Blick zu haben, dann haben Sie sicherlich recht.
– Ich bin mir ganz sicher, dass ich hundertprozentige Rü-
ckendeckung meiner Fraktion habe,
wenn ich mich für vernünftige Belange und einen ver-
nünftigen Schutz von Mieterinnen und Mietern in diesen
Bereichen einsetze.
Frau Kollegin, es gibt noch den Wunsch nach einer
Zwischenfrage des Kollegen Mücke.
Bitte schön.
Frau Kollegin, können Sie sich erklären, warum die
Fraktion der SPD so aufgeregt reagiert, wenn es um das
Thema Wohnungsprivatisierung geht?
Immerhin hat sie doch zu der Zeit, als die rot-grüne
Regierung Verantwortung trug, den Verkauf der Eisen-
bahnerwohnungen des Bundes mitgetragen, immerhin
120 000 Wohnungen in Ballungsgebieten. Könnte es
sein, dass diese Fraktion deshalb aufgeregt reagiert?
Herr Kollege, ich nehme bei diversen Vorhaben ein-fach einen Unterschied zwischen Reden und Handelnwahr. Das nehme ich wahr bei den Linken, das nehmeich wahr bei der SPD.Schauen wir uns einmal den Antrag der SPD zurWohnraumförderung an – damit möchte ich zum nächs-ten Thema in meinem Redebeitrag übergehen –
– Herr Kollege Pronold! – und hier insbesondere dieachte Forderung – das ist übrigens ein Wunsch, den ichfür verfassungswidrig halte –,
gemäß der die Zweckbindung der Kompensationsmittelauch nach 2014 beibehalten werden soll. Dass Sie dieMöglichkeit des flexiblen Einsatzes der Gelder durch dieLänder ab 2014, die damals unter Federführung eines Fi-nanzministers der SPD so verhandelt worden ist, nunverhindern und die Zweckbindung auch für die Zukunftfestschreiben wollen, erklärt sich, glaube ich, dadurch,dass Sie Angst davor haben, dass Sie dann in Nordrhein-Westfalen vielleicht nicht mehr an der Regierung sind.
Deshalb müssen Sie jetzt vielleicht noch einmal Pflöckeeinschlagen. Anders kann ich eine solche Formulierungin Ihrem Antrag nicht verstehen.
Ich möchte zwischendurch noch einen Satz zum An-trag zum Mietrecht sagen, den Sie gestellt haben. Einsehr netter Kollege hat mir gerade etwas in die Hand ge-geben, was ich sehr bedenkenswert finde. Die Bundes-vereinigung Spitzenverbände der Immobilienwirtschaft– sämtliche Spitzenverbände! –, schreiben in einer Pres-seinformation vom Dienstag zu Ihrem Mietrechtsantrag,also kurz nach dem Beschluss Ihrer Fraktion –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21369
Stefanie Vogelsang
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ich zitiere einmal –:Solche Regelungen würden das Engagement derWohnungs- und Immobilienunternehmen, aber auchder privaten Vermieter, für die energetische Sanie-rung von Wohnungsbeständen rasch beenden. DiesePläne sind mehr als kontraproduktiv, wenn wir dieKlimaschutzziele für den Wohnungsbereich errei-chen wollen.Das kommt nicht von Haus und Grund, sondern von al-len Spitzenverbänden der Immobilienwirtschaft.
– Das hätten Sie ja machen können. – Ich glaube, dassdas eine richtige Position ist, und dass es auch richtig ist,sich darüber Gedanken zu machen.
– Ich bedaure richtig, dass ich nicht mit Ihnen zusammenin einem Ausschuss bin, sonst könnten wir dort viel-leicht Ballspiele machen. Aber jetzt lassen Sie mich bittemeinen Gedanken in Ruhe zu Ende bringen.Wieder zurück zu Ihrem Antrag zur Wohnraumförde-rung: Wir – Bund, Länder, Landesregierungen, Landes-parlamente, Bundestag und Bundesregierung – habenuns in den Jahren 2006/07 gemeinsam intensiv darüberGedanken gemacht, wie wir die unterschiedlichen Auf-gabenstellungen
– es wäre nett, wenn Sie mir jetzt auch zuhören könn-ten! – in den Ländern und im Bund so regeln können,dass sich die Aufgabenbereiche nicht überlappen undwir uns gegenseitig nicht beharken, wodurch sich Ver-fahrensabläufe ja verlängern. Deshalb haben wir klareZuständigkeiten festgelegt. Wir haben in der Großen Ko-alition mit breiter Unterstützung der Länder – das ist miteiner Zweidrittelmehrheit hier in diesem Haus verab-schiedet worden – die soziale Wohnraumförderung, dagerade in diesem Bereich die Situation in der großenBundesrepublik so unterschiedlich ist – das heißt, esmacht einen großen Unterschied, ob Wohnungsbauför-derung in München, Berlin, Osnabrück, Vechta, Fuldaoder Bad Oeynhausen betrieben wird –, ganz klar in dieVerantwortung der Länder übertragen. Diese Übertra-gung der Verantwortung sollte aber nicht sofort zu100 Prozent erfolgen, sondern wir haben beschlossen,sie zu flankieren. Deswegen haben wir einen Zeitraumfestgelegt, in dem der Bund die Wohnungsbauförderungweiterhin finanziert: Bis Ende 2013 investiert er knapp520 Millionen Euro in diesen Bereich. Außerdem habenwir beschlossen, die Mittel bis 2014 genau zu überprü-fen und sie im Jahre 2019 auslaufen zu lassen. Das hatnun Verfassungsrang. Verfassungsrang hat auch, dass dieLänder in den Jahren 2014 bis 2019 das Recht haben, iminvestiven Bereich frei zu entscheiden, wofür sie dieMittel ausgeben, ob für Verkehrsprojekte, für sozialenWohnraum oder für andere Projekte.Laut Ihrem Antrag wollen Sie diese vernünftige Re-gelung, nach der man auf die speziellen Erfordernissekleinerer Einheiten, zum Beispiel von Regionen, einge-hen kann, zurückdrehen. Sie wollen weiter eine breiteFinanzierung, und Sie wollen die Länder weiter an dieKandare nehmen. Sie deuten damit an, dass wir hier vielschlauer seien als unsere Kolleginnen und Kollegen inden Landesparlamenten und dass wir viel besser wüss-ten, in welchen Bereichen investive Mittel einzusetzensind und in welchen nicht.
Ich glaube, dass das, was wir 2007 gemeinsam be-schlossen und mit Zweidrittelmehrheit in unsere Verfas-sung geschrieben haben, richtig war, nämlich dass inZukunft die Bundesländer für die soziale Wohnraumför-derung zuständig sind, dass sie eine Kompensation dafürerhalten, dass diese Kompensation langsam ausläuft unddass die Länder in den Jahren vor Auslaufen der Kom-pensationsmittel frei entscheiden können, wofür sie dieMittel ausgeben.Das Bundesfinanzministerium verhandelt derzeit mitden Bundesländern ob der Ausgestaltung. Ab 2014 ha-ben die neuen Verträge und Vereinbarungen zu gelten.Ich bin sicher, dass es unserem Finanzministerium gelin-gen wird, mit den Ländern zu einer vernünftigen Eini-gung zu kommen. Ich glaube, dass der Weg, den wir da-mals eingeschlagen haben, der richtige ist. Lassen Sieuns dabei bleiben.Danke schön.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kollegen! Ich bin meiner KolleginStefanie Vogelsang dankbar, dass sie für die Zuschauerund Zuhörer an den Fernsehbildschirmen und auf derTribüne schon deutlich gemacht hat, dass wir hier zweiAnträge von der SPD vorliegen haben und der Hauptan-trag offenbar der ist, der sich mit den Themen Mietrechtund Sanierung beschäftigt. Der zweite Antrag handelt
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bloß davon, woher das Geld kommt, mit dem sozialerWohnungsbau gefördert werden soll.Nun ist hier, wie bei vielen anderen Punkten auch, zubeobachten, dass die SPD zwar im Rahmen der Födera-lismusreform mit uns gemeinsam das Ziel verfolgt hat,Mischfinanzierungen aufzulösen. Es gibt ja einen gutenGrund, so etwas abzuschaffen. Es kommt nämlich daraufan, dass politische Ergebnisse auch politisch zuordenbarsind, dass der Bürger weiß, welche Ebene für was zu-ständig ist, und dementsprechend seine Wahlentschei-dung rational treffen kann. Deshalb wollten wir eine Re-form des Grundgesetzes und haben im Zuge dessenMischfinanzierungstatbestände abgeschafft.Jetzt wird das Ganze ernst, auch wenn es eigentlichnoch nicht so furchtbar ernst ist. Es ist vereinbart, dassdas seither gemeinsam Finanzierte zukünftig allein denLändern übertragen wird. Sie erhalten die Gesetzge-bungskompetenz, aber eben auch die Finanzierungskom-petenz. Da man so etwas aber nicht über Nacht machenkann, ist auch vereinbart worden, dass bis zum Jahre2013 ein fester Betrag, spartengenau für Hochschulbau,sozialen Wohnungsbau, ÖPNV usw., an die Ländergegeben wird, dieser dann überprüft und, als Zwischen-stufe bis zur vollständigen Übertragung der Zuständig-keit an die Länder, durch einen Investitionspauschalbe-trag abgelöst wird, den die Länder einsetzen können, wiesie wollen.Genau auf diesem Weg sind wir. Daher gibt es über-haupt keinen Grund, hektisch und aufgeregt Anträge zustellen. Es ist nämlich alles klar: Den Ländern wird Jahrfür Jahr gut eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung ge-stellt, um diese Aufgabe zu bewältigen, eine Aufgabe,die sie einvernehmlich mit übernommen haben. DasGanze ist ja kein einseitiger Prozess seitens des Bundes-tages gewesen, sondern es gab ein Einvernehmen zwi-schen den Bundesländern und dem Zentralstaat Bundes-republik Deutschland.Die Gespräche darüber, ob die Höhe des Betrags an-gemessen ist, werden gegenwärtig geführt. Es spricht aufjeden Fall einiges dafür, den Umfang dieses Betrags ab-zuschmelzen; das sage ich zumindest als Haushälter. DieFinanzierung durch Dritte ist ja oft ein süßes Gift. So giltes, diese Finanzierung möglichst schonend abzuschmel-zen. Dergleichen war schon immer ein kluges Vorgehenund daran führt kein Weg vorbei; das haben Sie offenbarerkannt. Die Länder haben in Zukunft die Verantwor-tung; sie wollen sie aber nicht tragen. Anders kann ichmir die Inhalte der Anträge, die Sie hier auf den Tisch le-gen, nicht erklären.Die Diskussion ist im Gange. Der Bundesfinanz-minister spricht mit den Ländern darüber, wie das Geldverwendet wird. Wenn man sich die Zahlen anschaut,dann erkennt man, dass sehr viel dafürspricht, dass das,was heute gewährt wird, vollkommen ausreichend ist.Wahrscheinlich ist es im Zweifelsfall sogar etwas zuhoch. Früher war es so, dass der Bund soziale Woh-nungsprojekte gefördert hat und die Länder ihren Anteilkofinanzieren mussten. Das heißt, sie mussten eine be-stimmte Quote erfüllen. Leider müssen wir beobachten,dass viele Länder das inzwischen nicht mehr tun. Berlinhat Wohnungsraumdarlehen und anderes abgelöst. Mitdem eingesparten Geld hat es Kasse gemacht. Seine Ver-pflichtung, einen Kofinanzierungsanteil zu leisten, hat esdagegen stillschweigend einschlafen lassen.Das legt den Eindruck nahe, dass die Dringlichkeit,diesen Anteil zu erbringen, bei den Ländern – sie sindnach übereinstimmender Auffassung der Länder wie desBundes besser geeignet, diese Verantwortung wahrzu-nehmen – nicht mehr gesehen wird; sonst würde mannicht das Geld, das man früher klaglos als Kofinanzie-rungsmittel eingesetzt hat, plötzlich nicht mehr einset-zen.Legen Sie also den Antrag, den Sie hier gestellt ha-ben, am besten zur Seite oder ziehen Sie ihn zurück;denn alles, was Sie begehren, ist auf dem Weg.
Die Bundesländer, die näher am Geschehen sind, be-kommen nun eine Aufgabe übertragen, die früher ineiner undurchschaubaren Mischfinanzierung erledigtwurde. Das hat etwas mit subsidiärem Staatsaufbau zutun. Mehrere Redner anderer Fraktionen haben schonangesprochen, dass es natürlich klug ist, eine Aufgabevor Ort zu lösen und ihre Lösung nicht der zentralenEbene aufzuerlegen.Die Gespräche über Angemessenheit und einenzweckgemäßen Einsatz der Mittel laufen gegenwärtigbeim BMF. Wir haben Zeit bis 2013, sie zu Ende zu brin-gen. Es besteht also überhaupt kein Grund, hektisch zuwerden und mit den Hufen zu scharren; vielmehr kanndie Sache in aller Ruhe im Miteinander zwischen derBundesebene und den Bundesländern abgearbeitet underledigt werden.Es geht hier schlicht um Geld. Die, die die Zuständig-keit haben, wollen nicht für die Kosten geradestehen; dasoll wieder einmal der Bund herhalten. Das ist in ande-ren Fällen genauso. Unzuständigerweise haben wir, derBund, in den letzten Jahren für die Länder und die Kom-munen viel gegeben. Ich erinnere nur an die Betreuungvon unter Dreijährigen. Wir, der Bund, haben hierfür un-zuständigerweise 4 Milliarden Euro zur Verfügung ge-stellt,
und dennoch hören wir ständig: Es müsste noch mehrgeben; das ist zu wenig gewesen. Verantwortung vor Ortwahrzunehmen, heißt, sich dieser Verantwortung ganzzu stellen. Wenn man schon Hilfe bekommt, dann mussman sie auch sinnvoll und zweckmäßig einsetzen.
– Herr Pronold, Sie haben gerade gesagt, die Menschenunterschieden nicht zwischen den Ebenen. Wenn es sowäre, hätten wir uns Dinge wie die Föderalismusreformnatürlich sparen können. Wenn Sie damit überfordertsind, den Menschen zu erklären, wer wofür zuständig ist,biete ich Ihnen gerne meine Hilfe an. Ich bringe es eini-
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germaßen flüssig fertig, die Zusammenhänge darzustel-len.Ich will aber keine billige Polemik produzieren, son-dern auf die Absicht, die uns bei der Föderalismusreformgemeinsam geleitet hat, zu sprechen kommen. Geradewegen der Mischtatbestände haben wir gesagt: UmWahlentscheidungen rational treffen zu können, müssendie Menschen erkennen können, welche Politikebene fürwelche Politik zuständig ist. Dieser Weg ist nach wie vorrichtig. Deshalb büxen Sie da bitte nicht aus, sondern ge-hen Sie diesen Weg gemeinsam mit uns weiter, und zwarin dem Sinne, in dem wir gemeinsam das Grundgesetzan diesem Punkt geändert haben.
Ich bin ja durch die haushaltspolitische Zuständigkeitzu dieser Debatte hier gekommen. Ich muss zugeben:Ich bin nicht häufig bei wohnungswirtschaftlichen odermietrechtlichen Debatten;
ich bin ja Ökonom und kein Jurist. Ich will nur nochzwei Appelle loswerden, und zwar an die gesamte Fach-politikerschaft; das hat auch etwas mit örtlicher Kenntniszu tun.Erstens. Vergessen Sie bei allen mietrechtlichen Re-gelungen nicht, dass die 60 Prozent an Mietraum, dieprivat zur Verfügung gestellt werden, existenziell not-wendig sind für unser Land und dass wir einen ordentli-chen Ausgleich zwischen Mieter- und Vermieterrechtenhinbekommen müssen, um die Investitionsbereitschaftnicht zu beeinträchtigen.
Der zweite Appell betrifft die energetische Sanierung.Bei mir im Wahlkreis, im Rheingau-Taunus-Kreis, ist esanders als bei Ihnen in München. Wenn ich durch Ho-henstein oder die Dörfer meiner Heimat gehe, kann ichgenau sagen, wie die Oma heißt, die dort in der großenHofreite mit 1 000 Quadratmetern wohnt, wie alt sie istund wo die Kinder in neuen Wohnungen leben. An diemüssen wir auch denken, wenn wir energetische Sanie-rungen verpflichtend machen wollen. Es darf nicht sein,dass die Oma dann aus ihrem Häuschen vertrieben wird,weil sie sich das nicht mehr leisten kann.
In dem Sinne ein Appell an die Fachpolitik!„Präsident“ blinkt mich hier freundlich an; die Zeit istauf null.Zum Schluss also: Wir können für die Anträge nichtdie Hand reichen. Das ist Unfug, wie ich deutlich ge-macht habe.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9559 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Die Vorlage auf Drucksache 17/9425 soll ebenfalls andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-wiesen werden. Die Federführung ist jedoch strittig. DieFraktionen von CDU/CSU und FDP wünschen Feder-führung beim Haushaltsausschuss; die SPD-Fraktionwünscht Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bauund Stadtentwicklung.Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-vorschlag der SPD, also Federführung beim Ausschussfür Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt fürdiesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag istmit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt.Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-schlag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP: Feder-führung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt für die-sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mitdem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenom-men.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 31 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten DorotheeBär, Markus Grübel, Erwin Rüddel, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Miriam Gruß, NicoleBracht-Bendt, Florian Bernschneider, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPAltersbilder positiv fortentwickeln – Poten-ziale des Alters nutzen– zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Crone,Angelika Graf , Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPDPotenziale des Alters und des Alterns stär-ken – Die Teilhabe der älteren Generationdurch bürgerschaftliches Engagement undBildung fördern– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungSechster Bericht zur Lage der älteren Gene-ration in der Bundesrepublik Deutschland –Altersbilder in der GesellschaftundStellungnahme der Bundesregierung– Drucksachen 17/8345, 17/2145, 17/3815,17/9504 –
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Berichterstattung:Abgeordnete Markus GrübelPetra CroneNicole Bracht-BendtHeidrun DittrichTabea RößnerZu dem Bericht zur Lage der älteren Generation liegtein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-nen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile KollegenMarkus Grübel für die CDU/CSU das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Alt macht nicht das Grau der Haare, alt macht nichtdie Zahl der Jahre, alt ist, wer den Humor verliertund sich für nichts mehr interessiert.
– Das können Sie nachlesen. – Gotthold EphraimLessing zeichnet hier ein interessantes Bild vom Alter.Nicht die Äußerlichkeiten sind entscheidend, nicht dasDatum in der Geburtsurkunde ist entscheidend, sonderndie Einstellung, die jemand hat.
Jeder kennt mit Sicherheit einen 25-Jährigen, der ihm äl-ter vorkommt als ein 75-Jähriger, der vor Tatendrang nurso sprüht.Je nachdem, welches Altersbild wir im Kopf haben,werden wir uns auch verhalten. Gerade für uns in derPolitik, aber auch in der Wirtschaft, in den Medien, inder Gesellschaft ist es wichtig, richtige Altersbilder zuhaben, um dann richtig entscheiden zu können.Darum war es gut und richtig, dass sich der SechsteAltenbericht mit den Altersbildern beschäftigt. Eine derzentralen Botschaften des Berichts ist: Altersbilder nei-gen zur Einseitigkeit und zur Vereinfachung und gebendeshalb die Vielfalt des Alters nicht angemessen wieder.Weder hat das Älterwerden nur allgemein positive Seitennoch nur negative Seiten. Der Sechste Altenbericht zeigtein differenziertes Bild vom Alter. Betont werden dieGleichzeitigkeit von Potenzialen, die Verletzlichkeit vonEntwicklung, die Endlichkeit von Aktivität und dieGrenzerfahrung. Wenn wir an die Älteren in unseren Fa-milien denken, dann haben wir mit Sicherheit auch dieseverschiedenen Bilder im Kopf.Der Sechste Altenbericht nimmt Themen des ViertenAltenberichts – Risiken der Hochaltrigkeit unter Berück-sichtigung demenzieller Erkrankungen – und des Fünf-ten Altenberichts – Potenziale des Alters – auf und setztsie zueinander in Bezug. Der Bericht hatte auch zumZiel, in der seniorenpolitischen Fachöffentlichkeit, aberauch darüber hinaus, eine Diskussion und Reflexionüber Altersbilder anzuregen.Wir beantragen in unserem Koalitionsantrag, beste-hende Altersgrenzen in allen Lebensbereichen zu über-prüfen, insbesondere eine Flexibilisierung des Eintrittsin den Ruhestand. Altersdiskriminierung ist zu vermei-den.In unseren Gesetzen haben wir rund 400 Altersgren-zen. Sie sind häufig von einem besonderen Schutzgedan-ken und von der Annahme der eingeschränkten Leis-tungsfähigkeit geprägt, und zwar häufig, ohne dass manes widerlegen kann.Nach deutschem Recht kann man mit über 70 Jahrenkein Schöffe mehr sein. Bundespräsident kann man aberin diesem Alter werden. Joachim Gauck hat mit 72 Jah-ren noch einmal eine große Verantwortung übernom-men. Sie, Herr Franz Müntefering, könnten noch einmalSPD-Vorsitzender werden; aber Schöffe dürften Sienicht mehr werden. Konrad Adenauer, der uns allen be-kannt ist, hat Deutschland Freiheit und Wohlstand ge-bracht. Er hat geradezu visionär die Weichen für ein ge-eintes Europa gestellt und den Grundstein für diedeutsche Einheit gelegt; aber Schöffe hätte er nicht mehrwerden dürfen. Hier wollen wir etwas ändern.Bestimmte Versicherungen kann man in Deutschlandab dem 65. Lebensjahr gar nicht oder nur unter unattrak-tiven Bedingungen abschließen.Die Altersgrenzen im Recht und in der Rechtspraxisbedürfen einer grundlegenden Revision. Das gilt auchfür die Sicht des Alters in der Arbeitswelt. „Ich wünschemir, dass jene, die es wollen, länger im Beruf bleibenkönnen“, sagte Bundespräsident Gauck beim DeutschenSeniorentag. Ich kann dem nur zustimmen. Wer körper-lich oder geistig fit ist, soll länger arbeiten können, wenner dies will. Der Staat und die Tarifpartner sollten diesnicht erschweren oder gar verhindern. Eine Umfrage vonGenerali zum Thema Lebensarbeitszeit hat ergeben:54 Prozent der 65- bis 75-Jährigen hätten ihren Berufgern länger ausgeübt. Das ist eine interessante Erkennt-nis, der wir uns nicht verschließen sollten.Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben schonvielfältige Maßnahmen ergriffen. Ich nenne hier nur ei-nige stichwortartig.Das Programm „Altersgerecht umbauen“: 62 000Wohnungen wurden mit dem Konjunkturprogramm I al-tersgerecht saniert. Dieses Programm wird als Eigenpro-gramm der KfW in Form eines Darlehens fortgesetzt.Wir haben das Programm „Freiwilligendienste allerGenerationen“. Wir werden uns in Kürze darüber unter-halten, wie wir das Format dieses erfolgreichen Dienstesfortsetzen können.Wir haben das Aktionsprogramm „Mehrgeneratio-nenhäuser II“: Hier kommen die Generationen zusam-men. Die Älteren können zum Beispiel jüngeren Fami-lien helfen. Es gibt aber auch Angebote für demenziellErkrankte.
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Markus Grübel
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Wir haben den Bundesfreiwilligendienst für alle Al-tersstufen geöffnet und für die über 27-Jährigen ein gu-tes Format gefunden.Viele dieser Punkt werden auch in der neuen Demo-grafiestrategie der Bundesregierung aufgegriffen. Kapi-tel C trägt die Überschrift: „Selbstbestimmtes Leben imAlter“. Ziele sind: Selbstbestimmtes Leben, Aktivitätenim Alter fördern und das Leitbild der sorgenden Ge-meinschaft etablieren.Das Thema sorgende Gemeinschaft oder CaringCommunity wurde auch in der Anhörung der Sachver-ständigen wiederholt genannt. Caring Communityumfasst eine Reihe unterschiedlicher Felder wie dieStadtplanung, die kommunale Infrastruktur, den Einzel-handel, die medizinische Versorgung, die pflegerischeVersorgung, bürgerschaftliches Engagement, Wohnfor-men, Nachbarschaftshilfe und vieles mehr. Es ist ein Zu-kunftsthema der Seniorenpolitik, das sowohl die Rolleder Altersbilder als auch der Alterspotenziale themati-siert. Wichtig ist mir, die Vielzahl dieser Themen aus ei-ner kommunalen Perspektive zu betrachten. Dort beste-hen die Probleme, und dort müssen sie auch gelöstwerden. Ich werbe dafür, dass das Thema der sorgendenGemeinschaft, der Caring Community, Thema des Sieb-ten Altenberichts wird und so auf die politische Agendakommt.Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin am Endemeiner Redezeit, aber wir sind noch lange nicht am Endemit unserer Generationenpolitik. Dieser Herausforde-rung stellen wir uns. Ich bin zuversichtlich, dass wir mitden Erkenntnissen des Sechsten Altenberichts, der De-mografiestrategie und der Engagementstrategie der Bun-desregierung auch hier ein Stück weiterkommen.Herzlichen Dank.
Caren Marks hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Werkennt sie nicht, die versteckten oder offenen Botschaftenim Alltag, die sehr deutlich machen, dass ältere Men-schen angeblich zum alten Eisen gehören oder gar einProblem darstellen. In der Presse gibt es Überschriftenwie „Unsere Gesellschaft ist überaltert“, „Deutsche Be-völkerung schrumpft und altert dramatisch“ oder „Al-terspyramide kippt – Viele Alte, wenig Steuern“. ZumGlück liest man heutzutage kaum noch in Stellenanzei-gen: Suche Mitarbeiter zwischen 25 und 45 Jahren.Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat eineUmfrage veröffentlicht, wonach 42 Prozent der Befrag-ten dem Satz zustimmten: Ab 45 bekommt man heutzu-tage praktisch keinen Job mehr. 42 Prozent – das ist fastjeder bzw. jede Zweite. Hier wird deutlich: Ältere Men-schen erleben häufig Diskriminierungen.Deshalb wundere ich mich sehr, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung in dem neu vorgelegten Demo-grafiebericht nicht ein Wort zum Thema Altersdiskrimi-nierung verliert. Nicht eine Silbe! Das ist wirklich traurig,aber auch ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung.
Die Medien, aber auch manche Politikerinnen undPolitiker – ich denke da zum Beispiel an HerrnMißfelder – beschwören oft einen Generationenkonflikt,
indem sie die zunehmende Zahl der älteren Menschenals demografisches Problem beschreiben. Die Alten ver-sus die Jungen – dieses Bild entspricht aber nicht derRealität; denn der Zusammenhalt zwischen den Genera-tionen in unserer Gesellschaft ist enorm groß. Jede undjeder von uns kennt sicherlich zahlreiche Beispiele dafürim Familien- oder Freundeskreis.Auch das Bild von älteren Menschen in der Arbeits-welt ist oft verzerrt. Es heißt: Ältere Menschen sindnicht so stark belastbar. Oder: Jüngere sind leistungsfä-higer. Das hört man häufig hinter vorgehaltener Hand. Inmanchen Branchen gelten Menschen jenseits der 40 so-gar schon als nicht mehr vermittelbar. Das ist wirklichein Skandal und darf nicht hingenommen werden; ichdenke, hierüber besteht Einigkeit im Parlament.Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Diskriminie-rung darf nicht sein, erst recht nicht in Zeiten, in denenUnternehmen einen Fachkräftemangel beklagen. Hiermuss sich ein realistisches, ein differenziertes Altersbilddurchsetzen, bei dem die Potenziale und die Erfahrungenälterer Menschen im Mittelpunkt stehen. Daher finde ichdie Kampagne der Antidiskriminierungsstelle des Bun-des gegen Altersdiskriminierung enorm wichtig. Bei die-ser Kampagne steht das Allgemeine Gleichbehandlungs-gesetz, für das die SPD damals erfolgreich gekämpft hat,im Vordergrund.
Allen Unkenrufen vor allem von Union und FDP zumTrotz: Unsere Gesellschaft braucht eine starke, eineselbstbewusste Antidiskriminierungspolitik.
Es ist eben nicht selbstverständlich, dass Arbeitgeber beiBewerberinnen und Bewerbern vor allem auf die Quali-fikation und nicht aufs Alter schauen. Es ist nicht selbst-verständlich, dass Arbeitgeber gezielt Beschäftigte fort-und weiterbilden, dass sie Belastungen am Arbeitsplatzfrühzeitig erkennen und den Gesundheitsschutz stärken.Es ist auch nicht selbstverständlich, dass Arbeitgeberden Erfolg von altersgemischten Teams sowie die Erfah-rung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer alsunschätzbaren Wert anerkennen.Der Sechste Altenbericht mahnt daher zu Recht eineneue Kultur des Alters an. Dafür müssen wir alle ge-meinsam eintreten. Auch hier sehe ich vor allem dieBundesregierung in der Verantwortung. Aber ich fragemich: Wo bleibt das Engagement der schwarz-gelbenKoalition? Wie geht die zuständige Bundesseniorenmi-
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Caren Marks
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nisterin aktiv gegen Diskriminierung im Alter vor? Wokämpft sie Seite an Seite mit der Arbeitsministerin füreine altersgerechte und faire Arbeitswelt? Wo bleibtFrau Schröders Engagement für eine umfassende Prä-ventionsstrategie und ein Präventionsgesetz, das die Ge-sundheitsförderung im Alltag der Menschen stärkt? Weitund breit nichts in Sicht.
Es ist sogar noch schlimmer. Als Frau von der Leyenletztes Jahr im Zuge der Arbeitsmarktpolitik sinnvolleMaßnahmen für Ältere zusammengestrichen hat, schautedie Seniorenministerin tatenlos und schweigend zu.Auch als Kabinettskollege Ramsauer das Programm„Altersgerecht Umbauen“ zusammenstrich, habe ich vonIhnen, Frau Schröder, keinen Einspruch gehört. Die Se-niorenministerin hat sich wiederholt nicht für die Ziel-gruppe, die sie eigentlich vertreten sollte, eingesetzt.„Nicht meine Ministerin“ – das Motto der empörtenFrauen gegen die Gleichstellungspolitik von FrauSchröder passt gut zu ihrer Seniorenpolitik.
Wir brauchen eine umfassende Strategie, damit wirden gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und dieWertschätzung älterer Menschen fördern können. Wir,die SPD-Bundestagsfraktion, haben dazu Vorschläge er-arbeitet, denen Sie sich gerne anschließen können.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Nicole Bracht-Bendt hat jetzt das Wort
für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Seit im Jahr 1991 unter einer christlich-liberalen Bun-desregierung das erste Seniorenministerium in Europagegründet wurde, hat sich viel getan – positiv wie nega-tiv. In Deutschland wurde sehr früh erkannt, welche ge-waltigen Umwälzungen uns durch den demografischenWandel, aber auch durch eine Gesellschaft des längerenLebens bevorstehen. Frau Professor Lehr ist in diesemZusammenhang viel zu verdanken; denn sie hat die Al-tenberichte der Bundesregierung ins Leben gerufen undsomit in Deutschland sehr früh eine wissenschaftliche,aber auch eine gesellschaftliche Diskussion über das Al-ter und das Altern angestoßen.Trotz dieser frühen Erkenntnis wurden teilweise ver-heerende Fehlentscheidungen getroffen. Für den Bereichder Arbeitswelt möchte ich die Beispiele Frühverrentungund den falschen Hang zum Jugendzentrismus bei Neu-einstellungen hervorheben. Der so wichtige Punkt derErfahrung spielte häufig keine Rolle mehr. Das Bild, dasdie Gesellschaft vom Alter hat, war teilweise negativ. Ei-nerseits waren Ältere in ihrem jeweiligen Lebensalternoch nie so fit und leistungsfähig wie heutzutage, ande-rerseits traut die Gesellschaft Älteren häufig gar nichtsmehr zu.Beim Seniorentag letzte Woche in Hamburg wurdedeutlich, dass der Sechste Altenbericht der Bundesregie-rung die Gemüter bewegt. Die Thematik Altersbilderlegt den Finger in eine klaffende Wunde der Gesell-schaft. „Ja zum Alter“ war der Titel des 10. DeutschenSeniorentags und der Hamburger Erklärung, die dieBundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen,die BAGSO, und ihre 110 Mitgliedsorganisationen zumAbschluss verabschiedet haben. 20 000 engagierte Teil-nehmerinnen und Teilnehmer haben sich in Hamburgversammelt und deutlich gezeigt: Wir leben in einer star-ken Gesellschaft mit starken, engagierten Verbänden. –Dafür möchte ich an dieser Stelle deutlich Danke sagen.
Politik lebt von diesem wichtigen Austausch mit denBürgern. Mich hat es persönlich gefreut, dass in vielenVorträgen und Diskussionsforen Thesen vertreten wur-den, die die Koalition bereits im Antrag „Altersbilderpositiv fortentwickeln – Potenziale des Alters nutzen“aufgegriffen hat. Das gewählte Motto „Ja zum Alter“heißt Ja zu einem möglichst gesunden Älterwerden, esist aber auch ein entscheidendes Ja zur Akzeptanz des ei-genen Alters, und vor allen Dingen ist es ein deutlichesNein zu allen Formen der Diskriminierung. Damitschließt sich der Kreis zum Sechsten Altenbericht; denndurch ihn wird deutlich, dass die dominierenden Alters-bilder in zentralen Bereichen der Gesellschaft, etwa inder Arbeitswelt, in der Bildung, der Wirtschaft, der Poli-tik, beim freiwilligen Engagement oder in der medizini-schen und pflegerischen Versorgung, der Vielfalt des Al-tersbilds häufig nicht gerecht werden. Es gibt eben nichtdie eine Altersform, sondern es gibt viele individuelleFormen des Alters. Die Diskussion über Altersbilder inZeiten des demografischen Wandels muss in den Köpfenund Herzen der Menschen ankommen. Wir müssen unsauch selbst fragen: Wie wollen wir im Alter leben undbehandelt werden?Nun kann man positive Altersbilder nicht verordnenoder verschreiben. Sie entwickeln sich in den Köpfender Menschen, und zwar in einem weitgehend unbe-wussten Prozess. Je mehr positive Beispiele ich von älte-ren Menschen sehe, desto mehr ändert sich mein Bildvom Alter. Es ist ein wichtiger Schritt, alle Altersgren-zen kritisch zu hinterfragen; denn sie prägen unser Al-tersbild ganz besonders. Ich bin überzeugt: Fast alle kön-nen weg.Wir haben einen Bundespräsidenten – das wurdeschon angesprochen –, der 72 Jahre alt ist, was ich aus-gesprochen positiv finde. Bundespräsident darf er wer-den, nach vielen Gemeindeordnungen aber nicht Bürger-meister – zu alt. Ich meine, das ist völlig absurd.Der Bundestag hat mit breiter Zustimmung beschlos-sen – auch die SPD hat zugestimmt –, das Rentenein-trittsalter bis zum Jahr 2030 schrittweise auf 67 Jahre zuerhöhen, was auch für die Mitarbeiter der Berufsfeuer-wehren gilt. Als Angehöriger der Freiwilligen Feuer-
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Nicole Bracht-Bendt
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wehr müssen Sie in einigen Bundesländern mit 65 Jah-ren ausscheiden. Auch das ist völlig absurd.Vielleicht ist es ja bereits eine Folge des Altenberichtsund unserer Diskussion darüber, dass ältere Menschennicht mehr ausschließlich in Werbespots für Haftpulverfür dritte Zähne zu sehen sind.Eine gewichtige Rolle für die Entwicklung positiverund realistischer Altersbilder spielt das Ehrenamt. Derneue Bundesfreiwilligendienst ist ein hervorragendesBeispiel, wie bürgerschaftliches Engagement von älterenGenerationen gelebt wird. Gerade die Nachfrage der Äl-teren übertrifft alle Erwartungen. Bürgerschaftliches En-gagement mildert einerseits die Folgen des demografi-schen Wandels und bietet andererseits Raum für neueAktivitäten. Es gilt, älteren Menschen bezogen aufSelbst- und Mitverantwortung in der Gesellschaft neueWege zu ebnen.Die Koalition will aber nicht nur für die Stärken undPotenziale des Alters sensibilisieren. Das Alter konfron-tiert uns auch mit Grenzen. Dem haben wir uns in derKoalition angenommen, indem wir die Familienpflege-zeit auf den Weg gebracht haben. Auch unser Gesund-heitsminister, Daniel Bahr, hat einen ersten großenSchritt gewagt, indem er Leistungen der Pflegeversiche-rung endlich auch für Demenzerkrankte zugänglich ge-macht hat. Hierauf haben viele Menschen lange gewar-tet.Eine alternde Gesellschaft muss sicherstellen, dassdem Einzelnen in jeder Phase des Lebens eine sozialeTeilhabe möglich ist. Ein selbstbestimmtes Leben mussauch im Alter oberstes Ziel sein. Das setzt Barrierefrei-heit im privaten und öffentlichen Bereich und den ver-stärkten Einsatz technischer Assistenzsysteme voraus.Der Ausbau seniorengerechten Wohnraums ist insoferneine zentrale Zukunftsaufgabe. Aber Barrierefreiheitdarf nicht an der Wohnungstür enden. Hier sind dieKommunen besonders in der Pflicht.Das Europäische Jahr für aktives Altern und Solidari-tät zwischen den Generationen wird die Koalition nut-zen, um die berechtigten Anliegen der älteren Genera-tion voranzubringen. In unserem Antrag skizzieren wirhierzu einen Weg.Ganz herzlichen Dank.
Jetzt spricht Heidrun Dittrich für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Hören Sie auf, über Demografie zu reden.Das lenkt von den wirklichen Problemen ab. Die Tatsa-che, dass es mehr ältere Menschen gibt, erzwingt keinenSozialabbau, sondern Ihre Regierungspolitik, die Steuer-senkungen für die Reichen und Geldgeschenke an dieGroßbanken im Euro-Raum vorsieht, erzwingt einenAbbau des Sozialstaats. Das lehnt die Linke ab.
Im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung gehtes um Altersbilder. In Wirklichkeit sind diese Altersbil-der umkämpft; denn es gibt verschiedene Ältere: armeund reiche. Der Daimler-Chef Dieter Zetsche erhält29,6 Millionen Euro als Gesamtrente. Er hat einen Ver-trag ausgehandelt, nachdem er bereits mit 60 Jahren inRente gehen kann. Ein anderer Topverdiener, der Deut-sche-Post-Chef Frank Appel, kann sogar mit 55 Jahrenin Rente gehen. Seine Rentenzusage liegt bei insgesamt7,2 Millionen Euro. Nachlesen können Sie das in einemArtikel vom 22. April dieses Jahres auf Spiegel Online.Warum können die Superreichen mit 55 Jahren in Rentegehen und die Beschäftigten nicht?
Dass ein früherer Renteneintritt möglich wäre, zeigtsich in Frankreich. Der neu gewählte Präsident Hollandevon der sozialistischen Partei erklärte, dass er das Ren-teneintrittsalter von 62 Jahren wieder auf 60 Jahre sen-ken werde.
Das fordert auch die Linke in ihrem Parteiprogramm.Auf dem 10. Deutschen Seniorentag sagte die Senio-renministerin, Frau Schröder: Hurra, wir werden alt!
Sie nennt als Beispiele für die Vielfalt im Alter denGroßvater im Rollstuhl und die Großmutter auf Roll-schuhen. Das sagt leider nichts über die finanzielle Lagedieser älteren Dame und des älteren Herrn aus.Der Bundespräsident verkündete am selben Tag amselben Ort, dass wir für die geschenkten Jahre, die wirlänger leben, dankbar sein dürfen. Ich frage Sie: Wemgehört die freie Zeit, den Älteren oder der Wirtschaft?Warum sollen die Beschäftigten dankbar sein? Sie habendiesen Staat schließlich aufgebaut. Die arbeitende Be-völkerung hat in die gesetzliche Krankenkasse und in dieRentenversicherung eingezahlt. Dadurch wurde eineGesundheitsvorsorge möglich, durch die die Menschenlänger leben können. Leider wird sie seit Jahren ver-teuert. Ich erinnere an die unsägliche Praxisgebühr von10 Euro, die gerade Geringverdiener von notwendigenArztbesuchen abhält. Die Linke hat vor zwei Wochen imBundestag beantragt, die Praxisgebühr abzuschaffen.Leider wurde das hier mit Mehrheit abgelehnt. Aber dasinteressiert Senioren wirklich.
Der Sechste Altenbericht hat nicht den Auftrag, diesoziale Ungleichheit zwischen Arm und Reich, zwischen
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Heidrun Dittrich
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Männern und Frauen zu erforschen. Die Betonung derFacetten und der Vielfalt verdeckt geradezu die gran-diose Spaltung zwischen Arm und Reich. Aber geradedamit muss sich die Bundesregierung aus meiner Sichtbefassen.
In Deutschland sind durch Ihre Politik 3,9 MillionenFrauen in Minijobs; sie können nur unzureichend Ren-tenanwartschaften erwerben. Sie sind besonders gefähr-det. Wer garantiert denn, dass sie einen Partner haben,der sie mitversorgt? Frauen verdienen im Durchschnitt23 Prozent weniger als Männer. Dieser Einkommensun-terschied steigt in der Rente auf 60 Prozent an.In einer Studie über die Lebens- und Erwerbsverläufevon Frauen, geboren zwischen 1955 und 1964, steht,dass die monatlichen Renten in dieser untersuchten Ba-byboomer-Generation im Westen bei im Durchschnitt700 Euro und im Osten bei im Durchschnitt 680 Euroliegen. Das ist Grundsicherungsniveau. Das ist Hartz IVim Alter. Die Hälfte der Frauen in Westdeutschland hatsogar eine gesetzliche Rente von unter 600 Euro. Siesind auf jeden Fall auf Sozialleistungen angewiesen.Deswegen fordert die Linke, dass es Frauen ermöglichtwird, in tariflich gut bezahlten Berufen ausreichende ei-genständige Rentenanwartschaften zu erwerben.
Dafür brauchen wir vor allem die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf. Wer keine Kindergärten finanziert,wer keine Erzieherinnen einstellt, der verweigert denFrauen die Ernährerinnenrolle, er verweigert ihnen denAufbau einer eigenen Rente. Wir brauchen Sozialversi-cherungspflicht ab dem ersten Euro. Weg mit den Mini-jobs!
Wir brauchen die Wiederherstellung der Lebensstan-dardsicherung in der Rente und eine solidarische Min-destrente von mindestens 900 Euro.
Die soldarische Bürgerinnen- und Bürgerversiche-rung wäre finanzierbar – Sie wissen es –, wenn dieAckermänner der Welt, die Beamten und die Bundes-tagsabgeordneten einzahlen würden.
Das wäre Solidarität und nicht nur Solidarität der Be-schäftigten untereinander.Sie sagen: Die Menschen sollen für die geschenktenJahre dankbar sein, sie sollen dankbar dafür sein, dasssie einen Sozialstaat aufbauen konnten, an dem – icherinnere daran – seit der Agenda 2010, seit Rot-Grün– diese Regierung setzt das fort –, kräftig gesägt wird. Ir-gendjemand muss den sozialen Zusammenhalt ja organi-sieren, aber es darf nichts mehr kosten.Das Ehrenamt wird auf Verlängerung der Altersgren-zen untersucht. Es geht dabei nicht darum, das Leben imAlter selbstbestimmt zu genießen, sondern darum, in dersozialen Arbeit eingesetzt zu werden. Der Bundesfrei-willigendienst und der Freiwilligendienst aller Genera-tionen – das unterstützen außer der Linken Sie alle hierim Bundestag – überschreiten die Altersgrenze und öff-nen die Schleusentore zum Arbeiten im Alter, um über-haupt noch Teilhabe erlangen zu können. Wir meinen:So geht das nicht.
Dabei geht es nicht um die Potenziale der Älteren, dieman heben sollte. Dabei geht es nicht um die indivi-duelle Entwicklung der Menschen. Vielmehr geht es da-bei um Folgendes – so müssen wir hier jedenfalls be-fürchten –: Wer als Ehrenamtlicher länger arbeiten kann,der kann es auch als Arbeitnehmer. Das lehnt die Linkeab. Wir bestehen auf einem gesetzlichen Renteneintritts-alter.Dass ältere Menschen, vor allem Frauen, schon jetztgezwungen sind, zu ihrer Rente dazuzuverdienen, machtdie Sache doch nicht besser. Das ist ein Skandal. Siekönnen das nicht schönreden, indem Sie sagen, dass dieMenschen länger arbeiten wollen. Sie müssen länger ar-beiten. Von einem neuen Altenbericht erwarte ich, dassman sich darin realistisch mit der Lage der Menschenauseinandersetzt, dass darin Vorschläge gemacht wer-den, wie die Regierung die Lage der armen Frauen imAlter verbessert, und dass darin auch die Situation vonMigrantinnen und Migranten und Menschen mit Behin-derungen beachtet wird. Denn aus Sicht der Linken ha-ben alle das Recht auf ein abgesichertes Alter in Würde.
Elisabeth Scharfenberg hat jetzt das Wort für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Die Diskussion über den Altenbericht bietet unseine wunderbare Möglichkeit, um Zwischenbilanz zuziehen, Zwischenbilanz darüber, was Schwarz-Gelb seit2009 im Bereich der Altenpolitik erreicht hat. DieseBilanz fällt nicht gerade glänzend aus.
Bei dieser Bilanz sehen wir, dass die zuständige Fami-lienministerin, Sie, Frau Schröder, ihre Liste der politi-schen Irrungen und Wirrungen – ich sage nur: Frauen-quote, Betreuungsgeld, Familienpflegezeit – durch dieAltenpolitik erweitert. Das alles sind fehlgeschlagenePolitikansätze, einer nach dem anderen.
Auf dem Deutschen Seniorentag letzte Woche inHamburg – er wurde schon mehrmals erwähnt – wurdedeutlich, dass diese Einschätzung von den Älteren in un-
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Elisabeth Scharfenberg
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serem Land durchaus geteilt wird. Der Redebeitrag vonIhnen, Frau Schröder, wurde mit Buhrufen quittiert. Dasist bitter. Ich frage mich: Wer fühlt sich in diesem Landeigentlich noch von Ihnen vertreten? Frauen, Kinder, Ju-gendliche, Seniorinnen und Senioren, alte Menschen?Ich muss sagen: Da wird die Luft immer dünner.
Es braucht in meinen Augen Format, Ziele und eine Vi-sion, um das Amt der Familienministerin auszufüllen.Genau das vermisse ich an der Spitze des Familienminis-teriums.
Der Antrag „Altersbilder positiv fortentwickeln –Potenziale des Alters nutzen“ von CDU/CSU und FDPspiegelt die altenpolitische Leere ganz klar wider. DerAntrag verliert sich in Appellen und der Vergabe vonPrüfaufträgen. Das ist alles andere als zielführend.Wozu, frage ich Sie, benötigen wir noch einen Altenbe-richt, der doch wirklich in guter Art und Weise die The-men benennt, wenn dann alles wieder und wieder einerPrüfung unterzogen werden soll? Wir haben in einigenBereichen überhaupt kein Wissensdefizit mehr; diesesStadium haben wir längst hinter uns gelassen.
Warum soll denn noch einmal geprüft werden, ob dasKfW-Programm zum altersgerechten Umbau fortgeführtund weiter mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt ausge-stattet werden soll?
Es muss fortgeführt werden. Das ist eine Frage der poli-tischen Vernunft.
Das wird von allen Seiten befürwortet.Die Anhörung in dieser Woche im Verkehrsausschusszur barrierefreien Mobilität und zum barrierefreien Woh-nen hat den enormen Handlungsbedarf ganz klar aufge-zeigt. Alle geladenen Expertinnen und Experten warensich einig. Wir meinen, dass wir zudem eine Weiterent-wicklung der Fördermöglichkeiten brauchen. Insgesamtfrage ich mich aber ernsthaft, ob der Altenbericht unddie Anhörung bei Ihnen überhaupt ein Umdenken be-wirkt haben. Es wurde wiederholt betont, dass wir unsum die Neuorientierung der Altersbilder kümmern müs-sen. Aber was ist auf der Internetseite des Gesundheits-ministeriums zur Pflege immer noch zu lesen? Da wirdgetitelt – ich zitiere –: „Pflegefall – was tun?“
Sehr geehrte Frau Ministerin, es gibt keinen Pflegefall.Es gibt nur Menschen, die einen Pflegebedarf habenoder Unterstützung benötigen. Einen Menschen kannund darf man nicht auf einen Fall reduzieren. Der Be-griff „Pflegefall“ gehört in die Unwortkategorie, ge-nauso wie die Wörter „Alterslast“, „Demografiefalle“oder was es da sonst noch gibt.
Das alles zeigt uns aber, dass wir die Erkenntnisse derAltenberichte konsequenter sichern und umsetzen müs-sen. Wir fordern, dass zukünftige Altenberichte detail-lierte Umsetzungsempfehlungen beinhalten. Es gehtdoch nicht, dass wir hochkarätige Expertinnen und Ex-perten zu der Ausarbeitung eines Altenberichtes einberu-fen. Dann versehen wir das Ergebnis mit einer Druck-sachennummer und organisieren vielleicht noch ein paarflankierende Veranstaltungen. Und dann? Dann ver-schwindet der Altenbericht in der Schublade.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, nicht diestaubige Schublade, sondern ein Aktionsplan muss dasZiel eines Altenberichtes sein. Eine Stellungnahmereicht nicht aus. Für die weitere Bearbeitung der Themenist es notwendig, eine Monitoringstelle zu schaffen, zumBeispiel im Familienministerium. Wir brauchen kon-krete Maßnahmen zur Ergebnissicherung. Außerdem istdie Vernetzung mit den anderen beteiligten Ministerienüberaus wichtig.Für uns Grüne ist eine Altenpolitik, die nicht in allenBereichen verankert ist, wie ein umhertreibendes Schiffohne Hafen. Dieses Schiff braucht aber Ankerplätze inallen wichtigen Politikgewässern: in der Bildungs-, inder Wirtschafts-, in der Gesundheits-, in der Arbeits-marktpolitik. Nur so werden wir den Belangen der Älte-ren wirklich gerecht. Ansonsten wird sich am Altersbildwirklich nicht viel ändern.
Eine Altenpolitik, die Hand und Fuß hat, muss alle imBlick haben. Die fitte 87-jährige Dame, die noch die Ju-gend im Turnverein trainiert, gehört genauso dazu wieder alleinlebende ältere Herr, der aufgrund seiner Pflege-bedürftigkeit seine Wohnung überhaupt nicht mehr ver-lässt. Beide brauchen in ganz unterschiedlicher Art undWeise unsere Unterstützung.Weder die Horrorszenarien der Überalterung noch dieüberbordende Betonung der Potenziale im Alter werdender Vielfalt des Alters gerecht. Nur eine aktive Genera-tionenpolitik kann helfen, das Alter wirklich neu zu defi-nieren. Diese Gesellschaft benötigt neue Ideen, Offen-heit und eine ehrliche Diskussion über einenGenerationenvertrag.
Frau Ministerin, ich bin auf Ihre Ausführungen gleichgespannt.Vielen Dank.
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Das Wort hat Ingrid Fischbach für die CDU/CSU-
Fraktion.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! FrauPräsidentin! Frau Ministerin! Nach den Reden der Oppo-sition kann ich nur sagen: Oh Gott, oh Gott, es muss ei-nem ja grauen, wenn man alt wird.
Wenn ich jetzt auf die Tribünen schaue und mir dieGruppen ansehe, die dort oben sitzen, dann sehe ichstrahlende Gesichter. Ich sehe Menschen, die sichfreuen, dass sie ihr Alter genießen können.
– Sie haben den Altenbericht überhaupt nicht gelesen.
Ein wichtiger Punkt – ich glaube, das unterscheidetuns ganz gehörig – ist ein neuer Blick auch auf die fitteältere Generation.
Es gibt nicht nur die Alten, die krank und pflegebedürf-tig sind und unsere Hilfe brauchen, sondern es gibt Gottsei Dank auch die fitten älteren Menschen. Wir werdenälter, wir leben gesünder, wir können besser medizinischversorgt werden, wir können unser Leben, unser Altergenießen. Ich finde das total toll. Ich freue mich auf die-sen Lebensabschnitt, aber nicht aufgrund Ihrer Ausfüh-rungen.
Ich glaube, deswegen ist es wichtig, dass wir an die-ser Stelle deutlich machen, worin sich die Oppositionund die christlich-liberale Regierung unterscheiden.Wir wollen die Potenziale des Alters wirklich aus-schöpfen und Nutzen stiften. Das heißt, ältere Men-schen, die sich gut fühlen, die Kompetenz haben, dieWissen haben, die sich einbringen können, sollen dieChance haben, das zu tun. Darum müssen sie nicht bittenund betteln, sondern das ist ihr gutes Recht. Wir könnennur froh sind, auf diese Kompetenz und Erfahrung zu-rückgreifen zu können.
Ich habe hier jetzt eine Kollegin der SPD und aucheine Kollegin der Grünen gehört. Man fragt sich natür-lich, was hier geredet wird und was an den Stellen getanwird, wo man etwas tun könnte.Ich betrachte jetzt einmal ganz zufällig die Situationin Nordrhein-Westfalen.
Sie haben sich sicherlich gedacht, dass ich aus meinemBundesland berichten kann.Sie, Rot-Grün, sind für die Seniorenpolitik in Nord-rhein-Westfalen zuständig. Frau Scharfenberg, Sie habengesagt, man brauche Ziele und Visionen. Ich habe in denletzten zwei Jahren vor Ort nachgefragt, welche Zieleund Visionen die Ministerin hat, die für die Senioren zu-ständig ist. Darauf wurde mir zuerst die Frage gestellt:Wer ist denn für uns zuständig?
Das Ministerium, das wir als Christlich-Liberale ge-schaffen hatten, nämlich das Ministerium für Generatio-nen, Familie, Frauen und Integration, haben Sie aufge-löst. Sie haben die Aufgaben auf drei Ministerienverteilt, damit erst einmal niemand zuständig ist. Sieschicken die Menschen von rechts nach links, zum Bei-spiel ins Familienministerium. Schließlich taucht in ei-nem Ministerium das Wort „Alter“ auf. Wissen Sie, inwelchem Zusammenhang? Alter und Pflege!
Das ist genau das Altersbild, das Sie haben: Alter undPflege.
Jetzt kann man ja fair sein und sagen: Okay, so sindsie halt. Das wollen sie so sehen, dann sollen sie es auchso tun. – Was tun Sie hier aber, obwohl Sie doch denSchwerpunkt auf Alter und Pflege legen? Nichts!Sie haben über Barrierefreiheit gesprochen. In Nord-rhein-Westfalen sind noch keine 3 Prozent der Wohnun-gen barrierefrei oder barrierearm. Nicht nur die Ver-bände, die der CDU nahestehen, reklamieren das,sondern auch die Verbände, die Ihnen sehr nahestehen.Der Sozialverband Deutschland kommt mittlerweilenicht mehr zu seinen Ministerien, sondern er sucht sichandere Minister, bei denen er sich einmal äußern undseine Sorgen deutlich machen kann.Genau das ist der Punkt. Wenn Sie sagen: „Pflege imAlter ist uns wichtig“, dann müssen Sie vorausschauenund Visionen haben. Sie müssen sagen: Nicht nur dieWohnungen, die bereits existieren, müssen umgebautwerden, sondern auch bei den Neubauten muss angesetztwerden.
Auch dort müssen Sie für Barrierefreiheit sorgen. Aberdas kommt bei Ihnen nicht vor.Das, was inhaltlich gut gelaufen ist, haben Sie auf-gegeben. Wir haben den Generationentag eingeführt,Potenziale des Alters; alles haben Sie abgeschafft. Allegut laufenden Projekte haben Sie einfach beendet. Siebeschränken sich auf einen ganz kleinen Bereich, unddann nach dem Motto „Sprich’ mich bloß nicht an!“ Nie-mand hat also die Verantwortung. So kann man keine
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Ingrid Fischbach
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Politik machen, hier nicht und auch nicht in Nordrhein-Westfalen.
Wir haben Ziele. Wir haben Visionen. Wir sagen: Wirbrauchen für alle Gruppen im Alter Antworten. Für diefitten älteren Menschen zum Beispiel brauchen wir An-gebote, zum Beispiel – mein Kollege Grübel hat es ge-sagt – den Bundesfreiwilligendienst. Ich freue mich,dass viele ältere Menschen dieses Angebot annehmen.Hier haben wir die Möglichkeit, für Alt und Jung gene-rationenübergreifend etwas zu tun. Die Älteren könnenErfahrungen einbringen, von denen Jüngere profitieren.Das ist ein sehr gutes Projekt.Als wir die Mehrgenerationenhäuser eingeführt haben– das ist das Gute, wenn man schon länger dabei ist –, ha-ben Sie lamentiert, Sie wollten in Nordrhein-Westfalenkeine Mehrgenerationenhäuser, sondern lieber Familien-zentren haben. – Das haben wir in Nordrhein-Westfalengemacht. Am Ende der christlich-liberalen Regierunggab es knapp 2 000 Familienzentren. Wissen Sie, wieviele unter Ihrer Regierung in Nordrhein-Westfalen hin-zugekommen sind? Keine – in zwei Jahren! Das ist eseben: Sie halten hier Schönwetterreden, aber da, wo SieVerantwortung tragen, tun Sie genau das Gegenteil. Dabitte ich Sie einfach: Hören Sie damit auf!
– Frau Humme, wir beide bereden das gleich bei einerTasse Kaffee. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie sagenimmer das Gleiche.
Wir wollen etwas für ältere Menschen tun. Wir wol-len etwas für die ältere Generation verändern. Wir wol-len das Potenzial des Alters nutzen. Wir wollen die Men-schen ernst nehmen. Wir wollen für sie Angeboteschaffen. Ich glaube, das ist hier das Richtige. Die altenMenschen sind eben nicht nur krank oder pflegebedürf-tig, sondern es gibt auch die, die sich einbringen können.Es geht darum, diese Potenziale zu schützen und zu stär-ken.
Zu der Rede von Frau Dittrich sage ich gar nichts.
Sie hat für sich gesprochen. Sie war wirklich unter allerKritik.
Uns ist es in der christlich-liberalen Regierung wich-tig, dass wir die Potenziale des Alters nutzen, dass wirden Menschen Perspektiven geben, dass wir deutlichmachen: Ihr werdet geschätzt. Wir brauchen euch. Wirzusammen werden all das, was euch im Alter belastet,angehen. – Der Kollege Grübel hat es sehr deutlich ge-macht: Vieles ist nicht hinnehmbar und wird geändertwerden müssen. – Das werden wir anpacken. Ich würdemich freuen, wenn wir mit Ihrer Unterstützung rechnenkönnten; denn dann könnten wir zusammen für die Men-schen etwas verändern. Seniorenpolitik – das ist aktiveZukunftsgestaltung für alle Generationen.Ich möchte mit einem Wort von Ursula Lehr enden.Sie hat einmal gesagt:Es kommt nicht darauf an, wie alt man wird, son-dern wie man alt wird.In diesem Sinne wollen wir das Beste dafür auf den Wegbringen.Danke schön.
Petra Crone hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolle-ginnen! Meine Damen und Herren! Etwa 20 000 ältereMenschen, aktiv, wissbegierig, engagiert, sind in derletzten Woche in Hamburg auf dem 10. Deutschen Se-niorentag gewesen. Da konnte man ein ganz riesigesPotenzial des Alters erleben, ein äußerst positives Al-tersbild.
Es sprühte nur so von Ideen und Tatkraft. Auch gab eswertvolle Impulse, zum Beispiel beim bürgerschaftli-chen Engagement. Doch was machen Sie daraus, FrauMinisterin? Auf jede Frage antworten Sie mit einemHinweis auf den Bundesfreiwilligendienst. In einigenFällen mag das hinkommen, aber das ist nicht passge-nau.Ein richtiges Motto lautet: Einmal engagiert, immerengagiert. Ich fordere Sie auf, Frau Schröder: Sorgen Siedafür, dass auch Jugendliche neben der Schule Zeit fin-den, sich zu engagieren – ohne Gegenleistung. GebenSie ihnen eine Chance, sich im Ehrenamt zu üben.
Der Bundesfreiwilligendienst, Ihr Liebling, ist einVollzeitdienst, den nicht jeder und jede leisten kann.Frau Ministerin, Sie wollen sich mit dem bürgerschaftli-chen Engagement profilieren. Warum behandeln Sie aus-gerechnet die Freiwilligendienste aller Generationen sostiefmütterlich? Warum verhindern Sie nicht, dass IhreRegierung die Kommunen immer weiter ausbluten lässt?Denn sie sind es doch, die passgenaue Angebote fördern.
Egal ob jung oder älter, ob Schüler, Arbeitnehmeroder Rentner: Die Freiwilligkeit muss im Mittelpunkt
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Petra Crone
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stehen. Niemand soll das Gefühl haben, sich engagierenzu müssen. Unsere Aufgabe ist es, Lust darauf zu ma-chen.Der Deutsche Seniorentag hat aber auch sehr deutlichgemacht, dass es Themen gibt, die im Sechsten Altenbe-richt der Bundesregierung unterrepräsentiert sind undvon Ihnen, Frau Ministerin, mehr oder weniger elegantumgangen werden.
Das Thema Altersarmut ist eines der dringendstenGenerationenprobleme. Es betrifft nicht nur die Älteren,die schon im Ruhestand sind, sondern genauso auch un-sere Kinder und Enkel. Die brauchen gute Vorbilder unddas Gefühl, dass Arbeit sich lohnt und mit einer Vollzeit-stelle der Lebensunterhalt gedeckt werden kann. Es istdoch beschämend für unser reiches Land, dass dies nichtgewährleistet ist.
Liebe Kollegen und Kolleginnen der Regierungsfrak-tion, von Ihnen wird dagegen nichts unternommen.
Das Übel muss doch an der Wurzel gepackt werden. IstIhre Antwort darauf die Einführung des Betreuungsgel-des?Was wir dringend brauchen, sind flächendeckendeMindestlöhne,
eine höhere Beschäftigungsquote vor allen Dingen fürFrauen, mehr Kinderbetreuung in den Regionen und vie-les mehr.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der Linksfrak-tion, in Ihrem Antrag sind einige interessante Forderun-gen enthalten, die wir zum Teil auch unterstützen kön-nen. Aber ich vermisse bei Ihnen den konkreten Bezugzum Sechsten Altenbericht. Ihr Entschließungsantrag– es ist immerhin ein Entschließungsantrag – ist viel-mehr eine Zusammenfassung von seniorenpolitischenZielen.Die generelle Kritik am Altenbericht kann ich nichtnachvollziehen. Sie sprechen ihm gar die Substanz ab. Ineinem ähnlichen Maße, in dem Sie der Bundesregierungund den Sachverständigen die Ökonomisierung der Al-tersbilder vorwerfen, zeichnen Sie ein umfassendes ne-gatives Altersbild, geleitet vom sozialen Abstieg. Das istgenauso falsch.Liebe Kollegen und Kolleginnen, zum Schlussmöchte ich den regelrechten Hype um die stets fitten Se-nioren und Seniorinnen kritisieren. Es ist natürlich schönund ein tolles Ergebnis, dass wir alle älter werden undimmer länger gesund bleiben. Die Altersbilder insge-samt sollen positiver werden. Aber Achtung: Wir dürfensie auch nicht mit Kitsch überlagern. Damit werden nurÄngste vor Hilfs- und Pflegebedürftigkeit und auch vordem Sterben geschürt. Das darf nicht sein.
Jeder und jede muss wissen, dass wir uns um einewürdevolle Betreuung, Pflege und auch um Sterbebe-gleitung kümmern. Dafür hat die SPD-Bundestagsfrak-tion ein umfassendes Konzept erarbeitet.Das Thema Demenz hat in Zukunft eine sehr großeWichtigkeit. Wo bleiben da die Taten der schwarz-gel-ben Regierung? Reförmchen des Ministers Bahr helfennicht weiter.
Bei all dem ist das Miteinander der Generationen ent-scheidend, in der Gesellschaft und in der Politik, solida-risch und verantwortungsvoll. Für die SPD-Bundestags-fraktion ist „Teilhabe“ kein leeres Wort. Sie beinhaltetzwei Forderungen: das Recht auf Bildung für jedes Alterund die Förderung von Freiwilligenengagement von undfür alle Generationen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HeuteMorgen war ich kurz zu Gast bei einer Seniorenorgani-sation einer Gewerkschaft. Was ich dort mitgenommenhabe, ist die Klage, dass die ältere Generation innerhalbder Gewerkschaft nicht mehr voll mitwirkungsberechtigtist. Es gibt also durchaus Felder im traditionell eher lin-ken politischen Bereich, bei denen man sich überlegenmuss, ob man das richtige Augenmaß hat.
So viel als Randbemerkung zu dem, was ich an einemTag in Berlin im Rahmen meiner Abgeordnetentätigkeitmitnehme.Der Sechste Altenbericht ist ein Wegweiser für unsalle; denn er zeigt auf, dass nicht mehr die Belastungendes Alters das ausschließliche Thema, das man mit demAlter verbindet, sein sollen, sondern dass auch die Chan-cen einer alternden Gesellschaft begriffen und genutzt
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Sibylle Laurischk
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werden müssen. Frau Scharfenberg, ich habe Ihren Re-debeitrag sehr genau verfolgt und halte es für völlig ver-fehlt, nur darauf zu setzen, dass wir in Berlin es schonregeln werden. Da sind wir in der BundesrepublikDeutschland insgesamt, in den verschiedenen Ländernund Kommunen, schon sehr viel weiter.
Ich komme aus der Kommunalpolitik. Als ich vor18 Jahren frischgebackene Stadträtin war, haben wir inOffenburg ein Seniorenbüro eingerichtet. Das war sozu-sagen eine Freiwilligenagentur. Damals nannte man dasnoch nicht so, aber nichts anderes war es. Es war ein Ex-periment, damals auch vom Bund gefördert. Es ist einKnüller geworden. Mittlerweile gibt es dort eine Selbst-organisation von älteren Menschen, die das soziale Ge-füge, den Alltag und das Miteinander der Stadt auf eineganz interessante Weise prägen. Auch wenn die Men-schen nicht mehr im Berufsleben stehen, sagen sie ganzklar: Wir spielen eine Rolle. Wir sind wichtig; wir sinddabei. Wir sind nicht ausgegrenzt. – Das ist für dasKlima in einer Kommune ganz wichtig.
Ein Beispiel für die konkreten Tätigkeiten der dort le-benden Senioren: Sie arbeiten mit ausländischen Studen-ten an der Fachhochschule zusammen und bieten ihnenan, als Wegweiser in der Stadt zu fungieren und Behör-dengänge zu erledigen. Dadurch haben die SeniorenKontakt zu Menschen, die aus ganz anderen Lebensver-hältnissen stammen. Das ist sehr belebend und hochinte-ressant.Eine ähnliche Entwicklung gibt es in der GemeindeEichstetten am Kaiserstuhl. Die hier betriebene enga-gierte Kommunalpolitik trägt der Situation der Alten vorOrt Rechnung und sorgt dafür, dass sie sich sowohl inder Pflege als auch im bürgerschaftlichen Engagementwiederfinden, mitarbeiten und ein Austausch stattfindet.Niemand muss den Ort aus Altersgründen oder wegenPflegebedürftigkeit verlassen. Jeder kann bleiben.Damit sind wir bei einem ganz wesentlichen Thema,das mir in dieser Debatte völlig fehlt. Viele Menschenleben im Alter alleine. Die Familien ziehen weg. DieKinder sind berufsbedingt ganz woanders. Die Familiensind nicht mehr so eng beieinander. Unter Umständenbleibt man im Alter allein. Die Angst vor dem Alleinseinist ein wichtiges Thema, dem wir uns widmen müssen.Mir persönlich ist wichtig, neue Wohnformen im Alterzu entwickeln. Diesem Thema widmet man sich mittler-weile auch im Rahmen des bürgerschaftlichen Engage-ments. Ich kenne etliche Vereine, die dieses Thema inden jeweiligen Kommunen vorantreiben wollen. Es gehtnicht allein um Wohngemeinschaften, sondern auch umein Miteinander, ein vernetztes Wohnen. Nicht alleineund vereinzelt zu sein, das ist wichtig, damit wir auch imAlter den Austausch haben, um fit zu bleiben, uns ge-genseitig zu unterstützen, eventuell einer Pflegebedürf-tigkeit vorzubeugen, gemeinsames Lernen zu organisie-ren – denn auch das hält jung – sowie letztendlich einMiteinander in positiver Stimmung – ich habe leider vielzu wenig Zeit, um das weiter auszuführen – zu gestaltenund das Lachen nicht zu verlernen. So bleiben wir jung.
Die Bundesministerin Dr. Kristina Schröder hat jetztdas Wort.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Alter ist vielfältiger und facettenreicher geworden.Der Sechste Altenbericht, für den ich der Sachverständi-genkommission unter dem Vorsitz von ProfessorDr. Andreas Kruse ganz herzlich danke, fordert uns dazuauf, die Seniorenpolitik auf die Vielfalt des Alters auszu-richten. Er stellt dabei die Chancen, die der demografi-sche Wandel bietet, in den Mittelpunkt.Man muss sich bewusst machen: Wir haben es mit ei-ner historisch neuen Lebensphase zu tun. Jahrtausende-lang war das Leben des Menschen im Grunde durch dreiLebensphasen bestimmt: Da war die Kindheit und dieJugend als erste Lebensphase, dann kam die Zeit der Be-rufstätigkeit und des Kümmerns um die Familie, unddann kam das Alter; aber das war ganz schnell vonKrankheit und Gebrechen geprägt. Als Bismarck dieRentenversicherung eingeführt hat, lag die Lebens-arbeitszeitgrenze bei 70 Jahren, die durchschnittlicheLebenserwartung lag bei unter 60 Jahren. Die Phase, diewir das junge Alter nennen, also die Lebensphase zwi-schen 65 und 85 Jahren, ist etwas Neues, das es in derGeschichte der Menschheit so noch nicht gab. Die meis-ten Menschen erreichen glücklicherweise gesundheitlichrelativ fit ein hohes Alter und haben sich viel Erfahrung,Wissen und Gelassenheit angeeignet, die ein langes Le-ben schenkt. Das ist ein riesiger Schatz für unsere Ge-sellschaft. Wir stehen noch am Anfang bei dem Versuch,diesen Schatz zu heben.
Deshalb – das unterstreicht der Antrag der Koalitions-fraktionen –: Wir brauchen die Erfahrung und die Tat-kraft älterer Menschen in der Familie, in der Arbeitsweltund im Ehrenamt. Schauen wir einmal in die Familie.Die meisten Menschen erleben doch, dass der Zusam-menhalt in den Familien, insbesondere der Zusammen-halt zwischen den Generationen, riesengroß ist, trotzScheidungen und trotz Mobilität. Letzteres gibt es, aberdennoch: Wenn es darauf ankommt, dann halten in denmeisten Fällen die Generationen zusammen.
Zum Beispiel spielen die Großeltern eine riesige Rollebei der Betreuung der Enkelkinder und damit auch beider Vereinbarkeit von Familie und Beruf der mittlerenGeneration.
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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– Krippen können keine Großeltern ersetzen. Das ist nuneinmal nicht so einfach.
Deshalb wollen wir den Zusammenhalt in den Familiendurch die Einführung einer Großelternzeit stärken. Wirwollen auch berufstätigen Großeltern die Möglichkeitgeben, sich um die Betreuung der Enkel zu kümmern.Umgekehrt: Zwei Drittel der 2,3 Millionen pflegebe-dürftigen Menschen in Deutschland werden zu Hause inihren Familien gepflegt. Sie werden vom Partner undden eigenen Kindern gepflegt. Deshalb haben wir mitder Einführung der Familienpflegezeit zum 1. Januar2012 die Familie als Verantwortungsgemeinschaft ge-stärkt.
Ein weiterer Punkt. Der Bundesfreiwilligendienst istein riesiger Erfolg. Was gab es doch für Katastrophen-szenarien und Skepsis? Jetzt stellen wir fest: Fast20 Prozent der Bufdis, die wir in Deutschland haben,sind über 50 Jahre alt. Der Schreinermeister im Ruhe-stand geht in die Kitas und Kindergärten und baut mitden Kindern Vogelhäuser, die pensionierte Grundschul-lehrerin kümmert sich um Kinder mit Migrationshinter-grund und hilft ihnen bei den Hausaufgaben. Das ist einRiesengewinn für unsere Gesellschaft.
Wir sollten uns aber dessen bewusst sein – da bin ichbei Ihnen, Frau Crone –, dass es in der Seniorenpolitiknicht nur um die Generation 60 plus geht; denn die Altenvon morgen sind die Jungen von heute. Deshalb brau-chen wir eine vorsorgende Seniorenpolitik, zum Beispielauch, wenn es um die Folgen familienbedingter Auszei-ten und Teilzeitphasen im Beruf geht. Dafür zahlen imRentenalter insbesondere die Frauen. Ihre Alterseinkom-men liegen im Moment rund 60 Prozent unter denen derMänner.Deswegen heißt vorsorgende Seniorenpolitik auch,bei den Ursachen dafür anzusetzen, die früher im Lebenliegen.
Ich mache mir zum Beispiel Sorgen über das Ausufernvon Minijobs.
Für Studenten und Rentner haben Minijobs ihre Berech-tigung, aber für Mütter entwickeln sie sich oft zu einerSackgasse, die zu Altersarmut führt. Deshalb halte ichauch nichts davon, dem Drängen der Arbeitgeber nach-zugeben, die nach einer weiteren Flexibilisierung rufen.Wir müssen hier sehr genau gucken, welche Anreize wirsetzen.
Auch im Arbeitsrecht gibt es Regelungen, für dieFrauen erst mit schlechteren beruflichen Chancen, dannmit schlechteren Einkommen und schließlich mit niedri-geren Renten bezahlen. Deshalb brauchen wir zum Bei-spiel endlich mehr Möglichkeiten, flexibel zwischenVollzeit und Teilzeit, insbesondere auch von Teilzeitwieder in Vollzeit, zu wechseln. Das sind Beispiele füreine vorsorgende Politik für die Lebensphase Alter.Beides gehört in der Seniorenpolitik zusammen: einePolitik, die die Vielfalt des Alters berücksichtigt, undeine Politik, die die Vielfalt des Älterwerdens berück-sichtigt. Da ist es ein bisschen wie mit der gesundheits-bewussten Lebensweise: Man muss früh damit anfan-gen. Auch daran sollten wir denken, wenn es umTeilhabechancen für ältere Menschen geht.
Jetzt hat Sabine Bätzing-Lichtenthäler das Wort für
die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, vielleichthätten Sie weniger Bücher und dafür mehr Gesetzent-würfe für eine bessere Politik für ältere Menschenschreiben sollen.
Denn zu dem, was uns hier vorliegt, muss man wohl sa-gen: Fehlanzeige! Auch beim Thema Alter klaffenWunsch und Wirklichkeit in der Koalition wieder einmalauseinander.So habe ich im schwarz-gelben Koalitionsvertrag zudiesem Thema drei konkrete Vorhaben für diese Legisla-turperiode gefunden, erstens eine breit angelegte Initia-tive zum Thema „Alter neu denken“. – Okay. Nur, washaben wir bekommen? Bekommen haben wir das Pro-gramm „Altersbilder“, mitnichten eine breite Initiativeund mitnichten neues Denken. Zweitens ist da die Inno-vationspartnerschaft „Gesundheit im Alter“. Was habenwir bekommen? Ein „Pflegereförmchen“. Drittenswurde das Gesetz zur Förderung des bürgerschaftlichenEngagements angekündigt. Davon ist weit und breitüberhaupt nichts zu sehen.Dieses Vorgehen erinnert mich an das Motto: Vor-wärts, liebe Freunde, wir gehen zurück! – Damit istkeine gute Politik für ältere Menschen zu schaffen.
Das einzige, was man findet, sind Plagiate, wie etwa IhrAntrag zu den Potenzialen des Alters. Es ist nicht daserste Mal, dass Sie damit auffallen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns aberüber die Potenziale des Alters und die neuen Altersbildersprechen. Lebenserfahrung, Berufserfahrung und erwor-bene Kompetenzen, das sind die Potenziale älterer Men-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21383
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
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schen. Potenziale fallen aber niemandem in den Schoß,Potenziale sind erarbeitet, und man muss sie wecken,fördern, hegen und pflegen. Gleichzeitig darf man sieaber auch nicht überstrapazieren. Denn ältere Menschenwollen zwar weiterhin gebraucht, aber nicht missbrauchtoder aufgebraucht werden.
Für uns bedeutet das erstens: Bürgerschaftliches En-gagement ist und bleibt freiwillig und lässt Kreativitäts-und Handlungsspielräume für die Helfer. Zweitens setztbürgerschaftliches Engagement eine soziale Absiche-rung voraus, das heißt gute Renten basierend auf gutenLöhnen, abgesichert durch einen echten Mindestlohn.
Drittens setzt bürgerschaftliches Engagement Zeit vo-raus. Das heißt weniger Zeitdruck für Schülerinnen undSchüler, Berufsanfänger und Eltern sowie kreative Ideenfür Zeitspenden von älteren Menschen.Viertens hilft bürgerschaftliches Engagement gegenEinsamkeit. Das heißt, wir dürfen Kranke und ältereMenschen mit ihren Sorgen und Hoffnungen nicht alleinlassen. Das hilft Helfern und Geholfenen und ist Mar-kenzeichen für eine soziale Gesellschaft. Deswegenbrauchen wir soziale Netzwerke und dürfen diese wiezum Beispiel das Programm „Soziale Stadt“ nicht ka-puttsparen. Aber auch da haben wir keinen Widerspruchvon der zuständigen Ministerin gehört.
Schließlich fünftens. Bürgerschaftliches Engagementverdient Respekt und Anerkennung. Da sind wir uns,glaube ich, hier im Haus alle einig.Die Organisation von freiwilligem Engagement vorOrt zur Erschließung der Potenziale ist aber alles andereals ein Selbstläufer. Dafür müssen wir vor allem die Zu-gänge organisieren. Gebraucht werden Information, Be-ratung und Vernetzung. Dafür muss selbstverständlichauch Geld in die Hand genommen werden. Da es um ei-nen gesamtgesellschaftlichen Gewinn geht, muss auchklar sein, dass Kommunen, Länder und Bund gemein-sam gefragt sind.So wie es ein Miteinander in der Politik geben muss,um die Potenziale des Alters auszuschöpfen, so brauchtes auch ein Miteinander der Generationen, damit sichdiese Potenziale entfalten können.Gerade älteren Menschen liegt das besonders am Her-zen. Ein besseres Miteinander der Generationen könntedazu beitragen, Zeitdruck von jüngeren Menschen zunehmen und älteren Menschen neue Betätigungsfelderzu geben. Die Potenziale des Alters kämen hier wunder-bar zum Tragen, etwa durch verschiedene Patenschaftenin Schule, Familie oder Wohnumfeld.Meine Kolleginnen und Kollegen, es kommt nicht da-rauf an, wie alt wir werden, sondern wie wir alt werden.Deshalb lassen Sie uns die Potenziale des Alters er-schließen. Ihre Vorhaben im Koalitionsvertrag ließenHoffnung aufkeimen, in der Realpolitik wurde diese je-doch jäh zerstört.Meine Damen und Herren, Frau Ministerin, liefernSie endlich!Danke schön.
Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Ich darf zunächst meiner Freude da-rüber Ausdruck verleihen, dass die Frauenquote im Prä-sidium des Bundestages heute in herausragender Weiseerfüllt ist.
Die jungen Arbeitnehmer können vielleicht schnellerlaufen, Frau Marks, aber die alten kennen die Abkür-zung. – Herr Müntefering, ich wollte Sie gerade loben,aber jetzt gehen Sie hinaus. – Ein Beispiel für dieseWeisheit haben wir in den Reihen der SPD mit unseremehemaligen Arbeitsminister Franz Müntefering. FranzMüntefering ist laut Kürschners Volkshandbuch zu Be-ginn dieses Jahres 72 Jahre alt geworden. Er war schondeutlich über 65 Jahre, als er in seiner Weisheit erkannthat: Von den gewonnenen Lebensjahren müssen wir ei-nen Teil im Arbeitsleben verbringen. – Dass er den Kon-flikt mit Teilen seiner Partei auf sich genommen hat unddas Arbeiten bis 67 auf den Weg gebracht hat, dafürwollte ich ihm an dieser Stelle, auch als damaliger Part-ner in der Großen Koalition, ausdrücklich noch einmaldanken. Es gerät doch schnell in Vergessenheit.
Frau Kollegin Marks hat ausgeführt: Die Beschäfti-gungsquote bei den Älteren lässt noch zu wünschen üb-rig. – Frau Kollegin Marks, Politik beginnt mit dem Be-trachten der Realität. Im Jahr 2000 lag dieBeschäftigungsquote bei den 60- bis 65-Jährigen bei22,2 Prozent. Im Jahr 2010 lag sie bei 44,2 Prozent. DieBeschäftigungsquote der 60- bis 65-Jährigen hat sich indiesen zehn Jahren also verdoppelt.
Das liegt zum einen am Auslaufen der 58er-Rege-lung; das ist richtig. Bis vor wenigen Jahren gab es diese– damals sicherlich vernünftige – Regelung, mit der wirden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesagt ha-ben: Mit 58 Jahren brauchen wir dich nicht mehr so nö-
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Paul Lehrieder
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tig am Arbeitsmarkt. – Wir werden aber in Zukunft diePotenziale älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auchin den Unternehmen stärker benötigen. Es gibt Experti-sen, die genau belegen, dass ein vernünftiger Mix vonJungen und Alten in einer Belegschaft das betriebswirt-schaftliche Ergebnis eines Unternehmens am besten stei-gern kann, dass dieser Mix die höchste Effizienz bringt.Darum werden wir in Zukunft unsere älteren Mitbürge-rinnen und Mitbürger im Berufsleben, solange sie fitsind, brauchen. Daran arbeiten wir, Frau KolleginMarks. Es wäre gut gewesen, Sie hätten einmal mit ihrenArbeitsmarktpolitikern gesprochen. Wir diskutieren überPrävention.
– Wir machen schon etwas, liebe Frau Kollegin. FragenSie doch einmal Frau Kramme. Wir haben das Pro-gramm „INQA – Initiative Neue Qualität der Arbeit“.
Das heißt, wir machen uns sehr wohl Mühe, zu errei-chen, dass unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger biszum Alter von 65 Jahren oder 67 Jahren – und natürlichdarüber hinaus – gesund im Berufsleben stehen. DieseAufgabe wird in Zukunft noch wichtiger werden.
– Die habe ich doch gerade genannt, Herr KollegeWunderlich. Sie kommen hierher und fordern mich auf,die Erwerbstätigenquote zu nennen. Wenn Sie mir zuge-hört hätten, würden Sie sie kennen.Jetzt, im Jahr 2012, liegt die Beschäftigtenlücke be-reits bei über 1 Million. Das heißt, 1 Million zusätzlicheArbeitsplätze kann in Deutschland geschaffen werden.Wir werden in Zukunft auf vier Baustellen tätig seinmüssen: Wir werden die Beschäftigtenquote der Frauenetwas erhöhen müssen; da stehen wir im internationalenVergleich noch nicht allzu gut da. Wir werden aber auchdie Beschäftigtenquote der Älteren in den Unternehmenerhöhen müssen, und zwar durch Vermittlung von Wert-schätzung der Älteren. Wir werden die Beschäftigten-quote der bei uns lebenden Migranten mit Deutschkennt-nissen verbessern müssen. Außerdem werden wirüberlegen müssen, wie wir noch Beschäftigtenpotenzialeim Ausland für uns gewinnen können. – Eine dieser vierStellschrauben unserer zukünftigen Berufswelt wird aberdie Beschäftigung unserer älteren Mitbürgerinnen undMitbürger, sofern sie fit sind, sein.Noch etwas: Wir sind bei der Beschäftigtenquote der55- bis 65-Jährigen nicht so schlecht, wie Sie, FrauMarks, ausgeführt haben. Die Schweden liegen in die-sem Bereich mit 70,5 Prozent an der Spitze. Die Be-schäftigungsquote in Deutschland liegt bei 57,7 Prozent.Der EU-Durchschnitt liegt bei 46,3 Prozent. Frankreichliegt bei 39,7 Prozent. Ich glaube, beschäftigungspoli-tisch werden wir von den Franzosen nicht viel lernenkönnen, auch wenn Sie, Frau Dittrich, Gegenteiliges ver-mitteln wollen.„Hurra, wir werden älter“, so lautete die Überschriftdes Leitartikels des Hamburger Abendblatts vom 4. Mai,also vor wenigen Tagen. Dass wir älter werden, ist – ichhabe es bereits ausgeführt – tatsächlich ein Grund zurFreude. Die gewonnenen Lebensjahre sind ein Geschenkfür die ganze Gesellschaft. Wenn heute, am 11. Mai2012, ein Kind geboren wird, hat es eine 50-prozentigeChance, 100 Jahre alt zu werden. Derzeit leben in unse-rem Land bereits 17 Millionen Menschen, die älter als65 Jahre sind. Diese Zahl dürfte in den kommenden Jah-ren steigen. Experten schätzen, dass im Jahr 2020 gut einDrittel der 80 Millionen Deutschen zur Generation65 plus gehören wird. Bis zum Jahr 2040 wird sich dieZahl der über 80-Jährigen auf mehr als 8 Millionen ver-doppeln.Noch vor 50 Jahren sind viele Menschen bereits vordem Eintritt in das Rentenalter gestorben – Frau Ministe-rin hat in ihrer Rede bereits darauf hingewiesen –; diedurchschnittliche fernere Lebenserwartung eines 65-Jäh-rigen betrug etwa zwei Jahre. Wer heute in Rente geht,hat oft noch gut 20 Jahre vor sich. Statistisch gesehen istdie Lebenserwartung zuletzt Jahr für Jahr um drei Mo-nate gestiegen.Ich glaube, die Potenziale des Alters sollten wir ge-meinsam, parteiübergreifend positiv bewerten. Im Übri-gen sollten Bufdis keine Zwangsarbeit für Ältere leisten.Es gibt sehr viele engagierte Senioren – ich kenne wel-che aus meinem Wahlkreis –, die froh sind, wenn sie sichin der Gesellschaft einbringen können, die froh sind, ver-mittelt zu bekommen: Ich werde noch gebraucht. – Siearbeiten ehrenamtlich mit.Frau Ministerin Schröder hat sehr zutreffend daraufhingewiesen: Viele Großeltern sind froh, dass sie mitden Enkeln die Zeit verbringen können, die sie, viel-leicht bedingt durch eine Berufstätigkeit, für die eigenenKinder nicht hatten. Das ist ein Ausdruck von Lebens-qualität. Diesen positiven Ansatz fortzuentwickeln istdes Schweißes aller Edlen und Gerechten wert. LassenSie uns gemeinsam daran arbeiten!Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend auf Drucksache 17/9504. Der Aus-schuss empfiehlt in Kenntnis des Sechsten Berichts derBundesregierung zur Lage der älteren Generation aufDrucksache 17/3815 unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-tionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8345 mitdem Titel „Altersbilder positiv fortentwickeln – Poten-ziale des Alters nutzen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmungvon CDU/CSU und FDP angenommen. Dagegen waren
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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SPD und Linke. Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent-halten.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion der SPD auf Drucksache 17/2145 mit dem Titel„Potenziale des Alters und des Alterns stärken – DieTeilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftlichesEngagement und Bildung fördern“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustim-mung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Da-gegen haben SPD und Bündnis 90/Die Grünengestimmt. Die Linke hat sich enthalten.Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/9596. Werstimmt für den Entschließungsantrag? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag istbei Zustimmung durch die einbringende Fraktion abge-lehnt; alle übrigen Fraktionen waren dagegen.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 34 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, DianaGolze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKEFür eine moderne und zukunftsweisende Fa-milienpolitik– Drucksachen 17/6915, 17/9551 –Berichterstattung:Abgeordnete Nadine Schön
Caren MarksNicole Bracht-BendtJörn WunderlichKatja DörnerEs ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen.Die Kollegin Ewa Klamt hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir diskutieren heute über den Antrag der Lin-ken mit dem Titel „Für eine moderne und zukunftswei-sende Familienpolitik“.
Ein schöner Titel, aber bei genauerem Hinschauen stelltman fest, dass der Antrag im Wesentlichen eine bunteVielfalt an „Wünsch dir was“-Punkten, schillerndenIdeen und abstrusen Vorwürfen ist.
So wirft die Linke der Bundesregierung vor, den Aus-bau der Kinderbetreuung nicht ernst zu nehmen.
Wir haben bereits gestern in der Aktuellen Stunde da-rüber diskutiert. Auch durch Wiederholung wird IhreBehauptung nicht wahrer. Der Bund ist seiner Verant-wortung beim Ausbau vollumfänglich gerecht gewor-den.
Beim Krippengipfel 2007 haben sich Bund, Länderund Kommunen an einen Tisch gesetzt und gemeinsamAusbaukosten von 12 Milliarden Euro veranschlagt.Jede Ebene hat dabei zugesagt, jeweils ein Drittel derKosten zu übernehmen.
Die zugesagten 4 Milliarden Euro hat der Bund ebensobereitgestellt, wie wir zu den Betriebskostenzuschüssenvon 770 Millionen Euro jährlich ab 2014 stehen. Egalwie oft Sie die Forderung wiederholen, der Bund solleweitere Krippenplätze bauen: Zuständig sind hierfür dieLänder und Kommunen. Für die Finanzausstattung derKommunen sind wiederum die Länder zuständig.
Ergänzt wird die Finanzierung des Ausbaus der Krip-penplätze durch das Aktionsprogramm Kindertages-pflege. Mit diesem werden der Platzausbau in der Kin-dertagespflege und die Weiterbildung von Tageselternmit 29 Millionen Euro unterstützt. Über das Programmkonnte beispielsweise der Anteil der Tagespflegeperso-nen ohne Qualifikationskurs immerhin auf 14 Prozentgesenkt werden. Mit der Qualifizierungsinitiative fürDeutschland haben wir seit 2008 zusätzlich 80 000 Er-zieherinnen und Erzieher sowie Tagesmütter und Tages-väter weitergebildet.
Die „Offensive Frühe Chancen“ ergänzt unsere Fami-lienpolitik im Bereich der Sprachförderung von Kindern.Hier werden bis 2014 rund 400 Millionen Euro zur Ver-fügung gestellt, um in etwa 4 000 Kitas in Deutschlandauf Kinder mit besonderem Sprachförderbedarf ein-zugehen. Das bedeutet für jede Kita vier Jahre lang25 000 Euro für eine Fachkraft. Ich selbst habe mehrereSchwerpunktkitas in meinem Wahlkreis. Die Erzieherin-nen vor Ort sind voll des Lobes und der Anerkennungfür diese Leistung des Bundes, die direkt den Kindernzugutekommt, die sie brauchen.Interessant ist auch der Vorwurf der Linken, dass dieBundesregierung an alten Rollenbildern festhalte. Dakann ich nur sagen: Im Gegensatz zu Ihnen respektierenwir individuelle Lebensentwürfe und Wertevorstellun-
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Ewa Klamt
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gen von Familien und orientieren uns an den vielen spe-zifischen Bedürfnissen.
Dementsprechend verstehe ich unter einer modernen Fa-milienpolitik, dass wir die vielfältigen und auch sehr un-terschiedlichen Bedürfnisse von Familien in Deutsch-land anerkennen und entsprechend praktikable Lösungenfür Familien umsetzen. Im Gegensatz zu Ihnen sprechenwir nicht nur für einen Teil der Familien; wir setzen unsfür alle ein.
Herr Wunderlich, wenn Sie zugehört hätten, dannwüssten Sie, dass wir uns entgegen Ihrem Zuruf, den dieZuhörer wahrscheinlich nicht gehört haben, nicht nur fürdie Wohlhabenden einsetzen. Es ist klar: Wenn wir ge-rade für Kinder mit Migrationshintergrund 400 Millio-nen Euro investieren, damit in Kitas entsprechendeFachkräfte eingesetzt werden können, dann ist das eineganz andere Gruppe als eine wohlhabende. Das wissenSie genau.Unstrittig ist, dass die Vereinbarkeit von Familie undBeruf eine gesellschaftliche Herausforderung ist. Ursulavon der Leyen
hat 2005 diese vernachlässigte Aufgabe erstmalig zu ih-rem Schwerpunktthema gemacht. Dazu gehören derAusbau der Kinderbetreuung und der Rechtsanspruchauf einen Kitaplatz ab 2013 als wohl wichtigste Bestand-teile der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Hier dürfte sogar die SPD klatschen; denn Sie haben esin der Großen Koalition mit beschlossen.
– Es kann sein, dass in NRW nichts passiert ist. AufBundesseite ist alles in die Wege geleitet worden.
Familienfreundlichkeit von Unternehmen gehörtebenso dazu. Unsere Gespräche mit Arbeitgebern habenunter anderem zu der Initiative „Familienbewusste Ar-beitszeiten“ geführt. Die Gewinner des Wettbewerbs„Erfolgsfaktor Familie“ sind ein guter Beweis dafür,dass auch in der Wirtschaft das Bewusstsein für dienötige Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Familieund Beruf wächst. Dahinter steht die Erkenntnis, dassUnternehmen nur gewinnen können, wenn sie die Be-dürfnisse ihrer Mitarbeiter ernst nehmen und Familien-verantwortung als wertvolle Bereicherung von Kom-petenzen betrachten. Das wird gerade im Zuge desFachkräftemangels in den nächsten Jahren immer wich-tiger. Familienfreundlichkeit ist ein entscheidenderStandortfaktor.Was sich Familien wünschen und wo große Schwie-rigkeiten auftreten, zeigt sich im Achten Familienbe-richt, den Ministerin Kristina Schröder diese Woche imAusschuss vorgestellt hat. Zeit wird dabei als eine derwertvollsten Ressourcen von Familien anerkannt. Umdiese Zeitsouveränität für Familien zu schaffen, sollenverschiedene Unterstützungsmöglichkeiten geprüft wer-den, zum Beispiel die Förderung haushaltsnaher Dienst-leistungen, die ausgeweitete Übertragbarkeit von Eltern-zeitansprüchen oder auch die Großelternzeit. Ebensowichtig war uns, dass Frauen nach einer Babypause inden Beruf zurückkehren können. Das vom Familienmi-nisterium entwickelte Programm „Perspektive Wieder-einstieg“ ist dabei so erfolgreich, dass es sogar in den In-strumentenbaukasten der Bundesagentur für Arbeitaufgenommen wurde. Vielen Dank, Frau Ministerin!
Ihr Vorschlag, sehr geehrte Kollegen der Linken, lau-tet hingegen, den Kündigungsschutz für Eltern bis zumvollendeten sechsten Lebensjahr des Kindes auszuwei-ten. Das ist schlichtweg kontraproduktiv.Für uns ist entscheidend, junge Familien finanziell zuunterstützen, und das haben wir entsprechend verstetigtund ausgeweitet. Das von uns eingeführte Elterngeldkann als voller Erfolg verbucht werden. 98 Prozent allerEltern nehmen diese Unterstützung des Staates in An-spruch. Damit haben wir für Eltern nach der Geburt ei-nes Kindes einen Schonraum geschaffen und konntengleichzeitig – darüber freue ich mich ganz besonders –junge Väter motivieren, mehr Verantwortung bei der Er-ziehung ihres Kindes zu übernehmen.
Es ist interessant, dass bereits jeder vierte Vater seinerPartnerin bei der Betreuung des gemeinsamen Kindeszur Seite steht. Gleichzeitig werden insbesondere Frauenmotiviert, nach einer intensiven Kinderzeit wieder An-schluss an das Berufsleben zu finden.
Auch Ihr Vorschlag zur Ausweitung des Elterngeldes auf24 Monate für Alleinerziehende ist hier nicht zielfüh-rend, weil dadurch der Wiedereinstieg zusätzlich er-schwert wird.Zur finanziellen Unterstützung von Familien gehörtneben dem Elterngeld in den ersten 12 bis 14 Monatenauch das Kindergeld. Bereits zu Beginn dieser Legisla-turperiode hat diese Koalition daher die Kinderfreibe-träge auf 7 008 Euro erhöht und das Kindergeld um20 Euro angehoben. Allein dadurch hat eine vierköpfigeFamilie im Jahr 480 Euro mehr zum Leben.Da aus unserer Sicht zur Familienpolitik auch eine ei-genständige Jugendpolitik gehört, ist Familienministe-rin Kristina Schröder hier vorangegangen und hat dasneue Politikfeld etabliert. Jugendliche in Deutschland
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Ewa Klamt
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sind in der großen Mehrheit engagierte und verantwor-tungsbewusste junge Menschen. Das kann man auch amErfolg des Bundesfreiwilligendienstes ablesen.
10 Prozent aller Jugendlichen eines Jahrgangs beteiligensich deutschlandweit an den Freiwilligendiensten. Nurzur Erinnerung: Von der Opposition wurde dieses Kon-zept noch im letzten Jahr als Rohrkrepierer bezeichnet.Ich kann also festhalten: Man kann alles schlechtreden;wir machen es gut.
Immerhin können wir einen Punkt Ihres Antrags vollund ganz unterschreiben: Familie ist dort, wo Verant-wortung füreinander übernommen wird. – Genau des-halb haben wir neben all den anderen bereits genanntenPunkten mit der Familienpflegezeit erstmals die Mög-lichkeit geschaffen, Verantwortung in der Familie undVerantwortung im Beruf zu kombinieren.Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Antrag derLinken manch wünschenswerten Aspekt enthält; aber– und dieses Aber ist entscheidend – es fehlt wie immereine Gegenfinanzierung Ihrer Vorschläge. Wir als christ-lich-liberale Koalition werden auch in Zukunft Politikfür Familie machen und die nötigen Maßnahmen ergrei-fen, Maßnahmen, die die Familien im Zusammenlebenunterstützen, die den Familien bei der Bewältigung ihresAlltags helfen und die die individuellen Lebensentwürfevon Familien respektieren und anerkennen.Ich danke Ihnen.
Jetzt hat Christel Humme das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-nen! Frau Klamt, man kann sich die Welt auch schönma-len. Das haben Sie gerade getan.
Ich glaube, noch nie gab es eine Regierung, die über Fa-milienpolitik so zerstritten war wie die jetzige Regie-rung. Noch nie hat es eine Regierung gegeben, FrauSchröder, die nach der Halbzeit in der Familienpolitikeine Minusbilanz aufzuweisen hatte. Sie haben wunder-schöne Programme aufgelegt und Appelle formuliert,aber keine einzige Entscheidung getroffen, die für einemoderne, nachhaltige Familienpolitik gestanden hätte.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenist der Ansatz immer klar gewesen: Moderne, nachhal-tige Familienpolitik ist ohne moderne nachhaltigeGleichstellungspolitik nicht möglich. Das gilt natürlichauch umgekehrt: Eine moderne Gleichstellungspolitik istohne eine moderne Familienpolitik genauso wenig mög-lich. – Erinnern wir uns an die gestrige Debatte zum Be-treuungsgeld. Es steht weder für eine moderne Familien-politik noch für eine moderne Gleichstellungspolitik,
wenn Sie das Betreuungsgeld einführen wollen. Ichhoffe, das Betreuungsgeld kommt nicht, wie von FrauHaderthauer und der CSU angekündigt, vor der Som-merpause.Die CSU-Sozialministerin Haderthauer beklagt, esgebe in der CDU keine echten Familienpolitikerinnenmehr. Recht hat sie. Recht hat sie jedoch nicht, wenn siemit dieser Aussage den verstaubten ideologischenKampf der 50er-Jahre wiederbeleben will. Das ist einideologischer Kampf, den wir alle hier im Parlament– davon bin ich überzeugt – schon längst überwundenglaubten. Recht hat sie vor allen Dingen nicht, wenn siebehauptet, das Betreuungsgeld fördere Wahlfreiheit. Dasist ein Irrtum, dem offensichtlich viele von Ihnen unter-liegen, leider auch die Ministerin.Warum? Liebe Frau Klamt, Sie haben gerade gesagt,dass Sie alle Familien gleichermaßen wertschätzen.Schauen wir uns doch einmal an, was der Bund tatsäch-lich für die Familien ausgibt. Er gibt jährlich mehr als130 Milliarden Euro aus, 72 Milliarden Euro davon ge-hen an Familien mit einem traditionellen Familienbild,in denen der Vater der Ernährer ist und die Frau in derRegel zu Hause bleibt.
25 Milliarden Euro geben Bund, Länder und Kommunenfür die Betreuungsinfrastruktur aus. Ist das für Sie einegleichwertige Wertschätzung der beiden Lebensformen?Ist es für Sie Wahlfreiheit, wenn wir auf der einen Seite72 Milliarden Euro und auf der anderen Seite nur25 Milliarden Euro ausgeben, obwohl wir alle wissen,dass Familien mit Kindern Schlange stehen, um einenBetreuungsplatz zu bekommen? Wo ist da die Balance?Wo ist da die Wahlfreiheit?Frau Ministerin Schröder, Sie haben uns gestern inder Debatte vorgeworfen, wir seien nicht sensibel für dieBedürfnisse junger Familien,
schließlich wollten 50 Prozent der Eltern gar keinenKrippenplatz. Ich kann die Zahlen nicht nachprüfen; ichweiß nicht, wo Sie die herhaben.
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Christel Humme
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Aber selbst wenn das stimmen sollte: Was machen Siedenn mit den anderen 50 Prozent, die einen Krippenplatzhaben wollen? In den westlichen Ländern haben wir eine20-prozentige Bedarfsdeckung. Es fehlen also immernoch 30 Prozent, für die wir die 2 Milliarden Euro, dieSie für das Betreuungsgeld vorgesehen haben, unbedingtbrauchen.
Frau Schröder, ich muss leider feststellen: Sie sindeine Familienministerin, die ein bisschen sehr weit vonder Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen jungerMenschen entfernt ist.
Hinzu kommt die Zerstrittenheit in Bezug auf das Be-treuungsgeld. Ich befürchte, dass dies eine vertaneChance für die jungen Menschen ist.Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratensind drei Aspekte wichtig, wenn wir über unsere Ziele inder Familienpolitik sprechen:
Wir brauchen Geld, Infrastruktur und Zeit, um uns nahan der Lebenswirklichkeit junger Familien zu orientie-ren.Lassen Sie mich als Beispiel meine Familie anführen.Frau Schröder, ich habe Töchter in Ihrem Alter. Sie sind27 und 30 Jahre alt. Sie sind also in einem Alter, in demdie Entscheidung ansteht, ob man eine Familie gründenmöchte. Meine Töchter gehören wie Sie zu der Genera-tion von Frauen, die eine Ausbildung bzw. ein Studiumabsolviert haben und den erlernten Beruf auch ausübenwollen. Wer möchte ihnen das verwehren? Sie möchtennatürlich ein existenzsicherndes Einkommen, weil siewissen, dass sonst unter Umständen Altersarmut droht.Meine Töchter gehören zu den 80 Prozent der jungenFrauen, über die Jutta Allmendinger im Zuge einer Stu-die aus dem Jahr 2008 einmal gesagt hat: Diese Frauenwollen Kinder, Karriere und einen Mann, aber keinenVersorger. – Ich möchte hinzufügen: Sie haben ihr Buchnicht für Frauen wie meine Töchter geschrieben. Zumin-dest stelle ich fest, dass sich meine Töchter von IhremBuch nicht angesprochen gefühlt haben.Es liegt doch auf der Hand: Junge Frauen wie meineTöchter brauchen einen guten Betreuungsplatz für ihreKinder, um ihren Beruf weiter ausüben und so ihr Fami-lieneinkommen sichern zu können. Was sollen die mitdem Betreuungsgeld anfangen? Überhaupt nichts. Hierwird deutlich, wie weit Sie sich mit Ihrer Politik vondem entfernt haben, was sich die jungen Menschen wün-schen. Im Moment bieten Sie auf Bundesebene keineeinzige Lösung an, wie den jungen Frauen in irgendeinerWeise Unterstützung gewährt werden kann.Ein Wort zu Ihnen, Frau Klamt. Sie vertun sich: Wirhaben damals bei den Verhandlungen zum Koalitions-vertrag die Einführung des Elterngeldes und der Eltern-zeit durchgesetzt,
und darüber sind wir froh; denn mittlerweile beteiligensich 25 Prozent der Väter an der Familienarbeit, wasaber auch heißt, dass sich 75 Prozent der Väter nicht be-teiligen. Wir waren immer für mehr Partnerschaftlichkeitin der Elternzeit.Frau Schröder, auch Sie wollten es anfangs ermögli-chen, die Elternzeit partnerschaftlich aufzuteilen, undzwar nicht für 7 Monate, wie es jetzt der Fall ist, sondernfür 14 Monate. Leider sind Sie vor dem Finanzministereingeknickt. Sie haben sich nicht durchsetzen können.Es reicht auch nicht aus, zu appellieren, dass die Mög-lichkeit, von Teilzeit auf Vollzeit zu gehen, verbessertwerden sollte. Wir sind der Meinung, dass wir dafür einegesetzliche Lösung brauchen. Ich denke, Sie sollten sicheinmal mit der ehemaligen Familienministerin Frau vonder Leyen zusammensetzen. Sie sollten mit ihr sprechenund gemeinsam einen Entwurf eines neuen, besserenTeilzeit- und Befristungsgesetzes auf den Tisch legen,das Familien hilft. Es muss möglich sein, befristet teil-zeitbeschäftigt zu sein mit dem Recht, später wiederVollzeit zu arbeiten. Ich denke, das sind konkrete Lösun-gen, und darum geht es doch eigentlich.
Der Arbeitsmarkt tut natürlich sein Übriges. Ichdenke an meine Töchter. Sie haben einen Arbeitsmarktvor sich, auf dem es Teilzeitfallen, Praktika, befristeteArbeitsverträge und Minijobs gibt. Und wir wundernuns, dass die Familiengründung immer weiter hinausge-schoben wird? Ich denke, auch an dieser Stelle brauchenwir gesetzliche Regelungen, auch ein Entgeltgleichheits-gesetz, damit Männern und Frauen gleicher Lohn fürgleiche Arbeit gezahlt wird. Die Rahmenbedingungenauf dem Arbeitsmarkt müssen für Familien stimmen.Die Linken haben einen Antrag vorgelegt, in dem vie-les von dem, was ich gerade genannt habe, aufgegriffenwird. Wir stimmen dem Antrag trotzdem nicht zu.Manchmal fordert man vielleicht zu viel des Guten. Ichmöchte nur zwei Beispiele nennen: Sie möchten denKündigungsschutz bis zum sechsten Lebensjahr des Kin-des ausweiten – das hört sich super an –, und Sie möch-ten, dass die Alleinerziehenden 24 Monate lang Eltern-geld beziehen; auch das hört sich super an. Beides istaber eine Falle. Die eine Falle ist, dass Frauen aufgrunddes Kündigungsschutzes keine Anstellung finden. Dieandere Falle ist: Wenn man zu lange aus dem Beruf he-raus ist, findet man den Anschluss nicht mehr.Von daher sagen wir: Gute Bildung und Betreuung,gute Arbeit, Zeit für Familien, und zwar für Frauen undMänner – das ist die richtige Politik, das ist moderne Fa-milienpolitik und gleichzeitig moderne Gleichstellungs-politik.Danke schön.
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Jetzt hat Miriam Gruß das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Wunderlich, Sie haben im Familienaus-
schuss über den Antrag gesagt, das sei ein bunter Strauß
an Forderungen der Familien-, Frauen-, Gesundheits-
und Pflegepolitik. Ich muss Ihnen leider attestieren: Der
Strauß ist nicht bunt, sondern rot und vor allem teuer.
Ich will nur einige Punkte aus diesem „Wünsch dir
was“-Katalog nennen – sie sind schon angesprochen
worden –: gebührenfreie Ganztagsbetreuung, Elterngeld
für Alleinerziehende auf 24 Monate ausweiten, Kinder-
geld auf 200 bis 300 Euro erhöhen und natürlich ein
Mindestlohn in Höhe von mindestens 10 Euro pro
Stunde. Ja, ich gebe zu, dass man in der Opposition den
Vorteil hat, dass man nicht alles mit spitzem Bleistift
rechnen muss. Das, was Sie verlangen, geht aber in den
zweistelligen Milliardenbereich, und das hat nichts mit
seriöser Familienpolitik zu tun;
denn seriöse Familienpolitik bedeutet auch, darauf zu
achten, welche Schulden wir den nächsten Generationen
hinterlassen. Die Realisierung Ihrer Forderungen hätte
einen Schuldenaufbau zur Folge. Ich glaube, dass Ihren
Haushaltspolitikern die Schamesröte ins Gesicht gestie-
gen ist, als sie diesen Antrag im Haushaltsausschuss ver-
teidigen mussten. Sie haben damit jede Glaubwürdigkeit
verloren. Sie sollten kein einziges Mal mehr über den
Abbau der Neuverschuldung sprechen.
Jetzt kommt mein Lieblingssatz: Auf Schuldenbergen
können Kinder nicht spielen und erst recht nicht lernen.
Dieser Satz stimmt. Das, was Sie fordern, würde zu ei-
nem höheren Schuldenberg führen. Wir hingegen ma-
chen uns an den Abbau der Neuverschuldung. Wir inves-
tieren klug und gerecht.
Wir haben investiert. Wir haben das Kindergeld und
die Kinderfreibeträge erhöht. Wir geben 4 Milliarden Euro
für den Ausbau der Betreuungsplätze aus. Wir haben ein
Kinderschutzgesetz, Strukturen für Familienhebammen
und das Netzwerk Frühe Hilfen geschaffen. Wir haben
die Familienpflegezeit eingeführt. Wir schaffen mit dem
Frauenhilfetelefon eine Infrastruktur zum Schutz von
Frauen. Wir haben in den Haushalt Mittel zur Verbesse-
rung von Kinderwunschbehandlungen eingestellt. Wir
gestalten den Elterngeldvollzug unbürokratischer. Wir
tun dies alles mit Vernunft und Augenmaß, aber auch mit
Blick auf den Haushalt.
Die Bundesrepublik ist kein Li-La-Launeland und der
Haushalt kein „Wünsch dir was“-Fonds. Mit Realpolitik
hat Ihr Antrag nichts zu tun. Deswegen wird er von uns
klar abgelehnt.
Jörn Wunderlich hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Hier wurde herausgehoben, was diese Koalition gemachthat, zum Beispiel die Erhöhung des Kindergeldes. Dasist ja schön. Aber was hat eine Familie im Hartz-IV-Be-zug von der Erhöhung des Kindergeldes? Nichts, weil esvoll angerechnet wird.
Was hat eine Alleinerziehende, die Unterhaltsvorschussbezieht, von der Kindergelderhöhung? Nichts, weil derUnterhalt voll gegengerechnet wird. – So viel zur Wert-schätzung aller Familien.Ich habe vier Minuten Redezeit. Wie soll man in vierMinuten eine Neuausrichtung der Familienpolitik dar-stellen?
Ich will mich auf wenige Punkte beschränken. Ich wäreschon froh, wenn die Regierung nur einen – ich wieder-hole: nur einen – der von uns beantragten Punkte auf-greifen würde. Hauptsache, sie fängt überhaupt einmalan.
Zu Punkt 1 unserer Forderungen: einem gesetzlichenMindestlohn und Arbeitsbedingungen, welche familien-freundlich gestaltet sind. Ich nenne ein Beispiel – es isthier angesprochen worden –: Man kann in einem BetriebPflegezeit beantragen, wenn zum Beispiel ein Elternteilpflegebedürftig wird. Einen Rechtsanspruch auf diesePflegezeit – vergleichbar mit der Elternzeit – gibt es abernicht. Hier soll – so ist es am Mittwoch gesagt worden –abgewartet werden, wie sich die Inanspruchnahme vonPflegezeit auf freiwilliger Basis entwickelt.Wir brauchen ein individuelles Recht auf Teilzeitar-beit mit Rückkehr in die Vollzeit.
Auch der besondere Kündigungsschutz bis zur Einschu-lung des Kindes oder bis zur Vollendung des sechsten
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21390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Jörn Wunderlich
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Lebensjahres des Kindes – in diesem Alter werden diemeisten Kinder eingeschult –, der hier kritisiert wird, isterforderlich. Das heißt ja nicht, dass diesen Eltern nichtgekündigt werden kann. Es wird übrigens immer nur vonMüttern gesprochen; Väter sind auch Elternteile.
Ihnen kann gekündigt werden, aber es müssen besondereGründe vorliegen. Die Arbeitszeit ist insgesamt so zugestalten, dass Väter und Mütter die Möglichkeit haben,neben der Elternschaft auch einer Erwerbstätigkeit nach-zugehen. Darüber hinaus brauchen wir eine Infrastrukturfür Familien, Kinder und Jugendliche. Wir brauchen zu-nächst eine bedarfsgerechte, qualitativ hochwertige Kin-derganztagsbetreuung.
Das Elterngeld ist auszubauen, sowohl hinsichtlichder Partnermonate als auch hinsichtlich der Teilzeit-arbeitsmöglichkeiten. Dazu wird sich in Kürze hier imHaus Gelegenheit ergeben. Mal sehen, ob die Koalitiondann ihrem eigenen Koalitionsvertrag und dem einhelli-gen Sachverstand aller Sachverständigen folgen wird.Ganz wichtig: Der Unterhaltsvorschuss ist auszu-bauen. Ich habe es gerade schon gesagt. Die maximaleBezugsdauer von 6 Jahren ist mit nichts zu begründen,und auch die Altersobergrenze von 12 Jahren nicht. Eswaren einmal 14 Jahre als Obergrenze geplant; dies istvon der Koalition wieder zurückgenommen worden. Er-klären Sie einmal einer alleinerziehenden Mutter oder ei-nem alleinerziehenden Vater, bei denen der Unterhaltausfällt, warum das Amt ab dem 13. Lebensjahr des Kin-des keinen Unterhaltsvorschuss mehr zahlt. Braucht einKind ab 13 Jahren kein Essen, keine Schulbücher, keineKleidung und keine Teilhabe? Das erklären Sie einmalden Menschen, die täglich damit zu tun haben.Das Totschlagargument der gelb-schwarzen Koali-tion, das immer genannt wird, lautet: Wünsch dir was,wer soll das alles bezahlen? Ich werde es Ihnen sagen.Bei Einführung eines Mindestlohns von 10 Euro proStunde – dies wird im Antrag erwähnt – würde sich nachBerechnungen des Prognos-Instituts durch höhere So-zialversicherungsbeiträge, höhere Steuereinnahmen undgeringere Sozialausgaben ein fiskalischer Gesamteffektvon 12,7 Milliarden Euro ergeben. 12,7 Milliarden Europlus! Dieses Geld verschleudert die Regierung alleindurch ihr Nichtstun. Für den Kitaausbau sollte der Bundnach unserer Überzeugung 4 Milliarden Euro zusätzlichin die Hand nehmen. Bleiben 8,7 Milliarden Euro übrig.Die Rücknahme der Kürzung des Elterngelds würde600 Millionen Euro kosten. Bleiben etwa 8,1 MilliardenEuro übrig. Für den Kinderzuschlag sind 3,2 Milliardenund für die Aufstockung des Mindestelterngelds 2,3 Mil-liarden Euro notwendig. Bleiben unter dem Strich rund2,5 Milliarden Euro übrig.Wenn die Regierung dann noch die geplanten 2 Mil-liarden Euro für dieses unsinnige Betreuungsgeld dazu-packt, sind die Forderungen in unserem Antrag, die alsnicht bezahlbar bezeichnet werden, allesamt problemloszu erfüllen.
Aber man muss es auch wollen. Die Linke will es, aberdie Gelb-Schwarzen werden heute wieder unter Beweisstellen, dass sie es nicht wollen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit an diesemFreitagnachmittag.
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Die Familienpolitik der schwarz-gelbenBundesregierung ist leider völlig auf der falschen Spur.Wodurch zeichnet sich die Familienpolitik von Unionund FDP aus? Knatsch und Zank, etwas anderes be-kommt man eigentlich gar nicht mit. Das Betreuungs-geld ist nur ein Beispiel. Heute habe ich in der Zeitunggelesen, dass die CSU Familienministerin Schröder einUltimatum stellt, um einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Da muss ich doch sagen: Das ist wahre Liebe unter Ge-schwisterparteien. So stelle ich mir nun wirklich keineharmonische Familienpolitik vor. Trotz dieser ganzenStreitereien sind in der Haushaltsplanung 1,2 MilliardenEuro für das Betreuungsgeld vorgesehen. Diese 1,2 Mil-liarden Euro könnten wir in der Familienpolitik wirklichsehr viel besser einsetzen.
Wir hatten am Montag eine Anhörung im Familien-ausschuss. Diese Anhörung hat sich mit der Weiterent-wicklung des Elterngelds befasst. Alle anwesenden Ex-pertinnen und Experten waren sich durch die Bank, egalwer sie eingeladen hatte, völlig einig, dass wir dasTeilelterngeld ausbauen sollten.
Die jetzige Regelung hat nämlich den großen Nachteil,dass die Eltern, die sich die Kindererziehung partner-schaftlich teilen, benachteiligt und diskriminiert werden.Das können wir alle eigentlich nicht wollen. Alle Exper-tinnen und Experten waren sich auch einig: Die Partner-monate beim Elterngeld müssen ausgebaut werden.Auch das finden wir eigentlich alle richtig. Beide Vor-schläge sind auch im Koalitionsvertrag so vorgesehen.Für diese Vorschläge gab es sogar schon einen ausgear-beiteten Gesetzentwurf. Nur: Dieser Gesetzentwurf istwieder eingesackt worden. Was war der Grund? Der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21391
Katja Dörner
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Grund war: Es ist kein Geld für diese sinnvollen Maß-nahmen da.
Eine andere wichtige Maßnahme – sie ist hier schongenannt worden – ist der Unterhaltsvorschuss. Auchzum Unterhaltsvorschuss finden wir im Koalitionsver-trag einen guten Vorschlag, nämlich den, die Alters-grenze zu verschieben. Die Altersgrenze zu verschieben,wäre absolut sinnvoll und würde gerade Alleinerziehen-den und ihren Kindern in einer wirklich schwierigen Le-benssituation tatsächlich helfen. Auch dazu lag schonein Gesetzentwurf vor. Auch dieser Gesetzentwurfwurde einfach wieder einkassiert. Warum? Weil fürdiese Maßnahme angeblich kein Geld da ist. Es ist abso-lut absurd, dass diese Regierung die wenigen sinnvollenMaßnahmen, die sie im Koalitionsvertrag vorgesehenhat, mit der Begründung, es sei kein Geld dafür da, aufEis gelegt hat, gleichzeitig aber für eine absurde Maß-nahme wie das Betreuungsgeld 1,2 Milliarden Euro aus-geben will.
Ich finde, da kann man sich nur an den Kopf fassen.
Ich möchte einen Punkt aus dem Antrag der Linkenaufgreifen, und zwar die Orientierung an einem wirklichmodernen Familienbild. Familie ist nämlich längst nichtmehr da, wo es einen Trauschein gibt, sondern Familieist da, wo Kinder sind und wo Menschen füreinanderVerantwortung übernehmen.
Leider ist dies in der deutschen Familienpolitik und ge-rade im Familienrecht überhaupt noch nicht umgesetzt.Wann handelt die Bundesregierung beispielsweise beimAdoptionsrecht für gleichgeschlechtliche und eingetra-gene Lebenspartnerschaften?
Wann handelt sie endlich bei der steuerlichen Benachtei-ligung von Alleinerziehenden, von nicht miteinanderverheirateten Eltern und von Patchworkfamilien?
Beim Sorgerecht für nicht miteinander verheiratetePaare warten wir seit zwei Jahren auf einen Gesetzent-wurf. Es wurde aber immer noch nichts vorgelegt. Auchhier gibt es keinerlei Aktivitäten dieser Bundesregie-rung. Was tut die Bundesregierung beispielsweise zurAbsicherung von Regenbogenfamilien?
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, all das sind rheto-rische Fragen. Die Antwort darauf lautet: Sie tut nichts.
Die schwarz-gelbe Familienpolitik bleibt leider ein mut-loses Schmalspurprogramm. Soll denn von dieser Legis-laturperiode nur das Betreuungsgeld übrig bleiben? Daskönnen wir alle nun wirklich nicht wollen.
Daher auch von meiner Seite der dringende Appell andie Bundesregierung: Setzen Sie endlich die richtigenPrioritäten, und wenden Sie sich den relevanten Fragenzu!Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Für eine moderne und zukunfts-weisende Familienpolitik“. Der Ausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9551,den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-che 17/6915 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und derSPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a und b auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten OliverKrischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterenAbgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Vereinheitlichung der bergrechtli-chen Förderabgabe– Drucksache 17/9390 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten RolfHempelmann, Doris Barnett, Klaus Barthel, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAnpassung des deutschen Bergrechts– Drucksache 17/9560 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
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21392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeOliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unser Gesetzentwurf, den wir hier heute einbringen, solleinen Anachronismus im deutschen Bergrecht beseiti-gen. Im Bergrecht gibt es die Vorschrift, dass jemand,der einen Rohstoff fördert, eine Förderabgabe in Höhevon 10 Prozent des Marktwertes an das jeweilige Bun-desland zahlen muss. Das ist auch völlig richtig so, weilhier jemand ein Allgemeingut, einen Bodenschatz, inAnspruch nimmt, der der Gesellschaft gehört. Dafür solldann auch gezahlt werden. Das Bergrecht sieht auch vor,dass die Länder mehr als 10 Prozent erheben können.Die Praxis sieht aber leider völlig anders aus. Wennman sich einmal anschaut, wo in Deutschland überhaupteine Förderabgabe erhoben wird, dann ist das Ergebnisernüchternd. Außer bei der Erdgasförderung gibt esnämlich faktisch keine Erhebung einer Förderabgabe. Eskann nicht sein, dass wir von Ländern in Schwarzafrika,Südamerika oder sonst wo auf der Welt verlangen, dassdie Staaten von der Rohstoffgewinnung profitieren, wäh-rend in Deutschland nicht einmal eine Förderabgabe ge-zahlt wird.
Besonders frappierend ist das bei der Braunkohle. DieBraunkohle ist wertmäßig der wichtigste Rohstoff, der inDeutschland gefördert wird. Es geht dort um große Men-gen, große Volumina in zwei großen Revieren, nämlichim Rheinland und in Ostdeutschland. Auch hier wirdkeine Förderabgabe erhoben. Der Grund ist: Hier gibt esalte Rechte, die in Kaisers Zeiten oder irgendwann spä-ter verliehen worden sind, und im Bundesberggesetz gibtes einen Ausnahmeparagrafen, der die Erhebung derFörderabgabe bei solchen alten Rechten ausdrücklichfreistellt. Das gehört abgeschafft;
denn man kann keinem Menschen erklären, dass ganzeLandschaften devastiert werden und dass Unternehmenwie Vattenfall und RWE mit dem Braunkohlenbergbauund der Verstromung Milliardengewinne machen, wäh-rend sie auf der anderen Seite keinen Euro und keinenCent Förderabgabe dafür zahlen.
Es ist auch völlig richtig, dass die Länder in Zukunfteine solche Einnahme haben müssen; denn durch denBergbau entstehen Ewigkeitskosten und Folgekosten,die teilweise immense Höhen erreichen. Wir kennen dasaus dem Steinkohlenbergbau: Das komplette Ruhrgebietmuss auf ewig leergepumpt werden, weil das Ganzesonst durch die ganzen Bergsenkungen „absaufen“würde. Ähnliches wird im Rheinland durch den Braun-kohlenbergbau auf uns zukommen, und wir kennen sol-che Schäden bereits in Ostdeutschland.Hier entstehen am Ende Folgekosten für die öffentli-che Hand, wenn die Unternehmen nicht mehr greifbarsind. Es ist auch bei Konzernen wie RWE und Vattenfallnicht auf Jahrzehnte hinaus sicher, dass sie zahlen kön-nen. Deshalb ist es völlig richtig, dass die Länder ent-sprechende Einnahmen haben, um gerade auch dieseFolgekosten in Zukunft abdecken zu können. Deswegenist die Förderabgabe richtig.
Es wird immer gesagt – ich vermute, das wird gleichin der Debatte auch noch kommen –, das sei verfas-sungsrechtlich gar nicht machbar. Wir haben das vomWissenschaftlichen Dienst des Bundestages prüfen las-sen. Er sagt klipp und klar: Selbstverständlich kann mandas Bundesberggesetz ändern, damit man trotz dieser al-ten Rechte eine Förderabgabe erheben kann; denn esgeht ja nicht um einen Entzug der Rechte, sondern nurum eine Heranziehung zur Zahlung einer Abgabe. Dasalles ist für die Unternehmen nach wie vor wirtschaftlichmachbar; denn sie machen mit diesen Rechten ja Milliar-dengewinne. Deshalb ist das auch verfassungsrechtlichvöllig problemlos möglich. Das sagt nicht nur der Wis-senschaftliche Dienst, sondern das sagen auch viele an-erkannte Rechtsanwaltskanzleien und entsprechende Be-ratungsbüros.
Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antragzu, weil das den vom Bergbau betroffenen Ländern – inOstdeutschland, Nordrhein-Westfalen, aber auch ande-ren – die Möglichkeit eröffnet, eine solche Förderabgabezu erheben. Es geht nämlich darum, dass die Länder sol-che Einnahmen haben. Das wollen wir ermöglichen. Wirwollen das nicht erzwingen, sondern wir wollen das denLändern überlassen, damit dort die Einnahmen gewon-nen werden, weil sie die Folgekosten am Ende bezahlenmüssen.
Zum Schluss noch ganz kurz zum SPD-Antrag. Siehaben auch einen Antrag zum Bergrecht eingebracht. Esist gut, dass sich die SPD mit diesem Thema auseinan-dersetzt. Das war nicht immer so. Es finden sich dortdurchaus auch kritische Bemerkungen zum Thema Berg-bau. Wer die SPD gerade aus Nordrhein-Westfalenkennt, der weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Umes aber einmal ganz offen zu sagen: Lieber RolfHempelmann, das, was im Beschlussteil kommt, istdünn wie Pergamentpapier. Das ist eine Ansammlungvon Prüfaufträgen. Hier müsst ihr noch weiterarbeiten.Der Koalitionsvertrag in Nordrhein-Westfalen ist hierschon weiter. Ich nenne zum Beispiel die Beweislastum-kehr bei Bergschäden durch den Abbau von Braunkohleim Tagebau. Das haben wir schon gemeinsam in Nord-rhein-Westfalen vereinbart. Aber ihr schreibt dazu einenwindelweichen Prüfauftrag in euren Antrag. Das ist zuwenig, aber immerhin ist es besser als das, was die Ko-alition bei diesem Thema macht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21393
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Kollege Krischer, Sie hatten einen Schlusssatz ange-
kündigt.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank. – Ich beende
mich.
Danke.
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Andreas Lämmel.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Zum Glück sind am Sonntag die Landtagswah-len in Nordrhein-Westfalen, dann wird auch hier wiederdie Bühne sein, um vernünftige Debatten führen zu kön-nen. Wenn man die Plenarsitzungen von gestern undheute verfolgt, stellt man fest, dass fast kein einzigesThema dabei gewesen ist, bei dem nicht der Wahlkampfhervorlugte und Rot-Grün versuchte, Themen zu lancie-ren.Zum Bergrecht sind in diesem Jahr schon mehrereAnträge gestellt worden. Es gibt Anträge aus der Frak-tion der Grünen. Die SPD hat einen nachgereicht. DieLinke hat ebenfalls einen Antrag eingereicht. Jetztkommt der Gesetzentwurf der Grünen dazu.
Dazu muss man zwei kurze, grundsätzliche Anmer-kungen machen. In der ersten Anmerkung geht es um dieFrage der Rohstoffe. Deutschland ist sehr stark von Roh-stoffimporten abhängig. Das hat sich in den letzten Jah-ren – das wissen Sie alle – nicht wirklich verbessert. ImGegenteil: Die Bedingungen auf den internationalenRohstoffmärkten zur Versorgung der deutschen Wirt-schaft sind eher schwieriger geworden. Daraus ist danndie umfassende Rohstoffstrategie der Bundesregierungentstanden. Die CDU/CSU-Fraktion hat nun schon ihrendritten Rohstoffkongress veranstaltet, und wir werdenauch einen vierten Kongress folgen lassen, um genaudiese Themen weiter zu diskutieren.
Ein wesentlicher Bestandteil dieser Rohstoffstrategieist die Diversifizierung von Rohstoffbezugsquellen;denn wenn man mehrere Bezugsquellen hat, kann mandie Abhängigkeiten reduzieren und damit die Versor-gungssicherheit erhöhen. Diversifizierung bedeutet na-türlich auch die Nutzung einheimischer Rohstoffe. Ichmöchte es hier noch einmal ganz klar und laut sagen:Deutschland ist kein rohstoffarmes Land. Aber manmuss natürlich an die Rohstoffe herankommen. Genaudarum geht es.Wir wollen den Rohstoffimport weiter verringern.Rohstoffimporte bedeuten schließlich, dass Vermögens-und Kapitalleistungen aus Deutschland ins Ausland ver-schoben werden, was aus der jährlichen Öl- oder Gas-rechnung Deutschlands klar hervorgeht. Laut Gesetzent-wurf der Grünen werden in Deutschland Rohstoffe imWert von 17,7 Milliarden Euro produziert. Das wäre alsoder Betrag, den man dann noch zusätzlich ins Auslandtransferieren müsste, würde man den Bergbau inDeutschland einstellen.
– Dazu komme ich noch. Bleiben Sie ganz ruhig. – Ne-ben den ökonomischen Aspekten spielen auch ökologi-sche und soziale Aspekte sowie der Arbeitsschutz eineRolle. Gerade die Fraktion der Grünen, die zukünftigden Bergbau in Deutschland verhindern will, macht sichüberhaupt keine Gedanken, wie der Bergbau in anderenLändern betrieben wird. Es kann nicht unser Anspruchsein, das Problem des Bergbaus einfach in andere Län-der zu verschieben.
Die zweite grundsätzliche Bemerkung betrifft dieEnergiewende. Große Teile des Hauses haben im letztenJahr diese Energiewende beschlossen. Es geht nun da-rum, acht grundlastfähige Kernkraftwerke vom Netz zunehmen. Das heißt natürlich, dass bis 2022, bis zumvollständigen Umstieg auf die regenerativen Energien,fossile Energieträger in Deutschland eine wesentlichgrößere Rolle spielen werden. Das bedeutet: Neben denImporten von Gas und Öl sind die heimischen Energie-träger Braunkohle und Steinkohle unverzichtbar.
Schauen wir uns einmal den Gesetzentwurf der Grü-nen an, der heute in erster Lesung beraten wird. Erst ein-mal ein großes Kompliment an die Fraktion der Grünen:Ich glaube, das ist der kürzeste Gesetzentwurf, den ichjemals in die Finger bekommen habe.
Von daher ist er erst einmal sehr gut. Beim genauerenHinschauen kann man aber sagen: Der Gesetzentwurfmüsste eigentlich unter dem Titel „Bergbau in Deutsch-land abschaffen“ stehen. Genau das wollen wir nicht.
Es geht um die Förderabgabe. Sie haben das kurz be-schrieben. Nach dem Bundesberggesetz ist eine Förder-abgabe von 10 Prozent des Marktwertes – also nicht aufden Gewinn, sondern auf den Umsatz – zu zahlen. Die
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21394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Andreas G. Lämmel
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Regelung der Freistellung von der Förderabgabe wollenSie nun abschaffen.Nun könnte man vermuten, dass Sie sozusagen Chan-cengleichheit unter den Rohstoffförderunternehmen her-stellen wollen, wie Sie es auch behaupten. Ein Blick inden Gesetzentwurf zeigt aber, dass es nur um eines geht,nämlich darum, die Kohleförderung in Deutschland völ-lig unmöglich zu machen. Das ist die Zielrichtung IhresGesetzentwurfs. Das kann man auch in der Begründunggenau nachlesen.Sie können nicht erwarten, dass wir dem zustimmenwerden. Denn die anderen Rohstoffe wie Kiese, Sandeoder Salze, die in Deutschland weiterhin gefördert wer-den, werden nicht erwähnt. Es geht ausschließlich umdas Thema Kohle.Was die juristische Betrachtung angeht – ich bin keinJurist, sondern Ingenieur; es gibt aber verschiedene wis-senschaftliche Dienste –,
lohnt sich ein Blick in die Gesetzesbegründung zum al-ten Bergbaugesetz aus der achten Wahlperiode des Deut-schen Bundestages. Zur Begründung des § 151 heißt esdarin:Das Bergwerkseigentum alten Rechts muß als un-befristetes Recht aufrechterhalten bleiben … Ent-sprechendes gilt für § 30, da die Erhebung einerFörderabgabe nur für Bergwerkseigentum in Be-tracht kommen kann, das erst aufgrund dieses Ge-setzes verliehen wird.Die Begründung des damaligen Gesetzes zielt genau indie Richtung, dass die alten Bergbaurechte erhalten blei-ben müssen.Sie gehen auch auf die Situation in den neuen Bun-desländern ein. Sie haben sie aber nur halb dargestellt.Das tut mir leid. Ich lade Sie gerne ein, dort hinzufahren.Wir können auch gerne die Bilder danebenlegen, die sich1990 dem Betrachter darstellten und zeigen, wie in einerGesellschaft Bergbau betrieben wurde, die nichts vondem ordentlichen Bergrecht hatte. Dort ging es nicht da-rum, dass ein Bergbaubetrieb auch dafür zuständig ist,die Landschaft wiederherzustellen und einer neuen Nut-zung zu übergeben.In den neuen Ländern ist die Rechtslage wiederumanders – auch das haben Sie nicht dargestellt –; denn inden neuen Ländern wurde mit der Privatisierung derBergbauunternehmen schon ein Bergbauzins eingeführt.
Man hat sozusagen die Fördersummen berechnet, die inden Gruben zur Verfügung stehen. Die Unternehmenzahlen jetzt im Prinzip mit den Zinsen die Fördermengeab.Meine Damen und Herren, wenn Sie einen solchenGesetzentwurf auf den Weg bringen, dann müssen Siezumindest die Realität ordentlich abbilden
und die Begründung so schreiben, dass nicht jeder Halb-blinde merkt, dass es nur darum geht, der Braunkohleendlich den Garaus zu machen, was Sie vorher in IhrerRegierungszeit leider nicht geschafft haben.Die SPD hat schon einer einheitlichen Erhebung einerFörderabgabe eine Abfuhr erteilt. Das können Sie in denRessourceneffizienzprogrammen nachlesen, denen dieSPD auch zugestimmt hat. Dafür sind wir auch sehrdankbar. Insofern stehen Sie mit Ihrem Ansinnen jetztziemlich alleine da.Zusammenfassend muss man beim Thema Bergbauauf zwei Punkte achten. Erstens müssen die Bergbau-unternehmen bei allen neuen Vorhaben oder Erweiterun-gen auf die Belange der Bevölkerung und der Gemein-den vor Ort intensiver eingehen. Das ist sicherlich keineFrage. Man kann auch darüber nachdenken, wie man dasbesser gestalten kann.Zweitens – das ist der wichtige Punkt – muss aberBergbau in Deutschland weiterhin möglich sein. Dafürstehen wir. Deswegen freue ich mich auf die BeratungenIhres Gesetzentwurfs im Ausschuss.
Ganz ehrlich: Große Chancen räume ich dem Vorhabennicht ein.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Herr Lämmel, man kann Eulen nach Athen oderKohlen nach Newcastle tragen. Aber Sie sollten zurKenntnis nehmen, dass niemand einen Antrag gestellthat, den Bergbau in Deutschland abzuschaffen oder Rah-menbedingungen zu schaffen, die dafür sorgen, dass eskeinen erfolgreichen Bergbau in Deutschland mehr ge-ben kann.
Es gibt einen Gesetzentwurf der Grünen, der sich mit derVereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe be-fasst, unseren Antrag und einen Antrag der Linken. Nach
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21395
Rolf Hempelmann
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meinem Dafürhalten wird nirgends die tiefere Absichtverfolgt, den Bergbau in Deutschland abzuschaffen.Zur Förderabgabe vorweg: Am 23. Mai wird es eineAnhörung geben. Es ist legitim, dieses Thema dann zurDebatte zu stellen. Dann werden wir hinterher mit Si-cherheit klüger sein als zuvor und uns dazu unsere Mei-nung bilden. Das Gleiche gilt, lieber Oliver Krischer,auch für die Frage der Beweislastumkehr. Warum solltenwir uns schon heute festlegen, wenn wir wissen, dass wirin einer Anhörung Experten dazu hören können? Deswe-gen gibt es einen Prüfauftrag. Die Prüfung beginnt mitder Anhörung.Der Auslöser dieser Debatte über das Bergrecht unddie entsprechenden Vorschläge der Opposition ist dasThema unkonventionelles Erdgas. Wir befassen uns seitlängerem intensiv mit dieser Thematik. Wer sich an diegestrige Debatte über das unkonventionelle Erdgas, dasFracking, erinnert, kann nur staunen. Ganz offensichtlichgibt es auch in der Bundesregierung und in den sie tra-genden Fraktionen Überlegungen, das Bergrecht zuändern; denn nichts anderes bedeutet es, wenn der Um-weltminister gestern im Plenum und der Wirtschafts-minister über die Medien uns mitteilen, dass man jeden-falls auf der Basis der geltenden bergrechtlichenBestimmungen nicht in der Lage sei, dem Frackinggrünes Licht zu erteilen, sondern dass man dazu neue Er-kenntnisse, Umweltverträglichkeitsprüfungen – diesesWort ist gestern gefallen – und vieles andere mehr brau-che.Mit anderen Worten: Schon in der gestrigen Debatteist also deutlich geworden – wenn wir den Minister ein-mal ernst nehmen –, dass wir eine Novelle zum Berg-recht unbedingt brauchen. Die entscheidende Frage lau-tet, wie ernst wir ihn nehmen können. Er hat sich gesternzum Retter der Enterbten gemacht und verdeutlicht, wiesehr es ihm ein Anliegen ist, die Ängste der Bevölkerungaufzunehmen. Vor zwei Jahren haben wir davon nichtsbemerkt, als es um die Zukunft der Kernenergie inDeutschland ging. Aber es ist schön, dass Lernprozesseauch in der Bundesregierung stattfinden. Hoffen wir nur,dass sie den nächsten Sonntag, den 13. Mai, überleben;denn wie wir wissen, war das Umdenken bei der Kern-energie genauso einem Wahltermin geschuldet wie nundas Umdenken beim Fracking.
Warum ist eine Novelle zum Bergrecht notwendig?Wenn man sich anschaut, wann das Bergrecht entstandenist und zuletzt novelliert wurde, wird klar, dass die Not-wendigkeit besteht, dieses Recht weiterzuentwickeln. Esgeht übrigens nicht darum, dieses Recht abzuschaffen. Inden letzten Tagen habe ich eine entsprechende Forde-rung vernommen, mit der Begründung des Auslaufensdes Steinkohlenbergbaus. Das kann keine Lösung sein.Selbst wenn das Bergrecht nur für den Steinkohlenbe-reich gelten würde, wären mit der letzten Förderung diebergrechtlichen Zuständigkeiten noch nicht erloschen;denn dann geht es um die sogenannten Ewigkeitslasten.Auch das muss bergrechtlich sauber organisiert sein.Es gibt viele Gründe – einige sind bei Ihnen, HerrnLämmel, gerade angeklungen –, warum das Bergrechtweiterentwickelt werden muss. Sie haben deutlich ge-macht, in welchem Umfang und in welchen BereichenBergbau in Deutschland stattfindet. Dabei geht es umKiese, Sande und energetische Rohstoffe wie Braun-kohle, Steinkohle und Erdgas, aber auch um viele andereRohstoffe. Natürlich wollen wir die Bergbauförderungaufrechterhalten. Das heißt, das Ganze muss bergrecht-lich flankiert sein. Aber das geltende Bergrecht ist inZeiten entstanden, in denen es in der Bevölkerung nichtein solches Bewusstsein für Umweltschutz und insbe-sondere für Trinkwasserschutz gab, wie das heute derFall ist. Die Gesellschaft hat sich einfach weiter verän-dert. Schon aus diesem Grunde muss das Bergrecht deut-lich angepasst werden.
Wir stellen das gerade – ich habe das Beispiel am An-fang genannt – im Zusammenhang mit dem unkonven-tionellen Erdgasfracking fest. Man sollte nicht populis-tisch versuchen, dieses Thema kurz vor einemWahltermin zu behandeln. Wir haben das Problem seitmehr als einem Jahr in Anträgen hier im Deutschen Bun-destag thematisiert. Beim Erdgasfracking sind sehr sen-sible umwelt- und wasserrechtliche Belange betroffen.Deshalb organisiert sich die Bevölkerung vor Ort undleistet Widerstand schon gegen Probebohrungen. Dasmuss man zur Kenntnis nehmen. Das ist nicht in jedemFall Alarmismus. Man kann möglicherweise Befürch-tungen entkräften, aber klar ist, dass es die berechtigteErwartung gibt, dass im Bergrecht Vorkehrungen getrof-fen werden, um drängende Fragen der Bevölkerung be-antworten zu können: Was passiert mit unserer unmittel-baren Umwelt? Was passiert mit unserem Trinkwasser?Welche Vorkehrungen werden getroffen, damit wir nichtunnötig belastet werden?Das ist der Kern unseres Antrags. Wir wollen eineModernisierung und eine Anpassung des Bergrechts. Ichdenke, dass wir im Zusammenhang mit der AnhörungGelegenheit haben, das Thema zu vertiefen. Ich hoffe,dass es dann eine konstruktive Beteiligung auch der Ko-alitionsfraktionen gibt. Gerade wenn Ihnen der Bergbauin Deutschland wichtig ist, sollten Sie mitarbeiten unddafür sorgen, dass wir ein Bergrecht bekommen, das inunsere Zeit passt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Manfred Todtenhausen für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Der sichere Zugang zu Rohstoffen ist für die
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21396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Manfred Todtenhausen
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deutsche Wirtschaft die Voraussetzung für industrielleWertschöpfung und damit für Beschäftigung, Wachstumund Innovationen.
In den zurückliegenden Jahren hat sich für die deut-schen Unternehmen die Sicherung der Rohstoffversor-gung zu einer Herausforderung entwickelt. Maßgebli-chen Anteil daran hat der weltweit stark gestiegeneBedarf an Rohstoffen, der zu teilweise drastischen Preis-anstiegen und bedrohlichen Verknappungen geführt hat.Zudem ist gerade in Deutschland zunehmend eine künst-liche Verknappung und dauerhafte Entziehung von Roh-stofflagerstätten durch konkurrierende Nutzung undÜberplanung zu verzeichnen.In der Konsequenz nimmt die Importabhängigkeitweiter zu. Bereits heute sind wir in vielen Bereichen aufdie Einfuhr von Rohstoffen angewiesen, sei es bei derVersorgung der Metall- und Elektroindustrie, bei der De-ckung des Bedarfs an fossilen Energieträgern oder beider Entwicklung von neuen Technologien.
Damit sind erhebliche Teile der deutschen Wirtschaft derErgiebigkeit globaler Lagerstätten sowie der gesell-schaftlichen und politischen Stabilität in den jeweiligenFörderregionen ausgesetzt.Parallel dazu haben sich die Bedingungen an denWeltmärkten für Rohstoffe spürbar verschlechtert. Folg-lich hat die Nutzung heimischer Ressourcen auch eineAusgleichsfunktion gegenüber globalen Entwicklungen.Die Aufgabe der Politik ist es, durch zweckmäßige Rah-menbedingungen den Zugang zu Rohstoffen zu gewähr-leisten und stetig zu verbessern. Dies müssen wir an die-ser Stelle nochmals deutlich betonen.
Den ordnungspolitischen Rahmen für die Rohstoffge-winnung in Deutschland setzt seit mehr als 30 Jahren dasBundesberggesetz. Teile des Bergrechts gehen gar aufdas 12. Jahrhundert zurück. Hätte es damals schon dieGrünen gegeben, dann wären wir wahrscheinlich gesell-schaftlich nicht ganz so weit wie heute. Wir wären viel-leicht noch im Mittelalter.
Das Bundesberggesetz schafft Planungs- und Rechts-sicherheit. Es ermöglicht so hohe Investitionen zur Ver-besserung der Versorgungssicherheit und trägt maßgeb-lich zum Erhalt der Wertschöpfungskette im Inland bei.Gleichzeitig bildet es aber auch die Grundlage zur Vor-sorge im Hinblick auf Gefahren und zur Wahrung derRechte Dritter. Vor diesem Hintergrund erfolgten in derVergangenheit Anpassungen des Bundesberggesetzesnur mit Augenmaß und unter Einbeziehung hoher fachli-cher Kompetenz. Das soll auch in Zukunft so bleiben.
Was aber will die Opposition mit den uns vorliegen-den Initiativen erreichen? Schaut man in den Gesetzent-wurf der Grünen, wird schnell klar, worum es eigentlichgeht. Der anhaltende Mangel an Wettbewerbsfähigkeitgrüner Energiespielwiesen soll nun künstlich behobenwerden.
Durch eine erzwungene Verteuerung konkurrierenderFormen der Stromerzeugung hofft man, dem ungebrems-ten Anstieg der EEG-Umlage begegnen zu können.
Diese Zielsetzung ist nicht neu und war daher vonseitender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auch nicht anderszu erwarten.
Die Lasten hieraus müssten wiederum die Stromkundenin unserem Land tragen. Die Strompreise würden stei-gen. So folgt nach der Insolvenz von Aluminiumhüttenwohl bald der Ruin der Baustoffindustrie.
Dass die Grünen marktwirtschaftlichen Prozesseneher wenig abgewinnen können, konnten wir in der Ver-gangenheit bereits häufiger vernehmen. Mit dem einge-brachten Gesetzentwurf wird jetzt aber sogar das Grund-gesetz infrage gestellt. Eine nachträgliche Änderungvertraglich gesicherten Bergwerkeigentums wäre einVerstoß gegen das Eigentumsrecht gemäß Art. 14 GG.
Kollege Todtenhausen, entschuldigen Sie bitte, dass
ich Sie unterbreche. Gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Höhn?
Nein. Verzeihen Sie mir.
Selbst wenn man eine Enteignung – was im konkretenFall abwegig ist – in Betracht ziehen würde, dann wärediese mit entsprechenden Entschädigungszahlungen ver-bunden.Zur Verdeutlichung: Nach dem Willen der Grünensoll dem Eigentümer eines Bergwerks durch die Förder-abgabe Kapital entzogen werden, um es ihm hinterherals Entschädigung zurückzugeben. Das wäre dann dasungeheuer erfolgreiche Prinzip: linke Tasche, rechte Ta-sche.
Aber auch dieses Politikverständnis kennt man von derOpposition.Im Vergleich dazu muss man dem Antrag der SPD zu-mindest mehr Sachlichkeit zubilligen. In ihm sind ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012 21397
Manfred Todtenhausen
(C)
(B)
nünftige Punkte enthalten, über die wir sicher noch dis-kutieren werden. Dennoch geht der Antrag inzahlreichen Punkten über eventuelle Erfordernisse weithinaus. Vor möglichen Änderungen gesetzlicher Bestim-mungen sollte immer der Grundsatz stehen, Auslegungs-spielräume bestehender Vorschriften zu nutzen. Dieaufgezeigten Konfliktfelder könnten durch eine konst-ruktive Regionalplanung gelöst werden, beispielsweiseim Zuge eines Planfeststellungsverfahrens oder einervorgeschalteten Raumordnungsplanung.Ich möchte noch einmal klarstellen: Bei bergbauli-chen Planungen und Entscheidungen sind sowieso über-wiegend Landesbehörden gefordert. Selbstverständlichwerden auch in Zukunft veränderte Bedingungen zu An-passungen am deutschen Bergrecht führen, aber selbst-verständlich sachdienlich und besonnen. Forderungen,die darauf abzielen, Bergbauaktivitäten zu unterbindenoder zumindest stark zu verzögern, lehnen wir entschie-den ab.Herzlichen Dank.
Kollege Todtenhausen, das war Ihre erste Rede im
Hohen Haus. Zur Erklärung für die Zuhörerinnen und
Zuhörer: Das heißt nicht, dass der Kollege Todtenhausen
seit 2009 schweigend hier im Plenum gesessen hat, son-
dern er ist erst am 2. Mai dieses Jahres in den Deutschen
Bundestag nachgerückt.
Wir gratulieren Ihnen recht herzlich zu dieser ersten
Rede und wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere
Tätigkeit!
Das Wort hat die Kollegin Sabine Stüber für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir brauchen ein modernes Bergrecht, daszwei Funktionen erfüllen muss: Zum einen muss es dernotwendigen Rohstoffgewinnung Rechnung tragen unddabei die Besonderheiten des Bergbaus berücksichtigen.Zum anderen muss es, und das viel stärker als bisher,den Interessen von Betroffenen und der Umwelt gerechtwerden.
Zurzeit räumt das Bergrecht dem Abbau von Boden-schätzen einen besonderen Vorrang vor allen anderen In-teressen ein. Das ist bei dem heutigen Wissen um dieEndlichkeit der fossilen Ressourcen nicht mehr zeitge-mäß.
Nun hat auch die SPD einen Antrag zur Novelle desBergrechts vorgelegt. Er ist allerdings in der Analyseund in den Forderungen sehr allgemein gehalten. Dass eskonkreter geht, zeigen entsprechende Anträge der Grü-nen und der Linken. Der SPD-Antrag geht zwar in dierichtige Richtung, aber unverständlich bleibt, warum dieSozialdemokraten vor „weiteren Investitionshindernis-sen“ warnen. Das heißt im Klartext: vor verbessertenBeteiligungs- und Klagerechten für die Umweltver-bände. Zu diesen Hemmnissen sagen wir Nein.
Entweder ein Bergbauvorhaben erfüllt die gesetzlichenAnforderungen, oder es erfüllt sie eben nicht. Dann musses im Zweifelsfall gestoppt oder verbessert werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben hierschon zweimal die Bergrechtsnovelle debattiert. Deshalbmöchte ich jetzt nur noch auf die Förderabgabe einge-hen.Es ist ein Unding, dass Energiekonzerne mit derBraunkohle seit Jahren enorme Profite einfahren, aberkeinen Cent Förderabgabe an den Staat zahlen.
Beim Abbau werden ganze Dörfer umgesiedelt, zumBeispiel bei mir in Brandenburg, wo Tausende Men-schen ihre Heimat verloren haben. Und RWE oder Vat-tenfall machen fette Gewinne, ohne mit nur einem Centfür die Verwüstung von Natur und Landschaft aufzu-kommen.
– Bitte hören Sie mir zu. – Kommunale Stromversorgeroder Wasserwerke hingegen müssen schon für die Nut-zung öffentlicher Wege Konzessionsabgaben an die Ge-meinden zahlen. Deshalb muss eine Förderabgabe fürdie Konzerne auch für die alten Bergrechte gelten, überdie unmittelbaren Pflichten zur Entschädigung und Wie-derherstellung hinaus.Die Grünen wollen in ihrem Antrag Ausnahmerege-lungen streichen. Das unterstützen wir.
In unserem Antrag fordern wir eine vergleichbare Rege-lung. Wir meinen darüber hinaus, dass die Länder keineMöglichkeit mehr haben sollten, selbstständig den bun-deseinheitlichen Satz abzusenken. Herr Krischer hat esschon gesagt: Er beträgt gegenwärtig 10 Prozent desMarktwertes der Rohstoffe. Im Übrigen wären – ange-sichts der Gewinne – auch 15 Prozent vertretbar.Es wird oft behauptet, dass laut Einigungsvertrag inOstdeutschland keine Förderabgaben erhoben werdendürfen. Das gehört allerdings in das Reich der Legenden.Die rot-grüne Bundesregierung hatte vielmehr daraufverzichtet, und zwar im Zusammenhang mit der Über-nahme der Braunkohlenunternehmen VEAG und Laubagdurch Vattenfall in Brandenburg. Im Handelsblatt war
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21398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2012
Sabine Stüber
(C)
(B)
jedenfalls im März 2001 zu lesen, dass der damaligeBundeswirtschaftsminister Müller Vattenfall den Ver-zicht auf den Förderzins in jährlich zweistelliger Millio-nenhöhe angeboten habe. Bis dato musste die Laubag fürden Braunkohleabbau zahlen. Es gab also schon einmaleine Förderabgabe, zumindest in der Lausitz.
Kollegin Stüber, ich bin ein geduldiger Mensch. Aber
achten Sie jetzt bitte auf mein Signal.
Diese sollten wir schleunigst wieder einführen, und
das nicht nur im Osten.
Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/9390 und 17/9560 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 23. Mai 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, soweit
das möglich ist.