Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Rechtsrahmens für
Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu
weiteren Änderungen im Recht der erneuer-
baren Energien
– Drucksache 17/8877 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Jan Korte, Dorothée Menzner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mut zum Aufbruch ins solare Zeitalter
– Drucksache 17/8892 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Parlamen-
tarischen Staatssekretärin Katherina Reiche für die Bun-
desregierung das Wort.
Ka
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir haben bemerkenswerteWochen hinter uns. Was gab es nicht alles für Vorwürfe?Kahlschlag! Ausstieg! Deindustrialisierung!
Die Empörungskurve der Opposition kennt keine Gren-zen.
Leider ist die Lernkurve der Opposition, bei SPD undGrünen, bei weitem schwächer als die Lernkurve derPhotovoltaik.
Bundesumweltminister Röttgen hat in der AktuellenStunde in der letzten Woche darauf hingewiesen, dassdie Vorwürfe falsch sind. Sie waren schon damals falsch,sie sind jetzt falsch, und sie werden auch durch perma-nente Wiederholung nicht richtiger.
Was sind die Fakten? Die Photovoltaik ist in Deutsch-land in einem Ausmaß gewachsen, wie es in dieser Ge-schwindigkeit niemand für möglich gehalten hätte. SeitEnde 2009 hat sich die installierte Leistung verdreifacht.25 Gigawatt haben wir mittlerweile in Deutschland, undallein 2011 sind 7 500 Megawatt installiert worden.2010 und 2011 konnten wir erneut die Einspeisevergü-tung absenken – und das zu Recht.Ein Wort zur SPD. Umweltminister Gabriel hat in derGroßen Koalition verpasst, eine schon damals überfäl-lige Schlankheitskur durchzusetzen. Stattdessen gab esnoch einmal einen großen Schluck aus der Förderpulle.Diese Überförderung mussten wir abbauen – zum Wohle
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19724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
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der Stromkunden und zum Wohle der Verbraucherinnenund Verbraucher;
denn ein Massenmarkt kann nicht dauerhaft durch Sub-ventionen gespeist werden.
Man kann auch sagen, dass die Photovoltaik erwachsengeworden ist. Wenn man erwachsen ist, dann muss manVerantwortung übernehmen und auf eigenen Füßen ste-hen.
Heute haben wir bei der Photovoltaik Netzparität imHaushaltsbereich. Das von der Koalition eingebrachteGesetz gibt jemandem, der eine Dachanlage hat, dieMöglichkeit, seinen Strom günstiger zu erzeugen als zubeziehen. Netzparität heißt eben, dass der durchschnittli-che Haushaltsstrom bereits teurer ist als die Erzeugungvon Solarstrom. Diese Netzparität erreichen wir inKürze auch im landwirtschaftlichen und im Gewerbebe-reich. Hiermit ist ein Marktanreiz gesetzt.Das EEG muss zunehmend zu einem Marktertüchti-gungsgesetz werden. Mit dem neuen Marktintegrations-modell vergüten wir nicht mehr die Gesamtmenge desStroms, sondern geben einen Anreiz, diesen selbst zunutzen. Die Anlagenbetreiber können ihren Strom ent-weder selbst verbrauchen, sie können ihn vermarkten,oder sie können ihn anbieten. Der Eigenstrombedarfwird bei der Anlagenplanung zukünftig stärker berück-sichtigt werden. Das eröffnet übrigens Möglichkeiten fürdie deutsche Industrie. Das eröffnet Möglichkeiten ge-rade für Anlageninstallateure, mit intelligenter Steue-rungs- und Messtechnik maßgeschneiderte Lösungen zupräsentieren. Ich halte das für einen zukunftsfähigenMarkt und würde mir wünschen, dass dies auch stärkergenutzt werden würde.
Selbst wenn wir die Förderung nicht anpassen wür-den, selbst wenn wir höhere Vergütungen genehmigenwürden: Am Grundproblem der deutschen Hersteller än-dert das doch nichts. Das EEG ist eben kein Absatzsi-cherungsgesetz. Auf dem Weltmarkt stehen unglaublichviele Module zur Verfügung. Es gibt massive Überkapa-zitäten, und der Wettbewerb ist hammerhart. Ich sagenicht, dass der Wettbewerb jedes Mal fair ist. Gerade ausFernost kommen Module auf den Markt, die preislichweit unter dem liegen, was deutsche Hersteller anbietenkönnen.
Aber es ist auch wahr, dass sich die Bürgerinnen undBürger oftmals für das günstigere Angebot entscheiden,und das beeinflusst das EEG nicht.
Wir können diese Wettbewerbsverhältnisse mit einemnachfrageorientierten Instrument nicht beeinflussen.Noch einmal, Herr Kelber: Es ist kein Absatzsicherungs-gesetz.
Mit höheren Vergütungssätzen riskieren wir eine Über-förderung, ohne zu steuern. Die Grünen und auch Sie,Herr Kelber, sagen das übrigens auch hinter verschlosse-nen Türen. Sie sollten den Mut haben, das auch hier sozu sagen und nicht nur im kleinen Kreis.
Gerade die Tatsache, dass die Unternehmen schon imJahr 2011 in einer schwierigen Situation waren, obwohldie EEG-Vergütung auskömmlich war, zeigt, dass sichdie Industrie in einem Wettbewerb auch unabhängigvom EEG behaupten muss. Dazu sind zwei Dinge not-wendig, wie es sich für die Industrie gehört, nämlich dasSetzen auf Innovationen und auf Forschung. Deswegenhat diese Bundesregierung zusammen mit dem For-schungsministerium ein Forschungsprogramm in Höhevon 100 Millionen Euro aufgelegt. Auch die deutschenUnternehmen müssen stärker in den Export, um sich zubehaupten.Die Bürgerinnen und Bürger stehen mit überwältigen-der Mehrheit hinter der Energiewende. Die Bürgerinnenund Bürger wollen zu über 95 Prozent, nämlich zu98 Prozent, erneuerbare Energien. Wir wollen, dass dasso bleibt. Wenn wir aber risikofreie Renditen im zwei-stelligen Bereich, finanziert durch alle Stromverbrau-cher, dulden, dann setzen wir die Unterstützung der Bür-gerinnen und Bürger langfristig aufs Spiel, und daswollen wir nicht.
Zu unserer Verantwortung gehört, die Interessen allerBürgerinnen und Bürger, der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer im PV-Bereich, der Handwerker, aberauch aller Stromkundinnen und Stromkunden im Blickzu haben. Das unterscheidet uns offenbar von der Oppo-sition und auch von manchen Unternehmensverbänden,die leider nur Partikularinteressen im Blick haben.
Noch ein Wort zur Netzstabilität. In einem Industrie-land wie Deutschland ist die Netzstabilität ein ganz ho-hes Gut. Es gibt den sogenannten Nichtverfügbarkeits-wert. Er liegt in Deutschland bei 14,63 Minuten. Dasheißt, eine Unterbrechung der Stromversorgung beiKunden dauert im Durchschnitt in Deutschland lediglich14,63 Minuten. Wir wollen, dass dieser weltweite Spit-zenwert gehalten wird. Wir wollen zum Beispiel keinekalifornischen Verhältnisse, wo der Strom einmal fürvolle drei Tage weg war. Wir wollen auch nicht, dass der
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Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
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Strom, wie es in Brasilien einmal der Fall war, für2 Stunden oder, wie in Italien, für 18 Stunden weg war.Deshalb müssen wir die Photovoltaikindustrie, die In-stallateure von Photovoltaikanlagen ertüchtigen. Auchdiejenigen, die Photovoltaikmodule nutzen, müssen sichihrer Verantwortung, zur Netzstabilität beizutragen, be-wusst sein. Vor diesem Hintergrund gehen wir im Gesetzauch auf die 50,2-Hertz-Problematik ein; denn das hoheGut der Netzstabilität ist etwas, was wir für Deutschlanderhalten wollen.
Meine Damen und Herren, ich glaube ganz fest an dieZukunft der Solarindustrie, auch hier in Deutschland.
Wir wollen ein Solarstandort sein. Wir wollen diese In-dustrie hier halten. Wir wollen bis 2020 mindestens35 Prozent des deutschen Strombedarfs aus erneuerbarenQuellen decken. Die Solarförderung, die Solarindustrie,die PV wird hier einen großen Beitrag leisten und einetragende Rolle einnehmen. Aber überhitzte Expansionist nicht gut. Die Überhitzung, die wir in den vergange-nen Jahren trotz Anpassungen immer wieder erlebt ha-ben, schadet sowohl dem deutschen Markt als auch un-seren Unternehmen. Deutschland ist momentan einer dergrößten Solarmärkte weltweit. Aber gleichzeitig müssenwir die Solarindustrie auf einen verträglichen Pfad füh-ren. Auch das wollen wir mit unserem Gesetz garantie-ren.
Wichtig für die Unternehmen ist, dass es jetzt keinelange Hängepartie gibt. Zur Wahrheit gehört auch: Mitden Produzenten war schon beim letzten Mal verabredet,dass es dann, wenn wir wieder deutlich über 7 000 Mega-watt kommen, erneut eine Korrektur geben wird. Inso-fern kann keiner ernsthaft verunsichert oder überraschtsein über die Korrektur, die wir jetzt vornehmen. Es giltalso: Wenn wir jetzt schnell Klarheit schaffen, schaffenwir Ruhe im Markt und schaffen Sicherheit für Verbrau-cher und Installateure.
Das Wort hat nun Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die erneuerbaren Energien in Deutschland sind eineeinzigartige Erfolgsgeschichte. Seit der Jahrtausend-wende sind 380 000 neue Jobs geschaffen worden, dieEmission von Treibhausgasen ist um 150 Millionen Ton-nen jährlich gesunken. Wir haben endlich wieder Wett-bewerb im Energiemarkt. Wir haben an der Strombörseübrigens niedrigere Preise, wir haben rapide sinkendeKosten für jede Kilowattstunde Ökostrom, und jährlichsind mehr als 30 Milliarden Euro zusätzliche Investitio-nen ausgelöst worden. Für all das war das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das im Jahr 2000 in Kraft getreten ist,die Grundlage. Die SPD ist stolz auf diese Erfolgsge-schichte.
Rund 70 Staaten haben weltweit das Erneuerbare-Energien-Gesetz kopiert. Das ist nicht vielen deutschenGesetzen vergönnt. 2000 und 2004 ist dieses Erneuer-bare-Energien-Gesetz in diesem Parlament durchgesetztworden – durchgesetzt gegen CDU/CSU und FDP, ge-gen die Stimme von Angela Merkel, gegen die Stimmevon Norbert Röttgen, gegen die Stimme von KatherinaReiche. Heute wird ein Gesetz vorgelegt, das ein Angriffauf das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist.Es ist erstens ein Angriff auf die Verlässlichkeit, weilin Zukunft die Rahmenbedingungen sehr schnell mit Ka-binettsentscheidungen verändert werden können.Zweitens ist es ein Angriff auf den schnellen Ausbau,den schnellen Umstieg auf 100 Prozent erneuerbareEnergien.
Ich will das nur an einem Beispiel darstellen: Die Regie-rung hat vor zwei Monaten bei der Netzplanung gesagt,sie wolle 54 Gigawatt Photovoltaik in Deutschland,54 Gigawatt Solarstrom. Jetzt sollen es mehr als 10 Gi-gawatt weniger sein. Zum Vergleich: Das ist die Leis-tung der noch am Netz verbliebenen Atomkraftwerke.
Die wollen Sie weniger an Solarstrom in Deutschlandhaben.
Wir haben gestern im Bundestag über die Gefährdungder Energiewende durch die schwarz-gelbe Bundesre-gierung gesprochen, weil sie die Energiewende nur ausWahltaktik akzeptieren musste, aber nicht wirklich über-zeugt ist. Wer keine Überzeugung hat, der hat auch kei-nen Plan. Unsichere Investitionsbedingungen, mangeln-der Netzausbau, hü und hott bei den Förderprogrammenund die Kreuzzüge gegen Solarenergie treffen vor allemdie erneuerbaren Energien. Ich nenne ein Beispiel: DasFörderprogramm für erneuerbare Energien im Wärme-sektor wurde erst gekürzt, dann gestoppt, dann wiederaufgelegt, dann erweitert, jetzt wieder gestoppt. In nurzwei Jahren gab es sechsmal ein Hin und Her bei einemder relevantesten Förderprogramme für unser Hand-werk. Wer soll in diesem Chaos von Schwarz-Gelb nochinvestieren?
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19726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Ulrich Kelber
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Es geht nicht nur um die Höhe der Vergütung. Immerhäufiger können Windenergieanlagen nicht produzieren,weil der Netzausbau nicht vorankommt, weil Schwarz-Gelb Pilotprojekte für Erdverkabelungen, Hochtempera-turleitungen, Stromautobahnen und andere neue Techno-logien verweigert.
Die Technologieförderung wird zusammengestrichen.Wo ist die Speicherstrategie der Regierung? Wo ist dieUnterstützung für Kombinationskraftwerke aus ver-schiedenen erneuerbaren Energien, die punktgenauStrom liefern sollen? Stattdessen erstickt Schwarz-Gelbdie erneuerbaren Energien auch durch Bürokratie undVerbote. Ein Beispiel: Das neue Luftverkehrsgesetz wirdfür jeden Luftlandeplatz ein 50 Quadratkilometer großesGebiet definieren, in dem Windenergieanlagen nichtmehr oder nur unter erschwerten Bedingungen errichtetwerden können. Das sind 25 000 Quadratkilometer zu-sätzliche Erschwerungsfläche, mehr als die Fläche vonRheinland-Pfalz.
Die SPD lehnt den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung im Bundestag und im Bundesrat ab.
So wird und so darf er keine Mehrheit bekommen. Es istein durchsichtiger Angriff auf die erneuerbaren Ener-gien.
Das wird auch durch kosmetische Veränderungen gegen-über den ersten Entwürfen der Regierung nicht besser.
Die verschlechterten Bedingungen für erneuerbare Ener-gien sollen nun in drei Wochen in Kraft treten, statt, wiezunächst vorgesehen, heute. Das haben die schwarz-gel-ben Fraktionen angekündigt. Die vorgesehene Entmach-tung des Parlaments durch Kabinettsbeschlüsse wird nunminimal eingeschränkt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU undFDP: Man kann sich auch selbst zum Affen machen.
Diese Korrekturen sind weniger als gar nichts! NehmenSie sich doch ein Beispiel an den CDU-regierten Län-dern: Die lehnen das ab und wollen gegen die Inhaltedieses Entwurfs kämpfen. Das erwarte ich auch von denFraktionen von Schwarz und Gelb.In Zukunft soll das Kabinett bei allen erneuerbarenEnergien die Vergütung und die Menge des zu vergüten-den Stroms innerhalb weniger Tage kappen können.
Bei den Nichtsolarenergien soll der Bundestag dannnoch zustimmen. Bislang hat das der Deutsche Bundes-tag in einem transparenten Verfahren gemacht. DieseEntmachtung des Parlaments, diese zu befürchtendenkurzfristigen Verschlechterungen greifen die Verlässlich-keit des Erneuerbare-Energien-Gesetzes an. Aber erstdie Verlässlichkeit der Förderung erneuerbarer Energienhat die Erfolgsgeschichte möglich gemacht. Die neueRegelung wird für höhere Risikozinsen, weniger Investi-tionen und weniger Erneuerbare sorgen. Das lehnt dieSPD ab.Schwarz-Gelb hat angekündigt, den Zubau von Solar-energie in Deutschland bis 2017 auf maximal 1,5 Giga-watt pro Jahr absenken zu wollen; das heißt 80 Prozentweniger als 2011, die Hälfte weniger als nach den bishe-rigen Zielen. Pardon, aber wie dumm ist das eigentlich,genau dann, wenn etwas billiger wird, in das man vielinvestiert hat – und Deutschland hat viel in das Billiger-werden der Solarindustrie investiert –,
wenn man sozusagen die Ernte einfahren könnte, denAusbau zurückzufahren?
Welcher Bauer käme denn auf die Idee, in dem Augen-blick, wenn das teure Saatgut Wurzeln geschlagen hatund die Ernte der Früchte zum Greifen nahe ist, das Feldabzubrennen? Niemand käme auf diese Idee.
Nein, die SPD will beim Ausbauziel von wenigstens3,5 Gigawatt Solarenergie pro Jahr bleiben, damit dieSolarenergie allein alle zwei Jahre ein Atomkraftwerkersetzen kann. Wir wollen die Solarmodule endlich auchauf den Dächern der Mietshäuser sehen,
damit der Eigenverbrauch zu niedrigeren Stromkostenfür die Mieterinnen und Mieter führt. Diese könnten die-sen Strom heute bereits für 15 oder 16 Cent bekommenstatt zum Preis von 25 Cent, zu dem ihn die Energiekon-zerne an die Mieterinnen und Mieter verkaufen. Wirwollen, dass alle profitieren können.
Deswegen muss Solarstrom natürlich weiterhin jedesJahr billiger werden, und zwar mit einer festen monatli-chen Rate, die einmal pro Quartal angepasst werden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19727
Ulrich Kelber
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muss, wenn deutlich mehr als die 3,5 Gigawatt zugebautwurden. An dieser Stelle unterstützen wir die bestehendeGesetzeslage.
Wir wollen die Vergütung weiter senken; 30 Prozentwären es 2012 ohnehin gewesen. Ein maßvoller zusätzli-cher Schritt erscheint möglich.
Aber wir sollten die Vergütung nur so weit senken, dassjemand, der ein Modul unter marktwirtschaftlichen Be-dingungen produziert, dies auch zu einem angemessenenPreis verkaufen kann. Schwarz-Gelb will die Vergütungjedoch so weit absenken, dass nur noch hochsubventio-nierte Module aus China auf dem deutschen Markt eineChance haben.
China hat zweifelsohne technologisch aufgeholt.Aber wir wissen doch auch, dass der Staat, die Provinz-regierungen und die Volksarmee die Solarfirmen sub-ventionieren. Schwarz-Gelb akzeptiert die unfairenDumpingpreise aus China. In Vieraugengesprächen wirdgesagt: Das ist halt so; da kann man nichts machen.Nein! Staatlich ausgeglichene Verluste für chinesischeSolarfirmen, subventioniertes Siliziumdioxid, subventio-niertes Glas, subventionierte Energie, großzügige Kre-ditlinien – das ist kein fairer Wettbewerb.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-land können erwarten, dass eine Bundesregierung einemsolchen Dumping aus dem Ausland entgegentritt undnicht tatenlos zusieht.
Die SPD wird diese Zukunftstechnologien nicht auf-geben. Wir erwarten eine Antidumpingstrategie desBundeswirtschaftsministers.
Die Menschen müssen sich darauf verlassen können – inden Hochburgen, in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thürin-gen, Brandenburg.
Das gilt aber auch für Handwerker und Zulieferer ausder ganzen Republik.Die schwarz-gelben Pläne bedeuten einen Zusam-menbruch der deutschen Solarzellen- und Solarmodule-fertigung.
Ich darf noch einmal – wenn Sie mir nicht glauben – dasBundesumweltministerium zitieren, Frau Staatssekretä-rin Reiche. Damit Sie es finden: Es geht um Ihre Presse-mitteilung 145/11 vom Ende letzten Jahres.Zum 1.1.2012 wird die PV-Vergütung nochmals um15 Prozent abgesenkt. Das EEG 2012 sieht zudemvor, dass auch zum 1.7.2012 ein weiterer Absen-kungsschritt erfolgt …Dies stellt die deutschen Unternehmen nochmalsvor eine große Herausforderung … Viele deutscheUnternehmen schreiben bereits derzeit Verluste.Wir wollen die Photovoltaikindustrie aber nicht ab-würgen …Es ist … gelungen, eine Lösung zu finden, die dieKosten deutlich reduziert, marktwirtschaftliche An-reize erhöht und gleichzeitig Planungssicherheit ge-währleistet.Jetzt muss das neue Gesetz, das am 1. Januar 2012in Kraft tritt, erst einmal wirken.Das war die Meinung Ihres Ministers vor dreieinhalbMonaten, Frau Reiche. Das hat überhaupt nicht zu Ihrerheutigen Rede gepasst.
Wir haben die große Chance, aus 380 000 Jobs in dennächsten Jahren 750 000 Jobs zu machen. Mit Schwarz-Gelb drohen jetzt weitere Insolvenzen und Arbeitslosig-keit. Wir wollen die Energieversorgung zu 100 Prozentin Richtung der Erneuerbaren transformieren. Schwarz-Gelb will die Erneuerbaren den Spielregeln der Energie-konzerne unterwerfen, der Versorgung mit Großkraft-werken; sie sollen nur die Lücke füllen.
Nicht wenige bei Schwarz-Gelb wollen doch in Wirk-lichkeit das Scheitern der Energiewende, damit dieAtomkraftwerke nach 2022 weiterlaufen können. Siehätten nur die Interviews der letzten Tage lesen oder ges-tern Herrn Paul in diesem Parlament hören müssen.
Wir, die SPD, stellen uns diesen Plänen entgegen. Wirwissen uns in einem breiten gesellschaftlichen Bündnis.Zu diesem Bündnis gehören auch von CDU und CSU re-gierte Bundesländer. Jetzt fordern wir diesen Mut, dendie Ministerpräsidenten der Bundesländer gezeigt haben,als sie in den letzten Tagen gesagt haben: „Wir stimmendiesem Entwurf der schwarz-gelben Bundesregierungnicht zu“, auch von den Freunden der Erneuerbaren inden Fraktionen von CDU/CSU und FDP ein.Heute bringt die Bundesregierung ihr Anti-Erneuer-bare-Energien-Gesetz ein. Wir werden es in den Aus-schüssen und in der Anhörung zerpflücken.
Ende März wird hier die Endabstimmung stattfinden.Die SPD wird namentliche Abstimmung beantragen, da-mit jeder in den Wahlkreisen weiß, wo sein Abgeordne-
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19728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Ulrich Kelber
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ter oder seine Abgeordnete in dieser wichtigen Fragesteht.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrKelber hat gerade wieder gezeigt, wer hier in diesemHaus der größte Lobbyist für eine bestimmte Brancheist.
Die SPD-Fraktion kann hier aus meiner Sicht nicht gutenGewissens mit solchen Argumenten antreten.
Eine Partei, die darauf ausgerichtet war, die kleinenLeute in diesem Land zu vertreten, ist inzwischen hierim Deutschen Bundestag offensichtlich die Partei, dieauf Kosten der alleinerziehenden Kassiererin im Super-markt
die Umverteilung von unten nach oben propagiert, näm-lich zugunsten der Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer.Das war der Inhalt der Rede von Herrn Kelber hier imDeutschen Bundestag.
Ich kann nur sagen: Sie sollten sich einmal Ihre ei-gene nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin zumVorbild nehmen.
Sie sagt nämlich erstens: Wir müssen unsere industriel-len Kerne erhalten, damit wir wettbewerbsfähig bleiben.Zweitens sagt sie: Bei der Photovoltaik muss man mitder Vergütung runter. – Das ist die Zweigesichtigkeit derSPD: hier im Deutschen Bundestag Solarlobby, in Nord-rhein-Westfalen Anwalt der kleinen Leute. Das passtnicht zusammen, meine Damen und Herren!
Im Jahr 2011 war der Anteil erneuerbarer Energien ander Stromproduktion so groß wie nie: Etwa 21 Prozentunseres Stroms stammen aus Wind, Sonne, Biomasseund Wasserkraft. Mit dieser schnellen Entwicklung wer-den wir es schaffen, unser Ziel, bis 2020 den Anteil desÖkostroms auf mindestens 35 Prozent zu heben, voraus-sichtlich weit schneller zu erreichen, als wir noch vorkurzem gedacht haben. Und man sieht: Es ist die Politikvon Union und FDP, die Politik dieser Koalition, diewirkt. Das ist die Politik für eine schnellere Energie-wende, die wir nicht nur beschlossen haben, sondern diewir auch durchsetzen. Das beweisen die Zahlen ganzeindeutig, meine Damen und Herren!
Aber man muss auch ehrlich bleiben. Nur jede sechsteKilowattstunde Ökostrom stammt aus der Solarenergie,und wer wie Herr Kelber hier so tut, als würde die Frageder Solarvergütung darüber entscheiden, ob die erneuer-baren Energien in Deutschland erfolgreich sind, der ver-zerrt die Wirklichkeit. Wir haben es hier mit einemMarktsegment der erneuerbaren Energien zu tun, unddas ist nicht einmal das größte. Es sind die Windkraftund Biogas, die das Rückgrat des Ökostroms in Deutsch-land sind.
Allerdings – das sage ich auch sehr deutlich – ist dieSolarenergie ein Marktsegment mit weltweit großenMarktchancen in der Zukunft, und trotz der asiatischenKonkurrenz haben wir immer noch die Technologiefüh-rerschaft inne.Deshalb, meine Damen und Herren, steht die FDP zurSolarenergie. Wir wollen allerdings einen nachhaltigenAusbau und keine Überhitzung des Marktes, wie wir esin der Vergangenheit erlebt haben. Das halten die Ver-teilnetze nicht aus, und das ist auch für die Bürgerinnenund Bürger in dieser Form nicht bezahlbar.
Man sollte sich auch hier einmal die Ausbauzahlenanschauen. Im Jahr 2010 und im Jahr 2011 hat die Solar-industrie die gesetzlichen Ausbauziele um mehr als dasDoppelte überschritten. Wenn man dann noch berück-sichtigt, dass die schwarz-gelben Ausbauziele fast dop-pelt so hoch sind wie die unter dem ehemaligen SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel,
könnte man davon reden, dass die Ausbaurate in denletzten beiden Jahren viermal höher war als die Rate, dieSigmar Gabriel wollte. Die SPD, die uns an dieser Stellevorwirft, wir würden die Solarindustrie nicht genug för-dern, müsste sich eigentlich selber fragen, was sie in ih-rer Regierungszeit getan hat. Schließlich wollte sie nurein Viertel dessen, was allein im letzten Jahr erreichtwurde.
Es ist ein Erfolg dieser Bundesregierung, dass wir dieFörderung seit unserem Regierungsantritt in etwa hal-
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Michael Kauch
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biert haben, ohne dass der Ausbau zusammengebrochenwäre. Das Gegenteil ist passiert. Bei jeder Kürzungs-runde standen jedoch die Demonstranten da und habengesagt, die Solarindustrie bricht zusammen. Jedes Malhaben Sie das Lied vom Tod der Solarbranche gesungen,
aber jedes Mal ist das Gegenteil eingetreten, und so wirdes auch dieses Mal sein, meine Damen und Herren.
Die Anlagenpreise sinken immer weiter, und wenndie Anlagenpreise immer weiter sinken – und das ist einErfolg des technischen Fortschritts –, dann müssen diesesinkenden Preise auch an die Verbraucherinnen und Ver-braucher weitergegeben werden. Denn sonst machensich Investoren die Taschen voll.
Wir wollen nicht, dass zweistellige Renditen der Eigen-heimbesitzer von normalen Stromkunden, von normalenFamilien finanziert werden.
Das ist auch eine soziale Frage, um die wir uns hier zukümmern haben, meine Damen und Herren!
Wenn Sie, Herr Kelber, hier die Rechnung aufma-chen:
„Mehr Vergütung heißt mehr deutsche Module“, dannzeigt das nur, dass Sie den Markt nicht verstanden ha-ben.
Auch bei der jetzigen Vergütungshöhe guckt sich derHausbesitzer doch an, welches Modul gut und günstigist.
Leider muss man sagen, dass die Chinesen nicht mehrschlechter als die Deutschen sind. Wenn sie dann auchnoch billig werden, dann kaufen die Leute die chinesi-schen Module, und zwar unabhängig von der Vergü-tungshöhe. Deshalb müssen sich die deutschen Herstel-ler die Frage stellen,
warum sie in den letzten Jahren im Verhältnis zum Um-satz weniger für die Forschung ausgegeben haben als derDurchschnitt der deutschen Industrie.
Wer nicht forscht, kann auch nicht besser werden, meineDamen und Herren!
Deshalb müssen wir bei der Forschung ansetzen, wennwir die deutschen Hersteller wieder für den Weltmarktfitmachen wollen.
Zu dem Gerede von Herrn Kelber, man müsse jetztgegen das Dumping aus China vorgehen:
Dafür ist die Europäische Kommission zuständig, unddie Europäische Kommission hat dazu ein Verfahren ein-geleitet.
Aber es ist der Europäischen Kommission bisher nichtgelungen, nachzuweisen, dass es Dumping gibt.
Wir haben einen WTO-Vertrag, und insofern muss manBeweise bringen und darf nicht nur Behauptungen auf-stellen. Sie als Opposition machen es sich hier ganzschön leicht, Herr Kelber.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hateine Formulierungshilfe gegeben. Die Fraktionen habendiese Formulierungshilfe abgeändert. Wir haben den Ge-setzentwurf, den wir heute in den Bundestag einbringen,nicht eins zu eins von der Bundesregierung übernom-men.
Den Fraktionen war es wichtig, dass in unserem LandVertrauensschutz besteht. Wir sichern den Vertrauens-schutz für mittelständische Unternehmen. Wir sichernVertrauensschutz für durchgeführte Investitionen. Des-halb haben wir die Übergangsfristen für Dachanlagenund Freiflächenanlagen verlängert. Das ist ein Erfolg fürdie Koalitionsfraktionen hier im Deutschen Bundestag.
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19730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Michael Kauch
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Wir können das Spiel mit den Übergangsfristen aller-dings nicht immer weitertreiben; denn wer die Fristenimmer weiter nach hinten schiebt, wird einen Schluss-verkaufseffekt auslösen. Das würde dazu führen, dassmehr Anlagen hoch gefördert würden als ohne die ge-plante Gesetzesänderung.
Klar muss sein: Wir haben die Regelungen mit Blick aufden Vertrauensschutz geändert, aber wir als FDP-Frak-tion werden einem weiteren Hinausschieben über den1. April hinaus nicht zustimmen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Wir haben auch die Verordnungsermächtigungen, die
sich die Bundesregierung zubilligen wollte, im Interesse
der Parlamentsrechte eingeschränkt.
Wir als FDP wollen im weiteren Verfahren eine automa-
tische Anpassung, den sogenannten atmenden Deckel.
Wenn die Ausbauziele überschritten werden, soll künftig
die Anpassung automatisch erfolgen, damit wir nicht
ständig neue Verordnungen der Bundesregierung brau-
chen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zei-ten, in denen Investitionen in Solarstrom teuer waren,sind vorbei. Seit 2008 sind die Mittel für die Förderungvon Solarstrom halbiert worden, und zwar auf gesetzli-cher Grundlage. Aber das genügt Ihnen nicht. Selbst imJahre 2012 wäre die Förderung nach der derzeit beste-henden gesetzlichen Grundlage noch einmal um 30 Pro-zent reduziert worden. Aber das reicht Ihnen immernoch nicht, Sie wollen noch drastischer reduzieren. Wa-rum reicht Ihnen das eigentlich nicht? Die Solaranlagenjetzt auszubremsen, so wie Sie das vorhaben, bedeutetnichts anderes, als im Interesse der fossil-nuklearenEnergiewirtschaft zu handeln. Das ist gesellschaftspoliti-scher Irrsinn.
Für die zusätzliche Kürzung von 10 bis 18 Prozent imJahr 2012 können Sie keine triftigen Gründe anführen.Das Ziel der Bundesregierung ist meines Erachtens dieBlockade der Energiewende,
wobei es nicht nur um die Kürzung der Förderhöhe, son-dern auch um eine radikale Absenkung des Neubaus vonSolaranlagen geht. Es steht ausdrücklich im Gesetzent-wurf: Der Zubaukorridor soll drastisch heruntergefahrenwerden.Geht es nach der Regierung, soll in fünf Jahren nurnoch ein Viertel der Solaranlagen im Vergleich zum heu-tigen Stand gebaut werden. Warum?
Ich werde es Ihnen erklären. Die höhere Mathematik derBundesregierung lautet wie folgt: Um die Energiewendevoranzuträumen – Entschuldigung: voranzutreiben –,also auf Strom aus Atom und Kohle zu verzichten, redu-zieren Sie das Wachstum der Solarenergie.
Sie müssen einmal erklären, wie das funktionieren soll.Das verstehe, wer will. Ihr eingebrachter Gesetzentwurfist nichts anderes als ein Solarausstiegsgesetz, und genaudas muss verhindert werden.
Die künftigen Kürzungen des Förderumfangs wollenSie auf dem Verordnungswege regeln. Ich sage Ihnen:Damit entmachtet sich der Bundestag schon wiederselbst. Das ist doch keine Variante! Warum soll nicht derBundestag darüber beschließen? Aus einem ganz einfa-chen Grunde wollen Sie das: Sie wollen keine öffentli-che Diskussion darüber führen. Sie wollen das schnellauf dem Verordnungswege regeln, aber genau das kön-nen wir nicht zulassen. Das ist ein Abbau von Demokra-tie.
Sie wollen beim Abbau der Förderung eine Verkür-zung erreichen. Man muss sich einmal vor Augen füh-ren, wie Sie vorgegangen sind: Am 29. Februar tagte IhrKabinett – schade, dass wir ein Schaltjahr haben, sonstwäre das vielleicht ausgefallen –,
heute wollten Sie eigentlich abschließend darüber bera-ten, und am 9. März sollte es schon in Kraft treten. Nunhaben Sie sich auf eine „gewaltige“ Verzögerung einge-lassen und die Kürzung auf den 1. April verlegt. Wieschnell soll das denn noch gehen? Wollen Sie Ihre Vor-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19731
Dr. Gregor Gysi
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haben künftig innerhalb von 24 Stunden durchwinken?Das, was Sie diesbezüglich hier anstellen, ist absolutverantwortungslos.
Schauen wir uns doch einmal die Folgen an – Sie sa-gen, dass Sie das Ganze fördern, dabei vernebeln Siehier alles –: Die Bestellungen werden storniert; Bankkre-dite sind schon widerrufen worden – alles wegen IhrerGesetzesinitiative. Es wird gesagt: Die Bedingungenstimmen ja gar nicht mehr; wir haben uns auf ein ande-res Gesetz verlassen. – Das kann man nicht machen. Esmuss immer eine gewisse Rechtssicherheit geben.
Man hat einer ganzen Branche ein Gesetz vorgelegt undgesagt: Die Förderung sieht so und so aus, sie ist degres-siv, sie nimmt von Jahr zu Jahr ab, aber darauf könnt ihreuch einstellen. – Wenn Sie aber als Gesetzgeber dasGanze innerhalb einer Woche umdrehen, dann bringenSie damit die ganze Branche durcheinander, und zwardie Unternehmerin und den Unternehmer genauso wiedie abhängig Beschäftigten. Genau dagegen richtet sichunsere Kritik.
In den letzten Monaten gab es doch schon genügendKrisenmeldungen – ich möchte daran erinnern –: DasBerliner Unternehmen Solon meldete genauso wie dasErlanger Unternehmen Solar Millennium im DezemberInsolvenz an. Im Januar stellte First Solar für seine Pro-duktionsstätten in Frankfurt/Oder einen Antrag aufKurzarbeit. Schott Solar stellt die Produktion sogenann-ter Solar Wafer in Jena ein. Es gibt keine Planungssi-cherheit. Und was machen Sie jetzt? Jetzt schaffen Siedas, worauf sich die Unternehmen noch verlassen konn-ten, auch noch ab. Was soll denn jetzt passieren? Wieviele Unternehmen wollen Sie denn noch in die Insol-venz schicken? Sie müssen doch den umgekehrten Weggehen.
Ich nehme als Beispiel das sogenannte Solar Valley.Das hat den Menschen in der Region Bitterfeld-Wolfenin Sachsen-Anhalt endlich wieder eine Chance gegeben.3 000 Arbeitsplätze sind in einer Region entstanden, dienach 1990 deindustrialisiert worden ist. Wenn Sie das,was Sie vorhaben, durchziehen, deindustrialisieren Siedie Region erneut. Ich halte das für völlig verantwor-tungslos. Der Osten verträgt keine zweite Deindustriali-sierung, wirklich nicht.
Ich hoffe auf die Bundesländer. Ich möchte sehen, wieviel Kreuz alle neuen Bundesländer haben. Sie müsstenim Bundesrat geschlossen eine Initiative dagegen ergrei-fen. Da auch Herr Seehofer immer sagt, dass er dagegenist – ich weiß gar nicht, wie sich die CSU hier dazu ver-hält; das ist mir auch wurscht –, müsste er ebenfalls eineentsprechende Initiative ergreifen. Leider ist es ja keinzustimmungspflichtiges Gesicht – ich meine natürlich:Gesetz –, aber der Bundesrat könnte zumindest Ein-spruch erheben.
– Das, was ich gerade versehentlich gesagt habe, stimmtübrigens auch, aber ich weiß, dass es darum jetzt nichtgeht.Noch einmal: Wenn der Bundesrat Einspruch erhebt,dann müsste dieser mit absoluter Mehrheit hier zurück-gewiesen werden; es sei denn, wir erreichen ein besseresErgebnis – es muss wirklich ein vernünftiges Ergebnissein – im Vermittlungsausschuss. Doch daran kann ichnoch nicht glauben, weil Ihre Zielstellung abenteuerlichist. Ich weiß nicht, wie man diesbezüglich eine Verstän-digung erzielen will.Was brauchen wir also? Wir brauchen eigentlich einFörderprogramm für die Solarenergiebranche.
Sie müssten den Unternehmen zinsgünstige Kredite zurVerfügung stellen und damit zwei Ziele verfolgen: einsoziales und ein inhaltliches. Das inhaltliche Ziel müssteso lauten: Die Kredite werden verwendet, um Forschungund Entwicklung voranzutreiben, und zwar richtig.
Die zweite Bedingung, die ich daran knüpfen würde,wäre: keine prekäre Beschäftigung.
Es gibt Unternehmen, die bis zu 20 Prozent Leiharbeite-rinnen und Leiharbeiter beschäftigen. Das wollen wirnicht. Wenn Sie diese Ziele damit verbinden würden,würden Sie der Industrie wirklich helfen und dabei auchnoch die soziale Komponente berücksichtigen.Nehmen wir noch einmal das Jahr 2011: Acht Atom-kraftwerke sind abgeschaltet worden. Sie haben gesagt:Das führt zu einer Stromkatastrophe. Wir sind aber Net-tostromexporteur geblieben. Das ist die Wahrheit.
Natürlich gab es gewisse Probleme mit der Stabilität vonStromnetzen, aber das lag daran, dass Stromhändler dieBörse wieder einmal zum Kasino gemacht haben unddort gespielt und gezockt haben. Gerade wegen der Si-cherheit der Stromversorgung finde ich das alles aben-teuerlich. Ich muss Ihnen das noch einmal sagen: Wirmüssen das Kasino an der Börse schließen. In einemwirklichen Spielkasino gibt es strenge Regeln: Abhän-gige dürfen da gar nicht hin; am Eingang muss man sei-nen Pass vorlegen. Aber an der Börse kann jeder ma-chen, was er will.
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19732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Dr. Gregor Gysi
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Uns wurde erzählt, dass die großen Unternehmen allekurz vor der Pleite stünden und, wenn man ihnen nichtungeheuer helfen würde, lauter Katastrophen passierenwürden. RWE hat am Dienstag, am 6. März 2012, be-kannt gegeben, dass sie ein wahnsinnig schlechtes Jahrhatten. Sie hatten nur einen Gewinn von 1,8 Milliar-den Euro. Mir kommen da nicht die Tränen, muss ichehrlich sagen. Von solchen Gewinnen können andereBranchen nur träumen.Was machen Sie? Ich habe mir das einmal ange-schaut; das ist sehr spannend. Sie fördern jetzt kapitalin-tensive Anlagetypen wie Offshorewindparks in derNordsee – künftig auch in der Ostsee – und Biogasanla-gen. Ich habe nichts dagegen, das Problem ist nur: Wa-rum fördern Sie dies und nicht mehr die Solarenergie?Es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken. Kennen Sieden Grund? Die vier Konzerne Eon, RWE, Vattenfallund EnBW investieren in Offshorewindparks und Bio-gasanlagen und nicht in die Solarenergie.
Das muss man sich einmal vorstellen. Sie verschiebendie Förderung hin zu den vier großen Konzernen und sa-gen den kleinen und mittelständischen Unternehmen imBereich der Solarenergie: Für euch ist Schluss. – Dasmacht die FDP mit!
Mein Gott, Sie haben sich doch einmal als Mittelstands-partei gegründet, und jetzt machen Sie den Mittelstandtot. Nun müssen wir als Linke uns auch noch um denMittelstand kümmern, weil Sie es nicht tun. Das istwirklich abenteuerlich.
– Sie haben völlig recht. Natürlich gefalle ich Ihnen ineinem Kindergarten besser. Das liegt daran, dass ich mitKindern gut umgehen kann. Gestern im Kindergartenhabe ich eines festgestellt: Kinder unterscheiden sichvon vielen hier im Saal. Ich will Ihnen auch sagen, wa-rum. Kinder sind ehrlich, Kinder sind aufrichtig, Kindersind sehr konzentriert, und außerdem sind sie niedlich.Das kann man von vielen hier wirklich nicht behaupten.
Wir sollten übrigens gemeinsam dafür kämpfen, dassdie Erzieherinnen endlich anständig bezahlt werden. Sieleisten eine wichtige Arbeit.
Zurück zum Thema. Es gibt noch einen interessantenPunkt. Sie hatten, als Sie die Laufzeiten der Atomkraft-werke verlängert haben, hinsichtlich der erneuerbarenEnergien ein Ziel ausgegeben: Im Jahre 2020 sollen35 Prozent der Stromversorgung durch erneuerbare Ener-gien erfolgen. Jetzt haben Sie gesagt: Schluss mit Atom-kraftwerken. Interessanterweise haben Sie aber Ihre Ziel-marke hinsichtlich der erneuerbaren Energien nichterhöht. Sie haben nicht gesagt: Dann brauchen wir nichtmehr 35 Prozent, sondern 45 oder vielleicht 50 Prozent. –Sie sind bei 35 Prozent geblieben, schalten aber Atom-kraftwerke ab. Wer soll die Lücke schließen? Das ist ganzklar: die fossilen Kraftwerke. Sie setzen wieder aufKohle.
Sie haben es nicht begriffen. Wir sind nicht mehr im20. Jahrhundert und schon gar nicht im 19. Jahrhundert,wir sind im 21. Jahrhundert. Deshalb brauchen wir drin-gend die Wende hin zu erneuerbaren Energien. Dies istim Interesse aller.
– Ja, das mache ich; das können wir beide zusammenmachen.
Ich sage Ihnen: Mich stört, dass das Ganze wie aus ei-nem Kinderbilderbuch von Karl Marx ist. Es gibt viergroße Konzerne und Hunderte mittelständische Unter-nehmen. Was machen Union und FDP? Sie unterstützendie vier großen Konzerne immer mehr und lassen diemittelständischen Unternehmen über die Wupper gehen.Das ist ein Skandal. Tausende Beschäftigte sind davonbetroffen. Deshalb werden wir solidarisch mit den Kol-leginnen und Kollegen der Solarbranche dafür kämpfen,dass das, was Sie hier vorhaben, verhindert wird.
Das Wort hat nun Hans-Josef Fell für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In der Debatte zur Solarvergütung in der letztenSitzungswoche hat Herr Minister Röttgen aus meinerRede zitiert, die ich vor zwei Jahren zur EEG-Novellegehalten hatte. Er warf mir vor, ich hätte vor Insolvenzenund Arbeitsplatzverlusten in der Solarindustrie gewarnt,die dann doch nicht eingetreten seien. Auch Frau Reichehat heute wieder gesagt, der Solarwirtschaft gehe esblendend. Wo leben Sie denn, meine Damen und Herrenvon Schwarz-Gelb?Fabrikschließungen und Insolvenzen haben bereitsjetzt ein schlimmes Ausmaß angenommen, lange bevor
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19733
Hans-Josef Fell
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Ihre heute vorgelegte Gesetzesnovelle in Kraft ist. Pro-duktionsstätten wurden schon geschlossen: in AlzenauSCHOTT Solar, Q-Cells in Thalheim und Conergy inFrankfurt an der Oder. Insolvent gegangen sind GeckoGroup in Wetzlar, Solon in Berlin, Ralos in Michelstadt,Scheuten in Gelsenkirchen, SunConcept in Limburg undSystaic in Düsseldorf. Schlimmer noch: Der Ausverkaufdeutscher Unternehmen an arabische und chinesischeFirmen aus Verzweiflung vor drohenden Konkursen hatbereits begonnen. All das ist das Ergebnis Ihrer verfehl-ten Solarpolitik.
Diese schwarz-gelbe Bundesregierung trägt dieSchuld am bereits erfolgten Verlust Tausender Arbeits-plätze in der deutschen Solarbranche.
– Ja, natürlich. – Das hat auch etwas mit der wachsendenKonkurrenz aus China zu tun. Die chinesische Regie-rung hat im Gegensatz zur Bundesregierung klar er-kannt, dass die Photovoltaik einer der wichtigsten undgrößten Exportmärkte der nahen Zukunft sein wird undstützt daher strategisch den Ausbau der erneuerbarenEnergien in China.
Doch was tut die Bundesregierung? Statt die heimi-sche Solarindustrie im wachsenden internationalen Wett-bewerb zu stützen, statt ein offensives Solarindustrie-konzept vorzulegen,
legen Sie heute eine Gesetzesnovelle vor, welche diedeutsche Solarwirtschaft noch weiter massiv unter Drucksetzen wird.
Wir Grünen lehnen Ihren Gesetzentwurf ab.
Wir fordern Sie, die Abgeordneten von Schwarz-Gelb, auf: Korrigieren Sie diesen fatalen, verfehlten Ge-setzentwurf der Bundesregierung!
Hören Sie wenigstens auf die Ministerpräsidenten derunionsregierten Länder vor allem im Osten Deutsch-lands, wo auch Sie, Frau Reiche, herkommen.
Diese fürchten eine zweite Deindustrialisierung im Os-ten. Das kann doch nicht unser Ziel sein!
Streichen Sie die Verordnungsermächtigungen zurEntmachtung von Bundestag und Bundesrat! Die Ent-scheidungen für den Ausbau der erneuerbaren Energiengehören eben nicht in die Hand eines Wirtschaftsminis-ters Rösler, der ausschließlich die Interessen der Kohle-und Atomwirtschaft vertritt.
Wir hoffen, dass der Bundesrat seine eigene Entmach-tung durch eine Zweidrittelmehrheit verhindern wird.Ja, auch wir Grünen sehen die Chancen einer gleich-mäßigen Vergütungssenkung für die Photovoltaik, ak-tuell um noch einmal etwa 20 Prozent.
Das wäre als Reaktion auf die tollen Innovationserfolgeder Solarindustrie angemessen.
Aber: Verhindern Sie die verheerenden Vorschläge derBundesregierung, die in Teilsegmenten eine Senkungder Vergütung um 37 Prozent vorsehen! Das entsprächein nur einem Jahr einer Vergütungssenkung um über50 Prozent. Das verträgt die Branche nicht.
– Ja. Die Insolvenzen sind ja da, wie ich Ihnen geradevorgelesen habe, Herr Meierhofer. – Schaffen Sie lieberInvestitionsanreize für die Netzintegration! Das wäre al-lemal besser, als den Zubau von Solarstromanlagen we-gen fehlender Netzintegration einfach einzudämmen.
Auch sollten Sie einen Ausbaukorridor von etwa5 Gigawatt jährlich anstreben. Ihr Ausbaupfad bis 2020ist geringer als das, was schon heute von der Solarwirt-schaft in Deutschland insgesamt installiert ist. Man musssich Ihre verrückten Vorstellungen einmal vor Augenhalten: Je billiger der Solarstrom wird, desto wenigerwollen Sie zubauen. Was ist das für eine Industrie- undEnergiepolitik?
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19734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Hans-Josef Fell
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Ein Jahr nach Fukushima wird uns immer klarer: Siewollen die Energiewende gar nicht. Wer gestern dieRede von Herrn Paul gehört hat und wer gehört hat, wasHerr Fuchs heute im Deutschlandfunk gesagt hat,
der weiß, dass Sie zur Laufzeitverlängerung zurückwol-len und dass Sie nicht die Energiewende wollen.
Stoppen Sie, meine Damen und Herren von derUnionsfraktion und der FDP-Fraktion, den Versuch, dieGrundstruktur des Erneuerbare-Energien-Gesetzes abzu-schaffen, und streichen Sie die Regelungen mit der 90-und 85-prozentigen Vergütungsdeckelung!
Meine Damen und Herren von den Regierungsfrak-tionen, hören Sie endlich auf, die erneuerbaren Energienfür die Energiepreissteigerungen verantwortlich zu ma-chen!
Solar- und Windstrom senken die Börsenstrompreise im-mer stärker. Ihre Hetze gegen die erneuerbaren Energienals Energiepreistreiber wird immer unerträglicher.
Es sind die steigenden Öl-, Gas- und Kohlepreise, die dieVerbraucherinnen und Verbraucher belasten. Wenn Sieschon die genauen Gründe nicht wissen wollen, dann hö-ren Sie sich wenigstens an, was Herr Großmann vonRWE sagt.
Er hat bei der Darstellung des Unternehmensergebnisseszugegeben, dass sich aufgrund der steigenden Kohle-preise die Kosten erhöht und die Einnahmen verminderthätten und dass ihm – hören Sie jetzt genau zu! – der bil-lige Solarstrom die Einnahmen vermasselt und das Er-gebnis verhagelt hätte.
Mit dieser Aussage wird uns immer klarer: In Wirk-lichkeit wollen Sie den Solarstrom zurückdrängen, weilSie nur die Interessen von RWE und Co. im Blick haben.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren von den Regierungsfrak-
tionen, wenn Sie es wirklich ernst meinen mit Klima-
und Verbraucherschutz, dann setzen Sie endlich konse-
quent auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz.
Korrigieren Sie diese radikale Solargesetznovelle und
nehmen Sie doch bitte dieses Mal unsere Warnungen vor
weiteren Insolvenzen ernst!
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Schonin der ersten Runde dieser Debatte erkennt man ganzdeutlich, was man der breiten Öffentlichkeit suggerierenmöchte: Hier sind die Protagonisten der Energiewendeund dort die Gegner,
hier die Befürworter der erneuerbaren Energien und dortdie Gegner.Die Welt ist aber nicht mehr ganz so einfach, wie Siesie gern hätten, meine Damen und Herren.
Sie machen es sich als Opposition zu einfach. GregorGysi hat vorhin davon gesprochen, die Energiewendevoranzuträumen. Das war ein entlarvender Versprecher,Herr Gysi. Voranträumen kann man in der Opposition.Als Regierung muss man jedoch etwas umsetzen. Dasmachen wir derzeit.
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie bei dem, was wirhier vorhaben, an unserer Seite stehen und sagen: Ja-wohl, es entwickelt sich etwas positiv im Bereich derSolarenergie. – Herr Fell, die Absenkungspotenziale, dieunbestreitbar gegeben sind, sind doch ein Beleg dafür,dass wir in absehbarer Zeit nicht nur in der Lage sind,genug Strom zu produzieren, sondern vor allem auchStrom zu vernünftigen Kosten zu produzieren. Darummuss es doch gehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19735
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Ich weise darauf hin, dass Sie dafür verantwortlichsind, dass man zu früh und zu teuer mit der Solarenergiean den Markt gegangen ist.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Unsinn!)Deshalb schleppen wir jetzt einen Kostenberg hinter unsher, der riskant ist mit Blick auf die Akzeptanz der er-neuerbaren Energien in der Öffentlichkeit. Das mussman doch einmal sagen. Deshalb widmen wir uns die-sem Thema.Im Erneuerbare-Energien-Gesetz spielt die Solarener-gie eine Sonderrolle. Lassen Sie mich noch etwas zumEEG ausführen. Sie können doch nicht einfach sagen:Da sitzen die Gegner des EEG. – Das ist falsch. Letzt-endlich steht doch eines klipp und klar fest: Das von Ih-nen so viel gerühmte EEG fußt auf dem Stromeinspeise-gesetz der Regierung Helmut Kohl. Das ist der Ursprungdes Mechanismus dieses Gesetzes.
Es muss uns gelingen, das, was Sie im EEG im Be-reich der Innovation zu Recht angestoßen haben,
wieder auf ein Maß zurückzuentwickeln, sodass wirletztendlich über das Stromeinspeisegesetz Folgendes si-cherstellen können: Der Mittelständler und die Stadt-werke, die Strom produzieren, haben Zugang zu denNetzen, können ihren Strom einspeisen und bekommendafür eine ordentliche Vergütung. Das muss aus unsererSicht das Anliegen sein.Ich habe bereits erwähnt, dass die Solarenergie eineSonderrolle spielt. Sie spielt deshalb eine Sonderrolle,weil bei ihr das Innovationspotenzial am größten ist unddie Erfahrungskurve am steilsten verläuft. Genau des-halb sind wir gezwungen, laufend nachzusteuern undeinzugreifen. Genau deshalb werden wir das in diesemZusammenhang wieder tun.Das hat offenkundig aber nichts mit der Frage zu tun,wie sich die Solarmodulproduzenten in Ostdeutschlandentwickeln. Es wurde vorhin zu Recht darauf hingewie-sen, dass es in diesem Bereich ohnehin schon Schwierig-keiten gibt. Zu Recht kann man feststellen, dass bei-spielsweise die Halbleiterproduktion in Deutschlandschrittweise in Richtung Asien verlagert wurde. Mankann darüber nachdenken, woran das liegt. Das mag na-türlich auch damit zu tun haben, dass in Asien entspre-chend subventioniert wird, was bei uns letztendlich nichtmöglich ist.Dann muss man doch über andere Konzepte nachden-ken, aber nicht über die Frage, wie man den Verbrauchernoch mehr belasten kann, nur weil man größere Spiel-räume für Investoren schaffen will. Aber das wird nichtfunktionieren, weil die Investoren immer ihren Gewinn-anteil natürlich maximieren wollen und am Schluss da-für sorgen werden, dass die Rendite bei ihnen bleibt.Wenn man bei einer hohen Einspeisevergütung nochmehr Gewinn mit billigen Modulen machen kann, dannwerden die billigen Module gekauft.
Deshalb muss man einmal darüber diskutieren, obman mit der KfW nicht darüber reden sollte, dass das,was sie beispielsweise im Ausland finanziert, auch be-stimmte Qualitätsanforderungen erfüllen muss. DieseQualitätsanforderungen muss der deutsche Produzentnatürlich ohnehin erfüllen. Das heißt, ihm bringt die För-derung nur etwas, wenn er qualitativ besser ist als die an-deren. Alle, die in diesem Bereich schon lange tätig sind,müssen sich an die eigene Brust fassen und fragen, wa-rum sich im Bereich der Forschung und Entwicklungnicht das getan hat, was wir uns alle vorgestellt haben.Kollege Fell, vielleicht lag das auch am EEG und an derAnfangskonstruktion, wodurch es denen anfangs zu gutging.
– Entschuldigung, wir machen in Bezug auf das EEGjetzt erst einmal das, was notwendig ist: Wir führen Ab-schläge ein; denn die Anlagen müssen sich auch ohnehohe Förderung rentieren. Danach reden wir mit derKfW über die Frage, was die Finanzierungsbedingungensind. Das ist doch eine ganz logische Geschichte.
Dabei muss man die WTO und die Tatsache im Blick ha-ben, dass es hier Schranken gibt und dass man in einemExportland wie Deutschland nicht einfach auf LocalContent setzen kann. In Bezug auf die Finanzierungkann man aber vielleicht bestimmte Forderungen stellen.Es muss dann auch um die Frage gehen, was wir mitdiesem Gesetzentwurf letztendlich verbessern. Ich binfest davon überzeugt: Nicht nur die Situation des Ver-brauchers, sondern auch die Situation derjenigen, die dieAnlagen installieren, wird besser. Über eine permanente,langsame Reduzierung der Vergütungssätze schaffen wires, den Schlussverkaufseffekt zu beseitigen, der ständigzu Fehlentscheidungen führt. Denn manche achten garnicht mehr auf die Rendite, sondern investieren, weil siemeinen, dass es noch Geld für sie gibt, wenn sie die An-lage beispielsweise bis zum 31. Dezember auf dem Dachhaben. Bei Schnee und Eis hetzen sie dann wie bei uns inBayern die Handwerker aufs Dach, damit noch schnelleine Anlage installiert wird. Wir werden die Vergütungentsprechend abschwächen und dafür sorgen, dass sichKontinuität entwickelt.
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19736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Dr. Georg Nüßlein
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Es ist ein großer Erfolg, dass wir dafür gesorgt haben,dass derjenige, der Solarstrom produziert, ihn auch sel-ber nutzt. Wir sind also nicht mehr in der perversen Si-tuation, dass jemand Solarstrom produziert, ihn teuereinspeist und den billigen Strom vom Versorger kauft.Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir alle sagenkönnen: Das ist gut. Das ist ein Etappenziel, aber natür-lich noch nicht das Ende.
Deshalb werden wir weiterhin kontinuierlich absenken.Das Problem der Übergangsfristen werden wir baldgeklärt haben. Ich bitte um ein wenig Verständnis dafür,dass sich die Regierung hier das sehr ehrgeizige Ziel ge-setzt hat, einen solchen Schlussverkauf, bei dem der eineoder andere probiert, vor Ende des Jahres schnell nochirgendetwas anzustoßen, zu vermeiden. Wir haben imparlamentarischen Verfahren dafür gesorgt, dass dasschon jetzt ordentlich läuft und dass jeder, der Vorinves-titionen getätigt hat, diese auch umsetzen kann.
Das ist ein Gebot der Fairness, des Anstandes und derPlanbarkeit. Auch an dieser Stelle sieht man ganz deut-lich, dass wir hier absolut verlässlich sind.
Über die Themen „Atmender Deckel“ und „Ermächti-gung der Regierung“ werden wir noch einmal offen dis-kutieren, auch unter dem Gesichtspunkt der Planbarkeit.Wir werden auch noch einmal darüber diskutieren, wieman, nachdem der Eigenverbrauchsbonus letztendlichnicht mehr trägt, mit einem Speicheranreiz dafür sorgenkann, dass sich die Technologie und die Netzintegrationweiterentwickeln.Machen Sie sich also keine Sorgen. Wir haben fest imBlick, dass wir eine Energiewende voranbringen undeben nicht nur einseitig eine Branche subventionierenwollen.
Durch den Aufbau von Kapazitäten wollen wir die Ver-sorgung verbessern, Herr Kelber. Das ist unser Anliegen,und das ist unsere Aufgabe als Regierung.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat Dirk Becker für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Bevor ich mit der eigentlichen Rede beginne, möchte ichein paar Punkte klarstellen, Frau Reiche. Ich finde eszwar schön, dass Sie sich mit dem Bauch meines Partei-vorsitzenden auseinandersetzen, zumindest wenn es umden Ausbau der PV geht. Aber genau an dieser Stelle hater keinen Bauch; Sie können ihm den Ausbau nicht indie Schuhe schieben. Denn ich erinnere an die Verhand-lungen über die Zubauziele beim Thema PV in der Gro-ßen Koalition: Die Vergütungssätze sind wie bei allenanderen erneuerbaren Energien in einer Koalitionsrundebesprochen, verhandelt und beschlossen worden.
– Moment. – Wir haben stundenlang zusammengesessenund zum Thema PV Beschlüsse gefasst. Dann kam HerrPfeiffer zu der Sitzung. Er konnte leider erst später kom-men, weil er einen Interviewtermin bei Phoenix hatte. Erkam in den Saal und sagte: Ich bin mit der Einigungnicht einverstanden und möchte, dass nachverhandeltwird. – Dazu hat sich die CDU/CSU zu Wort gemeldetund gesagt, das sei in der Fraktion nicht abgestimmt; dieCSU sei gegen eine Nachverhandlung. Dann hat die da-malige Verhandlungsführerin der Union so abgeschlos-sen, und das war Katherina Reiche. Machen Sie sich hieralso keinen schlanken Fuß!
Zwei Punkte zu Herrn Kauch. Man kann wie Sie beider Vergütung im Rahmen des Ausbaus der erneuerbarenEnergien eine große Rede über soziale Gerechtigkeithalten. Sozial gerecht ist, wenn die Menschen endlichdie Alternative haben, zwischen vielen Energieanbieternauszuwählen,
und wenn wir eine dezentrale Energiestruktur bekom-men und auf Windenergie und PV setzen, statt zu versu-chen, diesen Weg zu bremsen, wie Sie das wollen.
Der zweite Punkt ist: Wenn jetzt der NetzbetreiberTenneT über die Lande zieht und sagt, er könne die An-bindung der Offshorewindenergie nur dann hinbekom-men, wenn ihm gestattet werde, eine zweistellige Ren-dite einzupreisen, die mindestens 10 Prozent betragenmüsse, sonst mache er das nicht, dann erwarte ich vonIhnen, dass Sie genauso standhaft sind und sagen: 7 Pro-zent müssen reichen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19737
Dirk Becker
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Interessant ist, dass wir das Thema, den Ausbau derPV zu bremsen, hier immer wieder leidenschaftlich de-battieren, dass dies aber in der Öffentlichkeit nicht derFall ist. Mit derselben Leidenschaft, mit der die Men-schen den Ausstieg aus der Kernenergie wollten, wollensie jetzt in die PV. Nach einer aktuellen Umfrage vonEmnid halten 91 Prozent der Befragten Solarstrom fürwichtig und richtig.
69 Prozent finden nicht, dass PV zu schnell ausgebautwird. 60 Prozent sagen sogar, die Politik müsse mehr fürdie Photovoltaik tun.Darüber kann man sprechen. Sie werden sicherlichsagen: Die Menschen haben gar nicht verstanden, wasdas für sie bedeutet. – Nein, die Mehrheit ist sogar be-reit, mehr für den Umstieg, für die Energiewende zu be-zahlen. Das ist Ihr Problem. Darum versuchen Sie immerwieder, durch neue Diskussionen und einen Zickzack-kurs in der Förderpolitik Verunsicherung zu schüren.Diese Verunsicherung ist bei den Menschen nicht vor-handen. Die Angst vor dem Umstieg gibt es nicht. Sieversuchen aber immer wieder, auf dieses Pferd zu set-zen, weil Ihnen die Energiewende zu schnell geht. Dasist der Punkt.
Deshalb verstehen die Menschen in Ostdeutschlandauch nicht, dass Sie die industriellen Strukturen, die wirmühevoll über zehn Jahre hinweg aufgebaut haben, jetztdurch diese ruckartige Politik gefährden. An diesemPunkt sagen die Menschen: Wir haben Angst vor einerzweiten Deindustrialisierung. – Sie tragen die Verant-wortung dafür.
Sie bringen nicht nur in Vieraugengesprächen, wie esder Kollege Kelber sagte, sondern auch in Ausschusssit-zungen durchaus mit Zwischenrufen zum Ausdruck,dass Sie längst gesagt haben: Wir werden dem Wettbe-werb mit den chinesischen Anbietern nicht standhaltenkönnen. – Wenn wir das nicht können, dann deshalb,weil Ihre Politik den Unternehmen in Deutschland dieZukunft raubt.
– Wenn Sie das als „Käse“ bezeichnen, Herr Meierhofer,dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie neben den Debattenüber Kürzungsschritte auch debattieren, wie wir denStandort Deutschland anders für die PV sichern könnenund wie wir über Forschung, Entwicklung und neue An-forderungen an die PV den Standort Deutschland erhal-ten,
die geschaffenen Arbeitsplätze sichern und Arbeits-marktpolitik betreiben. Doch dazu sagen Sie kein Wort.Absoluter Stillstand!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eines istaber auch deutlich: Die geplante Änderung des EEG be-zieht sich entgegen der ursprünglichen Absicht nichtmehr nur auf das Thema Photovoltaik. Vielmehr ist dieAbsicht erkennbar, dass Sie das, was Sie jetzt beimThema PV machen, auch auf andere Erneuerbare aus-dehnen wollen. Damit entfällt die Argumentation, Siewollten nur vor den hohen Kosten des PV-Zubaus schüt-zen. Es geht um einen Generalangriff auch auf andereTechnologien der erneuerbaren Energien.
Ich will nur zu einigen Punkten des GesetzentwurfsStellung nehmen.Herr Fell hat eben für die Grünen gesagt: Wir sind be-reit, ein Stück weit mitzugehen. – Für die Sozialdemo-kraten gilt das ebenfalls; Uli Kelber hat es deutlich ge-macht. Wir verschließen uns einem Kürzungsschrittnicht. Ich erwarte aber von der Koalition, dass die jetztanstehende Sachverständigenanhörung von Ihnen ergeb-nisoffen und nicht vorfestgelegt durchgeführt wird unddass wir nach der Anhörung gucken, wie wir auch mitRücksicht auf die Unternehmen in Deutschland und mitRücksicht auf die Umlage die weitere Degression ausge-stalten können. Wenn Sie das tun, dann haben Sie unserWort, mit Ihnen gemeinsam eine gute Lösung zu finden.
Es gibt einen weiteren wichtigen Punkt, bei dem wirim Ziel beieinander sind. Ja, auch wir wollen den Eigen-verbrauch stärken. Wenn man den Eigenverbrauch aberstärken will – gerade im Hinblick auf das, was UliKelber für Mehrfamilienhäuser, für Mietshäuser ange-sprochen hat –, muss man auch Anreize schaffen. Danndarf man nicht vorhandene Anreize abschaffen und statt-dessen die umlagefähigen Prozentzahlen kürzen. Dies istkein Anreiz, um in Speicher zu investieren. Vielmehrnehmen Sie damit eine weitere kalte Kürzung vor.Bei dem, was Sie künftig im Zusammenhang mit demZubaukorridor vorhaben, handelt es sich um einen tota-len Systemwechsel. Zum einen gehen Sie weg von einerprozentualen Kürzung hin zu einem festen Centbetrag.
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19738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Dirk Becker
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Je niedriger der Preis wird, desto stärker kürzen Sie alsoprozentual. Insbesondere im Bereich der Freiflächenkürzen Sie überproportional. Damit blockieren Sie er-neut ausgerechnet den Ausbau der günstigsten Art derPhotovoltaik. In dem vorliegenden Entwurf ist an meh-reren Stellen erkennbar, dass Sie insbesondere die Frei-flächen-PV in Deutschland zum Erliegen bringen wol-len.An dieser Stelle nehmen Sie einen weiteren Schrittvor. Dabei handelt es sich um die räumliche Begrenzung.Freiflächenanlagen in einem Umkreis von 4 Kilometernwerden als eine Anlage gewertet. Was für einen Sinn solldas machen? Wir haben reichlich Zuschriften bekom-men – Sie auch –, in denen zum Ausdruck gebrachtwird: Dies hat inhaltlich keine Substanz und ist auchnicht umsetzbar. – Das heißt, das Einzige, was Sie wol-len, ist, die kostengünstigste und leistungsstärkste Formder PV jetzt endgültig aus dem Markt zu kicken. Das istmit uns nicht zu machen.
Der letzte Punkt betrifft das Thema Verordnungs-ermächtigung. Ich sage Ihnen: Da muss man schon ganzschön viele Glücksperlen gelutscht haben, um das, wasaus Ihrer Fraktion kommt, als Stärkung des Parlamentszu verkaufen. Auf der einen Seite haben Sie es zwar ge-schafft, dass die Übertragung der Kürzungsinstrumente,die Sie beim Thema Photovoltaik vorsehen, auf andereTechnologien einem Parlamentsvorbehalt unterliegt. Ichhabe gelesen: Das Parlament darf jetzt mitbestimmen. –Nein, das ist das ureigene Recht des Parlaments. Dasmuss es auch bleiben.
Auf der anderen Seite machen Sie aber beim Thema PVgenau das Gegenteil, Herr Kauch; beim Thema Photo-voltaik ist es anders. Wenn vom Korridor abgewichenwird, treffen sich Herr Rösler und Herr Röttgen und ent-scheiden am Parlament vorbei, welche nächsten Kür-zungsschritte kommen. Dies ist eine Entmachtung desParlaments.
Wir werden das Thema PV nicht in die Hände dieser bei-den Minister legen; denn wir wissen, wie das ausgehenwird. Nein, auch hier muss die Entscheidung im Parla-ment bleiben.
Meine Damen und Herren, auch wenn ich gesternbeim Thema Kraft-Wärme-Kopplung positive Ansätzeherausgestellt und erklärt habe, dass man damit arbeitenkann, sage ich Ihnen jetzt: Beim Thema PV ist mit Ihnenkein Staat zu machen.Unser Fazit dieses neuerlichen Kürzungsszenarios isteindeutig: Sie versuchen alles, um beim Thema Photo-voltaik einen Stellvertreterkrieg auszutragen. Das ist of-fenkundig. Ich sage nur: Ein Schelm, wer denkt, dassinsbesondere die Atomlobbyisten in Ihren eigenen Rei-hen massiv Einfluss hierauf haben. Ich empfehle Ihnen– es klang eben schon kurz an –, sich das Interview vonHerrn Fuchs von heute Morgen im Deutschlandfunk ein-mal anzuhören.
– Ja, es war sehr gut. Wer hat das gesagt? Dann kann ichihn gleich mit auf die Liste setzen.
– Herr Hintze; okay, alles klar.Herr Fuchs hat heute Morgen im Deutschlandfunk ge-sagt: Der schnelle Atomausstieg in Deutschland war eingroßer Fehler.
Immerhin gibt es bei uns keine Tsunamis. – Der Mannhat es noch immer nicht begriffen.
Sie müssen jetzt die Frage beantworten: Sind es nachwie vor die Dinosaurier in Ihrer Fraktion, die die Ener-giepolitik bestimmen? Wenn ja, dann ist völlig klar: DieEnergiewende ist nicht Sache Ihrer Fraktion. Ich habeden Eindruck, dass Herr Fuchs bei Ihnen das Sagen hat.
Dass dem so ist, merkt man auch bei anderen Gele-genheiten. Uli Kelber hat zu Recht darauf hingewiesen:Es ist doch wirtschaftspolitischer und energiepolitischerWahnsinn, kurz bevor die PV an der Schwelle zur Wett-bewerbsfähigkeit steht, nach einem Jahrzehnt der Inves-titionen in den Aufbau industrieller Kapazitäten sowieam Beginn des weltweiten Siegeszugs der Solarenergiediese Branche in Deutschland ans Messer zu liefern. Dasist mit uns nicht zu machen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Frak-tion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19739
(C)
(B)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Siemachen es sich in der Opposition äußerst leicht. Sie er-klären, was bei der Photovoltaik alles falsch undschlecht läuft, machen aber keinen einzigen konkretenVorschlag, aus dem hervorgeht, wie man es besser ma-chen kann.
Sie erklären uns, dass Sie jederzeit einer Kürzung in ei-ner bestimmten Höhe zustimmen würden. Das haben so-wohl die SPD als auch die Grünen gesagt. Die Linkenhaben das natürlich nicht gesagt, weil sie gern eine hö-here Vergütung zahlen wollen. Aber SPD und Grüne sa-gen, Herr Kollege Fell, man könne um bis zu 20 Prozentzusätzlich kürzen. Gleichzeitig weisen Sie darauf hin,dass Firmen in Mitteldeutschland selbst ohne eine 20-pro-zentige Kürzung zum Teil untergegangen bzw. pleitege-gangen sind und dass es zu Entlassungen und Kurzarbeitgekommen ist. Wie wollen Sie den Menschen, die ihrenJob verlieren, dann eine 20-prozentige Kürzung erklä-ren? Wie soll das funktionieren?
Es ist doch scheinheilig, einerseits eine solche Forde-rung zu erheben und andererseits festzustellen, dass be-reits Firmen pleitegegangen sind. Dann kann es dochnicht an der EEG-Vergütung liegen. Dann sind wir unswieder einig.
Wenn man mit den ausländischen Wettbewerbernkonkurrieren will, hat man verschiedene Möglichkeiten.Eine Möglichkeit ist, dass wir genauso wie die Chinesendiese Branche subventionieren. Herr Krischer, das wün-schen Sie sich vielleicht; denn Sie haben gefragt, wie wirden deutschen Markt schützen können. Vermutlich kön-nen wir die Photovoltaikbranche in Deutschland genausowenig schützen wie die deutschen Spielzeugherstellervor chinesischen Herstellern, die günstiger produzieren.Das EEG wäre auf jeden Fall der vollkommen falscheWeg.
– Herr Kollege Ott, wir schützen Eon und RWE dochnicht dadurch, dass wir jedes Jahr so viel erneuerbareEnergie in die Netze fließen lassen wie niemals zuvor.Was soll das denn für ein Schutz sein?
Kennen Sie jemanden, der momentan neue Gaskraft-werke – das fordern Sie – bauen möchte? Kennen Siejemanden, der Hunderte Millionen Euro in die Handnehmen will? Ich jedenfalls kenne niemanden. Es gibtniemanden, weil keine Planungssicherheit herrscht. Fürdie Erneuerbaren gilt in den nächsten 20 Jahren Pla-nungssicherheit; das ist gut und richtig. Aber je stärkerder Anstieg bei den Erneuerbaren ist, desto unrentablerwird es, in Kraftwerke, die auf Basis fossiler Energieträ-ger betrieben werden, zu investieren; das ist doch lo-gisch.
In einer solchen Phase uns zu unterstellen, dass wir Poli-tik zugunsten der vier Großen machen, die sich deutlichschwerer tun als die Photovoltaikbranche, ist verlogen.
Liebe Grüne, in dem letzten Jahr, in dem Sie nochmitregiert haben, wurde die Kapazität der Photovoltaikum 0,92 Gigawatt ausgebaut. Zuvor war es noch weni-ger. Wir haben die Leistung der Photovoltaik im vorletz-ten Jahr um 7,4 Gigawatt und im letzten Jahr um 7,5 Gi-gawatt ausgebaut. Wer ist denn hier der Freund derErneuerbaren?
Wer hat denn etwas für die Photovoltaikbranche getan,und wer hat nur warme Worte ohne Substanz übrig undtut nichts?In den letzten zweieinhalb Jahren haben wir für eineDegression von über 50 Prozent bei den Einspeisevergü-tungen gesorgt und gleichzeitig die höchsten Zuwachsra-ten erzielt. Das nutzt der Branche doch. Wir helfen ihr,wettbewerbsfähig zu werden. Nicht derjenige, der diehöchsten Subventionen zahlt, ist der beste Freund der er-neuerbaren Energien, sondern derjenige, der ihnen hilft,am besten und schnellsten wettbewerbsfähig zu werden.Herr Gysi, Sie haben gesagt, wir wollten in fünf Jahrennur noch 20 Prozent des jetzigen Ausbaus erreichen. Dasstimmt nicht. Wir wollen dann nur noch 20 Prozent för-dern. Die Branche selbst sagt nämlich, sie könne schonin fünf Jahren bei den großen Anlagen wettbewerbsfähigsein. Das ist doch das Ziel. Wir wollen unendlich viel er-neuerbare Energie, idealerweise 100 Prozent, aber nichtallein durch Förderung. Die Branche muss wettbewerbs-fähig werden. Wenn es eine Branche gibt, die bewiesenhat, dass das ohne Subventionen möglich ist, dann ist esdie Photovoltaikbranche. In dieser Branche werden dieschnellsten Degressionen erreicht. Wir folgen dem.Deswegen werden die Subventionen weiterhin ge-senkt, und zwar zu Recht; denn es wurden Renditen von15, 16 Prozent erzielt. Dafür zahlt derjenige, der eineWohnung mietet, also der Mieter, an denjenigen, der ihmeine Wohnung vermietet, also an den Vermieter. Nachder normalen Miete und den Heizkosten sind die so ent-stehenden Kosten, die EEG-Umlagen-Miete, wie einedritte Miete. Wenn das Sozialpolitik à la Rot-Grün ist,
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19740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Horst Meierhofer
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dann weiß ich, ehrlich gesagt, nicht mehr, was Sie wol-len.
Mir geht es um das Thema Rechtssicherheit. Wir ha-ben uns für Rechtssicherheit starkgemacht. Wir habendie Auffassung vertreten, dass eine Entscheidung bisheute, 9. März, zu kurzfristig ist. Den großen Herstellernvon Solarmodulen wäre eine frühere gesetzliche Neu-regelung wahrscheinlich lieber gewesen, weil sie genauwissen, was passieren wird, nämlich ein gigantischerRun. Hingegen brauchen die kleinen Hersteller von So-larmodulen, die Unternehmer vor Ort, die die Solar-zellen schon eingekauft haben, dahin gehend Planungs-sicherheit, dass sie ihre Produkte verkaufen können.Genau dafür haben wir uns eingesetzt. Planungssicher-heit ist für die Hersteller von Solarmodulen für Freiflä-chen noch wichtiger. Wir haben klargestellt: Wer biszum 1. März dieses Jahres einen Aufstellungsbeschlussvorliegen hat – das ist der erste Schritt im Genehmi-gungsverfahren –, der soll auch die Möglichkeit haben,Solaranlagen zu bauen. Sich darauf verlassen zu können,das ist Rechtssicherheit.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bulling-Schröter?
Ja, sehr gerne.
Vielen Dank, Kollege Meierhofer. – Ich stelle fest:
Die FDP hat etwas gegen Gewinnspannen von 15,
16 Prozent in der Solarindustrie; das stört die Koalition
bzw. Ihre Fraktion. Wie schaut es denn mit den großen
Gewinnen von RWE und Eon aus?
Sie haben die Rede des Kollegen Gysi sehr interessiert
verfolgt, wie ich gerade bemerkt habe. Er hat die Ge-
winnspannen bzw. die Ausschüttungen der großen Kon-
zerne, worüber gestern in den Medien berichtet wurde,
beschrieben. Wie stehen Sie zu diesen großen Gewinn-
margen? Sind Sie bereit, auch sie zu beschränken?
Ich wünsche der Photovoltaik Renditen von 20, 30,40 Prozent, aber bitte schön nicht dadurch, dass sie zu-lasten der Stromkunden erwirtschaftet werden.
Das ist der entscheidende Unterschied,
Ich stelle infrage, dass jemand, der Subventionen be-kommt, eine Rendite von bis zu 16 Prozent erzielenmuss. Zum Beispiel die Stiftung Warentest sagt, dassauch nach der Absenkung der Vergütung für einenKleinunternehmer, der keine großen Anlagen hat undkeine Sonderkonditionen erhält, noch eine Rendite von3,4 Prozent – bisher waren es bis zu 6,7 Prozent – mög-lich ist, und zwar dann, wenn es auf dem Markt zu kei-nerlei Anpassungen kommen wird.Zu solchen Anpassungen wird es aber kommen. Na-türlich wird es in der nächsten Zeit so sein, dass mangünstigere Module erwerben kann; denn der Preis derModule bestimmt sich nicht nach den Herstellungs-kosten, sondern leider allein danach, wie hoch die EEG-Vergütung ist.
Herr Kelber, es ist nun einmal so, dass zwar 70 Länderdem EEG entsprechende gesetzliche Regelungen über-nommen haben, aber nicht die hohen Fördersätze, die beiuns gelten. Da dort also nicht so hohe Vergütungen wiebei uns gezahlt werden, kommt die Mehrzahl der Solar-module zu uns, und ihr Preis wird immer niedriger. Na-türlich wird mehr zugebaut. Sie haben selbst gesagt:Wenn mehr als 3,5 Gigawatt zugebaut werden sollten,dann müssten wir für eine deutlichere Degression sor-gen.
Der Kollege Fell hat gesagt: Wenn mehr als 5 Gigawattzugebaut werden, dann müsste man über eine Änderungder Degression nachdenken.
Übrigens sagt selbst der Branchenverband BSW, dassein Zubau von 5 Gigawatt möglich ist.Ich gehe mit Ihnen jede Wette ein, Herr Fell, HerrKelber, dass wir im Jahr 2012 einen Zubau von deutlichmehr als 3,5, ja sogar mehr als 5 Gigawatt haben wer-den. Dann werden wir einmal schauen.
– Die Module kommen von dem, der dem Kunden dasbeste Angebot macht.
Wenn Sie an Ihr Unternehmen vor Ort denken, lieberHerr Kelber, dann werden Sie dafür sorgen,
dass mehr in Forschung, in Entwicklung und in Techno-logie investiert wird, damit die deutschen Unternehmenin dem Maße besser werden als die Chinesen, die billigersind. Wenn Sie das nicht tun, dann wird es diese Unter-nehmen irgendwann nicht mehr geben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19741
Horst Meierhofer
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Aber das ist Marktwirtschaft, und das hat nichts mit demzu tun, was Sie zu interessieren scheint.
Das Wort hat nun Bärbel Höhn für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdiskutieren hier sehr hitzig und sehr leidenschaftlich.Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir in dieser Dis-kussion über erneuerbare Energien nicht allein überMarktanpassungen reden – das haben wir oft genug ge-tan –; vielmehr geht es heute in der Tat darum: Wird dieEnergiewende umgesetzt, ja oder nein? Heute geht esdarum: Werden die erneuerbaren Energien ausgebaut,oder machen Sie die Photovoltaik kaputt? Dazu sage ichIhnen: Das darf nicht geschehen.
Sie sind aus der Atomkraft ausgestiegen, und jetztmüssen Sie die erneuerbaren Energien und die Energie-effizienz stärker ausbauen. An einem einzigen Tag habenzwei Minister dieses Kabinetts, nämlich der MinisterRösler und der Minister Röttgen, die Energiewende inden Senkel gestellt. Das geschah einmal dadurch, dasssie nach einem halben Jahr der Blockade von Maßnah-men zur Energieeffizienz eine Lösung vorgeschlagen ha-ben, die ein Witz ist. Die EU-Mitgliedstaaten mokierensich über Deutschland. Gleichzeitig haben sie die radi-kale Absenkung der Vergütung für Strom aus Photovol-taikanlagen vorgeschlagen.Deshalb frage ich: Wo ist eigentlich Herr Rösler? Ichkann verstehen, dass der Minister Röttgen heute nicht daist; er ist in Brüssel. Aber Herr Rösler ist auf der CeBIT.Gestern hat er ein Stück Torte ins Gesicht bekommen;ich würde es gut finden, wenn er heute hier wäre undseine Fehlentscheidung zu den erneuerbaren Energienverteidigen würde. Aber er drückt sich vor der Diskus-sion.
Worum geht es bei der Energiewende? Es geht darum,wer die Oberhand gewinnen wird: die erneuerbarenEnergien oder die fossilen Energien. Deshalb ist esschon spannend, was Herr Großmann von RWE auf derBilanzpressekonferenz vor einigen Tagen gesagt hat. Erhat nämlich den Gewinnrückgang von 20 Prozent mitdem Ausbau der Photovoltaik begründet. Warum? Mandenkt, dass Strom aus Photovoltaikanlagen viel teurerist. Wie kann das also sein? Strom aus Photovoltaikanla-gen ist nicht immer verfügbar, er ist aber dann verfügbar,wenn es spannend wird, nämlich mittags. Er ist dannverfügbar, wenn der Stromverbrauch am größten ist.Mittlerweile ist die Photovoltaik so weit ausgebaut, dassder Solarstrom zu einer Senkung der Strompreise an derBörse führt. Damit fehlen dem Unternehmen von HerrnGroßmann und den großen Kohlekraftwerken die höchs-ten Margen um die Mittagszeit.
Ihnen und leider auch der FDP, auch Herrn Rösler, gehtes darum, die Solarenergie klein zu machen, damit dieGewinne von RWE und Co groß bleiben. Darum geht esin dieser Diskussion.
In der Tat haben sich die großen Energiekonzernewieder neu aufgestellt. Sie sehen natürlich: Je mehr dieErneuerbaren ausgebaut werden, desto mehr Problemebekommen sie. Und wegen der stark sinkenden Preisewird die Photovoltaik immer wettbewerbsfähiger.Aber die jetzt vorgeschlagenen Kürzungen gehen zuweit: Ich mache Ihnen das einmal anhand einer ganz nor-malen Dachanlage mit einer Leistung zwischen 10 und30 Kilowatt klar. Es gab im letzten Jahr eine Vergütungvon 28,74 Cent für jede Kilowattstunde Solarstrom auseiner solchen Dachanlage. Wir alle gemeinsam habengesagt, dass die Vergütung auf 24,4 Cent gesenkt werdenkann. Sie wollen die Vergütung im April auf 16,5 Centsenken. Wenn man dann in Rechnung stellt, dass eineweitere Absenkung im Laufe des Jahres auf 15,3 Centerfolgen und für 10 Prozent der erzeugten Strommengeüberhaupt keine Vergütung mehr gezahlt werden soll,dann kommt man bei einer solchen Photovoltaikanlageauf eine effektive Vergütung von 14,37 Cent pro Kilo-wattstunde. Damit hat sich die Vergütung in einem Jahrvon 28,74 Cent auf 14,37 Cent halbiert. Ich sage Ihnen:Eine solche Kürzung kann keine Technologie verkraften.Sie aber setzen diese drastische Kürzung durch.
Deshalb müssen wir uns fragen, wie wir damit umge-hen. Der chinesische Markt ist zu Recht angesprochenworden. Was passiert in China? Anders als in den ver-gangenen Jahren werden mittlerweile viele Photovol-taikanlagen in China installiert. Jetzt sind es erst3 000 Megawatt, aber in den nächsten Jahren wird esviel mehr sein, mehr als in Deutschland heute. Die ent-scheidende Frage ist, ob dann unsere Photovoltaikindus-trie noch existiert und nach China liefern kann. Dafürhaben Sie zu sorgen. Im April gibt es einen Gipfel derEU mit China. Ich erwarte, dass Deutschland und die EUdafür sorgen, dass China seinen Markt öffnet.
China schottet seinen Markt momentan ab und sub-ventioniert die eigene Photovoltaikindustrie. Und China
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Bärbel Höhn
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versucht, den Markt in Deutschland kaputtzumachen.Ihre Antwort darauf ist – das hat auch ein Wirtschafts-forscher gesagt –: Dann gibt es eben in Deutschlandkeine Solarindustrie mehr. – Das ist ein Fehler, das zer-stört Zehntausende von Arbeitsplätzen, und Sie tragendafür die Verantwortung.
Sie wollen den Ausbau der Photovoltaik sogar nochdeckeln. Der Ausbau soll zurückgeführt werden, und amEnde sollen es am unteren Ende des Ausbaukorridorsnur noch 900 Megawatt neu installierter Leistung proJahr sein. Das heißt, vor dem Hintergrund, dass diePreise gefallen sind, wollen Sie in den nächsten zehnJahren weniger zubauen als in den letzten zwei Jahren.So etwas Verrücktes! Die Photovoltaik ist immer preis-werter geworden, und jetzt würgen Sie die Photovoltaikab. Das ist das Gegenteil von guter Wirtschaftspolitik.Dass ein Wirtschaftsminister der FDP sich hier hinstelltund eine so erfolgreiche Industrie kaputtmacht und Ar-beitsplätze zerstört, ist ein Skandal. Deshalb liegen Siein den Umfragen zu Recht bei 2 bis 3 Prozent. Eine sol-che Politik kann man nicht befürworten.
Ich komme zum Ende. – Es geht um die Energie-wende. Ich habe am Anfang gedacht: Herr Rösler kannsie nicht. Aber jetzt weiß ich: Er will sie nicht. DieseBundesregierung will die Energiewende nicht.
Sie will den Markt für fossile Energien weiter offenhal-ten. Dagegen werden wir stehen, und dagegen werdenwir kämpfen. Mit einer solchen Politik werden Sie nichtdurchkommen, meine Damen und Herren.
Das Wort hat nun Maria Flachsbarth für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Kollegin Höhn, ich glaube, es hilft unserergemeinsamen Sache nicht,
wenn wir diese Debatte jetzt zum Kampf der Systemegegeneinander hochstilisieren oder dramatisieren, und eshilft vor allen Dingen nicht, wenn man die Augen vorden Realitäten nur fest genug zumacht.Der Zubau der letzten beiden Jahre im Solarbereich,die PV-Installation 2010 und 2011 von jeweils 7,5 Giga-watt, ist zu groß. Das ist ein überhitztes Wachstum. Dasist nicht nachhaltig.
Das hat mit den hohen Kosten zu tun – es sind trotz dergesunkenen Modulpreise immer noch 3 Milliarden Euroin den nächsten 20 Jahren –, aber vor allen Dingen mitder Sorge um die Netze, die eine gemeinsame Sorge seinsollte. In einem Gutachten im Auftrag des brandenburgi-schen Wirtschaftsministeriums heißt es – Zitat –:Da … großflächige PV-Nutzung … in schwachbe-siedelten Regionen erfolgt, fehlt dort die notwen-dige Abnahme und die regenerativ erzeugte Energiemuss über die Mittel- und Hochspannungsnetze indas 380/220-kV-Übertragungsnetz zurückgespeistwerden. Für diese Aufgabe wurden die Netze …nicht gebaut …Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass es nicht zueinem Blackout kommt, weil das völlig unabsehbarevolkswirtschaftliche Kosten hervorrufen würde und weildas vor allen Dingen die Akzeptanz in der Bevölkerungfür unsere Energiewende, für den weiteren Zubau an Er-neuerbaren von jetzt auf gleich schwinden lassen würde.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein gemeinsa-mes Anliegen von uns allen.
Deshalb geht der Kabinettsbeschluss vom 29. Februarin die richtige Richtung. Wir Koalitionsfraktionen habenihn ein wenig modifiziert
und am 6. März unseren Gesetzentwurf in das parlamen-tarische Verfahren eingebracht.Um noch einmal über den Zielhorizont zu sprechen:Da sind wir eigentlich auch gar nicht auseinander. DieserZielhorizont ist im derzeit real existierenden Erneuer-bare-Energien-Gesetz nachzulesen, damals mit der Bran-che gemeinsam vereinbart. Darin steht für den Zubau einZielhorizont von 2,5 bis 3,5 Gigawatt pro Jahr.
Nur damit das klar ist: Das ist nicht vom Himmel gefal-len, sondern das ist gemeinsam vereinbart worden.
Wir sehen jetzt, dass dieser Zielhorizont nicht erreichtwird. Wir sehen aber zugleich – auch das müssen wir zurKenntnis nehmen –, dass auf dem Weltmarkt die Preisenoch einmal stark sinken werden, auch in diesem Jahr.Das hat etwas mit dem enormen Zubau von Produktions-kapazitäten zu tun. Das hat auch mit den enormen Sub-ventionen zu tun, die es in China gibt. Das hat aber auch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19743
Dr. Maria Flachsbarth
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etwas mit dem Nachfragerückgang auf den internationa-len Märkten zu tun.Die Preise für chinesische kristalline Module lagenim Januar bereits um 51 Prozent unter dem Vorjahres-preis. Wir haben Produktionskapazitäten weltweit von60 Gigawatt und einen erwarteten Zubau von 25 Giga-watt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das müssen wireinfach zur Kenntnis nehmen.Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen – da habenviele meiner Vorredner recht –, dass dieser Wettbewerbfür viele Betriebe gerade in Deutschland ruinös ist. Dasist so. Aber daran ändern wir durch unser EEG nichts.
Wir können weder Arbeitsplätze retten noch Arbeits-plätze in Gefahr bringen, weil dieser Markt längst globalaufgestellt ist. Da können wir hier noch so engagiert de-battieren: Das ist nicht mehr im Rahmen unseres EEG zulösen.
Für uns ist es deshalb wichtig, die Preisreduktion – esist keine Kostenreduktion – jetzt auch beim Verbraucherankommen zu lassen. Deshalb haben wir jetzt den ohne-hin für den 1. Juli erwarteten Abschlag von 15 Prozentum ein Vierteljahr vorgezogen. Das ist nicht maßlos. Da-rauf kommt noch ein Abschlag von 5 bis 10 Prozent.Von daher sind wir fast bei Ihren 20 Prozent, Herr Fell.Wir liegen da also nicht Welten auseinander.
Um die Absenkung zu verstetigen und den Schluss-verkaufeffekt zu vermeiden, machen wir eine monatlicheAbsenkung, und zwar auch in dem Umfang, wie sieschon bislang im EEG etabliert war. Auch dazu muss ichsagen: Das ist einigermaßen kompatibel.Aber was ich wirklich nicht verstehe, was mich ratlosund auch ein bisschen ärgerlich macht, ist Ihr Schaulau-fen gegen die Absenkung der einzuspeisenden Menge anStrom bzw. die Verpflichtung, 15 Prozent bzw. 10 Pro-zent bei Freiflächenanlagen selbst zu verbrauchen oderzu vermarkten.
Das ist mühelos zu schaffen, bei kleinen Dachanlagenohnehin, und zwar rein durch eine Verhaltensänderung.Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich erwarte einfach, dassauch jemand, der eine große Dachanlage hat und neben-bei einen Schweinestall betreibt, seine Lüftung über dieeigene PV-Anlage laufen lässt und dass ein großer Ein-zelhändler – verflixt noch mal – seine Kühltruhen überdie PV-Anlage laufen lässt.
Ich kann überhaupt nicht begreifen, warum man denStrom, nur weil es ein paar Cent mehr gibt, lieber ein-speist, sich das teuer erstatten lässt und sich dann selbstüber das allgemeine Netz versorgt.
Das kann nicht sein. Das entspricht auch nicht unsererIdee von dezentraler Versorgung. Von daher möchte ichsehr darum bitten, dass man sich mit diesem Gedankenin Zukunft mehr und mehr anfreundet. Das ist genau derGedanke, den uns die Branche immer wieder nahegelegthat.Wir haben im EEG die Möglichkeit der Marktprämie.Auch da wäre es vielleicht ganz gut, wenn sich die Son-nenbranche einmal mit diesem Gedanken auseinander-setzen würde.Wenn jetzt jemand sagt, das Ganze komme zu plötz-lich,
kann ich dazu nur sagen: Ich habe schon im Sommer2008 bei den Verhandlungen zum EEG 2009 über dieMarktintegration gesprochen. Seinerzeit hat der dama-lige Koalitionspartner die Branche beschützt. Wohin dasführt, sehen wir heute. Aber die Notwendigkeit, sich imMarkt zu etablieren, ist doch da. Man kann in Deutsch-land nicht mehr als 20 Großkraftwerke mit 25 Gigawattinstallierter Leistung betreiben und dann erklären: Wirmüssen einfach nur produzieren, aber nicht nach Kundensuchen. – Das funktioniert nicht und wird in Zukunft im-mer weniger funktionieren.
Ich begrüße allerdings ausdrücklich die Übergangsre-gelungen, die die Berichterstatter, die Koalitionsfraktio-nen und insbesondere die Union selbstverständlich indiesem Gesetzentwurf formuliert haben. Das Gesetz zurAbsenkung des Abschlags für Dachanlagen tritt zum1. April in Kraft bei derzeit gültigen Inbetriebnahmere-gelungen. Bei Freiflächenanlagen muss es bis zum1. März 2012 einen Aufstellungsbeschluss für den Be-bauungsplan geben. Bis zum 30. Juni muss das Vorha-ben realisiert werden.Bezüglich der Verordnungsermächtigungen wird esso sein, dass eine Entscheidung in Bezug auf die Markt-integration immer nur unter Einbeziehung des Bundesta-ges getroffen werden kann. Das ist gut und richtig. Be-züglich der Verordnungsermächtigung im Hinblick aufdie Einspeisevergütungen müssen wir einmal gucken, obdas wirklich ein glückliches Instrument ist oder ob wirnicht eher, wie es der Kollege Kauch angedeutet hat,doch wieder Instrumente wie den atmenden Deckel indieses Gesetz einfügen werden.Wir handeln jetzt, um den Ausbau der PV auf einennachhaltigen Pfad zu führen.
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19744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Dr. Maria Flachsbarth
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Wir werden in den parlamentarischen Beratungen dieZiele des Klimaschutzes, der Versorgungssicherheit, desVerbraucherschutzes und der Zukunft der PV-Technolo-gie im Blick haben.Unser Ausbauziel, um auch das noch einmal zu sa-gen, bleiben 52 Gigawatt bis 2020. Aber wir gehen da-von aus – das unterscheidet die beiden Seiten diesesHauses tatsächlich –, dass der Zubau nicht mehr aus-schließlich im EEG stattfindet, sondern dass die PVmehr und mehr erwachsen wird, sodass es sich schon al-lein aus Marktgründen lohnt, eine PV-Anlage zu bauenund den Strom entsprechend zu nutzen. Deshalb könnenwir den Zubaukorridor ab 2014 langsam absenken.Wer hätte noch vor fünf Jahren gedacht, dass die PVin diesem kurzen Zeitraum tatsächlich so erfolgreichsein wird und auf eigenen Beinen steht.
Ich bin deshalb ganz sicher, dass die PV in diesem Landauch künftig eine sonnige Zukunft haben wird.Herzlichen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
ich Kollegen Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Lieber Herr Kelber, Herr Becker, nach Ihren Re-
den
– ja – möchte ich Ihnen ein Zitat Ihres Parteivorsitzen-
den liefern, das mir vor wenigen Tagen auf den Tisch ge-
legt wurde. Es ist ein Zitat, das im April letzten Jahres in
der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu lesen
war. Dort sagte Sigmar Gabriel zur Solarenergie:
Und wir müssen über die sozialen Aspekte reden:
Ist es gerecht, dass Leute in Mietwohnungen über
einen sehr hohen Strompreis die Solardächer der
Hausbesitzer bezahlen?
Meine Damen und Herren, lieber Herr Kelber, lieber
Herr Becker, es ist nicht gerecht, dass wir eine solche
Umverteilung von unten nach oben weiterhin dulden.
Deshalb müssen wir an diesem Punkt ansetzen. Deshalb
ist der Gesetzentwurf, wie wir ihn jetzt eingebracht ha-
ben, auch der richtige Weg, der richtige Schritt in die
richtige Richtung.
Wir müssen im Blick haben, dass die Bezahlbarkeit
von Strom in den nächsten Jahren die Achillesferse der
Energiewende wird. Schon heute zahlt eine vierköpfige
Familie eine EEG-Umlage in Höhe von 180 Euro.
Eine kleine mittelständische Bäckerei zahlt eine EEG-
Umlage in Höhe von 6 000 Euro. Wir haben Industrien
in Deutschland, die schon jetzt ihre Produktion ins Aus-
land verlagern, weil sie die Strompreise nicht mehr mit-
tragen können. Das ist doch die Realität.
Deshalb müssen wir gegensteuern und dafür sorgen,
dass die Energie zukünftig noch bezahlbar ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Krischer?
Ja, gerne.
Herr Kollege Bareiß, Sie entdecken die Energiekosten
immer dann, wenn es um die EEG-Umlage geht. Ist Ih-
nen bekannt, dass, wenn die Strompreise steigen, das nur
die Ursache hat, dass Sie Netznutzungsentgelte für
Großverbraucher senken? Sie machen mehr und mehr
Ausnahmeregelungen. Sie führen eine Marktprämie ein,
die zu reinen Mitnahmeeffekten führt und nichts mit
dem Markt zu tun hat. All diese Effekte haben dazu ge-
führt, dass die EEG-Umlage gestiegen ist. Hätten Sie das
nicht gemacht, wäre sie gesunken. Sind Ihnen diese Tat-
sachen bekannt?
Herr Krischer, mir ist die Tatsache durchaus bekannt,dass wir hoch energieintensive Industrien auch entlasten.
Im Übrigen war das in diesem Hause bisher immer Kon-sens von allen Parteien, dass wir das tun müssen, um dieIndustrien in Deutschland zu halten, die wir insbeson-dere mit Blick auf die Innovationen im Bereich der er-neuerbaren Energien brauchen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19745
Thomas Bareiß
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Wir brauchen auch weiterhin die Kupfer- und Alumi-niumhütten in Deutschland.
Wir müssen sehen, dass sie auch noch weiterhin inDeutschland bleiben. Deshalb ist es richtig, dass wir sieauch weiterhin entlasten.
Es ist auch wichtig, dass wir die kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen entlasten, damit wir weiterhin Ar-beitsplätze in Deutschland erhalten können.
Herr Fell, ich komme zu Ihnen.
Sie überraschen mich immer wieder; das muss ich ganzoffen sagen. Auch mich bedrückt es,
wenn die vielen Unternehmen, die Sie vorhin genannthaben, ihre Module nicht mehr in Deutschland produzie-ren. Trotzdem haben wir in der Solarindustrie in denletzten zwei Jahren Rekordwerte erzielt. Wir haben inden letzten zwei Jahren zweimal jeweils 7 500 Megawattzugebaut. Herr Gabriel hat noch vor vier Jahren in sei-nem Erfahrungsbericht gesagt, er erwarte für 2011 einenZubau von 800 Megawatt. Tatsächlich betrug der Zubau7 500 Megawatt! Trotz dieser Überförderung haben wirviele, viele Firmen verloren. Das zeigt doch ganz klar,dass die Überförderung nicht dazu führt, dass wir Ar-beitsplätze erhalten, sondern die Überförderung kostetArbeitsplätze. Deshalb müssen wir das entsprechend an-packen.
Die Zahlen sprechen für sich. Meine Vorredner habendas schon teilweise dargelegt: Schon heute beträgt derAnteil des Stroms aus erneuerbaren Energien an unse-rem Strommix 20 Prozent. Bis 2020 wollen wir einenStromanteil von 35 Prozent erreichen,
mehr als Sie es jemals vorgehabt haben. Ich habe schongesagt, wir sind im letzten Jahr bei 7 500 Megawatt ge-wesen.
– Ich habe manchmal den Eindruck, lieber Herr Kelber,dass Sie ein bisschen neidisch sind auf das, was wir er-reichen. Ihnen geht das Thema verloren. Das merkt manauch an den Reden, die den gleichen Inhalt haben wievor zwei Jahren. Sie haben die Energiewende ein Stückweit verschlafen und sind im Heute noch nicht angekom-men.
Insofern rate ich Ihnen zu mehr Offenheit und Konsens.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmaldeutlich machen – das hat auch meine Vorrednerin MariaFlachsbarth gesagt –:
Auch wenn diese Zubaurate von jeweils 7 500 Mega-watt in den letzten beiden Jahren beachtlich ist, müssenwir ganz klar sagen, dass wir uns jährliche Zubauraten indieser Höhe in den nächsten Jahren nicht leisten können.Wir tragen die Verantwortung nicht nur für die Verbrau-cherpreise, sondern auch für die Netzstabilität.Wir müssen zu einem Zubau kommen, der nicht nurbezahlbar, sondern auch mit dem Netz kompatibel istund mit dem Netzausbau einhergeht.
Deshalb müssen wir zu einem Grundkonsens kommen,maximal 3 500 Megawatt zuzubauen;
das ist unsere Strategie für die Gesetzesnovelle.Der Gesamtzubau im letzten Jahr kostete in derSumme über 20 Milliarden Euro. Wenn wir in diesemJahr nicht aufpassen, dann werden wir bei einem Zubauvon 8 000 Megawatt landen und müssen dafür in dennächsten 20 Jahren noch einmal 25 Milliarden Euro fürdie Photovoltaik ausgeben.
Diese Zahlen zeigen, dass wir jetzt relativ schnell reagie-ren und das Gesetz entsprechend schnell umsetzen müs-sen.Was machen wir konkret? Lassen Sie mich kurz aufdie einzelnen Punkte eingehen: Zunächst wollen wir miteiner einmaligen Absenkung der Vergütung eine Anpas-sung an die gesunkenen Marktpreise bewirken und neh-
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Thomas Bareiß
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men eine Degression von 20 bis 26 Prozent vor – nichtdie 36 Prozent, die von Ihnen vorhin beschrieben wur-den.
Wenn Sie sich einmal die Vergütungssätze anschauen,stellen Sie fest: Es sind 20 bis 26 Prozent. Das spiegeltganz klar die Marktpreise wider. Insofern ist diese Ab-senkung – das sagt sogar die Branche – durchaus vertret-bar.
Ich glaube, mit den jetzt vorgelegten Übergangsrege-lungen werden wir problemlos den Bestandsschutz bzw.den Vertrauensschutz vor Ort regeln können. Bei denDachanlagen kommt die Degression zum 1. April. Da-mit können wir die sonst zu erwartende Endrallye etwaseindämmen. Die vorhandenen Projekte werden wir den-noch umsetzen können. Bei den Freiflächenanlagen gibtes eine Übergangsregelung, die vorsieht, dass der Auf-stellungsbeschluss zum 1. März vorliegen musste; dieAnlagen müssen dann bis zum 1. Juli installiert werden.Mit diesen Vorschlägen können wir hoffentlich alle kon-form gehen. Ich hoffe, dass auch die Bundesländer ent-sprechend mitmachen werden.Das ist jedoch nur ein kleiner Baustein in dieser Ge-setzesnovelle, die im Grunde nur kurzfristig wirkenkann. Langfristig müssen mehr Markt und mehr Wettbe-werb wirken.
Die christlich-liberale Koalition steht für mehr Marktund Wettbewerb bei den erneuerbaren Energien. Wirbrauchen mehr Eigenverantwortung.Ich glaube, dass wir mit der geplanten Regelung, nurnoch 85 bis 90 Prozent des EEG-Stroms aus Photovol-taik zu vergüten, den richtigen Weg gehen. Die restli-chen 15 Prozent müssen entweder eigenvermarktet oderselbst verbraucht werden. Das ist heute bereits möglich.Deshalb glaube ich – das will ich in aller Deutlichkeitsagen –, dass wir sogar noch etwas mehr machen kön-nen.Darüber müssen wir in den nächsten Tagen sprechen.Ich halte es durchaus für möglich, dass die Photovoltaik20 bis 25 oder sogar 30 Prozent in den Markt hineinge-ben kann. In diesem Zusammenhang finde ich den Vor-schlag einer Kombination mit Speichertechnologien sehrinteressant. Wenn wir es schaffen, die eine oder andereSpeichertechnik in irgendeiner Form zu fördern, dannhätten wir eine intelligente Lösung: die Photovoltaik aufdem Dach und einen Speicher im Keller. Eine solche Lö-sung
wäre auch in den nächsten drei Jahren noch tragfähig.Wir müssen prüfen, inwieweit die Speicher schon heutetechnisch sinnvoll sind. Das werden wir in den nächstenWochen besprechen. Herr Kelber, ich lade Sie ein, hier-bei mitzumachen.
Wir müssen prüfen, wie hoch der Anreiz sein mussund was das Ganze an Netzentlastung bringt. In denFraktionen werden wir hierüber diskutieren. Wir gehenjedenfalls den richtigen Weg.Ein weiterer Punkt, den wir anpacken werden, ist dieVerstetigung der zukünftigen Degressionsschritte. Zum1. Mai werden wir 0,15 Cent pro Kilowattstunde De-gression einführen. Ich sage in aller Deutlichkeit: Auchwenn dieser Weg der richtige ist – immerhin wollen wirdie Endrallyes vermeiden –, reicht meiner Meinung nachdieser Betrag monatlich noch nicht aus. Mit einem Blickauf die Marktpreise ist die Gesamtdegression immernoch zu niedrig. Ich halte den Vorschlag eines „atmen-den Deckels“ für den richtigen. Damit können wir mehrAutomatismus und Verlässlichkeit schaffen
und damit für die Zukunft im Hinblick auf die Investorenden richtigen Weg gehen. Dann wäre eine Verordnungs-ermächtigung nur noch ein Notfallinstrument. Auch dasist der richtige Weg.
Meine Damen und Herren, ich glaube, unsere Politikist verantwortlich.
Das ist auch unser Anspruch. Wir wollen, dass die Ener-giewende gelingt und bezahlbar ist. Die Debatte hat auchgezeigt, dass dringend Handlungsbedarf besteht, dasswir jetzt relativ schnell in die Beratungen gehen müssen.Ich bin hoffnungsfroh, dass wir am 28. März in diezweite Lesung gehen und Planungssicherheit für die In-vestoren schaffen können. In diesem Sinne freue ichmich auf das kommende Gesetzgebungsverfahren.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/8877 und 17/8892 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19747
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 27 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Eva Högl, Christel Humme, Elke Ferner, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-rung der Chancengleichheit von Männern undFrauen in Wirtschaftsunternehmen
– Drucksache 17/8878 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Auchdazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin EvaHögl für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn un-serer Debatte heute Morgen zunächst ein Blick auf dieFakten: Ein Drittel der 160 Unternehmen in den DAX-Indizes der Deutschen Börse hat keine einzige Frau inseinen Führungsgremien, weder im Vorstand noch imAufsichtsrat. Aktuell haben wir 3,4 Prozent Frauen inden Vorständen und 12,7 Prozent Frauen in den Auf-sichtsräten. Da sage ich: Immerhin! In den Aufsichtsrä-ten ist es so verteilt: auf der Anteilseignerseite 7,8 Pro-zent, auf der Arbeitnehmerbank – da können wir ganzfroh sein – immerhin 20,6 Prozent Frauen. Angesichtsdieser Situation ist Deutschland Schlusslicht im Ver-gleich der westlichen Industrienationen und in Europa.Ich darf hier heute Morgen sagen: Das ist eine inak-zeptable Situation. Elf Jahre nach der Selbstverpflich-tung der deutschen Wirtschaft und der Vereinbarung mitder Bundesregierung und auch drei Jahre nach Auf-nahme des Themas Gleichberechtigung in den CorporateGovernance Kodex haben wir es hier mit einer entsetzli-chen Situation zu tun, die mehr als peinlich ist.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, diese Zahlen zeigen mehr als deutlich – daswissen wir alle –: Appelle und Selbstverpflichtungenführen zu rein gar nichts. Die Zeit ist mehr als reif füreine gesetzliche Regelung.
Ich möchte hier heute Morgen auch sagen, dass wiralle miteinander – ich hoffe, dass ich da für alle spreche –mehr als froh wären, wenn wir auf Quoten verzichtenkönnten, wenn wir sagen könnten: „Wir haben genügendFrauen in den Vorstandsgremien, in den Aufsichtsräten“,wenn wir sagen könnten: „Unsere Politik ist erfolgreich,und die Unternehmen wissen selbst, was sie tun müs-sen.“ Aber wenn wir feststellen, dass die Situation so ist,wie sie ist, dann sind wir hier als Gesetzgeber, als Deut-scher Bundestag, gefragt, diese Situation zu beenden undtätig zu werden.
Diese Verpflichtung resultiert nicht zuletzt aus Art. 3Abs. 2 GG.Die SPD hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, den wirheute Morgen beraten, und ist damit die erste Fraktion,die die politische Forderung nach mehr Frauen in denFührungsgremien der deutschen Wirtschaft ausformu-liert und einen konkreten Vorschlag vorgelegt hat. Wirwollen 40 Prozent Frauen in Vorständen und Aufsichts-räten. Wir wollen das stufenweise einführen; wir wollenniemanden überfordern. Wir fangen mit einer Quote von20 Prozent Frauen in den Vorständen und 30 Prozent inden Aufsichtsräten an. Aber wir sagen auch ganz deut-lich: Wir müssen jetzt beginnen; wir dürfen das nicht aufdie lange Bank schieben. Wir haben jetzt den Hand-lungsbedarf.
Denn wir müssen im Hinblick auf die nächsten Auf-sichtsratswahlen tätig werden. Das Gesetz, das wir hierumsetzen wollen, muss schon für die nächste Wahlpe-riode der Aufsichtsräte gelten.Ich betone noch einmal: Wir schmeißen niemandenaus den Führungsgremien der deutschen Wirtschaft he-raus, weder aus dem Vorstand noch aus dem Aufsichts-rat. Aber wir wollen die frei werdenden Plätze endlichkonsequent mit Frauen besetzen.
Wir wissen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen,dass ein Gesetz, das nur ein Ziel formuliert, überhauptnichts bringt. Wir kennen das vom Bundesgleichstel-lungsgesetz. Wir kennen das auch vom Bundesgremien-gesetz. Wir kennen die Berichte. Wir wissen, dass wirk-same Sanktionen notwendig sind. Nur dann ist einGesetz erfolgreich. Nur dann führt es dazu, dass Frauenauch tatsächlich auf die Plätze kommen.Wir haben uns deshalb wirksame Sanktionen überlegtund setzen dabei nicht darauf, die sofortige Beschlussun-fähigkeit von Gremien herbeizuführen. Weder der Vor-stand noch der Aufsichtsrat sollen handlungsunfähigwerden. Uns ist die Handlungsfähigkeit deutscher Unter-nehmen sehr wichtig, und deshalb setzen wir auf Selbst-regulierung. Wir setzen darauf, dass dann, wenn die Vor-gaben aus welchen Gründen auch immer nicht erfülltwerden können, die Plätze zunächst unbesetzt bleiben.Aber wir sagen auch ganz deutlich: Die Plätze sollennicht lange unbesetzt bleiben. Denn wir wollen, dassFrauen auf den Stühlen sitzen. Wir wollen keine leerenStühle.
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19748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Dr. Eva Högl
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Deswegen dürfen diese Stühle maximal ein Jahr leerbleiben. Wir gehen allerdings davon aus, dass das garnicht der Fall sein wird. Wir setzen nämlich auf dieSelbstregulierung. Beispielsweise gilt für den Aufsichts-rat eines mitbestimmten Unternehmens die Quote fürjede Bank, und wir gehen davon aus, dass jedes Unter-nehmen ein Interesse daran hat, die Bänke der Anteils-eigner und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerauch mit Frauen zu besetzen. Wir meinen, dass es vielegute Frauen in unserem Land gibt, die diese Plätze auchbesetzen können.
Ich möchte noch ein Wort zu dem Thema Vorstand sa-gen. Dies ist ein sensibler Punkt, was wir selbstverständ-lich in unserem Gesetzentwurf berücksichtigt haben. Wirhaben es sorgfältig geprüft und die Verfassungsgemäß-heit ausführlich diskutiert. Wir schlagen auch für denVorstand eine Regelung vor, die den Vorstand zwar nichtin seiner Handlungsfähigkeit beschränkt, aber eine wirk-same Sanktion beinhaltet. Demnach soll der Vorstandseine Vertretungsmacht verlieren, wenn er nicht ord-nungsgemäß besetzt ist. Dann muss der Aufsichtsrat fürdas Unternehmen tätig werden. Wir gehen davon aus,dass das dem Aufsichtsrat so lästig sein wird, dass er al-les dafür tun wird, dass der Vorstand ordnungsgemäß mitFrauen besetzt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss nochein paar Worte zu dem, was uns entgegenschlägt, da wireine Quote befürworten. Es schlägt uns entgegen: Ihrfindet gar keine Frauen – und schon gar nicht für Vor-stände. Es gibt gar keine qualifizierten Frauen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Welt ist voll vonqualifizierten Frauen.
– Das ist demonstratives Desinteresse. Ich nehme daszur Kenntnis. – Was ist das für eine Botschaft an dieFrauen, wenn wir ihnen sagen, dass sie nicht qualifiziertgenug sind? Wir wissen, dass 97 Prozent der Vorständemit Männern besetzt sind. Will mir jemand erzählen,dass diese 97 Prozent ausschließlich etwas mit Qualifi-kation zu tun haben?
Das kann doch wohl nicht wahr sein.
Deswegen sage ich Ihnen eines: Die Quote führt dazu,dass die guten Frauen, die wir haben, endlich auf diePlätze kommen, die ihnen zustehen.
Das allein ist der Sinn und Zweck einer Quotierungs-regelung, und deswegen appelliere ich an Sie, die Koali-tionsfraktionen: Verschließen Sie sich doch nicht längerdieser Debatte. Geben Sie Ihr grundsätzliches Nein auf.Steigen Sie mit uns in die Sachdebatte ein. Wir haben ei-nen Vorschlag vorgelegt. Wir können über Details spre-chen. Wir haben es in Form eines Gesetzentwurfs durch-formuliert. Lassen Sie uns doch heute, einen Tag nachdem 101. Internationalen Frauentag, etwas für die vielentollen Frauen in unserem Land in Sachen Gleichberech-tigung tun und endlich tätig werden für mehr Frauen inFührungspositionen in deutschen Unternehmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Andrea Voßhoff für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,die SPD will mit ihrem Gesetzentwurf börsennotierteund mitbestimmte Unternehmen der Privatwirtschaftzwingen, mit einer gestaffelten gesetzlichen Mindest-quote den Anteil der Frauen in Aufsichtsräten und Vor-ständen und damit in Führungspositionen zu erhöhen.
Ja, Frau Kollegin Högl, dem Grunde nach stimme ichIhnen zu, und es ist unstreitig: Frauen sind in unterneh-merischen Führungspositionen im Jahr 2012 deutlich un-terrepräsentiert; Sie haben die Quoten genannt.Die Kollegin Strothmann wies mich gerade auf Fol-gendes hin – und ich will das auch gerne sagen –: Andieser Stelle wird immer wieder unter den Tisch fallengelassen, dass dieses Thema in mittelständischen Betrie-ben längst kein Thema mehr ist. Dort sind sehr vielestarke und qualifizierte Frauen auch in Führungspositio-nen. Ich finde, es gehört der Vollständigkeit halber dazu,das auch einmal zu erwähnen.
Ja, in den großen Unternehmen sind es viel zu wenig.Ich will die Zahlen aus Zeitgründen nicht wiederholen,aber wir wissen, dass Frauen in den Vorstandsetagendeutlich unterrepräsentiert sind.Das darf uns als Politiker und Politikerinnen nicht inRuhe lassen, wir dürfen diese Probleme auch nicht klein-reden. Das ist richtig, Frau Kollegin Högl.
Aber wenn wir als Politiker merken, dass Handlungsbe-darf gegenüber der Wirtschaft besteht, dann sollten wirauch darauf achten, wie wir es in Unternehmen mit öf-fentlicher Beteiligung auf Bundes- und Länderebene hal-ten. Sie erwähnten vorhin das Bundesgremienbeset-zungsgesetz. Von den dort gesetzten Zielvorgaben sindwir auch nach 15 Jahren seit Inkrafttreten des Gesetzes
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19749
Andrea Astrid Voßhoff
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noch weit entfernt. Einer neueren Studie zufolge sindFrauen in Aufsichtsräten von Bundesunternehmen miteinem Anteil von 18,2 Prozent und in Vorständen mit6,5 Prozent vertreten.Die genannten Zahlen zeigen, dass es in Bezug aufdas Thema Frauen in Führungspositionen noch viel zutun gibt – da bin ich ganz selbstkritisch –; denn in derPolitik sollten wir eigentlich mit gutem Beispiel voran-gehen. Liebe Kollegin Högl, meine Damen und Herrenvon der SPD, ich frage Sie: Wie hoch ist eigentlich dieQuote in Einrichtungen in den Bundesländern, in denenSie mitregieren?Nehmen wir als Beispiel das Land Brandenburg, indem ich leben darf. Dort regiert die SPD seit der Wieder-vereinigung, also seit mehr als 20 Jahren. Ich darf aufeine aktuelle Anfrage der CDU-Landtagsfraktion vomJanuar dieses Jahres verweisen. Die Antwort der Lan-desregierung auf die Frage, wie hoch der Anteil vonFrauen in der Geschäftsführung der Unternehmen mitLandesbeteiligung sei, lautete: Die Landesregierungkonzentriert sich nur auf die Unternehmen, bei denendas Land Brandenburg zu nahezu 100 Prozent Anteils-eigner ist und auf die sie Einfluss ausüben kann – dassetzt sie vorweg –, um dann im gleichen Atemzug zu sa-gen: Der Anteil von Frauen in den Geschäftsführungs-organen der sieben landeseigenen Unternehmen liegtlediglich – meine Damen und Herren, hören Sie es sichan – bei 15,38 Prozent.
Meine Damen und Herren Sozialdemokraten, nochviel interessanter war die Antwort der Brandenburgi-schen Landesregierung auf die zweite Frage, ob die rot-rote Landesregierung eine Zielgröße festgesetzt hat, aufdie der Anteil von Frauen in Führungspositionen in Un-ternehmen mit Landesbeteiligung erhöht werden soll.Nun hören Sie gut zu. Die Landesregierung antwortete:Das Ziel einer Erhöhung des Anteils von Frauen inFührungspositionen bei Unternehmen mit Landes-beteiligung findet seinen Ausdruck in einer Reihevon Handlungsempfehlungen– sehr erstaunlich –in den Regeln für die Unternehmen im Ab-schnitt VI. des Corporate Governance Kodex fürdie Beteiligungen des Landes Brandenburg an pri-vatrechtlichen Unternehmen …. Dort ist vorgese-hen, dass der Aufsichtsrat bei der Zusammenset-zung der Geschäftsführung auch auf Vielfalt …achten und dabei insbesondere eine angemesseneBeteiligung von Frauen anstreben soll …
Meine Damen und Herren Sozialdemokraten,
es ist schon wohlfeil: Hier und heute wollen Sie die Pri-vatwirtschaft per Gesetz zu einer festgelegten gesetzli-chen Mindestquote von 40 Prozent zwingen. Sie wollenmassiv in deren Eigentumsrechte eingreifen.
Aber dort, wo Sie konkret Einfluss nehmen könnten, er-reichen Sie nicht einmal selbst die Quote, die Sie der Pri-vatwirtschaft auferlegen wollen.
Sie legen sie nicht einmal fest. Statt sich zu einer Quotezu bekennen, verweisen Sie lediglich auf den CorporateGovernance Kodex, den Sie an anderer Stelle kritisieren.Wenn Sie es im Land Brandenburg nach 20 Jahrennur auf 15 Prozent geschafft haben, ist es schon eineChuzpe, von der Privatwirtschaft bereits in neun Mona-ten eine Quote von 30 Prozent für Aufsichtsräte und20 Prozent für Vorstände zu verlangen.
Ich hege den Verdacht: Wenn wir uns die Beteiligungs-berichte anderer Bundesländer, in denen die SPD mitre-giert, anschauen würden, dann würden wir zu dem Er-gebnis kommen, dass die Bilanz nicht sehr viel andersaussieht.
Meine Damen und Herren Sozialdemokraten, wie hal-ten Sie es denn eigentlich in Ihrer Partei mit Frauen inFührungspositionen?
In ihrer langen Geschichte hat es zwar viele Parteivorsit-zende gegeben, aber wie viele davon waren weiblich?Keine einzige! Wie viele Bundeskanzlerinnen hat dieSPD gestellt? Keine einzige! Wie viele weibliche Frak-tionsvorsitzende hatte die SPD bisher im Bundestag?Keine einzige!
Frau Kollegin Högl, Sie sagten vorhin: Die Welt istvoll von qualifizierten Frauen. Ich denke, das trifft auchauf die SPD zu.
Aber dass sich an Ihrer Bilanz etwas ändert, steht nichtzu vermuten; denn in Bezug auf die Kanzlerkandidaturerleben wir das Warmlaufen dreier Herren: Gabriel,Steinmeier und Steinbrück.
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19750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Andrea Astrid Voßhoff
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Ich rege an, mit gutem Beispiel voranzugehen. DieUnion hat es Ihnen vorgemacht. Machen Sie es uns nach.Das Problem der geringen Beteiligung von Frauen inFührungspositionen ist komplex; das wissen wir. Ich willden Handlungsbedarf auch gar nicht in Abrede stellen.Ich weiß ebenso wie Sie, dass in meiner Fraktion unter-schiedliche Positionen vertreten werden. Das heißt abernicht, dass wir uns über den Handlungsbedarf nicht einigsind. Wir sind uns nur über die Wahl des Instrumentesnicht einig. Ich denke, es muss erlaubt sein, zu fragen,ob eine starre oder gesetzliche Mindestquote das Pro-blem lösen könnte oder ob das vielleicht ein nachhaltigerEingriff in Eigentumsrechte ist.Auch ich glaube, dass die Wirtschaft mehr und nach-haltiger – wenn Sie so wollen: auch von der Politik – un-ter Druck gesetzt werden muss. Die Vereinbarung ausdem Jahr 2010 hat im Ergebnis mehr oder weniger nichtsgebracht. Das ist vollkommen richtig. Für die politischeSeite hat damals Bundeskanzler Schröder verhandelt.Jetzt hat die Familienministerin, Frau Schröder, zusam-men mit der Wirtschaft versucht, einen Stufenplan zuentwickeln.
Ich muss Ihnen sagen: Dieser Vorschlag bietet einegute Grundlage, um, ohne zu nachhaltig in Eigentums-rechte von Unternehmen einzugreifen, dem Handlungs-bedarf, den wir ja wohl alle sehen, entsprechend zielge-richtet zu handeln. Ich gestehe zu: Davon müssen wirunseren Koalitionspartner überzeugen. Wir arbeiten da-ran. Vielleicht gelingt es uns.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Barbara Höll spricht jetzt für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich freue mich, dass wir heute erneut über einso wichtiges gleichstellungspolitisches Thema wie diegerechte Teilhabe von Frauen an den Entscheidungender Unternehmen dieses Landes sprechen.Frau Voßhoff, ich hätte mich gefreut, wenn Sie sichmehr zum Thema geäußert hätten.
Sie haben der SPD Nachholbedarf vorgeworfen. Ichwäre vorsichtig, dies als Mitglied einer Fraktion mit ei-nem Frauenanteil von 19 Prozent zu tun, da die SPD ei-nen Frauenanteil von 40 Prozent hat. In der Fraktion derLinken sind wir 55 Prozent Frauen.
Das ist noch einmal ein ganzes Stück mehr. Ihre Art undWeise des Umgangs geht gar nicht. So kann manschwerlich vom Thema ablenken.
Ich glaube, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurfder SPD ein absolut richtiger Schritt vorgeschlagenwird. Ein wenig Kritik sei mir am Anfang meiner Aus-führungen aber erlaubt – das muss jetzt doch sein –: Ichverstehe nicht, warum unser Antrag, der in eine ähnlicheRichtung zielt, hier gestern keine breite Unterstützungder anderen Oppositionsfraktionen erhalten hat, sondernsogar Gegenstimmen. Das ist für mich ein wahlkampf-taktisches Spielchen. Das finde ich wirklich mehr als är-gerlich. Frau Ziegler und Frau Fischbach haben gesternzu Recht betont, dass es uns weiblichen und männlichenAbgeordneten nur dann gelingen wird, eine geschlech-tergerechte Gesellschaft zu erreichen, wenn wir in die-sem Haus gemeinsam und fraktionsübergreifend tätigwerden.Quoten sind unbeliebt, aber ohne Quote bewegt sichin unserem Land offenbar nichts.
Nicht die Frauen, sondern die Unternehmen haben überJahrzehnte nachgewiesen, dass es ohne Quote nicht geht.
Wir brauchen verbindliche, gesetzliche Regulierungen,weil die Unternehmen sonst nicht bereit sind, die Forde-rung des Grundgesetzes zu erfüllen. Frauen und Männersind gleichberechtigt – diese Formulierung existiert seit60 Jahren. Aufgrund dieses Gleichstellungsauftrages desGrundgesetzes muss eigentlich alles Regierungshandelnauf die Herstellung geeigneter Rahmenbedingungen füreine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Män-nern in allen gesellschaftlichen Bereichen ausgerichtetsein. Aber leider sind wir davon weit entfernt.Die entscheidenden Positionen in Politik, Wirtschaft,Sport, Medien und Kultur werden in der BundesrepublikDeutschland leider immer noch von Männern besetzt.Mehrere Bundesregierungen haben versucht, die Unter-nehmen zu einer freiwilligen Erhöhung des Anteils vonFrauen in Führungspositionen zu bewegen. Sie sind da-mit klar gescheitert. Ich möchte insbesondere FrauMerkel daran erinnern, dass dieses Thema bereits zu ih-rer Zeit als Ministerin für Frauen und Jugend eine Rollespielte.
Aber während sie mit dem GleichberechtigungsgesetzMaßnahmen zur Frauenförderung in der Bundesverwal-tung und bei der Besetzung öffentlicher Gremien durchFrauen und Männer durchsetzen konnte, hat sich durch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19751
Dr. Barbara Höll
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die freiwillige Verpflichtung von Unternehmen auch un-ter ihren Nachfolgerinnen nichts, aber auch gar nichtsgeändert.Besonders peinlich ist dieses Schneckentempo bei derGleichstellung von Frauen und Männern in Führungs-positionen, wenn wir einmal über den eigenen Tellerrandschauen. Norwegen ist zwar mit einer Quote von 40 Pro-zent Frauen in Führungspositionen immer noch Spitzen-reiter, aber auch in anderen Ländern hat sich sehr vielbewegt. Schauen wir nach Spanien, Frankreich, Belgienund Italien. Dort sind wesentlich mehr Frauen in denVorstandsetagen der Wirtschaft als in der Bundesrepu-blik. Auch im weiteren internationalen Vergleich hinkenwir massiv hinterher. Man muss sagen: Deutschland istund bleibt ein gleichstellungspolitisches Entwicklungs-land.
Die EU-Kommissarin Reding kündigte in der letztenWoche die Einführung einer EU-weiten verbindlichenFrauenquote für große Unternehmen an, nachdem dieAufforderung zur freiwilligen Selbstverpflichtung voreinem Jahr keine ausreichende Wirkung zeigt. Der Ta-geszeitung Die Welt gegenüber sagte Frau Reding: „Ichbin kein Fan von Quoten. Aber ich mag die Ergebnisse,die Quoten bringen.“ – Recht hat sie. An der Quote kom-men wir nicht vorbei.
Wir als Gesetzgeber sollten nicht warten, bis eineRichtlinie der EU uns dazu zwingt, sondern wir solltenselbst noch in diesem Jahr dafür sorgen, dass die fort-dauernde Verletzung des Art. 3 des Grundgesetzes durcheine klare gesetzliche Quotenregelung endlich beendetwird. Es wäre schön, wenn die Bundesrepublik dieEU-Kommissarin Reding in ihrem Bemühen unterstüt-zen würde.
Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion enthält eineReihe konkreter Schritte, durch die eine Besetzung vonAufsichtsräten und Vorständen mit mindestens 40 Pro-zent Frauen in den nächsten Jahren erreicht werdenkann. Als erster Schritt wird vorgeschlagen, ab 2013eine gesetzliche Quote von mindestens 30 Prozent inAufsichtsräten und 20 Prozent in Vorständen festzule-gen. Das bewegt sich in etwa in dem Rahmen, den auchwir in unserem Antrag vorgesehen haben. Diese Größen-ordnung ist realisierbar. Es ist unbedingt notwendig,noch in diesem Jahr diesen Schritt zu tun,
weil in diesem Jahr eine ganze Reihe von Positionen freiwerden. Wenn wir es nicht in diesem Jahr machen, wer-den uns weitere fünf Jahre einfach verloren gehen.
In zahlreichen Petitionen wird gefordert, dass FrauenEntscheidungen, auch ökonomische, endlich direkt aufder Führungsebene treffen können. Umfangreiche Dis-kussionen in den Medien belegen dies. Es ist Zeit, dassdie Frauen endlich die Hälfte der Macht und des Ku-chens erhalten. Wir sind nicht länger bereit, Brosamenzu akzeptieren.
Ich unterstreiche: Nicht nur Frauen haben dies erkannt,sondern bereits auch viele Männer. Gemeinsam müssenwir diese Aufgabe lösen.
Im Dezember des vergangenen Jahres haben unsereKolleginnen Dorothee Bär, Ekin Deligöz, SibylleLaurischk, Cornelia Möhring, Rita Pawelski und DagmarZiegler gemeinsam mit den Vertreterinnen von sechs Ver-bänden die Berliner Erklärung vorgestellt, in der sie eineMindestquote von 30 Prozent Frauen in Aufsichtsrätenals ersten Schritt zu einer geschlechtergerechten Beset-zung von Entscheidungsgremien der Wirtschaft fordern.Dies ist eine sehr gute Initiative.
Die Reaktionen waren und sind interessant. Es gibtein großes Echo in den Verbänden, den Gewerkschaften,den Kirchen und den Frauenverbänden aller im Bundes-tag vertretenen Fraktionen. Ich denke, es wäre gut, wennwir hier gemeinsam ein Zeichen setzen und Sie vielleichtdie heutige Debatte bzw. die Woche des Frauentages nut-zen, um diese Erklärung zu unterzeichnen. Ich helfegern: www.berlinererklaerung.de. Per iPad können Siedas sofort erledigen.
Ich denke, der Entwurf der SPD kommt zum richtigenZeitpunkt. Wir werden ihn unterstützen. Sie haben sehrdetailliert gearbeitet und präzise dargelegt, wie man dieBesetzung der Aufsichtsräte und der Vorstände ohneAusnahmemöglichkeiten regeln kann. Das finde ich gut.Ich glaube aber, wir sollten noch einmal gemeinsamüberlegen, ob die Frage der Sanktionen, die verhängtwerden können, wenn in einem Unternehmen nichts pas-siert, ausreichend geregelt ist. Aber dafür ist ja genugBeratungszeitraum da.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich istfür mich, für die Linke und für viele Frauen hier imSaale die Besetzung von Aufsichtsräten und Vorständennur ein erster Schritt hin zu einer geschlechtergerechtenBesetzung aller Arbeitsplätze in den Unternehmen. Es
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19752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Dr. Barbara Höll
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ist absurd, dass Frau Schröder gestern versucht hat, dieseDebatte als Elitediskussion abzuqualifizieren.
Dies ist vielmehr ein wichtiger erster Schritt, den vieleWählerinnen und Wähler unterstützen. Freiwillige Ver-pflichtungen haben nichts verändert. Wir müssen endlichtätig werden.
Frau Schröder redet in der heutigen Debatte ja garnicht; vielleicht ist es auch besser so.
Was sie gestern gesagt hat, war schon sehr abstrus. Siehat gesagt, wer sie nicht bei der Flexiquote unterstütze– die nichts anderes ist als wieder einmal nur eineSelbstverpflichtung –, der würde diesem Ziel in den Rü-cken fallen. Darauf muss man erst einmal kommen –aber okay.
An anderer Stelle hat sie sich noch klarer geäußert.Dem Wiesbadener Kurier gegenüber sagte sie:Eine starre Quote halte ich grundsätzlich für proble-matisch.
Es ist nicht Aufgabe des Staates, den verschiedens-ten Unternehmen ein und dieselbe Quote zu verord-nen.
Das Grundgesetz gilt doch wohl für alle, oder?
Frauen und Männer sind gleichberechtigt, und zwar inallen Unternehmen. Das ist die Zielstellung, und dazubekennen wir uns.Ich glaube, wir haben die große Chance, noch in die-sem Jahr einen Gesetzentwurf zu verabschieden undendlich international aufzuholen. Wir können die Wei-chenstellung vornehmen, Frauen in der Wirtschaft inFührungspositionen zu bringen. So könnten wir bewir-ken, dass die Frauen in Führungspositionen mit dazubeitragen, dass alle Arbeitsplätze tatsächlich geschlech-tergerecht besetzt werden.Frauen haben einen anderen Blick. Genau deshalb ar-beiten Unternehmen, die gemischte Führungsgremienhaben, erwiesenermaßen besser. Frauen sorgen nämlichoftmals für ein besseres Betriebsklima. Frauen ist zumBeispiel klar, dass man dann am besten arbeiten kann,wenn man weiß, dass die Kinder gut versorgt sind. Dafürstehen Frauen. Ich glaube, dieses Thema ist es wert, dasswir uns gemeinsam dafür einsetzen. In diesem Sinnewerbe ich für den Gesetzentwurf der SPD. Unsere Un-terstützung haben Sie.
Danke.
Der Kollege Marco Buschmann hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich möchte mich zunächst einmal bei den Erstel-lern der Beratungsgrundlage bedanken.
Die Erstellung eines Gesetzentwurfes ist immer eine be-sondere Leistung,
die über die Erarbeitung eines bloßen Entschließungsan-trags hinausgeht. Auch wenn uns das Ziel der Chancen-gerechtigkeit von Männern und Frauen in diesem Hauseeint,
wird Sie nicht verwundern, dass wir als FDP-Fraktiondiesen Gesetzentwurf nicht unterstützen werden.
Denn das Instrument einer allgemeinen Zwangsquote fürdie Leitungsorgane der Privatwirtschaft halten wirschlichtweg für falsch. Warum das so ist, möchte ich mitdrei grundsätzlichen Bemerkungen begründen.
Die erste Bemerkung lautet: Zwangsquoten bringennichts. Sie bringen keinen gesellschaftlichen Fortschritt,
und sie bringen kaum einer Frau etwas.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19753
Marco Buschmann
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Von einer Zwangsquote würde allenfalls eine verschwin-dend geringe Anzahl von Frauen profitieren.
Nehmen wir das Beispiel der immer wieder zitiertenGruppe der DAX-Vorstände.
Dabei geht es um 450 bis 500 Personen in Deutschland.40 Prozent davon – abzüglich der Frauen, die bereits inAmt und Würden sind – sind weniger als 200 Frauen.
Bezogen auf die 15 Millionen erwerbstätigen Frauen inDeutschland ist das eine Quote von – hören Sie genauzu! – 0,00001.
Von Ihrer Zwangsquote würde nur jede Hunderttau-sendste berufstätige Frau profitieren. Bezogen auf dieGesamtbevölkerung wäre es gar nur jede Fünfhundert-tausendste Frau.
Sie betreiben hier keine Gesellschaftspolitik. Was Siebetreiben, ist ein Elitenprojekt für die Champagneretage.
Herr Kollege Buschmann, Frau Ziegler würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchte Sie sie zulas-
sen?
Wer?
Frau Ziegler.
Ja. Sehr gern.
Bitte schön.
Ich weiß nicht, warum Sie den Begriff einer gesetzli-
chen Zwangsquote verwenden; denn das hat nichts mit
Zwang zu tun. Sonst wären alle Gesetze Zwangsgesetze.
Das halte ich für eine sehr verwerfliche Formulierung
von Ihnen.
Wenn Sie aber sagen, dass der Nutzen einer solchen
Quote so gering sei, warum fürchten Sie sie dann?
Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie müssen stehen blei-
ben, damit ich Ihre Frage beantworten kann.
Die erste Antwort auf Ihre Frage ist: Ich nenne das
Zwangsquote, weil sich die gesetzliche Quote dadurch
von der Selbstverpflichtung unterscheidet, dass die Re-
gelung notfalls mit gesetzlichem Zwang durchgesetzt
wird. Deshalb ist die Bezeichnung „Zwangsquote“
selbstverständlich zutreffend; denn sie unterscheidet sich
auch nicht von anderen Formen des gesetzlichen
Zwangs.
Das Zweite ist: Ich fürchte eine Quote überhaupt
nicht. Die Quote ist allerdings ein Instrument, das nichts
bringt, und was nichts bringt, gehört nicht ins Bundesge-
setzblatt. Das Bundesgesetzblatt gehört nicht aufgebläht
mit überflüssigen Maßnahmen. Das ist meine Antwort
auf Ihre Frage.
Herr Kollege, es gäbe noch eine zweite Zwischen-
frage zur Verlängerung Ihrer Redezeit, und zwar eine
Frage des Kollegen Oppermann.
Sehr gern.
Unter Männern. – Herr Oppermann, bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege, Sie sagen, dass freiwil-lige Vereinbarungen zur Besetzung von Spitzenpositio-nen mit Frauen ausreichen, dass diese Vereinbarungengut funktionieren. Daher frage ich Sie, ob Sie wissen,wie viele Frauen in der Bundesregierung von der FDPgestellt worden sind. Die FDP war 46 Jahre lang an derBundesregierung beteiligt. Wissen Sie, wie viele FDP-Frauen in dieser Zeit ein Ministeramt bekleidet haben?
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19754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
(C)
(B)
Das ist eine hochinteressante Frage, die aber nichts
mit dem Thema der heutigen Debatte zu tun hat und des-
halb neben der Spur liegt.
Heute geht es um Leitungsorgane in der Privatwirt-
schaft. Insofern halte ich das für eine Nebelkerze, die Sie
hier zünden. Das ist meine Antwort auf Ihre Frage.
Herr Oppermann möchte eine zweite Fragen stellen.
Herr Buschmann entscheidet, ob er diese zulässt.
Selbstverständlich. – Herr Kollege Oppermann, auch
für die zweite Nebelkerze bin ich sehr dankbar.
Ich habe nur die Frage stellen wollen, ob Sie wissen,
wie viele Ministerinnen die FDP gestellt hat. Wenn Sie
das nicht wissen, kann ich Ihnen helfen. Es waren näm-
lich zwei FDP-Ministerinnen in 46 Jahren.
In dieser Zeit hätten Sie aber doch die Möglichkeit
gehabt, hochqualifizierte FDP-Frauen ins Kabinett zu
holen. Warum ist das nicht geschehen?
Sehr geehrter Herr Kollege Oppermann, die Frage,
wen wir ins Kabinett schicken und wie sich Kabinette
zusammensetzen, hat mit der Frage, wie sich Leitungs-
organe der Privatwirtschaft zusammensetzen, schlicht-
weg nichts zu tun.
Herzlichen Dank.
Würden Sie Herrn Beck auch noch eine Frage stellen
lassen?
Mit Rücksicht auf die Redner der nachfolgenden De-batten meine ich, dass wir in der Debatte vorwärtskom-men sollten. Insofern lehne ich diese Zwischenfrage jetztab.Zwangsquoten verhelfen den betroffenen Gesell-schaften auch nicht zu mehr Ausgewogenheit in der Ge-samtbelegschaft. Ich habe an dieser Stelle schon sehrhäufig auf die sozialwissenschaftlichen Belege dafürhingewiesen, dass die einfache Formel „Frauen obenfördern Frauen unten“ empirisch schlicht falsch ist. StattZwangsquoten bedarf es echter Gesellschaftspolitik.Dazu gehören intelligente Arbeitszeitmodelle auch fürFührungskräfte sowie vor allen Dingen verlässliche Kin-derbetreuungsmöglichkeiten, und zwar jenseits der nor-malen Kernarbeitszeiten; denn hier treten sehr häufigProbleme auf. Eine Zwangsquote bietet all das aber na-türlich nicht.Meine zweite grundsätzliche Anmerkung lautet: TunSie bitte nicht immer so, als ob gar nichts passierenwürde. Sie haben natürlich recht – und das ist auch miteine Antwort auf die Frage des Kollegen Oppermann –,wenn Sie sagen, dass die Vereinbarungen der rot-grünenBundesregierung selbstverständlich nichts gebracht ha-ben. Auch wir attestieren Ihnen gerne vollständiges Ver-sagen. Ignorieren Sie aber doch bitte nicht, dass es 2010eine Änderung des Corporate Governance Kodex mitneuen Regeln für mehr Frauen in Vorständen und Auf-sichtsräten gab.
Wenn Sie den Anteil der Frauen in der Gruppe derdann neu gewählten Vorstände mit ihrem Anteil in die-sen Gremien insgesamt vergleichen, dann stellen Siefest, dass der Faktor 4 beträgt.
– Ein Faktor 4 ist nicht nichts! Natürlich ist das Niveaunoch niedrig, aber dieser Faktor 4 ist ein erster Schritt indie richtige Richtung.
Damit komme ich zu meiner dritten Bemerkung. Hö-ren Sie bitte auf, immer die Privatwirtschaft an den Pran-ger zu stellen. Sie tun immer so, als ob das eine Insel derFortschrittsverweigerer wäre,
die man mit Zwangsmitteln bessern müsse. Frau Kolle-gin Voßhoff hat bereits darauf hingewiesen, dass sichdiese Probleme auch in anderen Organisationen finden,denen Sie seltsamerweise nicht mit Zwang zu Leibe rü-cken wollen.Ich nenne zum Beispiel die Tatsache, dass die größtenArbeitgeber in Deutschland gar keine privatwirtschaftli-chen Unternehmen mehr sind. Das sind nämlich die ge-meinnützigen Wohlfahrtsverbände. Schauen Sie sich dieVorstände dieser Unternehmen an, in denen überpropor-tional viele Frauen beschäftigt sind. Ist da denn Ge-schlechtergerechtigkeit in Ihrem Sinne verwirklicht?Der Paritätische Gesamtverband hat einen Vorstandmit sieben Mitgliedern. Eines davon ist weiblich. Warumrücken Sie denen denn nicht zu Leibe? Oder schauen Siesich den Bereich der politischen Bildung an. Bei derSPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung gibt es elf ordentli-che Vorstandsmitglieder. Zwei davon sind weiblich.
Warum rücken Sie denen denn nicht mit Zwang zuLeibe?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19755
Marco Buschmann
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Sie sind also der Meinung, dass man mit Zwang ar-beiten muss. Warum aber nicht bei denen? Ist gemein-nützige Arbeit etwa weniger wert?
Ich glaube das nicht. Ich sage Ihnen, warum Sie dasnicht tun und warum Sie bei diesen Organisationen knei-fen: wegen all der SPD-Funktionäre in den Gremien die-ser Organisationen, die Sie dann nämlich auf die Straßesetzen müssten, um die Quoten zu erfüllen. Dass Sie dortkneifen, ist Ausdruck reiner Lobbypolitik im Sinne derSPD und der männlichen SPD-Funktionsträger.
Neben diesen drei grundsätzlichen Bemerkungenkönnte ich auch noch jede Menge rechtstechnischer Un-gereimtheiten und großer Ungerechtigkeiten für kleineGesellschaften in dem Entwurf ansprechen. Zum Bei-spiel ist Ihre 20-Prozent-Quote für die kleinen AGs fak-tisch eine 50-Prozent-Quote. Auf all das werden wir imRahmen der zweiten Lesung aber noch zu sprechenkommen. Die FDP bleibt bei ihrem klaren Nein zuZwangsquoten.Herzlichen Dank.
Ekin Deligöz hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Debatte, die wir hier führen, löst bei mir ambiva-lente Gefühle aus. Zum einen freue ich mich, dass dieDebatte fortgesetzt wird, dass nach dem Gesetzentwurfder Grünen auch die SPD einen Gesetzentwurf vorlegtund zeigt, wie es gehen kann, und dass wir eine breiteZustimmung der Frauen in diesem Haus für eine gesetz-liche Frauenquote haben. Zum anderen schmerzt esmich, ehrlich gesagt, solchen Reden zuhören zu müssen.
Noch mehr schmerzt es mich, dass die zwei zuständigenMinisterinnen es noch nicht einmal für notwendig hal-ten, in diesem Raum zu sein.
Ich habe aus den Reihen der CDU/CSU gehört, diezuständige Ministerin von der Leyen sei ja da. Ichwünschte mir, Frau von der Leyen wäre die zuständigeMinisterin, weil sie die Zeichen der Zeit erkannt hat.
Die zuständige Frauenministerin hält es noch nichteinmal mehr für nötig, sich für eine Flexiquote einzuset-zen. Stattdessen glänzt sie hier durch Abwesenheit. Sieist in der großen weiten Welt unterwegs und nicht hier,um Politik zu machen. Das ist das Problem, das wir hierhaben. Das sollten auch Sie erkennen. Ihre Frauen, diesich für die Sache einsetzen, müssen sich nach hintensetzen und dürfen hier vorne nicht das Wort ergreifen.Das sollten Sie einmal wahrnehmen.
Wie viel Zeit wollen Sie eigentlich noch vertrödeln,bevor Sie die Zeichen der Zeit erkennen? Was soll dennnoch alles geschehen? Viel schlimmer noch: Wie starkwill diese FDP Frauen in diesem Land noch diffamie-ren?
Dazu will ich Ihnen ein Beispiel nennen: In dieser Wo-che sagte Herr Patrick Döring
im Hamburger Abendblatt, das Thema Frauenquote seiein „Luxusprogramm“.
Falls Sie es nicht mitbekommen haben: Gleichberechti-gung ist in diesem Land kein Luxusprogramm, meineHerren.
Ich sage bewusst „meine Herren“; denn der Anteil derDamen ist in Ihrer Fraktion ja verschwindend gering.Es ist kein Luxus, sich in diesem Land für Gleichbe-rechtigung einzusetzen; das steht vielmehr in unsererVerfassung. Sie sind verpflichtet, sich dafür einzusetzen.Dieser Verpflichtung müssen wir endlich nachkommen.Die Diffamierung von Frauen in diesem Land stehtkeiner Fraktion in diesem Haus zu. Sie sollten sich fra-gen, wie weit Sie damit kommen werden.
Warum wollen wir die Frauenquote? Warum kämpfenwir dafür? Weil es um die Sache geht. Es geht um die In-halte; die Quote ist kein Selbstzweck. Wir wissen: Erstmit dem weiblichen Blick in den Führungsstrukturenkönnen wir auch etwas für die Arbeitnehmerinnen insge-
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Ekin Deligöz
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samt tun. Damit können wir etwas in der Geschäftskulturund in den Führungs- und Personalstrukturen ändern.Auch deshalb wollen wir mehr Frauen in den Füh-rungsetagen. Wir wollen die festgefahrenen männlichenStrukturen aufbrechen. Es gibt auch genug Männer,denen diese festgefahrenen Strukturen nicht gefallen.Deshalb wollen wir Frauen in den Führungsetagen. Wirwollen die Besten der Besten aus diesem Land in verant-wortungsvollen Positionen, statt nur deshalb auf Talentezu verzichten, weil es weibliche Talente sind.
Wir wollen Wettbewerbsfähigkeit, und wir wollen dieWirtschaft stärken. Lesen Sie die Studien, die es dazugibt. Wenn Frauen an der Spitze stehen, dann sind Unter-nehmen viel besser dran als die mit einer reinen Männer-spitze. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, wenn Sietatsächlich eine gute Wirtschaftspolitik machen wollen,meine Herren von der FDP. Auch darum geht es bei derFrauenquote.
Die Berliner Erklärung zeigt, dass es im Bundestaggenug Frauen gibt, die verstanden haben, worum es geht.Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die SPD hatnun auch einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir beweisen,dass es möglich ist. Wir können das machen.Die Frauen in den Unternehmen beweisen: Es gibt ge-nug qualifizierte Frauen. Inzwischen gibt es Datenban-ken, die zeigen, wie viele Frauen nicht nur dafür infragekommen, sondern auch bereit sind, verantwortungsvolleFührungspositionen zu übernehmen. Es gibt dieseFrauen.Diese Chance hat das Land. Diese Chance nicht zu er-greifen, wäre eine Schande. Absichtserklärungen reichenuns nicht mehr; wir wollen mehr.Frei nach dem Sozialphilosophen Charles Fourier, derdas bereits im 18. Jahrhundert sagte, gilt: Der sozialeFortschritt erfolgt nur dann, wenn wir auch Fortschrittein den Rechten der Frauen manifestieren. – Was damalsgesagt wurde, gilt noch heute.
Wenn Sie eine Modernisierungspartei sein wollen,dann müssen Sie das ernst nehmen. Ohne Frauen wirddas nicht funktionieren.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Stephan Harbarth für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, bei allenUnterschieden, die heute zutage getreten sind, solltenwir uns zunächst einmal vor Augen führen, wo wir ei-gentlich beieinander sind. Ich glaube, wir sind in der Be-wertung der Ausgangslage relativ eng beieinander. Wirsind relativ eng beieinander in der Feststellung, dass derFrauenanteil gerade in den großen Unternehmen inDeutschland viel zu niedrig ist. Das zeigt etwa ein Blickauf die Vorstände der DAX-Unternehmen mit einemFrauenanteil von weniger als 5 Prozent. Das ist inakzep-tabel. Darin teile ich uneingeschränkt Ihre Auffassung,Frau Kollegin Högl.Unterschiedlicher Auffassung sind wir in der Frage,welche Konsequenzen wir ziehen müssen, um das Zielder Erhöhung des Frauenanteils besser zu erreichen. Da-bei haben wir die grundsätzliche Frage zu beantworten,ob wir auf starre Vorgaben und starre Lösungen oder aufflexible Modelle und passgenaue Lösungen setzen.Aus unserer Überzeugung ist Letzteres der bessereWeg. Warum? Ein Blick auf unsere Wirtschaft zeigt: Wirhaben sehr unterschiedliche Branchen mit völlig unter-schiedlichen Frauenanteilen. In der Branche der Energie-wirtschaft und Wasserversorgung liegt der Frauenanteilbei 14 Prozent. In der Baubranche beträgt der Frauenan-teil 17 Prozent. Im Maschinenbau sieht es wenig besseraus. Wenn wir in den Dienstleistungsbereich schauen,stellen wir fest: Es gibt Branchen, in denen der Frauen-anteil über 50 Prozent – mitunter weit über 50 Prozent –liegt.So klar es ist, dass es ungerecht ist, wenn Frauen undMänner in der Arbeitswelt unterschiedlich behandeltwerden, so klar ist nach meiner Überzeugung auch: Esist ungerecht, eine Quote von 40 Prozent über alle Unter-nehmen zu legen –
völlig unabhängig davon, ob das eine Branche mit einemFrauenanteil von 17 Prozent ist oder eine Branche miteinem Frauenanteil von 60 oder 70 Prozent. Das passtnicht. Deshalb ziehen wir passgenaue und maßgeschnei-derte Lösungen vor.
Wenn Sie erklären, wie eben wieder geschehen, dassei alles auch im wohlverstandenen Interesse der Unter-nehmen – es gebe ja Studien, die belegten, dass Unter-nehmen dann besser geführt würden –, müssen Sie sichschon fragen lassen, warum Sie Ihren Gesetzentwurf ei-gentlich so eng angelegt haben.Diese Studien führen nämlich nicht nur zu dem Er-gebnis, dass Vorstände, Aufsichtsräte und sonstige Gre-mien besser arbeiten, wenn in ihnen beide Geschlechterangemessen berücksichtigt sind. Vielmehr sprechendiese Studien für mehr Diversität in einem viel breiterenSinne.
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Dr. Stephan Harbarth
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Sie plädieren dafür, etwa die unterschiedlichen berufli-chen Hintergründe, die Menschen haben, stärker zu be-rücksichtigen und darauf zu achten, dass nicht nur Tech-niker, Kaufleute oder Juristen in den Gremien sitzen,sondern dass es eine gesunde Mischung gibt. Diese Stu-dien besagen: Es kommt auch auf die regionale Herkunftan; Aufsichtsgremien, denen Europäer und vielleichtAmerikaner oder Asiaten angehören,
sind aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit Gremien, die zueinseitig besetzt sind, vorzuziehen.Wenn Sie aus diesen Studien nur ein Segment heraus-greifen, das Ihnen gerade opportun erscheint,
setzen Sie sich schon dem Vorwurf aus, dass Ihr Gesetz-entwurf zu eng angelegt ist.
Meine Damen und Herren, Sorgen bereitet mir bei Ih-rem Entwurf, dass er in seinem Anwendungsbereichweit über die DAX-30-Unternehmen hinausgeht, an diewir in der Diskussion häufig denken.
Sie wollen nämlich den Anwendungsbereich auf mitbe-stimmte Unternehmen ausdehnen.Wir haben in Deutschland 700 paritätisch mitbe-stimmte Unternehmen. Wir haben 1 500 drittelparitä-tisch besetzte Unternehmen.
– Ich weiß, dass Sie schon immer gewisse Probleme mitdem Mittelstand hatten. Der passt nicht so sehr in IhrWeltbild wie Großkonzerne.
Wir sind der festen Überzeugung, dass gerade diemittelständischen Betriebe das Herz unserer Wirtschaftsind. Darunter sind viele Betriebe, die nicht von morgensbis abends von der Sorge geplagt sind, wie sie möglichstviel Frauenfeindlichkeit und Frauenbenachteiligung um-setzen könnten. Vielmehr gehen diese Betriebe sehrpragmatisch vor. Das sind häufig Familienunternehmen,in denen die Frage, wie ein Geschäftsführungsorganoder ein Beiratsorgan in der nächsten Generation besetztwird, schlicht und ergreifend davon abhängt, ob die Un-ternehmerfamilie in der nächsten Generation vielleichtzwei Töchter oder ob sie zwei Söhne hat.
Warum Sie in Ihrem Regelungsansatz weit über diebörsennotierten Großunternehmen hinausgehen und sa-gen: „Wir wollen in all diese Unternehmen hineinregie-ren“, ist für uns nicht nachvollziehbar. Es gibt Familien-unternehmen, in denen es seit jeher Tradition war, dassdas Unternehmen von Mitgliedern der Familie geführtwird. Wenn das Unternehmen in einer Generation ebenzwei weibliche Familienmitglieder hat, die das Unter-nehmen führen möchten: Warum nicht? Warum mussdann unbedingt ein männlicher Fremdgeschäftsführereingestellt werden?
Ein weiterer Punkt kommt hinzu: die kurzen Über-gangsfristen. Frau Kollegin Högl, Sie haben gesagt, dassSie niemanden rauswerfen möchten. Was die Aufsichts-ratswahlen betrifft, mögen Sie mit Ihrem Regelungsan-satz recht haben. Im Hinblick auf die Vorstände und dieGeschäftsführer haben Sie nicht recht. In aller Regelwerden Geschäftsführerverträge eben nicht für ein paarMonate abgeschlossen, sondern für drei, vier oder fünfJahre. Wenn Sie jetzt sagen: „Wir wollen ab 2013 Neure-gelungen haben“, führt das für viele Unternehmen dazu,dass sie das Problem auf der Geschäftsführungsebenenicht einfach bei der nächsten routinemäßigen Beset-zung lösen können. Für diese Unternehmen führt esschlicht und ergreifend dazu, dass sie neben den Ge-schäftsführern, die sie im Augenblick haben, weitereGeschäftsführer einstellen müssen und sich damit dieKosten für das Unternehmen erhöhen. Das mag beiGroßunternehmen eine vernachlässigbare Größe sein.Für einen mittelständischen Unternehmer macht es abereinen Unterschied, ob er zwei, drei oder vier Geschäfts-führer bezahlen muss.
Nach meiner Meinung stellen Sie in Ihrem Gesetzent-wurf diese Thematik in keinen ausreichend breiten Zu-sammenhang. Es geht auch um Fragen der Frauenförde-rung weit unterhalb der Vorstandsebene. Wir müssensicherstellen, dass der Anteil weiblicher Führungskräftezunimmt, damit im Sinne einer nachhaltigen Entwick-lung Frauen in Vorstände und Aufsichtsräte quasi hinein-wachsen können. Wir sind in der Union der Auffassung,dass der richtige Weg nicht eine starre Quote, sondernein Konzept ist, das sich an einen Stufenplan anlehnt. Inder Tat kann es kein Weiter-so wie in den letzten Jahrengeben. Aber wir brauchen keine einheitliche, pauschalie-rende Quote für alle Unternehmen, sondern eine maßge-schneiderte Lösung, die branchenspezifischen Besonder-heiten und der jeweiligen Situation der UnternehmenRechnung trägt.
Dass ein solcher Gesetzentwurf vorgelegt wird unddass einzelne Reden mit Heftigkeit, Vehemenz und mit-unter sogar mit Schärfe vorgetragen werden, hat mögli-cherweise etwas damit zu tun, dass von der Frauenpoli-tik der rot-grünen Bundesregierung eigentlich nichtmehr in Erinnerung geblieben ist als die dümmliche Be-merkung des damaligen Kanzlers, Frauenpolitik sei Ge-döns. Herr Kollege Oppermann, falls Sie sich nicht mehrrichtig erinnern können: Es ist Gerhard Schröder, vondem das stammt.
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Dr. Stephan Harbarth
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Aber dass dümmliche Äußerungen von Gerhard Schröderkeine Seltenheit sind, haben wir auch in dieser Wochezur Genüge erleben dürfen.
Wir werden mit der Umsetzung unseres Konzepts,das vorsieht, den Frauenanteil mit maßgeschneidertenLösungen zu erhöhen, fortfahren.
Wir werden aber jede Vorlage, die auf Quotierung, Re-gulierung und staatlichen Dirigismus setzt, ablehnen.Vielen herzlichen Dank.
Caren Marks hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit derLippenbekenntnisse muss endgültig vorbei sein. Sie,meine Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,erhalten von uns, der SPD-Bundestagsfraktion, die Gele-genheit, sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Ta-ten zu beteiligen.
Allen, die es mit der Forderung nach mehr Frauen inFührungsfunktionen – mindestens 40 Prozent Frauen inAufsichtsräten und Vorständen – wirklich ernst meinen,können am Ende des parlamentarischen Verfahrens un-serem Gesetzentwurf zustimmen.
Wir freuen uns über alle, die diese parlamentarische Ini-tiative konstruktiv begleiten und unterstützen. Nachdembei der schwarz-gelben Regierungskoalition Fraktions-disziplin ja keine so große Rolle mehr spielt, hoffe ichnatürlich auf Unterstützung auch aus Ihren Reihen.
Denn damit erhielten auch all die gesellschaftlichenKräfte, die sich für eine Quotenregelung engagieren, einklares, ein notwendiges Signal aus der Politik.Ich denke dabei zum Beispiel an den Deutschen Juris-tinnenbund und seine engagierte Aktion „Aktionärinnenfordern Gleichberechtigung“. Erst letzte Woche habenführende Journalistinnen einen Aufruf gestartet, um eine30-Prozent-Quote in den Chefetagen der Redaktioneneinzufordern. Heute, ganz aktuell, ist nachzulesen, dassselbst Olaf Henkel eine gesetzliche Quote in Aufsichts-räten fordert.
Diese Beispiele machen deutlich: Große Teile unsererGesellschaft fordern unüberhörbar die angemessene Be-teiligung von Frauen ein. Und ich sage: Recht haben sie!
Dennoch ist diese Bundesregierung handlungsunwil-lig, wenn es um Frauen- und Gleichstellungspolitik geht.Das beste Beispiel dafür ist uns zu Beginn dieser Wochegeboten worden: Da verbittet sich Ministerin Schröder,die es heute noch nicht einmal nötig hat, anwesend zusein,
und die eigentlich auch Frauenministerin sein sollte,weitere Einmischungen. Deutschland brauche keine bü-rokratischen Vorschriften und Belehrungen aus Brüssel.
Wir hingegen, die SPD-Bundestagsfraktion, begrüßenausdrücklich das Engagement der EU-KommissarinViviane Reding für gesetzliche Regelungen.
Frau Reding hat uns sehr deutlich vor Augen geführt,wie schlecht es bei uns in Deutschland um den Anteilvon Frauen in Führungspositionen im europäischen Ver-gleich aussieht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Besetzungvon Vorstandsposten finden wir Frauen uns in Deutsch-land am Schluss wieder. Bei den Aufsichtsratsmandatenrangiert Deutschland im unteren Drittel. Selbst diesePosition ist nur der Tatsache geschuldet, dass die Rateder entsandten Frauen auf der Arbeitnehmerseite höherist. Das ist beschämend. Frauen sind bei den Schlüssel-positionen der deutschen Wirtschaft weiterhin außen vor.Überwiegend prägen reine Männerrunden die Unterneh-menskultur und damit die Arbeitswelt in unserem Land.Trotz dieser Tatsachen handelt die Bundesregierungnicht. Frau Schröder setzt weiter unbeirrt auf die Frei-willigkeit der Wirtschaft, und diese Woche konnten wirden Medien entnehmen, dass sie vor der FDP einge-knickt sei und selbst ihre wachsweiche Flexiquote zuden Akten gelegt habe. Diese Regierung kommt frauen-politisch einfach nicht voran. Sie ist zerstritten, und sieist somit handlungsunfähig. Wir haben eine Bundes-frauenministerin, die durch ihre „Nichthaltung“ und ih-ren Beitrag in der gestrigen Debatte zum InternationalenFrauentag signalisiert, dass ihr dieses Thema eigentlichegal ist.
Außerdem haben wir eine Bundesarbeitsministerin,die jetzt, dank einer gereiften Erkenntnis, eine gesetzli-che Quote von 30 Prozent fordert. Als sie noch Frauen-ministerin war, habe ich ein entsprechendes Engagementvermisst. Aber ich sage ganz ehrlich: Ich freue michüber Ihre Unterstützung. Ich finde es auch gut, dass Sie
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Caren Marks
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heute hier sind und damit ein Zeichen setzen, Frau vonder Leyen.
Dann ist da noch eine Bundesjustizministerin, die ichheute genauso wie die Frauenministerin vermisse. Sie istgleichstellungspolitisch uninteressiert und ignoriert dieMeinung ihrer Länderfachkolleginnen und -kollegen.Diese haben nämlich auf der Justizministerkonferenz imMai letzten Jahres festgehalten, dass die Einführung ei-ner bundesgesetzlich geregelten Geschlechterquote drin-gend geboten ist. Und was macht die Kanzlerin? Nichts!Sie ist handlungsunwillig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz anderer Ver-lautbarungen von Frau Schröder ist gleichstellungspoli-tisch in diesem Land in den letzten Monaten nichts pas-siert. Der von Frau Schröder bejubelte Quotengipfel imOktober 2011 ist im Ergebnis mehr als peinlich. Solchefreiwilligen Unverbindlichkeiten führen nicht zum Ziel.Ich kann allen nochmals empfehlen: Sehen Sie sich dieEntwicklung in Norwegen an: Dort ist der Frauenanteilin den Aufsichtsräten von 7 auf 42 Prozent gestiegen.
Das belegt eindeutig: Wenn es einen Schlüssel zumErfolg gibt, dann ist es die gesetzliche Quote. AndereLänder sind diesem Beispiel im Übrigen inzwischen be-reits gefolgt.
Nur in Deutschland glaubt die Bundesregierung auchnach über zehn Jahren freiwilliger Vereinbarung – ja,woran eigentlich? An ein Wunder? Die geschehen erfah-rungsgemäß selten, eigentlich nie.Wir von der SPD-Fraktion warten nicht auf Wunder,sondern legen heute einen Gesetzentwurf vor. Damitwird ein entscheidender Beitrag für eine chancenge-rechte Teilhabe von Frauen in den Aufsichtsräten undVorständen ermöglicht, und dies nicht nur bei den bör-sennotierten, sondern auch bei den mitbestimmten Un-ternehmen. Eine gesetzliche Quote wird mehr Frauen inFührungspositionen bringen. Am Ende zählt das Ergeb-nis. Auch wird die Quote eine Signalfunktion für die Un-ternehmenskultur und für die Arbeitswelt in unseremLand haben.Allen Kritikerinnen, die betonen, sie wollten keineQuotenfrauen sein, kann ich nur sagen: Die Quote öffnetlediglich die Tür. Beweisen müssen sie sich ohnehinselbst.
Unser Gesetzentwurf bürdet den Unternehmen keineLast auf, im Gegenteil: Mehr Frauen in Führungsfunk-tionen erhöhen die Chancen auf einen wirtschaftlichenErfolg. Dies belegen auch diverse Studien. Außerdemkommt unser Gesetzentwurf ohne finanzielle Sanktionenund ohne Härtefallregelungen aus. Wenn die Quote nichteingehalten wird, bleibt der Stuhl leer. Ich bin mir sicher:Dieser wird nicht lange leer bleiben. Auf ihm wirdschnell eine kompetente Frau Platz nehmen. Nach kurzerZeit wird darüber kein Wort mehr verloren, so wie inNorwegen.Die Frauen in Deutschland fordern zu Recht Tatenstatt Worte von Regierung und Parlament. Mit Ihrer Zu-stimmung zu unserem Gesetzentwurf lassen wir denWorten Taten folgen. Tatsächliche Gleichstellung mussRealität auch bei uns in Deutschland werden. Ich bin mirsicher: Dafür lohnt es sich, zu kämpfen, auch über dieFraktionsgrenzen hinweg.Herzlichen Dank.
Unser Kollege Jörg von Polheim hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben indieser Debatte schon einiges gehört, einiges Richtigeund viel Falsches.
Deshalb möchte ich als Handwerker und kleiner mit-telständischer Bäckermeister in dieser Debatte auf dieAuswirkungen Ihres Gesetzentwurfs auf den oder dieganz normale Berufstätige eingehen. Während wir Li-berale und Christdemokraten uns mit der Materie „Chan-cengleichheit von Männern und Frauen“ eingehend aus-einandersetzen und eventuell auch unpopuläreMeinungen vertreten, weil wir sie für richtig halten, for-dert die SPD einen Stufenplan für eine 40-Prozent-Min-destquote für börsennotierte Gesellschaften,
womit man ganz herrlich Schlagzeilen produzierenkann, was jedoch in der Sache nur wenigen Hundert Un-ternehmen und Menschen hilft.
Dass Ihre Initiative zum Thema Quote lediglich anSymptomen herumdoktert und dabei an sämtlichen All-tagsproblemen der Bürgerinnen und Bürger vorbeigeht,soll hier nicht unerwähnt bleiben.Was bringt Ihre Elitenquote für die Mutter von ne-benan, die hart arbeitet und trotzdem Probleme hat, ihrenLebensunterhalt zu sichern? Nichts.
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19760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Jörg von Polheim
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Welche spürbaren Verbesserungen ergeben sich fürjunge Singlefrauen, die zukunftssicher ihr Leben planenmöchten? Keine. Oder anders gesagt: Wem nützt das,was Sie vorschlagen? Niemandem.
Anstatt mit Quotenregelungen staatlichem Zwang dasWort zu reden, sollte es Ihnen, wenn es Ihnen um die Sa-che ginge, vielmehr ein Anliegen sein, Angebote für dieVereinbarkeit von Familie und Beruf zu unterbreiten.Damit wäre den berechtigten Anliegen der Frauen undübrigens auch vieler Männer weitaus mehr geholfen alsmit einer Quote für einige wenige Führungsetagen.
Es geht hier um Chancengleichheit für alle Bürgerin-nen und Bürger. Es geht um reale Fortschritte bei derKoordinierung von Kind und Karriere. Es geht um Men-schen in unserem Land, um bessere Aufstiegschancenfür Frauen in der Arbeitswelt, aber nicht um willkürlichfestgesetzte Vorstandsquoten fernab der Lebenswirklich-keit unserer Bürgerinnen und Bürger.Diese Koalition hat viel für die berufliche Chancen-gleichheit getan, mehr als es durch jede Quote erreichtwerden könnte.
Wir haben trotz Haushaltskonsolidierung zusätzliche4 Milliarden Euro für den Rechtsanspruch auf die U-3-Betreuung aufgebracht. Das erhöht die Chancen jedereinzelnen Frau, ihre Karriere individueller zu planen, alses je zuvor der Fall war.
In diesem Zusammenhang sollten Sie einmal zu IhrenGenossen nach Nordrhein-Westfalen schauen. Dort wirdder Ausbau der U-3-Betreuung von der SPD-geführtenLandesregierung massiv gekürzt, und Sie reden hier vonChancengleichheit.
– Schauen Sie einmal in den Landeshaushalt. – DieseBundesregierung hat das Unternehmensprogramm „Er-folgsfaktor Familie“ und die Initiative „Familienbe-wusste Arbeitszeiten“ aufgelegt. Diese Programme sor-gen dafür, dass Familienleben und Arbeitswelt besser inEinklang gebracht werden können. In Zukunft wirddiese Koalition die Elternzeit flexibler gestalten. Durchdiese Flexibilisierung wird es jungen Familien ermög-licht, mit einem Bein im Berufsleben zu bleiben, ohneauf eine Auszeit zum Wohle des Kindes verzichten zumüssen. All diese Initiativen sind weiche Faktoren, dieuns langsam, aber stetig dorthin bringen sollen, wo bei-spielsweise Schweden schon heute ist: mehr Frauen inVorstandsgremien – und das ohne staatlich verordneteQuote. Das ist ernst gemeinte nachhaltige Politik.
Jede unserer Initiativen hilft sowohl den Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern als auch den Arbeitgebernweitaus mehr als die von Ihnen vorgeschlagene Frauen-quote für Vorstandsetagen. Die SPD möchte Frauen mitder Brechstange in die Vorstände bringen;
wir wollen Verbesserungen in der Sache. Sie bedienenKlischees; wir bedienen die Realität.Vielen Dank.
Herr von Polheim, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen
des Hauses recht herzlich und wünsche Erfolg für Ihre
Arbeit hier.
– Küsse werden ins Protokoll aufgenommen; nur damit
das klar ist.
Die nächste Rednerin ist Monika Lazar für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Thema Quote wird in dieser Woche wieder sehrbreit diskutiert. Trotz des Widerstands in der Koalitiongibt es inzwischen eine breite Mehrheit, die sich für dieQuote ausspricht,
unter anderem bei der Frauen Union und bei den Frauenin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ministerin vonder Leyen, die als einzige Ministerin hier zum Glückdabei ist, sagte erst kürzlich im Tagesspiegel: „ImSchneckentempo können wir nicht weitermachen“. Dasist richtig.
Die EU-Kommissarin Reding ist mit ihrer Geduld amEnde und wird handeln. Auch die Berliner Erklärung, fürdie sich Frauen aus allen Fraktionen zusammengefundenhaben und die Tausende von Unterschriften trägt,spricht, denke ich, eine eindeutige Sprache.Die FDP – das hat man auch heute wieder gesehen –hat anscheinend große Angst vor der Quote.
Sie sollten sie ruhig einmal ausprobieren. Ich glaube,dann hätten Sie auch ein paar Probleme weniger.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19761
Monika Lazar
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Generalsekretär Döring beklagt, dass eine gesetzlicheQuote ein Eingriff in das Eigentum der Aktionärinnenund Aktionäre wäre. Damit hat er recht. Aus gutemGrund würde der Gesetzgeber eingreifen: zum Schutzvor Diskriminierung.Auch Herr Brüderle lehnt eine Quote ab. Zitat:„Frauen sind zu unterstützen, weil sie gut sind – nichtweil sie Frauen sind“. Was ist denn das für ein Argu-ment? Das zeigt wieder einmal, dass die FDP das Prinzipder Quote immer noch nicht verstanden hat.
Wenn Sie allen Ernstes behaupten, eine Quote habe mitLeistung nichts zu tun, dann ignorieren Sie die wissen-schaftlichen Ergebnisse zu den Leistungen von Fraueneinerseits und ihren Aufstiegsmöglichkeiten anderer-seits. Wir müssen uns eben die besten Frauen aus demPool heraussuchen und dürfen nicht, als hätten wirScheuklappen auf, nur auf die Männer setzen, die denmeisten Unternehmen als Erstes einfallen.
Die Enttäuschung über die Frauen- und Geschlechter-politik der Koalition sitzt tief. Selbst die dürftigen An-sätze der Frauenministerin werden von der FDP imKeim erstickt. So schrieb die taz am 5. März: „FDPmuckt auf und Frau Schröder knickt ein“, und sie schriebferner von der FDP in „Ignorantenhausen“.Womit die Ministerin allerdings regelmäßig die Me-dien bedient, sind Ankündigungen von Gesetzentwürfen.Wir erwarten, dass sie ihre Vorhaben zuerst mit demKoalitionspartner bespricht, dann uns im Plenum infor-miert, sodass wir es hier diskutieren können. Es kannnicht sein, dass wir immer nur in der Zeitung etwas lesenund dann nichts passiert.Auch die aktualisierten Zahlen aus dem Ministeriums-etat sprechen eine eindeutige Sprache. Besonders über-rascht bin ich darüber, dass beim Titel „Gleichstellungs-politik in der Lebenslaufperspektive“ deutlich wenigerausgegeben werden soll als zunächst geplant. Sie habendoch erst gestern den Antrag zu diesem Thema einge-bracht. Anscheinend ist das nicht mit Zahlen untermau-ert, oder Ihnen fällt nichts dazu ein.Auch zur Flexiquote und zum Stufenplan der Ministe-rin – so niedrig die Ziele darin auch sind – ist im aktuel-len Haushaltsentwurf nichts Passendes mehr drin. Sieuntergraben mit den Zahlen also Ihre eigenen Vorhabenmit den ohnehin schon niedrigen Zielen. Das ist wirklichein Trauerspiel.
In dem Gleichstellungsbericht, den wir gestern mitdiskutiert haben, heißt es sehr eindeutig:Die Kosten der gegenwärtigen Nicht-Gleichstel-lung übersteigen die einer zukunftsweisendenGleichstellungspolitik bei weitem.Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, und handeln Siedanach! Wir wollen nicht mehr länger darauf warten,dass es endlich einmal vorangeht.Die Opposition handelt wieder einmal. Heute stehtder Gesetzentwurf der SPD auf der Tagesordnung. WirGrünen haben vor reichlich einem Jahr einen Gesetzent-wurf zu den Regelungen bei Aufsichtsräten und danachnoch einen Antrag zu den Regelungen bei Vorständeneingebracht. Auch von der Linksfraktion liegen Vor-schläge vor. Ich denke, selbst wenn sich unsere einzel-nen Vorschläge etwas unterscheiden, ist die Richtungdoch die gleiche.
Uns allen sollte klar sein: Freiwillige Vereinbarungenhaben nichts gebracht. Die gläserne Decke lässt sich soeinfach nicht durchbrechen. Ich rufe die Ministerin auf– Herr Kues, richten Sie es ihr bitte aus, da sie heutenicht da ist; vielleicht kommt ja im Laufe der nächstenMonate doch noch etwas –: Wir müssen wirklich han-deln; denn – dies wurde schon angesprochen – die meis-ten der Aufsichtsratsposten werden im nächsten Jahr neubesetzt. Deshalb ist es Zeit, in diesem Jahr etwas vorzu-legen. Die Vorschläge der Opposition liegen vor. SuchenSie sich etwas aus. Wir diskutieren gern im Detail da-rüber. Meine Bitte zum Schluss: Tun Sie endlich etwas!Danke.
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir sind uns sicherlich darin einig, dass es inDeutschland nach wie vor erhebliche Defizite bei derGleichstellung von Männern und Frauen gibt und dassdas namentlich auch in der Privatwirtschaft der Fall ist.Der Anteil von Frauen in Führungspositionen bewegtsich weiterhin auf einem unbefriedigend niedrigen Ni-veau. Deswegen sollte auch Einigkeit darin bestehen,dass das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Nur,wenn wir dieses Thema als eine gesamtgesellschaftlicheAufgabe betrachten, dann muss das auch in unseren De-batten zum Ausdruck kommen. Dann muss es auch eineBeteiligung von Männern an dieser Debatte geben.
Ich stelle fest, dass von der CDU, der CSU und der FDPMänner an dieser Plenardebatte teilnehmen. Ich frageSie von der Opposition: Wo sind Ihre Männer?
Sie lassen die Frauen reden.
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19762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Thomas Silberhorn
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Ihre Männer aber bleiben bei diesem Thema stumm
und rücken damit die Gleichstellung von Frauen in eineNische, in die sie gerade nicht gehört.
Herr Silberhorn, der Kollege Beck hat das jetzt per-
sönlich genommen. Er würde gern eine Zwischenfrage
stellen.
Ich komme gleich zu den Grünen. – Ich erinnere mich
noch sehr gut an die Worte von Bundeskanzler Gerhard
Schröder über Frauen. Er sprach von „Gedöns“. Ich sage
Ihnen sehr deutlich: Sie haben noch nicht viel dazuge-
lernt. Sie als Frauen in der SPD müssen Ihre Männer bei
dieser Diskussion in Mitverantwortung nehmen.
Wie kann es sein, dass in der Tante SPD immer nur On-
kels das Sagen haben? Denn dort, wo es um Spitzen-
funktionen geht – Fraktionsvorsitzende und Parteivorsit-
zende –, finden Frauen in der SPD nicht statt.
Frauen an der Spitze sind in der SPD Fehlanzeige.
Bei den Grünen schaut es nicht allzu viel besser aus,
wenn ich in die Zeitungen der letzten Tage schaue. Die
Financial Times Deutschland titelte am 7. März: „Be-
drohte Art: Die grüne Spitzenfrau“. Es ist die Rede da-
von, dass die Doppelspitze für 2013 infrage gestellt wird
und dass in den Ländern die Doppelspitze vielfach nicht
mehr vorhanden ist. Die ehemalige Kollegin Antje
Hermenau wird mit dem Satz zitiert:
Die Quote ist unverzichtbar für die Erstchance, da-
mit Frauen zeigen können, was sie drauf haben.
Aber weiter heißt es dann:
Für die ganz hohen Weihen ist sie nicht unbedingt
das beste Auswahlkriterium.
Herr Silberhorn, jetzt hat sich Herr Beck noch einmal
gemeldet.
Ich würde gerne fortfahren.
Wir haben in der CDU und in der CSU – von AngelaMerkel bis Gerda Hasselfeldt – kein Problem mit Frauenan der Spitze.
Deswegen sage ich Ihnen sehr deutlich: Die Politik mussin dieser Debatte schon ihre Vorbildfunktion wahrneh-men. Sie alle sollten sich an die eigene Nase fassen undnicht mit dem Finger auf andere zeigen.
Ich möchte deutlich machen – da können Sie mir si-cherlich wieder zustimmen –, dass wir einen ganzheitli-chen Ansatz verfolgen müssen. Gleichstellungspolitik– das ist ein Ergebnis des Ersten Gleichstellungsberichtsder Bundesregierung, über den wir gestern im Plenumdiskutiert haben – soll sich an den grundgegebenen na-türlichen Unterschieden zwischen den Geschlechternorientieren. Es kann nicht darum gehen, unterschiedlicheVerhaltensweisen und unterschiedliche Lebensverläufevon Männern und Frauen zu negieren.
Im Gegenteil, Gleichstellungspolitik muss diese unter-schiedlichen Lebensverläufe ermöglichen. Deshalbbrauchen wir flexible und differenzierte Konzepte fürverschiedene Lebensphasen.Eine gleichberechtigte Teilhabe von Männern undFrauen muss in allen Etappen des Lebensverlaufs ge-währleistet sein.
Dies liegt nicht nur im Interesse der Frauen. Auch Män-ner stoßen oft auf Widerstand
– Sie sollten das nicht lächerlich machen; das ist einFaktum –,
wenn sie selber Verantwortung für ihre Familie, für ihreKinder übernehmen wollen und Elterngeld beantragenoder zugunsten der Familie Teilzeit arbeiten möchten.Deswegen liegt es auch im Interesse der Frauen, dassMänner zunehmend ihren Teil der Verantwortung für dieFamilie wahrnehmen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19763
Thomas Silberhorn
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Natürlich reden wir unstreitig über eine vorhandeneBenachteiligung von Frauen im Erwerbsleben. Das stelltnicht nur eine Beeinträchtigung ihrer individuellenChancengleichheit, sondern auch eine Verschwendunggesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ressourcen dar.Im Hinblick auf die demografische Entwicklung und denwachsenden Bedarf an Fachkräften können wir uns dasschlicht nicht länger leisten. Deswegen sage ich sehrdeutlich: Abwarten und nichts tun ist aufgrund der fest-gestellten Missstände und der offenkundigen Defizitekeine Lösung. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass einefreiwillige Selbstverpflichtung in der Wirtschaft bishernicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt hat. Ich binallerdings der Auffassung, dass die gesetzgeberischeVerantwortung zunächst darin besteht, die Wahrung glei-cher Teilhabe sicherzustellen, und nicht darin, die glei-che Teilhabe selbst zu realisieren. Der Gesetzgeber darfan dieser Stelle nicht über das Ziel hinausschießen, son-dern muss die Eigenverantwortung der Wirtschaft ein-fordern.
Ich darf feststellen, dass hier in den letzten Mona-ten und Jahren ein Umdenken eingesetzt hat. 24 derDAX-30-Unternehmen haben sich im Frühjahr 2011konkrete Ziele zur Erhöhung des Frauenanteils in ihrenAufsichtsräten gesetzt.
Im Herbst vergangenen Jahres haben die DAX-30-Un-ternehmen außerdem verbindliche Zielvorgaben vorge-stellt, um den Anteil von Frauen in Führungspositionenzu erhöhen. Im Jahr 2011 sind 40 Prozent der frei gewor-denen Aufsichtsratssitze in den DAX-30-Unternehmenmit Frauen besetzt worden. In den Vorständen sind wirnoch nicht so weit, aber auch hier ist ein positiver Trendzu verzeichnen.Ein Blick auf die Selbstverpflichtungen der Wirt-schaft zeigt aber auch, dass individuelle Lösungen jenach Größe und Branche der Unternehmen erforderlichsind. Es ist so, dass in vielen Branchen der Anteil vonFrauen an der Gesamtbelegschaft schon relativ niedrigist. Das schlägt natürlich auf die Führungsetagen durch.Führungspositionen werden oft nach einer langjährigenBewährung im Unternehmen vergeben.
Der Personalpool ist begrenzt. In Personalabteilungenund bei Personalagenturen haben Frauen durchaus guteChancen auf Führungspositionen.Die Forderung der Opposition nach starren Quotengeht aber an der Realität vorbei.
Sie wird den spezifischen Gegebenheiten in vielen Un-ternehmen nicht gerecht. Besonders praxisfern finde ichdie Vorstellung, bei einer mangelnden Berufung vonFrauen Stellen vorübergehend unbesetzt zu lassen. Dasist ein massiver Eingriff in die Berufsfreiheit und in dieEigentumsfreiheit der Unternehmen.
Eine Quotenregelung, die die Leistungsfähigkeit einesUnternehmens gezielt schwächt, kann niemanden über-zeugen.Ich bin durchaus der Auffassung, dass eine gesetzli-che Regulierung mithilfe von Quoten als Impuls dienenkann, die Gleichstellung von Frauen voranzutreiben. Wirsind uns sicherlich einig, dass eine stärkere Teilhabe vonFrauen an der Unternehmensführung wirtschaftlich sinn-voll ist, dass sie positive Auswirkungen auf die Leis-tungsfähigkeit und den wirtschaftlichen Erfolg eines Un-ternehmens hat. Die Bundesfamilienministerin hat einStufenmodell vorgelegt, das individuelle spezifische Lö-sungen ermöglicht,
je nach Branche und Größe des Unternehmens. DiesesModell setzt auf Transparenz und auf Wettbewerb, auchunter Beteiligung der Belegschaften und der Öffentlich-keit. Das ist meiner Meinung nach der richtige Weg.
Ich sage Ihnen aber auch: Wir müssen die Arbeitsweltdeutlich familienfreundlicher gestalten, als das heute derFall ist. Dass von Beginn an Frauen deutlich schlechterbezahlt werden als Männer, nämlich im Schnitt um22 Prozent, ist schlicht inakzeptabel.
Im öffentlichen Dienst gibt es das seit Jahrzehnten nichtmehr. Es ist nicht hinnehmbar, dass die freie Wirtschaftnicht das zuwege bringt, was im öffentlichen Dienst seitJahrzehnten der Fall ist.Dass Teilzeit in Führungspositionen nur selten mög-lich ist, ist auch ein Phänomen der Privatwirtschaft, daswir im öffentlichen Dienst so nicht kennen. Selbst dieKinderbetreuung wird im öffentlichen Dienst vielfachbesser sichergestellt als in Unternehmen. Das ist aucheine unternehmerische Aufgabe, weil man nur dann imBeruf leistungsfähig ist, wenn man den Kopf frei hat,weil die Kinderbetreuung sichergestellt ist.
Herr Kollege!
Der öffentliche Dienst hat hier eine Vorbildfunktion,und die Wirtschaft hat erheblichen Nachholbedarf.
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19764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Thomas Silberhorn
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Ich darf mit der Bemerkung schließen: Frauenförde-rung ist eine Führungsaufgabe,
gerade auch für die Männer, die an der Spitze stehen – inUnternehmen, in Verbänden, im öffentlichen Dienst,aber auch in unserer und in Ihrer Partei.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Volker Beck.
Herr Kollege Silberhorn, Sie haben die Vorbildfunk-
tion der Politik angesprochen. Wenn ich in die Reihen
der Koalition schaue, dann wundert es mich nicht, dass
es in der Debatte einen hohen Anteil männlicher Redner
gibt; denn auch im Hinblick auf die Präsenz ist der Frau-
enanteil bei Ihnen gering. Bei der FDP-Fraktion ist eine
einzige Frau vertreten, demgegenüber acht Männer. Das
kommt nicht von ungefähr. Es liegt nicht daran, dass die
Frauen in der FDP-Fraktion zu faul wären, ins Plenum
zu kommen, sondern schlicht daran, dass es so wenige
gibt.
Das wiederum liegt daran, dass die FDP bislang auf die
„Zwangsquote“, wie Sie das nennen, verzichtet. Das
führt eben zu solchen Resultaten.
Dass es eine Auslese nach Eignung und Befähigung gibt,
kann man an dem politischen Ergebnis der FDP eindeu-
tig widerlegen. Das sehen die Wählerinnen und Wähler
übrigens auch so.
Herr Silberhorn, wenn Sie hier sagen, eine starre
Quote widerspreche der Berufsfreiheit und anderen
Grundrechtspositionen – offensichtlich der Grundrechts-
positionen von Angehörigen meines Geschlechts –, dann
wundert es mich, dass Sie bei grundsätzlichen demokra-
tischen Fragen wie der Freiheit des Mandats und der de-
mokratischen Partizipation in Ihrer Partei mittlerweile
anderer Auffassung sind. Selbst die CSU – man mag es
kaum fassen – hat mittlerweile eine Mindestquotierung
von 40 Prozent.
Warum ist das, was in der CSU richtig ist, in der Wirt-
schaft falsch? Das vermag mir nicht einzuleuchten.
Wir haben doch in unseren eigenen Parteiorganisationen
gesehen: Wo es keine Quote gibt, führen die Männer-
netzwerke dazu, dass nach Netzwerkzugehörigkeit ent-
schieden wird und nicht nach Eignung und Befähigung.
Das wäre in unserer Fraktion, in unserer Partei auch so.
Wenn wir die Quote nicht hätten, dann gäbe es einen
Backlash.
In unserer Fraktion werden Sie aufgrund der Mindest-
quotierung häufig erleben, dass in fachpolitischen De-
batten nur weibliche Rednerinnen auf der Liste stehen,
und zwar nicht, weil wir das in der Fraktion nach Ge-
schlecht entscheiden, sondern weil sich das aufgrund der
angemessenen Repräsentation beider Geschlechter fach-
politisch so ergibt.
Das fällt uns für gewöhnlich gar nicht so auf. Ich finde
gut, wenn sich das herumspricht; denn das ist für die
Politik sehr wichtig.
Herr Kollege Beck!
Wir haben hier eine Vorbildfunktion: Junge Frauen
und junge Männer sehen, dass sich im Politikbetrieb
beide Geschlechter an Führungsaufgaben beteiligen. Das
ist bei uns eine Selbstverständlichkeit.
Herr Silberhorn zur Beantwortung, bitte.
Herr Kollege Beck, ich danke Ihnen sehr für IhreKurzintervention, wenngleich ich es wirklich bedaure,dass Sie als Mann in Ihrer Fraktion zu diesem Instrumentgreifen müssen, weil man Ihnen bei diesem Thema keineRedezeit zugebilligt hat.
Herr Kollege Beck, wir können gerne zählen, wer wieviele Frauen in Parteien und Fraktionen hat. Das waraber gar nicht mein Anliegen. Mein Anliegen war, dasswir Frauenförderung, die Gleichstellung von Männernund Frauen, zu einem gesamtgesellschaftlichen Themamachen;
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19765
Thomas Silberhorn
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das muss auch in der Debatte im Deutschen Bundestagzum Ausdruck kommen. Deswegen ist es nicht zurei-chend, wenn nur Frauen über Frauenförderung diskutie-ren. Sie müssen darüber gemeinsam mit den Männerndiskutieren, wenn sie zu Erfolgen kommen wollen. Dashat die Koalition demonstriert. Sie sollten es nachma-chen.
Was die Quoten in der CSU betrifft, leite ich Ihnengerne die entsprechenden Texte zu; denn das sind geradekeine starren, sondern differenzierte Quoten. Wir habeneine verpflichtende Quote auf Landes- und Bezirks-ebene,
und wir haben in den Orts- und Kreisverbänden mitBlick auf die dortige Situation eine nicht verpflichtendeQuote, verbunden mit der Zielvorstellung, einen Frauen-anteil in gleicher Größenordnung zu erreichen.
Es gibt durchaus die Möglichkeit, in zwei Jahren zuüberprüfen, ob wir mehr tun müssen als bisher. Aber wirwollen eben nicht eine Quote, bei deren Realisierungman vor Ort auf Schwierigkeiten stoßen würde; wir müs-sen schon entsprechende Ergebnisse erzielen können.
Herr Kollege Beck, bei der Besetzung von Vorständeneiner Partei geht es nicht um Eigentumspositionen, dieinfrage gestellt werden. Wir sehen auch nicht vor, Vor-standspositionen nicht zu besetzen; die Vorstände wer-den vollständig gewählt, unter Beteiligung der Frauen.Ich verrate Ihnen etwas: Trotz der Quote, die wir in derCSU haben, gibt es viele Vorstände, die diese Quote weitübererfüllen, weil wir eben nicht allein zählen, sondernuns daran gelegen ist, dass Frauen an der politischenWillensbildung beteiligt werden.
Die Kollegin Elke Ferner hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Silberhorn, ich möchte Ihnen gerne zweierlei mit-geben. Das Erste ist: Ihre Rede war an Peinlichkeit wirk-lich nicht zu überbieten.
Ich habe gedacht, die gestrigen Reden der Ministerinund auch des Generalsekretärs der FDP – er ist schonwieder weg – seien nicht zu toppen; aber Sie haben dasheute mühelos geschafft.
Das Zweite ist: Ihre Quote in der CSU scheint nurmäßig zu wirken. Der hohe Frauenanteil in der CSU-Landesgruppe führt dazu, dass der Frauenanteil in derUnionsfraktion nicht einmal 20 Prozent übersteigt. Inso-fern sollte, was die parteiinternen Geschichten anbe-langt, jeder vor seiner Haustür kehren. Wir haben das inunserer Partei teilweise mit sehr großem Erfolg gemacht:In unserer Parteispitze sind jetzt, nach dem letzten Bun-desparteitag, mehr Frauen als Männer.
Ich garantiere Ihnen: Auch Sie werden noch eine sozial-demokratische Kanzlerkandidatin und auch eine sozial-demokratische Kanzlerin erleben.
Ich möchte auf gestern zurückkommen, als der ErsteGleichstellungsbericht diskutiert wurde. Ich muss sagen:Es liegen ganz konkrete Handlungsoptionen vor; aberSie tun nichts. Auch der Antrag, der gestern von den Ko-alitionsfraktionen eingebracht worden ist, ist an Unsäg-lichkeit und Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten.Wir brauchen in diesem Jahr eine Regelung, weil imnächsten Jahr zahlreiche Aufsichtsratsmandate neu be-setzt werden.
Ich kann zwar nachvollziehen, dass Sie hier auf Zeitspielen, weil Sie nicht bereit sind, etwas zu tun; aber esist nicht angemessen und vor allen Dingen nicht das, wasdie Mehrheit in der Bevölkerung will.Jetzt sieht man, dass die sogenannte Frauenministerinstrammsteht, nur weil die Boygroup der Fast-3-Prozent-Partei FDP sagt: Wir wollen überhaupt keine Quoten. –Das wundert mich nicht. In der gestrigen Ausgabe derZeit gab es einen Artikel mit der Überschrift „Wennschon Frauen, dann schöne“. Daraus möchte ich gernezitieren:Neben den Altherren der FDP zeigen sich auch diejungen liberalen Männer weitgehend unempfäng-lich für frauenpolitische Fragen.
Spötterinnen unter den FDP-Damen führen das da-rauf zurück, dass die eitle Jungsriege um Rösler,
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19766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Elke Ferner
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Christian Lindner und Daniel Bahr so viel von Au-gencremes und Maniküre verstehen, dass sie dasWeibliche in der Politik abzudecken glaubten.
So weit zur FDP.Mein Eindruck ist: Das ist in den Führungsetagen derdeutschen Wirtschaft nicht anders. Denn dort hieven sichdie Männerseilschaften gegenseitig in die Vorstände undin die Aufsichtsräte. Wenn es nach der Qualifikationginge, dann müssten schon jetzt deutlich mehr Frauen inden Führungspositionen der deutschen Wirtschaft ange-kommen sein.
Aber wir wissen, dass das nicht der Fall ist. In denDAX-30-Unternehmen gibt es einen Anteil der Frauenvon 3,7 Prozent. Das sind sieben; dieses Jahr kommennoch zwei hinzu. In 24 von 30 Vorständen ist keine ein-zige Frau zu finden. In den Vorständen der Top-100-Un-ternehmen – ohne die Finanzdienstleister – gab es 2011sage und schreibe elf Frauen; in den nächsten 100 Unter-nehmen waren es ein paar mehr. Insgesamt sind28 Frauen in den Top-200-Unternehmen. Von 942 Vor-standsposten sind es sagenhafte 3 Prozent. Man kann esauch andersherum sagen: 97 Prozent der Vorstandspos-ten sind mit Männern besetzt. Wenn das keine Quote ist,liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist es dann?
Es gibt unter den Top-100-Unternehmen keine einzigeVorstandsvorsitzende, und unter den nächsten 100 ist esgerade einmal eine einzige.In den Aufsichtsräten sieht es nicht besser aus. Auchda gibt es frauenfreie Zonen. Schließlich findet man inmehr als einem Viertel der Top-200-Unternehmen keineeinzige Frau im Aufsichtsrat. Insofern kann man nurnoch sagen: Hier liefert sich der Fortschritt mit einerSchnecke ein Wettrennen. Wenn man dann sieht, dassder Löwenanteil der Aufsichtsrätinnen über die Mitbe-stimmung und nicht über die Hauptversammlung in dieAufsichtsräte kommt – es sind über 70 Prozent –, dannliegt der Handlungsbedarf doch auf der Hand. Wer dasnegiert, ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.
Was die FDP angeht – Sie wollen ja keine Quotenre-gelung, weil es Ihnen auf die Qualität ankommt –, so tunmir die Frauen in der FDP echt leid.
Denn von hoher Qualität kann man beispielsweise beiden Verursachern der Finanzkrise nun wirklich nicht re-den; das waren ja ausschließlich Männer. Ich finde, eswird auch den Frauen in der FDP nicht gerecht, dass dieMänner jetzt so tun – das gilt auch für einige Frauen –,als ob bei der FDP nicht mehr als 25,8 Prozent derFrauen – 24 Frauen sind in der FDP-Fraktion; das ent-spricht 25,8 Prozent – für ein Bundestagsmandat infragekämen. Wenn ich mir die 74,2 Prozent Männer in IhrerFraktion anschaue, kann ich nur festhalten, dass das Kri-terium Qualifizierung nicht unbedingt ausschlaggebendgewesen sein kann.
Und was macht die Union? Sie stellt zwar die ersteKanzlerin – das ist wohl wahr –, aber sie tut nichts fürFrauen. Auch die sogenannte Frauenministerin tut nichtsfür Frauen. Man hat ja gestern gesehen, wie sie sich ge-quält hat, etwas Positives zum Thema Frauen zu sagen.Ich meine, sie sollte das Wort „Frauen“ aus ihrem Minis-teriumsnamen streichen. Das würde der Sache gerechterals das, was sich im Moment abspielt.
Zu unserem Gesetzentwurf. Wenn ich mir anschaue,welche Instrumente wir jetzt anbieten, dann kann ich Ih-nen sagen, dass das überhaupt nichts mit Zwang zu tunhat. Wenn die beiden Bänke, sowohl Anteilseignerseiteals auch Arbeitnehmerseite, die entsprechenden gesetzli-chen Vorgaben erfüllen, dann sind alle Stühle besetztund es tritt nicht mehr ein, als dass mehr Frauen in dieGremien kommen. Was wäre daran so schlimm? Sie ver-mitteln den Eindruck, als breche eine Katastrophe aus,nur weil plötzlich mehr weiblicher Sachverstand in dieFührungsetagen der deutschen Wirtschaft einzieht.Wenn man sich Norwegen und andere Länder anschaut,dann stellt man fest, dass die Unternehmen, in denen dieVielfalt in den Führungspositionen angekommen ist,auch wirtschaftlich erfolgreicher sind.
Ich räume ein: Das ist zwar ein Eingriff in Eigentums-rechte; das ist richtig. Aber es ist keine Enteignung. Vorallen Dingen dient dieser Eingriff der Durchsetzung desGleichheitsgebotes in Art. 3 Grundgesetz, und diesesGebot steht nicht umsonst so weit vorne im Grundge-setz. Insofern kann ich nur sagen: Die Zeit ist reif füreine gesetzliche Regelung. Wer etwas verändern will,der muss sich jetzt für eine gesetzliche Vorschrift mitklaren Zielvorgaben und wirksamen Regelungen ent-scheiden, und wer den Stillstand konservieren will, dermuss alles daransetzen, dass eine solche gesetzliche Re-gelung verhindert wird.Ich hoffe sehr auf die Frauen, aber auch auf die weni-gen Männer in den Koalitionsfraktionen, die im 21. Jahr-hundert angekommen sind. Wir als Abgeordnete desBundestages haben es in der Hand, ob die vielen qualifi-zierten Frauen im nächsten Jahr in die Aufsichtsrätekommen oder nicht.
Lassen Sie uns dieses Thema in den Ausschüssen ver-nünftig diskutieren. Ich hoffe, dass wir in zweiter unddritter Lesung mit Mehrheit für dieses Gesetz stimmen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19767
Elke Ferner
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werden, damit der Fortschritt endlich auch in Deutsch-land einziehen kann.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Nicole Bracht-Bendt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vorwegmöchte ich feststellen: Ich bin gerne als Frau in der FDP,
und ich bin im 21. Jahrhundert angekommen. Ich dankemeinen männlichen Kollegen, dass sie hier sind. Ichfühle mich wirklich wohl, und das ohne Quote.Der Anteil von Frauen in Führungspositionen, insbe-sondere in Vorständen und Aufsichtsräten der großendeutschen Unternehmen, ist immer noch deutlich zuniedrig; da sind wir einer Meinung. Auch ich bin derMeinung, dass sich das ändern muss, liebe Kolleginnenund Kollegen von der SPD-Fraktion.
Tun Sie aber bitte nicht so, als wäre in den letzten Mona-ten nichts passiert.
Seit der Aufnahme der Empfehlungen zur Erhöhungdes Frauenanteils im Deutschen Corporate GovernanceKodex im Jahr 2010 – ich sage 2010, weil Sie immer sa-gen: vor zehn Jahren – zeigen sich erste deutliche Er-folge.
Die DAX-30-Unternehmen haben sich außerdem kon-krete Ziele auch unterhalb der Ebene des Vorstands unddes Aufsichtsrats gesetzt. Das ist positiv; denn eine hö-here Anzahl von Frauen in den mittleren und oberenFührungsetagen ist eine entscheidende Voraussetzungdafür, mehr Frauen in der höchsten Ebene zu etablieren.Vor diesem Hintergrund lehnt die FDP-Fraktion gesetzli-che Quoten derzeit ab.
Eine gesetzliche Frauenquote für den Aufsichtsrat underst recht für den Vorstand wäre ein massiver Eingriff indie unternehmerische Freiheit; darauf wurde heute schonmehrfach hingewiesen. Eine Quote würde nur an denSymptomen und nicht an den Ursachen ansetzen. Wirkönnen auch nicht alle Unternehmen über einen Kammscheren.Unsere Aufgabe wird es sein, aufmerksam zu be-obachten, ob die freiwilligen Lösungen weiterhin Erfolghaben.
Die FDP-Fraktion setzt auf Transparenz und auf Offen-legung aller Angaben zum Anteil von Frauen in den Ge-sellschaftsorganen
– hören Sie zu! – und in den ersten zwei Führungsebe-nen unter der Geschäftsführung in allen börsennotiertenUnternehmen. Eine solche neue Berichtspflicht würdesich gut in den Stufenplan einfügen, den wir im Koali-tionsvertrag beschlossen haben.
Bereits jetzt gibt es mit dem Women-on-Board-Indexvon FidAR, Frauen in die Aufsichtsräte e. V., einen gutfunktionierenden Monitoringansatz. Der könnte damitauf eine noch größere Basis gestellt werden. Interessantan dem FidAR-Bericht, der im letzten Monat veröffent-licht wurde, ist übrigens, dass von den Aufsichtsratspos-ten, die im vergangenen Jahr neu besetzt wurden,40 Prozent auf Frauen entfielen; auch das wurde schonerwähnt. Aber auch ein von der Wirtschaft oder ihrenVerbänden selbst durchgeführtes Monitoring auf derGrundlage der neuen Berichtspflicht würde deutlich ma-chen, dass ein höherer Frauenanteil im oberen Manage-ment ein eigenes, unmittelbares Anliegen der Wirtschaftist.Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, fragenSie doch einmal Personalberater.
Von wegen, die Unternehmen seien nur sensibilisiert– hören Sie bitte zu –; Personalberater werden heute re-gelrecht angefleht, Kandidatinnen zu nennen. Der Bun-desverband der Deutschen Industrie gab schon letztesJahr unumwunden zu, dass eine stärkere Beteiligung vonFrauen in der Unternehmensführung aus demografischenund wirtschaftlichen Gründen im ureigenen Interesse derUnternehmen liege.
Die FDP-Fraktion bleibt dabei: Eine starre Quote fürWirtschaftsunternehmen in Verbindung mit einer Ände-rung im Aktiengesetz wird es mit uns nicht geben.
– Ja gut, eine. – Ohnehin wird eine starre Quote unter-nehmerischen Realitäten nicht gerecht. Neben transpa-renten Selbstverpflichtungen sind die gesellschaftli-
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19768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Nicole Bracht-Bendt
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chen, politischen und betrieblichen Rahmenbedingungenso zu ändern, dass Führungsaufgaben auch tatsächlichvon Frauen und Männern in gleicher Weise wahrgenom-men werden können. Wir brauchen also größere An-strengungen für einen stärkeren Wandel der Unterneh-menskulturen. Flexiblere Arbeitszeiten, der Kontaktzwischen Unternehmen und Mitarbeiterinnen auch wäh-rend der Elternzeit, lockere Präsenzpflichten sind daseine, die Vereinbarkeit von Familie und Karriere ist dasandere.Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion – ichmuss Sie leider immer wieder ansprechen –, Sie kom-men in Ihrem Gesetzentwurf zu dem Schluss, dass Frei-willigkeit nicht zu gerechter Teilhabe in Aufsichtsrätenund Vorständen führt.
Das sehen wir anders. Ich bin sicher, dass die Wirtschaftauf das wertvolle Potenzial hervorragend ausgebildeterFrauen in Zukunft nicht verzichten kann und auch garnicht will.Ganz herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Matthias Heider.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Am Schluss die-ser Debatte ist es an der Zeit, ein Resümee zu ziehen:Nicht jeder wünschenswerte Zustand erstarkt in einer ge-setzlichen Pflicht, und nicht jede Quote garantiert eingutes Ergebnis.Das Feuerwerk, das Sie hier heute abbrennen, sehrgeehrte Kolleginnen von der SPD, leuchtet weit. Sieweisen auf einen Zustand hin, der in der Tat verbesse-rungsfähig ist.
Einmal abgebrannt, zeigen sich nach dem schönenSchein aber auch Effekte, die gesellschaftspolitisch undwirtschaftspolitisch unbefriedigend wären. Ob auf demvon Ihnen eingeschlagenen Weg wirklich Chancen-gleichheit für Männer und Frauen hergestellt werdenkann, ist zweifelhaft. Allein dass Ihnen eine Mindest-quote von 40 Prozent reicht,
zeigt, dass es eigentlich gar nicht um Gleichberechti-gung geht. Warum fordern Sie nicht 50 Prozent? Warumschreiben Sie das nicht in Ihren Gesetzentwurf hinein?
Abgesehen davon zielt die Regelung, die Sie für börsen-notierte und mitbestimmte Unternehmen fordern, an denrealen Anforderungen der Wirtschaftsunternehmen vor-bei. Es geht um eine erfolgreiche und verantwortlicheBesetzung der Leitungs- und Aufsichtsgremien dieserUnternehmen.
Sie wollen eine politische Frauenquote in den Füh-rungsgremien. Das schmälert in jedem Fall den notwen-digen unternehmerischen Spielraum. Es geht darum, auf-gabenbezogen den personellen Anforderungen in denLeitungsgremien gerecht zu werden.
Das stellt – das muss ich Ihnen leider sagen – einen weit-reichenden Eingriff in die Eigentumsrechte der Anteils-eigner dar.
Das ist ordnungspolitisch falsch, das ist verfassungs-rechtlich bedenklich,
und das ist in jedem Fall nicht im Sinne der Unterneh-men.
Grund dafür, dass es in Deutschland noch zu wenigFrauen in Führungspositionen gibt – das möchte ichganz deutlich machen –, ist nicht die Tatsache einer feh-lenden gesetzlichen Regelung. Gründe für die Problemesind eine fehlende Sensitivität der Anteilseigner und Ak-tionäre, eine nicht ausreichend vorausschauende Perso-nalpolitik in den Unternehmen, fehlende flexibleArbeitszeitmodelle und zu wenig Kinderbetreuungsmög-lichkeiten. Ich will nicht sagen, dass Letzteres bei denFührungskräften das Hauptproblem ist. Ganz entschei-dend für die Debatte ist aber, dass wir dort ansetzen, wodie eigentlichen Probleme liegen, nämlich bei der Ver-einbarkeit von Familie und Beruf. Diese Herausforde-rung betrifft alle Frauen
in deutschen Unternehmen und nicht nur die Kandidatin-nen, die für Aufsichtsräte oder Vorstände in Betrachtkommen. Die Bundesregierung hat gehandelt. Ich nennedie Einführung des Elterngeldes. Ich nenne die Initiative„Familienbewusste Arbeitszeiten“.
Ich nenne die Förderung des Ausbaus der Betreuung vonKindern unter drei Jahren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19769
Dr. Matthias Heider
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Ich kann mir nicht vorstellen, dass es geschäftspoli-tisch sinnvoll ist, die Besetzung einer Position in Vor-stand oder Aufsichtsrat nur aufgrund einer gesetzlichenZwangsquote vorzunehmen.
Das Selbstverständnis der Managerinnen in den Füh-rungsgremien der deutschen Wirtschaft, die ich kenne,ist ein anderes. Hier zählen
Kompetenz, Qualifikation und Leistung. Das sind imÜbrigen exakt die gleichen Prinzipien, die für Führungs-aufgaben in Unternehmen grundsätzlich gelten.
Ich glaube, an dieser Stelle ist es angebracht, die vielenselbstständigen und erfolgreichen Apothekerinnen,
Wirtschaftsprüferinnen, Architektinnen, Rechtsanwältin-nen, Steuerberaterinnen, Ingenieurinnen und Frauen inanderen freien Berufen zu nennen, die als eingetrageneKaufleute, als Partnerinnen in Sozietäten oder Teilhabe-rinnen von Gesellschaften in hohem Maße zum Erfolgihres Unternehmens beitragen.
Das Gleiche gilt übrigens für den industriellen deutschenMittelstand. Die Lage dort – das wissen Sie – ist eine an-dere.
Aber um diese Dimension geht es Ihnen gar nicht in Ih-rem Entwurf. Dieser zielt auf alle börsennotierten undmitbestimmten Unternehmen,
bei denen die DAX-30-Werte sozusagen die Leucht-türme bilden. Wahr ist aber, meine Damen und Herrenvon der SPD, dass Sie mit Ihrem Vorschlag auch über700 paritätisch mitbestimmte Gesellschaften und über1 000 drittelparitätisch mitbestimmte Gesellschaftentreffen. Damit zwingen Sie sie in ein gesellschaftspoliti-sches Konzept, das nicht den wirtschaftlichen Erfolgdieser Unternehmen und ihrer Belegschaft zum Ziel hat,
sondern Ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen.
Die Zeit, auf technische Einzelheiten Ihres Entwurfseinzugehen, bleibt hier leider nicht. Nur so viel: Waspassiert eigentlich mit Einzelvorständen und Einzelge-schäftsführern? Wenn Sie konsequent wären, dürften Siediese nicht allein handeln lassen. Wollen Sie wirklich ei-nem Aufsichtsrat die Beschlussfähigkeit aberkennen,wenn er infolge von Änderungen seiner Zusammenset-zung nach zwölf Monaten die 40-Prozent-Quote ver-fehlt? Schon diese Beispiele zeigen, dass der Gesetzent-wurf mit dem Anspruch an eine auf Kontinuität
und Risikovermeidung orientierte Unternehmensführungin schwierigen wirtschaftlichen Zeiten nicht viel zu tunhat.
Wenn alles so einfach wäre, dann müssten wir zusam-men den politischen Willen aufbringen, in den Unterneh-men des Bundes, der Länder und der Kommunen eineandere Besetzung der Aufsichtsräte und Vorstände hin-zubekommen. Bei den öffentlichen Unternehmen desBundes liegt der Anteil von Frauen in Vorständen mit5,5 Prozent im Jahr 2011 sogar noch unter dem Anteil,den es 2010 gab.
In den Aufsichts- und Verwaltungsräten lag die Quotebei 15,1 Prozent. Wenn Sie alle überlegen, wie die Ge-schäftsführungen und Aufsichtsräte bei kommunalenGesellschaften in Ihren Wahlkreisen besetzt sind,
dann wird Ihnen ohne Weiteres klar, wie sehr Personal-entscheidungen vom Gestaltungswillen im Einzelfall ab-hängen. Wenn wir nicht einmal bei öffentlichen Unter-nehmen – nehmen wir ruhig den Bund als Beispiel –
in der Lage sind, Frauen in der Unternehmensleitung an-gemessen zu beteiligen,
dann wird man von der Wirtschaft wohl nicht die Erfül-lung einer gesetzlichen Zwangsquote verlangen können.
Ich sage noch einmal ausdrücklich: Es ist völlig unbe-stritten, dass Unternehmen ein großes Interesse daranhaben müssen, den Frauenanteil in ihren Topgremien zusteigern; ich stimme Ihnen da völlig zu. Eine Analysedes Mixed Leadership von Ernst & Young zeigt, dass ge-
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19770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Dr. Matthias Heider
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(B)
mischte Führungsteams durchaus einen guten Einflussauf die Unternehmensperformance haben.
Ich bin als letzter Redner in dieser Debatte zuver-sichtlich, dass wir bei den kommenden Aufsichtsrats-wahlen im Frühjahr 2013 positive Entwicklungen hin zueiner höheren Frauenrepräsentanz in Führungspositionensehen werden. Bei all der Diskussion über die Einfüh-rung einer Frauenquote dürfen wir nicht außer Achtlassen: Es geht weniger um Quotenfrauen, es geht beiMännern und Frauen immer um Kompetenz, um Qualifi-kation und um Leistung. Deshalb sollten wir der freiwil-ligen Selbstverpflichtung zunächst weiter Gelegenheitgeben, sich in der Praxis zu bewähren.
Nicht die Brechstange ist gefragt, sondern kluge Unter-nehmensführung.
Sie dürfen sicher sein, dass wir von der CDU die Wirt-schaft dabei unterstützen werden.Herzlichen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache.
Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/8878 soll an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
wiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 28 auf:
Vereinbarte Debatte
Arbeitsprogramm der Europäischen Kommis-
sion für das Jahr 2012
Eine Dreiviertelstunde soll debattiert werden. – Dazu
sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Das Wort für die Bundesregierung erhält der Staats-
minister Michael Link.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es hatgute Tradition, dass Bundestag und Bundesregierung ge-meinsam über das Arbeitsprogramm der Kommissiondiskutieren. Aber lassen Sie mich aus aktuellem Anlasseines vorab sagen: Ich glaube, die Tatsache, dass diegriechische Umschuldung in den letzten Tagen zu einemsehr befriedigenden Anteil gelungen ist, ist etwas, wasuns alle mit großer Erleichterung erfüllen sollte. Eszeigt, dass sich die Europäische Union, insbesondere dieEuro-Zone, auch und gerade gemeinsam mit dem Mit-glied Griechenland als handlungsfähig erwiesen hat. Dasist ein ganz wichtiger Punkt. Die Bundesregierung istdamit außerordentlich zufrieden.
Europa muss gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.Deshalb müssen wir an ihren Ursachen ansetzen. Anset-zen müssen wir insbesondere an der exzessiven und un-disziplinierten Staatsverschuldung, der mangelndenWettbewerbsfähigkeit einiger Euro-Staaten und der Be-reinigung der grundlegenden Konstruktionsfehler derWirtschafts- und Währungsunion.Die Lösung dieser Grundprobleme kann nur im Auf-bau einer nachhaltigen Stabilitätsunion bestehen, die vonden Grundsätzen einer soliden Haushaltsführung, der eu-ropäischen Solidarität und eines engagierten Wachs-tumskurses getragen wird. Deshalb stellt der Fiskalpakt,den wir in den vergangenen Wochen verhandelt undbeim Europäischen Rat unterzeichnet haben, einen ganzwichtigen Meilenstein dar.Über Jahre hinweg hat Deutschland, haben deutscheVertreter im Europäischen Rat immer wieder dafür ge-worben, dass wir eine europäische Schuldenbremse be-kommen. Dass wir es mithilfe des Fiskalpakts jetztgeschafft haben, sie entweder in Verfassungen zu veran-kern oder sie in nationale Gesetzgebungen zu tragen, istein großer Erfolg, den wir bei allen parteipolitischen Un-terschieden, die es in diesem Hause gibt und die in einerDemokratie natürlich immer zum Tragen kommen wer-den, nicht kleinreden sollten. Die Schuldenbremse ist eingroßer Erfolg.
Der Fiskalpakt, den wir vereinbart und den die Kanz-lerin, der Außenminister und der Bundesfinanzministergemeinsam verhandelt haben, steht für einen fundamen-talen Paradigmenwechsel in Europa. Er steht für dieKultur der Stabilität. Der Leitsatz lautet: Keine immerneuen Schulden, um der alten Schulden Herr zu werden.Dass es uns noch dazu gelungen ist, den Pakt in Rekord-zeit zu verhandeln, obwohl wir lieber Vertragsänderun-gen gehabt hätten – das füge ich deutlich hinzu –, ist einweiterer Beweis für die europäische Entschlossenheit indiesem zentralen Punkt.Wir müssen die Probleme der Staatsverschuldung im-mer zusammen mit dem Wachstumskurs denken und an-gehen. Deshalb stellen wir auch in diesem Zusammen-hang die Verbindung mit dem Arbeitsprogramm derKommission her. Denn das Arbeitsprogramm der Kom-mission muss an genau dieser zentralen Frage ansetzen:Wie kann die Wachstumsfähigkeit gesteigert werden?Was diesen Aspekt betrifft, hat die BundesregierungIhnen immer wieder klar gesagt – ich möchte das heutenoch einmal ganz deutlich festhalten –: Wir sehen dieRolle der Kommission als Hüterin der Verträge und alsInitiativgeberin. Wir stehen insbesondere zur Stärkungder Gemeinschaftsmethode, überall dort, wo die Ver-
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träge sie vorsehen, und überall dort, wo in Zukunft Ver-tragsänderungen vorgenommen werden. Die Stärkungder Gemeinschaftsmethode ist eine Stärkung der Euro-päischen Union und damit auch eine Stärkung ihrer Mit-glieder.
Das Arbeitsprogramm der Kommission ist aus derSicht der Bundesregierung ein wichtiges Dokument. Wirhaben Ihnen unsere Kommentare dazu vorgelegt. DieStellungnahme der Bundesregierung ist Ihnen im Januarund Februar dieses Jahres in zwei Teilen zugegangen.Wir haben in dieser schriftlichen Stellungnahme aucheine Reihe von Kritikpunkten und begrüßenswertenPunkten genannt, die ich hier nicht weiter ausführenwill. Ich möchte mich jetzt auf einige Kernpunkte be-schränken.Unter dem Leitmotiv Wachstum soll die Vertiefungdes europäischen Binnenmarktes – das ist für uns einKernpunkt – zu einer tatsächlichen europäischen wirt-schaftlichen Schlüsselaufgabe werden. Dieses Projektder Kommission begrüßen wir ausdrücklich. Der Bin-nenmarkt bietet nämlich das größte Potenzial zur Steige-rung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in al-len 27 Mitgliedstaaten.Wenn ich von Beschäftigung spreche, dann gilt dasvor allem mit Blick auf die jungen Bürgerinnen und Bür-ger. Denn in zahlreichen Mitgliedstaaten der Union,nicht in Deutschland, gibt es Jugendarbeitslosigkeits-raten von über 25 Prozent. Diese jungen Leute fragensich mit Recht: Was ist denn eigentlich der Mehrwertdieser Europäischen Union? Deshalb muss es im Kernimmer wieder um die Frage gehen: Wie können wir dieBeschäftigung steigern? Insofern begrüßen wir den An-satz der Kommission, die jetzt vorgeschlagen hat, insbe-sondere die steuerliche Belastung von Arbeit zu reduzie-ren. Das ist ein Punkt, über den wir, glaube ich, auchüber die Parteigrenzen hinweg gemeinsam nachdenkensollten.
Wir müssen stärker in den Bereichen investieren, indenen am besten nachhaltiges Wachstum gefördert wer-den kann.
Deshalb muss die Strukturpolitik der EU – ich sagedas bewusst mit Blick auf Debatten hier bei uns imLande, wissend, dass es oft unterschiedliche Interessengibt, auch mit Blick auf die föderale KonstruktionDeutschlands – kritisch überprüft werden. Entscheidendist eine gezielte Ausrichtung der Struktur- und Kohä-sionspolitik auf die Bereiche Bildung, Forschung, Wett-bewerb, Innovation sowie auf die Schaffung von Ar-beitsplätzen.Auch das Bestreben der Kommission, die Neuord-nung der Finanzmärkte weiter voranzutreiben, verdientunsere volle Unterstützung. Die bereits angestoßenen Fi-nanzmarktreformen sowie die für 2012 geplanten Maß-nahmen stellen die Antworten der EU auf die Finanz-krise dar und werden auch im globalen Kontext inUmsetzung der bestehenden G-20-Verpflichtungen dazubeitragen, die Akteure und Produkte auf den Finanz-märkten angemessen zu regulieren und streng zu beauf-sichtigen, um so ein stabiles und widerstandsfähiges Fi-nanzsystem zu schaffen.Die Bundesregierung wird weiterhin alle Maßnahmender Kommission zur Finanzmarktreform unterstützen,sei es bei der stärkeren Regulierung von Ratingagentu-ren oder des außerbörslichen Derivatemarktes.Wir unterstützen grundsätzlich auch die Einführungeiner EU-weiten Finanztransaktionsteuer. Die Vor-schläge der Kommission ebenso wie das derzeit in derDiskussion stehende französische Modell werden wir in-nerhalb der Bundesregierung prüfen. Klar ist aber auch,dass wir eine Finanztransaktionsteuer als eine möglicheEigenmittelquelle für den EU-Haushalt ablehnen.
Der mittelfristige Finanzrahmen wird uns noch inten-siv beschäftigen, aber nicht in der heutigen Debatte zumArbeitsprogramm. Die Bundesregierung hat die Stel-lungnahme des Bundestags zum mehrjährigen Finanz-rahmen zur Grundlage für die Erarbeitung ihrer eigenenPosition genommen. Zum Ende der dänischen Präsident-schaft werden wir die Verhandlungsbox formulierenmüssen, die dann im zweiten Halbjahr konkret wird undmöglichst bereits im zweiten Halbjahr beim mehrjähri-gen Finanzrahmen zum Ende kommen soll.Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass wireinige Punkte des Arbeitsprogramms der Kommissionkritisch sehen. Wenn wir die Verhältnismäßigkeit einesangekündigten Vorhabens der Kommission infrage stel-len oder Bedenken bei Zuständigkeitsfragen haben, be-nennen wir das ausdrücklich in unserer Stellungnahme.Es gehört dazu, dass wir auch das deutlich machen. AlsBeispiel möchte ich die angekündigte Reform des Mehr-wertsteuersystems oder auch die im Bereich der Alters-vorsorge vorgelegten Vorschläge der Kommission zuden ergänzenden Rentenansprüchen von Arbeitsplatz-wechslern innerhalb der Europäischen Union nennen.Lassen Sie mich deshalb ganz grundsätzlich sagen:Die Kommission ist vor allem dann stark, wenn sie sichauf die Themen und Kernaufgaben konzentriert, bei de-nen tatsächlich ein Mehrwert für die Bürgerinnen undBürger Europas entstehen kann. Nicht mehr Regulie-rung, sondern effiziente Regulierung ist wichtig. Das In-itiativrecht der Kommission ist ein hohes Gut. Es solltenicht für möglichst viele Initiativen genutzt werden, son-dern für möglichst substantielle Initiativen. Diese Ver-antwortung muss die Kommission aus unserer Sichternst nehmen; denn sie hat als Inhaberin des Initiativ-rechts die große Verantwortung, dieses Instrument nichtinflationär, sondern sehr zielgerichtet zu nutzen.Lassen Sie mich zum Schluss kommen, Frau Präsi-dentin. Wir möchten insbesondere, dass neben dem er-wähnten Thema der Solidität in der Haushaltsführung
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auch im Außenhandel der EU dieses Instrument ernst ge-nommen wird. Mit Blick auf die europäische Nachbar-schaftspolitik erwarten wir von der Kommission deutli-chere und klarere Initiativen im Rahmen des vorgelegtenPlans „More for more“, „Mehr für mehr“, wie ihn dieKommission nennt. Wir warten dringend auf eine Kon-kretisierung dieses Bereichs mit mehr Konditionalität;denn auch im Außenhandel der Europäischen Unionmüssen wir effizienter und stärker auftreten.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Axel Schäfer hat das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich nehme das auf, was der Kollege Staatsminister ge-sagt hat zum Thema „Mehr Gemeinschaft in Europa“.Die Bundesregierung kann das direkt beweisen, indemsie bei der Beratung des ESM sagt: Jawohl, das ist eineeuropäische Gemeinschaftsaufgabe. Das ist eine euro-päische Angelegenheit nach Art. 23 Grundgesetz undnicht nach Art. 59 Grundgesetz.Deshalb korrigieren Sie Ihre Position, lieber KollegeLink. Sie haben mit der Übernahme Ihrer neuen Auf-gabe, zu der ich Ihnen alles Gute wünsche, direkt denAuftrag, der wahrscheinlich von der großen Mehrheit imParlament mitgetragen wird, dieses durchzusetzen.Glück auf dafür! Sie haben uns an Ihrer Seite.
Bei den Vorschlägen der Kommission in ihrem Ar-beitsprogramm ist eines, glaube ich, ganz wichtig: DieKommission, die um ihre Rolle als zentraler Akteur in-nerhalb der Europäischen Union kämpfen muss, lässtsich nicht zu einem Sekretariat des Rates herabstufen,sozusagen downgraden.Die Kommission hat sehr viele Vorschläge zu Finanz-marktregelungen, zur Finanzmarkttransaktionsteuer undzur Bankenaufsicht gemacht. Das ist eine sehr langeListe. Allen gemein ist – es geht nicht um Details, überdie wir sicherlich streiten können –, dass es sich hierbeium europäische Regeln handelt, die per Gesetz verab-schiedet werden müssen. Das heißt, dies muss auf glei-cher Augenhöhe zwischen dem Europäischen Rat unddem Europäischen Parlament geschehen. Für diese Ver-abschiedung ist eine intensive, frühe Beteiligung der na-tionalen Parlamente notwendig, also gerade das, was wirim Deutschen Bundestag gemeinsam tun wollen.Bei jedem Arbeitsprogramm der Kommission habenwir in Europa diesen Kampf auszufechten: Wird sich aufDauer die sogenannte Unionsmethode von Frau Merkeldurchsetzen, die, neben den schönen Worten von Ge-meinschaft, in der Praxis immer mehr intergouverne-mental sein wird, oder werden wir dieses gemeinsameEuropa tatsächlich auch parlamentarisch, das heißt rich-tig demokratisch, stärken oder nicht? Das wird die ent-scheidende Frage sein.
Deshalb war es ganz wichtig, dass das EuropäischeParlament bei der kritischen Bewertung des Fiskalpaktesdas geschafft hat, was wir im Bundestag bisher nur er-reicht haben, als es um die Beteiligungsrechte ging. Eshat nämlich einen europäischen Konsens erreicht. Ichhabe die Bitte und die Erwartung an die Regierungsko-alition, dass sie bei allen anstehenden Gesetzen auf einenKonsens in Bezug auf die Beteiligungsrechte des Deut-schen Bundestages im ganzen Hause setzt, wie wir das,Michael Stübgen, mit allen fünf Fraktionen in der letztenLegislaturperiode geschafft haben. Das ist Ihre Bring-schuld. Wir warten darauf.Ich glaube, wir alle sind hier offen. Die Grünen sehendas ebenfalls so, und ich glaube, das gilt auch für dieKolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. An dieseBringschuld werden wir Sie in den nächsten Tagen undWochen erinnern; denn es kommt hier wirklich daraufan, ob der Bundestag gemeinschaftlich in der Lage ist,seine Rechte durchzusetzen, oder ob Parteitaktik und an-deres die entscheidende Rolle spielen.In Bezug auf die Arbeit der Kommission kann ich alsSozialdemokrat feststellen: Vieles von dem, was jetztvorgeschlagen wird, teilen wir ausdrücklich. Das ist des-halb überraschend, weil die meisten Kommissarinnenund Kommissare in Europa eher der Parteifamilie derChristdemokraten oder der Liberalen angehören. Wir alsSozialdemokratinnen und Sozialdemokraten – auch dieGrünen – sind hier leider noch in der Minderheitenposi-tion.Eine Reihe von Dingen, die von der EuropäischenKommission vorgeschlagen werden, werden im Deut-schen Bundestag und auch von der Regierungskoalitionaber nicht so gesehen. Kollege Link, in den Bereichen,in denen es die Möglichkeit gibt, etwas europäisch zu re-geln – das gilt gerade für den Bereich der Steuern, zumBeispiel bei der Mehrwertsteuer –, würde ich mir im Ge-gensatz zu Ihnen mehr Mut von der Kommission wün-schen. Wenn wir die Chance haben, das, was bereitsheute in den Verträgen steht, in Europa gemeinschaftlichzu regeln, dann müssen wir das auch anpacken. Das istder entscheidende Punkt. Dafür braucht man als Kom-mission Mut,
und man muss schauen, wie die Mehrheitsverhältnissesind, aber der erste Schritt ist der wichtigste. Man mussdamit anfangen.Daneben wird von uns sicherlich zu Recht kritisch ge-sehen: Es gibt kein Stabilitätseuropa in finanzieller Hin-sicht auf der einen Seite, wenn es auf der anderen Seitekein Stabilitätseuropa in sozialer Hinsicht gibt. Es gibtkeine erfolgreiche einseitige Fixierung auf die Schulden-reduzierung, wenn es auf der anderen Seite nicht einegenauso starke Verpflichtung in Richtung Impulse fürWachstum, Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und so-
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ziale Nachhaltigkeit gibt. Beides gehört zusammen. Nurauf diesem Wege werden wir gemeinsam erfolgreichsein.
Deshalb werden wir sehr genau darauf achten – Siehaben ja auch von der Bekämpfung der Jugendarbeitslo-sigkeit gesprochen –, wie das entsprechende Programmaussieht und was das in der Praxis bedeutet. Sie wissen:Das ist vor allen Dingen für Länder in Süd- und Südost-europa entscheidend, deren Situation aufgrund einer Ju-gendarbeitslosigkeit von 30 bis 50 Prozent dramatischist. Es wird darauf ankommen, dass die Bundesregierungnicht nur am Sonntag erklärt, dass sie die Jugendarbeits-losigkeit bekämpft, sondern dass sie auch von Montagbis Freitag in den konkreten Beratungen sagt: Jawohl,wir werden auch in Europa den notwendigen Weg gehenund Mittel dafür einsetzen, damit schnell etwas passiert.Wir dürfen, wollen und können uns in Europa keine ver-lorene Generation von Jugendlichen leisten.
Es geht auch ein bisschen um die Selbstverpflichtungin diesem Hause. Ich glaube, es ist wichtig, dass es beiallen Delegationsreisen nach Brüssel und unseren Ge-sprächen dort immer eine Selbstverpflichtung sein muss,dass wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen imEuropäischen Parlament gut und eng zusammenarbeiten.Ich glaube, das hat sich in den letzten Jahren in allenFraktionen verbessert.Es wird aber auch darauf ankommen, dass wir auchals Parlamentarier hier sagen: Für die Handlungsfähig-keit in Europa brauchen wir eine handlungsfähige Kom-mission. Das hat simple und praktische Konsequenzen.Ich finde, wir sollten im Zusammenhang mit dem nächs-ten Arbeitsprogramm der Kommission auch darüberdiskutieren, wie wir die Kommissare im Deutschen Bun-destag etwas besser einbeziehen, etwa durch eine Einla-dung zum Meinungsaustausch und all das, was dazuge-hört.Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen. Ichmöchte anregen – der Vorsitzende des Europaausschus-ses, Gunther Krichbaum, ist auch anwesend –, das Expe-riment, das wir im Jahr 2009 auf Initiative von SPD undFDP gemacht haben, nämlich den designierten Kommis-sar in den Deutschen Bundestag einzuladen, zur Selbst-verpflichtung der nationalen Parlamente zu machen.Günther Oettinger ist Christdemokrat – man muss auchdie Kolleginnen und Kollegen der anderen Couleur lo-ben können, wo dies richtig ist – und hat das damals ge-macht. Er war übrigens der Einzige in Europa.
– Ich bekomme einmal Beifall von der Union. VielenDank, liebe Kolleginnen und Kollegen.Wir müssen das in Europa auch im Rahmen unsererMöglichkeiten – Stichwort COSAC – mit voranbringen;neueuropäisch heißt das Good Practice. Wir müssen esschaffen, dass es selbstverständlich wird, dass die Kom-missarinnen und Kommissare, die demnächst wieder zurWahl anstehen, sich vorher auch in den nationalen Parla-menten vorstellen.
Es geht nicht darum, dass wir sie auswählen, sondern umeine andere Form von Rückbindung.Wir bekommen nur dann eine starke Kommission,wenn sie auch stark in den Nationalstaaten verwurzeltist, und zwar im politischen Sinne für die europäischeGemeinschaft statt als spezielle Interessenvertretung desLandes. Dafür ist bekanntlich die Mannschaft und Frau-schaft im Ministerrat zuständig.Wir müssen beim nächsten Mal die Selbstverpflich-tung schaffen, dass wir eine große Zahl von Frauen indie Kommission bekommen wollen. Das wird dieschwierigste Selbstverpflichtung. Ich weiß, wie es inmeiner eigenen Parteifamilie ist. Ich weiß aber auch, wieweit wir schon positiv vorangekommen sind.Es reicht nicht aus, dass wir 1982 unter Odile Quintinmit dem Gleichstellungsprogramm die Frauenbüros inder EU-Kommission erfunden haben, sondern wir müs-sen das auch für die künftigen Kommissionen auf allenEbenen durchsetzen. Und wir müssen die EuropäischeKommission tatsächlich aufgrund des Ergebnisses dernächsten Europawahl im EP wählen. Wir werden vonder Kommission nicht verlangen können, dass sie parla-mentarisch agiert, wenn wir nicht die volle Parlamentari-sierung in Europa durchsetzen.Das heißt – das ist als Selbstverpflichtung an alle indiesem Hause gerichtet –, wir Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten leisten unseren Beitrag dazu, dass dieEuropawahl tatsächlich eine europäische Wahl wird. Ichhoffe sehr – die Grünen haben 2004 mit Daniel Cohn-Bendit begonnen; wir Sozialdemokratinnen und Sozial-demokraten werden mit einem Mann oder einer Frau fol-gen –,
dass wir einen Spitzenmann oder eine Spitzenfrau auf-stellen
– okay, damit bin ich einverstanden, aber bitte eine So-zialdemokratin –, damit wir es schaffen, dass derjenigeoder diejenige als Spitzenkandidat hinterher im Europäi-schen Parlament als Kommissionspräsident oder Kom-missionspräsidentin zur Wahl steht.Wir sollten als Parlamentarier Interesse daran haben.Wir sollten, egal ob wir Regierung oder Opposition sind,kein Interesse daran haben, dass bei der nächsten Euro-pawahl die Kommission schon vorher dadurch ge-schwächt wird, dass Staats- und Regierungschefs im Maisagen, wer Kommissionspräsident wird, egal wie dieEuropawahl ausgeht. Nein, die Europawahl muss die Vo-raussetzung für die Zusammensetzung der Kommissionschaffen, zumindest was den Kommissionspräsidentenoder die -präsidentin anbelangt. Nur so werden wir uns
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Axel Schäfer
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parlamentarisch behaupten können. Nur so wird sich dieEuropäische Kommission auch gegenüber dem Ratdurchsetzen können.
Dabei bitte ich ganz herzlich auch im Namen meinerFraktion und, wie ich sehe, auch mit Unterstützung derKolleginnen und Kollegen der Grünen um Umsetzung.Das wird die Aufgabe sein.Ein Letztes: Wir brauchen auch noch eine Selbstver-pflichtung. Jedes Jahr diskutieren wir das Arbeitspro-gramm der Kommission. Wir sollten uns gemeinsam inden Fraktionen bemühen, dass wir das an noch etwasprominenterer Stelle und dann auch mit mehr Beteili-gung in diesem Hause hinbekommen. Das gilt für alle.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns weiterhin an diesemgemeinsamen Europa arbeiten. Wir Sozialdemokratin-nen und Sozialdemokraten haben eine Reihe von gutenVorschlägen gemacht. Es kommt jetzt darauf an, sie um-zusetzen.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Detlef Seif
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für unsist nicht überraschend, dass das Arbeitsprogramm 2012der EU-Kommission dieses Jahr unter dem Vorzeichender Finanzmarktkrise und der europäischen Staatsschul-denkrise steht. Die EU-Kommission widmet sich des-halb folgerichtig in ihrem ersten Teil des Programms ei-nem Europa der Stabilität und Verantwortung.Letztes Jahr wurde viel auf den Weg gebracht– Staatsminister Link hat das im Einzelnen ausgeführt –:sei es das Europäische Semester, sei es der Sixpack, seies der in diesem Jahr noch zu ratifizierende Fiskalpakt,der insbesondere die Schuldenbremse enthält. Das wirdeine gute Ausgangslage sein, um zukünftig die Staats-finanzen in Europa auf eine solide Basis zu stellen.
Ich halte es auch für richtig, dass die Kommission ei-nen Schwerpunkt auf eine weitere Regulierung desFinanzmarkts legt. Persönlich sehe ich die Einführungeiner Finanztransaktionsteuer aber eher kritisch.
Die Finanztransaktionsteuer hätte weder die Immobi-lienblase in den USA noch die dadurch verursachteFinanzmarktkrise verhindert.
Sie ist sicherlich ein wichtiges Instrument zur Verhin-derung des Turbohandels, des Hochfrequenzhandels.Aber wir müssen hier mit äußerstem Fingerspitzengefühlvorgehen.
Die kritischsten Ausführungen, die davon ausgehen,dass dem Finanzplatz Europa sogar bis zu 200 Milliar-den Euro Wirtschaftskraft entgehen könnten, teile ichnicht. Dennoch kann sie zur Wettbewerbsverzerrungführen und auch den Finanzplatz Europa gefährden. Wirmüssen ein besonderes Augenmerk darauf legen, dassgerade auch die Interessen des Finanzplatzes Deutsch-land gewahrt bleiben.Im zweiten Teil des Programms geht es folgerichtigum eine Union des Wachstums und der Solidarität. Dievernünftige Regulierung des Finanzmarkts sowie dieVorschriften, die die Begrenzung der Staatsverschuldungvorsehen, sind wichtig und unumgänglich. Damit lässtsich aber noch kein Wachstum generieren. Deshalb wid-met sich das Arbeitsprogramm der EU-Kommission fol-gerichtig auch vielen Einzelmaßnahmen zur Belebungdes Binnenmarktes.Eine besondere Herausforderung ist auch für die EU-Kommission, die da im Wesentlichen mitgewirkt hat, beiden Ländern, die in Schieflage geraten sind, Wachstums-impulse zu setzen.Die vielfach vertretene These „Wir brauchen einenMarshallplan; dann wird sich alles lösen“ kann ich abernicht teilen. Die Situation nach dem Zweiten Weltkriegwar eine völlig andere. Europa lag brach. Die Produk-tionsstätten waren zerstört. Vor der Haustüre gab es kei-nen oder kaum Wettbewerb. Der Marshallplan war einSelbstläufer. Wir können mit dem Pumpen von viel Geldin Krisenregionen die Probleme hingegen nicht lösen.Gerade den südeuropäischen Ländern hat nach der Auf-nahme in die Euro-Zone billiges Geld in großem Maßezur Verfügung gestanden. Heute wissen wir: Man hatdieses Geld nicht für Produktion genutzt, sondern über-wiegend in Konsum gesteckt. Auch das war eine Mit-ursache für unsere Staatsschuldenkrise. Das müssen wirzur Kenntnis nehmen. Deshalb werden uns große Wortevon einem Marshallplan nicht weiterhelfen.Die Griechen haben in den letzten Monaten viel er-reicht und große Opfer gebracht. Das wissen wir alle. Ichwünsche mir, dass es den vernünftigen Kräften in Grie-chenland gelingt, sich durchzusetzen, und zwar dauer-haft. Vor allen Dingen wünsche ich mir, dass man dieHilfe, die wir Europäer den Griechen anbieten, tatsäch-lich annimmt.Die Europäische Union kann Griechenland beimWirtschaftsaufbau vielfach unterstützen, so zum Beispiel
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Detlef Seif
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durch die im vergangenen Jahr eingerichtete Taskforce,die meines Erachtens aber personell aufgestockt werdenmuss, um den zügigen Einsatz der bislang noch nicht ab-gerufenen Kohäsionsmittel von rund 15 Milliarden Eurozu ermöglichen.In ihrem Arbeitsprogramm betont die EU-Kommis-sion, dass sie die Rolle Europas auf der Weltbühne stär-ken will. Das ist richtig. Aber hier wird verschwiegen,dass das Kompetenzgerangel innerhalb der EU-Kom-mission und die Missachtung der Kompetenzen der Ho-hen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik haus-gemachte Probleme sind. Hier erwarte ich eine deutlicheNachjustierung durch die Kommission. Auch die Kom-petenzen der Hohen Vertreterin müssen zur Geltungkommen.
Die jüngsten Krisen haben zweifelsohne die Länderder Europäischen Union enger zusammengeschweißt.Die Europäische Union entwickelt sich zunehmend zueiner Schicksalsgemeinschaft. Gerade auch deshalb binich der Meinung, dass die Erweiterungspolitik der Euro-päischen Union zu überdenken ist. Wohin soll Europasteuern? Verstehen wir uns in erster Linie als eine großeWirtschaftsmacht oder als eine Wertegemeinschaft? Istdie EU auf dem richtigen Weg, wenn sie bei der Auf-nahme neuer Mitglieder bei einzelnen Kapiteln nicht nurein Auge, sondern sogar beide Augen zudrückt?
– Ich vermeide es bewusst, in meiner Rede konkreteLänder zu nennen. Sie als erfahrener Europapolitiker derGrünen wissen sicherlich, warum ich das an dieser Stellemache.Meine Damen und Herren, ich erwarte hier Anregun-gen der Kommission. Ich sehe unser gemeinsames Pro-jekt Europa in Gefahr, wenn die zukünftige Erweite-rungspolitik nicht mit Vernunft und Augenmaß betriebenwird. Lassen Sie uns gemeinsam mit der Bundesregie-rung und der EU-Kommission daran arbeiten.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Andrej
Hunko das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir dis-kutieren heute über das Arbeitsprogramm der EU-Kom-mission. Es ist symptomatisch, dass wir die Diskussionüber dieses Arbeitsprogramm mehrfach verschobenhaben, obwohl in der Zwischenzeit weitreichende Ent-scheidungen auf europäischer Ebene und hier im Bun-destag gefällt wurden, die – wie der Kollege Link richti-gerweise gesagt hat – einen Paradigmenwechsel in derEuropäischen Union bedeuten.Ich meine unter anderem das Griechenland-Paket, daswir am vorletzten Montag in einer Sondersitzung desBundestages verabschiedet haben. Es ist nichts anderesals ein Programm des Sozialabbaus und führt zu sozialerVerelendung in Griechenland. So wird der Mindestlohnum 22 Prozent – bei jungen Menschen sind es sogar32 Prozent – gesenkt. Ich weiß nicht, wer die 750 Seiten,auf denen dieses Paket dargelegt wird, tatsächlich gele-sen hat. Wer es aber getan hat, weiß, dass unter anderemdie Gesundheitsausgaben in Griechenland auf 6 Prozentdes ohnehin schrumpfenden Bruttoinlandsproduktes– bei uns dagegen sind es 11 Prozent – gedeckelt wer-den.Die EU-Kommission ist in Form der Troika – zusam-men mit IWF und EZB – an dem Paket für Griechenlandgenauso beteiligt wie an den Paketen für Portugal und Ir-land. Aber dazu finden wir nichts im Arbeitsprogrammder EU-Kommission, ebenso wenig wie zum sogenann-ten Fiskalpakt, der am vergangenen Donnerstag bzw.Freitag in Brüssel beschlossen wurde. Auch daran ist dieEU-Kommission beteiligt. Es handelt sich zwar um ei-nen völkerrechtlichen Vertrag zwischen 25 Ländern, deraber die EU-Kommission einbindet. Aber auch dazu fin-den wir nichts im Arbeitsprogramm der EU-Kommis-sion, genauso wenig wie zur Einrichtung des ESM, derdie andere Seite der gleichen Medaille ist. Man kann sa-gen: Der Fiskalpakt ist die Peitsche, während der ESMdas vermeintliche Zuckerbrot ist. Fiskalpakt und ESMgehören zusammen. An beidem ist die EU-Kommissionbeteiligt. Auch dazu finden wir nichts.Ich will trotzdem ein paar Worte zu diesem Arbeits-programm selbst sagen. Insgesamt ist es von der EU-2020-Strategie geprägt, einer Fortsetzung der gescheiter-ten neoliberalen Lissabon-Strategie aus dem Jahre 2000.Entsprechend kritisch sehen wir dieses Arbeitspro-gramm.
Es gibt ein paar wenige positive Elemente, zum Beispielden Vorschlag zur Ausgestaltung der Finanztransaktion-steuer.Es gibt darin aber auch Sätze wie den folgenden – ichzitiere –:Eine umfassende Reform der Regulierung und Be-aufsichtigung der Finanzmärkte hat das Finanzsys-tem der EU auf eine solide Grundlage gestellt.Man fragt sich: Wo leben die Autoren denn?
Haben sie etwa nicht den letzten Halbjahresbericht derEZB gelesen, in dem es beispielsweise heißt, dass dasFinanzsystem der Euro-Zone so stark gefährdet ist wieseit 2008 nicht mehr?Ist denn in Europa die Finanztransaktionsteuer einge-führt? Sind Hedgefonds verboten worden? Sind die Gift-papiere verboten worden? Ist das Kasino geschlossenworden? All das hat nicht stattgefunden.
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Andrej Hunko
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– Die Europäische Kommission spricht hier von der Re-gulierung der Finanzmärkte, und die hat eben nicht statt-gefunden.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir ste-hen europapolitisch vor sehr weitreichenden Entschei-dungen. Der Fiskalpakt ist zwar unterzeichnet worden,aber noch nicht ratifiziert. Der ESM steht vor der Verab-schiedung. Meine Erfahrung mit dieser Bundesregierungist, dass sie Argumenten sehr wenig zugänglich ist. Des-wegen wende ich mich hier auch an die irische und diefranzösische Bevölkerung:I want to address the Irish people: You have thechance to vote on the fiscal treaty, a possibility that is de-nied to us here in Germany and is denied to hundreds ofmillions of Europeans. I appeal to you to use this oppor-tunity wisely. Please study the fiscal treaty carefully andreject it.
Ich wende mich auch an die französische Bevölke-rung. Sie hat nämlich in der Präsidentschaftswahl dieMöglichkeit – –
– Jetzt werden einige hier ganz aufgeregt.
– Ja, jetzt werden einige hier ganz aufgeregt. – Die fran-zösische Bevölkerung hat bei der Präsidentschaftswahldie Möglichkeit, zumindest Sand in das Getriebe diesesFiskalpaktes zu streuen. Ich appelliere auch an die fran-zösische Bevölkerung, sehr genau hinzuschauen, wel-cher Präsidentschaftskandidat welche Position dazuvertritt, und sich dagegen zu wenden, dass wir einausteritäres und autoritäres – in Frankreich sagt man„une Europe autoritaire et austéritaire“ – Europa bekom-men.Eines ist klar – das sage ich immer am Ende –:Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein.Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Lisa Paus das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Euro-päische Erneuerung“ – so lautet die Überschrift diesesArbeitsprogramms der Europäischen Kommission.Wenn man die letzten beiden Jahre heute einmal nüch-tern Revue passieren lässt, dann kommt man zu demSchluss: Europa hat sich in den letzten beiden Jahrenganz massiv verändert; aber von einer Erneuerung warleider nichts zu spüren. Stattdessen mussten wir erleben,wie nationalstaatliche Restauration quasi aus allen Lö-chern dieser Europäischen Union herausgekrochen ist.
In Bismarck’scher Manier mussten wir erleben, wie Re-gierungschefs Spaziergänge absolviert haben,
Verträge verhandelt haben, unterzeichnet haben.Damit bin ich schon direkt beim Thema Fiskalpakt,meine Damen und Herren von der Koalition. Das Demo-kratiedefizit dieses Fiskalpakts ist eben keine Petitesse.Die intergouvernementale Strategie der letzten beidenJahre ist eben nicht nur ein Schönheitsfehler; damit ein-her geht vielmehr das Problem der Renationalisierungund der Entsolidarisierung. So droht der Grundstein, aufdem die Europäische Union gebaut ist, eingerissen zuwerden. Das ist ein Problem.
Ich möchte es ganz konkret machen. Griechenlandwar heute schon Thema; auch Herr Seif hat sich dazuausgelassen. Herr Seif, die Sendung Monitor hat letzteWoche, sichtbar für alle Bürgerinnen und Bürger im öf-fentlich-rechten Fernsehen, zum Glück deutlich ge-macht, dass wir eine völlig schräge Debatte führen. DerBürger ist der Auffassung, wir hätten bereits Kosten inMilliardenhöhe gehabt und der deutsche Steuerzahlerhätte in den letzten zwei Jahren für die EuropäischeUnion geblutet. Richtig ist: Wir haben über Garantienabgestimmt, und wir sind Risiken eingegangen, aber ge-kostet hat uns das bisher noch nicht einen einzigen Euro.Im Gegenteil besteht die absurde Situation, dassDeutschland Krisengewinnler ist und von der aktuellenKrise profitiert. Der deutsche Bundeshaushalt ist durchdiese Krise um 50 Milliarden Euro entlastet worden,weil im Gegensatz zu früher momentan lieber Bundes-anleihen als die Anleihen anderer Staaten gekauft wer-den.
Dieses Land hat die Exportüberschüsse um über50 Milliarden Euro erhöhen können,
weil sich die Wettbewerbsfähigkeit aufgrund der Kriseverbessert hat und weil der Euro leicht abgewertetwurde. Deshalb sind 100 Milliarden Euro mehr in derdeutschen Kasse und nicht weniger. Die schräge De-batte, die wir hier in Deutschland führen, ist das Produkt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19777
Lisa Paus
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Ihrer Renationalisierungsstrategie. Deswegen müssenwir damit aufhören.
Kollegin Paus, gestatten Sie eine Frage oder eine Be-
merkung?
Bitte, Herr Seif.
Zunächst einmal haben Sie eine Meinung geäußert,
die sich nicht mit der Meinung der Koalition deckt und
sich nicht in Übereinstimmung mit der praktischen Poli-
tik der Koalition befindet.
Meine Frage an Sie lautet: Meinen Sie nicht, dass
Europa darauf angewiesen ist, dass wir ein wirtschaftlich
starkes und finanziell gut aufgestelltes Deutschland ha-
ben? Denken Sie an die EFSF. Wir müssen aufgrund un-
serer Stellung als Staat mit einer Triple-A-Bewertung
viel mehr aufbringen als andere Staaten. Ist es also nicht
gut für Europa, dass es ein starkes Deutschland gibt und
Deutschland ein Schlüsselland in Europa ist?
Herr Seif, das habe ich überhaupt nicht in Abrede ge-stellt. Aber in der Tat ist die spannende Frage, ob es fürEuropa gut ist, wenn Deutschland die Ungleichgewichteinnerhalb der Europäischen Union weiterhin verschärft,indem sich diese Bundesregierung und die Koalitionnach wie vor weigern, das Thema der Leistungs-bilanzungleichgewichte in der Europäischen Unionadäquat zu thematisieren und einen Beitrag dazu zu leis-ten, dass die Länder der Europäischen Union noch stär-ker zusammenwachsen, anstatt dass sie weiter auseinan-derdriften.
Ich habe auf das Demokratiedefizit des Fiskalpaktshingewiesen. Auch das Arbeitsprogramm der Europäi-schen Kommission unterstreicht, dass dieser Fiskalpaktnicht nur was die Demokratiefrage angeht, zu kurzgreift, sondern dass er auch inhaltlich zu kurz greift. Eswerden zwei Punkte angeführt, die auch wir Ihnen vor-getragen haben. Ich möchte somit die Kommission alsAnwalt zitieren und Ihnen die Lektüre des Arbeitspro-gramms ans Herz legen.Zum Ersten finden Sie die Binsenweisheit – das führtbei Ihnen aber leider nicht zu Taten –, dass wir aus derKrise nur herauskommen, wenn wir sparen und investie-ren.Zum Zweiten steht in diesem Programm, dass dieKonsolidierungsanstrengungen nicht allein über Ausga-benkürzungen geleistet werden können, sondern dassauch Einnahmeerhöhungen erfolgen müssen. Deswegenmüssen wir in der Europäischen Union gemeinsamSteuerflucht bekämpfen; denn das ist wegen der Libera-lisierung und der Binnenmarktfreiheit national nichtmehr möglich. Wir brauchen gemeinsame Anstrengun-gen zur Reduzierung der Steuerflucht. Wir brauchen einegemeinsame konsolidierte Bemessungsgrundlage fürUnternehmen, damit es keinen schädlichen Steuerwett-bewerb innerhalb der Europäischen Union gibt. Wirbrauchen auch Mindeststandards bei der Energiebesteue-rung, und wir müssen erreichen, dass die Einführung derFinanztransaktionsteuer nicht nur in jeder Rede vor-kommt, sondern dass diese Steuer endlich Realität in derEuropäischen Union wird.
Die Haltung der FDP in der Debatte um die Finanz-transaktionsteuer ist besonders unerträglich. Ich will dendisparaten Chor der Einzelstimmen nicht wiederholen.
Auch Herr Seif hat sich ja diesbezüglich heute noch ein-mal geäußert. Ich möchte an dieser Stelle nur eines sa-gen: In diesem Hause gibt es zumindest für die Einfüh-rung einer Finanztransaktionsteuer, werte CDU/CSU,eine Zweidrittelmehrheit; das wissen Sie. Für den Fis-kalpakt gibt es die Zweidrittelmehrheit in diesem Hausebisher noch nicht.
Herr Krichbaum, Sie sagten, die Grünen hätten viel-leicht ein Problem, weil alle anderen Grünen in derEuropäischen Union zustimmen würden; deshalb könn-ten wir nicht anders. Diesbezüglich kann ich Sie infor-mieren, dass das nicht der Fall ist.
Es wäre eher umgekehrt. Wenn wir Grüne zustimmenwürden, dann wären wir mit den finnischen Grünen dieEinzigen und somit in der Minderheit. Es geht also umAnstrengungen Ihrerseits. Draußen versteht kein Bürgerund keine Bürgerin, warum die Finanztransaktionsteuerin der Europäischen Union nicht endlich kommt. Deswe-gen wollen wir mit Ihnen darüber reden, ganz konkret,dass die Devisen mit einbezogen werden und dass dieDerivate mit einbezogen werden. Wir brauchen konkreteVerabredungen zur Finanztransaktionsteuer im Rahmender Fiskalpaktdebatten hier im Deutschen Bundestag.
– Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
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19778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Lisa Paus
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„Nicht nur sparen, auch investieren“, das kommt inden Sonntagsreden der Bundeskanzlerin inzwischen vor;konkret gibt es dazu gar nichts, Geld sowieso nicht. Ichwürde trotzdem Ihren Blick noch einmal auf das Arbeits-programm richten wollen. Das Arbeitsprogramm gibtzumindest Hinweise auf die zentralen Wachstumsfelder,die erst einmal noch keinen zusätzlichen Euro kosten.In der Energiewende und der Energieeffizienzrichtli-nie – das sind zwei Beispiele, die ich nennen will –steckt richtig Wachstumspotenzial. Was machen Sie? Sieblockieren! Zur Energieeffizienzrichtlinie gibt es keineMeinung dieser Koalition. Die Umsetzung würde jedenPrivathaushalt in der Europäischen Union um 1 000 Euroentlasten und 2 Millionen Arbeitsplätze schaffen. Dasnur als ein Beispiel. Deswegen: Geben Sie sich zumin-dest an dieser Stelle einen Ruck für mehr Zukunft in Eu-ropa!Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Karl Holmeier für die
Unionsfraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
„Europäische Erneuerung“ – so lautet der Titel des dies-
jährigen Arbeitsprogramms der Europäischen Kommis-
sion. Ein solcher Titel klingt überaus vielversprechend,
und er weckt auch große Erwartungen.
Für uns als Parlamentarier ist dieser Titel daher zu-
gleich aber auch eine große Verpflichtung. Denn seit wir
uns als nationales Parlament mit dem Vertrag von Lissa-
bon neue Rechte im europäischen Gesetzgebungsprozess
erkämpft haben, sind wir natürlich auch in der Pflicht,
uns frühzeitig aktiv mit den anstehenden europäischen
Themen auseinanderzusetzen. Das Arbeitsprogramm der
Europäischen Kommission stellt hierfür den Auftakt dar.
Es kann daher in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Ich möchte an dieser Stelle gern
auf einige mir besonders wichtig erscheinende Punkte
dieses Programms eingehen.
Wie wir schon öfter gehört haben, liegt der Schwer-
punkt des Programms auf der Schaffung von Stabilität
und Wachstum.
Meine Damen und Herren, wir brauchen ein Europa,
das wirtschaftlich und finanzpolitisch auf festen Füßen
steht, ein Europa der Verantwortung, das sich gerade we-
gen seiner Stabilität auch Solidarität leisten kann. Dabei
müssen wir Schuldenabbau auf der einen Seite und
Wachstum auf der anderen Seite miteinander in Einklang
bringen. Hier sind mir die geplanten Maßnahmen des
Arbeitsprogramms der Kommission zum Schuldenabbau
ein wenig zu einseitig. Die Europäische Kommission
will hauptsächlich die Einnahmeseite erhöhen und ver-
nachlässigt zu stark die Ausgabenseite. Daran muss sich
etwas ändern; denn die Wachstumsagenda muss mit ei-
ner echten Konsolidierung einhergehen.
Dass dies kein Widerspruch ist, zeigt das Beispiel
Deutschland. Wir sind trotz massiver Sparanstrengungen
die Wachstumslokomotive in Europa. Gott sei Dank ha-
ben wir ein starkes Deutschland, und dies, meine Damen
und Herren, liegt sicherlich an der guten und erfolgrei-
chen Politik der christlich-liberalen Regierung.
Kritisch anmerken muss ich auch, dass es die Euro-
päische Kommission offenbar nicht lassen kann, in im-
mer wiederkehrenden Abständen nach einer eigenen
Steuer als EU-Eigenmittel zu streben; nun über die Fi-
nanztransaktionsteuer, die wir und auch ich im Grund-
satz sehr begrüßen. Die Forderung nach einer eigenen
europäischen Steuer weisen wir aber ebenso hartnäckig
zurück, wie sie von der Kommission erhoben wird.
Sehr zu begrüßen ist die Absicht, die Mindestdauer
öffentlicher Konsultationen im Anschluss an einen
Kommissionsvorschlag um vier Wochen zu verlängern.
Kollege Holmeier, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Sarrazin?
Gern.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Kollege Holmeier,Sie wissen, dass ich ein großer Freund vieler europäi-scher konservativer Parteien bin, in vielen Bereicheninsbesondere ein großer Anhänger der Politik der polni-schen Konservativen von Ministerpräsident Tusk. Jetzthaben die polnischen Konservativen eine ganz anderePosition als Sie. Sie sind nämlich für die Finanztrans-aktionsteuer, und zwar ausdrücklich als europäischesEigenmittel, weil sie finden, dass es den polnischen Inte-ressen widerspricht, wenn nachher polnische Unterneh-men über den Finanzplatz Frankfurt sozusagen zumdeutschen Steueraufkommen beitragen.
Deswegen frage ich Sie hier, ob die Linie der Bundes-regierung, die Finanztransaktionsteuer als europäischesEigenmittel zu verhindern, nicht letztlich erstens demgemeinsamen Interesse, dass sich möglichst viele Staa-ten daran beteiligen, schadet und zweitens auch den Inte-ressen der polnischen Konservativen diametral entge-gensteht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19779
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Das ist die Meinung der polnischen Partei. Wir haben
natürlich eine andere Meinung. Wir sind dafür, dass
Europa keine eigene Steuer bekommt.
– Ja, aber als deutsche Steuer. Wir wollen nicht, dass das
eine europäische Steuer wird.
Dass die Mindestdauer öffentlicher Konsultationen
um vier Wochen verlängert wird, habe ich schon ange-
sprochen. Dies ist angesichts der Fülle und Komplexität
vieler Vorschläge positiv zu bewerten und fördert unser
aller Ziel, Europa bürgernäher zu machen.
Als Kommunalpolitiker, der ich noch immer bin, freut
es mich natürlich besonders, dass unsere Forderungen
nach Bürokratieabbau auf europäischer Ebene nun we-
nigstens im Ansatz Gehör gefunden haben. Ich sage aber
ganz klar: Hier geht noch mehr. Unser ehemaliger baye-
rischer Ministerpräsident Edmund Stoiber hat zwar
schon einiges erreicht, aber es muss noch mehr möglich
sein.
Erfreut habe ich auch das Ziel zur Kenntnis genom-
men, einen integrierten, wettbewerbsfähigen und benut-
zerfreundlichen europäischen Zahlungsverkehr zu schaf-
fen. Hier hat der Deutsche Bundestag mit seinem
Entschließungsantrag aus dem letzten Jahr zur SEPA-
Verordnung einen überaus wichtigen Beitrag dazu ge-
leistet, dass nun die vom Rat verabschiedete Verordnung
tatsächlich nutzerfreundlich geworden ist. Danach sah es
am Anfang gar nicht aus. Das ist ein hervorragendes
Beispiel dafür, wie wichtig es ist, sich frühzeitig mit den
europäischen Themen zu befassen und insofern auch das
Arbeitsprogramm der Kommission sehr ernst zu neh-
men.
Abschließend möchte ich als Berichterstatter für den
Güterkraftverkehr im Verkehrsausschuss gern noch et-
was zu diesem Thema sagen. Es freut mich, dass die
Kommission einen Bericht vorlegen möchte, der die
Lage auf dem Güterkraftverkehrsmarkt analysiert. Das
erscheint mir sehr wichtig und auch dringend notwendig.
Wenn ich jedoch im Programm lese, dass gleichzeitig
ein neues Legislativpaket für den Zugang zum Güter-
kraftverkehrsmarkt und zum Beruf des Kraftverkehrsun-
ternehmers vorgelegt werden soll, dann erscheint mir
das positiv zu sehende Bestreben einer vorgeschalteten
Analyse etwas unglaubwürdig. Vielleicht sollte man hier
strategisch etwas klüger vorgehen, den Bericht zunächst
abwarten und ihn sich dann in Ruhe anschauen.
Wenn ich dann noch lese, dass Spediteure in die Vor-
schriften über den Zugang zum Beruf des Kraftverkehrs-
unternehmers einbezogen werden sollen, bestätigt das
meinen Eindruck, dass hier häufig Vorschriften von Leu-
ten gemacht werden, die von der Praxis wenig Kenntnis
haben.
Sehr positiv hingegen sehe ich die Pläne zur Schaf-
fung eines einheitlichen Rahmens für die Erhebung von
Straßenbenutzungsgebühren. Auch die Überlegungen
zur Einbeziehung leichter Nutzfahrzeuge und gegebe-
nenfalls auch einer Pkw-Vignette finden meine vollste
Unterstützung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, man sieht,
welche Tragweite dieses Arbeitsprogramm der Europäi-
schen Kommission hat. Ich denke, das Beispiel SEPA
zeigt, wie wichtig es ist, sich frühzeitig einzubringen.
Wenn wir alle das gemeinsam ernst nehmen, dann haben
wir gute Chancen, die von der Europäischen Kommis-
sion in Angriff genommene „Europäische Erneuerung“
zu schaffen.
Vielen Dank.
Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Stefanie Vogelsang für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank. – Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debattebleibt nicht mehr auf viele Punkte aufmerksam zu ma-chen. Ich denke, die wesentlichen Dinge sind schon an-gesprochen worden.Ich möchte noch einmal das Arbeitsprogramm derKommission mit den vier Bestandteilen, in denen es auf-gelegt ist, würdigen. Ich möchte meinen Schwerpunktauf den zweiten Bestandteil legen, und zwar auf die Frei-setzung von Wachstumskräften und Solidarität. Ichmöchte ganz konkret zwei Punkte aus dem Bereich derGesundheitsforschung, nämlich insbesondere die Stär-kung des Wettbewerbs – nicht aus Selbstzweck, sondernim Hinblick auf die Qualität der Versorgung der Men-schen in der Europäischen Union –, ansprechen.Mir ist wichtig, am Anfang eines deutlich zu machen:Wir sind in unserer Strategie zum Aufbau der Europäi-schen Union nicht davon ausgegangen, dass wir uns alsVölker einfach zusammentun, sondern unsere Botschaftwar von Anfang an auf eine Friedens- und eine Werte-gemeinschaft gerichtet. Ich glaube, dass es auch Auf-gabe der Europäischen Kommission in diesem und imnächsten Jahr sein muss, Werbung bei den Menschen inden europäischen Ländern dafür zu machen, dass wirsolidarisch miteinander für diese europäische Werte-gemeinschaft einstehen und dass wir als europäischeVölker auch den jeweiligen anderen Völkern Vertrauenentgegenbringen.Ich glaube, die Diskussion um die Staatsschulden-krise in den unterschiedlichen Ländern innerhalb Euro-pas zeigt, dass jedes Land einen anderen Schwerpunktsetzt. In Deutschland reden wir über die Belastung desdeutschen Steuerzahlers. In Griechenland wird über die
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19780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Stefanie Vogelsang
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Art und Weise geredet, wie die Menschen dort einge-schränkt werden. In Frankreich wird der Schwerpunktauf den einen Bereich und in anderen Ländern auf an-dere Bereiche gelegt.Im Mittelpunkt unserer Philosophie und unseres Ge-dankenganges steht, dass die Europäische Union der Ga-rant für einen Wertekanon Europa ist. Die EuropäischeUnion ist nur möglich, wenn alle zusammenhalten undsie innerhalb der Bevölkerung akzeptiert wird, das heißtvon den Eliten, aber natürlich auch von den einfachenMenschen in den Ländern. Dies kommt mir etwas zukurz. Ich bitte herzlich darum, dass wir in Deutschlandoder in den unterschiedlichsten Ländern, die wir auf De-legationsreisen besuchen, unser Augenmerk auf diesenAspekt legen.
Vertrauen der Völker untereinander liegt also im Inte-resse des gemeinsamen Wertekanons und auch im Inte-resse des gemeinsamen Wohlstandes.Block zwei des Arbeitsprogramms der EuropäischenKommission ist ausgerichtet auf die Unterstützung derKräfte des Binnenmarktes, auf das Freilegen von Wachs-tumskräften. Das wird nicht aus Selbstzweck gemacht.Es geht in der Europäischen Union oder in unseren De-batten nicht darum, aus Selbstzweck diesen Wachstums-kurs zu formulieren und aus Selbstzweck die einzelnenMeilensteine zu setzen. Es geht ausschließlich darum,den Wohlstand und die Lebensqualität aller Menschen,die in Europa zusammenleben, zu stabilisieren, zu meh-ren und auf einem hohen Stand zu halten. Deswegensind alle Maßnahmen, die im Binnenmarkt Wachstums-kräfte freisetzen, von allerhöchstem Interesse für jedeseinzelne Mitglied der Europäischen Union.Wir haben vor zwei Jahren im deutschen Parlament,als die Debatten über Griechenland begannen, aus derCDU/CSU-Fraktion heraus unsere Regierung aufgefor-dert, eine Diskussion über die Gläubigerbeteiligungbeim Schuldenschnitt und über die Staatshaushaltskrisein Griechenland zu führen. Wir haben unsere Regierungbeauftragt, über eine Gläubigerbeteiligung in den euro-päischen Gremien zu sprechen. Heute, wenn ich es rich-tig gesehen habe, hat die griechische Regierung mitge-teilt, dass sich nahezu 90 Prozent der privaten Gläubigeram Schuldenschnitt beteiligen. Ich finde, das ist ein ein-drucksvolles Zeichen erfolgreicher deutscher Europa-politik.
Deswegen sehe ich das sehr, sehr positiv.Ich würde gerne einen Übergang formulieren, aberweil mir das nicht gelingt, mache ich lieber einenSchnitt: In dem Arbeitsprogramm der EuropäischenUnion stehen 127 einzelne Maßnahmen. Mir kommt esdabei auf einen einzelnen Punkt an, nämlich auf dieSchaffung eines einheitlichen Zugangsmarktes für inno-vative Medizinprodukte und innovative Produkte ausdem Bereich der Gesundheitsforschung. Ich glaube, esist nicht positiv, weder für die Kraft des Wachstums nochfür die Versorgung der Menschen mit diesen wichtigengesundheitsfördernden Gütern, dass wir 20 verschiedeneZulassungsverfahren mit ganz unterschiedlichen Krite-rien für den Zugang zu unseren Gesundheitsmärkten ha-ben. Ich denke, eine Vereinheitlichung muss das Zielsein. Mit diesem Anliegen, dass alle Menschen in Eu-ropa medizinisch gleich gut versorgt werden, möchte ichschließen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Leiharbeit verbieten und in reguläre Beschäf-
tigung umwandeln
– Drucksache 17/8794 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen auf der rech-
ten Seite des Hauses, die an der Debatte nicht mehr teil-
nehmen können, uns möglichst schnell die entsprechen-
den Bedingungen zu gewährleisten, dass ich die
Aussprache eröffnen kann.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit nahezuzehn Jahren entwickelt sich die Leiharbeit in Deutsch-land negativ. Dank der Aufweichung von Rot-Grünwurde das Prinzip „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“gesetzlich unterlaufen. Leiharbeit wurde zu einem Mas-senphänomen.
Seitdem versuchen wir, die Leiharbeit wieder in denGriff zu bekommen.Wenn ich mir anschaue, welche Konsequenzen Leih-arbeit für die Menschen hat, werde ich regelrecht wü-tend.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19781
Jutta Krellmann
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Mittlerweile kratzt die Zahl der Leiharbeitnehmerinnenund Leiharbeitnehmer an der Millionenmarke. 120 000von ihnen müssen ihr Gehalt mit staatlicher Unterstüt-zung aufstocken. Kaum Geld zum Leben und die Angst,wieder keinen dauerhaften Job zu finden – das ist Alltagfür diese Menschen.Die Zahlen sind deutlich: Der angebliche wirtschaftli-che Aufschwung Deutschlands – in einer Zeit, in der eu-ropaweit die Arbeitslosenzahlen steigen – ist vor allemein Aufschwung in der Leiharbeit. Noch im letzten Mo-nat verzeichnete die BA die meisten offenen Stellen imBereich der Leiharbeit – mehr als im Handel, im Ge-sundheits- und Sozialwesen und im verarbeitenden Ge-werbe zusammen.Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken; ich jedenfallsmöchte nicht an der Ausbeutung meiner Mitmenschenbeteiligt sein.
Wir müssen das alte Gerede von einem Job um jedenPreis endlich durch eine strukturelle Diskussion übergute Arbeit ersetzen. Die Linke will sich mit der Leihar-beit nicht abfinden und fordert deshalb ein Ende diesermenschenverachtenden Form der Erwerbsarbeit.
Mit dieser Forderung stellen wir uns an die Seite vonüber 90 Prozent der Bevölkerung, die die unterschiedli-che Bezahlung von Beschäftigten mit gleicher Tätigkeitinnerhalb eines Betriebes für falsch halten.Wir müssen aufhören, uns von den Wirtschaftsver-bänden vor den Karren spannen zu lassen; denn diesehaben Leiharbeit als strategisches Instrument zumLohndumping und zur Spaltung von Belegschaften ge-nutzt. Nach den völlig unzureichenden gesetzlichen Än-derungen im vergangenen Jahr entdeckt die Wirtschaftjetzt Werkverträge als einen neuen Weg zum Billiglohn.Das ist eine richtige Sauerei!
Leiharbeit, Werkverträge und Befristungen habeneine doppelte Disziplinierungsfunktion gegenüber Be-schäftigten, Gewerkschaften und Erwerbslosen. Selbstwenn wir Equal Pay zurückerobert hätten: Leiharbeit-nehmer hätten immer noch einen anderen Status als Fest-angestellte und müssten wie befristet Beschäftigte Sorgehaben, dass sie nicht weiterbeschäftigt oder übernom-men werden, insbesondere dann, wenn sie den Mundaufmachen und sich für ihre Rechte einsetzen.Leiharbeit besser zu regeln und Equal Pay einzufüh-ren, wäre ein wichtiger erster Schritt. Wenn man aber zueiner guten, angstfreien Arbeit kommen will, dann mussman Leiharbeit abschaffen.
Denn nur auf diesem Wege untersagt man es den Arbeit-gebern, Leiharbeit als Instrument zur Disziplinierungvon Beschäftigten und zur Spaltung von Belegschaftenzu nutzen.
Wer einen Leiharbeitsjob nicht annehmen will, demdroht Hartz IV als weiteres Disziplinierungsinstrument.
Daher werden wir auch in Zukunft alles daransetzen,dass Leiharbeit bald nur noch an einem Ort zu finden ist –in den Geschichtsbüchern. Ich sage Ihnen: Sie werdenuns unsere Hoffnung, dass sich hier etwas ändert, nichtnehmen.
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Krellmann hat wieder versucht, in der Öf-fentlichkeit ein Zerrbild der Arbeitswelt entstehen zulassen. Die Fraktion der Linken glaubt, dass Leiharbeitder Ursprung allen Übels in der Arbeitswelt sei. VerehrteKolleginnen und Kollegen, das ist beileibe nicht so.
Gerade einmal 3 Prozent der sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten in Deutschland sind in Zeitar-beitsfirmen beschäftigt.
Das zeigt sehr deutlich, dass nur ein ganz kleiner Bruch-teil der Bürgerinnen und Bürger, die einer Arbeit nach-gehen, in Zeitarbeitsfirmen beschäftigt sind.
Zusätzlich, Frau Kollegin Krellmann, ist zu verzeich-nen, dass es sich auch bei der Zeitarbeit um reguläre, so-zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnissehandelt
und die Zeitarbeit dazu angetan ist, Arbeitsspitzen in denBetrieben abzufedern.
In dem wirtschaftlichen Aufschwung, den wir derzeitdank der guten Wirtschaftspolitik dieser Bundesregie-rung erleben, sind natürlich mehr Arbeitsspitzen abzuar-beiten, als wenn wir eine Rezession zu verzeichnen hät-
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19782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Max Straubinger
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ten. Deshalb gibt es auch bei der Zeitarbeit einenAufschwung.
Verehrte Kollegin Krellmann, dass dies zutreffend ist,zeigt sich auch darin, dass nur 50 Prozent der Zeitarbeit-nehmerinnen und Zeitarbeitnehmer länger als drei Mo-nate im selben Betrieb beschäftigt sind. Das ist ein ein-deutiges Indiz dafür, dass die Zeitarbeit zur Abarbeitungvon Arbeitsspitzen eingesetzt wird.
Ein Weiteres ist, dass Zeitarbeit eine Brücke in denersten Arbeitsmarkt ist, weil sie die Chance bietet, in dieStammbelegschaft übernommen zu werden. Gerade inwirtschaftlich guten Zeiten, wie wir sie derzeit hier erle-ben können, in denen eine große Nachfrage nach Ar-beitskräften besteht, zeigt sich sehr deutlich, dass sehrviele Zeitarbeitnehmer in die Stammbelegschaft aufge-nommen werden.Laut Zahlen des iGZ sind im vierten Quartal desJahres 2011 34,7 Prozent der Zeitarbeitnehmer in dieStammbelegschaften der Betriebe aufgenommen wor-den. Das zeigt sehr deutlich, dass die Zeitarbeit Chanceneröffnet. Dies gilt auch für gering qualifizierte Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. Langzeitarbeits-lose.
Laut iGZ-Umfrage sind sogar 70 Prozent der Zeitarbeit-nehmer, die über eine abgeschlossene Berufsausbildungoder eine höhere Qualifizierung verfügen, in die Stamm-belegschaft aufgenommen worden. Das zeigt sehr deut-lich, welche Chancen in der Zeitarbeit liegen. Sie wollendie Zeitarbeit verbieten und damit den Menschen dieseChancen nehmen, verehrte Damen und Herren.
Ich möchte aber nicht verhehlen, dass es in der Ver-gangenheit auch Probleme gab und dass es Situationengibt, über die man diskutieren muss. Die Zeitarbeit hatsicherlich durch zu geringe Lohnabschlüsse, die zu ver-zeichnen waren, einen schlechten Ruf bekommen. Ichmöchte aber herausstellen, dass diese Bundesregierungdafür gesorgt hat, dass seit 1. Januar dieses Jahres einMindestlohn in der Zeitarbeit Gültigkeit hat, also eineLohnuntergrenze eingezogen worden ist.
Dann gibt es Klagen darüber, dass es einen sogenann-ten Drehtüreffekt gegeben hat, dass nämlich Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer in Unternehmen ausgestelltworden sind,
sie aber gleichzeitig das Angebot erhalten haben, füreine betriebseigene Zeitarbeitsfirma wieder am selbenArbeitsplatz tätig zu werden. Das ist dank dieser Bun-desregierung seit Juli vergangenen Jahres verboten.
Sie hat also auch hier für Ordnung im Bereich der Zeitar-beit gesorgt.Letztendlich gilt es, verehrte Kolleginnen und Kolle-gen, daran zu arbeiten, bessere Bedingungen im Zeitar-beitnehmerbereich zu schaffen. Diese Bundesregierunghat sich das auf die Fahnen geschrieben. Aber zuerstsind die Tarifparteien gefordert. Sie stehen jetzt in Ver-handlungen – besonders die IG Metall, aber auch die an-deren Gewerkschaften –, um hier gute Verträge auszu-handeln und unter Umständen auch noch gleichen Lohnfür gleiche Arbeit nach drei Monaten am selben Arbeits-platz durchzusetzen. Wir sind sehr optimistisch, dassdies erreicht werden kann.Wir geben der Tarifautonomie den Vorrang. Sie abersind nur eine Verbotspartei, die den Arbeitsmarkt letzt-endlich stranguliert. Diesen Weg werden wir nicht mit-gehen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus
Barthel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istschon richtig, dass wir das Thema Leiharbeit auf der Ta-gesordnung halten; das gilt auch für das Thema Werk-verträge. Denn leider steigen die entsprechenden Zahlenweiterhin an, und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarktist besorgniserregend.Zunächst einmal müssen wir uns die Grundsatzfragestellen, was für eine Arbeitswelt wir in Zukunft eigent-lich wollen. Wollen wir die, die neulich im Spiegel – eswar in der Ausgabe 6/2012 – beschrieben worden ist?Der Artikel „Frei schwebend in der Wolke“ stellt einBelegschaftsmodell vor, das bei IBM diskutiert wird.Demnach sollen kleine Kernmannschaften ein Heer vonAuftragnehmern dirigieren, die unter den miesesten Be-dingungen arbeiten. Das ist das Konzept „Prekarität fürmöglichst viele und Sicherheit für möglichst nieman-den“. Die Entwicklung auf unserem Arbeitsmarkt gehtin der Tendenz in diese Richtung; das muss man ganzklar sehen.Die Alternative ist das Modell, das uns erfolgreichdurch die Krise gebracht hat: Kurzarbeiterregelung,Konjunkturprogramme, Arbeitszeitkonten, Flexibilitätauf der Grundlage von betrieblicher Mitbestimmung undvon gewerkschaftlichen Tarifvereinbarungen auf Augen-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19783
Klaus Barthel
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höhe. Das ist sozusagen das Gegenmodell. Welches Mo-dell wir wollen, ist die erste Frage, die wir klären müs-sen.Die zweite Frage ist eine Grundsatzfrage, die geradeim Zusammenhang mit Europa diskutiert worden ist.Wollen wir tatsächlich die anderen Länder in Europa mitunseren Exportüberschüssen plattmachen und jetzt dieGriechen, Spanier und andere zwingen, ihren Kündi-gungsschutz abzubauen, Tarifverträge nur noch auf be-trieblicher Ebene abzuschließen, in Tarifverträge einzu-greifen und Löhne zu senken? Oder sagen wir, dassunsere Vorstellung von Europa einem sozialen Europamit gesicherten und geregelten Arbeitsmärkten, in denenLeiharbeit begrenzt werden muss – ich komme daraufnoch zu sprechen –, entspricht?
Herr Straubinger, ich bin an einem Freitagnachmittagjedes Mal gespannt, was die Koalition zu einer solchenDebatte beiträgt. Wir erleben schließlich am Beispiel desMindestlohns, welch eine Inszenierung die CDU/CSUseit Monaten hier vorführt: Sind Sie jetzt für oder gegenden Mindestlohn? Dann verhandeln Sie vor und nachParteitagen untereinander.
Dann sagen Sie: Schauen wir einmal, ob wir im Märzvielleicht zu irgendeiner Einigung kommen. Aber da-nach müssen wir erst noch mit der FDP reden.
Diese Diskussion kann man doch aktuell in den Me-dien nachverfolgen. Eine solche Inszenierung muss Ih-nen doch langsam peinlich sein, Herr Straubinger.
Bezüglich der Leiharbeit haben Sie es gerade nocheinmal dokumentiert. Sie haben hier die Leiharbeit ver-teidigt und das Hohelied auf die tollen Erfolge aufgrunddieser Leiharbeit gesungen. Dann liest man aber in IhrerVorschau auf die heutige Debatte – das ist das, was Sievon der CSU in den Sozialausschüssen herumreichen –:Die CSU fordert jedenfalls, dass Zeitarbeitnehmer nachdrei Monaten den gleichen Lohn erhalten müssen wieStammbeschäftigte. – Bravo! Dann machen Sie es dochendlich.
Sie erzählen, was die Stammtische hören wollen. AberSie machen hier etwas ganz anderes. Das haben wir jetztlangsam satt.
Ich könnte noch viel zitieren. Das, was Sie machen,erinnert mich immer ein bisschen an den Antrag auf Er-teilung eines Antragsformulars.Zum Antrag der Linken. Ich glaube, auch Sie müssensich langsam festlegen, was Sie eigentlich wollen. Wol-len Sie Equal Pay? Oder wollen Sie die Leiharbeit ab-schaffen? Ich glaube, das Abschaffen der Leiharbeitwürde den Betroffenen wenig helfen. Denn wenn Sie dieUnternehmen zwingen würden, die Mitarbeiter zu über-nehmen, dann wären sie in dem Moment draußen, indem hier das Gesetz verabschiedet wird. Darüber hinausdenke ich, dass so etwas in einer modernen Wirtschaftnicht funktioniert.Ich würde uns allen empfehlen: Nehmen wir docheinfach die Befürworter der Leiharbeit und der Zeitarbeiternst, die da sagen: Wir brauchen das eben für Produk-tionsspitzen; in einer modernen Wirtschaft muss so et-was möglich sein. – Wir können ihnen dann entgegnen:Produktionsspitzen sind Zeiten, in denen die Arbeit be-sonders produktiv ist und in denen mehr Wert durch dieNutzung des schon vorhandenen Maschinenparks ent-steht, wodurch höhere Gewinne erzielt werden. Es istdoch das Mindeste, dass die Leiharbeiter vom ersten Tagan das gleiche Gehalt wie die festen Mitarbeiter bekom-men.
Die Leiharbeit darf nicht billiger sein, so wie das jetztder Fall ist.Klar ist: Leiharbeit wird missbraucht. Wir wissen,dass Leiharbeiter im Durchschnitt ein Drittel bis dieHälfte weniger an Lohn bekommen. Wir beobachten,dass die Leiharbeit in Bereichen eingeführt wird, in de-nen sie nichts zu suchen hat. In der Pflege, in den Kran-kenhäusern, in der Gebäudereinigung und im Verkehrs-bereich gibt es keine Produktionsspitzen, sondern eshandelt sich dort um Arbeit, die immer geleistet werdenmuss. Hier findet eindeutig Missbrauch statt, den wirdurch gesetzliche Maßnahmen unterbinden müssen.
Was Herr Straubinger eben erzählt hat, ist eindeutigwiderlegt. Die Lobbyistenpropaganda, dass es zu einemKlebeeffekt kommen würde, hat das IAB schon hundert-fach widerlegt. Es gibt so gut wie keinen Klebeeffekt,und es gibt so gut wie keine Qualifizierungserfolge.
Es gibt so gut wie keine Maßnahmen, die dazu führen,dass die Langzeitarbeitslosigkeit abgebaut wird; dennklar ist: Betriebe, die Mitarbeiter brauchen, würden auchLangzeitarbeitslose einstellen. Falls die Betriebe aberkeine Mitarbeiter brauchen, stellen sie auch keine Leih-arbeiter ein.
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19784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Klaus Barthel
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Unsere Forderungen bleiben bestehen: Begrenzungder Leiharbeit auf ein Jahr – das haben wir in verschie-denen Anträgen deutlich gemacht –, Equal Pay zu einemmöglichst frühen Zeitpunkt, Mindestlohn für die entleih-freie Zeit – der muss natürlich dynamisch gestaltet wer-den – und Synchronisierungsverbot.Wir fordern vor allen Dingen die Ausweitung der be-trieblichen Mitbestimmung – das haben Sie gar nichterwähnt –; denn auch die Betriebsräte müssen kontrollie-ren, was in dem Betrieb, für den sie verantwortlich sind,hinsichtlich der Leiharbeit passiert. Anders geht es nicht.Aus dem Verleihbetrieb heraus ist so etwas nicht mög-lich. Außerdem müssen Leiharbeitnehmerinnen undLeiharbeitnehmer bei der Zahl der Beschäftigten berück-sichtigt werden; denn sie ist relevant für die Größe derGremien.Spannend finde ich auch das Thüringer Modell. Essieht vor, dass öffentliche Mittel nur dorthin vergebenwerden dürfen, wo Leiharbeit nicht missbraucht wird.Dafür muss es klare Kriterien geben, auch bei der Ge-währung von Zuschüssen durch öffentliche Stellen. Ichnenne beispielsweise die Strukturmittel der EU.
Zum Thema Werkverträge. Auch hier finden Sie nichtden richtigen Ansatz. Sie fordern: Scheinwerkverträgemuss man verbieten. – Das Problem ist aber die Defini-tion. Was ist denn ein Scheinwerkvertrag?
Klar ist, dass die jetzige Rechtslage völlig unbefriedi-gend ist, weil die Abgrenzung zwischen Scheinselbst-ständigkeit, Dienstvertrag und Werkvertrag sehr kompli-ziert ist.
– Herr Kolb, ich weiß, dass Sie nachher wieder mit derStory kommen, dass das Rot-Grün zu verantworten hat.
Das hören wir von Ihnen jedes Mal. Wir haben Ihnenschon hundertmal gesagt: Wir haben die Entwicklungzehn Jahre lang beobachtet und daraus gelernt, dass wirdie Regelungen korrigieren müssen. – Sie aber wollennichts daraus lernen. Ganz im Gegenteil: Sie wollen esnoch viel schlimmer machen.
Das sind die unterschiedlichen Lernprozesse, die hier zubeobachten sind.Beim Vorgehen gegen Scheinwerkverträge kommt esdarauf an, dass wir praktikable und kontrollierbare Kri-terien für die Werkverträge festlegen.
Solchen komplizierten Fragen stellen sich die Linkenleider nicht.Eine letzte Bemerkung zur Tarifrunde. Herr Straubinger,ich bin immer wieder erstaunt, dass Sie plötzlich dieGewerkschaften loben. Wir müssen bei den jetzt anste-henden Tarifverhandlungen doch sehen, dass eine Leih-arbeitsregelung einen Preis hat, der bei den Lohnerhö-hungen etwas kostet.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja. – Im Übrigen stellt sich auch die Frage: Was ma-
chen wir in den Bereichen, in denen es keine starken Ge-
werkschaften und keine entsprechenden Regelungen
gibt? Denn dort wird die Leiharbeit am meisten miss-
braucht. Sie kommen nicht drum herum, diese Frage zu
beantworten.
Kollege Barthel, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich ver-
rate Ihnen aber ein Geheimnis: Es folgt noch eine Kurz-
intervention der Kollegin Krellmann. Das heißt, Sie ha-
ben gleich noch einmal das Wort.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Barthel, vieles von
dem, was Sie gesagt haben, fand ich sehr richtig. Zu ein
paar Punkten muss ich aber etwas sagen. Wissen Sie,
dass wir auch zu Werkverträgen einen Antrag ein-
gebracht haben? Kennen Sie unseren Antrag zur Leih-
arbeit? Sie wissen, dass mir, seit ich im Bundestag bin,
die Themen Werkverträge und Leiharbeit am Herzen lie-
gen, weil ich als Gewerkschafterin weiß, was in Betrie-
ben los ist.
Sie haben nichts zu dem Kernpunkt dieses Antrags
gesagt. Er verurteilt die Disziplinierung, die in diesem
Bereich stattfindet. Es geht darum, zuerst den ersten
Schritt zu machen. Daher möchte ich Sie bitten, sich un-
seren Antrag zu den Werkverträgen anzuschauen. Als
Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales lade
ich Sie herzlich zur Anhörung zum Thema Werkverträge
ein. Sie findet am 23. April statt.
Kollege Barthel, möchten Sie antworten? – Bitte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19785
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Zu diesem Punkt muss man in der Tat etwas sagen.
Das konnte ich im Rahmen meiner Rede aufgrund der
knappen Redezeit nicht mehr tun.
Sie haben in der Tat viele Anfragen dazu eingereicht,
die uns viele Erkenntnisse gebracht haben.
– Anfragen, aber auch Anträge. – Mich hat es über-
rascht, dass Sie nun einen solchen Antrag vorlegen. Die
Anträge werden doch nicht dadurch besser, dass man im-
mer mehr hineinschreibt und immer noch radikalere For-
derungen stellt, wie jetzt das Verbot von Leiharbeit und
Scheinwerkverträgen. Es macht mehr Sinn, sich an den
Anträgen abzuarbeiten, die Sie vorher gestellt haben;
denn diese Anträge haben mehr inhaltliche Substanz und
einen stärkeren Realitätsbezug. Es hätte sich schon ge-
lohnt, weiter daran zu arbeiten.
Die Anträge werden, wie gesagt, nicht dadurch bes-
ser, dass man immer noch etwas draufsetzt. Dadurch
kommt man doch nur von den eigentlichen Punkten weg.
Außerdem machen Sie es dadurch der Koalition leicht
– das werden Sie gleich erleben –, den Antrag abzubürs-
ten, weil Sie nicht auf dem Boden der Tatsachen und auf
der Grundlage bleiben, die Sie mit uns gemeinsam er-
arbeitet haben.
Nun hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte sehr zeiteffizient sein. Herr Kollege Barthel,Sie müssen es ertragen, dass Sie immer wieder auf IhreFehler hingewiesen werden. Sie können sich allerdingsnicht hier hinstellen und sagen: Wir haben es zehn Jahrelang beobachtet und wollen es jetzt ändern. – Denn vonden zehn Jahren haben Sie acht Jahre regiert. In dieserZeit hätten Sie etwas tun können.
Erst in den letzten zwei Jahren, in denen Sie in der Op-position sind, ist Ihnen eingefallen, dass Sie gerne allesanders machen würden.Frau Kollegin Krellmann und liebe Kollegen von denLinken, Sie sollten öfter positiv denken.
Negatives Denken ist gefährlich. Das hat Nebenwirkun-gen: Es schlägt aufs Gemüt.
Ihre Anträge triefen nur so von negativem Denken. Dasgilt auch für den Antrag, der heute vorgelegt wurde. Manmerkt schon an der Sprache, dass Sie davon nicht weg-kommen. Sie sprechen von „Leiharbeit“. Nein, das istZeitarbeit. Es ist eine mögliche Beschäftigungsform ineinem ganzen Mix an Beschäftigungsformen, den wir inunserem Land haben.Gänzlich verbieten wollen wir die Zeitarbeit auf garkeinen Fall. Wir wären ja auch blöd, wenn wir das täten.1 Million Menschen haben dadurch in einer eigenenBranche eine in der Regel unbefristete Beschäftigunggefunden. Man muss zwischen dem befristeten Ausleih-verhältnis und dem unbefristeten Grundbeschäftigungs-verhältnis im Zeitarbeitsunternehmen unterscheiden. Soweit gehen Sie aber gar nicht. Ich glaube, dass Zeitarbeitauf ein erträgliches Maß beschränkt ist: Der Anteil be-trägt weniger als 3 Prozent der gesamten Beschäfti-gungsverhältnisse. Aber 1 Million Menschen hat dieZeitarbeit als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt genutzt.
Frau Kollegin Krellmann, Sie sagen, dass die Be-schäftigten in der Zeitarbeit zu gleichen Bedingungenübernommen werden müssen. Das ist etwas anderes alsEqual Pay. Equal Pay hat die FDP als eine der erstenFraktionen im Deutschen Bundestag thematisiert, wennsie nicht sogar die erste Fraktion war.
Darüber kann man reden. Diese Umwandlung finde ichaber gefährlich.Man muss nicht viel Fantasie haben, um zu ahnen,wie Ihr nächster Antrag aussehen wird. Sie haben ja füralles einen Antrag. Manchmal vertreten Sie sogar diePro- und die Kontraposition. Ich formuliere Ihren nächs-ten Antrag einmal ins Unreine: Die Arbeitslosigkeit wirdabgeschafft; jedes Unternehmen in Deutschland muss ei-nen Arbeitslosen einstellen.
Ihrer Logik folgend muss Ihr nächster Antrag so aus-sehen. Er wird genauso kurz und genauso einfältig sein.Auf diese Art und Weise kann man aber keine Politikmachen. Ich glaube, die Probleme gebieten es, dass mansich ihnen ein bisschen intensiver zuwendet.Dass Sie noch weiter gehen und auch Werkverträgeverbieten wollen, ist aus Ihrer Sicht nur logisch. Daswäre ein wirklich gefährlicher Eingriff in die arbeitstei-lige Wirtschaft. Die SPD hat sich damals bei dem Ver-such der Regelung der Scheinselbstständigkeit die Fin-ger verbrannt. Ich sage Ihnen voraus: Wenn Sie dasversuchen, werden Sie aufgrund der Komplexität der
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19786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
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Wirtschaft und der arbeitsteiligen Lieferbeziehungenscheitern. Sie würden sich die Finger verbrennen.Zum Abschluss meiner drei Minuten Redezeit, in de-nen niemand eine Zwischenfrage gestellt hat, –
Das klappt nicht immer am Freitagnachmittag.
– rate ich uns, über die Probleme auf dem Arbeits-
markt in unserem Lande, die es gibt und geben kann,
ernsthaft zu diskutieren. Aber auf der Basis des Antrags,
den Sie heute vorgelegt haben, sollten wir das, glaube
ich, besser nicht tun.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen
ein schönes Wochenende.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Beate Müller-Gemmeke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Ich muss gestehen: Der Antrag der
Linken irritiert auch mich.
Sie, die Linken, wollten die Leiharbeit bisher regulieren,
jetzt wollen Sie die Leiharbeit ganz verbieten. Außer-
dem geht es um Scheinwerkverträge. Ein anderer Antrag
– Sie haben es gerade angesprochen – liegt bereits vor;
aber wir haben noch nicht einmal die Anhörung dazu
durchgeführt.
Um was geht es heute eigentlich? Wir Grüne stehen
zu unseren Positionen. Wir wollen die Leiharbeit nicht
abschaffen, aber regulieren. Sie soll weiterhin zur fle-
xiblen Abfederung von Auftragsspitzen und zur Über-
brückung personeller Engpässe genutzt werden können,
aber nicht zum Nachteil der Beschäftigten.
Leiharbeitskräfte müssen fair entlohnt werden und
mehr Sicherheit erhalten. Deswegen fordern wir konse-
quent Equal Pay, und zwar, Herr Kolb, nicht erst nach
neun Monaten,
sondern ab dem ersten Tag. Wir fordern einen Flexibili-
tätsbonus von 10 Prozent und die Wiedereinführung des
Synchronisationsverbots.
Wir kritisieren auch, dass die Leiharbeit vermehrt
durch Scheinwerkverträge umgangen wird. Deshalb ha-
ben auch wir vor einiger Zeit einen entsprechenden An-
trag eingebracht. Wir fordern klare Kriterien und eine
eindeutige Abgrenzung zwischen Leiharbeit und Werk-
verträgen. Diese Positionen sind bekannt. Bei uns Grü-
nen gibt es also nichts Neues. Ich kann Ihnen versichern,
dass wir heftig darum streiten werden.
Ich möchte die heutige Diskussion nutzen, um einen
anderen Aspekt zu erwähnen – dieser ist schon ange-
sprochen worden –: Nach der Reform der Leiharbeit im
letzten Jahr haben Sie, die Regierungsfraktionen, und die
Bundesarbeitsministerin von der Leyen die Verantwor-
tung für die Schaffung einer Equal-Pay-Regelung auf die
Tarifpartner übertragen. Sie haben den Tarifpartnern da-
für ein Jahr Zeit gegeben. Für den Fall, dass in dieser
Zeit keine tragfähige tarifliche Regelung gefunden wird,
hatte die Ministerin die Einführung einer gesetzlichen
Equal-Pay-Regelung in Aussicht gestellt. Dieses eine
Jahr ist bald vorbei. Ich frage die Regierungsfraktionen:
Wie sieht es aus? Wird es eine tarifliche Regelung ge-
ben?
– Die Frist von einem Jahr ist bald vorbei. – Wird wirk-
lich jede Branche, also auch kleine Branchen, selber
verhandeln müssen? Sind Sie, falls es keine tarifliche
Regelung geben sollte, endlich bereit, den Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gesetzlich durchzu-
setzen, oder waren Ihre Ankündigungen wieder einmal
nur schöne Sonntagsreden?
Kollegin Müller-Gemmeke, gestatten Sie eine Frage
oder Bemerkung des Kollegen Weiß?
Ja.
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, nachdem Sie dieRegierungskoalition und die Regierung gefragt haben,antworte ich nun mit einer Rückfrage an Sie: Haben Siezur Kenntnis genommen – es wurde auch öffentlich be-kannt gegeben –, dass die Gewerkschaften und die Zeit-arbeitgeberverbände, vorneweg IG Metall und Gesamt-metall, das Thema Equal Pay auf der Tagesordnung derzurzeit laufenden Tarifverhandlungen haben und überRegelungen in Form von branchenbezogenen Zuschlä-gen und über den Zeitpunkt, ab dem 100 Prozent gezahltwerden sollen, diskutieren? Die Tarifverhandlungenwerden in diesen Tagen geführt, und man sagte uns aufNachfrage: Jawohl, wir sind optimistisch, eine Regelungzu finden. Also wird das, was die Koalition angekündigthat, aller Voraussicht nach in diesem Frühjahr umgesetztwerden.
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Herr Kollege Weiß, natürlich habe ich das mitbekom-men.
Ich weiß auch, dass es in der Metallbranche bereits einetarifliche Regelung gibt. Aber – Kollege Barthel hat dasgerade schon angeführt –: Es kann doch nicht sein, dassjede Gewerkschaft für ihren Bereich eine Regelung aus-handeln muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind jetzt nicht
im Dialog, sondern es heißt in unserer Geschäftsord-
nung: Fragen und Bemerkungen.
Es ist mir nicht bekannt, dass die im Bereich Metall
gefundene Regelung auf alle Branchen übertragen wer-
den kann; das kann ich mir auch nicht vorstellen. Ich
weiß nicht, wie das gehen soll.
Was wird mit den Branchen sein, in denen es keine Tarif-
verträge gibt? Was ist zum Beispiel mit den Kirchen?
Auch dort gibt es Leiharbeit und, und, und. Von daher:
Ich bin natürlich der Meinung, dass wir eine einheitliche
Regelung brauchen. Wir brauchen aber keine IG-Metall-
Regelung.
– Es ist ja schön, dass Sie miteinander diskutieren; aber
ich glaube, jetzt bin ich an der Reihe.
Ich möchte nicht, dass das von meiner Zeit abgeht.
Aus meiner Sicht ist eine tarifliche Equal-Pay-Rege-
lung ohnehin der falsche Weg. Die Gewerkschaften müs-
sen mittlerweile über sehr viele unterschiedliche The-
men verhandeln:
über die Übernahme von Azubis, Regelungen für Ältere,
die Übernahme von Leiharbeitskräften, die Arbeitsplatz-
sicherung und vieles andere mehr.
Je mehr Themen dazukommen – Herr Kolb stellen Sie
doch eine Frage –, umso weniger können die Gewerk-
schaften faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen
durchsetzen. Meiner Meinung nach schwächt das die
Gewerkschaften. Eine gesetzliche Equal-Pay-Regelung
hingegen würde die Gewerkschaften stärken.
Zudem war Ihre Reform der Leiharbeit letztes Jahr
für die Beschäftigten nahezu bedeutungslos. Die Interes-
sen der Leiharbeitsbranche und der Wirtschaft aber sind
bedient worden. In der Folge ist der Trend zu immer
mehr Leiharbeit ungebrochen. Die Unternehmen profi-
tieren weiterhin doppelt: Sie erhalten Flexibilität und bil-
lige Arbeitskräfte. Die Leiharbeitskräfte hingegen leiden
unter einer doppelten Belastung: Sie verdienen weniger
und haben keinen sicheren Job. Ich bleibe dabei: Das ist
ungerecht und auch nicht fair. Leiharbeitskräfte haben
einen berechtigten Anspruch auf die gleichen Arbeitneh-
merrechte, auf faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen
wie alle anderen Beschäftigten auch.
Ich kann Ihnen versichern, dass wir nicht lockerlas-
sen. Wir werden Sie immer wieder an Ihr Versprechen
erinnern und konkretes Handeln einfordern. Sie sind
jetzt am Zug. Machen Sie Ernst mit Equal Pay, und zwar
mit einer gesetzlichen Regelung! Liefern Sie das, was
Sie versprochen haben!
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jetzt istdie Katze endlich aus dem Sack. In den letzten Jahrenhaben Sie, meine Damen und Herren von den Linken,uns fast monatlich mit Anträgen zur Zeitarbeit überzo-gen.
Jetzt sagen Sie endlich, was Sie wirklich wollen,
nämlich die Abschaffung der Zeitarbeit.
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19788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Gitta Connemann
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Ich sage: Das ist ein starkes Stück.Das gilt übrigens auch für das, was uns die Redner derOppositionsfraktionen hier bieten. Ich hatte bei dem ei-nen oder anderen Hinweis, lieber Herr Barthel und liebeFrau Müller-Gemmeke, schon den Eindruck, Sie seienvom Virus der Vergesslichkeit befallen.
Ich erinnere daran, dass die Deregulierung der Zeit-arbeit, die Sie immer wieder aufs Neue beklagen, 2003eingeführt worden ist.
Ich erinnere daran: Seinerzeit, 2003, hatten wir eine rot-grün geführte Bundesregierung. Ich empfehle jedem– auch den Gästen, die uns heute zuhören –: Messen SiePolitiker an ihren Taten!
An Ihren Taten messe ich auch Sie, lieber HerrBarthel. Sie haben den Missbrauch bei der Zeitarbeit be-klagt. Ja, es gibt einen Missbrauch bei der Zeitarbeit– ich nenne das immer „Scheinzeitarbeit“ –, nämlichdann, wenn Tochterunternehmen gegründet werden, umMitarbeiter zu niedrigeren Tariflöhnen im eigenen Un-ternehmen zu beschäftigen. Wissen Sie, wer so etwasmacht? Zum Beispiel Mediengesellschaften der SPD wiedie Madsack-Gruppe
und große Unternehmen wie VW, aber auch viele an-dere. Ich würde mir wünschen, dass Sie sich dort empö-ren, wo im Hinblick auf die Scheinzeitarbeit tatsächlichHandlungsbedarf besteht.
Aber dazu habe ich von Ihnen noch nie ein Wort gehört.
Tatsächlich verzerren Sie einmal mehr die Fakten.Wir haben den Tarifvertragsparteien ins Stammbuch ge-schrieben, dass sie eine Regelung zum Equal Pay verein-baren sollen. Die Tarifvertragsparteien stehen inVerhandlungen. Wir tun das, weil das Wort „Tarifauto-nomie“ für uns mehr ist als eine bestimmte Anzahlschwarzer Buchstaben. Vielmehr geht es dabei um einGrundrecht, und dieses Recht ist im Grundgesetz veran-kert.
Die richtige Zeitarbeit hat ungeheuer viel für unserenArbeitsmarkt getan. Hinter der richtigen Zeitarbeit ste-hen bestimmte Wahrheiten, und ich bitte Sie, diese end-lich zur Kenntnis zu nehmen:Erstens. Zeitarbeitnehmer sind vollwertige Beschäf-tigte mit einem ganz normalen Arbeitsvertrag – in derRegel unbefristet.
Zweitens. Es gilt das allgemeine deutsche Arbeits-recht. Zeitarbeitnehmer haben dieselben Schutzrechtewie alle anderen Beschäftigten. Sie haben übrigens keinspezielles Kündigungsrecht.Drittens. Fast 100 Prozent der Zeitarbeitnehmer wer-den nach Tariflöhnen bezahlt, davon übrigens drei Vier-tel nach DGB-Tarifverträgen.
Viertens. Es gibt in der Zeitarbeitsbranche eine Lohn-untergrenze, die von der christlich-liberalen Koalitioneingeführt wurde. Das niedrigste Einstiegsgehalt für Un-gelernte liegt bei 7,89 Euro pro Stunde. Begehrte Spe-zialisten können mehr als 80 000 Euro im Jahr verdie-nen. Es gibt viele Branchen, in denen das Lohnniveauunterhalb des Lohnniveaus der Zeitarbeitsbranche liegt.Ich nenne beispielhaft das Fleischerhandwerk in Nord-rhein-Westfalen oder den Einzelhandel in Bremen.Fünftens. In Deutschland gilt anders als im Rest Euro-pas das Arbeitgebermodell. Zeitarbeitnehmer erhaltenein festes Einkommen, übrigens auch in Zeiten desNichteinsatzes.Sechstens. Die Zeitarbeit steht für die gesamte Fülledes Arbeitsmarktes, vom Hilfsarbeiter bis zum IT-Exper-ten.Siebtens. Die Zeitarbeit holt Menschen aus der Ar-beitslosigkeit. 65 Prozent der neu eingestellten Zeitar-beitnehmer waren vorher ohne Beschäftigung.
Achtens. Fast ein Drittel der Zeitarbeitnehmer hatkeine abgeschlossene Berufsausbildung und erhält überdie Zeitarbeit die Möglichkeit der Qualifizierung im Job.
Neuntens. Stammbelegschaften werden nicht ver-drängt. In Deutschland gibt es gut 29 Millionen sozialver-sicherungspflichtig Beschäftigte, davon 800 000 Zeit-arbeitnehmer. Damit ist eine Verdrängung allein schonrechnerisch nicht möglich.
– Hören Sie einfach zu, und schreien Sie nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19789
Gitta Connemann
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Zehntens. Jedes Zeitarbeitsunternehmen benötigt eineErlaubnis der Bundesagentur für Arbeit. Bei Verstößenkann diese jederzeit entzogen werden.
Das sind zehn Wahrheiten über die Zeitarbeit. AlleZahlen belegen das, aber das ficht Sie ja nicht an.Meine Damen und Herren von der Linken, liebe FrauKrellmann, wenn Sie Ihre juristischen Hausaufgaben ge-macht hätten, dann müssten Sie das Urteil des Bundes-verfassungsgerichts aus dem Jahre 1967 kennen.
Seinerzeit galt ein Verbot der Zeitarbeit, wie Sie es heutefordern. Das Bundesverfassungsgericht erklärte diesesVerbot für verfassungswidrig. Es sei nicht mit demGrundrecht der freien Berufswahl vereinbar. Dieses Ur-teil wurde von Ihnen geflissentlich ignoriert. Ich habegerade Ihre Zwischenbemerkung gehört, Sie seien keineJuristin.
Das ist aber eine vollständige Bankrotterklärung. DennTatsache ist, dass sich der Gesetzgeber an Recht und Ge-setz halten sollte, insbesondere an das Grundgesetz –selbst Sie, Frau Kollegin Krellmann.
Auch das Europarecht spielt für Sie keine Rolle. EinVerbot der Zeitarbeit auf nationaler Ebene würde auchgegen dieses verstoßen, nämlich gegen die EU-Leih-arbeitsrichtlinie. Dort heißt es übrigens in der Präambel– ich zitiere –:Die Leiharbeit entspricht nicht nur dem Flexibili-tätsbedarf der Unternehmen, sondern auch dem Be-dürfnis der Arbeitnehmer, Beruf und Privatleben zuvereinbaren. Sie trägt somit zur Schaffung von Ar-beitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Einglie-derung in den Arbeitsmarkt bei.So die Leiharbeitsrichtlinie.Das interessiert Sie aber nicht. Ihnen geht es vielmehrum Ideologie.Das zeigt übrigens auch Ihre zweite Forderung. Siewollen die Kundenunternehmen gesetzlich zwingen,Zeitarbeitnehmer zu übernehmen. Das ist selbst für IhreVerhältnisse wirklich grotesk. Dabei will ich Sie garnicht mit rechtlichen Hinweisen langweilen. Ich könntewieder unsere Verfassung anführen: Art. 2 – die Privat-autonomie – und Art. 12 des Grundgesetzes usw. Mitdieser Forderung missachten Sie die Grundrechte ekla-tant; das interessiert Sie aber nicht.Für mich bleibt damit nur folgendes Fazit: Nach Ih-rem Willen, nach Ihrem Antrag, soll der Gesetzgeber zu-künftig bestimmen, welche Mitarbeiter ein Unternehmeneinstellen soll. Das hat mit sozialer Marktwirtschaftüberhaupt nichts mehr zu tun. Das wäre ein weitererSchritt in Richtung sozialistische Planwirtschaft.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Linken:Wollen Sie wirklich zurück zum System der DDR? Wol-len Sie, dass der Ein-Parteien-Staat die Wirtschaft plant,übrigens mit bekanntem Ausgang und Erfolg? Das kanntatsächlich nicht Ihr Ernst sein.Das ist es auch nicht; denn Sie vertrauen darauf, dasswir Ihren Antrag ablehnen, und das werden wir auch tun.
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Gute, das man über Ihren Antrag sagen kann, liebeKolleginnen und Kollegen von den Linken, ist
– in der Tat, lieber Kollege Kolb, er ist kurz –, dass erehrlich ist: Sie wollen die Zeitarbeit verbieten. DasSchlechte, das man über Ihren Antrag sagen kann, ist:Das ist nicht nur in der Sache falsch, sondern das istauch handwerklich unbefriedigend umgesetzt.
Das fängt damit an, dass Sie die Fakten in IhrerBegründung falsch darstellen. Sie sagen, jeder zwölfteZeitarbeiter müsse wegen der Lohnhöhe aufstocken,deswegen, weil sein Lohn nicht zum Leben reicht. Dabeiignorieren Sie ein weiteres Mal – wir haben das schonsehr häufig diskutiert; das wissen Sie so gut wie wir –,dass die meisten Menschen, die trotz Vollzeit inDeutschland ergänzendes Hartz IV bekommen, dies des-halb bekommen, weil sie eine große Familie haben.
Wir können stolz darauf sein, dass wir als Gesellschaftdas solidarisch gewährleisten. Es liegt also nicht an derLohnhöhe.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, aneinigen Stellen verstehe ich zudem nicht ganz, wie Siesich das vorstellen. Sie sagen, Sie wollen die Zeitarbeitverbieten und alle Zeitarbeitnehmer, die gerade in einemEntleihbetrieb im Einsatz sind, müssen von diesem festangestellt und übernommen werden. Selbst wenn mandie Zeitarbeit verbieten wollte: Was ist denn mit denjeni-gen, die gerade in einer Verleihpause sind? Die sind
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19790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Johannes Vogel
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dann arbeitslos. Insofern könnte man sagen: Ihr Antragwürde zu Arbeitslosigkeit per Gesetz führen. Ich glaubenicht, dass Sie das wollen. Ich habe den Eindruck: Rich-tig durchdacht ist Ihr Antrag nicht.Unabhängig von den Inkonsistenzen stört mich derAntrag natürlich vor allem in der Sache. Ich verstehewirklich nicht – ich meine das ganz ernst –, wie Sie nichtsehen können, dass die Zeitarbeit eine Branche ist, die– das wurde von meinem Kollegen Kolb eben schon ge-sagt – Menschen den Einstieg in den Arbeitsmarkt er-möglicht.
Man muss es noch einmal betonen – denn ich verstehenicht, wie Sie an diesem Fakt vorbeigehen können –:Zwei Drittel der Zeitarbeiter kommen aus der Beschäfti-gungslosigkeit, und 40 Prozent derjenigen, die in derZeitarbeitsbranche arbeiten, haben keine berufliche Qua-lifikation. Sie hätten es am Arbeitsmarkt ansonstenenorm schwer. Für sie ist die Zeitarbeit eine enorme Ein-stiegschance. Das sollten wir in Deutschland nicht zer-stören.
Man muss auch sagen: Das deutsche Arbeitgebermo-dell, das wir erhalten wollen und das Sie von der ver-sammelten Opposition nicht mehr wollen – auch diejeni-gen nicht, die die Zeitarbeit erhalten wollen –, sorgt ebendafür, dass Zeitarbeit eine reguläre sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigung ist. Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie wollen das immer abschaffen. Ich fragemich: Warum sehen Sie nicht, dass der Unterschied zumBeispiel zwischen dem Modell in Frankreich und unse-rem Modell ist: Wenn in Frankreich ein Zeitarbeiterkrank wird, dann verliert er seine Stelle. In Deutschlanderhält er Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Das ist doch etwas Gutes, und das sollten wir erhalten.Deshalb verstehe ich nicht, wie Sie gegen das deutscheArbeitgebermodell der Zeitarbeit so zu Felde ziehenkönnen.Es ist richtig: Wir müssen Missbrauch verhindern.Deshalb ist es gut, dass diese Koalition den Weg zu einerLohnuntergrenze, die von den betroffenen Tarifpartnernin der Zeitarbeit ausgehandelt wurde, freigemacht hat,und es ist auch gut, dass wir den Weg hin zu Equal Paynach klug bemessener, ausreichend langer Frist gehenwollen. Die Tarifpartner sind gerade dabei.Liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke, ich habe nichtverstanden, wie Sie danach rufen können, dass die Poli-tik das übernehmen soll. Das ist ein weiteres Beispiel,bei dem ich mich frage, ob es nicht eine etwas seltsameSituation ist – darüber sollten Sie nachdenken –, wennwir von der Regierungskoalition die Gewerkschaftenund die Tarifpartner vor Ihnen und Ihrem politischenHandeln beschützen müssen. Ich glaube, das ist eigent-lich nicht in Ihrem Sinne, aber in der Diskussion über dieZeitarbeit vertreten Sie diese Position immer wieder. Ichhabe dafür kein Verständnis.Die Tarifpartner sollen den Bereich Equal Pay regeln.Sie können besser entscheiden, was die beste Lösung fürdie Menschen ist. Deshalb muss das von ihnen verein-bart werden. Es ist gut, dass sie sich auf diesen Weg ge-macht haben und dass wir das politisch angeschoben ha-ben.Man kann also zusammenfassend sagen – –
Kollege Vogel, das mit der Zusammenfassung klappt
jetzt nicht mehr.
Gut. Man kann in einem Satz, Frau Präsidentin, –
Der auch einen Punkt hat.
– zusammenfassend und etwas zugespitzt sagen:
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Leih-
arbeit ist Zeitarbeit, und Zeitarbeit ist gut. – Das sollten
Sie sich einmal ins Stammbuch schreiben lassen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8794 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Volker Beck , Tom Koenigs, Manuel
Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Situation von Roma in der Europäischen
Union und in den EU-Beitritts-
kandidatenstaaten
– Drucksachen 17/5536, 17/7131 –
Hierzu liegen zwei Entschließungsanträge der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Drit-ten Reich wurden von Deutschland im Rahmen des Ho-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19791
Volker Beck
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locaust in einem Völkermord an den Sinti und Roma inEuropa 500 000 Menschen ermordet. Wer „Nie wiederAuschwitz“ sagt, der muss auch sagen: Nie wieder Dis-kriminierung von Sinti und Roma, und zwar in Deutsch-land und in Europa.
Die gesellschaftliche Situation von Sinti und Roma inunserem Land und von Roma in den Mitgliedstaaten undBeitrittsstaaten der Europäischen Union zeigt: In vielenStaaten ist die Lage katastrophal. In Deutschland ist siedramatisch schlecht.Was sagt die Bundesregierung in ihren Antworten aufdie Große Anfrage und eine Kleine Anfrage zur Roma-Strategie der Bundesregierung? – Ich weiß nichts. Ichwill nichts wissen. Ich tue auch nichts.Die von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung undZukunft“ mitfinanzierte Bildungsstudie sagt über die Si-tuation deutscher Sinti und Roma: Nicht einmal 20 Pro-zent haben eine berufliche Ausbildung. Fast die Hälftehat keinerlei Schulabschluss, und 13 Prozent der Kinderbesuchen nicht einmal eine Schule. 45 Prozent bekom-men keine Unterstützung zum Beispiel bei Hausaufga-ben. Dabei ist doch die Bildung der zentrale Schlüsselfür die Integration wenigstens der nachfolgenden Gene-rationen der Sinti und Roma in Deutschland.Was gibt die Bundesregierung zum Besten, nachdemsie ursprünglich in ihrer Antwort auf die Anfrage völligeUnwissenheit vorgeschützt hat? Ich zitiere:Die Bundesregierung vermutet, dass die Einschät-zungen der beiden– von uns zitierten –Studien, dass die Bildungsbeteiligung und Bil-dungserfolge von Sinti und Roma in Deutschlandunterdurchschnittlich sind, nicht ganz unbegründetsind. Die Verbesserung der Bildungssituation vonSinti und Roma in den genannten Bereichen fällt– sofern überhaupt staatliche Aufgabe – überwie-gend in die Zuständigkeit der Länder.Dabei belässt sie es dann. Das „sofern überhaupt staatli-che Aufgabe“ muss man sich auf der Zunge zergehenlassen.Wir werden unserer historischen Verantwortung undder dramatischen Benachteiligung von Sinti und Romain unserem Land nicht gerecht. Wir haben dabei einegroße Verantwortung, zunächst einmal für die Men-schen, die hier bei uns leben, aber auch dann, wenn wirdie massiven Menschenrechtsverletzungen, die die Bun-desregierung in ihrer Antwort – zu Recht – konzediert,in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union kri-tisieren. Wie können wir diese Kritik glaubwürdig vor-tragen und von diesen Ländern verlangen, die Entmie-tung von Roma-Familien in den Städten Osteuropas undden Ausschluss von der Gesundheitsversorgung zu been-den und Maßnahmen zu ergreifen, damit Kinder vonRoma-Familien nicht per se in Sonderschulen landen, in-dem man durch frühkindliche Erziehung dafür sorgt,dass sie die Sprache des Umgebungsvolkes erlernen, da-mit sie eine Chance haben, in den Schulen Erfolge zu er-zielen, wenn wir selber die Hände in den Schoß legen?Bei allen Maßnahmen, zu denen wir uns in der Europäi-schen Union verpflichtet haben, haben wir Argumente:Für die Gesundheitsversorgung gibt es bei uns die Kran-kenkassen. Für die Bildung sind die Länder und dieSchulen zuständig. Was Integration angeht, kümmernwir uns nicht um spezifische Gruppen.
– Wie können Sie sagen: „Das ist so“? Wir verlangenvon anderen Ländern, dass sie sich der spezifischen Pro-blematik dieser Minderheiten annehmen, und prangerndas Problem des Antiziganismus an, das keine osteuro-päische Besonderheit ist, sondern, genauso wie der Anti-semitismus, auch in unserem Land vorhanden ist. Wirfordern, dass sie etwas tun. Dabei sind wir selber keinenDeut besser.
Meine Damen und Herren, unsere historische Verant-wortung gebietet, dass wir hier etwas tun.Wir müssen auch bei den ausländerrechtlichen undaufenthaltsrechtlichen Fragen etwas tun. Wenn mansieht, dass die Kinder von Roma-Familien im Kosovonicht eingeschult werden, dass die Wohnungssituation invielen Regionen des Kosovo für Roma-Familien nichtgeregelt ist, dass es dort eine dramatische Benachteili-gung vonseiten des Staates und der Gesellschaft gibt unddass viele dieser Roma-Familien seit Jahren hier lebenund viele Kinder hier geboren sind, finde ich: Wir müs-sen mit der Abschiebung Schluss machen. Wir müssenuns um die Integration kümmern und diesen Menscheneine Chance geben.
Ganz zum Schluss: Es gibt in meinem Wahlkreis un-weit meiner Wohnung ein wunderbares Projekt.
Kollege Beck, versuchen Sie, es ganz kurz zu ma-
chen. Ich weiß, die Redezeit ist ungerecht.
Dieses Projekt nennt sich Amaro Kher, Unser Haus.Dort werden Kinder aus Roma-Familien, die keinenAufenthaltsstatus haben, beschult. Der Erfolg ist sagen-haft. Diese Kinder merken erstmals, dass sich Bildunglohnt, dass es Spaß macht, etwas zu lernen, und dass sieeine Chance bekommen.Viele erfolgversprechende Bildungskarrieren werdenaber wieder abgebrochen, weil die Familie von Abschie-bung bedroht ist. Die Kinder sind durch die Situation inder Familie traumatisiert und kommen dann nicht zurSchule, oder sie werden durch das Umziehen von einem
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19792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Volker Beck
(C)
(B)
Asylbewerberheim zum nächsten herumgeschubst undam Schulbesuch behindert.
Kollege Beck.
Damit müssen wir Schluss machen.
– Herr Kollege, wir haben in Nordrhein-Westfalen dafür
gesorgt, dass durch ein sehr differenziertes Verfahren die
Abschiebung der Roma dort faktisch beendet wird.
– Sagen Sie einmal, wie viele wo abgeschoben werden.
Kollege Beck, diese Debatte müssen Sie jetzt bitte auf
die Ausschussberatungen verschieben.
Ich fordere uns alle auf, in diesem Zusammenhang
keine Parteipolitik zu machen,
sondern sich unserer historischen Verantwortung be-
wusst zu werden. Wir machen hier keine Parteipolitik.
Mir geht es um die Situation der Menschen. Sie sollten
sich dieses Problems annehmen. Die Antwort der Bun-
desregierung zeigt, –
Kollege Beck.
– dass Sie da noch viel zu tun haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es steht
außer Zweifel, dass wir uns hier mit einem sehr wichti-
gen Thema beschäftigen und dass wir dieses Thema
auch differenziert betrachten müssen. Ich bitte Sie trotz-
dem, mich nicht dazu zu zwingen, diesem Thema und
der entsprechenden Behandlung durch Intervention bei
erheblichem Überschreiten der Redezeit zu schaden.
Lassen Sie uns das jetzt also bitte miteinander so debat-
tieren, dass wir dann auch in die Ausschussberatungen
gehen können, ohne dort Verletzungen aufarbeiten zu
müssen.
Nun hat der Kollege Peter Beyer aus der Unionsfrak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Ichglaube, ich unterschreite meine hier angezeigte Redezeitvon zwölf Minuten bei weitem.Auch heute ist die Diskriminierung von Minderheitenin Europa immer noch anzutreffen. Dies ist ein zutiefstbeklagenswerter Zustand, an dessen Überwindung wiralle – die Regierungen, die Nichtregierungsorganisatio-nen und auch alle Teile der Zivilgesellschaft – arbeitenmüssen.Besonders auffällig ist die Diskriminierung der Roma.So sind Roma oftmals überproportional von Armut undsozialer Ausgrenzung betroffen. Die Gründe dafür liegenmeistens in tief verwurzelten Vorurteilen, welchen sichdie Roma schon seit sehr, sehr langer Zeit leider immernoch ausgesetzt sehen. Insbesondere in einigen osteuro-päischen Staaten geht die soziale Ausgrenzung oftmalsmit einer räumlichen Ausgrenzung einher. In isoliertenSiedlungen leben die Menschen meistens unter unwürdi-gen Bedingungen mit einer unzureichenden medizini-schen Versorgung.Leider ist es daher wenig überraschend, dass vieleRoma nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten besitzen,sich weiterzubilden bzw. ihren Kindern den so wichtigenZugang zur Schulbildung zu ermöglichen. Daraus ergibtsich wiederum die schlechte Ausgangslage für die spä-tere berufliche Entwicklung. Somit setzt sich die Armutvieler Roma über Generationen fort. Prekäre Lebensver-hältnisse bleiben bestehen. Ein Ausstieg aus diesem Ar-mutskreis durch berufliche Weiterentwicklung ist nursehr schwer erreichbar.Ebenfalls versuchen rechtsextreme Parteien – das istbesonders beklagenswert –, die Roma zu stigmatisierenund für ihre Zwecke zu missbrauchen. Selbst vor gewalt-samen Aktionen gegen Angehörige der Roma wird dabeinicht zurückgeschreckt.Dies ist ein untragbarer Zustand, der entschiedeneGegenmaßnahmen erfordert. Schließlich ist es eine be-sondere europäische Verantwortung, jedem Menschen,unabhängig von Ethnie, Religionszugehörigkeit oderauch Herkunft, Sicherheit und Entwicklungschancen zugewähren.Ich hatte erst kürzlich Gelegenheit, mich mit Vertre-tern der Roma aus Ungarn hier im Deutschen Bundestagpersönlich auszutauschen. Meine Gesprächspartner lob-ten die Anstrengungen, welche durch den EU-Rahmenfür nationale Strategien zur Integration der Roma bis2020 unternommen werden. Dieser wurde 2011 von derdamaligen ungarischen Ratspräsidentschaft initiiert undwird weiterhin mit Nachdruck vorangetrieben. Wichtigwar es den Roma-Vertretern, darauf hinzuweisen, dassdiese Anstrengungen nicht nachlassen, um mittelfristigdie soziale Integration ihrer Volksgruppe in die jeweili-gen Mehrheitsgesellschaften zu erreichen.Die Bundesregierung hat die Wichtigkeit der Integra-tion von Roma seit langem erkannt. Daher engagiert siesich für die Verbesserung der Situation dieser Menschenim Rahmen der europäischen Institutionen sowie bilate-
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Peter Beyer
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ral in Zusammenarbeit mit Partnerregierungen, Nichtre-gierungsorganisation und Menschenrechtsgruppierun-gen. Im Rahmen der Europäischen Union haben sich seitdem Jahre 2007 der Europäische Rat, der Rat der Euro-päischen Union, das Europäische Parlament sowie dieEuropäische Kommission bereits verstärkt mit der Inte-gration der Roma befasst. Besonders die LeitinitiativeEuropäische Plattform gegen Armut, die Bestandteil der2010 verabschiedeten Strategie Europa 2020 ist, setztdabei richtige Signale.Der bereits erwähnte EU-Rahmen bietet den Mit-gliedstaaten wertvolle Hilfestellung auf einer breiten eu-ropäischen Basis. Dabei ist äußerst begrüßenswert, dassdiese Entscheidungen auf eine Berücksichtigung der Be-lange der Roma in allen relevanten Politikbereichen set-zen. Beispielsweise wird dem Zugang zu Bildung – dashatte der Kollege Beck schon erwähnt – besondere Be-deutung beigemessen. So ist es das erklärte Ziel, dassKinder aus Roma-Familien zumindest die Grundschuleerfolgreich abschließen.Letztendlich kann nur ein umfassender und integrati-ver Ansatz in den zentralen wirtschaftlichen und sozia-len Fragen eine fortlaufende Verbesserung der Situationder Roma im Hinblick auf Chancengleichheit ermögli-chen. In seiner Straßburger Erklärung vom 20. Oktober2010 hat der Europarat ebenfalls grundlegende Weichenfür eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingun-gen der Roma gestellt. Der in diesem Rahmen verab-schiedete Prioritätenkatalog bietet einen übergreifendenAnsatz insbesondere in den Bereichen Nichtdiskriminie-rung und Staatsbürgerschaft, soziale Einbeziehung sowieinternationale Zusammenarbeit. Klar ist bei all dem, dasssich die dauerhafte Verbesserung der Lebensbedingun-gen der Roma nur gesamteuropäisch erreichen lassenkann.Die Bundesregierung setzt daher den Schwerpunkt ih-res Engagements bewusst und richtigerweise auf einenmultilateralen Ansatz. Dem liegt die Überzeugung zu-grunde, dass nur mittels gemeinsamer Anstrengung dereuropäischen Länder, welche über die grundsätzlich na-tionale Verantwortlichkeit der Staaten für Minderheiten-schutz hinausgeht, eine effektive Integrationsförderungzugunsten der Roma gelingen kann. Ergänzend themati-siert die Bundesregierung im bilateralen Dialog mit deneuropäischen Partnerländern die Situation der Roma undanderer ethnischer Minderheiten. Ziel muss es sein, denRoma bei der eigenständigen Verbesserung ihrer jeweili-gen Lebensumstände zu helfen und sie vor jeglicher Dis-kriminierung zu schützen. Um dieses Ziel zu erreichen,gilt es letztendlich, gegen Stereotype und Ressentimentsvorzugehen. Diese sind eine der Hauptursachen für dieschwierige Lage der Roma, wie sie heute leider noch be-steht.Wer einem Menschen mit Vorurteilen begegnet undihn deshalb kategorisch ablehnt oder ihm aufgrund sei-ner Herkunft negative Wesensmerkmale zuordnet, wirddiesem Menschen auch keine fairen Chancen einräumen.Die Auseinandersetzung mit Vorurteilen erfordert konti-nuierliche Anstrengungen und setzt Durchhaltevermö-gen voraus. Tiefverwurzelte Vorurteile lassen sich leider– das wissen wir alle – nur sehr langsam beseitigen.Wir müssen auch strukturelle Hindernisse überwin-den, wenn wir den Roma Perspektiven für das beruflicheWeiterkommen aufzeigen möchten. Damit meine ichinsbesondere die Verbesserung der Bildungssituation,die den Schlüssel für einen eigenständigen Aufstieg inder Gesellschaft darstellt. Dass ein solcher eigenständi-ger Aufstieg gelingen kann, habe ich in meinem Wahl-kreis erfahren. Ich habe dort Kontakt zu einer Roma-Fa-milie, welche aus dem ehemaligen Jugoslawien zu unsnach Deutschland gekommen ist. Diese Familie lebt be-reits seit einigen Jahren hier bei uns in Deutschland undhat alle Hürden, mit denen Einwanderer oftmals zu tunhaben, erfolgreich gemeistert. Mittlerweile hat es dieseFamilie geschafft, sich erfolgreich mit einem kleinen Fa-milienunternehmen in die Selbstständigkeit zu begeben.Bei allen kritikwürdigen Umständen und noch zulösenden Problemen müssen wir auch die positiven Bei-spiele benennen, welche zeigen, dass es für jede Minder-heit, auch für die Roma, möglich ist, ihre Lebenssitua-tion in Europa und auch hier bei uns in Deutschlandeigenständig zu verbessern. Abschließend möchte ichsagen, dass es unsere vorrangige Aufgabe dabei ist, füreinen entsprechenden Rahmen zu sorgen, in dem dieseEntwicklung möglich ist.Ich danke Ihnen.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor20 Jahren hat man beschlossen, für die von den Nazis er-mordeten Sinti und Roma ein Mahnmal im BerlinerTiergarten zu errichten. Damit wurde erst vor drei Jahrenwirklich begonnen. Derzeit ist das Ganze noch eine Bau-grube. Man streitet wieder einmal ums Geld. Entspre-chende Meldungen standen vor einigen Tagen in denZeitungen.Lassen Sie mich sagen, dass ich hoffe, dass wir es,wie Kulturstaatsminister Bernd Neumann angekündigthat, im nächsten Winter einweihen können. Ich denke, eswäre ein wichtiges Zeichen dafür, dass wir die vielen er-mordeten Sinti und Roma eben nicht vergessen wollen,und es wäre auch ein Zeichen gegen Rassismus in unse-rer Gesellschaft.
Ich sage aber auch: Vonseiten der Bundesregierung musses dazu mehr geben als ein Faltblatt und eine Broschüre.Die Errichtung dieses Mahnmals muss intensiv begleitetwerden.
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19794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Angelika Graf
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Zur heutigen Debatte. Heute diskutieren wir eineGroße Anfrage der Grünen zur Situation der Roma in derEuropäischen Union und in den Staaten potenzieller EU-Beitrittskandidaten. Ich erinnere mich sehr gut an die be-eindruckende Rede von Zoni Weisz zum Gedenktag fürdie Opfer des Nationalsozialismus im Jahr 2011.
Er hat eben nicht nur über die Vergangenheit gespro-chen, sondern auch die heutige Lebenssituation von Sintiund Roma in der EU und insbesondere in osteuropäi-schen Ländern als menschenunwürdig bezeichnet. Wir,die SPD-Bundestagsfraktion, haben damals diese Redevon Zoni Weisz aufgenommen und einen daran anknüp-fenden Antrag verfasst. Leider wurde er von der Mehr-heit dieses Hauses abgelehnt. Ich freue mich deshalbsehr, dass die Grünen die Mahnung aus dieser Rede inihrer Großen Anfrage mit aktuellen Zahlen zu Vorgän-gen in ganz Europa unterfüttert haben. Freude empfindeich auch deshalb, weil sich auch die Bundesregierungund die sie tragenden Parteien nochmals mit diesemschwierigen Thema beschäftigen mussten.Beim Lesen der Antworten der Bundesregierung wirdeinem sehr klar: Der Umgang vieler EU-Staaten mit dergrößten europäischen Minderheit ist sehr kritisch zu se-hen. Ich nenne nur einige Beispiele:Frankreich ist ganz offensichtlich nur knapp einemVertragsverletzungsverfahren wegen Verletzung derFreizügigkeitsrichtlinie entgangen.In Italien besuchen 75 Prozent der Roma-Kinderkeine Schule. Die Roma sind in Camps offensichtlichsehr schlecht untergebracht. Dadurch verfestigt sich– ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage – „die irrige Vorstellung von einernomadischen Lebensweise“ und der schlechten Inte-grierbarkeit der Roma. Hier versagt aus meiner Sicht,wie auch in anderen Zusammenhängen, der italienischeStaat. Die Bemerkung sei erlaubt: Ein bisschen weniger„Bunga, bunga!“ und ein bisschen mehr Anstrengungenfür die Integration von Menschen wären hier vielleichteine gute Sache gewesen.
In Tschechien stellte im Jahre 2009 eine neonazisti-sche Partei ihre als wissenschaftlich deklarierte Schrift„Die Endlösung der Zigeunerfrage in den böhmischenLändern“ ausgerechnet auf dem Gelände des ehemaligenRoma-Lagers in Lety bei Pisek vor. Ich finde es sehr er-freulich, dass derzeit gegen diese Neonazis ermitteltwird.
Tatsache ist aber auch, dass es solche Tendenzen überallgibt.Relativ finster wird es, wenn es um die Situation inUngarn, in Bulgarien und in Rumänien geht. Der Anti-ziganismus wird in beunruhigender Weise immer salon-fähiger, und das trotz zahlreicher guter Initiativen, Inter-ventionen und Programme der Europäischen Union. Wasden restlichen Balkan betrifft, weiß ich auch aus eigenerAnschauung, wie schwierig die Situation der Roma zumBeispiel in Mazedonien ist. Wer einmal in einem solchenDorf war, in dem Roma leben, der weiß, wovon ich spre-che. Ich habe dies schon in meiner letzten Rede zu die-sem Thema sehr deutlich gemacht.Es muss uns klar sein – da hoffe ich auf die Zustim-mung des ganzen Hauses –: Die humanitären Mittel imRahmen des Stabilitätspakts für Südosteuropa dürfen imkommenden Jahr nicht gekürzt werden. Ich möchte michausdrücklich bei unserem ehemaligen KollegenChristian Schwarz-Schilling für seinen Einsatz für serbi-sche Roma bedanken
und bin als Vorstandsmitglied der Organisation Helpstolz, dass auch wir über gute Projekte in Serbien denMenschen helfen konnten. Dies ist umso wichtiger, alsdas Einkommen von Roma in Serbien laut Antwort derBundesregierung um 48 Prozent niedriger liegt als dasder „normalen“ Serben. Wie soll ein Mensch vernünftigund gesellschaftlich integriert leben können, wenn ihmzusätzlich noch das Recht auf Bildung oder das Rechtauf Wasser verweigert wird?Im Kosovo ist die Situation nach vielen Berichten,unter anderem auch von der UNICEF, noch schlimmerals in anderen Ländern des Balkans. Ich denke deshalb,dass es richtig ist, Abschiebungen in dieses Gebiet aus-zusetzen und dabei insbesondere das Wohl der Kinder,die oft bei uns in Deutschland geboren und sozialisiertsind, im Auge zu haben.
Wie sieht es generell mit der Roma-Politik inDeutschland aus? Ist es wirklich so, wie die Kolleginnenund Kollegen aus den Regierungsfraktionen schon beider letzten Debatte behauptet haben, dass die Roma inDeutschland sozusagen auf einer Insel der Glückseligenleben und nichts verändert werden muss, dass wir alsokeinen nationalen Aktionsplan brauchen? In Deutsch-land sind Sinti und Roma seit 600 Jahren beheimatet. Inden letzten Jahrzehnten sind allerdings viele Roma ausden Staaten Südosteuropas zugewandert. Sie erlebenauch bei uns vielfältige Diskriminierung. Wird irgendwoein Fahrrad geklaut, dann war es im Zweifelsfall dieRoma-Familie aus der Parterrewohnung.Diskriminierung lässt sich auch im Bildungsbereichfeststellen. Die Antwort der Bundesregierung zur Bil-dungsbeteiligung und zum Bildungserfolg von Roma-Kindern hat Volker Beck schon angesprochen. Die Ein-schätzung, dass die Erfolge unterdurchschnittlich seien,sei, so steht es in der Antwort der Bundesregierung,nicht unbegründet. Allerdings falle das in die Zuständig-keit der Länder.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012 19795
Angelika Graf
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Erkenntnisse zum Antiziganismus hat die Antidiskri-minierungsstelle des Bundes nicht. Es gibt auch keineLehrstühle, die sich schwerpunktmäßig mit Antiziganis-mus auseinandersetzen, wobei es im NGO- und halb-staatlichen Bereich eine Reihe von guten Berichten undAusarbeitungen dazu gibt. Ich frage mich, warum dieBundesregierung diese Unterlagen nicht zum Anlassnimmt, einen nationalen Aktionsplan für die in Deutsch-land lebenden Roma aufzulegen.
Der ständige Verweis der Bundesregierung auf dieVerantwortung der Länder, der sich durch die ganze Ant-wort zieht, macht es übrigens nicht wirklich besser. Innahezu jeder Antwort, die zu den Lebensumständen derRoma in Deutschland gegeben wurde, berichtet die Bun-desregierung zudem, es bestünden wegen des zu Rechtfehlenden statistischen Kriteriums der ethnischen Zu-gehörigkeit keine aussagekräftigen „Erkenntnisse überWohnraumprobleme sowie die soziale und medizinischeVersorgung.“ Wäre es denn nicht klüger, auf offenkun-dige Tatsachen zu reagieren, als den Eindruck zu erwe-cken, man benutze das Fehlen statistischer Erkenntnisseals Ausrede?Ich nehme daher die Anfrage der Grünen zum Anlass,nochmals an die Bundesregierung zu appellieren: Ent-wickeln Sie gemeinsam mit den Roma-Verbänden unddem Zentralrat Lösungen. Legen Sie einen Aktionsplanauf. Holen Sie die Bundesländer und die Gemeinden insBoot. Stoppen Sie die Abschiebungspläne, und setzenSie sich für eine humanere Lösung ein.
Nehmen Sie Ihre Verantwortung innerhalb Europaswahr. Das würde insbesondere vor dem Hintergrund un-serer Geschichte sicher gut sein.Vielen herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!10 bis 12 Millionen Roma leben derzeit in den StaatenEuropas als deren Staatsbürger. In Deutschland gibt esetwa 70 000 Roma mit deutschem Pass; hinzu kommtnoch eine unbekannte Zahl von Roma, die unter uns le-ben. Um diese Menschen zu fördern, setzt diese Koali-tion auf politische Maßnahmen im Rahmen ihrer breiterangelegten Integrationspolitik. Dabei liegt der Fokus aufdem Zugang zu Bildung, Beschäftigung, Gesundheits-versorgung und Wohnraum. Das stellt eine auf die kon-kreten Probleme dieser Menschen ausgerichtete Politikdar.
Festhalten möchte ich jedoch, dass die allermeistenRoma, die in Deutschland leben, sehr gut integriert sindund auch keine nationale Roma-Strategie benötigen oderfordern. Wir befürchten vielmehr, dass eine solche Stra-tegie, die ausschließlich auf die Roma ausgerichtet wäre,unter Umständen sogar zu deren Diskriminierung beitra-gen und damit das Gegenteil von dem bewirken könnte,was wir uns erhoffen.
Jedoch sind sich alle Organisationen von der EU überdie OSZE bis zum Europarat darin einig, dass Roma invielen Ländern Europas mit erheblichen Problemen zukämpfen haben. Vor allem ihre wirtschaftlichen, sozialenund kulturellen Menschenrechte werden häufig nichthinreichend gewährleistet; häufig sind sie von Armut be-troffen, und ihre Lebenserwartung liegt deutlich unterdem Durchschnitt.Ich möchte außerdem auf die besondere Problematikhinweisen, dass Roma aus dieser Armut und Perspektiv-losigkeit heraus überdurchschnittlich häufig Opfer vonMenschenhandel werden. Dieses Problem anzugehen, istuns als FDP-Fraktion, uns als Regierungskoalition be-sonders wichtig.Die Diskriminierungen, denen Roma ausgesetzt wer-den, nehmen ein sehr unterschiedliches Maß an. Hiermuss man eine regionale Differenzierung vornehmen.Vor allem in südosteuropäischen Ländern sind seit demFall des Eisernen Vorhangs neue und sehr komplexeProblemlagen entstanden. Während der vergangenen20 Jahre hat dort der Zusammenhang von Armut undethnischer Zugehörigkeit stark zugenommen. Hiervonsind die Roma in besonderem Maße betroffen.Die bisher aufgelegten Regierungsprogramme, so siedenn existieren, bringen häufig nicht den erhofften Er-folg; Diskriminierung und Segregation nehmen zu.Diese schleichende gesellschaftliche Desintegration be-ginnt häufig schon in der Schule, wo immer mehr Roma-Kinder getrennt unterrichtet werden. In Tschechien bei-spielsweise werden besonders viele Roma-Kinder inSchulen für Kinder mit Lernbehinderungen oder in rei-nen Roma-Klassen unterrichtet. Dort ist nicht nur derBildungsstandard geringer als an den regulären Schulen,womit den Kindern der spätere Einstieg in den Arbeits-markt erschwert wird; die Folge davon ist auch, dassdiesen Kindern zwischenmenschliche Bindungen undFreundschaften mit Kindern der Mehrheitsgesellschaftfehlen. Diese Segregation fördert solches Schubladen-denken und lässt überhaupt erst die Idee des Anderenmanifest werden.Eine traurige Konsequenz aus den so entstandenenGrenzen in den Köpfen der Menschen verdeutlicht dieEntwicklung in einer ostslowakischen Stadt. Dort hat die
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19796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2012
Pascal Kober
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Stadtverwaltung im September 2010 eine hohe Mauer inder Nähe einer Roma-Siedlung errichten lassen. Siesperrt eine Straße ab und verhindert, dass die Roma aufihrem Weg in das Stadtzentrum ein anliegendes Wohn-viertel durchqueren, welches hauptsächlich von Nicht-Roma bewohnt wird.
Diese Absperrung verlängert den Weg ins Stadtzentrumfür die Roma um rund eine halbe Stunde und ist ein Zei-chen von Segregation, wie es ausgrenzender und diskri-minierender kaum sein könnte. Ähnliche Mauern undZäune sollen auch in weiteren Gemeinden errichtet wor-den sein.Solchen Betonmauern gehen meist mentale Mauernvoraus, deren Fundamente tiefverwurzelt sind und die esabzubauen gilt.Nicht zu vergessen ist die menschenverachtendeHetze rechtsextremer Gruppen, deren Gedankengut indie Gesellschaft eindringt. Ihre Ausläufer zeigen sich inder täglichen Diskriminierung, denen Roma ausgesetztsind, sei es in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt oder beiden Behörden.Darum begrüße ich es, dass die Bundesregierung aufdiesem Feld besonders aktiv ist und sich europaweit fürdie Rechte der Roma einsetzt.
Dass sie dabei in erster Linie einen multilateralen Ansatzverfolgt, leuchtet angesichts des umrissenen Problemsein. Denn die Integration der Roma in einem Europaohne Binnengrenzen kann nur gemeinsam gelingen, in-dem jeder Staat seinen Verpflichtungen nachkommt.Neben den multilateralen Maßnahmen steht dieseBundesregierung natürlich auch im bilateralen Dialogmit unseren europäischen Nachbarn und bringt dabei dieRoma durchaus zur Sprache. Sie hat beispielsweise diebulgarische und rumänische Regierung in ihrer Politikfür die Roma unterstützt, indem sie den Kontakt zuHilfsorganisationen, einzelnen Vereinen und Verbändensowie zuständigen Regierungsstellen gefördert hat. Alsim April 2011 mehrere rechtsextremistische Gruppierun-gen in einem ungarischen Dorf die Roma-Bevölkerungüber mehrere Wochen terrorisierten, hat die Bundesre-gierung nicht geschwiegen und die ungarische Regie-rung eindringlich ermahnt, dagegen vorzugehen. Da-rüber hinaus steht die deutsche Botschaft in Budapest inregelmäßigem Kontakt mit Vertretern der ungarischenZivilgesellschaft, organisiert Veranstaltungen und unter-stützt den Austausch mit deutschen Roma.Außerdem fördert die Bundesregierung in mehrerenStaaten des westlichen Balkans zahlreiche Projekte, dieder Verbesserung der Situation der Roma dienen. Dazugehören beispielsweise Hilfsmaßnahmen bei Existenz-gründungen, Unterstützung bei der Schaffung vonWohnraum und Mediationsmaßnahmen bei Konfliktenzwischen ethnischen Gruppen. Das Bundesministeriumdes Innern und das Auswärtige Amt haben dafür in denJahren 2008 bis 2011 ungefähr 3,66 Millionen Euro aus-gegeben. Auch zukünftig soll der bisherige Mittelum-fang aufrechterhalten werden.Schließlich setzt sich die Bundesregierung dafür ein,dass bei der Bewertung der EU-Beitrittskandidaten dervollständigen rechtlichen Gleichstellung und der gleich-berechtigten Teilhabe von Minderheiten wie den Romagebührende Aufmerksamkeit gewidmet wird. Ich be-grüße ausdrücklich, dass dabei nicht nur die formale Ge-setzgebung bewertet, sondern auch auf Indikatoren wertgelegt wird, die über die Entwicklung der sozialen, wirt-schaftlichen und kulturellen Teilhabe der Roma Aus-kunft geben.Ich denke, ich habe klargemacht, dass diese Bundes-regierung, lieber Herr Kollege Beck, ihrer Verantwor-tung für die Roma in Gesamteuropa auf vielfältige Weisenachkommt.
In diesem Sinne werden wir uns weiter für eine Gesell-schaft einsetzen, in der niemandem sein Platz verwehrtwird.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Andrej Hunko das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istsehr begrüßenswert, dass wir diese wichtige Debatteführen. Ich möchte ausdrücklich den Grünen für ihreGroße Anfrage und die Entschließungsanträge danken,die wir heute behandeln. Auch wenn ich es bedauere,dass wir hier am Freitagnachmittag nur mit geringerAufmerksamkeit diskutieren,
ist es wichtig, dass wir das diskutieren; denn die Lageder Roma in der Europäischen Union ist in der Tat dra-matisch.Es sind bereits viele Beispiele genannt worden. Ichmöchte noch an das Lager in Turin in Italien erinnern,das vor einigen Wochen von einem Mob in Brand ge-steckt wurde. Ich möchte – das ist noch nicht angespro-chen worden – auch an die unerträgliche Kampagne vonSarkozy vor anderthalb Jahren gegen die Roma in Frank-reich erinnern. Das sind Sachen, die nicht passieren dür-fen. Das wollen wir in Europa nicht.
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Andrej Hunko
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Aber auch die Situation der Roma in Deutschland istbedrohlich. Allein durch das sogenannte Rückführungs-abkommen mit dem Kosovo sind an die ZehntausendRoma in Deutschland von der Abschiebung bedroht. DieAbschiebungen finden auch statt. Auch wenn die Bun-desregierung argumentiert: „Wir schieben gar keineRoma ab; wir schieben kosovarische Staatsbürger ab“,so sind es doch mit überwältigender Mehrheit Roma, dievon diesem Abschiebeabkommen betroffen sind. Wirlehnen diese Abschiebeabkommen ganz klar ab.
Ich möchte ein Beispiel aus meiner HeimatstadtAachen bringen. Dort wurde am Nikolaustag 2011 die19-jährige Roma-Schülerin Sadbera R. frühmorgensnicht vom Nikolaus, sondern von der Polizei aus demSchlaf gerissen. Sie wurde am gleichen Tag nach Sara-jevo abgeschoben. Sie war gut integriert. Sie war Schü-lerin. Ihre Familie ist auseinandergerissen worden. DieseAbschiebung, Herr Beck, hat in Nordrhein-Westfalenunter einer SPD-Grünen-Regierung stattgefunden.
Auch das darf nicht sein. Deswegen fordern wir einenAbschiebestopp auch in Nordrhein-Westfalen.
Ich will auch an den Fall Borka T. erinnern, der 49-jähri-gen Roma-Frau aus Mayen bei Koblenz. Sie wurde am7. Dezember 2010 – ähnlich wie bei dem Fall in Aachen –morgens zusammen mit ihrer Familie aus dem Bett ge-rissen und wurde noch am gleichen Tag abgeschoben.Wenige Wochen später ist diese Roma-Frau im Kosovoan einer Gehirnblutung verstorben. Viele Sachverstän-dige, die sich im Nachhinein damit befasst haben, habengesagt: Das ist durch die Abschiebung passiert. Mit einerfachärztlichen Betreuung, wie sie in Deutschland gege-ben war, wäre das nicht passiert. – Wir halten das für un-erträglich. So etwas darf in einem zivilisierten Land wieDeutschland nicht passieren.
Zu den Anträgen der Grünen. Es ist begrüßenswert,dass ein Abschiebestopp gefordert wird. Setzen Sie dasaber bitte schön auch in Baden-Württemberg und Nord-rhein-Westfalen um. Kürzlich war eine Delegation derLandesregierung Baden-Württemberg im Kosovo. ImNachhinein haben Sie die Situation dort schöngeredetund haben gesagt: „Es ist alles okay, wir können weiterabschieben.“ – Bitte nutzen Sie Ihren Einfluss auf die Lan-desregierungen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, um einen völligen Abschiebestopp durchzu-setzen.
Die Linke fordert – ich komme zum Schluss, FrauPräsidentin – ein vollständiges Bleiberecht und Aufent-haltsrecht aller Roma in Deutschland.
Wir fordern das nicht nur aufgrund der humanitären Ver-antwortung, sondern auch aufgrund der historischen Ver-antwortung. 500 000 Sinti und Roma sind unter dem Na-ziregime ermordet worden.
Wir fordern vor allen Dingen auch eine Aussetzung die-ses unerträglichen Rückführungsabkommens mit der Re-publik Kosovo. Bitte stoppen Sie dieses Abkommen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 17/8868 zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Innenaus-
schuss, den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für
Gesundheit und an den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung zu überweisen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Der Entschließungsantrag auf Drucksache 17/8869
soll überwiesen werden zur federführenden Beratung an
den Innenausschuss und zur Mitberatung an den Aus-
wärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Menschen-
rechte und Humanitäre Hilfe und an den Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 21. März 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute, nicht nur für das Wo-
chenende.