Protokoll:
17035

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 35

  • date_rangeDatum: 26. März 2010

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: None Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:54 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/35 weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rüstungs- exportberichte zeitnah zum Jahresab- rüstungsbericht vorlegen (Drucksache 17/1167) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 3309 B 3309 C 3312 A 3313 C 3315 D 3316 D 3318 D 3319 D 3329 C 3331 B 3332 C 3333 D 3333 D 3334 A 3335 C 3337 C 3339 B 3339 D 3340 D Deutscher B Stenografisc 35. Sit Berlin, Freitag, de I n h a Tagesordnungspunkt 23: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbrei- tung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale 2009 (Jahresab- rüstungsbericht 2009) (Drucksache 17/445) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen (Drucksache 17/1159) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Andreae, 3309 A 3309 B Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3321 D 3322 D 3324 A undestag her Bericht zung n 26. März 2010 l t : Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Vorratsdaten- speicherungen über den Umweg Europa (Drucksache 17/1168) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . 3325 A 3325 C 3325 C 3327 B 3327 B 3328 C Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3342 A 3343 A II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: a) Antrag der Abgeordneten Ute Vogt, Ulrich Kelber, Marco Bülow, weiterer Abgeord- 3344 A 3345 C 3347 A 3347 C 3348 B 3366 C 3368 C Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: a) Antrag der Fraktion der SPD: Fairness in der Leiharbeit (Drucksache 17/1155) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Elfter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (Drucksache 17/464) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht dem Zufall überlassen (Drucksache 17/1149) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3349 C 3350 D 3350 D 3351 A 3352 B 3353 D 3354 D 3355 C 3356 D 3358 C 3359 C 3360 B 3361 C 3361 D 3362 D 3365 A neter und der Fraktion der SPD: Keine Vorbereitungen für die Wiederauf- nahme der Erkundung des Salzstocks in Gorleben bis zum Abschluss der Arbeit des 1. Parlamentarischen Untersu- chungsausschusses (Drucksache 17/1161) . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Kelber, Dr. Matthias Miersch, Dorothée Menzner, Sylvia Kotting-Uhl und weiterer Abgeordneter: Einsetzung eines Untersuchungsaus- schusses (Drucksachen 17/888 (neu), 17/1250) . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Edathy (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Amtliche Mitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3369 A 3369 A 3369 B 3370 B 3371 C 3372 C 3373 B 3374 B 3375 B 3377 A 3377 D 3379 C 3380 D 3381 A 3382 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3309 (A) (C) (D)(B) 35. Sit Berlin, Freitag, de Beginn: 9
  • folderAnlagen
    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3381 (A) (C) (D)(B) DIE GRÜNEN Weinberg, Marcus CDU/CSU 26.03.2010 Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 26.03.2010 Hempelmann, Rolf SPD 26.03.2010 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 26.03.2010 Volkmar Wagner, Daniela BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.03.2010 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 26.03.2010 Barchmann, Heinz- Joachim SPD 26.03.2010 Bernschneider, Florian FDP 26.03.2010 Burchardt, Ulla SPD 26.03.2010 Burkert, Martin SPD 26.03.2010 Canel, Sylvia FDP 26.03.2010 Dr. Danckert, Peter SPD 26.03.2010 Drobinski-Weiß, Elvira SPD 26.03.2010 Duin, Garrelt SPD 26.03.2010 Erdel, Rainer FDP 26.03.2010 Ernstberger, Petra SPD 26.03.2010* Freitag, Dagmar SPD 26.03.2010 Friedhoff, Paul K. FDP 26.03.2010 Gabriel, Sigmar SPD 26.03.2010 Dr. Geisen, Edmund Peter FDP 26.03.2010 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 26.03.2010* Golombeck, Heinz FDP 26.03.2010 Golze, Diana DIE LINKE 26.03.2010 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.03.2010 Gottschalck, Ulrike SPD 26.03.2010 Götz, Peter CDU/CSU 26.03.2010 Groschek, Michael SPD 26.03.2010 Groth, Annette DIE LINKE 26.03.2010 Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten Keul, Katja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.03.2010 Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.03.2010 Krüger-Leißner, Angelika SPD 26.03.2010* Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.03.2010 Kunert, Katrin DIE LINKE 26.03.2010 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 26.03.2010 Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 26.03.2010 Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 26.03.2010 Nietan, Dietmar SPD 26.03.2010 Özoğuz, Aydan SPD 26.03.2010 Pflug, Johannes SPD 26.03.2010 Pitterle, Richard DIE LINKE 26.03.2010 Remmers, Ingrid DIE LINKE 26.03.2010 Rix, Sönke SPD 26.03.2010 Roth (Esslingen), Karin SPD 26.03.2010 Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 26.03.2010 Scheelen, Bernd SPD 26.03.2010 Dr. Schwanholz, Martin SPD 26.03.2010 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 26.03.2010* Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 26.03.2010 Thiele, Carl-Ludwig FDP 26.03.2010 Ulrich, Alexander DIE LINKE 26.03.2010* Vogel (Kleinsaara), CDU/CSU 26.03.2010 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich (A) (C) (D)(B) * für die Teilnahme an der 122. Jahreskonferenz der Interparlamenta- rischen Union Anlage 2 Amtliche Mitteilung Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass sie den An- trag EU-Beitrittsgesuch Islands unterstützen und ver- antwortungsvoll begleiten auf Drucksache 17/1163 zu- rückzieht. Werner, Katrin DIE LINKE 26.03.2010 Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 26.03.2010 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.03.2010* Zimmermann, Sabine DIE LINKE 26.03.2010 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Offsetdruc sellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Kö 3382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 kerei, Bessemerstraße 83–91, 1 ln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 22 35. Sitzung Berlin, Freitag, den 26. März 2010 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703500000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe heute Morgen vor Eintritt in die Tagesordnung
nichts zu verkünden, was zur Förderung der Motivation
oder zur Behinderung der Tagesordnung geeignet sein
könnte.

Also kommen wir sofort zu den Tagesordnungspunk-
ten 23 a, b und d:

a) Unterrichtung durch die Bundesregierung

Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskon-
trolle und Nichtverbreitung sowie über die
Entwicklung der Streitkräftepotenziale 2009


(Jahresabrüstungsbericht 2009)


– Drucksache 17/445 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Rede
b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Deutschland muss deutliche Zeichen für eine
Welt frei von Atomwaffen setzen

– Drucksache 17/1159 –

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Andreae, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahres-
abrüstungsbericht vorlegen

– Drucksache 17/1167 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss (f)

Federführung strittig
zung

n 26. März 2010

.02 Uhr

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Wünscht je-
mand dazu eine spontane streitige Debatte mit Kampf-
abstimmung? – Auch das ist nicht der Fall. Wir steuern
offenkundig auf ein außerordentlich friedfertiges Wo-
chenende zu.

Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort erhält zu-
nächst Außenminister Dr. Guido Westerwelle.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Vor ziemlich genau ei-
nem Jahr hat Präsident Obama mit seiner berühmten Pra-
ger Rede ein wichtiges Signal für die weltweite
Abrüstung gegeben. Die unkontrollierte Weiterverbrei-
tung von atomaren Waffen ist wohl eine der größten
Bedrohungen unserer Sicherheit. Diese Gefahr einzu-
dämmen, ist eine Überlebensfrage. Deswegen sind Ab-
rüstung und Rüstungskontrolle für die ganze Menschheit
von enormer Bedeutung. Es ist die große Menschheits-
herausforderung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie text der Abg. Uta Zapf [SPD])


Das Jahrzehnt hat gerade erst begonnen, und man darf
an dieses Thema nicht zu gelassen herangehen. Wir ste-
hen am Beginn eines Jahrzehnts, bei dem sich noch ent-
scheiden wird, ob es ein Jahrzehnt der Aufrüstung oder
der Abrüstung werden wird.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da hat er leider recht!)


Die Bundesregierung stellt sich dieser Verantwortung.
Deswegen war es mir wichtig, den Jahresabrüstungsbe-
richt der Bundesregierung gleich zu Jahresbeginn die-
sem Hohen Hause, dem Deutschen Bundestag, vorzule-

onsvertrag haben wir festgeschrieben, dass
d Rüstungskontrolle zentrale Bausteine ei-
gen.

Im Koaliti
Abrüstung un

ner globalen Sicherheitsarchitektur der Zukunft sind.





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)

Dies war für die Bundesregierung vom ersten Tag an
Leitfaden ihrer Politik, und dies ist auch der Kompass
für die kommenden Jahre.

Das nukleare Gleichgewicht des Schreckens, wie es
genannt wird, hat im letzten Jahrhundert dazu beigetra-
gen, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht
noch einmal in Krieg und Zerstörung versunken ist.
Aber einiges, was während des Kalten Krieges richtig
war, ist heute überholt.


(Uta Zapf [SPD]: Richtig!)


Die Abschreckungswirkung nuklearer Waffen wird zu-
nehmend von der wachsenden Gefahr der Verbreitung
nuklearer Waffen überschattet.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir laufen Gefahr, dass sich in zehn Jahren die Zahl der
nuklear bewaffneten Länder womöglich verdoppelt, da-
runter Länder, die wir heute noch gar nicht auf dem
Schirm haben. Wir laufen Gefahr, dass nicht nur Staaten
Nuklearwaffen besitzen, sondern auch Terroristen.

Abrüstung und Rüstungskontrolle sind keine Anlie-
gen von gestern; sie sind drängende Aufgaben der Ge-
genwart und der Zukunft. Abrüstung ist kein naiver
Idealismus. Abrüstungspolitik ist auch nicht weltfremd;
im Gegenteil: Es wäre weltfremd, Abrüstungspolitik
jetzt zu unterlassen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es ist kein Zufall, dass sich heute auf beiden Seiten des
Atlantiks Außenpolitiker für nukleare Abrüstung und für
eine atomwaffenfreie Welt einsetzen, die in ihrer aktiven
Zeit als Politiker und Staatsmänner mit guten Gründen
für die Abschreckung eingetreten sind. Helmut Schmidt,
Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker, Egon
Bahr fordern dasselbe wie Henry Kissinger, Sam Nunn,
George Shultz und William Perry.

Im letzten September haben die Staats- und Regie-
rungschefs im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den
Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen vorgezeichnet. Ich
erinnere an die Resolution 1887 vom 24. September
2009. Sie haben in einer historischen Sitzung unter Lei-
tung von Präsident Obama allen Staaten ins Stammbuch
geschrieben, diesen Weg der Abrüstung jetzt entschlos-
sen zu gehen. Damit ist auch deutlich, dass Abrüstung
kein deutscher Sonderweg ist, sondern in die Politik der
Völkergemeinschaft eingebettet ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Nachfolgeabkommen zum START-Vertrag
zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und
Russland ist jetzt zum Greifen nahe. Wir setzen darauf,
dass die anstehenden ganz aktuellen Gespräche zu einem
Ergebnis führen können, sodass in wenigen Tagen – wir
hoffen darauf – vielleicht auch ein Abschluss möglich
wird. Ein erfolgreicher Abschluss wäre das Signal, dass
die beiden führenden Atommächte, die mehr als 90 Pro-
zent aller Atomwaffen besitzen, ihre Abrüstungsver-
pflichtung ernst nehmen. Das Abkommen könnte auch
den Weg für weitere Verhandlungen ebnen, die das
Thema einer Reduzierung der Zahl der sogenannten tak-
tischen Nuklearwaffen einschließen sollten.

Der Nichtverbreitungsvertrag schreibt drei elemen-
tare Prinzipien fest: erstens die Verpflichtung zur Nicht-
verbreitung, zweitens das Gebot allgemeiner und voll-
ständiger Abrüstung und drittens übrigens auch das
unbestrittene Recht aller Staaten auf zivile Nutzung der
Kernenergie. Der Vertrag beruht auf einem gegenseiti-
gen Versprechen. Der Selbstverpflichtung zur Nichtver-
breitung steht die Selbstverpflichtung der Atomwaffen-
staaten zur Abrüstung gegenüber. Es sind zwei Seiten
derselben Medaille.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Überprüfungskonferenz vor fünf Jahren – Sie
wissen es – scheiterte. Die Welt darf nicht noch einmal
fünf Jahre verstreichen lassen. Wir wollen einen Erfolg
bei der Überprüfungskonferenz im Mai in New York,
wir brauchen ein erneutes Bekenntnis aller Vertragsstaa-
ten zu den Rechten und Pflichten des Vertrages, und wir
wollen einen Aktionsplan mit konkreten Schritten für
eine Stärkung der drei Grundprinzipien des Vertrages,
die ich eben benannt habe. Dafür wird sich die Bundes-
regierung einsetzen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen, bis
heute hat der Iran den Nachweis nicht erbracht, dass
sein Nuklearprogramm ausschließlich friedliche Ziele
verfolgt. Ein nuklear bewaffneter Iran wäre nicht nur re-
gional wie ein Funken im berühmten Pulverfass. Ein nu-
klear bewaffneter Iran würde auch das gesamte globale
Nichtverbreitungsregime gefährden. Das können und
das werden wir als Völkergemeinschaft nicht hinneh-
men.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Alle Staaten, die außerhalb des Nichtverbreitungsver-
trages Atomwaffenfähigkeit erlangt haben, bleiben auf-
gerufen, auf nukleare Bewaffnung zu verzichten und
dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten. Das Nicht-
verbreitungsregime wird durch jeden einzelnen Beitritt
stärker.

Auf dem Weg zu einer nuklearwaffenfreien Welt
brauchen wir aber mehr als den Nichtverbreitungsver-
trag. Beim Außenministertreffen der G 8 am kommen-
den Dienstag in Ottawa können wir dafür die Grundlage
schaffen. Die G 8 vereinen mit den USA, mit Russland,
Frankreich und Großbritannien vier der fünf ständigen
Mitglieder des Sicherheitsrates. Das sind zugleich vier
der fünf anerkannten Atommächte. Ich werde mich in
Ottawa für eine gemeinsame Position der G 8 zur Abrüs-
tung und zur Rüstungskontrolle einsetzen. Wenn die G 8
mit einer Stimme sprechen, dann können wir für Abrüs-
tung und Nichtverbreitung Beachtliches erreichen.

Nötig ist auch ein weltweit verbindliches Vertrags-
regime, um waffenfähiges Material konsequent zu kon-
trollieren, bevor es einer militärischen Verwendung zu-
geführt wird. Nur so können wir ausschließen, dass
Nuklearmaterial in die falschen Hände gerät. Auf dem





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)

Nukleargipfel in Washington wird sich die Bundeskanz-
lerin dafür einsetzen.

Wir brauchen Fortschritte aber auch beim Atom-
waffenteststopp-Abkommen. 182 Staaten haben dieses
Abkommen unterzeichnet, 151 haben es ratifiziert. Ob-
wohl die überwältigende Mehrheit der Staatengemein-
schaft dieses Abkommen will, ist es bis heute nicht in
Kraft. Wir appellieren an die Staaten, deren Beitritt für
das Inkrafttreten noch notwendig ist, dass sie diesen
längst überfälligen Schritt endlich tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Abrüstung und Rüstungskontrolle, unsere Verteidi-
gungsfähigkeit und eine verantwortungsvolle Rüstungs-
exportpolitik sind unverzichtbare Bestandteile der
umfassenden Sicherheits- und Friedenspolitik der Bun-
desregierung. Das Nordatlantische Bündnis ist und
bleibt das Fundament unserer Sicherheit. Die zentrale
Aufgabe der NATO bleibt das gegenseitige Versprechen
aller Bündnispartner zu Beistand und zu gemeinsamer
Verteidigung. Ich sage das ausdrücklich, weil das für
viele Staaten von großem Interesse ist und weil sie auch
bei dieser Frage Sicherheit und ein klares Bekenntnis er-
warten. Art. 5 des Washingtoner Vertrages ist auch in
Zukunft Rückgrat des Bündnisses.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Zukunftsfähigkeit der NATO bestimmt aber auch
über die Zukunftsfähigkeit aller Bündnispartner. Daher
ist es so wichtig, dass die NATO die richtigen Antworten
auf die veränderte globale Sicherheitssituation findet.
Bis zum NATO-Gipfel in Lissabon im November erar-
beitet das Bündnis ein neues strategisches Konzept. Die
NATO muss wieder zu einem politischen Ort werden, an
dem wir uns mit unseren Verbündeten über die gesamte
Bandbreite gemeinsamer Sicherheitspolitik verständi-
gen. Abrüstung und Rüstungskontrolle gehören auch in
die NATO.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich habe gemeinsam mit meinen Kollegen aus
den Niederlanden, aus Belgien, Luxemburg und Norwe-
gen eine Debatte angestoßen, damit das entscheidende
Zukunftsthema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ wie-
der zum festen Bestandteil der Bündnispolitik wird. Wir
werden uns Ende April in Tallinn für diese Position im
Bündnis einsetzen.

Ohne eine enge Partnerschaft mit Russland ist die
europäische Sicherheitsarchitektur bestenfalls unvoll-
ständig. Deutschlands Sicherheit ist am besten gewähr-
leistet, wenn es eine umfassende Sicherheit von Vancou-
ver bis Wladiwostok gibt. Deswegen ist die Kooperation
mit Russland so wichtig. In der Frage der Raketenab-
wehr sollten wir keine Mühe scheuen, gemeinsame und
kooperative Lösungen zu finden. Ich bin auch zuver-
sichtlich, dass wir über die Reduzierung und Abschaf-
fung taktischer Nuklearwaffen sprechen können und
sprechen werden.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso sprechen? Einfach machen!)


Das setzt einen Prozess voraus, der mit mehr Transpa-
renz beginnt, Vertrauen aufbaut und in nachprüfbaren
vertraglichen Vereinbarungen münden kann und soll.
Diese Waffen sind Relikte des Kalten Krieges, sie haben
keinen militärischen Sinn mehr, sie schaffen keine Si-
cherheit, und sie haben deshalb nach Auffassung der
Bundesregierung auch keine Zukunft.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Aber auch das muss klar hinzugefügt werden: Dass wir
über den Abzug der in Deutschland verbliebenen Atom-
waffen nur innerhalb des Bündnisses und mit unseren
Verbündeten gemeinsam entscheiden, ist eine Selbstver-
ständlichkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle sind das
Gebot unserer Zeit, weil diese Waffen mit ihrem Ver-
nichtungspotenzial die gesamte Menschheit bedrohen.
Es liegt aber auf der Hand, dass wir darüber die konven-
tionelle Abrüstung nicht vernachlässigen dürfen. Nu-
kleare Abrüstung darf nicht dazu führen, dass konventio-
nelle Kriege wieder leichter führbar werden. Deswegen
gehen nukleare Abrüstung und konventionelle Abrüs-
tung nach Auffassung der Bundesregierung Hand in
Hand.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen einen offenen Dialog zwischen der NATO
und Russland, um den Vertrag über Konventionelle
Streitkräfte in Europa, den KSE-Vertrag, neu zu beleben
und an die Erfordernisse unserer Zeit anzupassen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dass die Stimme Deutschlands in den internationalen
Debatten zur Abrüstung gehört wird, ist auch der über
Jahrzehnte gewachsenen Glaubwürdigkeit deutscher
Friedenspolitik zu verdanken. Mit diesem Pfund, das wir
uns in der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland
gemeinsam erarbeitet haben, können wir heute wuchern.
Ich mache mir keine Illusionen – ich weiß, dass Sie das
genauso sehen –, dass der Weg einfach sein wird. Abrüs-
tung und vertragliche Rüstungskontrolle sind dicke Bret-
ter, die wir beharrlich bohren werden. Ich freue mich,
dass die Bundesregierung dabei auf die breite Unterstüt-
zung dieses Hohen Hauses bauen kann. Ich danke allen
Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und na-
türlich auch den Kollegen meiner eigenen Fraktion, die
diesen Kurs deutscher Sicherheits- und Friedenspolitik
mit Rat und Tat unterstützen. Den interfraktionellen An-
trag, der die überwältigende Mehrheit dieses Hohen
Hauses hinter sich vereint, verstehen wir in der Bundes-
regierung als Auftrag und als Verpflichtung. Es ist gut
und richtig – es ist auch wichtig für unsere Bürger, dies





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)

zu wissen und zu sehen –, dass wir in diesen Schicksals-
fragen ein gemeinsames Fundament in diesem Hohen
Hause haben.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703500100

Das Wort erhält nun die Kollegin Uta Zapf für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1703500200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte als Allererstes einen ganz herzlichen Dank an
alle die, die bei diesem Antrag mitverhandelt haben, aus-
sprechen. Ich danke, obwohl es ungewöhnlich ist, mei-
nem Kollegen Roderich Kiesewetter, der sich in der Tat
bemüht hat, viele Hürden aus dem Weg zu schaffen.
Herzlichen Dank dafür! Herzlichen Dank aber auch an
Frau Malczak, die mit dafür gesorgt hat, dass der eine
oder andere über seinen Schatten gesprungen ist. Ich
denke, das ist das Kennzeichen dieses Antrags. Wir sind
einen großen Schritt in der parlamentarischen Meinungs-
bildung vorangekommen, und dies in einer schwierigen
Situation, in der es unterschiedliche Grade an Zustim-
mung zu dem gegeben hat, was der Herr Minister soeben
ausgeführt hat. Wir haben es schwer gehabt. Ich habe ge-
sagt, das ist gleichzeitig eine Zangen- und eine Steiß-
geburt. Aber wir sind zu einem Ergebnis gekommen,
wenn auch in allerletzter Minute vor der Sitzung aller
Fraktionen.

Ich bin sehr froh; denn bei allen Abstrichen oder Zu-
geständnissen, die der eine oder andere hat machen müs-
sen, ist es ein Antrag, der in der Tat dazu beitragen kann,
die Bundesregierung in der augenblicklichen Situation
zu leiten. Ich sage ausdrücklich „zu leiten“, weil es auch
da Unterschiede gab, wie sich in den Diskussionen ge-
zeigt hat. Es ist ein gutes Zeichen, dass wir ganz wich-
tige Punkte gemeinsam, über alle Fraktionen hinweg, be-
schließen können. Aus allen Fraktionen gab es Anträge.
Diese werden im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungs-
kontrolle und Nichtverbreitung beraten werden.

Wir haben gerade am heutigen Tage das Glück, sagen
zu können: Jawohl, START steht kurz vor der Unter-
zeichnung. Das ist ein ganz wichtiges Zeichen, auch
wenn es nur der erste Schritt in dem bedeutenden Pro-
zess der Abrüstung nuklearer Waffen ist. Wir wissen,
dass viele weitere Schritte folgen müssen, sei es bilateral
zwischen Russland und den USA, sei es ausgeweitet auf
andere Nuklearwaffenstaaten der P 5. Schon da fangen
gewisse Schwierigkeiten an. Wie wir von unserem direk-
ten Nachbarn Frankreich wissen, ist dies dort eine viel
schwierigere Frage als bei uns.

Diejenigen, die den Nichtverbreitungsvertrag nicht
unterzeichnet haben – der Minister hat es erwähnt –,
aber über Nuklearwaffen verfügen, müssen, wenn wir
Global Zero, Abrüstung auf null, wirklich wollen, in der
Endphase einbezogen werden. Deshalb haben wir in
dem vorliegenden Antrag den Appell an diese Staaten
formuliert, zumindest ihre Waffen nicht weiter aufzusto-
cken, die Produktion von Spaltmaterial zu beenden und
sich dem Atomteststoppvertrag anzuschließen. Wir wis-
sen, dass Präsident Obama den Atomteststoppvertrag in
den USA ratifizieren lassen will. Wir wissen aber auch,
dass es da noch eines Stückes Arbeit bedarf. Wir werden
von uns aus ein bisschen Unterstützung leisten müssen,
damit diese wichtige Ratifikation zustande kommt.

Die Verhandlungen in Genf über einen Stopp der Pro-
duktion von Spaltmaterial stocken, weil sich Pakistan
dem entgegenstellt, obwohl ein fast fertig ausgearbeite-
ter Vertrag vorliegt, der sich schon seit Jahren in den
Schubladen befindet. Es wird eine ganz wichtige Auf-
gabe sein, das zu befördern. Wir sind dazu bereit.

In diesem Zusammenhang wird die Überprüfungs-
konferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die im Mai
stattfindet, ein ganz wichtiger Punkt sein. Dabei geht es
um die Frage, wie es der Herr Minister formuliert hat:
Wird es Aufrüstung geben, oder wird es Abrüstung ge-
ben? Diese Überprüfungskonferenz sollte so ausfallen,
dass sich die Teilnehmerstaaten auf ein wegweisendes
Abschlussdokument einigen können, das das aufnimmt,
was wir schon einmal erreicht hatten, liebe Freunde. Mit
den 13 Schritten im Jahre 2000 hatten wir etwas erreicht,
was wir heute wieder haben niederschreiben müssen.

In diesen 13 Schritten ist unter anderem ein ganz
wichtiger Punkt enthalten. Dazu will ich ein paar Worte
sagen. Das betrifft nicht nur die Strategie der USA, son-
dern auch die der NATO und Russlands. Ich glaube, es
wäre gut, wenn man partnerschaftlich dazu käme, im
Dialog zwischen Russland und den USA – mit dem
Signal, das von der Nuclear Posture Review ausgeht –
das Richtige zu tun und auch Russland dazu zu bewegen,
den Nuklearwaffen einen geringeren Stellenwert zuzu-
schreiben. Das ist der Kernpunkt unserer Diskussion.

Es wird die Zukunft der Abrüstung bestimmen, ob es
uns und auch der NATO gelingt, von der Atomwaffen-
strategie Abstand zu nehmen. Es geht nicht nur um die in
Deutschland oder anderen europäischen Staaten gelager-
ten Atomwaffen, sondern es geht auch darum, ob sich
die NATO bei der Verteidigung auf einen Mix aus Atom-
waffen und konventionellen Waffen stützt oder ob die
NATO bereit ist, den Stellenwert von Atomwaffen he-
rabzustufen. Bevor es überhaupt dazu kommt, auf Atom-
waffen ganz zu verzichten, ist es wichtig, zu sagen, dass
die Atomwaffen nur noch der Abschreckung gegen Nu-
klearwaffen dienen, als Restposten sozusagen. Auch
Obama hat darauf hingewiesen: Solange es Nuklearwaf-
fen gibt, werden wir Abschreckung noch brauchen. Aber
wenn es uns nicht gelingt, die Rolle von Atomwaffen in
den Strategien zu minimieren, wird es nicht zu einem
völligen Verzicht kommen. – Deshalb ist mein großer
Appell an die Bundesregierung, ein solches Vorgehen
durch Verhandlungen in den NATO-Gremien zu unter-
stützen und voranzutreiben.

Ich bin nicht ganz pessimistisch. Wir haben eine Un-
terrichtung von einem der zwölf Apostel bekommen, der
einer Gruppe angehört, die eine neue Strategie vorberei-
tet. Ich hatte den Eindruck, dass man auch in dieser Stra-





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)

tegie empfehlen wird, das Ziel der völligen nuklearen
Abrüstung festzuschreiben. Das hat – auch für die au-
genblickliche Planung – Konsequenzen. Ich bitte herz-
lich darum, Taten folgen zu lassen.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, um den wir gerun-
gen haben. Vonseiten der nichtgebundenen Staaten wird
die Drohung ausgesprochen, dass sie sich im Rahmen
der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrver-
trag einem Abschlussdokument verweigern werden, falls
es keine Resolution für eine atomwaffenfreie Zone im
Nahen und Mittleren Osten geben sollte. Ich glaube
– auch dieser Punkt ist wichtig –, dass das Ziel, das mit
dieser Resolution angesteuert wird, eines der schwierigs-
ten ist, weil es sich hierbei, wenn es um Abrüstungsfra-
gen und um Sicherheit geht, um die allerschwierigste
Region handelt.

Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es nicht
nur um die nukleare Abrüstung geht, sondern auch um
eine Verabredung zur Rolle der konventionellen Streit-
kräfte. Das betrifft nicht nur den KSE-Vertrag – wir wis-
sen es sehr zu schätzen, dass dieses Thema wieder auf
den Tisch des Hauses gebracht wird –, sondern auch den
Nahen und Mittleren Osten. Das betrifft natürlich auch
die Regionen Indien und Pakistan, in denen die beiden
Mächte derzeit derart aufrüsten, dass man das Schaudern
bekommen kann. Wenn wir generell über den Jahresab-
rüstungsbericht sprechen, sollten wir das im Blick behal-
ten. Wir stehen auch in diesem Bereich in der Pflicht, auf
weitere Abrüstung hinzuwirken. Das betrifft natürlich
auch die eigenen Lieferungen, die nicht maßlos zur kon-
ventionellen Aufrüstung beitragen sollten.

Lassen Sie mich einen letzten Punkt erwähnen. Die
Proliferationsgefahr, die mit der zivilen Nutzung von
Nukleartechnologie verbunden ist, ist uns bewusst.
Wenn man sich vorstellt, welche möglichen weiteren
Gefahren durch die Verbreitung der Nukleartechnologie
und durch das dadurch anfallende Nuklearmaterial – sei
es Abfall, sei es Material zur Wiederverwertung – auch
in Bezug auf die illegale oder die terroristische Verwen-
dung entstehen, dann glaube ich, dass es höchste Zeit ist,
dass wir darüber reflektieren, und zwar nicht nur in Be-
zug auf die Sicherung dieser Materialien – demnächst
soll auf dem Gipfel in Washington darüber beraten wer-
den –, sondern auch in Bezug auf die Frage, wie wir im
Zuge einer solchen Entwicklung gewährleisten können,
dass eine sogenannte Fuel Bank etabliert wird. Es wird
nicht leicht sein, anderen Staaten zu sagen: Ihr dürft die-
ses Material, das ihr für die Reaktoren verwenden wollt,
nicht selbst herstellen; wir wollen das unter internationa-
ler Kontrolle machen. – Dies wäre aber ein wichtiger
Schritt. Wir kennen das aus den ganz schwierigen Dis-
kussionen mit Iran.

Wenn ich noch ein Problem auftischen soll, das völlig
ungelöst ist, muss ich an Nordkorea erinnern. Die
Sechs-Parteien-Gespräche müssen von uns unterstützt
werden. Es muss eine Lösung gefunden werden, damit
dieses Land, das sich aus dem Atomwaffensperrvertrag
quasi abgeseilt hat, in die Vertragsgemeinschaft zurück-
kehrt. Es muss eingebunden werden und sich an einer
friedlichen Lösung all jener Probleme, die ich angerissen
habe, beteiligen.

Nochmals herzlichen Dank an alle für die gute Ko-
operation. Das lässt mich für die Zukunft dieser Legisla-
turperiode hoffen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703500300

Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1703500400

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir debattieren hier heute nicht nur über den
Jahresabrüstungsbericht 2009 der Bundesregierung, son-
dern wir sprechen auch über einen fraktionsübergreifen-
den Antrag, der von vier Fraktionen dieses Hauses aus
fünf Parteien vorgelegt wird. Ich denke, das ist ein gutes
Signal für die Öffentlichkeit, für unsere Bevölkerung.
Wir sind froh, dass wir heute – ich nenne es einmal so –
diese Osterbotschaft senden können. Herzlichen Dank
an alle Beteiligten, insbesondere an Frau Hoff, Frau Zapf
und Frau Malczak! Wenn ich diese drei Namen nenne,
könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass Abrüstung
weiblich geworden ist. Aber ich denke, dass alle, auch
die Herren des Hauses, dahinterstehen.

Wir setzen damit ein klares Zeichen für eine überlegte
Abrüstung. Der fraktionsübergreifende sicherheits-
politische Antrag hat die beteiligten Fraktionen über
mehrere Monate hinweg an die Grenze des Auslotbaren
gebracht. Das zeigt aber auch, mit welcher Ernsthaftig-
keit wir darüber gesprochen haben. Es ist gut, dass unser
Koalitionsvertrag bei einem Großteil des Parlaments für
Übereinstimmung und gemeinsames Handeln sorgt. Viele
Formulierungen finden sich im gemeinsamen Antrag
wieder. Das macht Mut für künftige sicherheitspolitische
Initiativen, zum Beispiel für die G-8-Initiative „Globale
Partnerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernich-
tungswaffen“.

Bei aller Hoffnung und ohne die für Deutschland
manchmal typische rosa Brille möchte ich aus Sicht der
Union ein paar Punkte ansprechen.

Bei Abrüstung geht es natürlich auch um unsere deut-
schen Interessen, um die Klärung unserer sicherheits-
politischen Interessen, einschließlich der Festigung der
transatlantischen Bindung und der europäischen Verwur-
zelung. Es geht um Grundwerte wie Freiheit und Demo-
kratie, Menschenrechte und Wohlfahrt. Es geht aber
auch um die Glaubwürdigkeit unserer Außen- und Si-
cherheitspolitik. Wir alle wissen, dass unsere heutige
Initiative nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem
großen Ziel ist. Selbst Obama hat gesagt, dass es bis zu





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

einer nuklearwaffenfreien Welt möglicherweise eine Ge-
neration dauern kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Uta Zapf [SPD])


Deshalb sollten wir bei allem Elan schon jetzt auch an
konventionelle Abrüstung und an Integration von kon-
ventioneller und nuklearer Abrüstung denken. Die Er-
nennung von Victoria Nuland als US-Sonderbeauftragte
für konventionelle Abrüstung ist ein hoffnungsfrohes
Zeichen dafür, wie ernst unser wichtigster Bündnispart-
ner auch die konventionelle Abrüstung nimmt.

Es ist Auffassung der Union, dass der politische
Zweck der nichtstrategischen Atomwaffen in Europa ent-
fallen ist. Aber wenn wir diese Abrüstung wollen, dann
muss sie im Bündnis abgestimmt sein, dann müssen wir
schrittweise vorgehen – mit den USA, ohne einseitige
Vorleistungen –, dann muss das im Zuge der Überarbei-
tung des strategischen Konzepts der NATO geschehen
– Frau Zapf hat das eben angesprochen – und unter Ein-
beziehung – das ist uns von der Union ganz besonders
wichtig – aller nichtstrategischen Atomwaffen in Europa,
auch der russischen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Nukleare und konventionelle Abrüstung unter Anpas-
sung des KSE-Vertrags ist der Einstieg in eine koordi-
nierte Abrüstung. Wir sollten dabei auch die Wahrneh-
mung der baltischen Staaten und unseres polnischen
Nachbarn hinsichtlich der Bedrohungslage ernst neh-
men. Die haben nämlich einen etwas anderen Bezug zur
Geschichte. Deshalb müssen wir sie frühzeitig in unsere
Überlegungen einbeziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wie stellen wir uns das konkret vor? Wir bleiben in
der NATO und in der Europäischen Union fest veran-
kert. Beiden Wertegemeinschaften verdanken wir unsere
Sicherheit, unseren Wohlstand, aber auch unser Gewicht
in der Welt. Die Einigung bei START, also hinsichtlich
der Reduzierung der strategischen Atomwaffen, zwi-
schen den USA und Russland, die wohl in den nächsten
14 Tagen bevorsteht, ist vielversprechend. Wir müssen
alle Kraft auf die Überprüfungskonferenz zum Nichtver-
breitungsvertrag im Mai setzen und in diesem Jahr ver-
suchen, endlich die Ratifizierung des Teststoppvertrags
zu erreichen – es fehlt immer noch die Ratifizierung
durch neun Staaten –, damit dieser Vertrag in Kraft tre-
ten kann.

Der Fahrplan des Abzugs nichtstrategischer Atom-
waffen aus Deutschland und Europa hat abgestimmt im
Bündnis zu erfolgen, auch mit den fünf Staaten, in denen
sie zurzeit noch gelagert sind. Wenn diese Nuklearwaf-
fen keine militärische Rolle mehr spielen, sollten wir das
auch in unsere Gespräche mit der Türkei einbeziehen. Es
gibt ja auch schon Überlegungen, wie man diese Atom-
waffen unter internationale Kontrolle stellen könnte. Ich
denke an die Vorschläge, die bei der IAEO vorliegen.

Parallel zum Abrüstungsfahrplan brauchen wir – Frau
Zapf hat es vorhin angesprochen – die Aufrechterhaltung
einer nuklearen Rückversicherung im strategischen Kon-
zept der NATO. Warum? Solange es noch Atomwaffen
gibt, solange es noch andere Massenvernichtungswaffen
auf der Welt gibt – das strategische Konzept enthält al-
lerdings ein deutliches Zeichen der Rückführung der Be-
deutung der Nuklearwaffen – und solange die Gefahr der
Proliferation nicht gebannt ist, brauchen wir als letzte
Rückversicherung wenige Nuklearwaffen im Bündnis.
Früher hieß das Abschreckung. Diese sollten wir erst
dann aufgeben, wenn keine Staaten mehr mit Atomwaf-
fen drohen können. Denn außerhalb Europas ist die Lage
nicht sonderlich erquicklich.

Wenn wir den Blick in den Abrüstungsbericht wa-
gen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen wir: Nord-
korea ist unberechenbar. Atommächte wie Pakistan und
Indien befinden sich nicht gerade in Friedensverhand-
lungen. Die Gefahr nuklearer Rüstung im Iran hat unab-
sehbare Konsequenzen, beispielsweise für das Bedro-
hungsgefühl Israels, Saudi-Arabiens und der Türkei.
Sicherheitspolitik hat nicht immer nur mit klaren Fakten
zu tun. Sicherheitspolitik hat viel mit Psychologie und
Bedrohungswahrnehmung zu tun. Auch daran können
wir arbeiten. Im Abrüstungsbericht ist davon die Rede,
dass in Syrien möglicherweise geheime nukleare Aktivi-
täten aufwachsen. Die IAEO hat hierzu Überlegungen.
Wir Deutschen arbeiten intensiv an der Multilateralisie-
rung des Brennstoffkreislaufs. Es gibt also ganz viele
Ansatzpunkte für Abrüstung, nicht nur im militärischen
Bereich.

Wir werben für Transparenz und Kooperationsmaß-
nahmen, für Verifikation für alle Massenvernichtungs-
waffen. Deshalb sollten wir noch stärker auf einen Erfolg
bei der Genfer Abrüstungskonferenz hinwirken. Unsere
Wertegemeinschaft gilt es gegen die Bedrohung durch
Massenvernichtungswaffen zu schützen. Aber wie leis-
ten wir das ohne Nuklearwaffen? Auch darüber sollten
wir uns als Parlament Gedanken machen. Es gibt eine
Lösung; darüber werden wir debattieren müssen: Wir
sollten darauf hinarbeiten, dass die geplante Raketenab-
wehr der NATO gegen Massenvernichtungswaffen für
alle offen ist, die daran mitwirken wollen. Sie richtet sich
gegen unberechenbare Staaten im Mittleren und Fernen
Osten, Staaten, die sich nicht an den Nichtverbreitungs-
vertrag halten bzw. den Teststoppvertrag verletzen. Eine
partnerschaftliche und nicht ausgrenzende Raketenab-
wehr schafft Transparenz und Vertrauen, insbesondere
mit Blick auf Russland und China.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sollten deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen,
intensiver über Sicherheitspolitik und sicherheitspoliti-
sche Architekturen nachdenken, weit über unsere natio-
nalen Befindlichkeiten hinaus. Wir brauchen die breite
Debatte. Wir können es auch offen ansprechen: Wir ha-
ben es mit dem Ende des Kalten Krieges versäumt, diese
wertegeleitete Debatte in Deutschland mit Blick auf un-
sere sicherheitspolitischen Interessen zu führen. Das
Weißbuch von 2006 ist gut, die Konzeption der Bundes-
wehr von 2004 auch. Aber wir haben das nicht in die Öf-
fentlichkeit getragen. Wir sollten weiter und breiter in





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

der Öffentlichkeit darüber diskutieren. Der Anstoß kann
von uns ausgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir dürfen die De-
batte nicht blauäugig führen. Gutmenschentum ist in der
Sicherheitspolitik fehl am Platz. Hier zählen Fakten, Be-
drohungswahrnehmungen, strategische Interessen, histo-
rische Zusammenhänge und psychologische Befindlich-
keiten. Aber es geht auch um Glaubwürdigkeit und
verlässliche Stärke. Wir brauchen eine Analyse der si-
cherheitspolitischen Herausforderungen und ihrer Ursa-
chen mit Blick auf Terrorismus, Aufrüstung und unkon-
trollierte Verbreitung, also Proliferation. Es gilt der
Grundsatz: Je weniger Nuklearwaffen, desto geringer die
Gefahr, dass dieses Material in terroristische Hände fällt.

Unsere heutige Abrüstungsinitiative ist dann sinnvoll
und erfolgversprechend, wenn wir uns über unsere deut-
schen Sicherheitsinteressen glaubwürdig und vor allem
auch für unsere Bündnispartner nachvollziehbar verstän-
digen. Das bezieht die Frage der transatlantischen Ab-
stimmung mit ein. Abrüstung kann somit nur gesamt-
europäisch wirksam sein, und sie muss für nukleare und
konventionelle Waffen gelten. Wir sollten auch daran
denken, mit Russland über die baldige Wiederaufnahme
der Verhandlungen über den KSE-Vertrag zu sprechen,
pragmatisch und offen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Als Rahmen bieten sich hierzu die NATO oder die
OSZE an. Wir berücksichtigen dabei auch die Sicher-
heitsbedürfnisse unserer östlichen Nachbarn. Wir sollten
Anreize für Abrüstung schaffen, nicht Misstrauen für
neue Aufrüstung. Abrüstung kostet viel Geld; darüber
müssen wir uns im Klaren sein. Erst langfristig schafft
sie freie Ressourcen, zum Beispiel für Bildung und For-
schung. Wir brauchen aber auch Mittel zur Sicherung
der Nukleararsenale.

Auf dem Weg zur Verwirklichung des langfristigen
Ziels Global Zero brauchen wir – ich glaube, da sind wir
uns einig – die Festlegung einer möglichst geringen An-
zahl von Kernwaffen als Restversicherung, und zwar
möglichst außerhalb Europas. Wenn wir dies wollen,
auch als Parlament, müssen wir uns darüber im Klaren
sein, was das im Hinblick auf die Mitbestimmung, die
Teilhabe bedeutet. Auch das ist ein Punkt, über den zu
diskutieren ist. Ein zügiges Wegverhandeln der nichtstra-
tegischen Atomwaffen nach dem START-Folgeabkom-
men ist sicherlich möglich. Mit diesem Vorschlag machen
wir unsere deutschen Interessen klar – pragmatisch und
konstruktiv. Wir gehen im Bündnis Hand in Hand.

Wir sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mit dem
schlichten und euphorischen Ruf nach Abrüstung, nach
Abzug der Atomwaffen aus Deutschland ist es allein
nicht getan. Wenn wir ernsthafte Abrüstungsbemühun-
gen wollen, die dauerhaft erfolgreich sind, stehen wir
erst am Anfang eines langwierigen und mühsamen Pro-
zesses.

Unser Koalitionsvertrag weist den richtigen Weg. Wir
setzen ihn auch in der Sicherheitspolitik erfolgreich um.
Dennoch: Visionen schaffen keine Sicherheit. Aber sie
schaffen Zielmarken. Sie ermöglichen einen Fahrplan.
Aber der Fahrplan braucht Haltestellen. An diesen Halte-
stellen sollten Meilensteine der Abrüstung stehen, nicht
auf Visionen beruhend, sondern auf klaren Fakten, or-
dentlichen Verhandlungen, gegenseitigem Respekt. Das
ist möglich, wenn wir die Interessen unserer Nachbarn,
auch die Befindlichkeiten unserer ferneren Nachbarn,
und die historischen Zusammenhänge kennen. Wir brau-
chen für glaubwürdige Abrüstung Vertrauen, Verlässlich-
keit und Transparenz.

Abrüstung mit Frieden zu verwechseln, ist ein schwe-
rer Fehler. Abrüstung ist wichtig. Aber die Geschichte
lehrt, dass zumeist nicht Abrüstung zu Frieden führt,
sondern dass friedliche Zusammenarbeit erst einmal zu
geringerem Misstrauen, dann zu weniger Angst und
dann zu Abrüstung führt. Das hat kein Geringerer als
Richard von Weizsäcker festgestellt.

Abrüstung führt dann zum Erfolg, wenn sie kein
Selbstzweck ist, sondern wenn sie überlegt, mit den Part-
nern abgestimmt und mit einem klugen Plan erfolgt, im-
mer mit Blick auf unsere eigenen Interessen, über die
wir uns national, in Europa und im Bündnis sehr ordent-
lich verständigen müssen.

Unser gemeinsamer Antrag ist ein richtiger und zügi-
ger Schritt. Entscheidend ist, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, dass unsere Abrüstungsziele mit unseren Interes-
sen zusammenpassen. Populismus ist fehl am Platz, aber
harte Arbeit umso willkommener. Packen wir es an!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703500500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Inge Höger, Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703500600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Täglich

sterben 500 Menschen weltweit in bewaffneten Konflik-
ten. Das sind etwa 32 Menschen in den anderthalb Stun-
den, in denen wir heute über Abrüstung diskutieren.
Nicht wenige von ihnen sterben durch deutsche Waffen,
durch Schusswaffen, die in Deutschland oder mit deut-
scher Lizenz produziert wurden.

Die Atommächte dieser Welt besitzen nach wie vor ein
nukleares Potenzial, das ausreicht, die Menschheit mehr-
fach zu vernichten. Trotzdem wird weiter aufgerüstet.
Weltweit wird die unglaubliche Summe von 1 500 Milliar-
den Dollar für Rüstung ausgegeben. Abrüstung ist dem-
nach eine entscheidende Frage, eine Überlebensfrage für
die Menschen auf diesem Planten. Abrüstung ist eine
drängende politische Aufgabe, der wir uns alle stellen
müssen. Atomare und konventionelle Waffen müssen ab-
gerüstet werden, ganz egal, ob es um Kleinwaffen oder
Großwaffensysteme geht.





Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Linke ist deshalb für Abrüstung und den Stopp von
Rüstungsexporten.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung redet viel von Abrüstung. Herr
Westerwelle hat gerade wieder den Beitrag Deutschlands
für den Frieden in der Welt gelobt. Das ist völlig un-
glaubwürdig, solange die Bundeswehr immer mehr für
Kriege aufrüstet. Es ist verlogen, solange Waffen in na-
hezu alle Regionen dieser Welt geliefert werden. Abrüs-
tungspolitik sieht anders aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch im Lissabon-Vertrag wird die Doppelmoral
bei der Rüstung hochgehalten. Der Vertrag regelt seit
dem letzten Dezember die rechtlichen Grundlagen auch
für die Außenpolitik der Europäischen Union. In dem
Vertrag wird nur ein einziges Mal das Wort „Abrüstung“
erwähnt. In Art. 41 und in Art. 42 geht es um „Missio-
nen außerhalb der Union“. Diese Missionen umfassen
– Art. 43 – sogenannte „Abrüstungsmaßnahmen“ in
Drittstaaten, die mit militärischen Mitteln durchgeführt
werden sollen. Gemeint ist also eine gewaltsame Abrüs-
tung anderer Länder. Im selben Vertrag verpflichtet die
EU ihre Mitgliedstaaten zu weiterer Aufrüstung. Die EU
legt dabei auch fest, wie dies mit der Europäischen Ver-
teidigungsagentur abgewickelt wird. Hier wird schamlos
europäische Machtpolitik betrieben. Abrüstung wird es
so nicht geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das schwedische Institut SIPRI hat gerade wieder
festgestellt: Das Volumen des Rüstungshandels ist in
den letzten Jahren weltweit um 22 Prozent gewachsen.
Zusammen exportieren alle EU-Staaten inzwischen min-
destens so viele Waffen wie die USA. Deutschland hat
daran einen ganz erheblichen Anteil: Deutschland hat
seine Ausfuhren in diesem Bereich in den letzten fünf
Jahren verdoppelt. Deutschland ist damit Europameister
beim Handel mit dem Tod und liegt weltweit auf Platz 3.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was Sie machen, ist unglaublich!)


Um wenigstens etwas Licht in die dunklen Rüstungs-
geschäfte zu bringen, haben wir bereits im Dezember
2008 beantragt, dass der Rüstungsexportbericht spätes-
tens im zweiten Quartal des Folgejahres vorgelegt wird,
statt, wie es bisher häufig der Fall ist, erst über ein Jahr
später.


(Beifall bei der LINKEN)


Parlamentarische Kontrolle und Debatte über Rüstungs-
exporte sind ein wichtiger Beitrag zur Abrüstung.

Rüstungsexporte sind ein doppeltes Problem: Zum ei-
nen schaffen Waffen keinen Frieden, zum anderen fehlt
das Geld, das für Waffen ausgegeben wird, an anderer
Stelle. So haben auch deutsche Waffenverkäufe ihren
Anteil an dem gigantischen Staatsdefizit in Griechen-
land. Deutsche Rüstungsunternehmen beliefern sowohl
Griechenland als auch die Türkei, nahezu ausgewogen.
Sie profitieren von den Spannungen zwischen diesen
beiden Nachbarstaaten. Auch Südafrika und Pakistan
werden mit deutschen Rüstungsprodukten beliefert.
Diese Länder haben große ökonomische und soziale Pro-
bleme. Wenn Waffen gekauft werden, fehlt das Geld für
Bildung, für Gesundheit, für Soziales. Deutsche Waffen
gehen nach wie vor an Länder, die die Menschenrechte
systematisch missachten, zum Beispiel an Saudi-Ara-
bien. Sie gehen an Länder, die in Kriege und Bürger-
kriege verwickelt sind, an Länder, die sich diese Waffen
eigentlich gar nicht leisten können.

Für Rüstungsunternehmen ist das in der Regel kein
Risiko; denn die Exporte werden mit staatlichen Her-
mesbürgschaften bestens abgesichert. Die Linke ist ge-
gen öffentliche Garantien für Rüstungsgeschäfte.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sagt das einmal den Arbeitern von Rheinmetall!)


Die Linke ist für Konversion. Die Linke ist gegen Ge-
schäfte mit dem Tod. „Frieden schaffen ohne Waffen“ ist
unsere Devise.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Super! – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da sitzt die Rüstungslobby!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703500700

Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703500800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vor-

liegende Jahresabrüstungsbericht 2009 zeigt die helle
Seite der deutschen Außenpolitik. Doch es gibt auch
eine ziemlich düstere: die der deutschen Rüstungs-
exporte. Den Rüstungsexportbericht legt die Bundesre-
gierung nicht gerne vor. Bisher liegt der Rüstungsexport-
bericht weder für das Jahr 2009 noch für das Jahr 2008
vor. Das ist ein Skandal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bevor ich auf diese dunkle Seite der deutschen Au-
ßenpolitik zu sprechen komme, möchte ich mich zu-
nächst einem Lichtblick der deutschen Abrüstungspoli-
tik widmen. Den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der FDP und der Grünen ist es gelungen, sich auf einen
gemeinsamen Antrag zur nuklearen Abrüstung zu ei-
nigen. Wir Abgeordnete führen in diesem Hohen Hause
leidenschaftliche, teilweise erbitterte Debatten zu allen
möglichen Themen, und häufig ist das auch gut so.
Trotzdem ist es wirklich einmalig, dass sich heute das
gesamte Parlament zu einem atomwaffenfreien Deutsch-
land und zu dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt be-
kennt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)






Agnes Malczak


(A) (C)



(D)(B)

Die Entstehung des interfraktionellen Antrages kann
durchaus als schwierige Geburt bezeichnet werden. Des-
halb möchte ich mich bei Frau Zapf, bei Herrn
Kiesewetter und bei Frau Hoff, die sich immens bemüht
haben, dafür bedanken, dass wir dieses tolle Unterfangen
auf die Beine gestellt haben. Mit diesem Antrag ist der
Irrglaube aus dem Kalten Krieg, dass Atomwaffen für
die Sicherheit unerlässlich sind, endlich aus den Köpfen
aller hier verbannt.

Doch für uns ist es nur ein Teilsieg der Vernunft. Dass
bei der Ausarbeitung dieses Antrages nicht alle Fraktio-
nen beteiligt wurden, zeigt, dass die ideologischen und
parteipolitischen Scheuklappen nicht ganz abgelegt wer-
den konnten. Der Ausschluss der Linken, obwohl in der
Sache eigentlich Konsens herrscht, ist aus Sicht der Grü-
nen eine verpasste Chance.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Eine Sauerei ist das!)


Wenn in einer so wichtigen Frage Einigkeit besteht, soll-
ten wir gesamtparlamentarisch Geschlossenheit demon-
strieren.

Meine Damen und Herren, die Kanzlerin kann jetzt
auf ihrer Reise zum Gipfel in die USA ebenso wie der
Außenminister auf seinen Reisen statt einer Kontroverse
– das kommt häufig vor – einen Konsens mitnehmen,
der Ansporn und Mahnung ist. Abrüstung muss ein
Grundpfeiler für die deutsche Außenpolitik im Dienste
des Friedens sein. Diese Außenpolitik darf sich nicht
verstecken, weder vor den USA noch vor der NATO.
Deshalb sollten wir hier nicht zu vorsichtig sein und uns
nicht zu sehr wegducken. Sie sind doch auch sonst nicht
so kleinlaut, Herr Minister. Vertreten Sie diese Anliegen
doch noch offensiver, statt immer nur auf die Bündnis-
verpflichtungen zu verweisen und die nukleare Abrüs-
tung damit zu verknüpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer glaubt, die nukleare Bedrohung habe sich mit
dem Ende des Kalten Krieges erledigt und sei nur noch
ein gruseliges Kapitel in den Geschichtsbüchern, unter-
liegt einem gefährlichen Irrtum. Die von Atomwaffen
ausgehende Gefahr für den Frieden und die Sicherheit
in der Welt hat eine völlig neue, besorgniserregende
Qualität erreicht. Derzeit existieren weltweit 23 000 ato-
mare Sprengköpfe, von denen schätzungsweise 11 000
rund um die Uhr abschussbereit sind.

Eine zunehmende Zahl von Staaten ist dabei, ihre nu-
kleare Enthaltsamkeit infrage zu stellen. Der Mythos,
dass Atomwaffen ein Potenzmittel für mehr Macht und
zugleich eine Immunspritze für mehr Sicherheit sind,
verleitet aufstrebende Mächte und jene, die es werden
wollen, dazu, ihre Hände nach der vermeintlichen Wun-
derwaffe auszustrecken. Tonnen von waffenfähigem Nu-
klearmaterial lagern teilweise an ungesicherten Orten,
oft nur geschützt durch Maschendrahtzaun. Mit dem
Wachstum von Information und Handel ist heute die Ex-
pertise für den Bau von Atomwaffen viel leichter verfüg-
bar als jemals zuvor. Diese Bedrohungsskizze zeigt, dass
wir uns keine Versäumnisse leisten können; denn es ist
höchste Zeit, zu handeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das starke Votum aus dem Parlament für den Abzug
der verbliebenen US-Atomwaffen in Büchel in Rhein-
land-Pfalz und für eine Stärkung der nuklearen Abrüs-
tung kommt gerade noch rechtzeitig; denn im Mai dieses
Jahres findet die Überprüfungskonferenz des Atomwaf-
fensperrvertrages statt. Sie darf nicht scheitern wie vor
fünf Jahren.

Ein Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes
und der multilateralen Rüstungskontrolle würde ein
neues Zeitalter des Rüstungswettlaufes von mehr als nur
zwei Großmächten heraufbeschwören. Daher ist es ein
großer Schritt nach vorne, dass wir uns heute gemeinsam
für klare Vereinbarungen für weltweite nukleare Abrüs-
tung, für Rüstungskontrolle, für vertrauensbildende
Maßnahmen und Transparenz aussprechen. Der gemein-
same Antrag enthält wirklich umfassende Forderungen
zur Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt.

Für viele dieser Forderungen haben wir Grüne uns
schon seit Jahren stark gemacht. Das Parlament will,
dass die Bundesregierung für eine Verstärkung von Rüs-
tungskontrolle und Abrüstung in der NATO eintritt, und
zwar offensiv. Wir stimmen für die Offenlegung von
Plutoniumbeständen und für die Einrichtung eines Kern-
waffenregisters. Der Bundestag setzt sich für das welt-
weite Inkrafttreten des Atomteststopp-Abkommens ein.
Wir erteilen dem Einsatz von Atomwaffen seitens der
Atommächte gegenüber Nichtkernwaffenstaaten eine
klare Absage.

Dass dieser Forderungskatalog von der Mehrheit die-
ses Hauses mitgetragen wird, ist ein erstaunlicher Fort-
schritt. Doch bei allem gerechtfertigten Lob und bei aller
gerechtfertigten Freude über diesen Fortschritt dürfen
wir uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der interfraktionelle Antrag, so gut er auch ist, kann für
uns Grüne als Minimalkonsens nur ein Grundstein sein,
auf dem wir weiter aufbauen müssen. Wer den Bauplan
kennt, der weiß, dass es darüber hinaus noch viel zu tun
gibt.

Ich möchte drei Baustellen nennen, die für uns we-
sentlich sind.

Die erste Baustelle befindet sich in Deutschland. Wir
wollen auf die Beendigung der nuklearen Teilhabe nicht
länger warten als nötig. Nukleare Abrüstung beginnt vor
der eigenen Haustür. Deutschland kann und sollte sich
schon jetzt dafür einsetzen, dass die Ausbildung von
Bundeswehrsoldaten und die Bereitstellung von Träger-
mitteln für den Abwurf von Atomwaffen eingestellt wer-
den, und damit dem Beispiel Kanadas und Griechen-
lands folgen, die ihrerseits vor Jahren die nukleare
Teilhabe beendet haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Agnes Malczak


(A) (C)



(D)(B)

Die zweite Baustelle betrifft die NATO. Auch was die
Rolle von Atomwaffen innerhalb der NATO angeht, ist
aus grüner Sicht mehr drin. Zur Überwindung einer Poli-
tik der nuklearen Abschreckung muss die Ersteinsatzop-
tion für Atomschläge endlich abgeschafft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In der neuen NATO-Strategie, die im Herbst dieses
Jahres beschlossen wird, muss Abrüstung das Kernprin-
zip eines Bündnisses werden, das für Frieden und
Sicherheit stehen will. Das Bündnis muss sich außerdem
in Richtung atomwaffenfreies Europa bewegen und in
einem ersten Schritt den Abbau und vor allem auch die
Verschrottung aller US-Atomwaffen in Europa einleiten.

Die dritte Baustelle ergibt sich aus der Problematik
der doppelten Verwendung von Nuklearmaterial, für die
es nur eine grüne Lösung gibt. Die zunehmende Aus-
breitung der zivilen Nutzung der Atomenergie steigert
auch die nukleare Gefahr, da immer mehr Staaten die Fä-
higkeiten zum Aufbau militärischer Nuklearprogramme
erwerben.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel Brasilien!)


Deutschland muss sich national und weltweit für den
Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Atomenergie ein-
setzen und stattdessen die Nutzung erneuerbarer Ener-
gien in der Welt fördern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber stattdessen fördert die Bundesregierung den Export
von Atomtechnologie durch die Vergabe von Hermes-
bürgschaften wie unlängst für das Atomkraftwerk
Angra 3 in Brasilien. Wenn kurzfristiger Profit in Sicht
ist und die Atomlobby nach neuen Absatzmärkten
lechzt, ist Schwarz-Gelb gegenüber Sicherheitsrisiken
blind.

Damit sind wir auch schon bei den düsteren Seiten
der deutschen Außenpolitik angelangt. Der vor kurzem
erschienene Bericht des renommierten schwedischen
Friedensforschungsinstituts SIPRI bescheinigt Deutsch-
land einen bitteren Exporterfolg, auf den auch in Zeiten
der Weltwirtschaftskrise niemand stolz sein kann. In den
vergangenen Jahren verdoppelte die deutsche Rüstungs-
industrie ihre Exporte und baute ihren Weltmarktanteil
von 6 auf 11 Prozent aus. Das ist ein trauriger Rekord.

Dabei ist nicht nur erschreckend, wie viele Waffen
exportiert werden, sondern vor allem auch, wohin sie ex-
portiert werden. Denn die Bundesregierung betreibt ihre
offensive Rüstungsexportstrategie auch in Krisenregio-
nen. Eine Rüstungsexportpolitik, die sich der Rüs-
tungsindustrie derart unterwirft, unterminiert alle An-
strengungen um Abrüstung. Sie verschließt die Augen
vor den verheerenden Folgen der weltweiten Aufrüs-
tungsspirale für Sicherheit und Frieden in der Welt. Sie
ist unmoralisch und verantwortungslos. Abrüstung ist
ein unverzichtbarer Bestandteil einer nachhaltigen Si-
cherheits- und Friedenspolitik und muss daher industrie-
politische Absichten übertrumpfen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Genau!)


Ich stimme dem Minister zu: Nukleare Abrüstung
darf nicht zu konventioneller Aufrüstung führen. Aber
gerade deshalb müssen wir auch an die Rüstungsexporte
heran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit anderen Worten: Konsequente und ehrliche Ab-
rüstungspolitik erfordert eine restriktive Rüstungs-
exportpolitik und effektive Rüstungskontrolle. Dazu ge-
hört auch, dass der Bundestag im Vorfeld und nicht wie
in der bisherigen Praxis unzulänglich und erst im Nach-
hinein informiert wird. Wir fordern eine unverzügliche
Vorlage der Rüstungsexportberichte für 2008 und 2009
und setzen uns für ein parlamentarisches Widerspruchs-
recht ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Abschließend möchte ich festhalten: Unser heutiges
Bekenntnis für ein atomwaffenfreies Deutschland und
eine atomwaffenfreie Welt ist ein erster wichtiger
Schritt. Die Einigkeit in dieser Frage über die Par-
teigrenzen hinweg ist hierfür ein vielversprechender
Lichtblick. Wir Grüne wollen eine nachhaltige Sicher-
heits- und Friedenspolitik, zu der eine konsequente Ab-
rüstungspolitik untrennbar dazugehört. Und mehr grünes
Licht vertreibt auch die hier noch bestehenden Schatten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703500900

Das Wort erhält die Kollegin Elke Hoff für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1703501000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Auch ich möchte an dieser Stelle
meine große persönliche Freude darüber zum Ausdruck
bringen, dass es den Frauen und Männern in den ver-
schiedenen Fraktionen gelungen ist, einen gemeinsamen
Antrag für den Deutschen Bundestag auf den Weg zu
bringen. Wir setzen damit ein starkes Signal, für das es
keinen besseren Zeitpunkt hätte geben können als das
Vorfeld der Überprüfungskonferenz des nuklearen
Nichtverbreitungsvertrages und des Gipfels zur nuklea-
ren Sicherheit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Deutsche Bundestag setzt hierdurch ein deutliches
Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen.





Elke Hoff


(A) (C)



(D)(B)

Der gemeinsame Antrag ist deshalb auch ein starkes
Mandat für den Bundesaußenminister, der damit seinen
beherzten und zukunftsweisenden Kurs in der Abrüs-
tungspolitik national wie international fortsetzen kann.
Er gibt der Bundesregierung und dem Außenminister die
wichtige Rückendeckung des deutschen Parlamentes.
Deutschland steht in den kommenden Monaten vor
wichtigen internationalen Verhandlungen. Wir Parla-
mentarier wollen, dass insbesondere die Überprüfungs-
konferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages ein
Erfolg wird. Wir wollen auch, dass Deutschland hierbei
eine Vorreiterrolle übernimmt. Dies wird durch unseren
gemeinsamen Antrag sehr deutlich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Da können auch die Linken mitklatschen!)


Das Ziel einer Welt frei von Atomwaffen ist eine Her-
kulesaufgabe. Kein Staat der internationalen Gemein-
schaft kann es allein erreichen. Aber mit der Prager Rede
von Präsident Barack Obama wurden Möglichkeiten er-
öffnet, die wir nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen.
Die verantwortungsvolle Politik deutscher Staatsmänner
wie Hans-Dietrich Genscher oder Helmut Schmidt wäh-
rend des Kalten Krieges hat maßgeblich dabei geholfen,
dass wir heute die Chance auf eine atomwaffenfreie Welt
nutzen können. Deutschland hat hierbei als Land, das
während des Kalten Krieges ein potenzielles Feld für ei-
nen Atomkrieg war, eine besondere Verantwortung. Des-
halb nutzen wir diese Chance gemeinsam mit der Bundes-
regierung. Mit dem vorliegenden interfraktionellen
Antrag bekennt sich der Deutsche Bundestag zu dieser
gemeinsamen Verantwortung.

Für unsere Abrüstungsziele müssen wir aber auch
endlich die überkommenen militärischen Kalkulationen
des Kalten Krieges über Bord werfen. Wir werden die
Konflikte des 21. Jahrhunderts nicht mehr mit den Stra-
tegien des 20. Jahrhunderts bewältigen können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist deshalb richtig, dass die christlich-liberale Koali-
tion in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat, sich im
Rahmen der Ausarbeitung des neuen strategischen Kon-
zepts und in enger Zusammenarbeit und Absprache mit
unseren NATO-Verbündeten für einen Abzug der letz-
ten US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen.

Das Ziel einer umfassenden Abrüstung wird nicht
ohne neue Abkommen zu erreichen sein. Insbesondere
die USA und Russland sind hier in der Pflicht, da sich
der Großteil der noch bestehenden weltweiten Atomwaf-
fenbestände im Besitz der amerikanischen und der russi-
schen Streitkräfte befindet. Es ist deshalb eine große Er-
leichterung, dass es den Regierungen in Washington und
Moskau offensichtlich gelungen ist, den gordischen
Knoten im Ringen um ein Nachfolgeabkommen zum
START-Vertrag zu durchschlagen. Dies wäre auch ein
wichtiges Abrüstungssignal im Vorfeld der Überprü-
fungskonferenz des NPT.
Die START-Nachfolge darf aber nicht der letzte
Abrüstungsschritt bleiben. Gerade im Bereich der sub-
strategischen Atomwaffen müssen transparente und ve-
rifizierbare Rüstungskontrollvereinbarungen gefunden
werden. Diese Kategorie von Atomwaffen stellt eine be-
sondere Gefahr dar, in die Hände von Terroristen oder
Proliferateuren zu fallen. Ein solches Risiko muss durch
neue Abrüstungsvereinbarungen zwischen den USA und
Russland minimiert werden.

Die Abrüstung der bestehenden Nukleararsenale ist
aber nur eine Seite der Medaille, soll das Ziel einer
atomwaffenfreien Welt erreicht werden. Mehr noch, die
internationale Gemeinschaft steht vor der schwierigen
Aufgabe, die Entstehung neuer Kernwaffenstaaten zu
verhindern. Die Konflikte um das iranische und das
nordkoreanische Atomprogramm zeigen, wie schwierig
dies ist. Sowohl ein nuklearbewaffneter Iran als auch
ein dauerhaft nuklearbewaffnetes Nordkorea würden
eine erhebliche Gefährdung der internationalen Sicher-
heit darstellen. Deshalb muss es oberstes Ziel der Welt-
gemeinschaft bleiben, diese Konflikte durch eine politi-
sche Lösung nachhaltig beizulegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Jahr 2010 wird ein weichenstellendes Jahr für das
Ziel einer Welt frei von Atomwaffen. Der Deutsche Bun-
destag bekennt sich zu diesem Ziel. Mit dem heute ein-
gebrachten Antrag haben wir als Parlament hierfür ein
wichtiges Zeichen gesetzt. Ganz herzlichen Dank dafür
an alle. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft auf diesem
Konsenswege eine vernünftige Abrüstungspolitik ma-
chen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703501100

Das Wort erhält nun der Kollege Rolf Mützenich für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1703501200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Auch ich freue mich über den gemeinsamen
Antrag der vier Fraktionen. Ich würde gern das Augen-
merk auf die Kolleginnen und Kollegen sowie die Mitar-
beiter des Auswärtigen Amtes richten; denn sie haben
einen wichtigen Bericht über Abrüstung und Rüs-
tungskontrolle vorgelegt. Ich finde, sie verdienen nicht
nur Aufmerksamkeit, sondern auch Respekt für die Ar-
beit, die sie bei der Erstellung dieses Berichts geleistet
haben. Ich freue mich, dass wir auf der Grundlage dieses
Berichtes in den nächsten Wochen und Monaten weiter
diskutieren können.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Rolf Mützenich


(A) (C)



(D)(B)

Herr Außenminister, Sie haben zu Recht gesagt, wir
hätten mit dem heutigen Tag einen guten Zeitpunkt ge-
wählt, weil wir uns offensichtlich in den nächsten Tagen
einem Vertrag über die Begrenzung der strategischen
Atomwaffen näherten. Das ist ein wichtiger Schritt.
Aber nun kommt auf den amerikanischen und den russi-
schen Präsidenten die große Aufgabe zu, im amerikani-
schen Senat und in der Duma um Zustimmung zu wer-
ben. Ich appelliere an den Deutschen Bundestag und die
Bundesregierung, zum Beispiel bei Gesprächen mit Se-
natoren in Washington für diesen Vertrag zu werben, um
deutlich zu machen, dass es im deutschen und im euro-
päischen Interesse liegt, wenn die amerikanischen Kolle-
ginnen und Kollegen diesen Vertrag schnellstmöglich ra-
tifizieren. Wir vom Deutschen Bundestag werden das
tun. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung dem folgte.


(Beifall bei der SPD)


Ich habe in der bisherigen Debatte ein bisschen den
Beitrag Europas zu Abrüstung und Rüstungskontrolle
vermisst. Ich finde, Europa kann eine Menge dazu lie-
fern. Ich wünsche mir – wahrscheinlich stehen die Ver-
handlungen noch nicht vor dem Abschluss –, dass die
27 Mitglieder der Europäischen Union gemeinsam nach
New York fahren und dort eine gemeinsame Verabre-
dung zur Überprüfungskonferenz einbringen. Das wäre
ein wichtiges Signal; denn unter diesen Staaten wären
zwei Kernwaffenstaaten als ständige Mitglieder des Si-
cherheitsrates. Das wäre ein entscheidender Beitrag Eu-
ropas, die Überprüfungskonferenz zum Erfolg zu führen.
Die Bundesregierung täte gut daran, bis zum Schluss in-
tensiv daran zu arbeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir unterstützen Sie, Herr Bundesaußenminister,
wenn Sie sagen, dass wir eine Universalisierung des
NPT-Vertrages brauchen. In der Tat fehlen noch immer
Staaten in diesem Vertrag. Wir müssen alles daransetzen,
auf der NPT-Konferenz die letzten Widerstände zu bre-
chen und diesen Vertrag zu einem Erfolg der internatio-
nalen Politik zu machen. Ich glaube, gerade die neue Be-
auftragte der Europäischen Union, Frau Ashton, sollte
darüber nachdenken, ob sie der Abrüstung und Rüs-
tungskontrolle mit einer eigenen Organisationseinheit im
Europäischen Auswärtigen Dienst eine stärkere Be-
deutung geben sollte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Lissabon-Vertrag enthält Hinweise, dass das eine
oder andere im Bereich des Militärischen aufgegriffen
worden ist. Mir behagte es aber viel mehr, wenn dies
auch die Abrüstung und Rüstungskontrolle beträfe.

Ich möchte auf Rüstungskontrolle und Abrüstung als
Instrumentarium der Politik aufmerksam machen. Die-
ses Instrument ist kein Selbstzweck – darauf wurde
schon hingewiesen –, sondern dient der Kooperation und
dem Dialog. Wir haben dieses Instrument richtigerweise
und klugerweise auch während des Kalten Krieges ein-
gesetzt; denn es war sozusagen der erste Gesprächska-
nal, der sich zwischen den Blöcken entwickelt hat. Die
europäischen Staaten, aber auch andere, die vom Ende
des Kalten Krieges profitiert haben, sollten andere Re-
gionen ermutigen, das Instrument der Abrüstung und
Rüstungskontrolle zu nutzen, um die notwendigen Dia-
logstrukturen in den Regionen wirksam zu machen. Was
beobachten wir? Um uns herum gibt es in der Welt die
größte Aufrüstung. Der SIPRI-Bericht hat darauf hinge-
wiesen. Sie haben eben an den Doppelcharakter erinnert.
Aber der entscheidende Aspekt wird sein, Abrüstung
und Rüstungskontrolle sozusagen zur politischen Leit-
kultur in den Regionen weltweit zu machen. Ich finde,
dazu hätten wir eine Menge beizutragen. Wir dürfen
nicht nur Empfehlungen geben.

Wenn wir über die Universalisierung von Abrüstungs-
verträgen sprechen, möchte ich daran erinnern, dass
noch nicht alle Staaten den wichtigen Vertrag über das
Verbot von Streubomben unterzeichnen haben. Dieser
Vertrag ist ein ganz wichtiger Meilenstein, den wir in
den letzten Jahren erreicht haben. Ich ermutige Sie, an-
dere Staaten darauf hinzuweisen. Es darf nämlich keine
Ausnahmetatbestände im Bereich von Abrüstung und
Rüstungskontrolle geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das gilt dann natürlich auch für andere Staaten, die
sich zum Beispiel das Recht herausnehmen, im Bereich
der Urananreicherung eigene Rechte für sich zu rekla-
mieren. Auch das müssen wir hier ganz offen benennen.
Dazu zählt zum Beispiel Brasilien.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es entsteht nach meinem Dafürhalten eine große Gefahr,
wenn es nicht gelingt, diese Sonderrechte zu beseitigen.
Ich finde, dafür müsste auch die Bundesregierung zu-
sammen mit den europäischen Partnern eine Menge tun.

Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, über
den wir zwar nicht so stark diskutiert haben, den ich aber
für höchstgefährlich halte. Die Volksrepublik China hat
dokumentiert, dass sie in der Lage und auch bereit ist,
Satelliten abzuschießen. Sie denkt im Zusammenhang
mit dem Weltraum auch die militärische Komponente.
Das ist eine große Gefahr und große Herausforderung.
Ich weiß, dass andere Staaten – die USA und Russland –
den Weltraum natürlich auch bereits für das Militär ent-
deckt haben, aber dass allein dieses Dokument gezeigt
worden ist, wonach auch die Volksrepublik China dazu
bereit ist, gibt eine Menge zu denken. Ich glaube, wir
sollten diese Besorgnis in Gesprächen auch mit der
Volksrepublik China immer wieder deutlich machen.


(Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD])


Ich unterstütze das, was viele meiner Vorrednerinnen
und Vorredner gesagt haben. Die NATO muss wieder
ein Forum für den Dialog über Abrüstung und Rüstungs-
kontrolle werden.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)






Dr. Rolf Mützenich


(A) (C)



(D)(B)

Das ist nicht die Erfindung dieser Bundesregierung, son-
dern aller Bundesregierungen. Wir haben immer dafür
plädiert – und ich bin damals froh darüber gewesen, dass
Frank-Walter Steinmeier und der norwegische Außen-
minister vorgeschlagen haben –, dieses Forum innerhalb
der NATO zu entwickeln. Sie greifen das auf; ich finde
das richtig. Ich glaube, innerhalb des Bündnisses gibt es
dann auch eine Menge zu tun.

Herr Bundesaußenminister, ja, wir unterstützen Sie
darin, die taktischen Atomwaffen aus Deutschland und
auch aus den anderen Ländern zu bringen. Das muss
man gemeinsam tun. Das kann dieses Parlament mit die-
sem wichtigen Antrag nicht allein, das kann man nur mit
den Partnern insgesamt erreichen.

Ich bitte Sie, dann gleichzeitig auch eine Gefahr mit-
zubenennen, die entsteht, wenn sich andere Staaten in
Europa melden und sagen: Na ja, dann nehmen wir diese
Waffen einmal in unsere Länder auf. Auch das müssen
wir diskutieren. Ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie
zu den Plänen der US-Regierung, diese Waffen mögli-
cherweise auch zu modernisieren, Stellung genommen
hätten. Auch das ist nach meinem Dafürhalten eine He-
rausforderung für Ihre ambitionierte Politik, die takti-
schen Atomwaffen aus Deutschland und aus Europa zu
bringen; denn die Herkulesaufgabe wird doch eigentlich
erst dann bewältigt sein, wenn es uns gelingt, auch Russ-
land zu überzeugen, die taktischen Atomwaffen einer
Verhandlungslösung zuzuführen. Das ist doch das große
Problem, und daran sollten wir gemeinsam arbeiten.


(Beifall des Abg. Roderich Kiesewetter [CDU/ CSU])


Damit komme ich zu einer weiteren Herausforderung
in diesem Zusammenhang. Die Raketenabwehr lastet
sozusagen – das haben wir bei den Gesprächen zwischen
den USA und Russland doch gemerkt – wie ein Stein auf
der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Deswegen unter-
stützen wir nicht nur das, was Sie gesagt haben, nämlich
die partnerschaftliche Öffnung hinsichtlich der Raketen-
abwehr, sondern ich glaube, ein wichtiger Bestandteil
muss sein, die Raketenabwehr zu einem Teil von Abrüs-
tung und Rüstungskontrolle zu machen.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gemeinsam!)


Wir werden keinen ABM-Vertrag mehr erreichen,
aber ich finde, wir werden immerhin einen Dialog über
die Raketenabwehr eröffnen müssen, weil das, was wir
als defensiv betrachten, andere Staaten möglicherweise
als zusätzliche, begleitende Offensivoption ansehen.


(Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD])


Ich glaube, das ist die große Gefahr, der wir auch durch
Abrüstung und Rüstungskontrolle begegnen müssen.

Ich komme zum Schluss. Der Iran hat hier in der Dis-
kussion immer wieder eine Rolle gespielt. Das, was dort
im Iran im Hinblick auf eine möglicherweise militäri-
sche Nutzung der Atomenergie geschieht, ist in der Tat
eine große Gefahr. Ich glaube, wir haben im Deutschen
Bundestag oft auch gemeinsam dafür appelliert, dass es
eine politische Lösung geben muss. Frau Hoff, ich danke
Ihnen dafür, dass Sie dies noch einmal ausdrücklich be-
tont haben.

Ich will nur noch einmal daran erinnern: Wir dürfen
nicht alles, was in den letzten Tagen auch aus dem Iran
zu hören war, einfach beiseiteschieben. Ich finde schon,
dass wir das, was Teheran auf den Tisch gelegt hat, noch
einmal ernsthaft prüfen sollten.


(Beifall des Abg. Jan van Aken [DIE LINKE])


Vielleicht sollte eine Eins-zu-eins-Begleitung dieses
Konzepts erfolgen. Es wäre fatal, wenn sich bei uns der
Eindruck vermitteln würde, dass es hinsichtlich einer
Verhandlungslösung jetzt sozusagen reicht. Wir brau-
chen die Verhandlungslösung in Zukunft. Wir brauchen
eine politische Lösung und nicht nur eine Drohkulisse.
Deswegen glaube ich, Abrüstung und Rüstungskontrolle
können uns bei der Lösung dieses Konfliktes helfen.

Die Errichtung atomwaffenfreier Zonen ist ange-
sprochen worden.

Wenn wir darüber sprechen, wie man es schaffen
kann, dass die Welt in Zukunft ohne Atomwaffen aus-
kommt, dann müssen wir – das will ich deutlich machen –
auch einen entsprechenden Appell an Israel richten. Das
zu sagen, gehört nach meinem Dafürhalten zu einer ehr-
lichen Debatte dazu.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich glaube, wir sollten den Mut aufbringen, auch dies zu
diskutieren. Die US-Administration hat es getan. Europa
könnte das auch tun.

Diese Abrüstungsdebatte ist gut. Die deutsche Außen-
politik darf sich allerdings nicht in Abrüstung und Rüs-
tungskontrolle erschöpfen. Ich würde mir wünschen,
wenn mehr kommt. Wir haben Ihnen Angebote gemacht.
Wir werden auch in Zukunft weiter über den richtigen
Weg streiten.

Vielen Dank und alles Gute.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703501300

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1703501400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Abrüstung ist ein langer und ein beschwerlicher Weg. Es
gibt auf diesem Weg meist nur kleine, oft kaum wahr-
nehmbare Fortschritte und dazwischen immer wieder
schmerzhafte Rückschritte. Trotzdem lohnt es sich, die-
sen Weg zu gehen. Selbst wenn die Ziele aus heutiger
Sicht manchmal unerreichbar erscheinen, bedeutet schon
jeder kleine Schritt in die richtige Richtung einen Zuge-
winn an Sicherheit.

Der vorliegende Bericht dokumentiert die vielen klei-
nen Schritte und die großen Anstrengungen der Bundes-





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)

regierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle im
vergangenen Jahr 2009. Dafür möchte ich allen Regie-
rungsorganisationen von ganzem Herzen danken. Ge-
nauso danken möchte ich aber auch allen Nichtregie-
rungsorganisationen, die sich im vergangenen Jahr für
Frieden und Sicherheit in dieser Welt eingesetzt haben.

Abrüstung und Rüstungskontrolle ist ein Thema, das
uns auch hier im Deutschen Bundestag fraktionsüber-
greifend am Herzen liegt. Ich freue mich, dass es uns ge-
lungen ist, mit einem gemeinsamen Antrag ein deutli-
ches Signal aus diesem Parlament heraus für eine Welt
frei von Atomwaffen zu senden. Und das ist ein wichti-
ges Signal; denn gerade was die Frage der atomaren Ab-
rüstung angeht, befinden wir uns momentan in einer
Phase, in der die Weichen für die Zukunft gestellt wer-
den.

Präsident Obama – das ist schon mehrfach hier er-
wähnt worden – hat in seiner wegweisenden Rede am
5. April letzten Jahres in Prag ein Bekenntnis zum Fern-
ziel einer atomwaffenfreien Welt abgegeben. Mit der
Unterstützung der USA ist dieses Ziel ein ganzes Stück
näher gerückt. Jetzt gilt es, alles daranzusetzen, dass es
auf dem Weg dorthin Fortschritte und keine Rückschritte
mehr gibt.

Ein klarer Rückschritt war das Scheitern der Überprü-
fungskonferenz für den Nuklearen Nichtverbreitungs-
vertrag im Jahr 2005. Bei der nun anstehenden Überprü-
fungskonferenz im Mai brauchen wir endlich einen
Erfolg für den Atomwaffensperrvertrag.

Im Moment laufen auch die bilateralen Verhandlun-
gen zwischen den USA und Russland für ein START-I-
Nachfolgeabkommen. Ich würde mir wünschen, dass
von diesen beiden Ländern, die gemeinsam über 90 Pro-
zent der weltweit verfügbaren Kernwaffen besitzen, mit
Blick auf die Konferenz im Mai baldmöglichst positive
Signale ausgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Positive Signale aus den USA gab es auch, was den
Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversu-
chen angeht. Die US-Regierung hat angekündigt, dessen
Ratifizierung im Senat voranzutreiben. Das würde den
Druck auf diejenigen Länder, die diesen Vertrag noch
nicht unterschrieben bzw. ratifiziert haben, weiter erhö-
hen.

Aber die besten Verträge nutzen nichts, wenn sie nicht
eingehalten und überprüft werden. Nehmen wir als Bei-
spiel Syrien – das wurde heute noch nicht genannt –: Es
gibt klare Hinweise darauf, dass die von Israel im Jahr
2007 zerstörte Einrichtung ein noch im Bau befindlicher
Kernreaktor war. Syrien kooperiert immer noch nicht in
so genügendem Maße mit der IAEO, dass diese Vor-
würfe ausgeräumt werden konnten. Wenn die Vorwürfe
stimmen, dann wäre das ein klarer Verstoß gegen den
Atomwaffensperrvertrag. Ich weiß nicht, was beunruhi-
gender ist: die Existenz eines geheimen syrischen Nukle-
arprogramms an sich oder dass es über Jahre hinweg un-
entdeckt geblieben ist.
Den Risiken der Proliferation steht das legitime Inte-
resse vieler Länder gegenüber, die Kernenergie zur
Energieversorgung zu nutzen. Ungeachtet der Diskus-
sion in Deutschland ist die Kernenergie weltweit, aber
gerade im Nahen Osten und in den dort angrenzenden
Regionen, auf dem Vormarsch.


(Ulrich Kelber [SPD]: Mit europäischen Steuergeldern!)


Waffenfähiges Material kann entweder durch die
Hochanreicherung von Uran oder in Wiederaufberei-
tungsanlagen für Plutonium hergestellt werden. Es muss
deswegen gelingen, den Betrieb solcher Anlagen von
dem Betrieb von Kernkraftwerken zu trennen. Auch
Deutschland hat dazu einen Vorschlag eingebracht. Wir
müssen jetzt international um die Akzeptanz der Multila-
teralisierung des Nuklearbrennstoffkreislaufs werben.

Die nukleare Abrüstung ist zwar die wichtigste, aber
bei weitem nicht die einzige Aufgabe, der wir uns bei
Abrüstung und Rüstungskontrolle stellen. Der Bericht
der Bundesregierung listet auch zahlreiche Anstrengun-
gen im Bereich der konventionellen Abrüstung auf. Ich
möchte in diesem Bereich vor allem auf die Erfolge bei
der Ächtung von Streumunition hinweisen, die auf-
grund von zahlreichen Blindgängern über Jahrzehnte
hinweg eine Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellt.
Ende 2008 haben wir dazu die sogenannte Oslo-Konven-
tion als einer der ersten mit unterzeichnet und im Juli
2009 als elfter Staat auch im Parlament ratifiziert. Im
Juni 2009 hat die Bundesregierung in Berlin eine Konfe-
renz zur Zerstörung von Streumunition ausgerichtet.
Aufgrund der überwältigenden Teilnahme hat sie dem
Prozess politische Dynamik verliehen und ganz prak-
tisch Wege zur technisch komplizierten Zerstörung die-
ser Munition aufgezeigt.

Das war wieder ein kleiner Schritt. Wir brauchen in
Zukunft eine Vielzahl solcher Schritte auf dem Weg zu
mehr Frieden und Sicherheit auf dieser unserer Welt.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703501500

Das Wort hat der Kollege van Aken für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703501600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Abrüstung muss doch zu Hause anfangen. Nehmen
wir die Waffenexporte. Ich finde es grauenhaft, dass
kein anderes Land in Europa so viel Waffen exportiert
wie Deutschland. Es ist kein totes Metall, das da ver-
kauft wird, sondern diese Waffen töten, jeden Tag. In
praktisch jedem Krieg und in jedem Bürgerkrieg auf der
Welt werden deutsche Maschinengewehre eingesetzt,
manchmal auf beiden Seiten. Es ist verlogen, hier über
Abrüstung zu reden und gleichzeitig für viele Milliarden
Euro andere Länder aufzurüsten.





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN – Karin Strenz [CDU/CSU]: Das ist Sicherheitspolitik! – Elke Hoff [FDP]: Haben Sie schon mal was von Verteidigungspolitik gehört?)


Wenn jemand sagt, an den Waffenexporten hingen
viele Arbeitsplätze, dann kann ich nur sagen: Wir wollen
Arbeit schaffen ohne Waffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben noch eine Vision. Wir haben die Vision einer
Welt, die frei ist von Waffen. Wir haben die Vision einer
Welt, die frei ist von Atomwaffen und Kriegen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Die haben wir auch!)


Helmut Schmidt soll einmal gesagt haben: Wer Visionen
hat, soll zum Arzt gehen. – Ich weiß nicht, ob er das
wirklich ernst gemeint hat; falsch ist es auf jeden Fall.
Ich sage: Wenn jemand Visionen hat, dann soll er nicht
zum Arzt gehen, sondern auf die Straße,


(Beifall bei der LINKEN)


jetzt zum Ostermarsch und jeden Tag, immer wieder, bis
wir endlich eine Welt ohne Atomwaffen und frei von
Kriegen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Damit komme ich zu Ihrem Antrag zur atomaren Ab-
rüstung. Erst einmal muss ich sagen: Ich finde ihn wirk-
lich bemerkenswert.


(Karin Strenz [CDU/CSU]: Ach nein!)


Ich freue mich ganz aufrichtig, dass auch die CDU/CSU
jetzt die Forderung nach atomwaffenfreien Zonen unter-
stützt. Besonders freue ich mich, dass nun alle fünf Frak-
tionen im Bundestag dafür eintreten, dass endlich die
letzten US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutsch-
land abgezogen werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aber da Sie selbst regieren, frage ich Sie: Wann?
Wenn Sie es wirklich wollen, kann das doch innerhalb
kürzester Zeit passieren. Nennen Sie ein konkretes Da-
tum: Abzug aller amerikanischen Atombomben noch in
diesem Jahr. Punkt. Denn Abrüstung kann doch nur
funktionieren, wenn sie ganz konkret und ganz verbind-
lich ist.

Einiges in dem Antrag finde ich gut, sogar sehr gut;
anderes finde ich aber eher bedenklich. Sie wollen im-
mer noch nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen
verzichten. Wie kann das zusammengehen, wenn Sie ei-
nerseits eine atomwaffenfreie Welt fordern und anderer-
seits immer noch daran festhalten, anderen Ländern mit
dem Ersteinsatz von Atomwaffen zu drohen? Das passt
nicht zusammen.

In einem Punkt hat sich ein richtig kapitaler Fehler in
den Antrag eingeschlichen. Da kann ich nur sagen: Hät-
ten Sie mal mit uns geredet! Wir haben vor fünf Mona-
ten den ersten Antrag zur atomaren Abrüstung einge-
bracht. Dann haben Sie von den anderen vier Fraktionen
sich zusammengesetzt, ohne mit uns zu reden. Ich finde
das ziemlich kleinkariert, aber das ist Ihr gutes Recht.
Wenn ich jetzt diesen peinlichen Fehler in dem Antrag
sehe, muss ich sagen: Ein bisschen mehr Expertise hätte
Ihnen gutgetan.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn ich den Antrag genau lese, komme ich zu dem
Schluss, dass Sie darin den engsten Verbündeten der
Bundesrepublik – England, Frankreich und den USA –
mit Sanktionen drohen. Dazu muss man eines wissen
– Herr Westerwelle hat es vorhin erklärt –: Der Atom-
waffensperrvertrag kennt zwei Ländergruppen. Die ei-
nen haben Atomwaffen; die anderen haben keine Atom-
waffen. Die einen haben sich verpflichtet, abzurüsten;
die anderen haben sich verpflichtet, überhaupt keine
Atomwaffen zu erwerben.

Es gibt fünf Länder, von denen wir ganz sicher wis-
sen, dass sie ihre Verpflichtungen nach dem Atomwaf-
fensperrvertrag nicht erfüllt haben. Das sind die fünf of-
fiziellen Atomwaffenstaaten China, Russland, England,
Frankreich und die USA. Seit Jahren tun sie nichts, aber
auch gar nichts für die atomare Abrüstung. Alle Exper-
ten in der Welt sind sich einig, dass das eine gravierende
Verletzung des Atomwaffensperrvertrages ist.

Jetzt fordern Sie in Ihrem Antrag unter der Nr. 10
Sanktionen gegen alle Länder, die den Atomwaffen-
sperrvertrag verletzt haben.


(Uta Zapf [SPD]: Ach Kerlchen! – Heiterkeit bei der FDP)


Ich weiß nicht, wie das in London, Paris und Washington
aufgenommen wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie werden natürlich sagen: Die sind gar nicht ge-
meint. Wir meinen nur die Länder, die noch gar keine
Atomwaffen haben, die erst welche erwerben wollen. –
Dazu muss ich Ihnen sagen: Diesen Unterschied kennt
das Völkerrecht nicht. Vor dem Völkerrecht sind alle
Verpflichtungen gleich. Danach haben die Atomwaffen-
staaten nun einmal die Verpflichtung, abzurüsten, und
die haben sie gebrochen.

Das ist auch der Grund dafür, dass wir diesem Antrag
– ich muss sagen: leider – nicht zustimmen können.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Och!)


Ich hätte es gern gesehen, dass wir als gesamter Bundes-
tag diesem Antrag zustimmen. Aber mit diesem Punkt
zu den Sanktionen geht das nicht.

Sie meinen mit den Sanktionen natürlich den Iran.
Ich sage Ihnen: Da gehen Sie einen ganz gefährlichen
Weg. Wer jetzt immer mehr Sanktionen gegen den Iran
fordert, der kommt in eine Eskalation, die er nicht mehr
stoppen kann. Das Ganze erinnert mich fatal an das Jahr
2002. Damals wurden die Drohungen gegen den Irak
immer mehr verschärft, und am Ende hatten wir einen
Krieg, den keiner hier mehr stoppen konnte. Ich sage Ih-





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)

nen als jemand, der jahrelang auf dem Gebiet der Abrüs-
tung gearbeitet hat, auch bei den Vereinten Nationen:
Hören Sie auf, mit Sanktionen zu drohen, und kehren Sie
an den Verhandlungstisch zurück!


(Beifall bei der LINKEN)


Eine atomwaffenfreie Welt werden Sie nie, aber auch nie
mit Sanktionen und Drohungen durchsetzen, sondern
nur mit Verhandlungen.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703501700

Das Wort erhält der Kollege Philipp Mißfelder für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1703501800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Herr van Aken, es trifft sich gut, dass wir
direkt nacheinander reden. Ich möchte Ihnen erst einmal
entschieden widersprechen, was Ihre Einschätzung zum
Verhalten gegenüber dem Iran angeht. Ich bin wirklich
der festen Überzeugung, dass jetzt eine klare Sprache
und klare Handlungen gegenüber dem Iran notwendig
sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist sehr viel Zeit verstrichen, die der Iran genutzt
hat, um sein Nuklearprogramm voranzutreiben und
gleichzeitig auch noch weitere Trägersysteme zu entwi-
ckeln. Vor dem Hintergrund sind die Weltgemeinschaft
und natürlich auch der Deutsche Bundestag gefordert,
klarzumachen, dass es uns nicht möglich ist, zu akzeptie-
ren – so hat es der Minister schon gesagt –, dass der Iran
Nuklearwaffen besitzt.


(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)


Deshalb stemmen wir uns auch dagegen.

Wenn Sie denken, dass es einen einfacheren Weg gibt,
der nur Dialog beinhaltet, machen Sie es sich zu einfach.
Wir müssen die Option auf Sanktionen selbstverständ-
lich realistisch vorantreiben, weil wir uns sonst von
vornherein um alle Handlungsoptionen bringen. Dage-
gen würde ich mich entschieden wehren. Reden allein
wird den Iran nicht überzeugen. Das haben wir schon in
den vergangenen Jahren gesehen. Israel macht sich zu
Recht sehr große Sorgen um seine Sicherheit. Das kön-
nen wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Ge-
schichte auf keinen Fall akzeptieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin froh darüber, dass wir in diesem Haus in ei-
nem breiten Konsens über das Thema Abrüstung disku-
tiert haben. Herr van Aken, geben Sie sich einen Ruck
und stimmen Sie diesem wirklich vernünftigen Antrag
zu, der auf einem breiten Konsens fußt.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Warum haben Sie nicht mit uns geredet?)

– Ich rede ja gerade mit Ihnen. –


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Ja, ja!)


Wir haben einen breiten Konsens hergestellt.

Sie haben einen Punkt herausgegriffen bzw. konstru-
iert, damit Sie wenigstens einen Grund, dagegenzustim-
men, für Ihre Ablehnung vorweisen können. Ich fordere
Sie auf: Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie die-
sem Zeichen für Abrüstung zu! Gerade heute, vor den
anstehenden Konferenzen, ist es wichtig, dass wir deut-
lich machen, dass auch der Deutsche Bundestag ein kla-
res Zeichen für Abrüstung in der Welt setzt. Stimmen Sie
deshalb bitte zu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir dürfen natürlich nicht außer Acht lassen, dass es
trotz allen Bemühens – an dieser Stelle komme ich auf
Iran und Nordkorea zu sprechen – unterschiedliche Ent-
wicklungen gibt:

In der westlichen Welt wird intensiv darüber disku-
tiert, wie es mit den Nuklearwaffen weitergehen soll; das
ist auch richtig so. In Amerika gibt es die Global-Zero-
Initiative, die auch von deutscher Seite begleitet wird,
beispielsweise durch die Initiativen des Bundesaußen-
ministers. Auch der frühere Bundesaußenminister
Genscher hat dies immer wieder angesprochen. Das alles
ist sehr wichtig und zeigt eine Vision von einer nuklear-
waffenfreien Welt, die sicherlich sehr wünschenswert
ist.

Daneben stellen wir fest, dass Länder wie Iran und
Nordkorea davon nichts wissen wollen, sondern weiter-
hin im Verborgenen daran arbeiten, ein Nuklearpro-
gramm voranzutreiben. Dass dies eines Tages auch eine
realistische Bedrohung für uns werden könnte, zeigen
Erkenntnisse darüber, dass die Trägertechnologien, die
im Iran erarbeitet werden, in fünf bis zehn Jahren eine
Reichweite von etwa 3 000 Kilometern haben könnten.
Wenn man sich überlegt, dass München nur rund
2 700 Kilometer vom Iran entfernt ist, dann wird klar:
Dieses Programm stellt unter strategischen Gesichts-
punkten selbstverständlich auch für uns eine Bedrohung
dar. Der Iran entwickelt dieses Programm nicht, um
Deutschland heute einen Nuklearschlag anzudrohen,
sondern um strategisch in die Vorhand zu kommen und
damit die westliche Welt als Schutzmacht Israels auszu-
hebeln.

Vor diesem Hintergrund muss man trotz allen Wohl-
wollens in unserer heutigen Debatte berücksichtigen,
dass sich andere Staaten ganz anders verhalten. Deshalb
gehört zu dieser Diskussion trotz aller Visionen eine ge-
hörige Portion Realismus. Daraus muss man in den
nächsten Wochen konkrete Schlussfolgerungen ziehen.
Ich werbe erneut dafür, dass der UN-Sicherheitsrat – am
besten gemeinsam mit China und Russland; denn nur
dann wird man effektiv und effizient sein – den Iran stär-
ker unter Druck setzt. Ich glaube, dass es vor allem dann
gelingen kann, unsere Partner in China und in Russland
für dieses Projekt zu gewinnen, wenn wir an anderer
Stelle Ernst machen und sie in größerem Maße – Herr





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

Kollege Mützenich hat es gerade gesagt – in die Debatte
um die Nuklearwaffen einbeziehen.

Erfolgreich werden wir nur mit der NATO, also zu-
sammen mit unseren Bündnispartnern, sein. Außerdem
müssen wir gemeinsam mit Russland einen vernünftigen
Weg finden, über die Nuklearwaffen zu diskutieren. Ich
bin der festen Überzeugung, dass das der richtige Weg
ist. Welches das richtige Diskussionsforum ist, das lasse
ich offen.

Damit verknüpft ist die Frage, wie man in den nächs-
ten Wochen, Monaten und Jahren verantwortungsbe-
wusst Außenpolitik gestalten kann. Ich halte die im
Raume stehende Vision für richtig. Ich halte auch den
angestoßenen Prozess für richtig. Er muss gemeinsam
mit der NATO, mit unseren Verbündeten und darüber hi-
naus mit Russland fortgeführt werden, um Erfolge erzie-
len und eine emotionale Bindung an dieses Projekt errei-
chen zu können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703501900

Zu einer Kurzintervention erhält Herr Kollege van

Aken das Wort.


Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703502000

Herr Mißfelder, Sie haben gerade gesagt, wir hätten

nach einem Haar in der Suppe gesucht. Das lasse ich
nicht auf mir sitzen. Seit Jahren arbeite ich im Bereich
der Abrüstung – an der Universität, in NGOs, bei den
Vereinten Nationen. Sie können versichert sein, dass uns
die Abrüstung über alles geht. Ich habe lange nach ei-
nem Weg gesucht, wie wir diesem Antrag zustimmen
können. Eines ist klar: In Washington und überall auf der
Welt wird dieser Antrag völlig anders wahrgenommen,
wenn der gesamte Bundestag zugestimmt hat. Diese
Stärke hätte ich diesem Antrag gerne verliehen.

Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wir sollten
uns einen Ruck geben, dann kann ich nur sagen: Sie von
der CDU/CSU-Fraktion waren diejenigen, die darauf be-
standen haben, dass die Linke bei der Ausarbeitung des
Antrags nicht dabei ist.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nehmen Sie sich mal nicht so wichtig!)


Jetzt fällt Ihnen das auf die Füße. Sie haben diesen An-
trag geschwächt.


(Beifall bei der LINKEN)


Lassen Sie uns beim nächsten Mal zu fünft zusam-
mensetzen. Gemeinsam bringen wir etwas zustande. Das
wird ein Signal an die Welt sein, das die Abrüstung
wirklich voranbringt. Das, was Sie jetzt machen, ist par-
teipolitisches Schmierentheater. Dafür bin ich nicht zu
haben. Mir geht es um die Abrüstung.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703502100

Zu einer kurzen Replik erhält der Kollege Mißfelder

jetzt Gelegenheit.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1703502200

Ich möchte mich kurzfassen, Herr Präsident. – Herr

van Aken, wir haben hier die Gelegenheit, das öffent-
lich, transparent, sogar im Fernsehen und in Anwesen-
heit vieler Zuschauer auf den Rängen zu diskutieren.
Das heißt, wir gehen hier vernünftig miteinander um.
Wozu Sie uns jedoch nicht zwingen können, ist, mit der
SED-Nachfolgepartei gemeinsame Initiativen einzubrin-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Das wollen wir einfach nicht. Das ist der Grund, warum
wir mit Ihnen bei diesen wichtigen Themen nicht zusam-
menarbeiten wollen. Ich kann hier offen bekennen: Mit
Ihnen nicht!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703502300

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion.


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1703502400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Vielleicht wäre es im Zusammenhang mit
der Debatte über Abrüstung sinnvoll, wenn der eine oder
andere in diesem Haus auch sprachlich ein wenig abrüs-
ten würde; denn all diese Themen eignen sich gar nicht
zu überwiegend emotionaler und polemischer Auseinan-
dersetzung. Dafür sind sie zu ernst, und dafür sind sie in
vieler Hinsicht auch viel zu kompliziert.

Ich möchte mich jetzt mit dem Antrag der Grünen
auseinandersetzen. Mir ist der Widerspruch in der Rede
der Kollegin vom Bündnis 90/Die Grünen aufgefallen,
die, was Rüstungsexporte angeht, in alte Muster zurück-
gefallen ist, während sie in der Abrüstungsdebatte sehr
sachlich und zukunftsorientiert argumentiert hat. Die
Tatsache, dass wir als Bundestag die offiziellen Zahlen
bekommen, lange nachdem SIPRI sie schon veröffent-
licht hat, GKKE uns die Stellungnahme zugeschickt hat
und Zahlen aus allen möglichen Himmelsrichtungen ge-
liefert worden sind, ist unbefriedigend – das wissen auch
Sie selbst, Herr Außenminister –; aber das hat mit dem
Verfahren zu tun, mit dem gearbeitet wird. Ich bin sicher,
dass die Zahlen über Exporte Deutschlands, die SIPRI in
diesem Jahr veröffentlicht hat, vermutlich wieder nicht
stimmen und dass sich die Schlagzeilen, auf die so heftig
reagiert worden ist, relativieren werden. Es wird sich
weder die Verdoppelung der Zahlen herausstellen – da-
von gehe ich aus –, noch werden wir auf der Rangstufe
sein, die man uns jetzt bescheinigt.

Was geschieht tatsächlich? Tatsächlich gibt es eine
große Kontinuität in der deutschen Rüstungsexportpoli-
tik, die sich an den sehr restriktiven Regelungen des
Jahres 2002 orientiert. Vieles von dem, was in den
nächsten Berichten stehen wird, ist im Übrigen auf Ver-





Erich G. Fritz


(A) (C)



(D)(B)

träge zurückzuführen, die geschlossen worden sind, als
diese Regierung noch längst nicht im Amt war.


(Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP])


Es sind sogar Verträge dabei, die schon die vorherge-
hende Regierung geerbt hat.

Es empfiehlt sich, das Ganze sehr nüchtern zu be-
trachten. Der EU-Standpunkt, der zu einer gemeinsamen
Rüstungsexportpolitik in Europa führt, hat einen weite-
ren Fortschritt gebracht. Er hat die europäischen Exporte
zwar noch nicht deutlich reduziert, aber wir haben eine
Vergleichbarkeit, eine größere Transparenz. Der EU-
Standpunkt trägt außerdem dazu bei, dass sich die Rüs-
tungswirtschaft in Europa stärker auf gemeinsame Ziele
fokussiert. Das sieht man an der deutschen Rüstungsex-
portpolitik: Rüstungsgüter gehen in der Regel an Mit-
gliedstaaten der EU und der NATO. Selbst SIPRI und
andere kritische Beobachter bestätigen, dass Deutsch-
land beim Export in Staaten, die nicht Mitglieder der EU
oder der NATO sind, äußerst restriktiv ist. Auch das soll-
ten wir einmal sagen. Wir müssen doch nicht so tun, als
wären wir da überhaupt nicht vorangekommen. Über die
Jahre hat sich die Transparenz immer weiter erhöht.

Die Verabschiedung des Antrags, der jetzt einge-
bracht wurde, würde dazu führen, dass der Jahresabrüs-
tungsbericht – das erkennt, wer genau hinschaut und
weiß, wie ein solcher Bericht zustande kommt – in Zu-
kunft später vorgelegt wird. Denn es gibt einen bestimm-
ten Vorlauf für die Vorlage des Rüstungsexportberichts,
den man nicht einfach auflösen kann. Da gibt es einmal
die Genehmigungen; sie kann man ziemlich früh erfas-
sen, weil das BAFA sie laufend ermittelt. Dann gibt es
die tatsächlichen Exporte. Die kann man erst im Nach-
hinein erfassen. Dazu benötigt man die abgeschlossenen
Dateien des Statistischen Bundesamtes. Sie auszuwer-
ten, dauert ein bisschen länger; sie können eigentlich
nicht vor Mitte des Jahres vorliegen. Ein weiterer Aspekt
im Zusammenhang mit dem Rüstungsexportbericht ist
die Pflicht zur Meldung an das UN-Waffenregister. Auch
damit ist ein zeitliches Auseinanderfallen verbunden.

Natürlich geht es nicht, dass wir zwei, drei Jahre hin-
terherhinken. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass
der Bericht 2008, dessen Vorlage sich durch den Regie-
rungswechsel verzögert hat – so etwas ist schon früher
vorgekommen –, jetzt an das Kabinett geht und uns an-
schließend zügig vorgelegt wird. Nach der Sommer-
pause, im dritten, spätestens im vierten Quartal, werden
wir auch den Bericht von 2009 vorgelegt bekommen. Ich
glaube, das ist richtig. Spätestens im Herbst des Folge-
jahres – das ist, wenn man alle Abläufe betrachtet, mach-
bar – muss der Rüstungsexportbericht vorliegen.

Noch etwas kommt hinzu: Wir alle sollten bei den
Parlamentsdebatten darauf achten, dass nicht alles und
jedes auf die Tagesordnung kommt und wichtige Punkte
nicht im Stapel der Dinge, die nicht abgearbeitet werden
können, weil die Zeit nicht ausreicht, untergehen.


(Beifall des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])

Ich wünsche mir auch, dass alle, die hier auftreten
und sich öffentlich zur Rüstungsexportpraxis melden,
dann, wenn der Bericht in den zuständigen Ausschüssen
behandelt wird, über ihn debattieren, konkret über seine
Einzelheiten sprechen und wirklich einen Dialog mit der
Regierung führen. In den vergangenen Jahren haben wir
immer wieder Folgendes erlebt: Im Ausschuss wurde der
Bericht durchgewinkt, und im Plenum fanden große De-
batten statt. Das ist vor dem Hintergrund der Artikula-
tionsfunktion des Parlaments zwar zu rechtfertigen; aber
mit sachlicher Arbeit, damit, wie wir mit dieser Frage
umgehen und wie wir zu einer weiteren restriktiven Pra-
xis kommen, die mit unserer und der europäischen Au-
ßenpolitik übereinstimmt, hat dies nichts zu tun. Das ist
zu wenig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen für die
CDU/CSU-Fraktion zu: Wir werden einen solchen An-
trag gemeinsam mit Ihnen einbringen, wenn die Bundes-
regierung nicht einhält, was sie für dieses Jahr verspro-
chen hat. Aber ich bin sicher, dass sie ihre Versprechen
einhält.

Dieses Thema eignet sich nicht für Aufregungen. In
der Koalitionsvereinbarung steht, dass Abrüstung und
Rüstungskontrolle wichtig sind und dass dies ein zentra-
ler Baustein einer globalen Sicherheitsarchitektur ist.
Wir können aufgrund der jetzt in Bewegung geratenen
internationalen Abrüstungsdiskussionen davon ausge-
hen, –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703502500

Herr Kollege!


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1703502600

– dass es demnächst wieder Abrüstungsberichte gibt,

die keine Regierungsprosa enthalten nach dem Motto:
„Wir haben etwas aus den laufenden Prozessen, die wir
beobachten, zu berichten“, sondern substanzielle Fort-
schritte vorweisen, über die zu debattieren wir mit gro-
ßer Freude hier zusammenkommen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703502700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/445 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 17/1159 mit dem Titel
„Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei
von Atomwaffen setzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

dieser Antrag mit den Stimmen der einbringenden Frak-
tionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit
breiter Mehrheit angenommen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23 d. Hier
wird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlage auf der
Drucksache 17/1167 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen. Dabei ist allerdings
die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP wünschen die Federführung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dem Auswärtigen Aus-
schuss die Federführung zu übertragen, abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Gegen-
stimmen sind erkennbar die Mehrheit. Damit ist dieser
Überweisungsvorschlag abgelehnt.

Ich lasse nun über den anderen Überweisungsvor-
schlag, die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie anzusiedeln, abstimmen. Wer stimmt
diesem Überweisungsvorschlag zu? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Dieses Mal waren die Stim-
men für den Überweisungsvorschlag in der Mehrheit,
und damit ist die Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie beschlossen.

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 24:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland,
Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Vorratsdatenspeicherungen über den
Umweg Europa

– Drucksache 17/1168 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. –
Ich höre keinen Widerspruch. Wir können so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Konstantin von Notz für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg ein
Zitat:

Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht
total erfasst und registriert werden darf, gehört zur
verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepu-
blik Deutschland, für deren Wahrung sich die Bun-
desrepublik in europäischen und internationalen
Zusammenhängen einsetzen muss.

So das Bundesverfassungsgericht am 2. März dieses Jah-
res. Das sind wahre Worte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Gericht hat mit seinem Urteil die sogenannte Vor-
ratsdatenspeicherung für nichtig erklärt und damit der
Verfassungsbeschwerde einer breiten Bürgerrechtsbewe-
gung, die über 34 000 Menschen umfasst – viele darun-
ter aus meiner Fraktion –, stattgegeben.

Als Konsequenz aus diesem Urteil fordern meine
Fraktion und ich zwei Dinge.

Erstens. Die Bundesregierung muss sich auf der euro-
päischen Ebene für eine vollständige Aufhebung der be-
treffenden Richtlinie einsetzen.

Zweitens. Darüber hinaus muss sie allen weiteren
Vorhaben, die eine Vorratsdatenspeicherung vorsehen,
entschieden entgegentreten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Schon in der mündlichen Verhandlung am 15. De-
zember letzten Jahres, zu der sich in Karlsruhe – das
kann ich Ihnen an dieser Stelle erneut nicht ersparen –
kein einziger Befürworter des Gesetzes eingefunden
hatte, wurde deutlich: Die anlasslose, massenhafte Spei-
cherung individueller Kommunikationsdaten ist ein tie-
fer Eingriff in die Privatsphäre aller Bürgerinnen und
Bürger. Die Speicherung – so das Gericht – sei geeignet,
„ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins her-
vorzurufen“ und könne „eine unbefangene Wahrneh-
mung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchti-
gen“. Wenn sich selbst Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Union, gegen eine flächendeckende Kame-
raüberwachung des öffentlichen Raumes aussprechen
und wie Frau Aigner lauthals gegen Google Street View
zu Felde ziehen, dann können Sie doch nicht allen Erns-
tes für eine flächendeckende und anlasslose Datenerfas-
sung im Internet sein. Das ist ein echter Wertungswider-
spruch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Die jüngsten Erhebungen der Stiftung Warentest ma-
chen erneut deutlich: Wir haben nicht zu viel Daten-
schutz, sondern wir haben viel zu wenig Datenschutz.
Eine Regierung, die sich über die Datenskandale bei
Lidl, Google und der Deutschen Bahn echauffiert, aber
selbst Vorratsdatenspeicherung propagiert, ist unglaub-
würdig und handelt datenschutzrechtlich schizophren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt leider auch für den Innenminister. Seine Bemü-
hungen, nach den Ministern Schily und Schäuble eher
bürgerrechtlich wahrgenommen zu werden, sind un-
glaubwürdig. Den Datenbrief im Munde führen, aber ein
Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in der Tasche tra-
gen, das passt einfach nicht zusammen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Jan Korte [DIE LINKE]: Das stimmt!)






Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

Noch einmal: Das Internet war nie ein rechtsfreier
Raum, und es ist auch durch das jüngste Urteil nicht
dazu geworden. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik,
PKS, aus dem Jahr 2007 – also vor der Vorratsdatenspei-
cherung erstellt – weist für alle in Deutschland erfassten
Straftaten eine Aufklärungsquote von 55 Prozent aus.
Bei Straftaten mit dem Tatmittel Internet kommt es – wie
gesagt: ohne Vorratsdatenspeicherung – zu der spektaku-
lär guten Aufklärungsrate von 83 Prozent. So viel zu der
Mär vom rechtsfreien Raum Internet.

Nur als Randbemerkung: Die PKS weist für 2008,
also für das erste Jahr mit Vorratsdatenspeicherung, bei
Internetstraftaten eine Aufklärungsrate von 79,8 Prozent
aus. Das ist immer noch gut, aber schlechter als in dem
Jahr vor Einführung der Vorratsdatenspeicherung.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Welche Straftaten sind denn da überhaupt erfasst? – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ein tollkühner Schluss!)


Diese Zahlen können nicht verwundern, Herr Binninger;
denn aus einer Studie des Max-Planck-Instituts ergibt
sich,


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Von 2006 ist die Studie!)


dass die Vorratsdatenspeicherung bestenfalls bei 0,01 Pro-
zent aller Straftaten von Nutzen sein kann. Auf gut
Deutsch heißt das, dass die Vorratsdatenspeicherung für
mindestens 99,9 Prozent aller Straftaten absolut nutzlos
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sie hätten Buchhalter werden sollen und kein Politiker!)


Dafür wollen Sie, meine Damen und Herren von der
Union, die verfassungsrechtliche Identität der Bundesre-
publik Deutschland – so sagt das Bundesverfassungsge-
richt – aufbohren. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst
sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Das Internet ist ein grundrechtlich geschützter Frei-
heitsraum. Wir alle hier sind deswegen primär in der
Pflicht, diese grundrechtlichen Freiheiten zu schützen,
unter anderem Art. 10 des Grundgesetzes. Wir fordern
Sie deswegen auf: Schluss mit der Eskalationsrhetorik!


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Wer hat denn damit angefangen? Wie hieß denn damals der Innenminister?)


Ziehen Sie die bürgerrechtlichen Konsequenzen aus dem
Urteil und lassen Sie die verfassungsrechtliche Identität
unseres Landes unberührt! Beerdigen Sie Ihre Pläne zur
Vorratsdatenspeicherung auf nationaler und auf europäi-
scher Ebene!

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703502800

Das Wort hat nun der Kollege Michael Grosse-

Brömer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1703502900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen
Antrag der Fraktion der Grünen zur Vorratsdatenspei-
cherung. Dort steht, man möge ihr entschlossen entge-
gentreten.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Richtig!)


Herr von Notz, ich glaube, Sie sind sogar Jurist.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt denn das? Haben Sie das nicht gemerkt, Herr Kollege?)


– Ich komme jetzt dazu. Ich erkläre das. Mich hat das
verwundert, weil Sie immer nur Zitate gebracht haben
und dann eklatant falsche Schlüsse daraus gezogen ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Was die von Ihnen angesprochene Nichtigkeit betrifft
– Sie tun immer so, als sei das alles eine eindeutige Ge-
schichte gewesen –:


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Vier zu vier!)


Das Bundesverfassungsgericht hat mit vier zu vier ent-
schieden. Nun zu sagen, die Richter hätten übereinstim-
mend die Bedenken der Grünen geteilt, ist völlig abwe-
gig. Da gab es eine Entscheidung, die überhaupt nicht
eindeutig war, sondern offensichtlich sehr geteilt. Damit
beginnt es. Ich kann nur raten: Hören Sie einmal auf den
von mir sehr geschätzten Kollegen Wieland. Er hat bei
der letzten Debatte zu dem Thema gesagt: Bevor man
über das Urteil spricht, sollte man es sehr genau lesen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Habe ich getan!)


Ich kann Ihnen sagen: Hören Sie auf die Ratschläge Ihrer
älteren Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Rat an Sie, Herr Kollege!)


Natürlich haben wir von der CDU/CSU gehofft, dass
Sie auch einmal bei Themen wie Antidiskriminierung
Sensibilität, was Umwege über Europa betrifft, an den
Tag legen. Wir haben hier eines festzustellen: In Europa
gibt es eine Mehrheit für die Vorratsdatenspeicherung;
das Europäische Parlament hat nämlich so entschieden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch da gibt es offensichtlich keine Mehrheit für die
von Ihnen vertretene Auffassung.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden wir sehen!)






Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)

Ich will noch eines sagen: Falsch ist auch die von Ih-
nen gezogene Schlussfolgerung, das Gericht habe die
Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Die Vorrats-
datenspeicherung ist – so steht es ausdrücklich in dem
Urteil – sogar per se geeignet und auch notwendig zur
Bekämpfung schwerster Verbrechen. Das steht in dem
Urteil.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Angesetzt wird da, wo es um die Umsetzung, wo es um
die Datensicherung und um die Datenverarbeitung geht.
Das nehmen wir mit Respekt zur Kenntnis. Aber hören
Sie auf, falsche Wahrheiten zu verbreiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Vorratsdatenspeicherung wurde vom Gericht nicht
für verfassungswidrig erklärt.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dieser Art!)


Es ist festzustellen, dass auch der Schutz der Bürger
ein Wert ist. Ich glaube, wir alle sind der Auffassung – es
ist sogar verfassungsrechtlich abzuleiten –, dass es wich-
tig ist, den Schutz der Bürger vor schweren Straftaten si-
cherzustellen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu hilft das Gesetz nicht!)


Wenn das Bundesverfassungsgericht in dem von Ihnen
mehrfach zitierten Urteil feststellt, dass die Vorratsdaten-
speicherung ein wichtiges Instrument ist, um schwerste
Straftaten, um Terrorismus und organisierte Kriminalität
zu bekämpfen, dann ist das für uns als CDU/CSU ein
ganz wichtiger Aspekt. Wir sagen: Daran muss man fest-
halten. Die Bürger in diesem Land haben einen An-
spruch auf effektive Strafverfolgung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es geht noch weiter. Es gibt Spezialisten, teilweise in
Ihrer Fraktion, in größerem Maße in meiner Fraktion.


(Lachen des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Ja.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir dürfen doch einmal lachen!)


– Ja, es gibt ja nichts Schöneres, als Ihnen eine Freude
zu machen, und das an diesem Vormittag.


(Gisela Piltz [FDP]: Jetzt bin ich persönlich beleidigt!)


– Ich werde manches nachholen.

Die Personen, die sich beruflich mit effizienter Straf-
verfolgung beschäftigen, zum Beispiel der Präsident des
Bundeskriminalamtes, die Mitglieder des Bundes Deut-
scher Kriminalbeamter – wir müssen ihnen dankbar sein,
dass sie das tun –, sagen: Bitte begeht nicht den Fehler
und verzichtet auf die Vorratsdatenspeicherung; denn wir
brauchen sie. Herr Ziercke, der Präsident des BKA, hat
vor dem Bundesverfassungsgericht ein deutliches Bei-
spiel genannt: Ein Teil der 145 Mitglieder eines Internet-
boards, wo kinderpornografisches Bild- und Filmmaterial
ausgetauscht wurde – das ist schwerste Kriminalität –,
konnten identifiziert werden. Über die erhobenen Ver-
kehrsdaten, etwa die E-Mail-Adressen, konnten 20 Mit-
glieder – Kinderschänder und damit Schwerverbrecher –
identifiziert werden.

Ich sage Ihnen: Wir brauchen die Vorratsdatenspei-
cherung, um effizient gegen solche Leute vorzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703503000

Herr Kollege Grosse-Brömer, darf der Kollege

Montag Ihnen eine Zwischenfrage stellen?


Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1703503100

Ja, gerne.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703503200

Bitte schön.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703503300

Danke, Herr Präsident. – Lieber Kollege Grosse-

Brömer, Sie haben Fachleute auf dem Gebiet der Be-
kämpfung von Straftaten zitiert, Kriminalbeamte und
insbesondere den BKA-Präsidenten Ziercke. Würden
Sie mir recht geben, dass die Autorität des BKA und
auch die von Herrn Ziercke – bisher habe ich sie, so wie
Sie, als hoch angesehen – schwer angekratzt ist, nach-
dem es gerade das BKA und Herr Ziercke waren, die uns
allen hier im letzten Jahr im Brustton der Überzeugung
gesagt haben, wir müssten unbedingt und sofort – das sei
äußerst effektiv – Internetsperren zur Bekämpfung von
Kinderpornografie einführen. Er hat Sie und die Union
sozusagen davon überzeugt. Inzwischen ist allgemein
klar – alle Fachleute sagen das; die Industrie sagt das –,
dass das von Anfang an ein völlig sinnloses und zweck-
loses Mittel war, weil jede Sperre innerhalb von einigen
Sekunden von jedem einfachen User umgangen werden
kann. Stimmen Sie mir zu, dass es bei den jetzigen Aus-
sagen des Herrn Ziercke, man brauche die Vorratsdaten-
speicherung dringend, angebracht ist, Vorsicht walten zu
lassen?


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der CDU/ CSU: Abwegige Argumentation!)



Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1703503400

Lieber Herr Kollege Montag, ich bin Ihnen für diese

Frage sehr dankbar. Zu dieser Feststellung gibt es von
mir nicht einmal einen Hauch von Zustimmung. Ich
kann Ihnen das erklären. Wir, die CDU/CSU-Fraktion,
haben eine Veranstaltung zur Effizienz bei der Bekämp-
fung von Kinderpornografie durchgeführt. Ich gebe Ih-
nen recht, dass das Löschen im Zweifel effizienter ist als
das Sperren – wenn man es denn kann und dazu die Ge-
legenheit hat. Ein Problem ist nämlich, dass die Seiten
mit diesen perversen Inhalten wöchentlich wechseln.





Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)

Die Auffassung meiner Fraktion ist, dass das Sperren,
wenn man das Löschen nicht schafft, immer noch nicht
die perfekte Möglichkeit ist, jeglichen Zugriff auf be-
stimmte Seiten zu verhindern. Aber es ist immerhin
möglich – das zeigen ganz konkrete Erfahrungen aus
Norwegen –, die Anzahl der Zugriffe auf die entspre-
chenden Seiten um bis zu 40 Prozent zu reduzieren. Der
Präsident des Bundeskriminalamtes hat recht, wenn er
sagt: Wir können nicht darauf verzichten, zumindest die
hinter dieser Zahl stehenden Personen davon abzuhalten,
diese perversen Seiten anzusehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Insofern hat er für mich immer noch ein hohes Ansehen.
Ich hoffe, auch Sie kommen irgendwann zu dieser Er-
kenntnis.

Wenn ich daran gleich anknüpfen darf: Es ist aus mei-
ner Sicht und für meine Fraktion sehr wichtig, dass die
Menschen, die sich fachlich permanent und intensiv mit
der Bekämpfung schwerster Kriminalität beschäftigen,
nicht aus durchschaubaren politischen Gründen diskredi-
tiert werden,


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir nicht! Nein, nein!)


nur weil die Erkenntnisse der großen Polizeidienststellen
und der Verbände, in denen sich jeden Tag viele Beamte
mit der Bekämpfung von Kriminalität befassen, nicht in
das eigene politische Konzept passen. Sie sollten so früh
wie möglich damit aufhören, diese Personen zu diskredi-
tieren. Das ist der falsche Weg, in Deutschland für eine
effiziente Strafverfolgung zu sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Döring [FDP])


Ich halte es in der Tat für arrogant und leichtfertig, zu
versuchen, diese Leute sozusagen hintenherum und mit
wenig argumentativer Überzeugungskraft in eine be-
stimmte Ecke zu stellen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie doch selbst getan!)


Warum fordern diese Personen wohl eine zügige neue
gesetzliche Grundlage? Glauben Sie, die hätten davon in
irgendeiner Form persönliche Vorteile? Nein, die ma-
chen sich Sorgen um die Situation in Deutschland. Sie
machen sich Sorgen, dass Schutzlücken bestehen, wenn
die Vorratsdatenspeicherung nicht mehr zur Verfügung
steht. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Die Bürger in
Deutschland haben einen Anspruch auf effiziente Straf-
verfolgung und auf Schutz durch den Staat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich finde, wenn die Beamten, die mit diesem Thema
zu tun haben, die Vorratsdatenspeicherung als wirksames
Instrument in Anspruch nehmen, dann ist es unser Job,
ihnen dieses Instrument auch zur Verfügung zu stellen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Aber verfassungsgemäß!)


– Herr Kollege von Notz, was ich bei Ihrer Argumenta-
tion ganz spannend finde – auch ich habe das Urteil gele-
sen –, ist der Bezug auf dieses diffuse Gefühl des Be-
obachtetseins.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Ich kann das gut nachvollziehen. Dabei geht es nämlich
nicht um die Einzelmaßnahmen. Schließlich ist es nicht
so, dass wir grundsätzlich der Auffassung sind: Alles
läuft bestens, und wir können ohne Ende Daten erheben.

Ich kann, wie gesagt, nachvollziehen, dass man dieses
Gefühl hat. Ich glaube, meine Tochter, die mittlerweile
zwölf Jahre alt ist, hat vom Internet schon mehr Ahnung
als ich. Deswegen macht sie sich vielleicht auch weniger
Sorgen. Auch Sie sind schon eine andere Generation. Ich
nehme Ihre Argumente ernst. Was mich aber immer wie-
der wundert, ist, dass dieses diffuse Gefühl des Beobach-
tetseins, wenn es um Google oder Facebook geht, über-
haupt keine Rolle spielt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Da auch! Dieses Thema servieren wir Ihnen doch jede Woche!)


Vor kurzem hat Herr Schirrmacher im Frühstücks-
fernsehen eine spannende Frage gestellt: Wer kontrol-
liert eigentlich Google?


(Gisela Piltz [FDP]: Ja! Sehr spannende Frage! – Christine Lambrecht [SPD]: Die Staatsanwälte!)


Diese Frage werden wir hier und heute nicht beantwor-
ten können. Aber es wäre schön, wenn Sie aufhören wür-
den, dem Staat in dieser Debatte grundsätzlich ein Aus-
forschungs- und Aushorchungsinteresse zu unterstellen,
aber dann, wenn es um Google und Facebook geht, die
Freiheit des Internet zu betonen, die sie gerade denen ge-
währen wollen, die über mehr Daten verfügen, als der
Staat jemals bekommen kann.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir doch gar nicht!)


Ich finde, das ist ein Fehler in Ihrer Argumentation.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ein Popanz!)


– Herr Kollege Montag, wenn Sie von Popanz reden,
scheint meine Rede gut gewesen zu sein; denn dann sind
Sie ein bisschen unruhig. Das freut mich.

Wenn wir über die Datenspeicherung diskutieren,
müssen wir ein erhöhtes Problembewusstsein an den
Tag legen; hier sind wir mit Ihnen einer Auffassung.
Auch meine Fraktion wird sensibel vorgehen und darauf
achten, was für den Staat möglich sein muss und was
nicht. Das ist doch gar keine Frage. Dafür sitzen wir hier.
Was den konkreten Fall, die Vorratsdatenspeicherung,
angeht, können wir aber nicht behaupten, sie sei ein In-
strument, das für den Bürger auf keinen Fall erträglich
ist. Ich glaube sogar, es ist umgekehrt: Die Bürger erwar-
ten, dass man, wenn man wirksame Instrumente zur Ver-
fügung hat, diese auch nutzt, um sie vor Gewalttaten zu
schützen; dafür gibt es viele Beispiele. Ich jedenfalls





Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)

glaube den Leuten, die mit diesem Thema täglich zu tun
haben.

Die Regierungskoalition analysiert derzeit das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts. Auf europäischer Ebene
tut man das auch. Die CDU/CSU hat vor dieser Debatte
Rücksprache mit einigen Kollegen aus dem Europäi-
schen Parlament gehalten. Wir können feststellen: Das
Schutzniveau, das auf europäischer Ebene geschaffen
wird, wird – ungeachtet der Bemühungen der Justizkom-
missarin – nicht höher sein als das Schutzniveau, das uns
vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben wurde. Es
wird in Europa keine strengeren Maßstäbe geben, als sie
in Deutschland nach der Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichtes gelten.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wollen Sie das wissen?)


– Weil gar nichts anderes in der Debatte ist.

Unsere Koalition arbeitet nach dem Motto: So sorg-
fältig wie nötig, aber so zügig wie möglich müssen
Schutzlücken geschlossen werden.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat Ihre Fraktion da die absolute Mehrheit?)


Das wird beim Arbeitstempo zu berücksichtigen sein.
Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass die Frist für
die Umsetzung dieser Richtlinie bereits abgelaufen ist.
Was Europa uns vorgibt, ist also zu berücksichtigen, und
zwar in dem Rahmen, den das Bundesverfassungsgericht
vorgegeben hat. Ein schönes Datenschutzkorsett ist ge-
richtlicherseits vorgegeben. Wir werden es nun gesetz-
geberisch auffüllen und damit wahrscheinlich sehr er-
folgreich sein.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703503500

Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1703503600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wie so oft reizt die Rede des Kollegen Grosse-Brömer
dazu, einiges klarzustellen. Da Sie selbst einräumen,
vom Internet wenig zu verstehen, haben Sie zumindest
diese These klar belegt. Bei allem Respekt für eine Ver-
teidigungshaltung: Wenn jemand bei Google Daten über
sich freigibt, wenn die jüngere Generation in verschie-
densten sozialen Netzwerken persönliche Daten freigibt,
kann man diese Daten doch nicht in einen Zusammen-
hang stellen mit Daten, die bei einer anlasslosen Vorrats-
datenspeicherung erfasst werden. Das eine hat mit dem
anderen wenig zu tun. Bei den Daten, die bei Google
gesammelt werden, erklären sich die Nutzer einverstan-
den, wissen, was mit den Daten passiert.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Eben nicht! Sie wissen es nicht! Sie können es auch nicht sehen! – Gisela Piltz [FDP]: Was Sie sagen, zeigt, dass Sie sich damit in den letzten zehn Jahren nicht beschäftigt haben!)


– Man weiß es sehr wohl; denn man selbst entscheidet,
was man über sich preisgibt. Zumindest ist es ein gewal-
tiger Unterschied dazu, dass anlasslos die Telekommuni-
kationsverbindungen Hunderttausender Menschen er-
fasst werden. Natürlich muss man die Menschen dazu
aufrufen, mit ihren persönlichen Daten sorgfältig umzu-
gehen, sie nicht leichtfertig irgendwo einzuspeisen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt sind wir wieder einer Meinung!)


Aber das ist ein anderer Punkt. Bei der Vorratsdatenspei-
cherung hat man diese Möglichkeit nicht.

Das ist ja das, was das Bundesverfassungsgericht der
Bundesregierung mit seinem Urteil ins Stammbuch ge-
schrieben hat: Es hat nicht gesagt, dass eine Vorratsda-
tenspeicherung per se unmöglich sei; aber es hat sehr
hohe Hürden benannt. Diese Hürden müssen bei der
Umsetzung berücksichtigt werden.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sind Sie dazu bereit?)


Es gibt Hürden bei der Verwendung der Daten, bei der
Sicherheit der Speicherung sowie bei der Transparenz.
Es muss darüber informiert werden, für was und warum
diese Daten erhoben werden. Vor allen Dingen muss der-
jenige, dessen Daten verwendet werden, darüber infor-
miert werden. So weit gehen wir, glaube ich, d’accord.

Sie haben zu Recht angesprochen, Herr Grosse-
Brömer, dass eine Ursache für die Einführung einer
gesetzlichen Regelung zur Vorratsdatenspeicherung
Attentate in europäischen Großstädten wie in Madrid
waren. Anhand von aufgefundenen Handys konnte da-
mals festgestellt werden, mit wem die Attentäter telefo-
niert hatten. So konnten Rückschlüsse auf entsprechende
Verbindungstäter gezogen werden.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie sehen, wie effektiv die ganze Sache ist!)


Jetzt muss es darum gehen, die Vorratsdatenspeiche-
rung gerichtsfest, verfassungsfest umzusetzen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Da haben Sie eine große Aufgabe vor sich.


(Gisela Piltz [FDP]: An der Sie gescheitert sind! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir werden diese Aufgabe lösen!)


Wir werden das gespannt beobachten.

Ich rate aber, in der Öffentlichkeit nicht so zu tun, als
ob momentan eine gewaltige Sicherheitslücke ent-
stünde, als ob man – wie Sie es beschrieben haben –
Kinderschänder derzeit nicht verfolgen könne.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es leider!)


Zur Aufklärung solch schwerster Verbrechen gibt es die
Möglichkeit der Telefonüberwachung.





Christine Lambrecht


(A) (C)



(D)(B)


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Sie wissen aber nicht, wann! – Clemens Binninger [CDU/ CSU]: Dazu müssen Sie ihn erst einmal kennen!)


Sie können doch nicht behaupten, dass gegen Kinder-
schändernetzwerke derzeit in keiner Weise vorgegangen
werden könne, dass man solche Verbrechen nicht ahnden
könne, weil keine anderen Maßnahmen zur Verfügung
stünden.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Realitätsverdrängung!)


Schüren Sie nicht Ängste! Selbstverständlich sind wir
uns darin einig, dass organisierte Kriminalität, schwerste
Verbrechen verfolgt werden müssen. So zu tun, als ob
man dazu momentan keinerlei Mittel habe, verwirrt. Das
ist der Sache nicht dienlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden beobachten, wie Sie mit dieser großen
Aufgabe umgehen. Wir haben im Vorfeld ja schon eini-
ges gehört: Die Ministerin – die selbst gegen die Vorrats-
datenspeicherung geklagt hat – hat erklärt, sie wird das
Verfahren jetzt erst einmal aussetzen und abwarten, was
in Europa passiert. Die zuständige EU-Kommissarin,
Justizkommissarin Reding, hat gesagt, dass sie diese
Richtlinien auf den Prüfstand stellen will. Diese Über-
prüfung will Frau Leutheusser-Schnarrenberger abwar-
ten. Aus der Fraktion der CDU/CSU habe ich anderes
gehört. Da will man ganz schnell eine Lösung, die sofort
umgesetzt wird, damit keine Lücken entstehen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!)


Ich bin gespannt, wie sich bei diesem Thema die Mehr-
heitsverhältnisse entwickeln. Wir werden beobachten,
wer sich hier durchsetzt:


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir verstehen uns gut! Wir kriegen das hin!)


die Ministerin, die gegen die Vorratsdatenspeicherung
geklagt hat und recht bekommen hat, oder die CDU/
CSU, die eine ganz andere Position vertritt, nämlich jetzt
sofort eine Lösung zu finden, weil sonst Lücken entstün-
den. Ich war eben schon ein bisschen perplex, dass Sie
sich hier wechselseitig beklatschen. Ich bin gespannt,
was der Kollege von der FDP dazu sagen wird.


(Zuruf von der FDP: Machen Sie Schluss! Dann hören Sie es! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Machen Sie sich keine Sorgen!)


Vielleicht vertritt auch er die Position, dass sofort etwas
gemacht wird und nicht abgewartet wird, was auf euro-
päischer Ebene passieren wird. Davon rate ich Ihnen ab.
Aber ich gehe davon aus, dass die FDP in dieser Frage
die Fahne der Freiheitsrechte der Bürger ganz klar hoch-
hält, so wie sie das in allen Wahlkampfslogans vertreten
hat. Wir werden sehen, wer sich am Ende durchsetzt. Ich
hoffe, es wird die FDP mit ihrer Ministerin, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, sein.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir machen das gemeinsam!)


Aber, wie gesagt, momentan ist in dieser Koalition alles
denkbar.


(Gisela Piltz [FDP]: Das unterscheidet uns von Ihnen! – Jan Korte [DIE LINKE]: Nur nichts Gutes!)


Von daher kann ich der FDP anbieten, mit uns konstruk-
tiv zusammenzuarbeiten. Aber, wie gesagt, wir sind ge-
spannt, wer sich durchsetzt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703503700

Das Wort hat nun Christian Ahrendt für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1703503800

Liebe Frau Kollegin Lambrecht, seien Sie versichert:

Wir werden die Fahne der Freiheit weiter hochhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe gerade festgestellt, dass Sie eine solche Fahne
gar nicht im Schrank haben.


(Beifall bei der FDP)


Um Ihre Gedächtnislücken etwas zu schließen: Sie
haben, glaube ich, am 9. November 2007 in der nament-
lichen Abstimmung zur Vorratsdatenspeicherung dafür
gestimmt.


(Christine Lambrecht [SPD]: Ja, das habe ich nie bestritten!)


Ich habe auch gesehen, dass Sie noch nicht einmal eine
Erklärung zu Protokoll gegeben haben.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das muss man auch nicht!)


Es ist sehr schön, von Leuten belehrt zu werden, wie
man mit einem Thema umzugehen habe, die zu keiner
Zeit in der Lage waren, dieses Thema auch nur annä-
hernd sorgfältig zu bearbeiten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schauen wir uns einmal an, wie das gelaufen ist, weil
das jetzt ein Stück weit Vergangenheitsbewältigung ist.
Ihre Parteifreundin, Frau Zypries, war Justizministerin.
Sie hat es auf EU-Ebene nicht geschafft, die Richtlinie
aufzuhalten. Sie war als zuständige Justizministerin für
die Umsetzung der Richtlinie verantwortlich. Insofern
erinnerte mich das Haus Zypries ein bisschen an eine
Rudi-Carrell-Show. An diese Show erinnert man sich
eher, wenn man so eine Frisur wie ich hat. Die Show
hieß „Am laufenden Band“. Das, was an Gesetzen aus
dem Hause Zypries kam, ist am laufenden Band vom





Christian Ahrendt


(A) (C)



(D)(B)

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe aufgehoben wor-
den, Frau Kollegin Lambrecht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703503900

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Lambrecht?


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1703504000

Nein.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr souverän!)


Sie können gerne eine Kurzintervention machen, Frau
Kollegin. Ich werde jetzt zum Thema kommen. Das
Thema ist – der Kollege Notz hat es angesprochen, das
ist, glaube ich, ein Kernsatz der Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichtes – die Freiheitswahrnehmung.
Mit der Freiheitswahrnehmung nicht vereinbar ist, dass
alltägliche Daten erfasst, gesammelt und gespeichert
werden und dadurch ein Gefühl der Überwachung ent-
steht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
Entscheidung deutlich gesagt, dass es Aufgabe der Bun-
desregierung ist, diese Freiheitswahrnehmung auf euro-
päischer Ebene und auch auf internationaler Ebene zu
verteidigen.

Weil ich weiß, dass die Justizministerin selber Kläge-
rin gegen diese Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung
bzw. das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung war, brau-
chen wir Ihren Antrag nicht, weil Frau Leutheusser-
Schnarrenberger persönlich dafür steht, dass die Frei-
heitsrechte, so wie es das Bundesverfassungsgericht vor-
gegeben hat, auf europäischer Ebene gewahrt werden.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doppelt genäht hält besser!)


Das Entscheidende ist, dass auch auf europäischer
Ebene schon ein Umdenken eingesetzt hat. Die Justiz-
kommissarin Reding hat angekündigt, dass sie die euro-
päische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung evaluie-
ren will. Die Innenkommissarin, Frau Malmström, hat
hinterfragt, ob es noch ein ausreichendes Gleichgewicht
zwischen Terrorismusbekämpfung auf der einen Seite
und den privaten Freiheitsrechten auf der anderen Seite
gibt. Auch von dort ist also zu erwarten, dass man die
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene
evaluiert. Auch eine dritte Frage wird in diesem Zusam-
menhang geklärt werden, nämlich ob diese Richtlinie
noch mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist, die
zusammen mit dem Lissabon-Vertrag in Kraft getreten
ist.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir uns das alles sorgfältig anschauen,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann?)

dann stellen wir fest, dass es derzeit gar keine Veranlas-
sung gibt, in Hektik zu verfallen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Eindruck machen Sie auch nicht! – Gisela Piltz [FDP]: Das ist ja auch der Sinn der Sache!)


Die Berichte werden im September 2010 vorliegen, und
wir werden das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
sorgfältig auswerten.

Es besteht auch keine Sicherheitslücke. Durch die
einstweilige Verfügung wurde die Regelung zur Vorrats-
datenspeicherung schon vorzeitig suspendiert. Die Fest-
stellung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Richtli-
nie zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland zunächst
keine Anwendung findet, hat dem Sicherheitsgefühl in
Deutschland keinen Abbruch getan. Insofern ist es in der
aktuellen Situation nicht unbedingt erforderlich, übereilt
eine Richtlinie umzusetzen, die ohnehin auf dem Prüf-
stand steht. Vor diesem Hintergrund bedarf es derzeit des
etwas populistischen Antrages der Grünen nicht.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


Deswegen werden wird dem Antrag auch nicht zustim-
men.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht verstanden!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703504100

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gin Lambrecht.


Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1703504200

Da der Kollege Ahrendt keine Zwischenfrage zulas-

sen wollte, nutze ich die Möglichkeit der Kurzinterven-
tion und weise darauf hin, dass es die SPD-Justizminis-
terin Brigitte Zypries war, die darauf hingewirkt hat,
dass die in der Richtlinie ursprünglich vorgesehene
Dauer der Speicherung von 36 Monaten auf EU-Ebene
auf sechs bis 24 Monate gekürzt wurde und dass in dem
entsprechenden Umsetzungsgesetz in Deutschland nur
noch eine Dauer von sechs Monaten vorgesehen war.
Frau Zypries hat diese EU-Richtlinie in ihrer Eigen-
schaft als Justizministerin also nicht einfach durchlaufen
lassen, sondern sie hat entscheidenden Einfluss darauf
genommen, dass es nicht zu unverhältnismäßig langen
Speicherungsdauern gekommen ist.


(Zuruf von der FDP: Zu wenig offenbar!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703504300

Kollege Ahrendt.


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1703504400

Verehrte Frau Kollegin, dieser Sachverhalt ist be-

kannt.





Christian Ahrendt


(A) (C)



(D)(B)


(Christine Lambrecht [SPD]: Anscheinend nicht!)


Aber wir kennen auch den Satz: „Wer immer strebend
sich bemüht, den können wir erlösen.“ Frau Zypries
konnte bei dem wenigen Bemühen, das sie an den Tag
gelegt hat, nicht erlöst werden. Denn wir haben immer
gesagt, dass wir diese Richtlinie in Deutschland gar
nicht wollen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber jetzt wollen Sie sie doch?)


Es wäre also eigentlich ihre Aufgabe gewesen, die
Richtlinie auf europäischer Ebene zu verhindern. Das
hat sie nicht geschafft, daran muss sie sich messen las-
sen. Deswegen können wir Ihnen das Argument der ge-
ringen Fristverkürzung auch nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Jetzt wird es spannend, was Ihre Ministerin macht!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703504500

Das Wort hat nun Jan Korte für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703504600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

FDP traue ich nun wirklich alles Schlechte dieser Welt
zu,


(Gisela Piltz [FDP]: Ja, endlich! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist wahrscheinlich wechselseitig!)


aber in diesem Falle, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, war es in der Tat maßgeblich Brigitte
Zypries, die diese Richtlinie auf europäischer Ebene und
im Bundestag durchgesetzt hat. Das muss man der Fair-
ness halber einmal sagen. Deswegen hätte mich interes-
siert, welche Meinung die SPD jetzt zu dieser Richtlinie
hat und wie Sie gedenken, mit dem Antrag der Grünen
umzugehen. Aber vielleicht geht ja der zweite Redner
aus Ihrer Fraktion darauf ein.

Vor dem Hintergrund welcher Situation diskutieren
wir heute? – Abermals ist vom Bundesverfassungsgericht
ein sogenanntes Sicherheitsgesetz kassiert worden – ver-
bunden mit recht drastischen Ermahnungen. Die damali-
gen Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linke haben
schon damals gesagt, dass das so kommen wird und dass
Ihre Entscheidung auch politisch falsch ist. Darauf woll-
ten Sie aus ideologischen Gründen nicht hören, und jetzt
haben wir sozusagen den Salat.

Wenn das höchste deutsche Gericht urteilt, dass ein
Gesetz oder eine Richtlinie fachlich falsch ist, dass das
alles so nicht geht, dass man das neu regeln müsste, dann
denkt man als Bürger ja, die erste Reaktion darauf
müsste eigentlich sein, zur Ruhe zu kommen, in sich zu
gehen und zu prüfen, wie man es besser und grund-
rechtskonform machen könnte bzw. ob man das Ganze
überhaupt braucht. Das hat diese Bundesregierung aber
nicht getan.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir sind ja gerade dabei! – Zuruf von der FDP: Das machen wir doch gerade!)


Der Bundesinnenminister und die CDU sagen: Wir müs-
sen unbedingt vor der Sommerpause noch irgendetwas
unternehmen. – Die Bundesjustizministerin dagegen
sagt – und dabei unterstütze ich sie sehr –: Am besten
machen wir erst einmal gar nichts; denn gar nichts zu
tun, ist besser, als das Falsche zu tun.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP: Das hat sie nicht gesagt! Lesen Sie doch mal Zeitung!)


Deshalb wissen wir bis heute nicht, was die Meinung der
Koalition ist.


(Gisela Piltz [FDP]: Herr Korte, wenn Sie die Ministerin zitieren, zitieren Sie sie bitte richtig!)


Ich denke, wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass das
Bundesverfassungsgericht abermals etwas kassiert hat,
und einen Richtungswechsel vornehmen. An dieser Stelle
stellt sich die berühmte Frage: Was tun?

Um noch einmal auf das Problem zurückzukommen:
Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es darum – das
ist der Unterschied zu Google, Facebook und anderen –,
dass ohne Anlass und ohne Verdacht das Kommunika-
tionsverhalten von 80 Millionen Bundesbürgern kom-
plett registriert wird. Das ist das Kernproblem, über das
wir hier diskutieren. Es geht also sozusagen um eine To-
talprotokollierung von menschlichem Kommunikations-
verhalten, und zwar anlasslos.

Daraus ergeben sich in einer Demokratie grundle-
gende Fragen. Denn Datenschutz und das Wissen, unbe-
obachtet und unangepasst kommunizieren zu können, ist
eine entscheidende Grundlage demokratischen Engage-
ments. Dies wird durch die Vorratsdatenspeicherung be-
hindert und infrage gestellt. Denn klar ist – darauf wird
auch in dem Urteil hingewiesen –, das jemand, der sich
ständig beobachtet und registriert fühlt, automatisch,
vielleicht sogar unbewusst, anfängt, sein Kommunika-
tionsverhalten zu ändern. Man fängt an, angepasst zu
kommunizieren. Das will zumindest die Linke nicht. Wir
wollen eine unangepasste Kommunikation in diesem
Land.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer sich ständig beobachtet fühlt, passt sich an. Das
mag jemandem mit einem autoritären Weltbild wie Ih-
nen vielleicht sinnvoll erscheinen.


(Lachen bei der CDU/CSU – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: In welchem System gab es denn die Stasi? Keine Belehrung von Demokraten!)


Wir wollen das aber nicht. Wir wollen unangepasst sein,
und wir wollen den aufrechten Gang. Deswegen lehnen
wir das politisch ab.


(Zuruf von der CDU/CSU)






Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)

– Da haben Sie allerdings recht, um kurz vor Ostern
auch einmal etwas Persönliches zu sagen. Das Bundes-
verfassungsgericht hat nicht gesagt, es sei völlig unmög-
lich, die Richtlinie umzusetzen. Das ist in der Tat richtig.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aha!)


– Ja, ich will schließlich, dass wir eine differenzierte De-
batte führen. – Man muss aber deutlich sagen – das ist
die Aufgabe des Bundestages –: Nicht alles, was juris-
tisch und technisch möglich ist, muss man auch machen.
Darum geht es in der politischen Auseinandersetzung.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen unterstützt meine Fraktion ganz klar den
Antrag der Grünen, auf europäischer Ebene darum zu
kämpfen, dass die Richtlinie außer Kraft gesetzt wird.
Auch in anderen europäischen Ländern gibt es entspre-
chende Ansätze. Wir sind also nicht alleine, wie es die
große Sorge der Bundesregierung ist. Man könnte auf
europäischer Ebene etwas für die Grundrechte tun. Es
wäre auch klasse, wenn eine Bundesregierung auf euro-
päischer Ebene in der Frage von Datenschutz und Bür-
gerrechten positiv auffallen würde.

Die FDP hat in der Frage komplett versagt. Sie sind
schon kurz nach Ihrer Vereidigung beim SWIFT-Ab-
kommen vom Innenminister vorgeführt worden.


(Gisela Piltz [FDP]: Herr Korte! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die Nachfolgepartei der SED redet über Bürgerrechte! Ganz toll!)


Wir sind gespannt, wie es bei der FDP weitergehen wird.

Die Linke wird auf jeden Fall die FDP in ihrem
Kampf gegen den eigenen Koalitionspartner unterstüt-
zen,


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


wenn Sie bereit sind, die Richtlinie zur Vorratsdatenspei-
cherung insgesamt zu Fall zu bringen. Dabei haben Sie
uns an Ihrer Seite.

Die Linke unterstützt selbstverständlich auch weiter
das außerparlamentarische Engagement. Im Rahmen
der Debatte um die Vorratsdatenspeicherung ist erstma-
lig seit Jahren in der Bundesrepublik über die Frage von
Grundrechten, Demokratie und Rechtsstaat relevant dis-
kutiert worden. Das ist doch etwas Gutes, wenn Men-
schen auf die Straße gehen und sich organisieren.


(Gisela Piltz [FDP]: Genau! Es wäre schön, wenn es das in der DDR gegeben hätte, Herr Korte!)


– Ich erinnere mich, Kollegin Piltz: Es war eine gute Sa-
che, als wir alle auf der Demo „Freiheit statt Angst“ wa-
ren, die FDP-Fahnen Seite an Seite mit den roten Fahnen
der Linken. Die Grünen waren auch dabei. Das war eine
gute Sache. Ich bin gespannt, ob Sie im Herbst wieder
demonstrieren werden. Ich schätze, nicht; denn auf Sie
kann man sich in dieser Frage nicht verlassen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist eine traurige Entwicklung, die Sie durchlaufen.
Deswegen ist jetzt die politische Auseinandersetzung zu
führen. Wir müssen die Vorratsdatenspeicherung weder
als Bundestag noch als Bundesregierung mittragen.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Oh doch! Vor Ostern sollten Sie ein bisschen milder sein!)


Man könnte erst einmal in sich gehen und über Ostern
nachdenken. Dann könnten wir auf die Vorratsdatenspei-
cherung verzichten und hätten damit einen wichtigen
Beitrag zur Stärkung der Demokratie in diesem Land ge-
leistet. Die Linke macht mit.

Schönen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703504700

Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die Fraktion

der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1703504800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im-

merhin wissen wir jetzt schon seit gut 14 Stunden, wel-
ches Anliegen die Grünen unter der Überschrift „Keine
Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“
bewegt. Sie haben uns lange darüber im Unklaren gelas-
sen, was Sie auf dem Umweg über Europa nicht wollen.
Aber die viele Zeit, die sich die Grünen für die Formu-
lierung des Antrags gelassen haben, hat offensichtlich
nicht gereicht, um einen ausgewogenen und vollständi-
gen Antrag vorzulegen. Zwar wird Bezug auf eine Bun-
destagsdrucksache aus dem Jahr 2004 genommen. Aber
dann sind Aussagen zu dem Zeitraum zwischen 2004
und 2006 in dem Antragstext doch merkwürdig lücken-
haft. Sollte das Zufall sein, oder hat es etwas damit zu
tun, dass die Grünen bis 2005 in der Regierung waren,
oder sogar damit, dass in dieser Zeit in Europa die we-
sentlichen Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung
getroffen wurden,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch falsch!)


und zwar unter tatkräftiger Mitwirkung einer rot-grünen
Bundesregierung?


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsch!)


Gerne helfe ich Ihrer Erinnerung auf die Sprünge.

Es ist interessant, sich die Entwicklung um das Jahr
2005 genauer anzusehen. Ihre Reaktionen zeigen, dass
ich richtig liege. Wenn man sich die Geschichte der
Vorratsdatenspeicherung anschaut, trifft man auf ein
Phänomen; ich nenne es das Chamäleonphänomen.
Beim Blick zurück stößt man nicht nur auf eine rot-
grüne Bundesregierung, nein, man stößt auch auf einen





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

Bundesinnenminister, der einmal grün war, irgendwann
zu den Roten wechselte, um dann in einer rot-grünen
Bundesregierung den schwarzen Sheriff zu geben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es war dieser rot-grüne bzw. grün-rote Innenminister
Schily, der genau das mit initiiert hat, was die Grünen
nun mit dem Antrag „Keine Vorratsdatenspeicherungen
über den Umweg Europa“ so vehement von sich weisen
wollen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist es!)


Ich darf dazu aus der Süddeutschen Zeitung vom
13. März 2005 zitieren, kurz vor der Implosion der letz-
ten rot-grünen Bundesregierung:

Über den Umweg Brüssel

– das passt wie die Faust aufs Auge –

will Otto Schily seine im vergangenen Jahr auf
Bundesebene abgelehnten Pläne zur Datenspeiche-
rung doch noch durchsetzen.

Weiter heißt es:

Dabei gehe es darum, einen Rahmenbeschluss für
die Europäische Union … vorzubereiten, der den
Behörden im Kampf gegen Terror und Kriminalität
helfen soll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Lassen wir uns das doch einmal auf der Zunge zergehen.
Das ist doch die Wahrheit.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703504900

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Wieland?


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1703505000

Danke, es reicht schon, dass wir über diesen Antrag

diskutieren. Ich möchte diesen schönen Gedanken fort-
führen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Feigling! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwach!)


Vor allem: Wo war damals der Aufschrei der Grünen?


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den haben Sie nicht gehört? Der kam täglich!)


Wo war der Antrag damals? Warum haben die Grünen
nicht am 24. März 2005 beantragt „Keine Vorratsdaten-
speicherungen über den Umweg Europa“? Warum nicht
damals?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie weichen ja sogar einer Frage aus!)

Die Süddeutsche Zeitung hätte Ihnen damals doch mit
dieser passenden Formulierung eine Steilvorlage gelie-
fert.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hatten Tomaten in den Ohren!)


Aber nein, Sie haben geschwiegen. Wären die Grünen
doch besser auch heute kleinlaut geblieben!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


Denn es ist unredlich, was Sie heute machen. Es ist Hel-
dentum nach Ladenschluss, nichts anderes. Es soll
schamhaft vergessen machen, dass damals die entschei-
denden Weichen durch Rot-Grün selbst gestellt wurden.

Nochmals im Klartext: Die Innen- und Justizminister
in der EU haben damals eifrig einen Rahmenbeschluss
zur Vorratsdatenspeicherung vorbereitet, einen Rahmen-
beschluss, der tiefere Eingriffe in die Grundrechte vor-
sehen sollte als die schließlich erlassene Richtlinie. Mit-
tendrin, nein, vorneweg ein Innenminister Schily! Erst
als ein Rahmenbeschluss an der Einstimmigkeit zu
scheitern drohte, wurde umgeschwenkt. Wir sehen also:
Schon das Fundament des Antrags ist rissig. Es ist vor
allem auf Selbsttäuschung und Unglaubwürdigkeit auf-
gebaut.

Es wird nicht besser mit dem Antrag. Es ist schon
abenteuerlich, das Bundesverfassungsgericht zum Kron-
zeugen für einen Antrag zu machen, auf europäischer
Ebene loszulegen und die Richtlinie aufzuheben; denn
das Bundesverfassungsgericht hat gerade nicht die Not-
wendigkeit gesehen, einen Umweg über Europa zu ma-
chen. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Klar
und deutlich wird im Urteil dargestellt, dass die anste-
henden Fragen bezüglich der Vorratsdatenspeicherung
auf der Ebene des nationalen Rechts zu beantworten sind
und auch dort gelöst werden können. Dementsprechend
hat sich das Bundesverfassungsgericht bewusst entschie-
den, den Europäischen Gerichtshof nicht einzuschalten,
und auch, dass es keine Fragen gibt, die dem EuGH vor-
zulegen sind. Insofern ist zumindest die Überschrift des
Antrags gar nicht so falsch; denn wenn das Bundesver-
fassungsgericht keinen Umweg über Europa braucht,
dann brauchen wir ihn allemal auch nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das europäische Recht steht, und wir brauchen Europa
an dieser Stelle gar nicht zu strapazieren.

Es gibt eine geltende Richtlinie, bei der es im Übrigen
für den Europäischen Gerichtshof keinen Anlass zur Be-
anstandung gegeben hat. Damit haben wir eine europa-
rechtliche Grundlage. Sie gilt nach wie vor. Wir wer-
den uns daher mit dem Thema Vorratsdatenspeicherung
auch deshalb weiter befassen, weil es nach wie vor die
Verpflichtung gibt, die europäische Richtlinie in nationa-
les Recht umzusetzen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht überhaupt nicht fest!)






Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

Diesem Handlungsauftrag können und werden wir uns
nicht entziehen. Hierbei ist zu bemerken, dass die Richt-
linie ohne Zweifel dem nationalen Gesetzgeber einen
weiten Gestaltungsspielraum einräumt. Diesen Spiel-
raum werden wir ausfüllen. Hierzu ist es zunächst erfor-
derlich, sich genau anzusehen, welche Anforderungen an
eine verfassungsfeste Regelung zur Vorratsdatenspeiche-
rung zu stellen sind.

Es ist festzuhalten, dass das Bundesverfassungsge-
richt die Speicherung und Nutzung von Vorratsdaten
nicht schlechterdings untersagt hat. Im Gegenteil: Es
zieht sich wie ein roter Faden durch das Urteil, dass
grundsätzlich eine grundrechtsgerechte Ausgestaltung
der Vorratsdatenspeicherung möglich ist.

Nun geht es also darum, sorgfältig und natürlich unter
Berücksichtigung der grundgesetzlichen und grundrecht-
lichen Anforderungen eine neue gesetzliche Ausgestal-
tung für die Vorratsdatenspeicherung zu entwickeln.
Dementsprechend ist die gebotene Sorgfalt der entschei-
dende Maßstab auch für den Zeitplan.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Durch diese notwendige Sorgfalt wird auch ausrei-
chend Raum gegeben, positiv weiter über den Sinn der
Vorratsdatenspeicherung zu debattieren. Ja, ich habe die
Hoffnung, dass dieser Raum auch dazu dienen kann,
Fehlentwicklungen in den Debatten – ich betone: in
den Debatten und nicht in der Sache – zur Vorratsdaten-
speicherung zu beseitigen, deren Wurzeln auch ganz am
Anfang der Diskussion liegen und die wiederum eng mit
dem Auftreten und dem Vorgehen der damaligen rot-
grünen Bundesregierung verknüpft sind. Damals ist das
Thema virulent geworden, damals sind die grundlegen-
den Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen
worden.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vor-
ratsdatenspeicherung war nicht der Endpunkt einer Dis-
kussion. Im Gegenteil: Es ist der Auftakt für eine neue
Debatte entlang der durch das Urteil formulierten Krite-
rien für die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung.
Hinter dieser Zulässigkeit steht im Kern, dem Staat ef-
fektive Möglichkeiten zur Verfolgung schwerer Strafta-
ten an die Hand zu geben. Auch durch die aktuellen
Fälle wird die Notwendigkeit dafür gezeigt.

Diesen Weg werden wir gehen, und wir brauchen hier
keine Umwege über Europa. Wir gehen den geraden
Weg: hier in diesem Parlament mit dieser Regierungsko-
alition. Ich bin mir sicher: Wir werden unsere Schlüsse
aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil gemeinsam
ziehen und gemeinsam unsere Vorschläge dazu unter-
breiten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt wisst ihr es! So geht es!)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703505100

Das Wort hat nun Kollege Gerold Reichenbach für die

SPD-Fraktion.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1703505200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerin-
nen und Zuschauer! Die Debatte vonseiten der Koalition
erinnert mich ein bisschen an den Pfadfinder, der sich
beharrlich weigert, zu sagen, wo er hin will, weil er es
gar nicht weiß, und stattdessen den Betroffenen ständig
erklärt, wer sich wie und wo woanders auch schon ein-
mal verlaufen hat.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ihr Antrag erinnert mich an einen, der falsch abgebogen ist! – Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ich war Ministrant und kein Pfadfinder! – Manuel Höferlin [FDP]: Wir haben wenigstens einen Kompass!)


Lassen Sie mich festhalten: Die SPD-Bundestagsfrak-
tion begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts zur Vorratsdatenspeicherung, in der dem Ge-
setzgeber jetzt klare Grenzen für einen derartig schweren
Eingriff in die Rechte der Bürger aufgezeigt wurden.

Die SPD hat – und dazu stehen wir – die vom Bun-
desverfassungsgericht monierte Regelung in der Großen
Koalition mit verabschiedet. Wir ducken uns hier nicht
weg.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Wir haben uns in den schwierigen Abwägungsprozess
zwischen Sicherheit und Freiheit begeben, als damals
noch – das ist erwähnt worden – die Anschläge von
Madrid und die Anschlagsvorbereitungen in Deutsch-
land in den Köpfen der Bevölkerung und der Entschei-
denden präsent waren.


(Marco Buschmann [FDP]: Also Opportunismus!)


Es war uns allen klar, dass diese Abwägung zwischen
Sicherheit und Freiheitsrechten in einem freiheitlich-
demokratischen Staat sehr schwierig sein wird. Wir ha-
ben uns dieser Verantwortung gestellt, und wir werden
uns auch weiter dieser Verantwortung stellen und uns
nicht wegducken,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das bleibt abzuwarten!)


gerade auch vor dem Hintergrund, dass uns das Bundes-
verfassungsgericht an dieser Stelle klar gesagt hat: Ihr
habt dort Fehler gemacht.


(Marco Buschmann [FDP]: Da zeigt sich, wer nicht weiß, wohin!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist
immer einfacher, zu sagen, was man nicht will, als eine
Debatte durchzustehen und für ein Gesetz in die Verant-
wortung genommen zu werden. Jetzt stehen aber Sie in





Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)

der Regierungskoalition in der Verantwortung, und Sie
müssen sich positionieren.


(Christian Ahrendt [FDP]: Das haben wir doch gemacht!)


Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
nicht nur gesagt, welche zentralen Rahmenbedingungen
zum Schutz der Freiheitsrechte, zum Schutz der Freizü-
gigkeit und zum Schutz der Freiheit bei einem solchen
Eingriff für die Bürger gewahrt bleiben müssen, sondern
es hat auch den Spielraum für Regelungen eröffnet, mit
denen dem Sicherheitsbedürfnis entgegengekommen
wird.


(Manuel Höferlin [FDP]: Schön, dass Sie es gelesen haben!)


Eine unverhältnismäßige, anlasslose Datenspeicherung
auf Vorrat wird abgelehnt. Herr Staatssekretär und Frau
Bundesjustizministerin, Sie müssen aber eingestehen,
dass es für den Gesetzgeber durchaus Regelungsmög-
lichkeiten gibt. Dabei müssen natürlich die fundamenta-
len Freiheitsinteressen berücksichtigt und gewährleistet
werden, aber auch Sicherheitsinteressen abgedeckt wer-
den.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!)


Sie werden sich also schon die Mühe machen müssen,
Regelungen zu finden, die den Anforderungen der Frei-
heitsprinzipien unseres Grundgesetzes und der inneren
Sicherheit genügen.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Das wussten wir auch vorher!)


Sie scheinen sich aber wegducken zu wollen. Die
Hinhaltetaktik, die die Bundesregierung momentan
fährt, ist weder für die Gegner der Vorratsdatenspeiche-
rung noch für die Sicherheitsexperten nachvollziehbar.
Wie zu vernehmen ist, wollen Sie jetzt darauf warten, zu
welchem Ergebnis die Überprüfung der Richtlinie
durch die Europäische Union kommt. Damit können Sie
sich nicht herausreden. Sie müssen sich positionieren;
denn auch die Bundesregierung muss bei der Überprü-
fung der Richtlinie auf europäischer Ebene ihre Position
einbringen. Da frage ich mich eben nur, welche.

Ich darf die Äußerungen der Bundesjustizministerin
und des Bundesinnenministers zitieren. Sie sagt: „Ich
freue mich über das Urteil.“ Er sagt: „Bei dem Urteils-
spruch ist keine Freude aufgekommen.“ Sie sagt: „Wir
dürfen die Bedeutung der Vorratsdaten für die Terrorab-
wehr nicht überbewerten.“ Er sagt: „Wir müssen die Si-
cherheitslücke klug, maßvoll und zügig schließen.“ Sie
sagt: „Es ist nicht der Zeitpunkt für nationale Schnell-
schüsse.“ Er sagt, man müsse „klug und schnell han-
deln.“ Ich sage: Ja, was denn nun?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Halten Sie sich da raus! Sie können sich da nicht einfach einmischen!)


Welche Position wollen Sie denn bei der Überprüfung
der Richtlinie einbringen? Oder läuft das nach dem
Motto: Weil wir uns gerade nicht einigen können, lassen
wir die anderen europäischen Länder entscheiden und
schauen dann, was bei uns herauskommt?

Sie müssen sich übrigens nicht nur bei diesem Thema
der Debatte und der Abwägung stellen. Ich habe mir hier
in der Parlamentsdebatte die Redner von CDU/CSU und
FDP angehört – Frau Piltz wird das wahrscheinlich fort-
führen und mit dem Finger auf andere zeigen –


(Gisela Piltz [FDP]: Und das ja wohl zu Recht!)


und dabei gemerkt, dass das Spiel immer das gleiche ist:
CDU gegen FDP; FDP gegen CSU. Ansonsten verweist
die FDP auf das, was in der Vergangenheit passiert ist,
sagt aber nicht, was sie in Zukunft machen will. The
same procedure as every day.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn dazu?)


Sie müssen sich aber auch bei einem anderen Thema
der geforderten Abwägung der Verhältnismäßigkeit des
Eingriffs in die Grundrechte stellen, um notwendige Re-
gelungen treffen zu können, die die Sicherheitsbedürf-
nisse und die Bürgerfreiheiten wahren.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist die Aufgabe! Genau!)


Ich nenne das Beispiel SWIFT. Auch hier geht es um
die Weitergabe von zunächst einmal anlasslos gespei-
cherten Daten.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Deswegen haben wir es ja auch gestoppt!)


– Sie haben es gestoppt? – Wie verhielt es sich bei dem
vom Europäischen Parlament kassierten SWIFT-Ab-
kommen? Wir erinnern uns. Sie sagt: „Ich halte das auch
aus datenschutzrechtlicher Sicht für extrem bedenklich.“


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und was sagt er?)


Er sagt: Durchwinken!


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und was sagen Sie?)


Das ist wieder das Gleiche: Es gibt nur Nachrichten von
der schwarz-gelben Zankstelle, aber keinen Hinweis da-
rauf, wie Sie sich in Zukunft bei diesem Thema positio-
nieren wollen.


(Beifall bei der SPD – Sebastian Blumenthal [FDP]: Sie haben ja gar nichts zu sagen!)


Das Bundesverfassungsgericht fordert eindeutig und
klar, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer Datenspei-
cherung dem besonderen Gewicht des mit der Speiche-
rung verbundenen Grundrechtseingriffs Rechnung tra-
gen muss. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, dafür
zu sorgen, dem auch auf europäischer Ebene Geltung zu
verschaffen. Das gilt sowohl für die Überprüfung der
Vorratsdatenspeicherung als auch für das jetzige Mandat
für die Verhandlungen über ein zukünftiges SWIFT-Ab-
kommen.





Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)

Sie müssen sich im Parlament der Verantwortung
stellen, Freiheit und Sicherheit, Schutz der Bürgerrechte
und der Bürger nach den Vorgaben unserer Verfassung
auszutarieren. Es reicht nicht mehr – das werden wir
wahrscheinlich anschließend wieder bei Ihnen, Frau
Piltz, erleben –, zu sagen, was man nicht will, und an-
sonsten mit dem Finger auf die anderen zu zeigen.


(Beifall bei der SPD)


Sie sind in der Regierungsverantwortung. Sie müssen
sich dem stellen.

Wir werden eigene Anträge einbringen, in denen wir
deutlich machen, was nach unserer Vorstellung die Um-
setzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerich-
tes auch für die europäische Ebene bedeutet. Ich freue
mich auf die Debatte und darauf, dass Sie endlich einmal
sagen, was Sie wollen,


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Was Sie nicht gemacht haben!)


und nicht, was andere gemacht haben; denn das wissen
wir.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703505300

Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Latte ist hoch gelegt!)



Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703505400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ehrlich gesagt: Wenn Sie meinen, das war hoch gelegt,
dann haben Sie vom Sport keine Ahnung.


(Beifall bei der FDP)


Es ist schön, wenn man zu einem späteren Zeitpunkt
in der Debatte reden darf; denn dann kann man auch auf
die Kollegen eingehen. Herr Reichenbach, wie Sie hier
zu SWIFT und zur Vorratsdatenspeicherung sprechen,
macht deutlich, dass die SPD nach wie vor an politischer
Amnesie leidet. Denn Sie sind diejenigen, die entweder
nichts gemacht haben oder die Gesetze verabschiedet ha-
ben, nicht wir.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten es stoppen können!)


Sie tragen die politische Verantwortung für das, was Sie
gemacht haben. Auch das ist etwas, dem man sich stellen
muss. Wenn Sie hier so tun, als ob Sie nicht elf Jahre die-
ses Land regiert hätten, ist das ein billiges Gerede, hat
aber mit Politik nichts mehr zu tun.


(Beifall bei der FDP)


Wofür Ihre Abwägung von Freiheit und Sicherheit
steht, das sehen wir an dem, was in Karlsruhe gescheitert
ist. Frau Lambrecht, Sie haben ja öfter gefragt: Wieso,
weshalb, warum? Dazu ist mir eigentlich nur ein Satz
eingefallen – Christian Ahrendt und ich sind heute ziem-
lich fernsehbezogen –: Wieso, weshalb, warum,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer nicht fragt, bleibt dumm!)


die SPD verkauft uns hier für dumm.


(Beifall bei der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Ist das das neue Niveau der Koalition – das Niveau der Sesamstraße?)


Etwas anderes kann ich Ihnen heute angesichts dessen,
was Sie hier gemacht haben, nicht sagen. Stehen Sie ein-
fach einmal zu Ihrer Verantwortung!

Herr Korte, abschließend zu Ihnen. So eine Rede von
ihnen – ich meine „ihnen“ kleingeschrieben, nicht groß-
geschrieben; denn dafür sind Sie zu jung –, also von Ih-
rer Partei hätte ich mir vor 40 Jahren in der Volkskam-
mer gewünscht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von Abgeordneten der LINKEN: Oh!)


Nennen Sie mir einen sozialistischen Staat, der seine
Bürger nicht mehr oder weniger überwacht. Was Sie hier
machen, ist wirklich sehr durchsichtig.


(Christine Lambrecht [SPD]: Jetzt kommen Sie mal zur Sache, oder?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, als
eine der erfolgreichen Klägerinnen vor dem Bundesver-
fassungsgericht – Sie wissen das, weil wir uns da getrof-
fen haben – gegen die Vorratsdatenspeicherung brauche
ich von Ihnen keine Nachhilfe und muss mir von Ihnen
das Urteil auch nicht erklären lassen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703505500

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Korte?


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703505600

Ja, gerne.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703505700

Liebe Kollegin Piltz, Ihr Vorwurf war wirklich total

originell. Aber davon einmal abgesehen: Ich habe nicht
einmal im Zonenrandgebiet gewohnt. Das ist also völlig
absurd.

Aber jetzt einmal ganz ernsthaft. In der Tat finde ich
es richtig, sich immer wieder mit der Vergangenheit
auseinanderzusetzen. Das gilt dann jedoch für alle. Des-
wegen nur eine Frage: Hat denn insbesondere die FDP in
Nordrhein-Westfalen einmal substanziell ihre Vergan-
genheit aufgearbeitet, insbesondere in Bezug auf das
Personal in den 50er- und 60er-Jahren? Darüber sollten
Sie einmal diskutieren, und mich würde das Ergebnis
sehr interessieren. Sie kommen ja aus Nordrhein-Westfa-
len,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat denn die LDPD in der Volkskammer gemacht?)


und da waren reichlich führende Nazis in der FDP unter-
wegs.





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: LDPD!)



Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703505800

Herr Korte, ich persönlich finde das, was Sie jetzt ma-

chen, wirklich geschmacklos.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN)


Sie sprechen hier für eine Fraktion bzw. für eine Partei,


(Manuel Höferlin [FDP]: Die Rechtsnachfolger ist!)


die Leute, die aus ihrem Land fliehen wollten, an der
Grenze erschossen hat. Dafür ist niemand aus Nord-
rhein-Westfalen und niemand aus der FDP verantwort-
lich. Die Vergleiche, die Sie hier ziehen, sind wirklich
billig. Wenn Sie sich endlich einmal dazu bekennen wür-
den, dass Sie die Nachnachnachfolger der SED sind,


(Jan Korte [DIE LINKE]: Das haben wir nie bestritten!)


dann könnten Sie sich hier so äußern. Solange Sie das
nicht tun, haben Sie kein Recht, hier mit dem Finger auf
andere zu zeigen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Bundesverfassungsgericht hat – das ist ja der An-
lass – die nationale Umsetzung der Richtlinie für verfas-
sungswidrig erklärt. Es hat uns damit deutlich vor Augen
geführt, dass bei der Umsetzung europarechtlicher
Vorgaben genau dieselbe Abwägung in Bezug auf die
Verhältnismäßigkeit zu treffen ist wie bei Fragen natio-
naler Gesetzgebung. Der Gesetzgeber darf nicht einfach
sagen: Das kommt aus Europa, Augen zu und durch! –
Dessen ist sich diese christlich-liberale Koalition sehr
bewusst.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das klang aber mal anders!)


Der Gesetzgeber muss – auch dessen sind wir uns be-
wusst – bei jedem Gesetz die gleiche Sorgfalt walten las-
sen. Ich möchte den Bundesinnenminister zitieren, der
bei einer Veranstaltung in dieser Woche gesagt hat: Ins-
gesamt ist diese Gesellschaft bislang ganz gut damit ge-
fahren, dass der Gesetzgeber sich Zeit gelassen hat. Das
hat auch etwas Freiheitliches. – Da sind wir einer Mei-
nung mit ihm.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das der gemeinsame Nenner ist!)


Der Bundesinnenminister sagte weiter, dass mit man-
chen Einzeleingriffen das Vertrauen zwischen Gesetzge-
ber und Anwendern gefährdet werden könne, wenn das
Recht nicht systematisch und passend zur technischen
Entwicklung entwickelt wird. – Auch da sind wir einer
Meinung.


(Beifall bei der FDP)

– Jetzt wundert mich aber, dass die Kollegen von der
CDU/CSU gar nicht klatschen, wenn ich ihren Minister
zitiere.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei der Frage, ob und wie weit der Zugriff auf Tele-
kommunikationsverbindungsdaten zur Gefahrenabwehr
und Strafverfolgung im Internet notwendig ist, geht es
genau darum. Das Bundesverfassungsgericht hat da of-
fensichtlich auf überzeugendere Argumente gewartet
und solche auch immer angefordert; die Bundesregie-
rung hat sie leider nicht liefern können, weil – das muss
man hier auch einmal sagen dürfen – viele Beispiele, die
in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, an den Haaren
herbeigezogen sind. Deshalb lautet meine Bitte: Wenn
man Beispiele ins Feld führt, dann bitte solche, die wirk-
lich treffend sind!

Zu hören ist etwa, dass man Lawinenopfer jetzt nicht
mehr finden kann.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Was?)


– Der Kollege Herrmann aus Bayern hat von Lawinen-
opfern gesprochen. – Es wäre ein Armutszeugnis, wenn
wir dafür die Vorratsdatenspeicherung bräuchten. Das
macht man mit dem GPS-Signal, damit man ein solches
Opfer hoffentlich noch lebend findet und nicht erst nach
sechs Monaten weiß, wo die Leiche ist. Das wäre ein
bisschen spät für die Rettung.

Zu hören ist ferner, dass Stalking und Phishing nicht
mehr verfolgt werden könnten. Auch das ist ein Beispiel,
das sehr gern gebracht worden ist. Mir ist neu, dass diese
Taten Katalogstraftaten nach § 100 a StPO sind. Es war
bis heute nicht möglich, in solchen Fällen auf diese Da-
ten zuzugreifen. Insofern ist es unredlich, so zu tun, als
ob das jetzt zum Problem würde.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703505900

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Reichenbach?


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703506000

Wenn er Spaß daran hat.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1703506100

Frau Kollegin Piltz, ich mutmaße, Ihre Redezeit neigt

sich so langsam dem Ende zu.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703506200

Sie verlängern die Redezeit. Dafür bin ich Ihnen auch

sehr dankbar.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1703506300

Ja, eben; deswegen meine Zwischenfrage. – Nachdem

Sie nun ausreichend erklärt haben, was alle in der Ver-
gangenheit gemacht oder auch nicht gemacht haben,
frage ich Sie: Wären Sie bereit, diesem Parlament noch
vor Ende Ihrer Redezeit zu sagen, ob Sie der Auffassung
sind, dass die Bundesregierung noch vor der Sommer-
pause, also noch vor einer Revision der EU-Richtlinie
zur Vorratsdatenspeicherung, den Entwurf eines Geset-





Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)

zes zur Änderung der Regelungen zur Vorratsdatenspei-
cherung in den Bundestag einbringen oder auf diese Re-
vision warten oder ganz auf die Vorlage eines
Gesetzentwurfs verzichten soll?


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703506400

Geschätzter Herr Kollege Reichenbach, so wie ich

oder auch Sie wissen wir alle hier, dass wir gezwungen
sind, europäisches Recht in nationales Recht umzuset-
zen.


(Wolfgang Gunkel [SPD]: Eben haben Sie noch ganz was anderes gesagt!)


– Nein, das habe ich nicht. Wenn Sie hier sind, hören Sie
mir bitte richtig zu oder lassen Sie solche Zwischenrufe!
Das muss ich einfach einmal sagen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen höflicher!)


– Nein. Warum? Die gehen auch nicht höflich mit mir
um.


(Zuruf: Das hat auch einen Grund!)


– Das mag sein. Dass wir alles schuld sind, obwohl Sie
hier elf Jahre regiert haben, kann ich, ehrlich gesagt,
nicht mehr hören. Das muss man Ihnen auch einmal sa-
gen dürfen.


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Wir fragen nur, was Sie vorhaben! Was ist daran unhöflich?)


Das war ein Gesetz, das Ihre Ministerin gemacht hat. Sie
– nicht wir – haben es verabschiedet. Das sage ich Ihnen
so oft, wie Sie es hören wollen oder auch nicht hören
wollen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Was haben Sie jetzt vor?)


Ich bin es leid, dass Sie hier keine Verantwortung für das
übernehmen, was Sie gemacht haben.


(Beifall des Abg. Christian Ahrendt [FDP])


Aber es ist schön, dass ich das noch einmal sagen durfte.
Selber schuld!


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen Sie, Frau Piltz?)


– Wir analysieren das Urteil in aller Ruhe.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wunderbar! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben Ihnen dabei geholfen! Das haben Sie eben noch zurückgewiesen!)


Dann werden wir, die Fraktionen und die Regierung, das
tun, was wir für notwendig halten.


(Unruhe bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden Sie darüber rechtzeitig in Kenntnis setzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manuel Höferlin [FDP]: Gründlichkeit ist das Prinzip!)

Ich denke, das beantwortet Ihre Frage ganz klar.


(Anhaltende Unruhe)


– Eigentlich dachte ich, dass man sich sachlich damit
auseinandersetzt.


(Wolfgang Gunkel [SPD]: Beginnen Sie doch mal damit!)


– Bei Ihnen gab es leider nichts, mit dem ich mich sach-
lich hätte auseinandersetzen können. Deshalb wollte ich
über die Beispiele reden, die da immer so durch die Ge-
gend wabern.

Ich komme zu dem Beispiel mit den Flatrates. Wenn
jemand im Internet unterwegs ist, dann kann man ihn
selbstverständlich auch bekommen; denn wenn jemand
immer zur gleichen Zeit im Internet unterwegs ist, kann
man diese Daten heute selbstverständlich im Quick-
freeze-Verfahren einfrieren. Das wäre im wirklichen
Leben so, als wenn jemand sagen würde, dass er um elf
Uhr jedes Mal dieselbe Bank überfällt und die Polizei an
der nächsten Ecke steht.

Wir müssen sehr sorgfältig aufpassen, dass wir uns
mit solchen Beispielen nicht politisch zu Tode reden. Es
kommt darauf an, dass man sieht, was notwendig ist und
was man tun muss, mehr aber auch nicht.

An dieser Stelle komme ich auf das Zitat des Bundes-
innenministers zurück, das ich eingangs schon einmal
bemüht habe: Wir brauchen keine Einzeleingriffsbefug-
nisse, sondern einen vernünftigen und systematischen
Ansatz, der der Technik entspricht. – Wir glauben, dass
das Quick-freeze-Verfahren ein solcher Ansatz ist.

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir im Internet eine
Aufklärungsquote von 80 Prozent haben. Die Aufklä-
rungsquote im Internet ist übrigens viel höher als außer-
halb des Internets, wo sie bei nur 55 Prozent liegt.

Im Internet muss weiter ermittelt werden, aber tat-
angemessen, lageangemessen und technikangemessen.
Dazu gehören aus unserer Sicht zum Beispiel auch In-
ternetwachen, die auf direktem Wege ansprechbar sind.
Zudem können bei diesen in den Ländern die Kompeten-
zen gebündelt werden.

Wenn es aber nur in sieben von 15 Landeskriminal-
ämtern eigene Internetabteilungen gibt, dann gibt es si-
cherlich noch Verbesserungsmöglichkeiten auf der
durchführenden Ebene, die wir ausschöpfen müssen und
die wir ausschöpfen werden, um Kriminalität zu be-
kämpfen.

Für uns ist wichtig, dass wir in Europa die Evaluie-
rung begleiten, um zu sehen, ob das, was Europa ge-
macht hat, wirklich sinnvoll ist. Ich glaube, das steht je-
dem gut zu Gesicht. Man muss auch berücksichtigen,
dass das noch nicht in jedem Mitgliedstaat umgesetzt ist.
Ich bin mir mit dem Kollegen Grosse-Brömer einig: Wir
werden das so sorgfältig wie möglich und so schnell wie
nötig machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703506500

Das Wort hat nun Kollegin Petra Pau für die Fraktion

die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703506600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vorweg ein Satz an Sie, Kollegin Piltz: Richtig ist, der
Kollege Korte war nicht Mitglied der SED, aber ich war
Mitglied der SED.


(Gisela Piltz [FDP]: Ich habe gesagt: „ihnen“, klein, nicht „Ihnen“, groß!)


Aus einem schmerzhaften Auseinandersetzungspro-
zess mit der verfehlten Politik der SED, mit dem Schei-
tern des realen Sozialismus und auch aufgrund persönli-
cher Verantwortung, die ich in der DDR getragen habe,
bin ich zu der festen Überzeugung gekommen: Eine so-
zialistische Partei ist nur dann eine linke Partei, wenn sie
Bürgerrechte und Demokratie verteidigt und sich dafür
einsetzt. Das kann der Kollege Korte genauso für sich in
Anspruch nehmen, wie die Kollegin Jelpke und jeder an-
dere Kollege aus der Fraktion Die Linke das für sich in
Anspruch nehmen kann.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Warum haben Sie sich dann nicht neu gegründet? Dann hätten Sie einen schönen Schlussstrich gezogen!)


– Das könnte Ihnen so passen, dass wir einen neuen Na-
men wählen und uns neu gründen, aber nicht den Ruck-
sack der Geschichte tragen. Nein, mit diesem Rucksack
der Geschichte nehme ich mir heute das Recht, mich mit
politischen Tendenzen auseinanderzusetzen, die aus mei-
ner Sicht falsch sind.

Damit kommen wir jetzt einmal zum Thema. Das
Bundesverfassungsgericht hat die praktizierte Vorratsda-
tenspeicherung aller Telekommunikationsdaten für ver-
fassungswidrig erklärt. Das war gut für den Datenschutz
und wichtig für den Rechtsstaat.

Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, und das
erleben wir heute. Die Begehrlichkeiten nach immer
mehr persönlichen Daten sind ungebrochen. Das zeigen
die ersten Stellungnahmen nach dem Bundesverfas-
sungsgerichtsurteil, zum Beispiel die Stellungnahme von
Bundesinnenminister Thomas de Maizière.

Deshalb will Bündnis 90/Die Grünen mit dem aktuel-
len Antrag verhindern, dass die gerade gestoppte Vor-
ratsdatenspeicherung durch die EU-Hintertür wieder ein-
geführt und sogar noch ausgeweitet wird. Die Gefahr ist
real, und deshalb unterstützt die Linke den grünen An-
trag.

Zu alledem muss man die Vorgeschichte kennen. Vor
sechs Jahren debattierte der Bundestag erstmals über die
Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsver-
bindungsdaten. Der Bundestag lehnte seinerzeit, also
2004, dieses Ansinnen mit klarer Mehrheit ab.

Dann begann Kapitel 2 der Geschichte. Die damalige
Bundesregierung stampfte in Brüssel so lange mit den
Füßen, bis die EU-Kommission die Vorratsdatenspeiche-
rung verfügte, und zwar verbindlich für alle EU-Mit-
gliedstaaten. Das war 2006.

Kapitel 3 ist genauso schnell erzählt. Die damalige
Regierungskoalition, wieder bestehend aus CDU/CSU
und SPD, beschloss 2007 im Bundestag die noch kurz
zuvor einhellig abgelehnte Vorratsdatenspeicherung.
Man berief sich dabei auf die Europäische Union, quasi
auf einen höheren Notstand.

Kapitel 4 und 5 waren von der CDU/CSU und von der
SPD so nicht erwartet worden. Erst formierte sich unter
dem Kürzel „Vorratsdatenspeicherung“ eine bundes-
weite Bürgerrechtsbewegung. Sie drohte obendrein mit
Massenklagen beim Bundesverfassungsgericht. Dann
entschied das Bundesverfassungsgericht nach einer
Klage gegen den EU-Vertrag von Lissabon, dass EU-
Recht mitnichten deutsches Recht breche, jedenfalls
nicht, wenn dies gegen das Grundgesetz verstoße. Das
war 2009. Erfolgreich geklagt hatte übrigens die Linke.

Kapitel 6 fand am 2. März 2010 ein vorläufiges Ende.
In seinem Urteil erklärte das Bundesverfassungsgericht
die praktizierte Vorratsdatenspeicherung aller Telekom-
munikationsdaten für verfassungswidrig und das ent-
sprechende Gesetz für null und nichtig.

Umgehend folgte Kapitel 7. Während die einen das
Urteil des Verfassungsgerichts als Erfolg für den Rechts-
staat priesen, bliesen die anderen sofort zur nächsten At-
tacke. Und wieder droht der Trick aus Kapitel 2, nämlich
der Umweg über die EU-Instanzen.

Deshalb möchte ich anmerken: Wer unentwegt nach
Wegen sucht, verbriefte Bürgerrechte auszuhebeln, der
missachtet die Bürgerinnen und Bürger, gefährdet die
Demokratie und lanciert die Europäische Union in eine
zwielichtige, bürgerferne Ecke. Ich halte das für gefähr-
lich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun fordert der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
– ich zitiere: –

Die Bundesregierung möge auf der europäischen
Ebene Vorhaben, die Vorratsdatenspeicherungen
vorsehen, energisch … entgegentreten.

Ich hätte in diesem Antrag gern ein Wörtchen mehr,
nämlich „alle“ Vorhaben. Stichworte wie ELENA, elek-
tronischer Personalausweis oder elektronische Gesund-
heitskarte gehören dazu. Deshalb fordert die Linke im
Übrigen immer noch ein Moratorium für all diese elek-
tronischen Großprojekte.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703506700

Das Wort hat nun Wolfgang Wieland für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703506800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der

Haushaltsdebatte vergangene Woche wurde ich aus den
Reihen der Union von den Kollegen Brandt und
Binninger kritisiert: Immer nur auf die FDP einschlagen
– wo bleiben eigentlich wir? – Das war offenbar eine ge-
fühlte Missachtung durch Nichterwähnung. Ich will sie
heute wieder gutmachen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In der Tradition meiner Fraktionsvorsitzenden, die
diese Woche schon Richard von Weizsäcker gelobt hat,
will ich herausragende Konservative loben. Da ist zum
einen Ernst Benda, seinerzeit Bundesinnenminister und
von mir noch Bunker-Benda genannt, weil es die Zeit
der Notstandsgesetzgebung war. Später hat er uns als
Präsident des Bundesverfassungsgerichts alle mit dem
wegweisenden Volkszählungsurteil überrascht, das das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung erstmals
festgeschrieben hat und den schönen Satz enthielt, dass
es keine Vorratsdatensammlungen ins Blaue geben
dürfe. Wir bleiben bei diesem Satz. Das ist unsere grund-
sätzliche Haltung geblieben. Das war so unter Rot-Grün,
Herr Kollege Heveling. Otto Schily hat sich unter Rot-
Grün nicht durchgesetzt. Deswegen haben wir die Be-
schlüsse, die die Kollegin Pau zitiert hat, hier im Plenum
mit Mehrheit gefasst. Wir wollen keine Vorratsdaten-
speicherung. Aus eigenem Erleben sagen wir: Wir wol-
len sie erst recht nicht auf dem Umweg über Brüssel.
Dabei bleibt es.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber es gibt noch mehr Persönlichkeiten. Roman
Herzog schuf als Gerichtspräsident die Brokdorf-Ent-
scheidung, und last, but not least hat Hans-Jürgen Papier
das gemacht, was Jutta Limbach die permanente „verfas-
sungsgerichtliche Nachhilfe“ nennt. Das bezog sich auf
die Rasterfahndung, den großen Lauschangriff,


(Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär: Onlinedurchsuchung!)


die Onlinedurchsuchung – danke, Herr Kollege Stadler.
Wir waren immer dagegen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So geht es nicht!)


– Es ist doch nett, wenn ein Parlamentarischer Staats-
sekretär an seine gute Vergangenheit als Bürgerrechtler
auch dann denkt, wenn er auf der Regierungsbank ist. –
Zum Schluss ist die Vorratsdatenspeicherung zu nennen.
Sie haben nicht etwa gesagt, das seien starke Urteile
durch starke Richterpersönlichkeiten, sondern Sie haben
gestöhnt und den Untergang der Rechtsordnung und das
Ende der Strafverfolgung vorausgesagt – so auch beim
letzten Urteil; Beispiele wurden genannt. Der Innenaus-
schussvorsitzende Bosbach hat sogar behauptet, Stalking
könne nun nicht mehr verfolgt werden. Dies ist ein abso-
luter Unsinn. Das ist Ihre Methode.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren von der Union, Sie haben
leider noch nicht gelernt – da sind Sie in gewisser Weise
unbelehrbar –, dass es nicht nur Sicherheit durch den
Staat, sondern auch Sicherheit vor dem Staat geben
muss. Bei Ihnen geht es immer nur in Richtung Ver-
schärfung. Es gibt keine Sättigungsgrenzen bei Ihren
Kampagnen mit der Angst und der inneren Sicherheit.
Weil uns die Kollegin Piltz zur Sesamstraße geführt hat,
sage ich Ihnen: Wie das Krümelmonster nach Keksen
ruft, so rufen Sie ständig nach neuen Gesetzen. Das ist
unersättlich, das ist unerträglich. Das waren die wahren
Worte zur CDU/CSU, die Sie angefordert hatten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir geben natürlich zu, Frau Kollegin Piltz, dass man
es mit diesem Koalitionspartner schwer hat. Aber es war
doch Ihre Traumhochzeit. Sie wussten doch aus der Nah-
beobachtung über Jahre, mit wem Sie da zusammenge-
hen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir sind sehr glücklich zusammen!)


Dennoch haben Sie keinen Ehevertrag mit Nägel und
Köpfen gemacht, sondern eine völlig schwammige Ver-
einbarung getroffen, die so war, dass der Innenminister
– gerade 14 Tage im Amt – auf der Herbsttagung des
BKA erklärte – ich zitiere den Behörden Spiegel, der nun
wirklich kein linksradikales Blatt ist –:

Das Wichtigste fürs BKA kam zum Schluss. Die
Neuregelung des BKA-Gesetzes bleibt in allen
Punkten bestehen. Damit kriege die Polizei, so
de Maizière, was sie brauche.

Ich stelle fest: Es gibt 100 Prüfaufträge in Ihrer Koali-
tionsvereinbarung und einen Minister, der sagt: „Das al-
les gilt überhaupt nicht.“ Letzte Woche wurde hier eine
Evaluierung angekündigt. Die Evaluierungscrew rings
um Eckart Werthebach wurde auf dieser Tagung des
BKA offenbar spontan zusammengestellt. Keine bürger-
rechtliche Komponente und keine Wissenschaftskompo-
nente sind vorgesehen. Dies alles, auch die Evaluierung,
ist doch eine Farce. Auch wie Sie sich hier behandeln
lassen, ist eine Farce.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie, liebe Frau Piltz, sind – das wissen wir – ein gro-
ßer Fan von Düsseldorfer Vereinen. Deswegen sage ich
in der Sprache der Fans: Wir erwarten nicht viel; aber
wir wollen Sie wenigstens kämpfen sehen.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das Gleiche gilt für das Gesetz zu Internetsperren im
Zusammenhang mit Kinderpornografie.


(Zuruf der Abg. Gisela Piltz [FDP])


– Hören Sie doch mal zu. – Sie schreiben in Ihrer Koali-
tionsvereinbarung, das Gesetz werde ein Jahr lang aus-





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)

gesetzt. Im Januar dieses Jahres schreibt das Haus
de Maizière im Zusammenhang mit dem Haushalt 2010
an das Parlament – ich zitiere –:

Aufgrund der besonderen Bedeutung des Internets
in diesem Deliktsbereich beschreitet das BKA in
der Umsetzung des sogenannten Access Blocking
einen in Deutschland bislang nicht verfolgten Be-
kämpfungsansatz.

Das heißt, im BKA und im Innenministerium ist nicht
angekommen, dass Sie das Gesetz angeblich gestoppt
haben. Schon die zweite Reihe der Abgeordneten – Kol-
lege Wellenreuther oder wer auch immer – sagt, ein Jahr
sei Ruhe, dann wolle man es aufs Neue haben. Von daher
sage ich: Sie kannten Ihren schwierigen Partner. Sie hät-
ten ganz anders mit ihm verhandeln müssen. Dann hät-
ten Sie ganz andere Dinge vorzuweisen als das, was bis-
her vorgelegt wurde.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703506900

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703507000

Ein Letztes, Herr Präsident.

Sie wollen ja keine Ratschläge hören, wie Sie vorhin
gesagt haben. Ich gebe Ihnen dennoch einen; so nett bin
ich. Mein Rat zum Schluss: Speichern Sie auf Vorrat Be-
sonnenheit und Vernunft. Aber hören Sie auf mit der
Vorratsdatenspeicherung.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703507100

Das Wort hat nun Michael Frieser für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1703507200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Der Kollegin Piltz kann ich nach eigenem
Bekunden nicht nur in der Ausschussdiskussion, sondern
auch sonst im Parlament sehr wohl bestätigen, dass sie
zum Kämpfen nicht nur bereit ist, sondern dies auch tut,
wenn es um ihre Themen und ihre Ansätze geht.


(Beifall bei der FDP)


Insofern, Herr Wieland, besteht auch an dieser Stelle
keine Notwendigkeit zur Nachhilfe.

Wenn man allein den Titel des Antrages „Keine Vor-
ratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“ liest,
dann wird klar, dass wir noch eine Flut von Anträgen aus
dieser Ecke zu erwarten haben. Ich warte noch immer
gespannt auf einen Antrag „Keine Sozialistische Interna-
tionale auf dem Umweg über Europa“ und bin gespannt,
zu sehen, wie die Grünen einen solchen Antrag begrün-
den werden.
Leider Gottes muss man immer wieder das Prinzip
der pädagogischen Wiederholung anwenden. Man muss
folgende Tatsche immer wieder betonen – ich hoffe, wir
können wenigstens das festhalten –: Das Bundesverfas-
sungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung nicht
gänzlich für verfassungswidrig erklärt. Das ist der erste
Punkt, den wir festhalten müssen.

Beim zweiten Punkt müssen wir etwas genauer hinse-
hen. Sie versuchen immer wieder, den Eindruck zu er-
wecken – Herr Wieland, das nehme ich Ihnen fast per-
sönlich übel –,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na!)


der Staat würde diese Daten sammeln.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der moderne Staat lässt sammeln! Das macht er nicht selbst!)


Dieser Eindruck ist nicht nur falsch, sondern Sie behaup-
ten das wider besseres Wissen. Diese Daten werden
nicht vom Staat gesammelt. Sie fallen ohnehin an. Das
muss man deutlich sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Von daher ist der Denkansatz im Antrag der Grünen ver-
kehrt, weil davon ausgegangen wird, dass alle Menschen
unter Generalverdacht gestellt werden. Das ist definitiv
nicht der Fall.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Daten sind ohnehin vorhanden. Es geht also nicht
darum, die Menschen unter Verdacht zu stellen. Ich bitte
Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.

Über den Umgang mit Sicherheitslücken haben wir
uns schon ausgetauscht. Ich glaube, man sollte das eine
oder andere Beispiel noch einmal anführen. Frau Kolle-
gin Piltz, in einer Koalition kann man gerne auch mal
unterschiedlicher Auffassung sein, beispielsweise bei
der Frage des dringenden Bedarfs. In dieser Hinsicht
brauchen wir von der SPD keine Nachhilfe. Denn das,
was die Koalition aufgrund dieses Diskurses aushalten
muss, erlebt die SPD innerhalb ihrer eigenen Reihen. Ihr
braucht also keinen anderen dazu, um etwas aushalten zu
müssen.

Reden Sie mit dem BKA, dann wissen Sie, um wel-
che Beispiele es geht. Es geht beispielsweise darum,
dass sich Pädophile im Chat damit brüsten, dass sie Wo-
chenende für Wochenende ihre minderjährigen Kinder
missbrauchen. Unter der Woche ist das BKA nicht in der
Lage, auf die Daten zurückzugreifen, um dagegen einzu-
schreiten, weil die Daten nicht mehr vorhanden sind.
Dem wollen wir einen Riegel vorschieben. Deshalb
brauchen wir eine verfassungsgemäße Umsetzung der
Vorratsdatenspeicherung. Ich bin der Überzeugung, wir
können und werden das auch tun. Es ist nun einmal eine
Tatsache, dass eine Sicherheitslücke besteht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich bin schon immer ein Verfechter eines gesunden
Misstrauens gegenüber dem Staat gewesen. Natürlich





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

gibt es in dieser Hinsicht Sorgen und Ängste; denn wir
haben eine lange Tradition. Ich spiele damit zum Bei-
spiel auf die Tradition der SED an. Seit Metternich mit
seinem Bespitzelungsstaat bis hin zur dunkelsten Ge-
schichte der DDR gilt: Es ist richtig, vorsichtig zu sein
und ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Staat zu
haben und sich zu fragen, ob er eventuell zu viel Infor-
mationen hat und wofür er sie eigentlich braucht.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Im Ergebnis geht es darum, die Interessen abzuwä-
gen, nämlich die Wahrnehmung von Strafverfolgung auf
der einen Seite und der Garantiepflicht des Staates auf
der anderen Seite.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen geht immer der Staat vor!)


Der Bürger hat einen Anspruch darauf, dass der Staat ihn
bestmöglich schützt. Deshalb kommt es darauf an, dass
wir bei dieser Frage mit Augenmaß, aber auch zügig
handeln. Wir können auf den Innenminister verweisen.
Er will entsprechende Regelungen zeitnah auf den Weg
bringen und umsetzen. Ich bitte dringend darum, dass
wir nicht dieses diffuse Gefühl der Überwachung und
der ständigen Sammelwut des Staates bedienen, nur weil
es im Augenblick ins parteipolitische Kalkül passt. Das
ist der falsche Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Bundesverfassungsgericht sagt das!)


– Herr Montag, zu Ihnen komme ich noch, keine Angst.

Gemäß dem pädagogischen Prinzip der Wiederholung
stelle ich Folgendes fest: Wir haben Sicherheitslücken.
Ich bitte Sie, es nicht nur dem BKA, sondern auch den
jeweiligen Fraktionen zu überlassen, sich mit dieser
Frage zügig zu beschäftigen, damit die Defizite behoben
werden können.

Es reizt mich, noch eine Bemerkung zum Thema
„Sperren und Löschen“ zu machen. Herr Kollege
Montag, Sie sagen, dass man dem BKA-Präsidenten des-
halb nicht trauen darf, weil er sich früher für das Sperren
von Internetseiten ausgesprochen hat. Für die Union
kann ich sagen: Weil es um kinderpornografische Seiten,
um Straftaten höchsten Ausmaßes geht, werden wir alles
tun, was in unserer Macht steht, um solche Straftaten zu
verhindern, egal auf welchem Weg.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur das Falsche! Das ist das Problem!)


Wenn das durch eine Sperre erreicht werden kann, dann
sperren wir eben. Wenn wir das durch Löschen errei-
chen, dann löschen wir.

Herr Montag, Sie sagen, Sie wollen nicht sperren. Das
erinnert mich an das Beispiel der roten Ampel. Eine rote
Ampel kann man auch überfahren. Sie soll aber davor
warnen, dass man, wenn man sie überfährt, eine Ord-
nungswidrigkeit, eine Straftat begeht. Ich halte diesen
Vergleich für absolut stichhaltig.

(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein hanebüchenes Beispiel!)


Im Ergebnis kann ich nur sagen: Wir haben den Auf-
trag, das zu tun, was in unserer Macht steht, damit wir
solchen Straftaten begegnen können. Das ist bei der
Frage der Sperrung und bei der Frage der Vorratsdaten-
speicherung so. Wir wollen den Staat nicht in die Lage
versetzen, alles und jeden zu überwachen, im Gegenteil.
Aber dort, wo Daten ohnehin anfallen, sollten wir sie ef-
fektiv ausnutzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Sehr gut! Genau das!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703507300

Das Wort hat nun Eva Högl für die Fraktion der SPD.


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1703507400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Piltz, Sie haben Ihre Redezeit mit Beschimpfungen
und alten Hüten gefüllt. Wir wollten aber von Ihnen hö-
ren, was Sie zu tun gedenken,


(Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


was Sie in Sachen Vorratsdatenspeicherung vertreten.
Frau Kollegin, dazu habe ich leider, obwohl Sie sehr
lange gesprochen haben, kein einziges Wort gehört.


(Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Da müssen Sie durch!)


– Da muss ich durch, sagen Sie. Das finde ich einiger-
maßen interessant. Sie regieren, und ich muss da durch,
dass Sie keine Konzepte haben.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Da müssen wir alle durch! Leider! Das ist das Problem!)


– Da müssen wir alle durch. Auch die Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland und in Europa müssen da durch,
dass Sie keine Konzepte haben.

Frau Kollegin, Sie haben gesagt, Sie analysieren erst
einmal und warten ab, was aus Europa kommt.


(Gisela Piltz [FDP]: Das habe ich nicht gesagt! Da haben Sie leider nicht richtig zugehört!)


Das ist zu wenig. Wir wollen hier in Deutschland über
Ihre Konzepte diskutieren. Das Bundesverfassungsge-
richt hat im Übrigen über ein deutsches Gesetz geurteilt.
Sie haben dagegen geklagt, und deswegen sind Sie jetzt
gefordert.

Trotz des desaströsen Auftretens der Koalition bin ich
eine Optimistin; das will ich hier einmal zum Ausdruck
bringen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, aber
auch die Gesamtlage in Europa bieten eine Chance, dass
Datenschutz und Bürgerrechte wieder eine größere Rolle
spielen.


(Gisela Piltz [FDP]: Genau! Mehr als bei Ihnen!)






Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

Ich finde, wir sollten diese Chance jetzt ergreifen. Dass
es sie gibt, meine ich sehr ernst.


(Gisela Piltz [FDP]: Mehr als in Ihrer Zeit!)


Ich bin sehr dankbar dafür, dass das unermüdliche
Engagement von Datenschützerinnen und Datenschüt-
zern, von engagierten Parlamentarierinnen und Parla-
mentariern, aber auch von den Gerichten – Sie, Herr
Kollege Wieland, haben auch Konservative genannt, die
dabei waren – dazu beiträgt, dass Gesetze überprüft wer-
den und wir zu einer guten Balance zwischen Bürger-
rechten und den notwendigen Sicherheitsgesetzen kom-
men.

Ich will auf die Internetsperren und SWIFT zu spre-
chen kommen. Wir haben gezeigt, wie mit einer enga-
gierten Auseinandersetzung die richtigen Akzente ge-
setzt werden können und die notwendige Balance
zwischen den Maßnahmen und der Wahrung der Bürger-
rechte geschaffen werden kann. Das führt dazu, dass ich
optimistisch bin.


(Gisela Piltz [FDP]: Was haben Sie denn bei SWIFT getan? – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit ELENA?)


Es gibt noch einen anderen Grund, nämlich Europa.
Auch Europa fordert eine Neubewertung dieser Gesetze.
Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, zu einer Neubewer-
tung zu kommen. Der Vertrag von Lissabon ist eine wei-
tere Chance; denn er bietet eine hervorragende Grund-
lage für mehr Grundrechte und mehr Datenschutz.

Wir haben die Grundrechtecharta. Darüber wird viel
zu wenig diskutiert, und sie wird viel zu wenig beachtet.
Die Grundrechtecharta ermöglicht es, dass wir unsere
Gesetze und eben auch die Richtlinie zur Vorratsdaten-
speicherung noch einmal überprüfen und vielleicht zu ei-
ner neuen Abwägung kommen.

Frau Kollegin Piltz und liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von den Koalitionsfraktionen, Europa läuft nicht
von selbst. Auch eine Überprüfung durch die Europäi-
sche Kommission läuft nicht von selbst. Man muss sich
positionieren. Man muss Europa gestalten und sagen,
was man möchte. Man kann nicht einfach bis zum
Herbst warten und schauen, was aus Richtung Europa
kommt. Wir erwarten von Ihnen und der Bundesregie-
rung, dass Sie sagen, was Sie in Europa gestalten wollen.

Ich will in diesem Zusammenhang noch einen Satz zu
Europa und zu den Parlamenten sagen – auch das halte
ich für wichtig –: Der Vertrag von Lissabon stärkt die
Parlamente. Darüber haben wir hier im Deutschen Bun-
destag schon öfter diskutiert. Darüber sind wir auch sehr
froh. Das Europäische Parlament hat uns vorgemacht,
nämlich bei der Abstimmung über SWIFT, wie man die
Rechte des Parlaments nutzt, wie man sich deutlich äu-
ßert und klar Position bezieht. Daran können wir uns
hier im Deutschen Bundestag ein Beispiel nehmen. Ich
finde – das sage ich als Europapolitikerin –, wenn wir
klare Akzente bei Bürgerrechten, Datenschutz und
Grundrechten setzen, dann tragen wir dazu bei, dass Eu-
ropa von den Bürgerinnen und Bürgern besser akzeptiert
wird, dass es positiv bewertet wird, weil auf der europäi-
schen Ebene Bürgerrechte nicht wie ein Stiefkind behan-
delt werden, sondern der zentrale Maßstab für unsere
Politik sind.

Ich sage es noch einmal: Jetzt ist die Bundesregierung
gefragt. Ich habe eben schon gesagt, dass ich Optimistin
bin, dass es jetzt ein Zeitfenster und eine Chance für
mehr Bürgerrechte gibt. Ich bin aber keinesfalls optimis-
tisch, wenn ich auf die Politik der Koalitionsfraktionen
und der Bundesregierung schaue. Da bin ich sehr skep-
tisch.

Die Bundesjustizministerin – Sie ist heute leider nicht
da –


(Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär: Sie ist im Bundesrat!)


– genau, das ist auch richtig; Herr Staatssekretär, Sie sind
ja da – betont bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie
wichtig ihr Bürgerrechte sind. Aber wir brauchen Taten.
Wir lesen Sonntagsreden und Presseerklärungen, aber Ta-
ten haben wir bisher nicht gesehen. Ich sehe nicht – auch
das muss ich sagen –, dass sich die Justizministerin in der
Koalition durchsetzen kann. Kollege Reichenbach hat
dargelegt, was die FDP und die Justizministerin vertreten
bzw. was CDU/CSU und der Innenminister vertreten. Das
passt nicht zusammen; das konnten wir heute in der De-
batte wieder sehen. Sie haben sich ja sogar beklagt, dass
Ihr Koalitionspartner nicht applaudiert, wenn Sie zu dem
Thema reden und sogar den Minister zitieren.


(Gisela Piltz [FDP]: Wenigstens meine Fraktion hat geklatscht, was bei Ihrer nicht der Fall ist!)


Wir konnten auch beim SWIFT-Abkommen beobach-
ten, dass sich die Justizministerin leider nicht durchset-
zen konnte und dass Bürgerrechte nicht großgeschrieben
werden.


(Gisela Piltz [FDP]: Wo klatscht jetzt Ihre eigene Fraktion?)


Wir werden Sie an Ihren Taten messen. Herr Kollege
Ahrendt, Sie haben gesagt – ich sehe ihn gerade nicht,
ich weiß nicht, ob er noch anwesend ist –: Wir haben die
Richtlinie nicht gewollt. Sie haben gegen das deutsche
Gesetz geklagt. Sie haben jetzt die Chance, zu handeln.
Wir werden ganz gespannt verfolgen, wie Sie handeln.
Wir werden auch hier im Deutschen Bundestag weiter
engagiert darüber diskutieren.


(Gisela Piltz [FDP]: Darauf freuen wir uns!)


Wir als SPD werden Sorge dafür tragen, dass Bürger-
rechte und Datenschutz großgeschrieben werden, und
das nicht nur in Deutschland, sondern auch auf der euro-
päischen Ebene.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Sie waren offensichtlich in den letzten Jahren im Dramatikkurs!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703507500

Das Wort hat nun Clemens Binninger für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1703507600

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Am Ende der Debatte kann man feststellen – das wird
niemanden überraschen –, dass zwischen uns, zwischen
den einzelnen Fraktionen, große Unterschiede und zwi-
schen den Regierungsfraktionen vielleicht kleine Unter-
schiede bestehen. Das ist aber nichts Neues. Eines würde
ich mir für die Zukunft wünschen: Bei diesem Thema
– kein Redner der Opposition hat sie in dieser Debatte
auch nur einmal erwähnt – müssen wir auch über die Op-
fer reden, um die es geht, wenn wir Straftaten aufklären
und verhindern wollen. Sie haben unsere Aufmerksam-
keit verdient. Wir müssen auch sie betrachten und dürfen
nicht so tun, als ob es sie nicht gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir auch!)


Die Freiheit im Internet und auch alles andere Posi-
tive, was das Internet bietet, sind wichtig. Sie tun gerade
so, als ob die Vorratsdatenspeicherung ein Selbstzweck
wäre. Das ist sie nicht. Ich will darauf hinweisen, dass
große Teile der Bevölkerung von Ihnen ein Stück weit
verunsichert werden


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist es!)


mit der unterschwelligen Mutmaßung, dass der Staat
diese Daten speichert. Der Staat speichert überhaupt
keine Daten.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen wir!)


Diese Daten fallen, ob mit oder ohne Gesetz, bei den Te-
lefonanbietern und bei den Internetprovidern an. Sie fal-
len in jedem Fall, auch heute ohne Gesetz, an. In dem
entsprechenden Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung war
vorgesehen, die Anbieter zu verpflichten, die Daten ein-
heitlich zu speichern


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In verfassungswidriger Art und Weise!)


und nicht nach einem Tag, einer Woche oder drei Mona-
ten zu löschen, wie es in der Vergangenheit der Fall war.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es war verfassungswidrig!)


Nur bei Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für
Straftaten und Gefahren darf der Staat unter Hinzuzie-
hung eines Richters auf die Daten zugreifen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es war verfassungswidrig!)


Ich finde, das ist ein kolossaler Unterschied zu dem Bild,
das Sie hier zeichnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703507700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Montag?


Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1703507800

Jederzeit. Ich hatte eigentlich mit Kollegen Wieland

gerechnet, aber ich akzeptiere auch Zwischenfragen von
anderen Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703507900

Danke sehr, Herr Präsident, und Dank auch an Sie,

Herr Kollege Binninger. – Sie haben hier zu Recht ange-
sprochen, dass die Daten nicht beim Staat gespeichert
werden; das hat auch nie jemand behauptet. Wir sagen
immer: Der Staat lässt speichern. Dem werden Sie ja
nicht widersprechen.

Sie haben gerade gesagt, bei der Vorratsdatenspeiche-
rung seien sowieso nur die Daten gespeichert worden,
die angefallen sind. In dem Zusammenhang frage ich
Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass es
im Rahmen der Beratungen eines Gesetzentwurfs in der
letzten Legislaturperiode – auch da waren Sie in Regie-
rungsverantwortung – um die Frage ging: Wie regeln wir
die Kosten, die die Unternehmen durch die Vorratsdaten-
speicherung haben? Dazu hatte der Rechtsausschuss eine
Sachverständigenanhörung durchgeführt. Dabei waren
Vertreter aller großen, aber auch kleinerer Firmen, die
zur Speicherung von Daten verpflichtet sind. Ich habe
sie alle persönlich gefragt: Stimmt die Behauptung, dass
Sie jetzt verpflichtet sind, die Daten, die sowieso bei Ih-
nen anfallen, zu speichern? – Alle haben mir gesagt
– das steht auch so im Protokoll –: Das ist falsch. Wir
müssen nach den Regelungen zur Vorratsdatenspeiche-
rung viel mehr Daten und viel länger speichern, sogar
solche Daten, die bei uns überhaupt nicht anfallen wür-
den, wenn wir keine entsprechenden Routinen und Pro-
gramme einführen würden.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das ist doch ein Widerspruch in sich!)


Ich frage Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass der Bundestag längst darüber informiert ist,
dass es nicht stimmt, dass nur die Daten, die sowieso an-
gefallen sind, gespeichert worden sind?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1703508000

Herr Kollege Montag, ich bin nicht bereit, das zur

Kenntnis zu nehmen. Ich habe gesagt – wenn Sie mir ge-
nau zugehört hätten, wüssten Sie das –: Daten, die beim
Betrieb anfallen. Es ist richtig, dass viele Provider ange-
sichts der technischen Entwicklungen und auch der Ein-
führung von Flatrates gesagt haben: Daten, die wir früher
gebraucht haben, zum Beispiel für Rechnungen – damals
hat sich übrigens niemand gestört oder verfolgt gefühlt,
dass alle möglichen Daten für drei, vier, fünf, sechs Mo-
nate zur Ermittlung von Tarifmodellen gespeichert wur-
den –,





Clemens Binninger


(A) (C)



(D)(B)


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja auch nicht in staatlichem Auftrag!)


brauchen wir heute zum Teil nicht mehr, weil wir Flatra-
tes eingeführt haben. – Beim Betrieb fallen diese Daten
trotzdem an, auch wenn sie von vielen Providern sofort
gelöscht werden.

Insofern ist das für uns keine Veranlassung, zu sagen:
Ihr müsst jetzt neue Daten, die beim Betrieb nicht anfal-
len würden, generieren und uns bereitstellen. Hier geht
es um Daten, die beim Betrieb von Telekommunika-
tionsnetzen, bei der Nutzung von E-Mail und Internet
anfallen. Ich bestreite nicht, dass viele Provider sagen:
„Wir brauchen diese Daten nicht“ und sie sofort löschen.
Aber beim Betrieb fallen diese Daten, wie gesagt, an.

Was wir in diesem Hause brauchen, ist ein gemeinsa-
mes Verständnis. Die Internettechnologie schreitet immer
weiter voran, und jeder von uns hat einen Bezug zu die-
sem Medium. Dennoch müssen wir zur Kenntnis neh-
men, dass das Internet – trotz all seiner positiven Eigen-
schaften und bei der Freiheit im Internet, die wir wollen –
leider auch ein Tatraum ist, in dem bestimmte Straftaten
begangen werden.

Da wir für die Arbeit der Sicherheitsbehörden verant-
wortlich sind, müssen wir ihnen die Instrumente an die
Hand geben, die sie brauchen, um bei schweren Strafta-
ten im Internet zu ermitteln. Das muss der Konsens sein,
auf dessen Grundlage wir über dieses Thema diskutie-
ren. Das ist der Ausgangspunkt unserer Überlegungen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703508100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen von Notz?


Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1703508200

Es ist leider immer noch nicht der Kollege Wieland,

aber ich gestatte auch dem Kollegen von Notz eine Zwi-
schenfrage.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden ja regelrecht verschmäht!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herrn Wieland heben wir uns bis ganz zum Schluss
auf. – Vielen Dank, Herr Präsident.

Herr Kollege Binninger, was sagen Sie zu den bemer-
kenswerten Zahlen der Kriminalitätsstatistik, die bele-
gen, dass Straftaten im Internet zu über 80 Prozent auf-
geklärt werden, während Straftaten in der realen Welt
– so nenne ich sie einmal – nur zu 55 Prozent aufgeklärt
werden? Da Kindesmissbrauch – weil dieses Beispiel
gleich bestimmt wieder angeführt wird, füge ich das
hinzu – in der realen Welt stattfindet, frage ich Sie: Wa-
rum verspüren Sie nicht einen enormen Antrieb, auch in
der realen Welt auf eine effektivere Strafverfolgung hin-
zuwirken?

Wir Grüne wünschen uns auch in der realen Welt eine
effektivere Strafverfolgung. Da Sie gerade von einem
Tatraum Internet gesprochen haben, muss ich Ihnen sa-
gen: Die Verfolgung von Straftaten, die im Internet be-
gangen wurden, ist hochgradig effektiv. Das würden wir
uns auch für die reale Welt wünschen.


Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1703508300

Herr Kollege von Notz, ich halte nichts davon, die

Strafverfolgung in der realen Welt und ihre Aufklärungs-
quote sowie die Strafverfolgung im Internet und ihre Auf-
klärungsquote gegeneinander aufzurechnen. Ich halte es
auch für einen denkbar schlechten Ansatz, im Hinblick
auf die Schwere von Straftaten Rechtsprinzipien wie Ver-
hältnismäßigkeit und Ermessensreduzierung auf null, die
es im Polizeirecht gibt, mit betriebswirtschaftlichen
Kennzahlen – wie 80 und 55 Prozent – auszuhebeln. Ich
finde, das ist die falsche Auffassung.

Wir müssen die Straftaten, die geschehen, analysieren.
Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen – ich komme
nachher darauf zurück und nenne Ihnen dann ein ganz
konkretes Beispiel –, dass im Internet schwere Straftaten
geschehen, die, weil die geeigneten Instrumente fehlen,
nicht mehr aufgeklärt werden können, dann darf uns
diese Erkenntnis nicht ruhen lassen, egal ob es um 5, 10
oder 15 Prozent der Straftaten geht. Das ist unsere Auf-
fassung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Dissens
sollten wir uns in dieser Diskussion von zwei Fakten lei-
ten lassen. Fakt eins: Das Bundesverfassungsgericht hat
nicht die Vorratsdatenspeicherung per se für verfas-
sungswidrig erklärt; es hat lediglich kritisiert, dass die
konkrete Ausgestaltung verfassungswidrig ist. Fakt zwei:
Im Zeitalter des Internets und angesichts mehr Handy-
anschlüssen in Deutschland als Einwohnern und einer
zunehmenden Verbreitung des Internets ist die Vorrats-
datenspeicherung eine Ermittlungsmethode, auf die die
Polizei, auf die die Sicherheitsbehörden nicht verzichten
können. Das sind die beiden Fakten, an denen wir uns
orientieren sollten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt zwei Sätze zu dem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts. Wir haben dieses Urteil zu akzeptieren
und zu respektieren. Es ist unsere Pflicht, dieses Urteil
umzusetzen. Man darf aber gegenüber der Öffentlichkeit
darauf hinweisen, dass dieses Urteil nicht so einig gefällt
wurde, wie es uns die Gegner der Vorratsdatenspeiche-
rung gern glauben machen würden: Zwei der acht Rich-
ter hatten ein abweichendes Votum, waren der Auffas-
sung des Gesetzgebers.

In der Frage, ob das Gesetz für einen Übergangszeit-
raum noch angewandt werden soll oder vielmehr sofort
außer Kraft zu setzen ist, inklusive einer Löschung der
gespeicherten Daten, ging die Abstimmung denkbar
knapp aus: Vier Richter waren dafür, das Gesetz für ei-





Clemens Binninger


(A) (C)



(D)(B)

nen Übergangszeitraum bestehen zu lassen, vier Richter
waren dagegen. Das muss man bei der Diskussion be-
rücksichtigen. Man muss anerkennen, dass dieses Thema
zu schwierig ist, als dass auch nur eine Fraktion hier be-
haupten könnte, der Weisheit letzten Schluss zu haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir das berücksichtigen, müssen wir uns fragen,
welche Auswirkungen das Urteil – das ist der Auftrag
für den Gesetzgeber – für die Praxis hat.

Wir können noch lange Gefechte führen, wer unter
Rot-Grün für alles zu haben war, was an Sicherheitsmaß-
nahmen beschlossen wurde. Ich bedanke mich, Kollege
Reichenbach, dass Sie zu dem, was wir in der Großen
Koalition beschlossen haben, stehen. Dass wir in der
christlich-liberalen Koalition jetzt eine Aufgabe haben,
die wir zu erfüllen haben, gehört auch dazu.

Wir sollten uns, wie schon gesagt, Gedanken machen,
was für Auswirkungen dieses Urteil in der Praxis hat.
Der Kollege Uhl hat hier letzte Woche in der Haushalts-
debatte einen dramatischen Fall von Kindesmissbrauch
geschildert. Da man die IP-Adressen jetzt nicht mehr er-
mitteln kann, hat die Polizei keine Handhabe gegen den
Täter, der sich im Internet mit dieser schrecklichen Tat
brüstet. An dieser Stelle haben Sie, Herr Kollege
Wieland – ich bekomme meine Zwischenfrage schon
noch –,


(Gerold Reichenbach [SPD]: Stellst du deine Zwischenfragen jetzt selbst?)


dazwischengerufen, dass beim Internet solche Möglich-
keiten noch bestehen und dass wir das Urteil genau lesen
sollten.

Da ich weiß, dass Sie selten aus der Hüfte schießen,
habe ich das Urteil zu diesem Punkt noch einmal gele-
sen. Aber auch für diesen Teil des Gesetzes zur Vorrats-
datenspeicherung gilt die Nichtigkeit. Das heißt, alle ge-
speicherten Daten sind zu löschen, und es sind keine
Daten mehr zu speichern. Ich habe daraufhin bei einem
Praktiker angerufen und ihn gebeten, mir den Sachver-
halt zu schildern.


(Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Sie dürfen, auch wenn der Präsident mir noch nichts
zugeflüstert hat.


(Heiterkeit – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das entscheidet der Präsident, Herr Kollege Binninger!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703508400

Ich wollte, dass Sie genießen können, wie Herr

Wieland aufsteht und auf Sie reagiert. – Bitte schön,
Kollege Wieland.


(Heiterkeit)


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703508500

Herr Kollege Binninger, schon um mir nicht wieder

den Missachtungsvorwurf einzuhandeln oder Ihnen gar
das Osterfest zu vermiesen, –


Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1703508600

Das würden Sie nicht schaffen.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703508700

– frage ich jetzt: Ist Ihnen denn entgangen, dass ich

mir bei meiner Frage – der Kollege Uhl war schon weg;
der Kollege Grosse-Brömer brachte aber dasselbe Bei-
spiel – sozusagen den Kopf der Sicherheitsseite zerbro-
chen habe?

Sie haben zu Recht gesagt, dass die Entscheidung
beim Bundesverfassungsgericht mit vier zu vier in dieser
Frage sehr umstritten war. Man muss aber auch einmal
sehen, dass immerhin die Hälfte der Richter die Art, wie
die Vorratsdatenspeicherung eingerichtet war – was an
Vorratsdaten gesammelt wurde und wie diese gespei-
chert wurden –, so daneben fand, dass sie den gravieren-
den Schritt gemacht haben, diese Regelung nicht einmal
für eine Übergangszeit in Kraft zu lassen.

In Ziffer 4 des Tenors des Urteils steht ausdrücklich:
Zu löschen sind die Telekommunikationsverkehrsdaten.
In der Begründung des Urteils wird aber ausführlich be-
schrieben, dass nach Ansicht des Gerichtes die IP-
Adressen nicht die Telekommunikationsverkehrsdaten
selbst seien. Ich gebe zu, das ist juristisch ein bisschen
schwierig. Ich gebe auch zu, dass mein Kollege Montag
das spontan nicht so sieht, wie ich es sehe.

Aber warum sperren Sie sich dagegen, dass man das
einmal abklopft – in der Spitze des BKA sitzen schließ-
lich keine Juristen; die Juristen sitzen woanders und soll-
ten auch hinzugezogen werden – und die Analyse durch-
geführt hat, die die Kollegin Piltz angesprochen hat?
Man könnte ja mit den Diensteanbietern eventuell zu
dem Ergebnis zu kommen: Nicht alles muss gelöscht
werden. Die IP-Adressen kann man davon ausnehmen. –
Warum, so frage ich mich, wird das von Ihnen abge-
wehrt?


Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1703508800

Wir sperren uns überhaupt nicht dagegen. Aber ich

will deutlich machen, dass es nach dem Urteil eine wirk-
lich große Sicherheitslücke in diesem Bereich gibt. Ich
will – Sie dürfen sich gerne setzen, weil ich das sowieso
gebracht hätte – ein praktisches Beispiel schildern. Bei
aller juristischen Auslegung hilft es nichts, wenn es in
der Praxis anders aussieht. Ich habe in dieser Woche mit
einem Kollegen von der Polizei telefoniert, der speziel-
ler Internetermittler ist, und ihn gefragt: Welche Auswir-
kungen hat das Urteil für Sie konkret in der Praxis? – Er
hat mir folgenden Fall geschildert und Auszüge aus Ant-
worten der Provider vorgelesen. Dieses Beispiel muss
uns alle zutiefst erschrecken.

Er hat erzählt – dabei geht es gar nicht um Home-
pages –: Ein Straftäter, dessen Identität nicht bekannt ist,
stellt eine Datei mit kinderpornografischem Inhalt in ei-





Clemens Binninger


(A) (C)



(D)(B)

ner Tauschbörse ins Netz. Diese Datei wird von anderen
Straftätern heruntergeladen. Von dieser Person ist nur die
IP-Adresse bekannt. Daraufhin wendet sich die Polizei
an den Provider und sagt: Wir möchten wissen, wer zu
dem Zeitpunkt, als diese Datei mit kinderpornografi-
schem Inhalt eingestellt wurde, unter dieser IP-Adresse
angemeldet war. – Von allen Providern kam unisono die
Antwort: Diese Daten haben wir schon gelöscht. Oder:
Wir sind nicht mehr verpflichtet, diese Daten zu spei-
chern.

Es geht sogar noch weiter. Er sagte mir: Selbst wenn
Sie das Glück haben, dass diese Datei entdeckt wird,
während der Täter online ist, und damit in sehr kurzer
Zeit beim Provider anrufen und sagen können: „Der
Mann ist noch online. Wer verbirgt sich hinter dieser
Adresse?“, hängt es vom Zufall oder vom Goodwill der
Provider ab, ob es heißt: „Jawohl, diese Daten geben wir
Ihnen, weil das keine Speicherung ist“ oder ob es heißt:
„Wir haben keinerlei Pflicht, hier Auskünfte zu geben.“


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das kann ja nicht sein!)


Diesen Zustand können wir so nicht akzeptieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Kollege Wieland, ich hoffe auf den Konsens al-
ler Fraktionen,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zu Recht!)


dass wir gemeinsam sagen: Bei allem Dissens in der
grundsätzlichen Auffassung – Sie wollen gar keine Vor-
ratsdatenspeicherung, auch nicht mit einer strengen Reg-
lementierung, wir aber wollen sie und halten sie für not-
wendig – sind wir uns darin einig,


(Christine Lambrecht [SPD]: Ihr seid doch gar keine Koalition!)


dass, wenn diese Information der einzige Ansatzpunkt
für die Polizei ist, einen Straftäter zu ermitteln,


(Gerold Reichenbach [SPD]: Sind Sie jetzt auf der Suche nach einem Koalitionspartner?)


die Provider die Daten nicht einfach löschen dürfen, so-
dass die Polizei kein wirksames Instrument in der Hand
hat. Das ist für unser aller Rechtsstaatsempfinden nicht
akzeptabel.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Da klatscht die FDP aber überhaupt nicht!)


Jetzt noch ein Satz zu Europa. Tenor Ihres Antrages
ist es, dass Sie nichts auf der europäischen Ebene regeln
lassen wollen bzw. möglichen europäischen Regelungen
vorbeugen wollen. Andere weisen darauf hin, dass man
vielleicht die Bewertung auf europäischer Ebene abwar-
ten sollte. Ich warne die Gegner einer Vorratsdatenspei-
cherung davor, darin zu hohe Erwartungen zu setzen. In
der Richtlinie steht schon – daher ist das nicht überra-
schend –, dass sie im September 2010 zu überprüfen ist.
Das gilt besonders für zwei Gesichtspunkte: Sind die
Daten, die man gespeichert hat, ausreichend, oder müs-
sen es mehr oder weniger sein? Das ist jetzt meine Inter-
pretation. Ist die Dauer der Speicherung, mindestens
sechs Monate, höchstens zwei Jahre, ausreichend, oder
müsste sie anders sein?

All das ist im Lichte der technischen Entwicklung zu
prüfen; denn diese schreitet voran. Daher können die
Anforderungen eher höher geschraubt werden. Wir sind
gut beraten, uns in diesem Hause mit diesem Thema zu
befassen, mit dem speziellen Problem der IP-Adressen
bei laufenden Ermittlungen vielleicht sogar noch vor der
Erarbeitung eines Gesetzentwurfs.

Ich will für mich und für meine Fraktion sagen: Wir
nehmen die Kritik der Gegner der Vorratsdatenspeiche-
rung bzw. des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung
– es sind heute mehr Gegner als Befürworter im Saal –
ernst. Aber ich halte es nach wie vor für möglich, dass
wir zu einer Annäherung kommen, weil Freiheit und Si-
cherheit nicht zwei sich ausschließende Punkte sind,
sondern sich gegenseitig bedingen. Es muss aber auch
für beide Punkte Bedingungen geben. Deshalb sollten
wir, meine ich, die Gespräche nicht nur innerhalb der
Koalition führen, sondern auch mit all denen, die
Beschwerde geführt haben, damit wir zu einem vernünf-
tigen Ergebnis kommen. Wir sind dazu bereit; das An-
gebot steht. Insofern hoffe ich, dass wir zügig voran-
kommen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703508900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1168 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Fairness in der Leiharbeit

– Drucksache 17/1155 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Unterrichtung durch die Bundesregierung

Elfter Bericht der Bundesregierung über Er-
fahrungen bei der Anwendung des Arbeitneh-
merüberlassungsgesetzes

– Drucksache 17/464 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Anette Kramme von der SPD-Fraktion das Wort.

Ich bitte aber vorher darum, liebe Kolleginnen und
Kollegen, die Gespräche hier vorne einzustellen. Kol-
lege Ahrendt, hallo! Könnten Sie die Gespräche ir-
gendwo weiter hinten im Plenarsaal fortsetzen?

Kollegin Kramme, jetzt haben Sie hoffentlich Gehör.


(Beifall bei der SPD)



Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1703509000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir wissen nicht erst seit dem Fall Schlecker,
dass Leiharbeit kein Zuckerschlecken ist: Da gibt es un-
erträgliche Niedriglöhne. In Forchheim arbeitet ein
Leiharbeitnehmer für 3,60 Euro brutto pro Stunde. Hel-
fer verdienen 45 Prozent weniger als in anderen Bran-
chen. Die Branche wird durch SGB-II-Zahlungen an
Leiharbeitnehmer in einer Größenordnung von 500 Mil-
lionen Euro dauersubventioniert.

Wir beobachten auch ständige Verstöße gegen das Ar-
beitsrecht: Da wird Urlaub nicht ordnungsgemäß geneh-
migt, da wird nicht ordnungsgemäß eingruppiert, da
werden Kündigungsfristen fehlerhaft berechnet. Vor al-
lem werden Stammarbeitsplätze vernichtet, indem statt-
dessen Leiharbeitnehmer eingesetzt werden. Und die
Servicegesellschaften haben letztlich nur eine Funktion:
Tarifflucht und Lohndrückerei.

Darüber hinaus mussten wir feststellen, dass die Leih-
arbeit leider nur einen sehr eingeschränkten Beitrag zur
Reintegration von Arbeitslosen leistet. Die Arbeitsver-
hältnisse in der Leiharbeit dauern im Regelfall nicht län-
ger als drei Monate. Der „Klebeeffekt“ wird durch das
IAB auf circa 15 Prozent geschätzt.


(Zuruf von der FDP: Das ist viel!)


Auf den Punkt gebracht: Die Reform des Jahres 2003
hat sich nicht bewährt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also haben Sie es falsch gemacht!)


– Herr Kolb, der denkende Menschen ändert seine Mei-
nung.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe das doch nicht gemacht! Sie haben es gemacht!)


Vielleicht sollte das Herr Westerwelle auch im Hinblick
auf seine Reisepartner tun.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unverschämtheit!)


Der Geburtsfehler dieser Leiharbeitsreform besteht,
denke ich, vor allem in einem Punkt: Die Union hat ge-
gen Rot-Grün durchgesetzt, dass in einem individuellen
Arbeitsvertrag durch eine arbeitsvertragliche Bezug-
nahme auf einen Tarifvertrag vom Grundsatz Equal Pay
abgewichen werden darf. Es darf auf einen x-beliebigen
Tarifvertrag verwiesen werden. Das hat der CGZP, die-
ser vermeintlichen Gewerkschaft, Leben eingehaucht.
Dort sind Tarifverträge abgeschlossen worden, die nur
Arbeitgeber glücklich machen – und das ist kein Wun-
der. Wenn auf Arbeitnehmerinteressen und auf Gewerk-
schaftsmitglieder keine Rücksicht genommen werden
muss, dann kommt so etwas dabei heraus.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Weil die Gewerkschaften erst nachziehen müssen, Frau Kollegin!)


Dass sich der einzelne Leiharbeitnehmer nicht gegen die
Tarifvertragsgeltung per Arbeitsvertrag wehren kann, ist
klar, insbesondere wenn man weiß, dass im Bereich der
Leiharbeit vor allem Niedrigqualifizierte tätig sind. Ich
denke, wir alle hoffen in diesem Punkt auf das BAG. Wir
alle hoffen, dass der CGZP zumindest vorübergehend
das Handwerk gelegt wird, dass sie keine Handlungs-
möglichkeiten mehr hat.

Aber die Union war nicht nur bei diesem Gesichts-
punkt blind für die Probleme in der Leiharbeit. Die
Union hat sich leider auch gegen Mindestlöhne in der
Leiharbeit gestemmt. Jeder wusste, dass mit den Christ-
lichen Gewerkschaften etwas nicht stimmt. Trotzdem hat
in den Verhandlungen der Mindestlohn-Kommission ein
Herr Brauksiepe süffisant erklärt, wir bräuchten keine
Mindestlöhne, die tarifvertragliche Absicherung sei
doch ganz wunderbar, man setze auf Tarifautonomie –
und das bei Tarifverträgen, die Löhne in Höhe von
4,50 Euro und Ähnliches vorsehen.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, uns geht es
vor allen Dingen um Folgendes: Wir wollen die Leihar-
beit nicht abschaffen, aber wir wollen sie auf ihre Kern-
funktionen zurückführen. Es geht darum, Auftragsspit-
zen abzudecken. Wenn Arbeitnehmer fehlen, soll
Leiharbeit möglich sein. Dabei ist eines essenziell: Der
Grundsatz des Equal Pay muss uneingeschränkt gelten.


(Beifall bei der SPD)


Wir verhindern damit das Interesse an Ausgliederung
von Beschäftigten in eine Entleihfirma. Warum sollte
man Beschäftigte ausgliedern, wenn die Arbeit dort ge-
nauso teuer ist? Außerdem erreichen wir damit eine faire
Bezahlung und tragen zur Verbesserung des Betriebsfrie-
dens bei. In Bayreuth zum Beispiel arbeitet gegenwärtig
eine Krankenschwester nach dem Tarifvertrag des öf-
fentlichen Dienstes, während eine andere Kranken-
schwester am selben Arbeitsplatz auf derselben Station
weniger verdient, weil sie nach einem Tarifvertrag für
Leiharbeit bezahlt wird. Dass die eine auf die andere
sauer ist, ist gut nachvollziehbar.

Darüber hinaus brauchen wir einen Mindestlohn, der
entleihfreie Zeiten absichert. Wir wollen den Betriebsrä-
ten ein echtes Mitbestimmungsrecht einräumen. Das
Mitbestimmungsrecht soll den Umfang der Leiharbeit,
die Dauer des Einsatzes und die Einsatzbereiche regeln.
Wenn sich Betriebsrat und Arbeitgeber nicht einigen
können, dann entscheidet die Einigungsstelle. Ich bin der
festen Überzeugung, dass das zu betriebsnahen und indi-
viduellen Regelungen führt, die den Interessen sowohl





Anette Kramme


(A) (C)



(D)(B)

des Arbeitgebers als auch der Arbeitnehmer des Entleih-
betriebes gerecht werden.

Der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik
Deutschland ist mittlerweile zu einem riesigen Problem
geworden, zu einem Problem, das Folgen für die soziale
Sicherheit in der Bundesrepublik und das gesamte so-
ziale System hat. Wir brauchen nicht nur Regelungen zur
Eindämmung der Leiharbeit; notwendig sind auch Rege-
lungen, die sich darauf beziehen, wie man mit der befris-
teten Arbeit, Praktikumsverhältnissen und Ähnlichem
umgeht.

Wir müssen uns vor allem auch damit befassen, ob
wir die Tarifvertragsparteien nicht dadurch stärken kön-
nen, dass wir Allgemeinverbindlichkeitserklärungen er-
leichtern, sodass nicht eine Seite – in diesem Fall die Ar-
beitgeberseite – immer wieder blockieren kann.

In dem Sinne bedanke ich mich ganz herzlich. Ich
hoffe, auch Sie kommen zu der Erkenntnis, dass in Sa-
chen Leiharbeit essenziell etwas zu tun ist. Prüfen reicht
nicht; Handeln ist erforderlich.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703509100

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär

Ralf Brauksiepe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1703509200


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Fähigkeit zur Selbstkritik steht uns Politikern sicherlich
gut an. Aber wenn es dazu führt, dass man das, was man
einst selbst in eigener Verantwortung eingeführt hat, auf
einmal in Bausch und Bogen verdammt, obwohl sich ein
differenziertes Bild der Beurteilung anböte, dann schießt
das sicherlich weit über das Ziel hinaus. Das ist ein Pro-
blem, das Sie, Frau Kollegin Kramme, glaube ich, deut-
lich gemacht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Die Zeitarbeit bietet Chancen und Risiken.


(René Röspel [SPD]: Mehr Risiken als Chancen! – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Uns geht es um die Chancen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Missbrauch gibt es!)


Sie ist nicht in Bausch und Bogen zu verdammen.

Frau Kollegin Kramme, Sie müssten seit der letzten
Ausschusssitzung wissen, dass jemand, der sich zu weit
von der Wahrheit entfernt, befürchten muss, dass ich ihm
mit den Fakten komme.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren im Ausschuss aber keine Fakten! Das war Polemik!)

Lassen Sie mich deswegen im Sinne der geschichtlichen
Wahrheit darauf hinweisen, was Sie auch im Elften Be-
richt der Bundesregierung zum Arbeitnehmerüberlas-
sungsgesetz nachlesen können. Die Regelungen, die die
Zeitarbeit betreffen, sind im Ersten Gesetz für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember
2002 festgelegt worden. Dieses Gesetz war im Bundes-
rat nicht zustimmungspflichtig. Es hat auch unsere Zu-
stimmung nicht gefunden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es ging Ihnen nicht weit genug! Das ist die Wahrheit!)


Das Zweite Gesetz ist ebenso wie das Vierte Gesetz für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt mit unserer
Zustimmung im Bundesrat beschlossen worden.

Das Erste Gesetz war nicht zustimmungspflichtig.
Das haben Sie ganz allein gemacht. Der Bundesrat hat
Ihnen die Bedingungen nicht diktiert. Sie sollten wenigs-
tens zu dem stehen, was Sie ganz allein gemacht haben.
Man wird hier doch wohl über Fakten berichten können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wer sich vorurteilsfrei mit der Branche der Zeitarbeit
auseinandersetzt, wird feststellen: Es gibt ein differen-
ziertes Bild. Im Bericht der Bundesregierung wird deut-
lich, dass der Aufbau von Zeitarbeit insbesondere in
Großbetrieben häufig mit einem Aufbau von Stammbe-
schäftigten oder zumindest mit einer konstanten Zahl
von Stammbeschäftigten einhergegangen ist. Die Be-
hauptung, dass es zu einem massiven Abbau von Ar-
beitsplätzen bei der Stammbelegschaft gekommen ist, ist
in Bezug auf die gesamte Branche sicherlich so nicht
richtig.

Wir sollten uns auch vor Augen führen, über welche
Dimensionen wir hier eigentlich reden. Ich sage das vor
dem Hintergrund dessen, was hier schon angeführt
wurde.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703509300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Heil?

D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1703509400


Nein, heute mal nicht, Herr Präsident.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich dachte, Sie sind für Fakten, Herr Kollege!)


Ich finde es wichtig, den Zusammenhang darzustel-
len. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Zeitarbeit weit
davon entfernt ist, zu einem prägenden Element unserer
Arbeitswelt zu werden. Wir hatten in der Spitze rund
800 000 Zeitarbeitnehmer. Diese Zahl ist in der Krise zu-
rückgegangen. Wir sind froh, dass die Zeitarbeit schon
mit dem Beschäftigungsaufbau wieder begonnen hat.
Wir hoffen, dass alle anderen Branchen bald nachziehen
werden. Es gehört zu den Fakten, dass etwa 1,25 Pro-
mille der insgesamt Erwerbstätigen in der Zeitarbeit
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und zusätz-
lich Arbeitslosengeld II bekommen. Es gibt rund





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

600 000 Beschäftigte in der Branche. Knapp 10 Prozent
davon erhalten aufstockende Leistungen. Das heißt, rund
50 000 Beschäftigte, darunter sehr viele Teilzeitkräfte,
die zumeist aufgrund persönlicher Lebensumstände
nicht länger arbeiten können oder wollen, bekommen
zusätzlich Arbeitslosengeld II. Ich habe es schon an an-
derer Stelle gesagt: In manchen Lebenssituationen sind
1,25 Promille eine Menge und auch zu viel. Aber nie-
mand wird sagen können, dass eine solche Zahl die Ar-
beitswelt in Deutschland prägt. Davon kann keine Rede
sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es macht Sinn, in diesem Zusammenhang über grö-
ßere Zahlen zu reden. Wie gesagt, 1,25 Promille der
rund 40 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland – zum
Teil in Teilzeitarbeit – bekommen aufstockendes
Arbeitslosengeld II in der Zeitarbeit. Es waren nie mehr
als 2,6 Prozent aller Beschäftigten in der Zeitarbeits-
branche tätig. Ich möchte auf Folgendes hinweisen:
60,6 Prozent der Zeitarbeitnehmer waren zuvor entwe-
der länger als zwölf Monate nicht beschäftigt oder kurz-
fristig nicht beschäftigt oder noch nie beschäftigt. Das
heißt, über 60 Prozent der Menschen, die in Zeitarbeits-
unternehmen Beschäftigung finden, waren vorher kurz-
fristig nicht, lange nicht oder noch nie beschäftigt. Der
überwiegende Teil der ehemaligen Zeitarbeitnehmerin-
nen und Zeitarbeitnehmer befindet sich mittelfristig wei-
terhin in Beschäftigung und nicht in Arbeitslosigkeit.
Auch das gehört zur Realität in Deutschland. Auch das
gehört zu den Chancen, die die Zeitarbeit bietet.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703509500

Herr Kollege, es gibt einen weiteren Wunsch nach ei-

ner Zwischenfrage, diesmal von der Fraktion Die Linke.

D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1703509600


Es wäre seltsam, wenn ich diese Zwischenfrage zu-
ließe, nachdem ich eine Zwischenfrage der SPD nicht
zugelassen habe.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703509700

Okay.

D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1703509800


Ich bringe lieber meine Argumentation zu Ende.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Er lässt sich nicht stören, der Herr Staatssekretär! – Zuruf von der LINKEN: Fangen Sie doch überhaupt erst mal an!)


Ich will deutlich sagen: Da, wo Missbrauch vorliegt
– Missbrauchsfälle gibt es; darüber wurde bereits disku-
tiert; die Bundesarbeitministerin hat sich dazu deutlich
geäußert –, muss er bekämpft werden. Diese Bundes-
regierung wird sich bei der Bekämpfung von Missbrauch
von niemandem überbieten lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie denn? Wo denn?)


Wir setzen aber weiterhin in erster Linie auf die Tarifver-
tragsparteien.


(René Röspel [SPD]: Auf welche denn?)


Die Entwicklung, die wir jetzt haben, ist doch gut und
richtig. Der Christliche Gewerkschaftsbund hat vor we-
nigen Wochen mit seinem Tarifpartner einen Tarifvertrag
abgeschlossen, der alle vom DGB in diesem Bereich ab-
geschlossenen Tarifverträge übertrifft. Mittlerweile hat
der DGB mit seinem Tarifpartner nachgezogen. Ich sage
ausdrücklich für die Bundesregierung: Diese Entwick-
lung begrüßen wir. Wir wollen keine Lohnspirale nach
unten. Es ist gut, wenn sich die Tarifvertragsparteien bei
den Löhnen nach oben überbieten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit diesem Trend hat der Christliche Gewerkschafts-
bund begonnen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat
nachgezogen. Das begrüßen wir ausdrücklich. Wir
schließen nicht aus, als Gesetzgeber zu handeln, wenn es
notwendig ist. Aber der Vorrang von tariflichen Lösun-
gen gilt auch hier. Ich begrüße, dass wir bei den tarifli-
chen Lösungen auf einem guten Weg sind.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703509900

Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703510000

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist „Equal Pay
Day“, und von daher passt dieses Thema genau zu die-
sem Tag, weil es auch hier um gleichen Lohn für gleiche
Arbeit geht.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da freuen sich die Mitarbeiter bei der Frankfurter Rundschau!)


Ich persönlich finde es toll, dass die SPD mittlerweile
wieder von „Leiharbeit“ und nicht von „Zeitarbeit“
spricht, wie die Zeitarbeitsbranche das gerne hätte. Der
Betriebszweck von einem Leiharbeitsunternehmen ist
das Verleihen von Menschen, um selbst Gewinne zu ma-
chen. In Zeiten spätrömischer Dekadenz


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schwer auszusprechen!)


war das Sklavenarbeit, im Feudalismus war das Leib-
eigenschaft, und im Kapitalismus ist das Leiharbeit.

Leiharbeit ist kein Problem, wenn sie gut bezahlt ist:
mit gleichem Geld für gleiche Arbeit und bei gleichen
Arbeitsbedingungen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Subbotnik!)






Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)

Zudem darf sie wirklich nur für Auftragsspitzen genutzt
werden. Das hat die SPD nach sieben Jahren nun endlich
als Geburtsfehler ihrer Reformpolitik erkannt. Herz-
lichen Glückwunsch!


(Beifall bei der LINKEN)


In einer von der CDU – nicht von irgendjemandem,
sondern vom CDU-Arbeitsminister Laumann – in Auf-
trag gegebenen Studie wird für Nordrhein-Westfalen ge-
sagt:


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Guter Mann!)


Ein Viertel der Entleihbetriebe nutze Leiharbeitnehmer
zur Verdrängung von Stammbelegschaften. Der Einkom-
mensunterschied betrage bis zu 45 Prozent. – Ein Ein-
stieg für Arbeitslose in Beschäftigung – das ist der soge-
nannte Klebeeffekt – ist die Leiharbeit auch nicht:
einmal Leiharbeitnehmer, immer Leiharbeitnehmer.

Wer leiharbeitet, ist mit einem Bruttolohn von
6,65 Euro im Osten und 7,60 Euro im Westen, wie dies
gerade für diesen Bereich in einem Tarifvertrag be-
schlossen wurde, oftmals arm trotz Arbeit.


(Ute Kumpf [SPD]: Da erzählen die Kollegen von Daimler aber eine andere Geschichte!)


Durch die Leiharbeit wird gute und faire Arbeit vernich-
tet.


(Ute Kumpf [SPD]: Quatsch!)


Dies wurde durch die rot-grünen Hartz-Gesetze möglich.

Okay, man muss sich ja darüber freuen, dass die SPD
an dieser Stelle auch wieder zur Vernunft gekommen ist.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist doch auch schon einmal etwas!)


So fordern Sie beim Einsatz von Leiharbeit die Auswei-
tung der Mitbestimmung durch Betriebsräte über Dauer
und Umfang. Die Linke fordert dagegen ein zwingendes
Mitbestimmungsrecht über die Dauer, den Umfang und
das Ob der Leiharbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Ob und die Möglichkeit, bei Nichteinigung die Eini-
gungsstelle anzurufen, sind entscheidend.

Nichts Konkretes sagt die SPD zur Einsatzdauer in ei-
nem Betrieb. Die Linke sagt dagegen: höchstens drei
Monate, wie es früher im Gesetz stand. Um Auftrags-
spitzen abzudecken, sind drei Monate genug.

Der entscheidende Knackpunkt liegt bei der Equal-
Pay-Forderung. Die SPD fordert, den Grundsatz „Glei-
ches Geld für gleiche Arbeit“ wieder ohne Ausnahme
gelten zu lassen. Die Gefahr einer Abweichung durch
Tarifverträge wäre also gebannt. Das wäre auch gut so.
Was macht aber die SPD jetzt nach sieben Jahren mit fa-
talen Ausnahmen? Sie fordert eine neue Ausnahme. Das
ist im Grunde unglaublich. So heißt es in dem Antrag,
dass der Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“
erst nach einer kurzen Einarbeitungszeit gelten soll. Ich
frage Sie: Was ist kurz?
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
steht in Art. 23 Abs. 2 eindeutig:

Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen
Lohn für gleiche Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist der Maßstab der Linken.

Die schwarz-gelbe Politik schlägt dem Fass in diesem
Zusammenhang aus meiner Sicht den Boden aus. Sie
kennen nämlich nur Vorzüge der Leiharbeit. Die ver-
sprochene Prüfung des Lohndumpings – Fall Schlecker –
zieht sich nunmehr schon seit Monaten hin. Handlungs-
bedarf sieht die Regierung nur bei anderen. Sollen die
Gewerkschaften doch mit den Arbeitgebern eine Lösung
verhandeln! Damit sagt Schwarz-Gelb nichts anderes
als: „Lohndumping durch Leiharbeit: Weiter so!“; denn
durch das Gesetz wird Lohndumping legal. Das muss
geändert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke will: gleichen Lohn für gleiche Arbeit, und
das vom ersten Tag an, Begrenzung der Überlassungs-
höchstdauer auf drei Monate, starke betriebliche Mit-
bestimmung bei Leiharbeit und Bezahlung der Leih-
arbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer mit einer
Flexibilitätsprämie von 10 Prozent.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Antrag der SPD ist zwar ein Schritt in die richtige
Richtung, aber eben nicht genug. Seien Sie sicher: Wir
werden versuchen, auch weiterhin Druck zu machen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703510100

Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1703510200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Kollegin Kramme hat in ihrer Rede gesagt: Der den-
kende Mensch ändert seine Meinung.


(Anette Kramme [SPD]: Nietzsche!)


Frau Kollegin Kramme, das halte ich nicht für zwingend.
Man kann ja auch nachdenken und zu dem Ergebnis
kommen, dass man bisher schon das Richtige gedacht
hat. Sehen Sie, so ist es mir bei der Vorbereitung meiner
Rede für den heutigen Tagesordnungspunkt gegangen.

Deswegen will ich Ihnen noch einmal in Erinnerung
rufen, welche Positionen die FDP in der aktuellen Dis-
kussion um die Zeitarbeit vertritt:

Erstens. Zeitarbeit ist das wichtigste und erfolg-
reichste Arbeitsmarktinstrument, das wir haben. Mit kei-
nem anderen Instrument ist es gelungen, so vielen Men-
schen, die zuvor langzeitarbeitslos waren, zu einem
neuen Arbeitsplatz zu verhelfen. Das sollten wir hier
doch einmal deutlich festhalten.





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu einem Arbeitsplatz in der Zeitarbeit!)


Weil das so ist, werden wir alles daransetzen, das Instru-
ment der Zeitarbeit auch künftig nutzbar zu machen und
zu halten.


(Beifall bei der FDP)


Zweitens. Die FDP-Fraktion ist gemeinsam mit den
Kollegen der Union entschlossen, dem Missbrauch der
Zeitarbeit entgegenzutreten. Das haben wir, Herr Kol-
lege Schiewerling und ich, auch unverzüglich zu Beginn
des Jahres, als der Fall Schlecker bekannt wurde, getan,
ohne Wenn und Aber. Es ist nicht akzeptabel, wenn
Stammbelegschaften von Konzernen in Leihgesellschaf-
ten, wo die Konditionen günstiger sind, ausgelagert wer-
den. Das wollen wir ausdrücklich nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deswegen begrüßen wir drittens, dass es jetzt tarif-
vertragliche Regelungen gibt, mit denen genau dieses
ausgeschlossen wird, nämlich dass man von dem im
AÜG verankerten Grundsatz des Equal Pay abweichen
kann, wenn es sich um Unternehmen im Konzernver-
bund handelt. Der Tarifvertrag, den AMP jetzt geschlos-
sen hat, geht genau in diese Richtung. Das halte ich für
richtungsweisend. Die Tarifpartner können zu dieser De-
batte auch einen wichtigen Beitrag leisten, auf den wir
nicht verzichten sollten.

Viertens. Das Ministerium prüft – das ist auch eine
Folge der Debatte zu Beginn des Jahres – derzeit, wie
die Situation ist, wie viele Missbrauchsfälle es gibt und
was getan werden muss, um diese Missbräuche gegebe-
nenfalls über das hinaus, was tarifvertraglich geregelt ist,
zu verhindern. Diesem Bericht sehen wir mit Interesse
entgegen. Wir werden dann gemeinsam mit den Kolle-
gen der Union überlegen, wo gegebenenfalls gesetzge-
berisches Handeln erforderlich ist.

Ich will Ihnen fünftens meine Position zum Mindest-
lohn in der Zeitarbeitsbranche hier nicht verschweigen.
Ich glaube, dass es in einer Branche, in der der Grund-
satz des Equal Pay gilt, von dem nur durch tarifvertragli-
che Regelungen abgewichen werden kann, in der es also
eine hundertprozentige Tarifbindung gibt, keinen Sinn
macht, einen Mindestlohn einzuführen.


(Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Das ist mein Argument zumindest hinsichtlich der aktu-
ellen Lage.

Dann gibt es diejenigen, die schon vorauseilend sa-
gen: Das könnte alles ganz schlimm werden, wenn ab
dem 1. Mai nächsten Jahres Freizügigkeit herrscht. – Ich
möchte für uns alle noch einmal darauf hinweisen, dass
die Branchen, in denen offensichtlich ein besonderer
Lohndruck besteht, im letzten Jahr Gelegenheit hatten,
sich für die Einführung von Mindestlöhnen starkzuma-
chen. In einer Reihe von Branchen wurden ja auch schon
Mindestlohnregelungen eingeführt, die auch unmittel-
bar gelten würden, wenn Zeitarbeiter in diese Branchen
entsandt werden. Das heißt, würde ein Zeitarbeiter in
Deutschland im Bereich der Abfallwirtschaft eingesetzt,
würde der Mindestlohn Abfallwirtschaft notwendig zur
Anwendung kommen. Deswegen rate ich uns allen dazu,
so wie es auch der Präsident der Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, getan
hat, hier ohne Zorn und Eifer ans Werk zu gehen und zu
beobachten, ob hier tatsächlich Verwerfungen auftreten.

Ich glaube auch mit Blick auf das, was wir heute an
Zahlen vorweisen können oder aktuell registrieren, zum
Beispiel die Aktivitäten polnischer Zeitarbeitsunterneh-
men in Deutschland oder den sehr geringen Anteil aus-
ländischer Leiharbeiter, sagen zu können, dass sich die
Welt am 1. Mai 2011 nicht grundlegend verändern wird.

In diesem Sinne freue ich mich, Ihnen mitteilen zu
können: Das waren bisher meine Gedanken, das sind sie
weiterhin. Auch in künftigen Diskussionen werde ich
nicht anstehen, diese Position hier ein drittes, viertes
oder fünftes Mal zu vertreten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703510300

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Beate

Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Jetzt hat auch die SPD endlich einen
Antrag zur Leiharbeit vorgelegt. Rot-Grün hat die Libe-
ralisierung in der Zeitarbeit zu verantworten; das wissen
wir. Schon lange fordern wir Grünen, dass die Fehler
korrigiert werden. Herr Brauksiepe, Selbstkritik gehört
für mich selbstverständlich auch in die Politik; denn sie
ist ein wichtiger Wert.

Die Leiharbeit muss endlich wieder zu einem verträg-
lichen Instrument werden, das der Abfederung von Auf-
tragsspitzen dient, nicht mehr und nicht weniger. Der
Antrag zeigt, dass auch die SPD mit der Vergangenheits-
bewältigung begonnen hat. Er ist zwar an einigen Stellen
etwas vage, und er geht mir auch nicht weit genug, aber
zumindest stimmt die Richtung, und das ist gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Der Elfte Bericht der Bundesregierung zur Leiharbeit
sollte eigentlich die Entwicklung in der Zeitarbeit be-
schreiben und soziale und beschäftigungspolitische Pro-
bleme aufdecken. Aber Fehlanzeige: Die Fakten werden
verharmlost; der wichtige IAB-Forschungsbericht, die
Laumann-Studie sowie kritische Stellungnahmen der
Agentur für Arbeit wurden in weiten Teilen gar nicht erst
aufgenommen. – Aber diese Fakten sind wichtig. Nur
8 Prozent der Erwerbslosen erhalten durch die Leih-
arbeit eine reguläre Beschäftigung. Das IAB spricht so-
gar davon, dass die Zeitarbeit eher eine Brücke in die





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)

Zeitarbeit ist. Im Bericht der Bundesregierung steht – ich
zitiere –:

Der überwiegende Teil der ehemaligen Zeitarbeit-
nehmerinnen und Zeitarbeitnehmer befindet sich
auch mittelfristig weiterhin in Beschäftigung und
nicht in Arbeitslosigkeit.

Das stimmt einfach nicht. Das zeigt die zweifelhafte
Qualität des Berichts der Regierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung hat zu-
genommen. Sogar die Bundesagentur für Arbeit warnt,
dass Dauerarbeitsplätze mit Zeitarbeitskräften besetzt
werden. Ein Blinder mit Krückstock sieht also, dass es
einen offensichtlichen Missbrauch in der Zeitarbeit gibt.
Herr Brauksiepe, es geht hier nicht nur um 2,6 Prozent
der Beschäftigten, sondern um Menschen. Ich finde, je-
der einzelne Mensch muss wichtig sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Seit Wochen höre ich aus dem Bundesministerium für
Arbeit und Soziales aber nur, dass Gespräche geführt
werden und dass die Prüfung der Leiharbeitsbranche an-
dauert. Ich frage mich: Wie viele Gespräche sind noch
nötig? Wie lange wollen Sie eigentlich noch prüfen?
Wenn Sie dem IAB nicht glauben, dann reden Sie doch
einmal mit Ihrem CDU-Kollegen Laumann aus NRW.

Am Wochenende hat die Ministerin die Branche auf-
gefordert, die Probleme endlich aus eigener Kraft zu lö-
sen. Ich meine, gegen den Missbrauch in der Zeitarbeit
muss gesetzlich vorgegangen werden und nicht durch
die Branche selbst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Fangen Sie endlich an, zu regieren! Notwendig ist, dass
der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durch-
gesetzt wird, ebenso ein Mindestlohn für verleihfreie
Zeiten. Vor allem muss die konzerninterne Arbeitneh-
merüberlassung verhindert werden. Das wäre verantwor-
tungsbewusste Politik und eine klare Reaktion auf den
Missbrauch in der Zeitarbeit.

Aber vielleicht steckt die Regierung auch den Kopf in
den Sand, weil es wieder einmal Streit mit der FDP gibt.
Es wäre ja nicht das erste Mal, dass die FDP bei diesem
Thema auf der Bremse steht, weil sie den Niedriglohn-
sektor weiter ausbauen möchte. Dazu passen auch Ihre
Äußerungen, Herr Kolb, dass Zeitarbeitskräfte grund-
sätzlich weniger verdienen sollten als das Stammperso-
nal.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?)


Das haben Sie im Februar in einem Zeitungsinterview
gesagt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das würde ich gern mal sehen!)

Gibt es dafür ein einziges plausibles Argument? Meinen
Sie wirklich, dass Zeitarbeitskräfte grundsätzlich weni-
ger wert sind? Mein Grundsatz ist, dass es keine Be-
schäftigten erster und zweiter Klasse geben darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Machen Sie endlich Politik für alle Bürgerinnen und
Bürger und sorgen Sie dafür, dass für alle Beschäftigten
Ihr Spruch gilt: Arbeit muss sich wieder lohnen.

Vor der Krise waren fast 800 000 Menschen in der
Zeitarbeit beschäftigt, obwohl jeder Achte zusätzlich
staatliche Leistung beantragen musste. Die Agentur für
Arbeit zahlt bereits eine halbe Milliarde Euro für Löhne
in der Zeitarbeit. Spätestens bei dieser Zahl, die aus dem
Arbeitsministerium stammt, müssten bei den Regie-
rungsfraktionen alle Alarmglocken läuten.

Wollen Sie wirklich weiterhin Unternehmen auf die-
sem Weg subventionieren, obwohl sich die Zeitarbeit in
keinerlei Weise als arbeitsmarktpolitisches Instrument
bewährt hat? Ich appelliere an die Regierungsfraktionen:
Schauen Sie nicht weg! Wenn Sie nicht wollen, dass die
Zeitarbeit für bisher fair bezahltes Stammpersonal zum
Schleudersitz in den Hungerlohn und für Zeitarbeits-
kräfte zur Einbahnstraße in eine dauerhafte Niedriglohn-
falle wird, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, zügig zu
handeln, statt ewig zu prüfen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703510400

Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1703510500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.

So rief der Zauberlehrling bei Goethe entsetzt im Ange-
sicht der Kräfte, die er entfesselt hatte. An diesen Zau-
berlehrling erinnern Sie mich, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD. Erschrocken weichen Sie vor dem
zurück, was Sie im Jahr 2002 gemeinsam mit den Grü-
nen bei der Zeitarbeit auf den Weg gebracht haben. Aber
für Erschrecken und Entsetzen besteht kein Anlass; denn
Sie haben Ihr Gesellenstück abgeliefert.

Ein Blick zurück: 2002 hatte der rot-grüne Zauber-
lehrling unter Anleitung seines Meisters Peter Hartz
große Pläne für den Arbeitsmarkt. Millionen neuer Ar-
beitsplätze sollten entstehen. Das Herzstück war die Fle-
xibilisierung der Zeitarbeit. So sollte eine Brücke aus
Arbeitslosigkeit in Beschäftigung gebaut werden. So
sollten insbesondere Geringqualifizierte eine Chance be-





Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)

kommen. So sollten Unternehmen wettbewerbsfähiger
werden. Das, meine Damen und Herren von der SPD
und von den Grünen, waren Ihre Ziele – gute Ziele.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber nicht funktioniert!)


Wenn wir heute Bilanz ziehen, können wir gemein-
sam feststellen: Die Ziele von damals sind erreicht wor-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im letzten Aufschwung sind laut dem Institut der deutschen
Wirtschaft Köln über 1,4 Millionen neue Jobs entstanden,
davon übrigens 1,3 Millionen neue sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Dieses deutsche Ar-
beitsmarktwunder hat zwar nicht ausschließlich, aber doch
auch mit den Reformen der Agenda 2010 zu tun. Dabei
hat Hartz I die Fesseln für die Zeitarbeit gelöst. Allein
hier hat sich die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten seit 2004 auf knapp 800 000 im Jahr 2008
fast verdoppelt. Ich finde das beachtlich. Das ist ein Be-
leg für erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, Sie
sollten den Mut haben, sich darüber auch zu freuen. Of-
fenbar aber genießt das Reformwerk bei Ihnen nicht das
höchste Ansehen.


(Katja Mast [SPD]: Wir reden mit den Leuten!)


Das gilt wohl vor allem für die Arbeitnehmerüberlas-
sung. Sie fürchten sogar, die Reformen hätten die Lage
auf dem Arbeitsmarkt verschlimmert. So weit wie bei
kaum einem anderen Thema liegen bei der Zeitarbeit
Wahrnehmung und Wirklichkeit auseinander; ich muss
feststellen: leider auch bei Ihnen.

Sie behaupten: Stammbelegschaften werden durch
Leiharbeitnehmer ersetzt.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt die Bundesagentur für Arbeit!)


Tatsache ist aber, dass die Hälfte der Einsatzbetriebe das
Beschäftigungsniveau nicht verändert hat.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist gar kein Argument!)


34 Prozent haben Beschäftigung aufgebaut, und nur
16 Prozent haben Beschäftigung abgebaut.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber das sagt doch gar nichts aus!)


Entscheidend ist: Nur 2 Prozent der Betriebe haben
gleichzeitig Beschäftigung abgebaut und Zeitarbeit auf-
gebaut. Das ist laut einem Bericht der Bundesregierung
so.

Sie behaupten: Zeitarbeit wird immer weniger als In-
strument zur Abdeckung kurzfristiger Auftragsspitzen
benutzt.

(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das ist gelogen!)


Tatsache ist aber, dass mehr als die Hälfte aller beende-
ten Zeitarbeitsverhältnisse weniger als drei Monate dau-
erte. Laut Bericht der Bundesregierung war nur jeder
Zehnte ohne Unterbrechung das ganze Jahr lang in der
Arbeitnehmerüberlassung tätig.

Sie behaupten: Zeitarbeit ist eine Variante prekärer
Beschäftigung. Tatsache ist aber, dass in Deutschland
knapp 800 000 Zeitarbeitnehmer sozialversicherungs-
pflichtig beschäftigt sind, die Mehrheit von ihnen unbe-
fristet.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber zu welchem Lohn?)


– Ich betone es: sozialversicherungspflichtig und unbe-
fristet beschäftigt. – Dabei handelt es sich im Übrigen
überwiegend um Arbeitskräfte, die vor Beginn des Zeit-
arbeitsverhältnisses nicht unmittelbar oder überhaupt
nicht beschäftigt waren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bitte
erkennen Sie an, dass Zeitarbeit neue Jobs schafft, dass
sie Brücken in Arbeit baut und alles andere als prekär ist.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703510600

Frau Kollegin Brehmer, erlauben Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Müller-Gemmeke?


Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1703510700

Nein. – Wenn Sie in Ihrem Antrag also Fairness for-

dern, dann gehen Sie doch bitte mit gutem Beispiel vo-
ran. Beweisen Sie selbst Fairness, Fairness für die Zeit-
arbeit.

Zu dieser Fairness gehört, zu sagen, dass der Fall
Schlecker und die Zeitarbeit nichts, aber auch gar nichts
miteinander zu tun haben. Das Gebaren von Schlecker
und Konsorten ist ein Skandal. Da gibt es nichts zu be-
schönigen. Diese Leute betreiben Missbrauch auf dem
Rücken einer ganzen Zeitarbeitsbranche.


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das ist nur die Spitze des Eisbergs!)


Ich bin deshalb froh, dass die Zeitarbeitsbranche inzwi-
schen reagiert hat. Sowohl der Bundesverband Zeitarbeit
Personal-Dienstleistungen, BZA, als auch der Arbeitge-
berverband Mittelständischer Personaldienstleister, AMP,
haben gemeinsam mit den Gewerkschaften Anti-
Schlecker-Klauseln vereinbart. Der Fall Schlecker wird
sich deshalb nicht wiederholen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ih-
rem Antrag behaupten Sie zwar, die Zeitarbeit nicht
abschaffen zu wollen. Würden wir die von Ihnen vorge-
schlagenen Änderungen allerdings umsetzen, würde ge-
nau dies geschehen. Durch neue Beschränkungen der
Zeitarbeit würden den Unternehmen die notwendigen
Flexibilitätsreserven genommen und der Beschäfti-
gungsmotor Zeitarbeit abgewürgt.





Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist einfach nicht wahr!)


Am Ende hätten Sie damit nicht der Branche geschadet,
sondern dem Wirtschaftsstandort Deutschland insge-
samt. Das wäre nicht nur nicht fair, sondern auch völlig
falsch.


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Deshalb hauen die aus Sachsen-Anhalt alle ab!)


Untauglich sind die in der Debatte immer wieder an-
geführten Vergleiche mit anderen Ländern. Das Arbeits-
recht funktioniert eben nicht nach dem Cafeteria-
Prinzip, bei dem Sie sich mal hier und mal da eine Klei-
nigkeit nehmen. Deshalb können Sie das französische
Agenturprinzip nicht mit dem deutschen Zeitarbeitsver-
hältnis vergleichen. Bei uns besteht zwischen Zeit-
arbeitsunternehmen und Zeitarbeitnehmer ein vollwerti-
ges sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit
allen Schutzrechten wie Kündigungsschutz,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Dumpinglöhnen! 35 bis 40 Prozent weniger!)


Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsansprü-
chen etc., von allen anderen arbeitsrechtlichen Regelun-
gen ganz zu schweigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Kommen Sie mal zum Schluss!)


Nur aus einem Anlass werden wir das Arbeitnehmer-
überlassungsgesetz in diesem Jahr noch einmal in den
Blick nehmen, und zwar vor dem Hintergrund der Her-
stellung der vollen Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus
den neuen EU-Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas
ab Mai 2011. Diese Freizügigkeit darf nicht dazu führen,
dass durch den Einsatz ausländischer Zeitarbeitnehmer
die Zeitarbeitsbranche in Deutschland diskreditiert wird
und es zu sozialen Verwerfungen kommt.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das Deutsche machen, ist das okay, oder was?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703510800

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.


Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1703510900

Dies zu verhindern, ist der Zweck des Arbeitnehmer-

Entsendegesetzes. Deshalb kommt für uns auch eine
Aufnahme der Zeitarbeit in das Gesetz in Betracht. Vo-
raussetzung dafür ist ein Mindestlohntarifvertrag der
Branche.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703511000

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Hiller-

Ohm von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1703511100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Kollege Kolb, Frau Brehmer, wir lernen aus Erfah-
rungen und ziehen die richtigen politischen Schlüsse für
die Beschäftigten. Das kann man leider nicht von allen
in diesem Haus sagen.


(Beifall bei der SPD)


Frau Ministerin von der Leyen hat der Leiharbeits-
branche vor wenigen Tagen ein Ultimatum gesetzt,
Missbrauch aus eigener Kraft zu unterbinden. Toll, die
vielen schwarzen Schafe sollen sich also selbst weißwa-
schen. Falls sie das nicht in einigen Wochen oder Mona-
ten – da bleibt die Ministerin ein bisschen unbestimmt –
schaffen, will die Ministerin zum Gesetzesknüppel grei-
fen. Die Auswüchse bei der Leiharbeit sind allerdings
nicht erst in diesen Tagen vom Himmel gefallen. Es gab
sie schon lange vor dem Skandal der Drogeriekette
Schlecker, über den wir bereits im Januar hier debattiert
haben. Jetzt den Finger zu heben, den Tarifparteien zu
drohen und auf Freiwilligkeit zu setzen, ist nicht sehr
überzeugend. Wir fordern die Ministerin auf: Warten Sie
nicht länger! Raus aus der Abwartstarre! Legen Sie ein
Gesetz vor!


(Beifall bei der SPD)


In unserem Antrag zeigen wir, wo es langgehen muss.

Wir haben unter Rot-Grün in Übereinstimmung mit
den Gewerkschaften 2003 das Arbeitnehmerüberlas-
sungsgesetz reformiert. Wir haben damals auf Fairness
der Arbeitgeber gesetzt. Dieser Schuss ging bedauerli-
cherweise nach hinten los. Wir haben gelernt: Fairness
ohne Regeln funktioniert nicht. Deshalb brauchen wir
klare Gesetze.


(Beifall bei der SPD)


Diese bittere Erfahrung sollte auch die Ministerin zur
Kenntnis nehmen. Die Ministerin hat ihre Betroffenheit
über die unhaltbaren Zustände in der Leiharbeitsbranche
zum Ausdruck gebracht. Ob dahinter aber tatsächlich der
Wille und vor allem die Kraft stecken, auch etwas für die
Menschen zu verbessern, wage ich zu bezweifeln.


(Beifall bei der SPD)


Gelegenheit dazu bestand bereits in der Großen Ko-
alition, als wir gemeinsam regiert haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und? Fehlanzeige!)


Was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, damals getan? Sie haben so auf der Bremse
gestanden, dass Ihnen heute noch die Füße wehtun müs-
sen.


(Beifall bei der SPD)


Ich bin mir sicher: Bis zur Landtagswahl in Nordrhein-
Westfalen werden wir in den Medien eine Ministerin se-
hen, die die Missstände in der Leiharbeitsbranche be-
klagt und tüchtig mit dem Finger droht. Dann kommt der
ganz große Katzenjammer. Warum, so frage ich Sie,
sollte die Union ausgerechnet mit einer marktradikalen





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)

FDP an ihrer Seite Arbeitnehmerrechte verbessern,
wenn sie es noch nicht einmal mit uns getan hat?


(Beifall bei der SPD)


Die Ministerin hat die Katze bereits aus dem Sack gelas-
sen. Sie will den Arbeitgebern ein tolles Geschenk ma-
chen und den Kündigungsschutz schleifen.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Wer will den schleifen?)


Als wenn wir nicht schon genug prekäre Beschäftigung
in Deutschland hätten. Nein, nun soll es noch mehr ge-
ben, und zwar durch die Ausweitung befristeter Arbeits-
verhältnisse.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Im Koalitionsvertrag steht etwas völlig anderes, Frau Kollegin!)


Das haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nun wirklich nicht verdient.


(Beifall bei der SPD – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Ich weiß nicht, wo Sie das gelesen haben!)


Zurück zur Leiharbeit. Schön, dass das Ministerium
dem Parlament nun endlich auch den Bericht über die
Erfahrungen mit der Arbeitnehmerüberlassung für den
Zeitraum 2005 bis 2008 vorgelegt hat. Leider ver-
schweigt der Bericht wichtige Fakten, die die tatsächli-
che Situation der Beschäftigten in der Leiharbeit be-
schreiben, Fakten, die zum Beispiel im IAB-
Forschungsbericht zum Thema Arbeitnehmerüberlas-
sung zu finden sind, oder Erfahrungen, die die Bundes-
agentur für Arbeit gesammelt hat. Wichtige Daten des
Statistischen Bundesamtes finden ebenfalls keine Be-
rücksichtigung. Der Deutsche Gewerkschaftsbund kriti-
siert diese Art der Berichterstattung zu Recht. Solange
die Probleme in der Leiharbeitsbranche von der Bundes-
regierung dermaßen verharmlost werden, wird man auf
tiefgreifende Änderungen vergeblich warten.

Aber zum Glück gibt es unseren Antrag. Wir wollen
gute Arbeit und faire Arbeitsbedingungen für die Leihar-
beit. Dazu gehören gleicher Lohn für gleiche Arbeit,
Mindestlohn, Begrenzung konzerninterner Verleihung,
Stärkung der Mitbestimmungsrechte und Synchronisa-
tionsverbot. Damit können wir es schaffen, Leiharbeit
auf ihre ursprüngliche Funktion, nämlich Auftragsspit-
zen zu bewältigen, zurückzuführen und für die Beschäf-
tigten in der Leiharbeit faire Arbeitsbedingungen sicher-
zustellen.

Die Forderungen in unserem Antrag sind im Übrigen
nicht neu. Bereits im Frühjahr 2008 haben die SPD-Bun-
destagsabgeordneten aus meinem Bundesland Schles-
wig-Holstein gemeinsam mit der IG Metall Küste einen
umfassenden Forderungskatalog zur Leiharbeit verab-
schiedet. Die Umsetzung ist allerdings bislang an der
Lernunfähigkeit der Union gescheitert. Das ist wirklich
schade für die mittlerweile über 600 000 Leiharbeitneh-
merinnen und Leiharbeitnehmer in Deutschland. Aber
man soll die Hoffnung ja nie aufgeben.


(Beifall bei der SPD)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703511200

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1703511300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Frau Hiller-Ohm, ich habe mit großen Oh-
ren vernommen,


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sie haben aber nur kleine!)


wie konsequent Sie in Ihrer Rede von Leiharbeit statt
von Zeitarbeit gesprochen haben.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gesetz steht „Leiharbeit“!)


Der Sinn ist klar: Sie möchten ein Arbeitsverhältnis dis-
kreditieren, das für viele Menschen hilfreich war und ein
Segen geworden ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Lesen Sie unseren Antrag!)


– Ich habe Ihre Rede sehr aufmerksam verfolgt, in der
Sie konsequent von der Leiharbeit gesprochen haben. –
Dieses Arbeitsverhältnis war für diejenigen Menschen
hilfreich – die christlich-liberale Koalition will diese
Menschen nicht aus dem Blick verlieren –, die bisher au-
ßerhalb des Arbeitsprozesses waren und für die die Zeit-
arbeit eine Möglichkeit ist, in ein Arbeitsverhältnis zu
gelangen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wissen, dass 62,2 Prozent der Menschen, die in Zeit-
arbeitsverhältnissen arbeiten, zuvor nicht beschäftigt
waren. Wir wissen, dass 11,4 Prozent davor überhaupt
noch nie beschäftigt waren. Das zeigt deutlich, dass Zeit-
arbeit den Menschen eine Chance bietet, wieder in die
Arbeitswelt integriert zu werden.


(René Röspel [SPD]: Das beweist gar nichts!)


Auf diesen positiven Effekt für die betroffenen Men-
schen wollen wir nicht verzichten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wir auch nicht!)


Wir werden nicht zulassen, dass dieses Arbeitsverhältnis
diskreditiert wird, sei es auch nur in der Wortwahl.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Missbräuche sollen abgeschafft werden!)


Was wir auch noch in den Vordergrund rücken wol-
len, ist der sogenannte Klebeeffekt. Dies ist kein schönes
Wort; aber der Sachverhalt, der dahintersteckt, ist klar.
Nun hat Frau Kramme in diesem Zusammenhang eine
Studie zitiert, die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass
15 Prozent der Menschen ein dauerhaftes Arbeitsver-





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

hältnis in den Betrieben erhalten. Es gibt eine andere
Studie – sie stammt vom Institut der deutschen Wirt-
schaft –, die von 25 Prozent spricht.


(Anette Kramme [SPD]: Das ist überhaupt keine wissenschaftliche Evaluierung!)


Irgendwo dazwischen wird vielleicht die Wahrheit lie-
gen; wir müssen uns da nicht festlegen. Aber auf genau
diesen Effekt wollen wir im Sinne der betroffenen Men-
schen nicht verzichten.

Ich füge hinzu: Es gibt darüber hinaus den Effekt,
dass Menschen, die in Zeitarbeitsverhältnissen gearbei-
tet haben, zwar nicht in dem entleihenden Unternehmen
tätig geworden sind, aber in einem anderen. Es gibt Stu-
dien, die davon ausgehen, dass dies in 20 Prozent der
Fälle so ist. Ich sage für die christlich-liberale Koalition:
Auf diesen positiven Effekt wollen wir nicht verzichten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Schauen Sie doch mal in den Bericht aus Nordrhein-Westfalen!)


Frau Kramme, wir gestehen Ihnen zu, dass Sie dazu-
lernen wollen. Sie sollten allerdings nicht den Eindruck
erwecken, dass dieses Dazulernen erst nach dem
28. September 2009 eingesetzt hat,


(Anette Kramme [SPD]: Das ist doch Blödsinn! Schauen Sie sich die alten Beschlüsse der Parteitage an! Das ist doch lächerlich! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Besser spät als nie!)


letztlich koalitionstaktisch motiviert ist und nicht der Sa-
che entspricht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703511400

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

das Wort der Kollege Ulrich Lange von der CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1703511500

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren von der SPD, Ihr heutiger An-
trag ist die Demonstration des späten schlechten Gewis-
sens. Wie Sie selber sagen: In der Regierung haben Sie
Fehler gemacht. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Sie das
heute so sehen. In der Opposition haben Sie, nachdem
Sie elf Jahre das Arbeitsministerium innehatten, diese
Erkenntnis. Wir können Ihnen nur wünschen: Bleiben
Sie in der Opposition!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Sie wollten nicht mitmachen!)


Jetzt versuchen Sie krampfhaft die Rolle rückwärts
aus der – wie ich es das letzte Mal vor acht Wochen ge-
nannt habe – Populismusfalle.

(Anette Kramme [SPD]: Das wird allenfalls ein Purzelbaum!)


– Es wird ein Salto mortale. Ihr ehemaliger Arbeits- und
Wirtschaftsminister Clement hat das damals als „Hartzer
Rolle rückwärts“ bezeichnet.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal was zum Inhalt!)


Das ist ein Salto mortale rückwärts, um ganz links zu
landen; das hat man gemerkt. Aber das schaffen Sie
nicht.


(René Röspel [SPD]: Beim Salto mortale landet man genau da, wo man gestartet ist!)


Das hat Ihnen die Kollegin Krellmann gerade vorge-
macht. Sie springen nach links,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie zur Sache!)


und in der Zwischenzeit springen die Linken noch ein
Stück weiter.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie kommen nicht hinterher. Lesen Sie das Lafontaine’sche
Manifest. Dann wissen Sie, was los ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gefällt mir!)


– Es ist einfach so. Die heutige Debatte kann man nicht
anders bewerten.

Ich möchte Sie nicht nur schelten; denn in seiner
Grundidee ist das AÜG richtig.


(Thomas Oppermann [SPD]: Jetzt kommen Sie mal zur Sache, Herr Kollege!)


Die jetzt vorgelegte Unterrichtung ist nichts anderes als
eine Bilanz des Arbeitsministers Olaf Scholz.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie jetzt wieder bei dem Thema? Können Sie mal was zur Leiharbeit sagen?)


– Es nützt Ihnen nichts. Sie müssen sich das anhören. –
Auf die positiven Effekte hat der Kollege Kober eben
hingewiesen. Auch ich habe sie mir noch einmal aufge-
schrieben: Die Leih- bzw. Zeitarbeit – ich verwende
beide Begriffe, damit Sie zufrieden sind – ist ein wichti-
ger Faktor auf dem deutschen Arbeitsmarkt geworden.
Wir wollen diesen wichtigen Faktor erhalten. Zeitarbeit
schafft Perspektiven. Sie ist die Brücke in den ersten Ar-
beitsmarkt, die wir so dringend brauchen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist völliger Unsinn! Das stimmt überhaupt nicht! Leiharbeit ist eine Sackgasse!)


Außerdem handelt es sich um voll sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigungsverhältnisse.





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Frau Kollegin Kramme, in einem Punkt kann ich Ih-
nen nicht recht geben. Bei der Zeitarbeit gelten die glei-
chen Arbeitnehmerschutzrechte wie in anderen Arbeits-
verhältnissen. Sie behaupten, das stimme weder beim
Urlaub noch beim Kündigungsschutz.


(Anette Kramme [SPD]: Wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie, dass ich das nicht behauptet habe!)


Das ist nicht richtig. Ich gehe davon aus, dass Sie das als
Rechtskundige wissen, auch wenn Sie einen anderen
Eindruck vermitteln wollen.


(Anette Kramme [SPD]: Wenn Sie zugehört hätten, würden Sie keine so dämliche Behauptung aufstellen!)


– Ich habe zugehört. – Ich nenne Ihnen noch einen Punkt,
wo Sie die Linke nicht einholen werden – Sie gehen nur
ein bisschen auf sie zu; die Linke geht viel weiter –: Wir
wollen keine zusätzlichen Mitbestimmungsrechte in der
Zeitarbeit.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Haben sie nun die gleichen Rechte oder nicht?)


Es wäre das Ende der Zeitarbeit, wenn wir versuchen
würden, das über Einigungsstellen zu regeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das funktioniert nicht. Das kann ich Ihnen aus der Praxis
berichten.

Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben auf die Kritik
des DGB Bezug genommen. Ich habe mir das extra aus
meinen Unterlagen herausgesucht. Schon wieder kann
man sehen, wie nahe Sie an der Linken dran sind; denn
die DGB-Kritik bezieht sich auf eine Kleine Anfrage der
Linken aus der letzten Legislaturperiode, auf Drucksa-
che 16/9410. Nennen Sie doch gleich Ross und Reiter.
Sagen Sie, wohin Sie wollen. Setzen Sie sich in einer
vereinigten Linken zusammen. Dann ist das in Ordnung;
aber führen Sie keine solchen Debatten.


(Burkhard Lischka [SPD]: Kommen Sie zum Thema! – Der Abg. Steffen-Claudio Lemme [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)


– Nein. Wenn Sie reden wollen, dann lassen Sie sich auf
die Rednerliste setzen. Ansonsten rede heute ich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sagen überhaupt nichts!)


Die christlich-liberale Koalition steht zur seriösen
und soliden Zeitarbeit. Wir sagen klar Nein zum Lohn-
dumping und zum Drehtüreffekt.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber wo sind denn die Maßnahmen? Einfach Nein zu sagen, reicht nicht aus!)


In meiner letzten Rede habe ich das bereits ausgeführt.
Wir glauben an die Tarifvertragsparteien und möchten ih-
nen das überlassen. Schauen Sie sich den neuen Tarifver-
trag der BZA-DGB-Tarifgemeinschaft an. Es sind 3 Cent
mehr als bei den christlichen Gewerkschaften. Ich würde
vorschlagen, dass Sie die Kirche im Dorf lassen.

Wir sagen Nein zum Missbrauch. Das haben Angela
Merkel und Ursula von der Leyen deutlich gemacht. Ge-
ben Sie den Menschen durch die Zeitarbeit die Chance,
auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren.

Herzlichen Dank und frohe Ostern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703511600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1155 und 17/464 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard
Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht
dem Zufall überlassen

– Drucksache 17/1149 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll von der
Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703511700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Bekämpfung von Steuerflucht funktio-
niert in Deutschland letztendlich nur noch über den An-
kauf von illegal beschafften Steuersünder-CDs. Damit
wird offenkundig der Teufel mit dem Beelzebub ausge-
trieben. Sich auf kriminelle Machenschaften zu stützen,
ist dem Anspruch eines Rechtsstaates nach Meinung der
Linken nicht nur unwürdig, sondern auch ungerecht und
uneffektiv, da rein willkürlich und zufällig.

Die Ergebnisse der internationalen Verhandlungen zur
Bekämpfung von Steuerflucht sind bescheiden, sofern
überhaupt welche erreicht werden; denn etliche Steuer-
paradiese spielen ganz offenkundig auf Zeit. Aufgrund
bloßer Absichtserklärungen, ohne auch nur einen Deut
verändert zu haben, werden sie von der OECD nicht
mehr als Steueroasen betrachtet.





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

Das Beispiel Frankreich zeigt allerdings, dass man
sich von der Definitionsmacht der OECD nicht abhängig
machen muss. Frankreich hat eigene Kriterien entwi-
ckelt. Auf deren Grundlage kann Frankreich seit Februar
18 Länder eindeutig als Steueroasen bestimmen, und
Frankreich hat es getan. Demgegenüber kennt die Bun-
desregierung bis heute keine einzige Steueroase. Würden
wir jedoch die französischen Kriterien anwenden, so wä-
ren auch bei uns mindestens 10 der 18 Steueroasen als
solche einzuordnen.

Wir brauchen also einfach eine eindeutige Definition.
Deshalb schlagen wir Ihnen vor, dass alle Staaten, die
nicht bis zum 30. Juni dieses Jahres die folgenden beiden
Bedingungen erfüllen, als Steueroasen gelten und als
solche behandelt werden:


(Beifall bei der LINKEN)


Erstens. Es muss ein Abkommen mit Deutschland
über den Informationsaustausch in Steuersachen nach
dem OECD-Standard nicht nur angekündigt, sondern
auch umgesetzt sein.

Zweitens. Es muss eine Verpflichtung dieser Staaten
vorliegen, die zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung
notwendigen Informationen auch zu erheben;


(Beifall bei der LINKEN)


denn ohne die entsprechenden Informationen läuft jedes
Auskunftsersuchen offenkundig ins Leere.

Als erste Maßnahme sind vorhandene Doppelbesteue-
rungsabkommen mit den Steueroasen zu kündigen. Die
eindeutige Identifikation dieser ermöglicht sodann wirk-
same Maßnahmen auf nationaler Ebene. Hierzu schlagen
wir Ihnen vor: Dividenden, Zinsen und Lizenzabgaben,
die in Steueroasen fließen, müssen mit einer spürbaren
Quellensteuer von 50 Prozent belegt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Quellensteuerbefreiung für Personen mit Wohnsitz
in Steueroasen muss natürlich aufgehoben werden. Ähn-
liches hat Frankreich bereits umgesetzt. Banken, die
Filialen oder gar ihren Sitz in Steueroasen haben, muss die
Geschäftsgenehmigung entzogen werden. Ich glaube, das
ist ein sehr wirksames Mittel. Die zur Besteuerung rele-
vanten Informationen müssen über eine Meldepflicht für
Vermögenstransfers über 100 000 Euro ins Ausland be-
schafft werden. Das sind drei ganz konkrete Maßnah-
men, die wir relativ schnell umsetzen könnten.

Die Bekämpfung von Steuerhinterziehung ist aber
nicht zuletzt auch eine Frage der Personalausstattung der
Steuerverwaltungen. Hier liegt in Deutschland aufgrund
der föderalen Gestaltung sehr viel im Argen. Man muss
einfach feststellen, dass es sich für die Bundesländer gar
nicht lohnt, Investitionen in die Steuerverwaltung zu tä-
tigen, da ihnen daraus resultierende Mehreinnahmen
über den Länderfinanzausgleich gleich wieder abgenom-
men werden. Auch fehlt ein verbindlicher Standard bei
der Ermittlung des Personalbedarfs. Hier besteht drin-
gender Änderungsbedarf.


(Beifall bei der LINKEN)

Auf EU-Ebene bleibt die Neugestaltung der EU-Zins-
richtlinie vorrangig. Diese muss endlich alle Kapitalein-
künfte erfassen und auch für Kapitalgesellschaften gel-
ten.

Noch eine grundsätzliche Forderung: Schaffen Sie
endlich die ungerechte und hinterziehungsanfällige Ab-
geltungsteuer ab. Kapitaleinkommen gehören genauso
wie Lohneinkommen dem persönlichen Steuersatz un-
terworfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dies wäre ein wichtiger erster Schritt zur Eindämmung
des internationalen Steuerwettbewerbs, der Steuerhinter-
ziehung überhaupt erst attraktiv macht.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703511800

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703511900

Die Linke meint: Die Bekämpfung der Steuerhinter-

ziehung darf nicht dem Zufall überlassen werden. Des-
halb haben wir unsere Vorschläge hier zur ersten Bera-
tung vorgelegt.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703512000

Das Wort hat der Kollege Manfred Kolbe von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1703512100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich begrüße insbesondere die beiden Mitglie-
der meiner Arbeitsgruppe, Patricia Lips und Mathias
Middelberg, die zu dieser Debatte erschienen sind.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Dann können wir ja sofort die Abstimmung machen!)


Die unionsgeführte Bundesregierung, Frau Höll, hat
nicht nur gefordert, sie hat bei der Bekämpfung der
Steuerhinterziehung auch gehandelt.


(Thomas Oppermann [SPD]: Erstens fordert sie nicht, und zweitens handelt sie nicht!)


Unsere Bilanz seit 2005 ist eindrucksvoll. Da könnten
auch Sie von der SPD klatschen; Sie waren ja einige
Jahre dabei.

Wir haben den verfassungsrechtlich problematischen
§ 370 a der Abgabenordnung abgeschafft und verfas-
sungsfest durch § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 der Abgaben-
ordnung ersetzt, durch den eine bandenmäßige Hinter-
ziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuern qualifiziert
bestraft wird.

Wir haben mit dem Gesetz zur Neuregelung der Tele-
kommunikationsüberwachung die bandenmäßige Hin-
terziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuer in den Ka-
talog des § 100 a Strafprozessordnung aufgenommen.





Manfred Kolbe


(A) (C)



(D)(B)

Damit ermöglichen wir erstmals eine Telekommunika-
tionsüberwachung bei Steuerhinterziehungstaten. Das
hat es vorher nicht gegeben.

Wir haben im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2009
die Verjährungsfrist für besonders schwere Fälle der
Steuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert.

Neben unseren gesetzgeberischen Aktivitäten arbeitet
auch die Steuerfahndung in Deutschland erfolgreich.
Jahr für Jahr gibt es 40 000 Verfahren, 17 000 Strafver-
fahren und Mehreinnahmen in Milliardenhöhe.

Sehr zu begrüßen ist auch, dass der Bundesgerichts-
hof jüngst die Strafzumessungsregeln bei Steuerhinter-
ziehung präzisiert hat. Der Strafrahmen von bis zu zehn
Jahren Freiheitsstrafe ist durchaus ausreichend, aber
man hatte manchmal, wenn man die Urteile gelesen hat,
den Eindruck, dass er nicht immer voll ausgeschöpft
wurde. Deshalb hat der Bundesgerichtshof jetzt ent-
schieden, dass Freiheitsstrafen künftig schon bei einem
Steuerschaden von mehr als 50 000 Euro möglich und ab
100 000 Euro, jedenfalls bei Wiederholungstätern, uner-
lässlich sind. Bei Hinterziehung in Millionenhöhe ist
auch bei Ersttätern grundsätzlich eine Freiheitsstrafe ge-
boten. Wer künftig Steuern in Millionenhöhe hinterzieht,
wird also tatsächlich im Gefängnis sitzen. Das ist richtig
so.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schließlich haben wir den Koalitionsantrag „Steuer-
hinterziehung bekämpfen“ beschlossen, in dem insbe-
sondere eine umfassende Überarbeitung und Erwei-
terung der EU-Richtlinie zur Zinsbesteuerung und ein
verbesserter Informationsaustausch auf internationaler
Ebene gefordert werden. Dies haben wir im Laufe des
letzten Jahres erreicht. Wir haben jetzt mit allen großen
Industriestaaten einen Informationsaustausch, der den
OECD-Standards entspricht. Derzeit laufen letzte Ver-
handlungen. Beispielsweise wird heute Bundesfinanz-
minister Schäuble seinen Schweizer Amtskollegen tref-
fen; auch hier werden wir zu einem erfolgreichen
Abschluss gekommen.

In Brüssel liegt auch ein Abkommen der EU mit
Liechtenstein unterschriftsreif vor. Man höre und staune
– im Ausschuss am Mittwoch waren wir alle etwas er-
staunt –: Das wird von Luxemburg und Österreich blo-
ckiert, weil sie weniger einschneidende Maßnahmen bei
der EU-Richtlinie zur Zinsbesteuerung fordern. Das ist
in der Tat unerhört. Die Sozialdemokraten haben letztes
Jahr den Einsatz der Kavallerie gefordert.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)


Jetzt könnten Sie zumindest zum Telefonhörer greifen
und mit dem österreichischen Bundeskanzler sprechen,
damit er eine etwas konstruktivere Haltung einnimmt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Hat Angela Merkel das denn schon gemacht?)


Wir haben auch gerade in den letzten Wochen bewie-
sen, dass wir Steuerhinterziehung energisch bekämpfen,
Stichwort „Steuersünder-CD“. Obwohl das eine schwie-
rige rechtliche Frage ist, die eine Abwägung erfordert,
hat sich die Bundeskanzlerin klar positioniert. Am
1. Februar dieses Jahres hat sie gesagt: Vom Ziel her
sollten wir, wenn diese Daten relevant sind, auch in ih-
ren Besitz kommen. Jeder vernünftige Mensch weiß,
dass Steuerhinterziehung geahndet werden muss. – Das
war von Anfang an keine Moderation, sondern eine klare
Positionierung, und das auf einem schwierigen Rechts-
gebiet.

Es geht um einen Konflikt, der sämtliche Rechtsord-
nungen seit Jahrhunderten durchzieht: Man möchte die
materielle Wahrheit erforschen, darf dabei aber nicht alle
denkbaren Mittel anwenden, muss also prozessual ein-
wandfrei vorgehen. Hier sind in allen Rechtsordnungen
immer wieder schwierige Abgrenzungen vorzunehmen.
Die Frage ist: Liegt ein Beweisverwertungsverbot vor,
wenn Beweismittel, wie im Falle der Steuer-CD offen-
kundig, rechtswidrig erlangt worden sind?


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dazu liegt bisher aber noch kein Urteil vor!)


Diese Abwägung haben wir durchgeführt und sind zu
einem eindeutigen Ergebnis gekommen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!)


Die Koalition verfolgt nicht nur die Steuerhinterziehung
energisch, sondern wahrt dabei auch die rechtsstaatli-
chen Grundsätze.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Martin Gerster [SPD]: Zarter Applaus! – Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist ja beeindruckend!)


Unsere Politik ist erfolgreich. Seit Beginn dieses Jah-
res sind bei deutschen Finanzämtern über 10 000 Selbst-
anzeigen eingegangen. Wir erzielen möglicherweise
Steuermehreinnahmen in Milliardenhöhe. Dies zeigt,
dass wir erfolgreich sind und dass man sehr vorsichtig
sein muss, ehe man die vollständige Abschaffung des
§ 371 Abgabenordnung fordert.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)


Dieser Schuss kann auch leicht nach hinten losgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Abschließend will ich noch zu dem Antrag der Lin-
ken kommen. Frau Höll, einige Punkte Ihres Antrags
sind wirklich bemerkenswert,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das finden wir auch!)


selbst dann, wenn man berücksichtigt, welches Niveau
die Anträge, die die Linken sonst einbringen, haben.
Zum Teil ist das, was Sie fordern – wenn dieser Aus-
druck nicht unparlamentarisch ist, Herr Präsident –,
wirklich abwegig.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Herr Kollege, das ist aber noch sanft ausgedrückt! – Heiter Manfred Kolbe keit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)





(A) (C)


(D)(B)


Erstens. Sie fordern, dass Deutschland auf dem Ge-
biet der internationalen Steuerhinterziehung einen natio-
nalen Alleingang unternimmt. Die Bundesregierung soll
hierzu einen Gesetzentwurf vorlegen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Was Frankreich kann, können wir doch wohl auch, oder nicht?)


Das Problem der internationalen Steuerhinterziehung
können wir möglicherweise noch nicht einmal auf euro-
päischer Ebene alleine lösen, sondern das ist nur global
möglich. Aber Sie fordern die Bundesregierung auf, ein
nationales Gesetz zu diesem sehr komplizierten Gebiet
vorzulegen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Natürlich!)


Das ist doch kompletter Unsinn. Das wird zu keinem Er-
gebnis führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Andere können das! Da soll die Bundesregierung aktiv werden! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: In Frankreich war das kein Problem!)


Zweitens. Sie möchten, dass Deutschland eine Liste
„nicht kooperativer Staaten“ aufstellt.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Für sich! Ja!)


Wollen Sie allen Ernstes, dass die Bundesregierung eine
Liste „nicht kooperativer Staaten“ aufstellt?


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Ja! Jetzt glauben Sie es doch endlich!)


Das ist doch nationale Kanonenbootpolitik. Das geht
nach hinten los.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Leo Dautzenberg [CDU/CSU], an die LINKE gewandt: Denunziantentum kanntet ihr ja schon immer!)


Wegen der Äußerungen des ehemaligen Bundes-
finanzministers Steinbrück hatten wir schon genug Pro-
bleme;


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Wollen Sie Steueroasen abschaffen oder nicht?)


damals war von Indianern, von der Kavallerie und von
Ouagadougou die Rede.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie waren aber sehr wirksam!)


Jetzt soll die Bundesrepublik Deutschland eine Liste
nicht kooperationswilliger Staaten aufstellen,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Daran ist doch nichts Besonderes! – Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]: Das macht die OECD doch sowieso!)


an der OECD und der EU vorbei. Das ist wirklich hane-
büchener Unsinn.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Herr Sarkozy ist kein Linker, aber der hat es gekonnt!)


Was Ihre dritte Forderung betrifft, möchten Sie, dass
sie bis zum 30. Juni 2010 erfüllt wird. Dieses Datum
muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Zu Ihrer
Information: Heute ist der 26. März 2010.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja, genau! Das sind noch dreieinhalb Monate!)


Selbst wenn Ihr Antrag eine Mehrheit fände und der
Bundestag ihm zustimmen würde, wäre es April oder
Mai, ehe die Bundesregierung tätig würde.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wir können doch sofort eine Abstimmung machen! Noch heute!)


Sie fordern die Bundesregierung auf, bis zum 30. Juni
2010 alle Doppelbesteuerungsabkommen, die Deutsch-
land geschlossen hat, zu kündigen,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein! Nur die mit nicht kooperativen Staaten! Lesen!)


wenn sich der jeweils andere Staat nicht kooperativ ver-
hält. Das ist eine Forderung, die den deutschen Interes-
sen massiv schaden würde.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Mit diesen Staaten?)


– Herr Kollege Troost, Deutschland als international
agierender Staat hat ein großes Interesse an Doppelbe-
steuerungsabkommen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Mit Steueroasen?)


– Es geht ja um alle Doppelbesteuerungsabkommen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein!)


– Mit Steueroasen schließen wir gar keine Doppel-
besteuerungsabkommen; das sollten Sie wissen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das Problem ist aber, dass ein Teil der Länder das macht!)


Doppelbesteuerungsabkommen werden nur mit wirt-
schaftlich tätigen Ländern geschlossen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die machen dann eine eigene Steueroasenverwaltung!)


Wir haben doch beide selber erlebt, wozu die Kündigung
eines Doppelbesteuerungsabkommens führt: Das scha-
det der deutschen Wirtschaft, das schadet den deutschen
Kulturschaffenden vor Ort. Eine Kündigung ist Unsinn.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Da geht es um andere Länder!)


– Dann fordern Sie doch so etwas nicht in einem Antrag!
Bis zum 30. Juni 2010 alle Doppelbesteuerungsabkom-
men zu kündigen, das ist einfach ein Eigentor.


(Zuruf von der LINKEN: Nein, nur mit Steueroasen!)


Ich sage abschließend: Ersparen Sie uns die Beratung
dieses Antrages im Ausschuss!





Manfred Kolbe


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das könnte Ihnen so passen!)


Ziehen Sie den Antrag in Ihrem eigenen Interesse zu-
rück!

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Im Gegenteil, wir werden eine Anhörung dazu beantragen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703512200

Das Wort hat der Kollege Martin Gerster von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1703512300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als

ich zu Beginn dieser Woche erfahren habe, dass das
Thema Steuerhinterziehung einmal mehr auf der Tages-
ordnung des Deutschen Bundestages steht, war ich zu-
nächst erfreut. Schon als ich den Titel Ihres Antrags ge-
lesen hatte, dachte ich allerdings: Das ist offensichtlich
ein mit heißer Nadel gestrickter, unausgegorener Antrag.
Der Titel „Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht
dem Zufall überlassen“ passt nicht. Der Faktor Zufall ist
nicht das, was wir angehen müssen. In Bezug auf die
Steuerhinterziehung haben wir doch ein ganz anderes
Problem: dass es mancher politischen Partei in Deutsch-
land an dem Willen fehlt, Steuerhinterziehung wirksam
und nachhaltig zu bekämpfen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Was sagen Sie zum Kauf von Steuersünder-CDs?)


Kollege Manfred Kolbe, ich schätze Sie persönlich
sehr. Sie haben hier von einer eindrucksvollen Bilanz ge-
sprochen. Was wir in der Großen Koalition auf den Weg
gebracht haben, kann sich, denke ich, sehen lassen. Aber
wer war eigentlich der Motor, wer war die Triebfeder für
all das, was wir gemacht haben? Das war doch nicht die
Unionsfraktion, das war doch nicht die Kanzlerin. Es
war Finanzminister Peer Steinbrück von der SPD, der
das Ganze angeregt und angetrieben hat.


(Beifall bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau! Mit seiner Kavallerie! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wie weit sind Sie beim § 370 Abgabenordnung?)


Das gehört doch auch zur Wahrheit: Wir mussten Sie
zum Jagen tragen, damit wir am Schluss nach quälenden
Diskussionen und Monaten des Verschiebens überhaupt
etwas auf den Weg bringen konnten.

Wenn ich hier höre, dass Schwarz-Gelb die Steuerhin-
terziehung tatsächlich zum großen Thema mache, will ich
sagen: Ich habe den Eindruck, dass Schwarz-Gelb keine
klare Linie hat. Was Sie hier veranstalten, ist ein Torso.
Schauen Sie einmal, was die Landesregierung von Ba-
den-Württemberg macht! FDP-Justizminister Goll sagt:
Wir wollen diese Steuer-CD nicht ankaufen. CDU-
Finanzminister Stächele sagt: Wir wollen sie kaufen. Der
neue Ministerpräsident, Stefan Mappus, sagt: Wir kaufen
sie lieber nicht. – Andernfalls wäre nämlich seine Wahl
gefährdet gewesen. Das ist doch kein effizienter Kampf
gegen Steuerhinterziehung. Baden-Württemberg hätte
diese CD kaufen müssen. Dann hätten Sie Ihren eigenen
Minister, Bundesfinanzminister Schäuble, nicht in die
missliche Situation gebracht, dass er letztendlich von
Bundesland zu Bundesland laufen und jemanden suchen
musste, der sich bereit erklärt, diese Steuer-CD zu kaufen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass NRW diese CD längst erworben hat, Herr Kollege?)


– In NRW hat man diese CD jetzt gekauft. Die Frage
bleibt: Ist das eigentlich ein nachhaltiger und guter An-
satz, um Steuerhinterziehung zu bekämpfen? Sie sind
doch ganz unterschiedlich unterwegs: Hier sagen Sie Ja,
dort sagen Sie Nein.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zufall!)


So sieht ein effektiver Kampf gegen Steuerhinterziehung
jedenfalls nicht aus.


(Beifall bei der SPD)


Ich will deutlich machen, dass es hier nicht um ir-
gendein Thema geht. Die Steuerhinterziehung hat eine
gigantische Dimension angenommen, ein unglaubliches
Ausmaß: 11 000 Selbstanzeigen – davon, vielleicht auch
kein Zufall, 3 000 in Baden-Württemberg – sprechen für
sich.

Es wäre notwendig, dass Schwarz-Gelb überall dort,
wo man in den Ländern Verantwortung trägt, sagt: An-
gesichts der Verfahren, die jetzt eingeleitet werden, muss
die Steuerfahndung personell besser ausgestattet werden.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist es!)


Was passiert in den Ländern, in denen Sie regieren? Gar
nichts.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Doch!)


Das zeigt: Es ist kein Zufall, es hat System. Es fehlt an
dem politischen Willen, tatsächlich intensiv gegen Steu-
erhinterziehung vorzugehen.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Da, wo wir verantwortlich sind, sind die CDs erworben worden!)


Das zeigt, dass wir sinnvolle, nachhaltige Maßnahmen
brauchen, um der systematischen Hinterziehung von
Geldern entgegenzuwirken. Das sind im Übrigen Gelder,
die wir für öffentliche Leistungen dringend brauchen.
Ich erinnere nur an die Haushaltsberatungen der letzten
Woche oder auch an jeden einzelnen Tagesordnungs-
punkt hier im Plenum, den wir diskutieren. Überall stellt
sich die Frage: Woher soll das Geld kommen? Sie wären
gut beraten, die Maßnahmen in Sachen Steuerhinterzie-
hung zu intensivieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-
tion, ich komme ganz konkret auf Ihren Antrag zu spre-





Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)

chen. Ich habe den Eindruck, dass es sich um einen
Schaufensterantrag handelt.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein!)


Es ist sicher richtig: Wir müssen schauen, dass wir die
OECD-Standards bei den Doppelbesteuerungsabkom-
men einhalten. Es ist sicher auch wichtig, dass wir den
Austausch der Informationen zur Ermittlung der Delikte
so umfassend wie möglich gestalten. Aber ich komme
auf das zurück, was der Kollege Kolbe gesagt hat: Was
bringt uns bitte schön die Androhung, die bestehenden
Doppelbesteuerungsabkommen zum 30. Juni dieses Jah-
res zu kündigen? Die internationale Signalwirkung wäre
aus meiner Sicht verheerend. Wer wäre davon betroffen?
Die Leidtragenden wären die unbescholtenen, ehrlichen
Bürgerinnen und Bürger, die dann nach Auflösung der
Doppelbesteuerungsabkommen damit rechnen müssten,
dass sie, ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen,
an dieser Stelle doppelt besteuert würden. Ich denke,
dass nationale Drohgebärden ohne Verbündete auf inter-
nationaler Ebene keine Lösung sein können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Richtig hingegen, so glauben wir, ist der Weg, den
Bundesfinanzminister Peer Steinbrück damals mit sei-
nem französischen Kollegen eingeschlagen hat. Dieser
Weg war richtig und erfolgreich. Die Reaktionen der be-
troffenen Länder machen deutlich, dass sie die OECD-
Standards umsetzen und dass die angedrohten Maßnah-
men gegenüber diesen unkooperativen Staaten Wirkung
zeigen. Wir glauben, dass wir in der Großen Koalition
sehr viel Wichtiges auf den Weg gebracht haben.

Kollege Kolbe hat das Steuerhinterziehungsbekämp-
fungsgesetz angesprochen, ein riesiger Schritt. Damit
haben wir viel erreicht. Wir hätten noch ein bisschen
mehr erreichen können, Herr Kolbe, wenn unser Koali-
tionspartner nicht immer so widerspenstig gewesen
wäre. Aber die Anhebung der Verjährungsfrist in Fällen
besonders schwerer Steuerhinterziehung, der Ausbau der
Möglichkeiten, die Steuerhinterziehung zu verfolgen,
aber auch die Einschränkung der Steuergestaltungsmög-
lichkeiten bei der Unternehmensteuerreform 2008 waren
richtige Schritte. Schade ist, dass offenbar Ihr ohnehin
nicht besonders ausgeprägter Ehrgeiz mit dem neuen
Koalitionspartner an dieser Stelle ganz erloschen ist.


(Beifall bei der SPD)


Bislang haben wir von Ihnen jedenfalls zu diesem
Thema keine Initiative gesehen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Warten Sie mal ab!)


Von der FDP-Fraktion vermissen wir seit Jahren parla-
mentarische Initiativen zum Thema Bekämpfung von
Steuerhinterziehung.


(Zuruf von der SPD: Das hat Gründe!)


– Das hat sicher auch Gründe.

Kurzum: Wir haben ein klares Ziel. Steuerhinterzie-
hung muss endlich intensiv bekämpft werden, und zwar
noch stärker als bisher. Sie von Schwarz-Gelb sind da
gefordert. Steuerhinterziehung muss aus dem verniedli-
chenden Image des Kavaliersdelikts herauskommen. Wir
brauchen diese Gelder, die notwendig sind, wichtige In-
vestitionen für unser Land zu tätigen. Deswegen glauben
wir, dass weitere Maßnahmen erforderlich sind, zum
Beispiel ein einheitlicher Umgang mit den angebotenen
Daten von Steuerhinterziehern. Wir müssen die Länder
in die Lage versetzen, die Steuerfahndungen entspre-
chend auszubauen. Wir brauchen in der Steuerfahndung
eine internationale Zusammenarbeit, besonders beim
Umsatzsteuerbetrug.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ich denke, sagen zu können: Die
SPD-Fraktion steht für die konsequente Verfolgung und
Ahndung von Steuerkriminalität in der Vergangenheit,
aber auch in der Zukunft. Deswegen werden wir weitere
Initiativen auf den Weg bringen.

Herzlichen Dank und frohe Ostern.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703512400

Das Wort hat der Kollege Daniel Volk von der FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1703512500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Um eines vorab klarzustellen: Steuerhinterziehung
ist in Deutschland kein Kavaliersdelikt, sondern eine
Straftat. Trotzdem muss sich der Staat auch selbst an gel-
tendes Recht halten. Der Diebstahl von Daten Tausender
Bankkunden ist ebenso eine Straftat. Daher muss genau
geprüft werden, ob der Kauf von Informationen zulässig
ist. Die FDP unterstützt den Bundesminister der Finan-
zen in seinem Vorgehen gegen Steuerhinterziehung, aber
dies muss im Einklang mit den Prinzipien unseres
Rechtsstaates stehen.


(Beifall bei der FDP)


Was die Linksfraktion mit dem Titel ihres Antrags
suggerieren möchte, nämlich dass Steuerfahndung sozu-
sagen ein Zufall sei,


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und was sagt uns das?)


ist an sich eine Beleidigung sämtlicher Finanzbeamter,
die ihren Dienst sehr ordentlich versehen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Und was ist mit den CDs? Wussten die Bescheid, was da drauf ist?)


Sie beleidigen damit 152 400 Finanzbeamte in 1 536 Fi-
nanzämtern. Das muss auch klar gesagt sein.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703512600

Herr Kollege Volk, erlauben Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Höll?






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1703512700

Nein. – Allerdings stellen sich in unserem Land nicht

wenige Menschen die Frage, ob unser Steuersystem
noch gerecht ist. Wenn mittlerweile nicht mehr nur die
Leistungsträger, sondern auch die gesamte Mittelschicht
finanziell ausgequetscht wird, dann kann man das ver-
stehen. Wir werden für ein einfaches, niedriges und ge-
rechtes Steuersystem sorgen


(Lachen bei der LINKEN)


und damit auch die notwendigen Ressourcen in den Fi-
nanzämtern für die Steuerfahndung und Steuerüberprü-
fung freisetzen.


(Beifall bei der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Ja, ja, darauf haben wir aber lange warten müssen!)


Das macht auch einen allzu neugierigen Staat in vie-
len Bereichen überflüssig. Wenn man den Antrag der
Linksfraktion liest, dann hat man ein bisschen das Ge-
fühl – ich habe es jedenfalls –, dass sie ganz gerne wie-
der einen Schnüffelstaat hätte. Damit kennen Sie sich in
Ihrer Geschichte ja sehr gut aus.


(Beifall bei der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Dann lesen Sie mal die Antworten aus dem Finanzministerium!)


Wir werden dafür sorgen, dass sich Arbeit wieder
lohnt, dass den Bürgern mehr Netto vom Brutto bleibt.


(Thomas Oppermann [SPD]: Mehr Netto in die eigene Tasche? – Weitere Zurufe von der SPD und von der LINKEN)


Das Steuersystem und das Besteuerungsverfahren wer-
den wir deutlich vereinfachen und für die Anwender
freundlicher gestalten: Zeitnahe Betriebsprüfungen, ge-
rechtere Steuern, die Abschaffung des Mittelstandsbau-
ches, Steuerverfahrensvereinfachungen werden Schritte
– um nur einige zu nennen – in die richtige Richtung
sein.


(Thomas Oppermann [SPD]: Wann kommen denn Ihre Schritte?)


Sie von der Linksfraktion wollen Übertragungen von
Geldvermögen ins Ausland ab einem jährlichen Betrag
von 100 000 Euro meldepflichtig machen. Ihnen ist hof-
fentlich klar, dass das ein Verstoß gegen die Kapitalver-
kehrsfreiheit innerhalb der Europäischen Union ist.


(Thomas Oppermann [SPD]: Sie sind ein Vorkämpfer der Kapitalverkehrsfreiheit! – Zurufe von der LINKEN: Oh! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist ein Witz!)


Insofern sieht man auch hier, dass die Linkspartei offen-
bar bereit ist, gegen die Bestimmungen und Vereinba-
rungen der Europäischen Union zu verstoßen.

Die mehr als 100 Doppelbesteuerungsabkommen, die
Deutschland mit anderen Ländern geschlossen hat, sind
ein sinnvolles Instrument für mehr Steuergerechtigkeit –
nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Das Ziel der
Doppelbesteuerungsabkommen ist die Vermeidung der
Doppelbesteuerung, aber nicht das Herbeiführen einer
Nullbesteuerung. Es sind also sinnvolle Instrumente für
mehr Steuergerechtigkeit. Es entspricht nicht meinem
Rechtsverständnis, dass Menschen doppelt Steuern ab-
führen müssen. Das widerspricht dem Grundsatz der
Einmalbesteuerung.


(Thomas Oppermann [SPD]: Bei den Hotels haben Sie die Steuern erst mal halbiert!)


Zur Vermeidung von Nullbesteuerungen sind in viele
Doppelbesteuerungsabkommen sogenannte Subject-to-
Tax-Klauseln integriert worden. Diese Rückfallklauseln
richten sich gegen eine Doppelbefreiung bei der Veranla-
gung. Gerade Deutschland hat diese Ergänzung im Rah-
men der Gestaltung von Doppelbesteuerungsabkommen
sehr häufig vereinbart. Und das wollen Sie jetzt abschaf-
fen?


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wer hat Ihnen denn diesen Unsinn aufgeschrieben?)


Auch bleibt zu überlegen, wen Sie mit Ihrer Forde-
rung eigentlich bestrafen wollen. Die großen Steuerbe-
trüger? Wohl nicht. Denn die bringen ihr Geld von vorn-
herein in ein anderes Land.


(Thomas Oppermann [SPD]: Auf die Kanalinseln!)


Sie werden eher die steuerehrlichen Kleinanleger bestra-
fen, die im Rahmen der deutschen und europäischen Ge-
setze ihr Erspartes in Europa oder anderswo anlegen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist alles nachlesbar!)


Sie nehmen also für die Steuersünder eine ganze Be-
völkerung in Sippenhaft. Auch damit kennen Sie sich of-
fenbar sehr gut aus.


(Beifall bei der FDP – Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Sie wollen die Niederlassung ausländischer Banken
in Deutschland verbieten, Kreditinstituten mit Filialen
im Ausland die Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb versa-
gen. Sie wollen die Übertragung von Geldvermögen ins
Ausland meldepflichtig machen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie machen mit solchen Ländern Geschäfte!)


Und letztens habe ich von Ihrer wirtschaftspolitischen
Sprecherin Wagenknecht gehört, es soll auch eine Weg-
zugsteuer eingeführt werden.


(Thomas Oppermann [SPD]: Die Wagenknecht will alles besteuern!)


In Wahrheit wollen Sie wieder Mauern bauen,


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Jetzt ist aber Schluss! Schämen Sie sich! Unglaublich! Eine Schande! Heute reicht es wirklich!)


aber nicht wie früher aus Beton und Stacheldraht, mit
Tretminen und Selbstschussanlagen. Nein, Sie wollen
jetzt viel subtiler Mauern bauen: durch Abschottung
Deutschlands vom Ausland, durch Wegzugsbeschrän-





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)

kungen und Abschaffung von Kapitalverkehrsfreiheit,
durch Eingriffe in die Freiheit jedes einzelnen Bürgers.

Die christlich-liberale Koalition hingegen steht für
die Freiheit des Einzelnen, für ein faires Verhältnis zwi-
schen Bürger und Staat. Wir werden Ihren Antrag daher
ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da werden aber alle parlamentarischen Regeln gebrochen! Das geht alles zu Protokoll!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703512800

Das Wort hat der Kollege Gerhard Schick vom

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich finde
es nicht in Ordnung, dass, wenn man Defizite bei der
Bekämpfung von Steuerflucht anspricht, dies damit
gleichgesetzt wird, dass man sich gegen die engagierten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Finanzverwal-
tung richtet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP])


Ganz im Gegenteil: Gerade die fordern von uns, dass wir
endlich die Grundlagen schaffen, damit sie sinnvoll ar-
beiten können und nicht mehr so viele Verfahren durch
Verjährung oder in irgendwelchen Deals enden, weil wir
nicht die entsprechenden Voraussetzungen schaffen.
Deswegen fand ich den Vorwurf daneben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Ich habe es doch extra gesagt!)


Ich glaube, man kann in aller Sachlichkeit wahrneh-
men – das haben wir auch aus dem Bericht im Ausschuss
erfahren –, dass das Ministerium an verschiedenen Stellen
die Politik weiterführt, die Doppelbesteuerungsabkom-
men am OECD-Standard auszurichten. Dazu laufen ver-
schiedene Verhandlungen. Das ist auch gut. Mit der
Schweiz scheint eine Einigung erzielt worden zu sein.

Das Problem dabei ist allerdings, dass der OECD-
Standard völlig unzureichend ist. Deswegen brauchen
wir dringend eine Initiative dieser Bundesregierung auf
internationaler Ebene, um den OECD-Standard weiter-
zuentwickeln. Denn um sich freizukaufen, reicht es aus,
dass man mit zwölf weiteren Steueroasen ein schönes
Doppelbesteuerungsabkommen schließt. Daher brau-
chen wir endlich einen Standard, der die effektive Zu-
sammenarbeit zwischen den Ländern zum Maßstab
macht.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Endlich einer, der den Antrag gelesen hat!)

Eine Erklärung, irgendwo gebe es eine Zusammenarbeit,
reicht nicht aus. Diese Initiative durch die Bundesregie-
rung steht aus. Da müssen Sie nachlegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist vielleicht nicht alles dem Zufall überlassen,
aber die Bemühungen, die es derzeit gibt, haben schon
etwas damit zu tun, dass Daten angeboten worden sind,
und zwar die berühmten CDs. Das haben Sie sicherlich
nicht geplant; das ist wohl Zufall.

Auch an einem weiteren Punkt wird deutlich, dass Sie
nicht aktiv versuchen, innerhalb der Möglichkeiten des
deutschen Rechts das Bestmögliche zu tun. In Frank-
reich sind seit Dezember Daten von einer Schweizer
Bank verfügbar. Die Bundesregierung hat diese Woche
meine Frage, ob inzwischen Daten aus diesem Bestand
in Deutschland verfügbar sind, mit Nein beantwortet.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum eigentlich?)


Warum warten Sie ab, bis Frankreich irgendwann auf
die deutsche Steuerverwaltung zukommt? Aktive und
kontinuierliche Bekämpfung von Steuerflucht würde be-
deuten, dass Sie so wie andere Staaten, die bei uns ange-
fragt haben, sobald wir Daten hatten, selber aktiv auf die
französischen Behörden zugehen und nach diesen Daten
fragen. Das haben Sie nicht gemacht. Sie überlassen es
eben doch dem Zufall.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie wollen das nicht bekämpfen!)


Das Absurdeste ist der Umgang mit dem Steuerhinter-
ziehungsbekämpfungsgesetz. Ich will zugestehen, dass
innerhalb der insgesamt desaströsen Bilanz von Bundes-
finanzminister Steinbrück die Bekämpfung der Steuer-
flucht einer der wenigen Lichtblicke ist. Was aber ist da-
raus geworden? Passiert de facto irgendetwas mit diesem
Gesetz? Wo ist seine Wirkung? – Nichts. Denn die Liste,
auf die Sie die Maßnahmen anwenden könnten, ist leer.

Es ist schon merkwürdig, wenn das Bundesfinanz-
ministerium feststellt: Wir haben keine Steueroasen, auf
die wir dieses Gesetz anwenden könnten. Das Gegenteil
ist doch der Fall: Die Steuerhinterziehung funktioniert
immer noch mit vielen Staaten hervorragend.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Natürlich!)


Sie wollen dieses Gesetz im Unterschied zu Frankreich
nicht anwenden. Das zeigt, Sie leisten nicht wirklich
eine aktive Bekämpfung der Steuerflucht. Sie warten,
wie es in der Überschrift des Antrags steht, tatsächlich
auf den Zufall. Das muss sich ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Das sind Fluchthelfer!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703512900

Ich schließe die Aussprache.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1149 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Vogt, Ulrich Kelber, Marco Bülow, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD

Keine Vorbereitungen für die Wiederauf-
nahme der Erkundung des Salzstocks in Gor-
leben bis zum Abschluss der Arbeit des 1. Par-
lamentarischen Untersuchungsausschusses

– Drucksache 17/1161 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Kelber,
Dr. Matthias Miersch, Dorothée Menzner, Sylvia
Kotting-Uhl und weiterer Abgeordneter

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses

– Drucksachen 17/888 (neu), 17/1250 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Michael Hartmann (Wackernheim)

Jörg van Essen
Dorothée Menzner
Volker Beck (Köln)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Ute Vogt von der SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1703513000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

werden nun einen parlamentarischen Untersuchungsaus-
schuss einsetzen, um zu klären, ob die Entscheidung
über die Untersuchung des Standorts Gorleben nach wis-
senschaftlichen Kriterien erfolgt ist oder ob nicht viel-
mehr politische Kriterien für die Auswahl des Standorts
eine entscheidende Rolle gespielt haben. Schlimmer
noch: Untersuchungsgegenstand ist auch, ob nicht sogar
begründete wissenschaftliche Zweifel aus politischen
Gründen beiseitegeschoben worden sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Jetzt, bevor das Parlament Klarheit über Zweifel und
Fakten schaffen kann, will die Bundesregierung weitere
Fakten schaffen und Gorleben als Endlagerstandort ver-
festigen. Das ist respektlos gegenüber der Arbeit des
Parlaments, und das ist ein Affront gegenüber den Bür-
gerinnen und Bürgern im Wendland.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So verständlich Ihre Befürchtungen als Bundesregierung
sind, muss man sagen: Sie machen Atompolitik gegen
den Willen und die Akzeptanz der großen Mehrheit der
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie beschließen längere Laufzeiten, wodurch Jahr für
Jahr 400 Tonnen mehr Atommüll produziert werden. In
60 Jahren Laufzeit sind dann 24 000 Tonnen Atommüll
angefallen, von dem keiner von Ihnen, aber auch welt-
weit niemand sagen kann, wo er jemals sicher endgela-
gert werden kann. Sie haben keine Antwort. Sie sind in
dieser Frage aufgrund Ihrer Politik für die Atomlobby
von Not getrieben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Kollege Max Straubinger von der CSU bringt es
auf den Punkt. Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zi-
tiere ich: „Keine Diskussion über alternative Standorte,
sonst zünden wir die ganze Republik an.“


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hört sich nach Gorleben an!)


Das ist das, was Sie bei dieser Entscheidung tatsächlich
bewegt. Sie wollen den Widerstand in Deutschland ge-
gen die Standortentscheidung und gegen Ihre Atompoli-
tik so gering wie möglich halten. Das ist heute nicht an-
ders als früher.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Aktenlage von 1983 lässt uns vermuten, dass schon
damals solche politischen Ängste die Debatte bestimmt
haben.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hat aber mit der Eignung von Gorleben nichts zu tun!)


Wir sollten ernsthafte Diskussionen führen. Wenn al-
les so ernsthaft, seriös und offen wäre, wie es uns der
Bundesminister


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist der eigentlich?)


glauben machen will: Warum scheut er dann die Prüfung
zum Beispiel nach dem Atomrecht und muss auf das alte
Bergrecht ausweichen, das in keinem Punkt mehr den
Anforderungen der Sicherheit gerecht wird? Warum
scheut er, sich dieser Debatte zu stellen?

Es ist schon bemerkenswert: Im südbadischen Lan-
desteil von Baden-Württemberg klagen Ihre Kollegen
aus der CDU-Fraktion Hand in Hand mit den dortigen
Kommunalpolitikern gegenüber der Schweiz ein – und
zwar zu Recht –, dass die Bevölkerung bei der Suche





Ute Vogt


(A) (C)



(D)(B)

nach Endlagern von Anfang an ein Mitspracherecht ha-
ben und an der Suche beteiligt werden muss.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auf der Bundesebene aber, wo Sie direkte Möglichkei-
ten hätten, wo Sie die Entscheidung in der Hand haben
und in der Verantwortung stehen, will der Bundesum-
weltminister den Bürgerinnen und Bürgern die Beteili-
gung versagen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak-
tionen, Sie haben heute die Chance, auch für etwas
Glaubwürdigkeit in diesem Punkt zu sorgen. Stimmen
Sie unseren beiden Anträgen zu, und zeigen Sie damit
Respekt. Zeigen Sie Respekt vor der Aufklärungsarbeit
dieses Parlaments, vor unserer parlamentarischen Arbeit,
aber vor allem auch vor den Bürgerinnen und Bürgern,
die man in diesen Zeiten, wenn es um so wichtige Ent-
scheidungen geht, nicht mehr außen vor lassen darf, son-
dern von Anfang an einbeziehen und beteiligen muss.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703513100

Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1703513200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

debattieren heute in der Tat über zwei Anträge und eine
Beschlussempfehlung.

Zum einen debattieren wir über den Antrag aller
Oppositionsfraktionen zur Einsetzung eines Untersu-
chungsausschusses zu einer Entscheidung der Bundes-
regierung Kohl/Genscher aus dem Jahr 1983 zur aus-
schließlichen untertägigen Erkundung des Salzstocks
Gorleben als möglichem Endlager.

Die erste Debatte diesbezüglich hat in diesem Haus
bereits am 4. März 2010, also eine Sitzungswoche vor
der Haushaltswoche, stattgefunden. Darüber hinaus gibt
es jetzt eine Beschlussempfehlung und den Bericht des
Geschäftsordnungsausschusses, der diesen Antrag recht-
lich geprüft hat. Insbesondere wurde geprüft, ob gewähr-
leistet ist, dass der Auftrag des Untersuchungsausschus-
ses lediglich das Regierungshandeln auf Bundes- und
nicht auch auf Landesebene umfasst, wie das die gesetz-
liche Vorgabe ist.


(Sebastian Edathy [SPD]: Das kann man nicht so genau trennen, Frau Kollegin!)


Darüber hinaus debattieren wir über den Antrag der
SPD-Fraktion, die Wiederaufnahme der Erkundung des
Salzstocks Gorleben bis zum Abschluss der Arbeit des
Untersuchungsausschusses auszusetzen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine Erkundung, das ist Schwarzbau! „Schwarzbau“, das ist der richtige Ausdruck! – Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU], an den Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Ich würde mich nicht so aufregen! Das ist nicht gut für das Herz!)


Die Frage bezüglich der Einsetzung eines Untersu-
chungsausschusses ist relativ einfach zu beantworten. Es
handelt sich dabei um ein Minderheitenrecht und das
schärfste Schwert der Opposition, in Art. 44 Grundge-
setz festgeschrieben. Im Geschäftsordnungsausschuss
hat nach einem vorherigen Berichterstattergespräch die
Präzisierung des Umfangs des Untersuchungsgegenstan-
des stattgefunden. Es ist kontrovers diskutiert worden.
Schließlich sind die Mehrheitsfraktionen aber auf einen
Kompromiss eingegangen, der sich angedeutet hat. Der
Bundestag wird heute einen Untersuchungsausschuss
einsetzen, der sich in der kommenden Sitzungswoche
konstituieren wird.

Zum Antrag der SPD-Fraktion zur Fortsetzung des
Moratoriums hat Bundesminister Röttgen in der letzten
Ausschusssitzung übrigens alles gesagt, was erforderlich
ist;


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er denn?)


denn die eigentlich entscheidende Frage ist ja: Will man
tatsächlich ein Endlager finden, oder will man das eben
nicht?


(Sebastian Edathy [SPD]: Darin sind wir uns ja wohl einig!)


Will man diese Entscheidung weiter herausschieben,
will man Gründe finden, zu verzögern?


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist der Minister denn, Frau Flachsbarth?)


Angesichts der Komplexität der Materie ist das sicher-
lich auch einfach.

Die Union will Verantwortung übernehmen.


(Sebastian Edathy [SPD]: Tut sie aber nicht! – Weiterer Zuruf der SPD: Wollen und Können sind zwei unterschiedliche Sachen!)


Wir wollen für den von unserer Generation verursachten
Abfall auch zu unseren Zeiten eine Lösung finden, ein
nationales Endlager, und das Problem eben nicht den
kommenden Generationen überlassen, wie das in den
letzten zehn Jahren gehandhabt worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zeitgleich mit der sogenannten Ausstiegsentschei-
dung hatte die rot-grüne Bundesregierung damals ein
Moratorium von drei bis zehn Jahren, wie es hieß, verab-
redet, um sogenannte Zweifelsfragen abzuarbeiten.
Diese Zweifelsfragen waren dann auch nach fünf Jahren
abgearbeitet.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wer hat da regiert? War das nicht die Große Koalition?)






Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)

Es gab einen Syntheseberichts des Bundesamtes für
Strahlenschutz, in dem ausdrücklich erwähnt worden ist,
dass ein Nachweiskonzept für die Langzeitsicherheit
verfügbar sei, die Sicherheit dann aber nur konkret vor
Ort durch Erkundung festgestellt werden könne. Den-
noch hat Rot-Grün das Moratorium verlängert, den Syn-
thesebericht aber nicht etwa diesem Hause für eine Dis-
kussion zur Verfügung gestellt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn in der Großen Koalition gemacht, Frau Flachsbarth?)


– In der Großen Koalition wurde das Moratorium letzt-
endlich verlängert,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind Sie genötigt worden!)


obwohl wir uns eigentlich in die Hand versprochen hat-
ten, die Endlagerfrage zügig anzugehen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt bei der Wahrheit bleiben!)


Das hatten wir auch im Koalitionsvertrag festgehalten.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hatten Sie nicht zugesagt, eine Endlagersuche durchzuführen?)


Im Jahr 2006 hat die Union ein Angebot gemacht.
Wir hatten vorgeschlagen, einen International Peer
Review durchführen zu lassen, also internationale Ex-
perten mit unserem Problem zu befassen, und letztend-
lich die Befunde miteinander zu bewerten. Da hat der
Koalitionspartner gesagt: Nein, das geht nicht wirklich;
wir suchen besser den bestgeeigneten Standort. Einen
solchen Standort gibt es laut Atomgesetz eigentlich
überhaupt nicht. Es ist die Frage, ob wissenschaftlich
überhaupt feststellbar ist, welcher Standort am besten
geeignet sein soll.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Da haben Sie das Ergebnis des Untersuchungsausschusses schon vorweggenommen! Das ist doch absurd! Wir machen ein Endlager ohne wissenschaftliche Kriterien!)


Jetzt soll der Untersuchungsausschuss der Grund dafür
sein, das Moratorium zu verlängern.

Ich begrüße, dass sich Bundesminister Röttgen hinge-
gen zur Lösung der Endlagerfrage bekennt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, wo ist er denn?)


Er hat in der vergangenen Woche konkrete Vorschläge
gemacht und gesagt, dass wir die Erkundungsarbeiten
ergebnisoffen und so zügig wie möglich aufnehmen, um
jetzt endlich die notwendige Datengrundlage zu erarbei-
ten, damit die Eignungsprüfung des Salzstocks Gorleben
erfolgen kann.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703513300

Frau Kollegin Flachsbarth, der Kollege Kelber würde

Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie das er-
lauben.


Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1703513400

Sehr gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703513500

Bitte, Herr Kelber.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1703513600

Frau Kollegin, Sie haben gerade behauptet, dass es

bei einer ergebnisoffenen Endlagersuche vermutlich we-
der wissenschaftlich noch anderswie zu belegen ist, was
der bestgeeignete Standort in Deutschland ist. Wenn Sie
recht haben, warum verlangt dann die schwarz-gelbe
Landesregierung in Baden-Württemberg vom Nachbar-
land Schweiz bzw. die schwarz-gelbe – vorher rein
schwarze – Regierung in Bayern vom Nachbarland
Tschechien genau eine solche ergebnisoffene Suche nach
dem bestmöglichen Standort?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht!)



Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1703513700

Wenn man, ehrlich gesagt, mit den Schweizer Wis-

senschaftlerinnen und Wissenschaftlern und den dort
Verantwortlichen darüber spricht, warum dieses Verfah-
ren gewählt worden sei, so sagen sie uns, dass sie von
dem Verfahren gelernt hätten, das damals in den 70er-
Jahren in Bezug auf den Standort Gorleben angewendet
worden ist.


(Lachen und Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gelernt, wie man es nicht macht!)


Damals hatten sowohl die Bundesregierung als auch die
Landesregierung verschiedene Standorte, verschiedene
Salzstöcke in Augenschein genommen; letztendlich
wurde der Salzstock Gorleben als der Standort identifi-
ziert, an dem eine intensivere Erkundung, sprich: eine
Vorprüfung auf eine mögliche Eignung, erfolgen sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geben Sie es zu: Die Schweizer gehen nach meinem Plan vor!)


Wie gesagt: Ich begrüße, dass Bundesminister
Röttgen nun eine ergebnisoffene Erkundung angestoßen
hat, und zwar – auch das will ich hier sagen – auf Grund-
lage des Bergrechts, dessen Anwendung immer wieder
in Zweifel gezogen wird. Wir haben diese Debatte auch
schon im Ausschuss geführt. Bitte zeigen Sie mir den
Artikel, den Paragrafen im Atomrecht, nach dem die
Überprüfung eines Salzstocks auf Eignung überhaupt
möglich sein soll! Abgesehen davon hat das Bundesver-
waltungsgericht bereits 1990 und 1995 höchstrichterlich
über diese Frage entschieden. Ich denke, es ist einfach
eine Frage der politischen Kultur in einem Rechtsstaat,





Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)

Urteile zu akzeptieren und zu respektieren, selbst wenn
sie einem nicht passen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Da tun die sich ja schwer!)


Herr Röttgen hat auch gesagt – das ist in diesem Zu-
sammenhang ganz wichtig –, dass wir schon im Voraus-
wahlverfahren eine möglichst umfassende Öffentlich-
keitsbeteiligung erreichen wollen, Bürgerinitiativen und
Kommunalpolitiker einbeziehen wollen. Zudem wollen
wir Wissenschaftler aus dem Ausland bitten, die Ergeb-
nisse zu evaluieren, damit klar wird, ob sich ein Planfest-
stellungsverfahren für den Standort Gorleben anschlie-
ßen soll.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ist ja Gott sei Dank fertiggebaut, wenn Sie anfangen! Das ist ja der Sinn der Übung!)


Das Planfeststellungsverfahren findet selbstverständlich
unter Anwendung des Atomrechts statt, mit zusätzlichen
Umweltverträglichkeitsprüfungen, entsprechender Öf-
fentlichkeitsbeteiligung und der Möglichkeit der an-
schließenden Planung. Das ganze Verfahren wird noch
20 bis 25 Jahre dauern, sodass frühestens zwischen 2030
und 2035, also 70 Jahre nachdem Deutschland sich – üb-
rigens in großer, um nicht zu sagen: in ganz großer Ko-
alition – entschieden hat, Kernenergie friedlich zu nut-
zen, ein Endlagerstandort feststehen wird. Wir haben die
Verantwortung, jetzt nicht nur Vergangenheit zu bewälti-
gen, sondern endlich auch Zukunft zu gestalten, aus Ver-
antwortung vor unseren Kindern und Kindeskindern,
aber auch vor den Bürgerinnen und Bürgern, die in Gor-
leben seit 30 Jahren in Ungewissheit über ihre Zukunft
leben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703513800

Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bitte doch, für den Rest der Debatte wenn möglich
auf Zwischenfragen zu verzichten,


(Ute Vogt [SPD]: Warum das denn?)


weil einige sonst Terminprobleme bekommen, was die
Rückreise betrifft.


(Sebastian Edathy [SPD]: Das sagt der amtierende Präsident, oder was?)


Frau Kollegin Menzner, Sie haben das Wort.


(Sebastian Edathy [SPD]: Das sagen Sie einmal den Bürgerinnen und Bürgern: Die Abgeordneten müssen abreisen!)


Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703513900

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Wir
alle merken, dass wir es mit einem hochemotionalen
Thema zu tun haben. Das gilt nicht nur für die Region,
für Niedersachsen, für das Wendland, sondern auch für
uns hier.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Dann wollen wir das mal versachlichen, würde ich sagen!)


Das haben die Debatten, auch zwischen den Fraktionen,
der letzten Tage und Wochen deutlich gemacht.

Ich möchte drei Punkte kurz erklären: Wieso soll jetzt
der Untersuchungsausschuss eingesetzt werden? Wie ist
die Lage im Wendland? Was wollen wir mit dem Unter-
suchungsausschuss eigentlich erreichen?

Warum soll jetzt der Untersuchungsausschuss einge-
setzt werden?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Gute Frage!)


Die Fragezeichen zu Gorleben sind alt.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es gibt keine Fragezeichen mehr!)


Es gibt seit Jahrzehnten Gutachten, die die Eignung von
Gorleben massiv infrage stellen. Es gibt seit Jahrzehnten
ernst zu nehmende Wissenschaftler, die Gorleben für un-
geeignet halten. Außerdem gibt es seit Jahrzehnten eine
massive Gegenwehr der örtlichen Bevölkerung, unab-
hängig vom politischen oder sozialen Hintergrund.

Im Zusammenhang mit diesem Untersuchungsaus-
schuss musste ich an einen Satz denken, der dem Kolle-
gen Müntefering zugeschrieben wird: Opposition ist
Mist. So ganz stimmt das nicht. Ohne SPD in der Oppo-
sition hätten wir den Untersuchungsausschuss wahr-
scheinlich nicht einsetzen können.


(Sebastian Edathy [SPD]: Das ist aber kein Dauerzustand!)


Da hat Opposition auch einmal etwas Gutes.


(Beifall bei der LINKEN)


Wieso ist es so wichtig, das jetzt zu klären? Wir dis-
kutieren im Bundestag, aber auch in der Gesellschaft seit
Wochen den aberwitzigen Vorschlag der Koalition, die
Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern, aus ei-
nem Kompromiss, der mit der Energiewirtschaft ge-
schlossen wurde und der von uns immer abgelehnt
wurde, weil wir ihn zu weitgehend fanden, auszusteigen
und auf unabsehbare Zeit weiteren Atommüll zu produ-
zieren, für den es bis heute kein Endlager gibt.

Asse ist abgesoffen. Das wissen wir alle; die Pro-
bleme haben wir hier mehrfach erörtert. Wenn man sich
die alten Genehmigungsunterlagen und Gerichtsakten
zieht, dann liest man, dass unter anderem für Brokdorf,
Stade und Biblis A und B sowohl die abgesoffene Asse
als auch Gorleben der Entsorgungsnachweis für die Be-
triebsgenehmigung waren. Damit wird natürlich klar,
wieso die Koalition meint, weiter an Gorleben festhalten





Dorothée Menzner


(A) (C)



(D)(B)

zu müssen: Ohne diese Option werden Betriebsgenehmi-
gungen und mögliche Laufzeitverlängerungen obsolet.

Wie ist die Lage im Wendland? Die Menschen sind
massiv verunsichert, und die Emotionalität im gegensei-
tigen Umgang ist hoch. Von daher ist es eine Selbstver-
ständlichkeit, was die SPD in ihrem Antrag fordert, näm-
lich die weiteren Untersuchungen auszusetzen, solange
der Untersuchungsausschuss arbeitet, und zu versuchen,
Transparenz in die Lage und in die damalige Entschei-
dungsfindung zu bringen.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Sie werden kein Vertrauen von der Bevölkerung be-
kommen, wenn, wie am letzten Wochenende geschehen,
Demonstrantinnen und Demonstranten inklusive Kinder,
die sich auf einem privaten Grundstück, nämlich im
Wald des Grafen von Bernstorff, aufhalten, mit Schlag-
stöcken und Pfefferspray vertrieben werden.

Was wollen wir mit diesem Untersuchungsausschuss
erreichen?


(Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Das fragen wir uns auch! – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Sie wollen den Menschen Angst machen! Das ist das Einzige, was Sie wollen!)


Wir wollen Transparenz herstellen hinsichtlich der
Frage: Wie konnte es zu der verengten Sicht auf diesen
einen Standort kommen? Waren wissenschaftliche Vor-
bedingungen ausschlaggebend, oder war das eine Frage
von politischer Opportunität und Durchsetzbarkeit? Da-
für liegen ernst zu nehmende Hinweise vor, die wir unter
die Lupe nehmen werden, um Transparenz herzustellen.
Demokratie kann nämlich nur funktionieren, wenn
Transparenz vorhanden ist, wenn die Menschen wissen,
wie, auf welcher Grundlage Entscheidungen zustande
gekommen sind. Das wird nicht funktionieren, indem
wir Menschen belügen und sie weiter an der Nase he-
rumführen, wie das seit 30 Jahren am Standort Gorleben
passiert, oder indem wir Dokumente zurückhalten.

Ich danke.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703514000

Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1703514100

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Parallel zur Einsetzung des Untersuchungsaus-
schusses fordert die SPD hier heute, die Erkundung im
Salzstock Gorleben so lange auszusetzen, bis der Unter-
suchungsausschuss seine Arbeit beendet hat. Wir sind
strikt dagegen. Wir meinen, dass Ihre Forderung entlar-
vend ist, und zwar in der Weise, dass es Ihnen anschei-
nend nicht um die Aufklärung im Untersuchungsaus-
schuss, sondern eher darum geht, die Entscheidung um
die Endlagerfrage weiter zu verzögern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ute Vogt [SPD]: Um Rechtsklarheit! Um Sicherheit!)


Die SPD war rund zehn Jahre in Regierungsverant-
wortung. Durch das von Rot-Grün beschlossene Erkun-
dungsmoratorium sind wir keinen Schritt weitergekom-
men; das müssen Sie hier einfach zugeben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Der ehemalige Umweltminister Trittin – er ist sogar zu-
gegen –


(Ulrich Kelber [SPD]: Ist nicht weiter in die Sackgasse gelaufen! Das stimmt!)


und Herr Gabriel haben zehn Jahre lang verhindert, dass
diese Frage beantwortet wird.


(Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen nicht erkunden, Sie wollen schwarzbauen! Können Sie mal erklären, welche Erkenntnisse Sie in Gorleben noch erwarten, was Sie erkunden wollen? Was wollen Sie eigentlich wissen?)


Die bisher gewonnenen geologischen Befunde spre-
chen überhaupt nicht gegen eine Eignungshöffigkeit des
Gorleben-Standorts.


(Ulrich Kelber [SPD]: Aber auch nicht dafür!)


Ihr werter Herr Exkanzler Gerhard Schröder


(Sebastian Edathy [SPD]: „Unser werter Herr Exkanzler“, wenn schon!)


und Sie, Herr Trittin, persönlich haben im Atomkonsens
zusammen unterschrieben und bestätigt, dass die Eig-
nungshöffigkeit von Gorleben überhaupt nicht infrage
steht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie zitieren, dann zitieren Sie richtig! Sie haben falsch zitiert!)


– Ja, ja.

Die Endlagerung radioaktiver Abfälle ist eine staatli-
che Aufgabe.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wollen Sie doch gerade privatisieren!)


Der Bund hat Anlagen zur Endlagerung einzurichten.
Deswegen wollen wir klären, ob der Standort Gorleben
geeignet ist. Im Gegensatz zu SPD, Grünen und Linken
stellen wir von der CDU/CSU und der FDP uns dieser
Verantwortung. Wir wollen das nicht auf die nächste Ge-
neration abwälzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Unter Ausschluss der Bürgerbeteiligung!)






Angelika Brunkhorst


(A) (C)



(D)(B)

Den Ausgang des Untersuchungsausschusses abzu-
warten, macht überhaupt keinen Sinn, weil wir danach
nichts über die Eignung oder Nichteignung sagen kön-
nen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


– So ist es, genau.


(Ute Vogt [SPD]: Aber unrechtmäßige Standortentscheidung!)


Die konkrete Erkundung wird es zeigen. Deswegen
muss die Erkundung des Salzstocks, so wie Herr Röttgen
das vorgeschlagen hat, vorangetrieben werden.


(Sebastian Edathy [SPD]: Missachtung des Parlaments ist das im Ergebnis!)


Wir unterstützen das Verfahren mit den drei Schritten
ganz ausdrücklich. Wir werden dann zu einer definitiven
Aussage darüber kommen, ob dieser Salzstock geeignet
ist oder nicht.


(Sebastian Edathy [SPD]: Respektloser Umgang mit den Abgeordneten!)


Frau Vogt, Ihnen möchte ich zum Schluss noch eines
sagen: Wir sind in einer Erkundungsphase, und in einer
Erkundungsphase sind wir beim Bergrecht.


(Ute Vogt [SPD]: Bergrecht von 1983! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen bauen! Bauen!)


Wenn wir über die Erkundungsphase hinaus sind und
über die Einrichtung sprechen, dann gehen wir in das
atomrechtliche Planungsverfahren.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Genau so ist es vorgeschrieben!)


– Genau so ist es.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bauen doch! Sie erkunden nicht!)


– Ich habe das Urteil hier. Ich kann das gern zitieren,
Herr Trittin, wenn Sie es wünschen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne das gut!)


Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Wie kann man so unwahrhaftig sein?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703514200

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl von

Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
kommen wir also heute zur Einsetzung des Unter-
suchungsausschusses zu Gorleben. Dieser Untersu-
chungsausschuss ist ein parlamentarisches Instrument,
demgegenüber Rednerinnen und Redner der Koalitions-
fraktionen in der ersten Lesung Respekt gezollt haben,
das Sie in der Zwischenzeit aber doch in seinem Kern,
nämlich dem von der Opposition beschriebenen Auftrag,
verändern wollten.

Herr Grindel, wir haben Ihnen nicht den Gefallen ge-
tan, uns den Untersuchungsauftrag auf die Ereignisse
des Jahres 1983 zusammenschnüren zu lassen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das war aber der Vorwurf von Herrn Gabriel!)


– Das war in der letzten Woche Ihr Vorschlag. – Das sind
die Ereignisse, zu denen Sie heute in der Presse schon
einmal verlautbart haben, dass der angebliche Skandal,
die Manipulation von Gutachten, sich längst in Luft auf-
gelöst habe.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Genau!)


Zum einen, Herr Grindel, legt niemand – auch nicht
die Mitglieder von Regierungsfraktionen – das Ergebnis
eines Untersuchungsausschusses im Vorhinein fest.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Aber die Wissenschaftler haben Interviews gegeben!)


Zum anderen sollten Sie spätestens heute zur Kenntnis
nehmen, dass Ihre Versuche, Fragen, die nicht auf das
Jahr 1983 zielen, aus dem Untersuchungsauftrag heraus-
zustreichen, nicht erfolgreich waren.

Ich bin sehr gespannt darauf, was die Zeugin Merkel
im Untersuchungsausschuss sagen wird, wenn wir sie
nach den Gründen für die Änderung des Erkundungs-
konzepts in den 90er-Jahren fragen. Der Verdacht, dass
bei Gorleben ein Konzept einem Standort angepasst
wurde, ist für mich einer der spannendsten Teile des Un-
tersuchungsauftrags.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich möchte noch einmal den Gegensatz herausstellen.
Bei einer ehrlichen Endlagersuche wird erst ein Konzept
erstellt und dann der Standort gesucht, der den Kriterien
dieses Konzeptes am besten entspricht. Das ist das Ver-
fahren, das wir einfordern. Dass Sie sich diesem Verfah-
ren verweigern, dass Sie den Weiterbau von Gorleben
wollen


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Weitererkundung!)


unter Umgehung des dafür vorgeschriebenen Atom-
rechts,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


unter Anwendung eines seit 20 Jahren außer Kraft ge-
setzten Bergrechts, das nicht einmal die Öffentlichkeits-
beteiligung vorschreibt, und ohne die Ergebnisse dieses
parlamentarischen Untersuchungsausschusses abzuwar-
ten, das zeigt Ihre Vorstellung von Verantwortung, mit





Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)(B)

der Sie sich in den vergangenen Tagen so großgetan ha-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist gar keiner mehr vom Umweltministerium da! Das ist auch ein Affront!)


Ethische Verantwortung, von der Sie hier sprechen
– die Sie übernehmen wollen, indem Sie den Müll der
Atomkraftwerke den nächsten Generationen nicht vor
die Füße werfen wollen –, hätten Sie praktizieren kön-
nen, wenn Sie die Atomkraft nicht legalisiert und Atom-
spaltung nicht zur herausragenden Energieerzeugungs-
form in diesem Land erklärt hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das wäre ethische Verantwortung gewesen. Das wäre
Verantwortung für die nachfolgenden Generationen ge-
wesen. Jetzt geht es nur noch um Nachsorge.


(Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Warum sind Sie denn nicht ausgestiegen?)


Reden wir doch auch einmal über die Verantwortung
unseres Umweltministers.


(Zuruf von der SPD: Wo ist der überhaupt?)


Er nennt einen parlamentarischen Untersuchungsaus-
schuss kein Erkenntnisgewinnungsinstrument, sondern
ein Kampfinstrument. Diese Auffassung praktiziert er
auch dadurch, dass er heute bei der Einsetzung des von
ihm so benannten Kampfinstruments gar nicht mehr im
Parlament anwesend ist, sondern bereits im Skiurlaub
weilt. Das ist Respekt vor dem Parlament. Größte Hoch-
achtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak-
tionen, ich hoffe, dass wenigstens Sie die Respektlosig-
keit Ihres Umweltministers in diesem Fall nicht teilen
und in diesem Untersuchungsausschuss kein reines
Kampfinstrument sehen. Wir haben das nicht vor. Wir
haben vor, Erkenntnisse daraus zu ziehen. Erfüllen Sie
Ihre parlamentarische Pflicht und tun sie das Gleiche.
Darum bitte ich Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703514300

Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der CDU/CSU)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1703514400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine

Heimat ist der Wahlkreis Lüchow-Dannenberg – Lüne-
burg. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Mit die-
sem Thema beschäftige ich mich nicht erst, seitdem ich
Abgeordneter dieses Wahlkreises bin. Ich kann Ihnen sa-
gen: Wenn Rot-Grün die Region mit dem Moratorium
nicht in eine zehnjährige Ungewissheit gestürzt hätte,
wären wir bei der Endlagerfrage heute schon einige
Schritte weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Stattdessen: weitere zehn Jahre Ungewissheit, weitere
zehn Jahre Unfrieden in der Region, weitere zehn Jahre
Untätigkeit in der Endlagerfrage, und das alles auf dem
Rücken der Menschen vor Ort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit der Aufhebung des Moratoriums werden wir
diese Hängepartie beenden. Wir wollen eine ergebnis-
offene und transparente Enderkundung des Salzstockes
Gorleben. Ich möchte betonen, dass es vollkommen legi-
tim ist, gegen ein Endlager in Gorleben zu sein. Es ist
auch völlig legitim, dies zu artikulieren, aber, bitte
schön, in ziviler und gewaltfreier Form.

Dazu gehört nach meinem Verständnis und dem Ver-
ständnis der Koalition ein enger Dialog zwischen allen
Beteiligten schon in der ersten Phase, nämlich der Wei-
tererkundung.


(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wir werden in den Fragen der Transparenz und Ergebnis-
offenheit Wort halten, Herr Trittin. Ich kann an alle, auch
an Sie, Herr Trittin, nur appellieren, das Angebot zum zi-
vilen Dialog nicht auszuschlagen, sondern sich aktiv da-
ran zu beteiligen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es wird von der Opposition bemängelt, dass die Er-
kundungsphase nach Bergrecht und nicht nach Atom-
recht erfolgt.


(Sebastian Edathy [SPD]: Nach dem alten Bergrecht auch noch!)


Die Erkundung kann nicht nach Atomrecht erfolgen,
weil das Atomrecht die erforderlichen Rechtsnormen für
eine Erkundung des Salzstocks gar nicht beinhaltet.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


Das Bergrecht ist zudem nach Bewertung des Bun-
desverwaltungsgerichts – wir haben es schon gehört –
ein zulässiges Verfahren. Das heißt jedoch noch lange
nicht, dass wir keine Transparenz schaffen wollen. Sie,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, unterliegen einem Trugschluss, wenn Sie daraus
schließen, dass eine Einbeziehung der Bürgerinnen und
Bürger nicht gewollt sei. Es mag sein, dass das Berg-
recht keine Bürgerbeteiligung beinhaltet; das bedeutet
aber noch lange nicht, dass Transparenz und Einbezie-
hung der Bevölkerung vor Ort verboten sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das aktuelle Bergrecht schreibt Bürgerbeteiligung vor! Sie sagen die Unwahrheit!)






Eckhard Pols


(A) (C)



(D)(B)

Wenn man dann am Ende der Erkundungsarbeiten zu
dem Ergebnis kommt, dass Gorleben als Endlagerstand-
ort geeignet ist, dann muss bei der Errichtung eines End-
lagers ein atomrechtliches Verfahren eingeleitet werden,
das eine umfassende Bürgerbeteiligung vorsieht. Das
wissen Sie ganz genau.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703514500

Herr Kollege Pols, Frau Kotting-Uhl würde Ihnen

gerne eine Zwischenfrage stellen.


Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1703514600

Nein, jetzt nicht. –


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts mit „sturmfest und erdverwachsen“! – Ulrich Kelber [SPD]: Dann können Sie nicht mehr so schön ablesen!)


Ob es dazu kommen wird, wissen wir nicht. Dazu muss
erst einmal zu Ende erkundet werden. Aber genau das
wollen Sie verhindern. Sie nehmen in Kauf, dass die
Menschen vor Ort weiter mit der Ungewissheit leben
müssen und die ohnehin schon wirtschaftlich schwache
Region noch schwächer wird.

In Ihrem Antrag zum Stopp der Erkundungsarbeiten
argumentieren Sie ferner damit, dass nicht berücksichtigt
worden sei, dass die Geltungsdauer der Salzrechte in
fünf Jahren ausläuft. Das Bundesamt für Strahlenschutz
ist zuständig für die Verlängerung der Geltungsdauer der
Salzrechte. Aber in den letzten Jahren ist in dieser Hin-
sicht nichts passiert. Die Inhaber der Salzrechte mussten
den Präsidenten des BfS, Herrn Wolfram König, gera-
dezu drängen, damit es demnächst zu Verhandlungen
über die Verlängerung der Rechte kommt.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Alles Trickserei Marke Trittin!)


Erlauben Sie mir noch ein Wort zur Diskussion über
die Suche nach Alternativstandorten. Sie führen immer
wieder ein bestimmtes Argument gegen die Erkundung
von Gorleben ins Feld. Wenn Sie wirklich für eine Lö-
sung des Endlagerproblems sind, dann sollten Sie auch
den Mut haben, geeignete Alternativstandorte explizit zu
benennen. SPD und Grüne haben die Endlagerfrage mut-
willig verschlafen, verzögert und verschleppt. Ich kann
Ihnen nur eines empfehlen, Frau Kollegin Vogt: Fahren
Sie einmal nach Gorleben, reden Sie mit Ihren Genossen
vor Ort! Die dortige SPD ist nämlich – hören Sie genau
zu! – für eine schnelle Aufhebung des Moratoriums.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


Ich zitiere aus einer Resolution, die Ihre SPD-Rats-
kollegen gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen
der CDU vor Ort in den Samtgemeinderat Gartow ein-
gebracht und verabschiedet haben: Der Rat der Samt-
gemeinde Gartow fordert im Interesse unserer Bevöl-
kerung die Weitererkundung und den Abschluss der
Erkundungsarbeiten im Salzstock Gorleben; nach fast
30-jähriger Diskussion dieses Themas hat die Bevölke-
rung Anspruch darauf, Klarheit über die voraussichtliche
künftige Entwicklung der Standortregion Gorleben zu
erlangen.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Wo die SPD recht hat, hat sie recht!)


Dass dies nicht eine Mindermeinung der politischen
Gremien ist, sondern ebenso von der Bevölkerung vor
Ort mehrheitlich getragen wird, zeigt sich an dem Ergeb-
nis der Bundestagswahl. Ich habe meine besten Ergeb-
nisse in dieser Region geholt.


(Sebastian Edathy [SPD]: Das ist traditionell ein CDU-Wahlkreis! Das wissen Sie! Wir können ja nicht jedes Mal Peter Struck aufstellen!)


Hören Sie einfach einmal auf Ihre Parteibasis in Gorle-
ben und in der Samtgemeinde Gartow, Frau Vogt. Mit
zunehmender Vernunft verbessern sich dann sicherlich
auch Ihre Wahlergebnisse.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was machen Sie stattdessen? Sie setzen einen Unter-
suchungsausschuss ein, um vermeintliche Vorwürfe zu
klären, die Ihnen im Wahlkampf 2009 plötzlich eingefal-
len sind, aber nichts gebracht haben. Obendrein wollen
Sie beschließen, dass die Erkundung in Gorleben bis
zum Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses
nicht fortgeführt wird. Mit anderen Worten: Sie wollen
eine geologische Frage nicht beantworten lassen, weil
Sie noch die Antwort auf eine politische Frage suchen.
Abgesehen davon bin ich mir sicher: Der Untersu-
chungsausschuss wird zu dem Ergebnis kommen, dass
an den von Ihnen erhobenen Vorwürfen nichts dran ist.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703514700

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.


Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1703514800

Deshalb sehen wir als CDU/CSU dem Ganzen sehr

gelassen entgegen.

Noch eines: Wenn Sie beweisen wollten, dass der
Standort Gorleben nach rein politischen und nicht nach
geologischen Gesichtspunkten ausgewählt wurde, dann
müssten gerade Sie ein Interesse an einer schnellen Wei-
tererkundung des Salzstockes Gorleben haben.


(Sebastian Edathy [SPD]: Warum das denn?)


Wenn Sie keine Angst vor dem Ergebnis haben –


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703514900

Herr Kollege Pols, bitte kommen Sie zum Schluss,

und zwar sofort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1703515000

– ja, gerne –, dann hören Sie sofort auf, eine solche

Erkundung zu verzögern und zu verschieben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch ich kenne das Ergebnis noch nicht; aber eines
weiß ich gewiss: Sowohl Gegner als auch Befürworter





Eckhard Pols


(A) (C)



(D)(B)

eines Endlagers in Gorleben haben Verantwortung für
die Region. Dazu gehört, dass die Ungewissheit der
Menschen vor Ort beendet wird. Deshalb mein Appell
an die Fraktion der SPD: Nehmen Sie Vernunft an und
ziehen Sie den Antrag zurück!

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703515100

Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Edathy von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1703515200

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In

einer Agenturmeldung von heute morgen hieß es – ich
zitiere –:

Der angebliche Skandal, auf den die SPD hinweise,
habe sich längst in Luft aufgelöst,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja, richtig!)


sagte der Obmann der CDU,

– im Untersuchungsausschuss –

Reinhard Grindel, am Freitag

– also heute –

im SWR. Denn der Behauptung, die Regierung
Kohl habe Gutachten aus dem Jahre 1983 beein-
flusst, hätten beteiligte Wissenschaftler widerspro-
chen.

Das liest man und reibt sich verwundert die Augen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Röthemeyer im Spiegel und Stern am 14. und 17. September 2009!)


Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen – ge-
rade denen aus der Union –, nachher in ihren Büros die
Internetseite des Bundesumweltministeriums aufzuru-
fen. Da kann die ganze Welt aus einem großen Konvolut
wichtige Aussagen damals beteiligter Wissenschaftler
herunterladen, und dies im Namen von Herrn Röttgen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wahrscheinlich nur noch eine halbe Stunde lang! Dann wird es verschwinden!)


Professor Duphorn am 31. Mai 1982:

Nach meiner Auffassung hat der Salzstock Gorle-
ben … seine Eignungshöffigkeit … verloren.

Professor Dr. Memmert, Institut für Kerntechnik der
Technischen Universität Berlin, ein Freund der Atom-
kraft, am 2. August 1982:

Während die Laufzeit für Gorleben rund
10 000 Jahre betragen mag,

– erforderlich wäre wohl mindestens 1 Million und
mehr –

liegt diese für Mors
– dies befindet sich in Dänemark –

bei einigen Millionen Jahren.

Der Professor weiter:

Sollten diese dänischen Berichte den Gegnern der
Kernenergie oder des Endlagers Gorleben bekannt
werden, wird der Meinungskrieg um das Endlager
Gorleben erneut und verstärkt einsetzen.

Alles von der Internetseite des BMU. Professor
Dr. Hermann, Universität Göttingen:

Ich persönlich bin nicht bereit, wissenschaftliche
Argumente zugunsten parteipolitischer bzw. allge-
meinpolitischer Erwägungen und Taktiken aufzuge-
ben … In einer von dauernden Kompromissen und
Selbsttäuschungen geprägten Situation könnte ich
nicht mehr sinnvoll arbeiten.

Usw., usw.

Dann gab es von Wissenschaftlern den Entwurf eines
kritischen Gutachtens zu Gorleben. Es musste auf Wei-
sung des damaligen Forschungsministers nachgebessert,
man kann auch sagen: manipuliert und geschönt werden.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Und das steht alles bei Röttgen? Mein lieber Mann!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703515300

Herr Kollege Edathy, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Grindel?


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1703515400

Gerne.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1703515500

Herr Edathy, ist Ihnen bekannt, dass das Gutachten,

um das es Herrn Gabriel im Wahlkampf ging, ein Gut-
achten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt war,
dass der Abteilungsleiter Röthemeyer in Interviews – ei-
nes gegenüber dem Spiegel am 14. September 2009, ein
zweites gegenüber dem Stern am 17. September 2009 –
erklärt hat, dass die inhaltliche Ausrichtung dieses Gut-
achtens nicht verändert ist, und dass der damalige Präsi-
dent der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Kind,
diese Aussage im Untersuchungsausschuss des Nieder-
sächsischen Landtages bestätigt hat? Vielleicht zitieren
Sie Herrn Röthemeyers Aussagen im Stern – eventuell
haben Sie ihn vorliegen –; Herr Röthemeyer ist nämlich
derjenige, der für das Gutachten, das angeblich manipu-
liert worden ist, verantwortlich war. Sind Sie bereit, das
zuzugestehen und auch zuzugestehen, dass die Zitate,
die Sie eben angeführt haben, vor diesem Hintergrund
völlig irrelevant sind?


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte eine ausführliche Antwort!)







(A) (C)



(D)(B)


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1703515600

Da ich leider nur eine knappe Redezeit habe, bedanke

ich mich für die Zwischenfrage; denn sie gibt mir Gele-
genheit, ein bisschen weiter auszuholen. Das Schöne ist
ja: Auf der Internetseite des BMU – in Verantwortung
von Herrn Röttgen – lässt sich nicht nur der Endbericht
der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt downloa-
den,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Um den ging es aber!)


sondern auch der Zwischenbericht, also der Entwurf. Sie
können dort, bezogen auf den Entwurf des Gutachtens,
ein Telex – das gab es damals noch – vom 13. Mai 1983
finden. Der damalige Bundesminister für Forschung und
Technologie schrieb an die Physikalisch-Technische
Bundesanstalt – wir werden das im Ausschuss noch sehr
genau auswerten können –:

Unsere Besprechung vom 11.05. Erstens …


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist aber keine Antwort auf meine Frage! – Gegenrufe von der SPD: Doch!)


– Dieses Schreiben ist ein Beleg dafür, dass politisch
Einfluss auf wissenschaftliche Erkenntnisse genommen
worden ist.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nein, das ist falsch!)


Dagegen haben sich Wissenschaftler auch gewehrt.


(Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU] nimmt Platz)


– Herr Präsident, ich bin mit der Beantwortung der Frage
noch nicht fertig.


(Thomas Oppermann [SPD], an den Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU] gewandt: Sie stellen eine Frage und wollen die Antwort nicht hören! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an den Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU] gewandt: Sie müssen stehen bleiben! – Gegenruf des Abg. Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Sie sind schlecht orientiert! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sie müssen meine Frage schon beantworten!)


– Herr Grindel, wie ich Ihre Frage beantworte, ist letzt-
lich meine Sache. Sie haben das Thema angesprochen,
zu dem ich mich gerade äußere.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aufstehen! Aufstehen!)


Ich bin mit der Beantwortung der Frage noch nicht
fertig.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703515700

Solange Sie die Frage beantworten, halte ich die Uhr

an, –

Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1703515800

Gut.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703515900

– unabhängig davon, ob der Fragesteller steht oder

sitzt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)



Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1703516000

Ist das neu?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703516100

Herr Kollege Edathy, darüber, wie lange die Zeit für

eine Antwort bemessen wird, entscheidet der Präsident
und nicht der Fragesteller.


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1703516200

Ich bin aber eindeutig noch im Rahmen der Beant-

wortung.


(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Auf welche Frage?)


Ich zitiere aus einem Telex des Forschungsministers der
damaligen schwarz-gelben Koalition. Darin heißt es in
Richtung des Instituts:

Dieser Abschnitt sollte sinngemäß mit der Feststel-
lung schließen,


(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Auf welche Frage denn? Herr Edathy, auf welche Frage antworten Sie?)


dass die Eignungshöffigkeit des Salzstocks Gorle-
ben … untermauert werden konnte.


(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Auf welche Frage antworten Sie?)


– Herr Kollege, wer schreit, hat unrecht. Das lernen Sie
vielleicht auch noch.

An anderer Stelle heißt es: Es wäre wünschenswert,
wenn

dieser Abschnitt mit der Aussage schließen kann,
dass nach Einschätzung der Fachleute die noch zu
erzielenden Ergebnisse … die Eignungshöffigkeit
des Salzstocks voraussichtlich nicht in Frage stellen
können.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wenn das alles ist, was Sie haben, ist das zu wenig!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703516300

Herr Kollege.


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1703516400

Ich bin am Ende der Beantwortung der Frage des Kol-

legen Grindel.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Sebastian Edathy


(A) (C)



(D)(B)

An dieser Aussage kann es überhaupt keinen Zweifel
geben: Es besteht Aufklärungsbedarf. Diesem Rechnung
zu tragen, ist die Aufgabe des Untersuchungsausschus-
ses, den wir heute einsetzen. Ich kann Ihnen versichern,
Herr Kollege Grindel: Das wird mehr werden als eine
historische Kommission oder eine fachpolitische De-
batte.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ein Flop wird es werden!)


Es wird dabei vielmehr um zentrale, gegenwartsrele-
vante Fragen gehen:

Erstens. Wie war es um die Verflechtung von schwarz-
gelber Politik und Atomwirtschaft bestellt? In welcher
Tradition steht diesbezüglich die neue Bundesregierung?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens. Wurden für die Durchsetzung einer ideolo-
gischen Position wissenschaftliche Gutachten manipu-
liert? Wurde die Öffentlichkeit entsprechend getäuscht?
Welche Auswirkung hat das auf die Endlagersuche? Ge-
nau deshalb ist es nicht nur sachlich falsch, sondern eine
Missachtung des Parlaments, wenn wir heute einen Un-
tersuchungsausschuss ins Leben rufen und gleichzeitig
die Beplanung von Gorleben weitergehen soll. Das ist
ein Unding; das geht so nicht. Ich frage mich, was bei ei-
ner so wichtigen Debatte der Bundesumweltminister
Wichtigeres tun könnte, als hier im Plenum zu sein.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ich habe gehört, dass der Präsident des Niedersächsi-
schen Landtags vor wenigen Tagen bei Herrn Röttgen
angefragt hat, ob er vor dem Umweltausschuss des Nie-
dersächsischen Landtags Rede und Antwort stehen
könne. Es kam ein Rückruf aus einem Referat des BMU.
Es wurde mitgeteilt, weder die Leitungs- noch die Ar-
beitsebene wolle gegenüber den Landtagsabgeordneten
Stellung zu dem nehmen, was Sie hier vorhaben. Das ist
unglaublich. Als Sie 1998 in die Opposition kamen, ha-
ben Sie der damals neugewählten rot-grünen Regierung
zu Unrecht Arroganz der Macht vorgeworfen. Dieser
Vorwurf fällt nun – völlig zu Recht – auf Schwarz-Gelb
in der Regierungsverantwortung zurück. Was Schwarz-
Gelb praktiziert, ist Arroganz der Macht, das ist Über-
heblichkeit, das ist Politik gegen die Interessen der Men-
schen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich empfehle Ihnen zur Lektüre ein Rechtsgutachten,
das vom Bundesamt für Strahlenschutz herausgegeben
wurde; es ist vom 8. September 2009. Dieses Gutachten
beantwortet die Frage, ob zulässig ist, was Sie mit der
Fortsetzung des alten Bergrechts planen. Auf Seite 57
dieses Rechtsgutachtens heißt es wörtlich – damit be-
ende ich meine Rede, Herr Präsident –:

Eine weitere Erkundung des Bergwerks Gorleben
auf bergrechtlicher Grundlage – etwa durch Zulas-
sung eines neuen bzw. geänderten Rahmenbetriebs-
planes – ist unzulässig …

Nehmen Sie wenigstens das zur Kenntnis, wenn Ihnen
der Umgang mit dem Untersuchungsausschuss schon re-
lativ egal zu sein scheint.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Angelika Brunkhorst [FDP]: Wer hat das Gutachten erstellt?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703516500

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun das Wort der Kollege Marco Buschmann von der
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1703516600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Diese Debatte zeigt eines: In Deutschland
tobt ein Glaubenskampf, und dieser Glaubenskampf
rankt sich, wie alle anderen Glaubenskämpfe, um einen
Mythos. Dieser Mythos trägt den Namen Gorleben. Das
zentrale Glaubensbekenntnis seiner Anhänger fasst das
Greenpeace-Magazin – wie ich finde, recht originell –
zusammen:

Deutschland wird von der Atomindustrie be-
herrscht. Ganz Deutschland? Nein. Im Wendland,
wo der deutsche Atommüll endgelagert werden
soll, leisten Bauern, Adlige und Freaks seit mehr als
20 Jahren Widerstand.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bravo!)


Diese scheinbar harmlose Anspielung auf die Asterix-
Comics wie der ganze Mythos Gorleben stellen in Wahr-
heit das Verfassungsleben der Bundesrepublik Deutsch-
land infrage;


(Ute Vogt [SPD]: Oh ne!)


denn die Glaubenssätze dieses Mythos, den Sie auch hier
predigen, enthalten ganz fundamentale Vorwürfe.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten einmal eine Dissertation dazu schreiben: Mythos und Widerstand am Beispiel einer Region!)


Sie behaupten, in Deutschland herrsche nicht das Volk,
sondern die Energieversorger. Sie behaupten, in Deutsch-
land gelte nicht das Recht, sondern nur Lobbyinteressen,
und die Bürger könnten sich nicht darauf verlassen, dass
die relevanten Sicherheitsbelange ausgiebig geprüft wer-
den. Dass diese Glaubenssätze zu einem Glaubenskampf
führen, sehen wir an den Bildern dieser heftigen Aus-
einandersetzung.





Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)


Vor dem Hintergrund dieser Glaubenskämpfe, die Sie
mit anheizen, begrüßt die FDP-Fraktion ganz ausdrück-
lich, dass wir nun einen Untersuchungsausschuss einset-
zen;


(Thomas Oppermann [SPD]: Stimmt ihr gleich auch zu?)


denn ein Untersuchungsausschuss ist ein Instrument zur

und unserer Verantwortung für das Vertrauen der Bürge-
rinnen und Bürger in die rechtsstaatlichen Verfahren un-
serer Demokratie.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703516700


Faktenermittlung. Er gibt uns die Möglichkeit, die Sach-
verhalte, um die es geht, in aller Sachlichkeit aufzuarbei-
ten.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Sachliche Aufarbeitung entzaubert Mythen und führt auf
konkrete Lebenssachverhalte zurück, die wir dann mit
klarem Kopf würdigen können. Das trägt hoffentlich
dazu bei, diesen erbitterten Glaubenskampf, den Sie mit
anheizen, zu beenden oder zumindest zu entschärfen.


(Sebastian Edathy [SPD]: Den haben wir beendet!)


Ob das mit dem Instrument des Untersuchungsaus-
schusses gelingen kann, liegt nicht allein in den Händen
der Koalitionsfraktionen. Das liegt auch in Ihren Hän-
den. Ich weiß natürlich, dass Sie diesen Mythos gerne
predigen, weil er für viele Ihrer Anhänger sinnstiftend ist
und ihnen Motivation vermittelt. Ich kann mir schon
vorstellen, dass Herr Trittin an bessere Zeiten seines Le-
bens denkt, wenn er sich mit dem Mythos beschäftigt;


(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sorgen Sie einmal dafür, dass Gelsenkirchen bessere Zeiten erlebt!)


aber die Verantwortung in diesem Haus ist eine andere.

Wenn die Fakten durch den Untersuchungsausschuss
geklärt sind, dann sollten Sie mit dem Predigen von My-
then aufhören,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


spätestens dann sollten Sie an die Stelle des Mythos einen
nüchternen Sachverhalt setzen, spätestens dann sollten
wir uns gemeinsam darum bemühen, den Glaubenskampf
in diesem Land, der auf dem Rücken der Menschen aus-
getragen wird, zu beenden. Das schulden wir alle gemein-
sam unserer Verantwortung, unserer Verantwortung für
den Rechtsfrieden in unserem Land


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für den Rechtsfrieden? Den haben Sie in Sachen Atomenergie gebrochen!)

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1161 mit dem Titel
„Keine Vorbereitungen für die Wiederaufnahme der Er-
kundung des Salzstocks in Gorleben bis zum Abschluss
der Arbeit des 1. Parlamentarischen Untersuchungsaus-
schusses“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist eindeutig ab-
gelehnt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ute Vogt [SPD]: Ganz schön knapp war es schon!)


Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprü-
fung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag
der Abgeordneten Ulrich Kelber, Dr. Matthias Miersch,
Dorothée Menzner und weiterer Abgeordneter zur Einset-
zung eines Untersuchungsausschusses. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/1250, den Antrag auf Drucksache 17/888 (neu)

in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? –


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Sebastian Edathy [SPD]: Schizophrene FDP-Fraktion!)


Erlauben Sie, dass ich diese Abstimmung wiederhole!


(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Warum denn?)


– Damit sich einige klar werden können, wie sie stim-
men sollen. – Noch einmal: Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 21. April 2010, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.