Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe heute Morgen vor Eintritt in die Tagesordnungnichts zu verkünden, was zur Förderung der Motivationoder zur Behinderung der Tagesordnung geeignet seinkönnte.Also kommen wir sofort zu den Tagesordnungspunk-ten 23 a, b und d:a) Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung zum Stand derBemühungen um Abrüstung, Rüstungskon-trolle und Nichtverbreitung sowie über dieEntwicklung der Streitkräftepotenziale 2009
– Drucksache 17/445 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungRedeb) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDeutschland muss deutliche Zeichen für eineWelt frei von Atomwaffen setzen– Drucksache 17/1159 –d) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Andreae, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENRüstungsexportberichte zeitnah zum Jahres-abrüstungsbericht vorlegen– Drucksache 17/1167 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
Federführung strittigzungn 26. März 2010.02 UhrNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Wünscht je-mand dazu eine spontane streitige Debatte mit Kampf-abstimmung? – Auch das ist nicht der Fall. Wir steuernoffenkundig auf ein außerordentlich friedfertiges Wo-chenende zu.Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort erhält zu-nächst Außenminister Dr. Guido Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kolleginnen und Kollegen! Vor ziemlich genau ei-nem Jahr hat Präsident Obama mit seiner berühmten Pra-ger Rede ein wichtiges Signal für die weltweiteAbrüstung gegeben. Die unkontrollierte Weiterverbrei-tung von atomaren Waffen ist wohl eine der größtenBedrohungen unserer Sicherheit. Diese Gefahr einzu-dämmen, ist eine Überlebensfrage. Deswegen sind Ab-rüstung und Rüstungskontrolle für die ganze Menschheitvon enormer Bedeutung. Es ist die große Menschheits-herausforderung.
Das Jahrzehnt hat gerade erst begonnen, und man darfan dieses Thema nicht zu gelassen herangehen. Wir ste-hen am Beginn eines Jahrzehnts, bei dem sich noch ent-scheiden wird, ob es ein Jahrzehnt der Aufrüstung oderder Abrüstung werden wird.
Die Bundesregierung stellt sich dieser Verantwortung.Deswegen war es mir wichtig, den Jahresabrüstungsbe-richt der Bundesregierung gleich zu Jahresbeginn die-sem Hohen Hause, dem Deutschen Bundestag, vorzule-onsvertrag haben wir festgeschrieben, dassd Rüstungskontrolle zentrale Bausteine ei-gen.Im KoalitiAbrüstung unner globalen Sicherheitsarchitektur der Zukunft sind.
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Dies war für die Bundesregierung vom ersten Tag anLeitfaden ihrer Politik, und dies ist auch der Kompassfür die kommenden Jahre.Das nukleare Gleichgewicht des Schreckens, wie esgenannt wird, hat im letzten Jahrhundert dazu beigetra-gen, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nichtnoch einmal in Krieg und Zerstörung versunken ist.Aber einiges, was während des Kalten Krieges richtigwar, ist heute überholt.
Die Abschreckungswirkung nuklearer Waffen wird zu-nehmend von der wachsenden Gefahr der Verbreitungnuklearer Waffen überschattet.
Wir laufen Gefahr, dass sich in zehn Jahren die Zahl dernuklear bewaffneten Länder womöglich verdoppelt, da-runter Länder, die wir heute noch gar nicht auf demSchirm haben. Wir laufen Gefahr, dass nicht nur StaatenNuklearwaffen besitzen, sondern auch Terroristen.Abrüstung und Rüstungskontrolle sind keine Anlie-gen von gestern; sie sind drängende Aufgaben der Ge-genwart und der Zukunft. Abrüstung ist kein naiverIdealismus. Abrüstungspolitik ist auch nicht weltfremd;im Gegenteil: Es wäre weltfremd, Abrüstungspolitikjetzt zu unterlassen.
Es ist kein Zufall, dass sich heute auf beiden Seiten desAtlantiks Außenpolitiker für nukleare Abrüstung und füreine atomwaffenfreie Welt einsetzen, die in ihrer aktivenZeit als Politiker und Staatsmänner mit guten Gründenfür die Abschreckung eingetreten sind. Helmut Schmidt,Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker, EgonBahr fordern dasselbe wie Henry Kissinger, Sam Nunn,George Shultz und William Perry.Im letzten September haben die Staats- und Regie-rungschefs im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen denWeg zu einer Welt ohne Atomwaffen vorgezeichnet. Icherinnere an die Resolution 1887 vom 24. September2009. Sie haben in einer historischen Sitzung unter Lei-tung von Präsident Obama allen Staaten ins Stammbuchgeschrieben, diesen Weg der Abrüstung jetzt entschlos-sen zu gehen. Damit ist auch deutlich, dass Abrüstungkein deutscher Sonderweg ist, sondern in die Politik derVölkergemeinschaft eingebettet ist.
Das Nachfolgeabkommen zum START-Vertragzwischen den Vereinigten Staaten von Amerika undRussland ist jetzt zum Greifen nahe. Wir setzen darauf,dass die anstehenden ganz aktuellen Gespräche zu einemErgebnis führen können, sodass in wenigen Tagen – wirhoffen darauf – vielleicht auch ein Abschluss möglichwird. Ein erfolgreicher Abschluss wäre das Signal, dassdie beiden führenden Atommächte, die mehr als 90 Pro-zent aller Atomwaffen besitzen, ihre Abrüstungsver-pflichtung ernst nehmen. Das Abkommen könnte auchden Weg für weitere Verhandlungen ebnen, die dasThema einer Reduzierung der Zahl der sogenannten tak-tischen Nuklearwaffen einschließen sollten.Der Nichtverbreitungsvertrag schreibt drei elemen-tare Prinzipien fest: erstens die Verpflichtung zur Nicht-verbreitung, zweitens das Gebot allgemeiner und voll-ständiger Abrüstung und drittens übrigens auch dasunbestrittene Recht aller Staaten auf zivile Nutzung derKernenergie. Der Vertrag beruht auf einem gegenseiti-gen Versprechen. Der Selbstverpflichtung zur Nichtver-breitung steht die Selbstverpflichtung der Atomwaffen-staaten zur Abrüstung gegenüber. Es sind zwei Seitenderselben Medaille.
Die Überprüfungskonferenz vor fünf Jahren – Siewissen es – scheiterte. Die Welt darf nicht noch einmalfünf Jahre verstreichen lassen. Wir wollen einen Erfolgbei der Überprüfungskonferenz im Mai in New York,wir brauchen ein erneutes Bekenntnis aller Vertragsstaa-ten zu den Rechten und Pflichten des Vertrages, und wirwollen einen Aktionsplan mit konkreten Schritten füreine Stärkung der drei Grundprinzipien des Vertrages,die ich eben benannt habe. Dafür wird sich die Bundes-regierung einsetzen.Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen, bisheute hat der Iran den Nachweis nicht erbracht, dasssein Nuklearprogramm ausschließlich friedliche Zieleverfolgt. Ein nuklear bewaffneter Iran wäre nicht nur re-gional wie ein Funken im berühmten Pulverfass. Ein nu-klear bewaffneter Iran würde auch das gesamte globaleNichtverbreitungsregime gefährden. Das können unddas werden wir als Völkergemeinschaft nicht hinneh-men.
Alle Staaten, die außerhalb des Nichtverbreitungsver-trages Atomwaffenfähigkeit erlangt haben, bleiben auf-gerufen, auf nukleare Bewaffnung zu verzichten unddem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten. Das Nicht-verbreitungsregime wird durch jeden einzelnen Beitrittstärker.Auf dem Weg zu einer nuklearwaffenfreien Weltbrauchen wir aber mehr als den Nichtverbreitungsver-trag. Beim Außenministertreffen der G 8 am kommen-den Dienstag in Ottawa können wir dafür die Grundlageschaffen. Die G 8 vereinen mit den USA, mit Russland,Frankreich und Großbritannien vier der fünf ständigenMitglieder des Sicherheitsrates. Das sind zugleich vierder fünf anerkannten Atommächte. Ich werde mich inOttawa für eine gemeinsame Position der G 8 zur Abrüs-tung und zur Rüstungskontrolle einsetzen. Wenn die G 8mit einer Stimme sprechen, dann können wir für Abrüs-tung und Nichtverbreitung Beachtliches erreichen.Nötig ist auch ein weltweit verbindliches Vertrags-regime, um waffenfähiges Material konsequent zu kon-trollieren, bevor es einer militärischen Verwendung zu-geführt wird. Nur so können wir ausschließen, dassNuklearmaterial in die falschen Hände gerät. Auf dem
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Nukleargipfel in Washington wird sich die Bundeskanz-lerin dafür einsetzen.Wir brauchen Fortschritte aber auch beim Atom-waffenteststopp-Abkommen. 182 Staaten haben diesesAbkommen unterzeichnet, 151 haben es ratifiziert. Ob-wohl die überwältigende Mehrheit der Staatengemein-schaft dieses Abkommen will, ist es bis heute nicht inKraft. Wir appellieren an die Staaten, deren Beitritt fürdas Inkrafttreten noch notwendig ist, dass sie diesenlängst überfälligen Schritt endlich tun.
Abrüstung und Rüstungskontrolle, unsere Verteidi-gungsfähigkeit und eine verantwortungsvolle Rüstungs-exportpolitik sind unverzichtbare Bestandteile derumfassenden Sicherheits- und Friedenspolitik der Bun-desregierung. Das Nordatlantische Bündnis ist undbleibt das Fundament unserer Sicherheit. Die zentraleAufgabe der NATO bleibt das gegenseitige Versprechenaller Bündnispartner zu Beistand und zu gemeinsamerVerteidigung. Ich sage das ausdrücklich, weil das fürviele Staaten von großem Interesse ist und weil sie auchbei dieser Frage Sicherheit und ein klares Bekenntnis er-warten. Art. 5 des Washingtoner Vertrages ist auch inZukunft Rückgrat des Bündnisses.
Die Zukunftsfähigkeit der NATO bestimmt aber auchüber die Zukunftsfähigkeit aller Bündnispartner. Daherist es so wichtig, dass die NATO die richtigen Antwortenauf die veränderte globale Sicherheitssituation findet.Bis zum NATO-Gipfel in Lissabon im November erar-beitet das Bündnis ein neues strategisches Konzept. DieNATO muss wieder zu einem politischen Ort werden, andem wir uns mit unseren Verbündeten über die gesamteBandbreite gemeinsamer Sicherheitspolitik verständi-gen. Abrüstung und Rüstungskontrolle gehören auch indie NATO.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, ich habe gemeinsam mit meinen Kollegen ausden Niederlanden, aus Belgien, Luxemburg und Norwe-gen eine Debatte angestoßen, damit das entscheidendeZukunftsthema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ wie-der zum festen Bestandteil der Bündnispolitik wird. Wirwerden uns Ende April in Tallinn für diese Position imBündnis einsetzen.Ohne eine enge Partnerschaft mit Russland ist dieeuropäische Sicherheitsarchitektur bestenfalls unvoll-ständig. Deutschlands Sicherheit ist am besten gewähr-leistet, wenn es eine umfassende Sicherheit von Vancou-ver bis Wladiwostok gibt. Deswegen ist die Kooperationmit Russland so wichtig. In der Frage der Raketenab-wehr sollten wir keine Mühe scheuen, gemeinsame undkooperative Lösungen zu finden. Ich bin auch zuver-sichtlich, dass wir über die Reduzierung und Abschaf-fung taktischer Nuklearwaffen sprechen können undsprechen werden.
Das setzt einen Prozess voraus, der mit mehr Transpa-renz beginnt, Vertrauen aufbaut und in nachprüfbarenvertraglichen Vereinbarungen münden kann und soll.Diese Waffen sind Relikte des Kalten Krieges, sie habenkeinen militärischen Sinn mehr, sie schaffen keine Si-cherheit, und sie haben deshalb nach Auffassung derBundesregierung auch keine Zukunft.
Aber auch das muss klar hinzugefügt werden: Dass wirüber den Abzug der in Deutschland verbliebenen Atom-waffen nur innerhalb des Bündnisses und mit unserenVerbündeten gemeinsam entscheiden, ist eine Selbstver-ständlichkeit.
Nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle sind dasGebot unserer Zeit, weil diese Waffen mit ihrem Ver-nichtungspotenzial die gesamte Menschheit bedrohen.Es liegt aber auf der Hand, dass wir darüber die konven-tionelle Abrüstung nicht vernachlässigen dürfen. Nu-kleare Abrüstung darf nicht dazu führen, dass konventio-nelle Kriege wieder leichter führbar werden. Deswegengehen nukleare Abrüstung und konventionelle Abrüs-tung nach Auffassung der Bundesregierung Hand inHand.
Wir brauchen einen offenen Dialog zwischen der NATOund Russland, um den Vertrag über KonventionelleStreitkräfte in Europa, den KSE-Vertrag, neu zu belebenund an die Erfordernisse unserer Zeit anzupassen.
Dass die Stimme Deutschlands in den internationalenDebatten zur Abrüstung gehört wird, ist auch der überJahrzehnte gewachsenen Glaubwürdigkeit deutscherFriedenspolitik zu verdanken. Mit diesem Pfund, das wiruns in der Demokratie der Bundesrepublik Deutschlandgemeinsam erarbeitet haben, können wir heute wuchern.Ich mache mir keine Illusionen – ich weiß, dass Sie dasgenauso sehen –, dass der Weg einfach sein wird. Abrüs-tung und vertragliche Rüstungskontrolle sind dicke Bret-ter, die wir beharrlich bohren werden. Ich freue mich,dass die Bundesregierung dabei auf die breite Unterstüt-zung dieses Hohen Hauses bauen kann. Ich danke allenKolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und na-türlich auch den Kollegen meiner eigenen Fraktion, diediesen Kurs deutscher Sicherheits- und Friedenspolitikmit Rat und Tat unterstützen. Den interfraktionellen An-trag, der die überwältigende Mehrheit dieses HohenHauses hinter sich vereint, verstehen wir in der Bundes-regierung als Auftrag und als Verpflichtung. Es ist gutund richtig – es ist auch wichtig für unsere Bürger, dies
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zu wissen und zu sehen –, dass wir in diesen Schicksals-fragen ein gemeinsames Fundament in diesem HohenHause haben.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun die Kollegin Uta Zapf für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte als Allererstes einen ganz herzlichen Dank analle die, die bei diesem Antrag mitverhandelt haben, aus-sprechen. Ich danke, obwohl es ungewöhnlich ist, mei-nem Kollegen Roderich Kiesewetter, der sich in der Tatbemüht hat, viele Hürden aus dem Weg zu schaffen.Herzlichen Dank dafür! Herzlichen Dank aber auch anFrau Malczak, die mit dafür gesorgt hat, dass der eineoder andere über seinen Schatten gesprungen ist. Ichdenke, das ist das Kennzeichen dieses Antrags. Wir sindeinen großen Schritt in der parlamentarischen Meinungs-bildung vorangekommen, und dies in einer schwierigenSituation, in der es unterschiedliche Grade an Zustim-mung zu dem gegeben hat, was der Herr Minister soebenausgeführt hat. Wir haben es schwer gehabt. Ich habe ge-sagt, das ist gleichzeitig eine Zangen- und eine Steiß-geburt. Aber wir sind zu einem Ergebnis gekommen,wenn auch in allerletzter Minute vor der Sitzung allerFraktionen.Ich bin sehr froh; denn bei allen Abstrichen oder Zu-geständnissen, die der eine oder andere hat machen müs-sen, ist es ein Antrag, der in der Tat dazu beitragen kann,die Bundesregierung in der augenblicklichen Situationzu leiten. Ich sage ausdrücklich „zu leiten“, weil es auchda Unterschiede gab, wie sich in den Diskussionen ge-zeigt hat. Es ist ein gutes Zeichen, dass wir ganz wich-tige Punkte gemeinsam, über alle Fraktionen hinweg, be-schließen können. Aus allen Fraktionen gab es Anträge.Diese werden im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungs-kontrolle und Nichtverbreitung beraten werden.Wir haben gerade am heutigen Tage das Glück, sagenzu können: Jawohl, START steht kurz vor der Unter-zeichnung. Das ist ein ganz wichtiges Zeichen, auchwenn es nur der erste Schritt in dem bedeutenden Pro-zess der Abrüstung nuklearer Waffen ist. Wir wissen,dass viele weitere Schritte folgen müssen, sei es bilateralzwischen Russland und den USA, sei es ausgeweitet aufandere Nuklearwaffenstaaten der P 5. Schon da fangengewisse Schwierigkeiten an. Wie wir von unserem direk-ten Nachbarn Frankreich wissen, ist dies dort eine vielschwierigere Frage als bei uns.Diejenigen, die den Nichtverbreitungsvertrag nichtunterzeichnet haben – der Minister hat es erwähnt –,aber über Nuklearwaffen verfügen, müssen, wenn wirGlobal Zero, Abrüstung auf null, wirklich wollen, in derEndphase einbezogen werden. Deshalb haben wir indem vorliegenden Antrag den Appell an diese Staatenformuliert, zumindest ihre Waffen nicht weiter aufzusto-cken, die Produktion von Spaltmaterial zu beenden undsich dem Atomteststoppvertrag anzuschließen. Wir wis-sen, dass Präsident Obama den Atomteststoppvertrag inden USA ratifizieren lassen will. Wir wissen aber auch,dass es da noch eines Stückes Arbeit bedarf. Wir werdenvon uns aus ein bisschen Unterstützung leisten müssen,damit diese wichtige Ratifikation zustande kommt.Die Verhandlungen in Genf über einen Stopp der Pro-duktion von Spaltmaterial stocken, weil sich Pakistandem entgegenstellt, obwohl ein fast fertig ausgearbeite-ter Vertrag vorliegt, der sich schon seit Jahren in denSchubladen befindet. Es wird eine ganz wichtige Auf-gabe sein, das zu befördern. Wir sind dazu bereit.In diesem Zusammenhang wird die Überprüfungs-konferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die im Maistattfindet, ein ganz wichtiger Punkt sein. Dabei geht esum die Frage, wie es der Herr Minister formuliert hat:Wird es Aufrüstung geben, oder wird es Abrüstung ge-ben? Diese Überprüfungskonferenz sollte so ausfallen,dass sich die Teilnehmerstaaten auf ein wegweisendesAbschlussdokument einigen können, das das aufnimmt,was wir schon einmal erreicht hatten, liebe Freunde. Mitden 13 Schritten im Jahre 2000 hatten wir etwas erreicht,was wir heute wieder haben niederschreiben müssen.In diesen 13 Schritten ist unter anderem ein ganzwichtiger Punkt enthalten. Dazu will ich ein paar Wortesagen. Das betrifft nicht nur die Strategie der USA, son-dern auch die der NATO und Russlands. Ich glaube, eswäre gut, wenn man partnerschaftlich dazu käme, imDialog zwischen Russland und den USA – mit demSignal, das von der Nuclear Posture Review ausgeht –das Richtige zu tun und auch Russland dazu zu bewegen,den Nuklearwaffen einen geringeren Stellenwert zuzu-schreiben. Das ist der Kernpunkt unserer Diskussion.Es wird die Zukunft der Abrüstung bestimmen, ob esuns und auch der NATO gelingt, von der Atomwaffen-strategie Abstand zu nehmen. Es geht nicht nur um die inDeutschland oder anderen europäischen Staaten gelager-ten Atomwaffen, sondern es geht auch darum, ob sichdie NATO bei der Verteidigung auf einen Mix aus Atom-waffen und konventionellen Waffen stützt oder ob dieNATO bereit ist, den Stellenwert von Atomwaffen he-rabzustufen. Bevor es überhaupt dazu kommt, auf Atom-waffen ganz zu verzichten, ist es wichtig, zu sagen, dassdie Atomwaffen nur noch der Abschreckung gegen Nu-klearwaffen dienen, als Restposten sozusagen. AuchObama hat darauf hingewiesen: Solange es Nuklearwaf-fen gibt, werden wir Abschreckung noch brauchen. Aberwenn es uns nicht gelingt, die Rolle von Atomwaffen inden Strategien zu minimieren, wird es nicht zu einemvölligen Verzicht kommen. – Deshalb ist mein großerAppell an die Bundesregierung, ein solches Vorgehendurch Verhandlungen in den NATO-Gremien zu unter-stützen und voranzutreiben.Ich bin nicht ganz pessimistisch. Wir haben eine Un-terrichtung von einem der zwölf Apostel bekommen, dereiner Gruppe angehört, die eine neue Strategie vorberei-tet. Ich hatte den Eindruck, dass man auch in dieser Stra-
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tegie empfehlen wird, das Ziel der völligen nuklearenAbrüstung festzuschreiben. Das hat – auch für die au-genblickliche Planung – Konsequenzen. Ich bitte herz-lich darum, Taten folgen zu lassen.Es gibt noch einen weiteren Punkt, um den wir gerun-gen haben. Vonseiten der nichtgebundenen Staaten wirddie Drohung ausgesprochen, dass sie sich im Rahmender Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrver-trag einem Abschlussdokument verweigern werden, fallses keine Resolution für eine atomwaffenfreie Zone imNahen und Mittleren Osten geben sollte. Ich glaube– auch dieser Punkt ist wichtig –, dass das Ziel, das mitdieser Resolution angesteuert wird, eines der schwierigs-ten ist, weil es sich hierbei, wenn es um Abrüstungsfra-gen und um Sicherheit geht, um die allerschwierigsteRegion handelt.Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es nichtnur um die nukleare Abrüstung geht, sondern auch umeine Verabredung zur Rolle der konventionellen Streit-kräfte. Das betrifft nicht nur den KSE-Vertrag – wir wis-sen es sehr zu schätzen, dass dieses Thema wieder aufden Tisch des Hauses gebracht wird –, sondern auch denNahen und Mittleren Osten. Das betrifft natürlich auchdie Regionen Indien und Pakistan, in denen die beidenMächte derzeit derart aufrüsten, dass man das Schaudernbekommen kann. Wenn wir generell über den Jahresab-rüstungsbericht sprechen, sollten wir das im Blick behal-ten. Wir stehen auch in diesem Bereich in der Pflicht, aufweitere Abrüstung hinzuwirken. Das betrifft natürlichauch die eigenen Lieferungen, die nicht maßlos zur kon-ventionellen Aufrüstung beitragen sollten.Lassen Sie mich einen letzten Punkt erwähnen. DieProliferationsgefahr, die mit der zivilen Nutzung vonNukleartechnologie verbunden ist, ist uns bewusst.Wenn man sich vorstellt, welche möglichen weiterenGefahren durch die Verbreitung der Nukleartechnologieund durch das dadurch anfallende Nuklearmaterial – seies Abfall, sei es Material zur Wiederverwertung – auchin Bezug auf die illegale oder die terroristische Verwen-dung entstehen, dann glaube ich, dass es höchste Zeit ist,dass wir darüber reflektieren, und zwar nicht nur in Be-zug auf die Sicherung dieser Materialien – demnächstsoll auf dem Gipfel in Washington darüber beraten wer-den –, sondern auch in Bezug auf die Frage, wie wir imZuge einer solchen Entwicklung gewährleisten können,dass eine sogenannte Fuel Bank etabliert wird. Es wirdnicht leicht sein, anderen Staaten zu sagen: Ihr dürft die-ses Material, das ihr für die Reaktoren verwenden wollt,nicht selbst herstellen; wir wollen das unter internationa-ler Kontrolle machen. – Dies wäre aber ein wichtigerSchritt. Wir kennen das aus den ganz schwierigen Dis-kussionen mit Iran.Wenn ich noch ein Problem auftischen soll, das völligungelöst ist, muss ich an Nordkorea erinnern. DieSechs-Parteien-Gespräche müssen von uns unterstütztwerden. Es muss eine Lösung gefunden werden, damitdieses Land, das sich aus dem Atomwaffensperrvertragquasi abgeseilt hat, in die Vertragsgemeinschaft zurück-kehrt. Es muss eingebunden werden und sich an einerfriedlichen Lösung all jener Probleme, die ich angerissenhabe, beteiligen.Nochmals herzlichen Dank an alle für die gute Ko-operation. Das lässt mich für die Zukunft dieser Legisla-turperiode hoffen.Herzlichen Dank.
Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Wir debattieren hier heute nicht nur über denJahresabrüstungsbericht 2009 der Bundesregierung, son-dern wir sprechen auch über einen fraktionsübergreifen-den Antrag, der von vier Fraktionen dieses Hauses ausfünf Parteien vorgelegt wird. Ich denke, das ist ein gutesSignal für die Öffentlichkeit, für unsere Bevölkerung.Wir sind froh, dass wir heute – ich nenne es einmal so –diese Osterbotschaft senden können. Herzlichen Dankan alle Beteiligten, insbesondere an Frau Hoff, Frau Zapfund Frau Malczak! Wenn ich diese drei Namen nenne,könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass Abrüstungweiblich geworden ist. Aber ich denke, dass alle, auchdie Herren des Hauses, dahinterstehen.Wir setzen damit ein klares Zeichen für eine überlegteAbrüstung. Der fraktionsübergreifende sicherheits-politische Antrag hat die beteiligten Fraktionen übermehrere Monate hinweg an die Grenze des Auslotbarengebracht. Das zeigt aber auch, mit welcher Ernsthaftig-keit wir darüber gesprochen haben. Es ist gut, dass unserKoalitionsvertrag bei einem Großteil des Parlaments fürÜbereinstimmung und gemeinsames Handeln sorgt. VieleFormulierungen finden sich im gemeinsamen Antragwieder. Das macht Mut für künftige sicherheitspolitischeInitiativen, zum Beispiel für die G-8-Initiative „GlobalePartnerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernich-tungswaffen“.Bei aller Hoffnung und ohne die für Deutschlandmanchmal typische rosa Brille möchte ich aus Sicht derUnion ein paar Punkte ansprechen.Bei Abrüstung geht es natürlich auch um unsere deut-schen Interessen, um die Klärung unserer sicherheits-politischen Interessen, einschließlich der Festigung dertransatlantischen Bindung und der europäischen Verwur-zelung. Es geht um Grundwerte wie Freiheit und Demo-kratie, Menschenrechte und Wohlfahrt. Es geht aberauch um die Glaubwürdigkeit unserer Außen- und Si-cherheitspolitik. Wir alle wissen, dass unsere heutigeInitiative nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einemgroßen Ziel ist. Selbst Obama hat gesagt, dass es bis zu
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Roderich Kiesewetter
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einer nuklearwaffenfreien Welt möglicherweise eine Ge-neration dauern kann.
Deshalb sollten wir bei allem Elan schon jetzt auch ankonventionelle Abrüstung und an Integration von kon-ventioneller und nuklearer Abrüstung denken. Die Er-nennung von Victoria Nuland als US-Sonderbeauftragtefür konventionelle Abrüstung ist ein hoffnungsfrohesZeichen dafür, wie ernst unser wichtigster Bündnispart-ner auch die konventionelle Abrüstung nimmt.Es ist Auffassung der Union, dass der politischeZweck der nichtstrategischen Atomwaffen in Europa ent-fallen ist. Aber wenn wir diese Abrüstung wollen, dannmuss sie im Bündnis abgestimmt sein, dann müssen wirschrittweise vorgehen – mit den USA, ohne einseitigeVorleistungen –, dann muss das im Zuge der Überarbei-tung des strategischen Konzepts der NATO geschehen– Frau Zapf hat das eben angesprochen – und unter Ein-beziehung – das ist uns von der Union ganz besonderswichtig – aller nichtstrategischen Atomwaffen in Europa,auch der russischen.
Nukleare und konventionelle Abrüstung unter Anpas-sung des KSE-Vertrags ist der Einstieg in eine koordi-nierte Abrüstung. Wir sollten dabei auch die Wahrneh-mung der baltischen Staaten und unseres polnischenNachbarn hinsichtlich der Bedrohungslage ernst neh-men. Die haben nämlich einen etwas anderen Bezug zurGeschichte. Deshalb müssen wir sie frühzeitig in unsereÜberlegungen einbeziehen.
Wie stellen wir uns das konkret vor? Wir bleiben inder NATO und in der Europäischen Union fest veran-kert. Beiden Wertegemeinschaften verdanken wir unsereSicherheit, unseren Wohlstand, aber auch unser Gewichtin der Welt. Die Einigung bei START, also hinsichtlichder Reduzierung der strategischen Atomwaffen, zwi-schen den USA und Russland, die wohl in den nächsten14 Tagen bevorsteht, ist vielversprechend. Wir müssenalle Kraft auf die Überprüfungskonferenz zum Nichtver-breitungsvertrag im Mai setzen und in diesem Jahr ver-suchen, endlich die Ratifizierung des Teststoppvertragszu erreichen – es fehlt immer noch die Ratifizierungdurch neun Staaten –, damit dieser Vertrag in Kraft tre-ten kann.Der Fahrplan des Abzugs nichtstrategischer Atom-waffen aus Deutschland und Europa hat abgestimmt imBündnis zu erfolgen, auch mit den fünf Staaten, in denensie zurzeit noch gelagert sind. Wenn diese Nuklearwaf-fen keine militärische Rolle mehr spielen, sollten wir dasauch in unsere Gespräche mit der Türkei einbeziehen. Esgibt ja auch schon Überlegungen, wie man diese Atom-waffen unter internationale Kontrolle stellen könnte. Ichdenke an die Vorschläge, die bei der IAEO vorliegen.Parallel zum Abrüstungsfahrplan brauchen wir – FrauZapf hat es vorhin angesprochen – die Aufrechterhaltungeiner nuklearen Rückversicherung im strategischen Kon-zept der NATO. Warum? Solange es noch Atomwaffengibt, solange es noch andere Massenvernichtungswaffenauf der Welt gibt – das strategische Konzept enthält al-lerdings ein deutliches Zeichen der Rückführung der Be-deutung der Nuklearwaffen – und solange die Gefahr derProliferation nicht gebannt ist, brauchen wir als letzteRückversicherung wenige Nuklearwaffen im Bündnis.Früher hieß das Abschreckung. Diese sollten wir erstdann aufgeben, wenn keine Staaten mehr mit Atomwaf-fen drohen können. Denn außerhalb Europas ist die Lagenicht sonderlich erquicklich.Wenn wir den Blick in den Abrüstungsbericht wa-gen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen wir: Nord-korea ist unberechenbar. Atommächte wie Pakistan undIndien befinden sich nicht gerade in Friedensverhand-lungen. Die Gefahr nuklearer Rüstung im Iran hat unab-sehbare Konsequenzen, beispielsweise für das Bedro-hungsgefühl Israels, Saudi-Arabiens und der Türkei.Sicherheitspolitik hat nicht immer nur mit klaren Faktenzu tun. Sicherheitspolitik hat viel mit Psychologie undBedrohungswahrnehmung zu tun. Auch daran könnenwir arbeiten. Im Abrüstungsbericht ist davon die Rede,dass in Syrien möglicherweise geheime nukleare Aktivi-täten aufwachsen. Die IAEO hat hierzu Überlegungen.Wir Deutschen arbeiten intensiv an der Multilateralisie-rung des Brennstoffkreislaufs. Es gibt also ganz vieleAnsatzpunkte für Abrüstung, nicht nur im militärischenBereich.Wir werben für Transparenz und Kooperationsmaß-nahmen, für Verifikation für alle Massenvernichtungs-waffen. Deshalb sollten wir noch stärker auf einen Erfolgbei der Genfer Abrüstungskonferenz hinwirken. UnsereWertegemeinschaft gilt es gegen die Bedrohung durchMassenvernichtungswaffen zu schützen. Aber wie leis-ten wir das ohne Nuklearwaffen? Auch darüber solltenwir uns als Parlament Gedanken machen. Es gibt eineLösung; darüber werden wir debattieren müssen: Wirsollten darauf hinarbeiten, dass die geplante Raketenab-wehr der NATO gegen Massenvernichtungswaffen füralle offen ist, die daran mitwirken wollen. Sie richtet sichgegen unberechenbare Staaten im Mittleren und FernenOsten, Staaten, die sich nicht an den Nichtverbreitungs-vertrag halten bzw. den Teststoppvertrag verletzen. Einepartnerschaftliche und nicht ausgrenzende Raketenab-wehr schafft Transparenz und Vertrauen, insbesonderemit Blick auf Russland und China.
Wir sollten deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen,intensiver über Sicherheitspolitik und sicherheitspoliti-sche Architekturen nachdenken, weit über unsere natio-nalen Befindlichkeiten hinaus. Wir brauchen die breiteDebatte. Wir können es auch offen ansprechen: Wir ha-ben es mit dem Ende des Kalten Krieges versäumt, diesewertegeleitete Debatte in Deutschland mit Blick auf un-sere sicherheitspolitischen Interessen zu führen. DasWeißbuch von 2006 ist gut, die Konzeption der Bundes-wehr von 2004 auch. Aber wir haben das nicht in die Öf-fentlichkeit getragen. Wir sollten weiter und breiter in
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der Öffentlichkeit darüber diskutieren. Der Anstoß kannvon uns ausgehen.
Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir dürfen die De-batte nicht blauäugig führen. Gutmenschentum ist in derSicherheitspolitik fehl am Platz. Hier zählen Fakten, Be-drohungswahrnehmungen, strategische Interessen, histo-rische Zusammenhänge und psychologische Befindlich-keiten. Aber es geht auch um Glaubwürdigkeit undverlässliche Stärke. Wir brauchen eine Analyse der si-cherheitspolitischen Herausforderungen und ihrer Ursa-chen mit Blick auf Terrorismus, Aufrüstung und unkon-trollierte Verbreitung, also Proliferation. Es gilt derGrundsatz: Je weniger Nuklearwaffen, desto geringer dieGefahr, dass dieses Material in terroristische Hände fällt.Unsere heutige Abrüstungsinitiative ist dann sinnvollund erfolgversprechend, wenn wir uns über unsere deut-schen Sicherheitsinteressen glaubwürdig und vor allemauch für unsere Bündnispartner nachvollziehbar verstän-digen. Das bezieht die Frage der transatlantischen Ab-stimmung mit ein. Abrüstung kann somit nur gesamt-europäisch wirksam sein, und sie muss für nukleare undkonventionelle Waffen gelten. Wir sollten auch darandenken, mit Russland über die baldige Wiederaufnahmeder Verhandlungen über den KSE-Vertrag zu sprechen,pragmatisch und offen.
Als Rahmen bieten sich hierzu die NATO oder dieOSZE an. Wir berücksichtigen dabei auch die Sicher-heitsbedürfnisse unserer östlichen Nachbarn. Wir solltenAnreize für Abrüstung schaffen, nicht Misstrauen fürneue Aufrüstung. Abrüstung kostet viel Geld; darübermüssen wir uns im Klaren sein. Erst langfristig schafftsie freie Ressourcen, zum Beispiel für Bildung und For-schung. Wir brauchen aber auch Mittel zur Sicherungder Nukleararsenale.Auf dem Weg zur Verwirklichung des langfristigenZiels Global Zero brauchen wir – ich glaube, da sind wiruns einig – die Festlegung einer möglichst geringen An-zahl von Kernwaffen als Restversicherung, und zwarmöglichst außerhalb Europas. Wenn wir dies wollen,auch als Parlament, müssen wir uns darüber im Klarensein, was das im Hinblick auf die Mitbestimmung, dieTeilhabe bedeutet. Auch das ist ein Punkt, über den zudiskutieren ist. Ein zügiges Wegverhandeln der nichtstra-tegischen Atomwaffen nach dem START-Folgeabkom-men ist sicherlich möglich. Mit diesem Vorschlag machenwir unsere deutschen Interessen klar – pragmatisch undkonstruktiv. Wir gehen im Bündnis Hand in Hand.Wir sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mit demschlichten und euphorischen Ruf nach Abrüstung, nachAbzug der Atomwaffen aus Deutschland ist es alleinnicht getan. Wenn wir ernsthafte Abrüstungsbemühun-gen wollen, die dauerhaft erfolgreich sind, stehen wirerst am Anfang eines langwierigen und mühsamen Pro-zesses.Unser Koalitionsvertrag weist den richtigen Weg. Wirsetzen ihn auch in der Sicherheitspolitik erfolgreich um.Dennoch: Visionen schaffen keine Sicherheit. Aber sieschaffen Zielmarken. Sie ermöglichen einen Fahrplan.Aber der Fahrplan braucht Haltestellen. An diesen Halte-stellen sollten Meilensteine der Abrüstung stehen, nichtauf Visionen beruhend, sondern auf klaren Fakten, or-dentlichen Verhandlungen, gegenseitigem Respekt. Dasist möglich, wenn wir die Interessen unserer Nachbarn,auch die Befindlichkeiten unserer ferneren Nachbarn,und die historischen Zusammenhänge kennen. Wir brau-chen für glaubwürdige Abrüstung Vertrauen, Verlässlich-keit und Transparenz.Abrüstung mit Frieden zu verwechseln, ist ein schwe-rer Fehler. Abrüstung ist wichtig. Aber die Geschichtelehrt, dass zumeist nicht Abrüstung zu Frieden führt,sondern dass friedliche Zusammenarbeit erst einmal zugeringerem Misstrauen, dann zu weniger Angst unddann zu Abrüstung führt. Das hat kein Geringerer alsRichard von Weizsäcker festgestellt.Abrüstung führt dann zum Erfolg, wenn sie keinSelbstzweck ist, sondern wenn sie überlegt, mit den Part-nern abgestimmt und mit einem klugen Plan erfolgt, im-mer mit Blick auf unsere eigenen Interessen, über diewir uns national, in Europa und im Bündnis sehr ordent-lich verständigen müssen.Unser gemeinsamer Antrag ist ein richtiger und zügi-ger Schritt. Entscheidend ist, liebe Kolleginnen und Kol-legen, dass unsere Abrüstungsziele mit unseren Interes-sen zusammenpassen. Populismus ist fehl am Platz, aberharte Arbeit umso willkommener. Packen wir es an!Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Inge Höger, Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Täglichsterben 500 Menschen weltweit in bewaffneten Konflik-ten. Das sind etwa 32 Menschen in den anderthalb Stun-den, in denen wir heute über Abrüstung diskutieren.Nicht wenige von ihnen sterben durch deutsche Waffen,durch Schusswaffen, die in Deutschland oder mit deut-scher Lizenz produziert wurden.Die Atommächte dieser Welt besitzen nach wie vor einnukleares Potenzial, das ausreicht, die Menschheit mehr-fach zu vernichten. Trotzdem wird weiter aufgerüstet.Weltweit wird die unglaubliche Summe von 1 500 Milliar-den Dollar für Rüstung ausgegeben. Abrüstung ist dem-nach eine entscheidende Frage, eine Überlebensfrage fürdie Menschen auf diesem Planten. Abrüstung ist einedrängende politische Aufgabe, der wir uns alle stellenmüssen. Atomare und konventionelle Waffen müssen ab-gerüstet werden, ganz egal, ob es um Kleinwaffen oderGroßwaffensysteme geht.
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3316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Inge Höger
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Die Linke ist deshalb für Abrüstung und den Stopp vonRüstungsexporten.
Die Bundesregierung redet viel von Abrüstung. HerrWesterwelle hat gerade wieder den Beitrag Deutschlandsfür den Frieden in der Welt gelobt. Das ist völlig un-glaubwürdig, solange die Bundeswehr immer mehr fürKriege aufrüstet. Es ist verlogen, solange Waffen in na-hezu alle Regionen dieser Welt geliefert werden. Abrüs-tungspolitik sieht anders aus.
Auch im Lissabon-Vertrag wird die Doppelmoralbei der Rüstung hochgehalten. Der Vertrag regelt seitdem letzten Dezember die rechtlichen Grundlagen auchfür die Außenpolitik der Europäischen Union. In demVertrag wird nur ein einziges Mal das Wort „Abrüstung“erwähnt. In Art. 41 und in Art. 42 geht es um „Missio-nen außerhalb der Union“. Diese Missionen umfassen– Art. 43 – sogenannte „Abrüstungsmaßnahmen“ inDrittstaaten, die mit militärischen Mitteln durchgeführtwerden sollen. Gemeint ist also eine gewaltsame Abrüs-tung anderer Länder. Im selben Vertrag verpflichtet dieEU ihre Mitgliedstaaten zu weiterer Aufrüstung. Die EUlegt dabei auch fest, wie dies mit der Europäischen Ver-teidigungsagentur abgewickelt wird. Hier wird schamloseuropäische Machtpolitik betrieben. Abrüstung wird esso nicht geben.
Das schwedische Institut SIPRI hat gerade wiederfestgestellt: Das Volumen des Rüstungshandels ist inden letzten Jahren weltweit um 22 Prozent gewachsen.Zusammen exportieren alle EU-Staaten inzwischen min-destens so viele Waffen wie die USA. Deutschland hatdaran einen ganz erheblichen Anteil: Deutschland hatseine Ausfuhren in diesem Bereich in den letzten fünfJahren verdoppelt. Deutschland ist damit Europameisterbeim Handel mit dem Tod und liegt weltweit auf Platz 3.
Um wenigstens etwas Licht in die dunklen Rüstungs-geschäfte zu bringen, haben wir bereits im Dezember2008 beantragt, dass der Rüstungsexportbericht spätes-tens im zweiten Quartal des Folgejahres vorgelegt wird,statt, wie es bisher häufig der Fall ist, erst über ein Jahrspäter.
Parlamentarische Kontrolle und Debatte über Rüstungs-exporte sind ein wichtiger Beitrag zur Abrüstung.Rüstungsexporte sind ein doppeltes Problem: Zum ei-nen schaffen Waffen keinen Frieden, zum anderen fehltdas Geld, das für Waffen ausgegeben wird, an andererStelle. So haben auch deutsche Waffenverkäufe ihrenAnteil an dem gigantischen Staatsdefizit in Griechen-land. Deutsche Rüstungsunternehmen beliefern sowohlGriechenland als auch die Türkei, nahezu ausgewogen.Sie profitieren von den Spannungen zwischen diesenbeiden Nachbarstaaten. Auch Südafrika und Pakistanwerden mit deutschen Rüstungsprodukten beliefert.Diese Länder haben große ökonomische und soziale Pro-bleme. Wenn Waffen gekauft werden, fehlt das Geld fürBildung, für Gesundheit, für Soziales. Deutsche Waffengehen nach wie vor an Länder, die die Menschenrechtesystematisch missachten, zum Beispiel an Saudi-Ara-bien. Sie gehen an Länder, die in Kriege und Bürger-kriege verwickelt sind, an Länder, die sich diese Waffeneigentlich gar nicht leisten können.Für Rüstungsunternehmen ist das in der Regel keinRisiko; denn die Exporte werden mit staatlichen Her-mesbürgschaften bestens abgesichert. Die Linke ist ge-gen öffentliche Garantien für Rüstungsgeschäfte.
Die Linke ist für Konversion. Die Linke ist gegen Ge-schäfte mit dem Tod. „Frieden schaffen ohne Waffen“ istunsere Devise.
Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vor-liegende Jahresabrüstungsbericht 2009 zeigt die helleSeite der deutschen Außenpolitik. Doch es gibt aucheine ziemlich düstere: die der deutschen Rüstungs-exporte. Den Rüstungsexportbericht legt die Bundesre-gierung nicht gerne vor. Bisher liegt der Rüstungsexport-bericht weder für das Jahr 2009 noch für das Jahr 2008vor. Das ist ein Skandal.
Bevor ich auf diese dunkle Seite der deutschen Au-ßenpolitik zu sprechen komme, möchte ich mich zu-nächst einem Lichtblick der deutschen Abrüstungspoli-tik widmen. Den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,der FDP und der Grünen ist es gelungen, sich auf einengemeinsamen Antrag zur nuklearen Abrüstung zu ei-nigen. Wir Abgeordnete führen in diesem Hohen Hauseleidenschaftliche, teilweise erbitterte Debatten zu allenmöglichen Themen, und häufig ist das auch gut so.Trotzdem ist es wirklich einmalig, dass sich heute dasgesamte Parlament zu einem atomwaffenfreien Deutsch-land und zu dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt be-kennt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3317
Agnes Malczak
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Die Entstehung des interfraktionellen Antrages kanndurchaus als schwierige Geburt bezeichnet werden. Des-halb möchte ich mich bei Frau Zapf, bei HerrnKiesewetter und bei Frau Hoff, die sich immens bemühthaben, dafür bedanken, dass wir dieses tolle Unterfangenauf die Beine gestellt haben. Mit diesem Antrag ist derIrrglaube aus dem Kalten Krieg, dass Atomwaffen fürdie Sicherheit unerlässlich sind, endlich aus den Köpfenaller hier verbannt.Doch für uns ist es nur ein Teilsieg der Vernunft. Dassbei der Ausarbeitung dieses Antrages nicht alle Fraktio-nen beteiligt wurden, zeigt, dass die ideologischen undparteipolitischen Scheuklappen nicht ganz abgelegt wer-den konnten. Der Ausschluss der Linken, obwohl in derSache eigentlich Konsens herrscht, ist aus Sicht der Grü-nen eine verpasste Chance.
Wenn in einer so wichtigen Frage Einigkeit besteht, soll-ten wir gesamtparlamentarisch Geschlossenheit demon-strieren.Meine Damen und Herren, die Kanzlerin kann jetztauf ihrer Reise zum Gipfel in die USA ebenso wie derAußenminister auf seinen Reisen statt einer Kontroverse– das kommt häufig vor – einen Konsens mitnehmen,der Ansporn und Mahnung ist. Abrüstung muss einGrundpfeiler für die deutsche Außenpolitik im Dienstedes Friedens sein. Diese Außenpolitik darf sich nichtverstecken, weder vor den USA noch vor der NATO.Deshalb sollten wir hier nicht zu vorsichtig sein und unsnicht zu sehr wegducken. Sie sind doch auch sonst nichtso kleinlaut, Herr Minister. Vertreten Sie diese Anliegendoch noch offensiver, statt immer nur auf die Bündnis-verpflichtungen zu verweisen und die nukleare Abrüs-tung damit zu verknüpfen.
Wer glaubt, die nukleare Bedrohung habe sich mitdem Ende des Kalten Krieges erledigt und sei nur nochein gruseliges Kapitel in den Geschichtsbüchern, unter-liegt einem gefährlichen Irrtum. Die von Atomwaffenausgehende Gefahr für den Frieden und die Sicherheitin der Welt hat eine völlig neue, besorgniserregendeQualität erreicht. Derzeit existieren weltweit 23 000 ato-mare Sprengköpfe, von denen schätzungsweise 11 000rund um die Uhr abschussbereit sind.Eine zunehmende Zahl von Staaten ist dabei, ihre nu-kleare Enthaltsamkeit infrage zu stellen. Der Mythos,dass Atomwaffen ein Potenzmittel für mehr Macht undzugleich eine Immunspritze für mehr Sicherheit sind,verleitet aufstrebende Mächte und jene, die es werdenwollen, dazu, ihre Hände nach der vermeintlichen Wun-derwaffe auszustrecken. Tonnen von waffenfähigem Nu-klearmaterial lagern teilweise an ungesicherten Orten,oft nur geschützt durch Maschendrahtzaun. Mit demWachstum von Information und Handel ist heute die Ex-pertise für den Bau von Atomwaffen viel leichter verfüg-bar als jemals zuvor. Diese Bedrohungsskizze zeigt, dasswir uns keine Versäumnisse leisten können; denn es isthöchste Zeit, zu handeln.
Das starke Votum aus dem Parlament für den Abzugder verbliebenen US-Atomwaffen in Büchel in Rhein-land-Pfalz und für eine Stärkung der nuklearen Abrüs-tung kommt gerade noch rechtzeitig; denn im Mai diesesJahres findet die Überprüfungskonferenz des Atomwaf-fensperrvertrages statt. Sie darf nicht scheitern wie vorfünf Jahren.Ein Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimesund der multilateralen Rüstungskontrolle würde einneues Zeitalter des Rüstungswettlaufes von mehr als nurzwei Großmächten heraufbeschwören. Daher ist es eingroßer Schritt nach vorne, dass wir uns heute gemeinsamfür klare Vereinbarungen für weltweite nukleare Abrüs-tung, für Rüstungskontrolle, für vertrauensbildendeMaßnahmen und Transparenz aussprechen. Der gemein-same Antrag enthält wirklich umfassende Forderungenzur Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt.Für viele dieser Forderungen haben wir Grüne unsschon seit Jahren stark gemacht. Das Parlament will,dass die Bundesregierung für eine Verstärkung von Rüs-tungskontrolle und Abrüstung in der NATO eintritt, undzwar offensiv. Wir stimmen für die Offenlegung vonPlutoniumbeständen und für die Einrichtung eines Kern-waffenregisters. Der Bundestag setzt sich für das welt-weite Inkrafttreten des Atomteststopp-Abkommens ein.Wir erteilen dem Einsatz von Atomwaffen seitens derAtommächte gegenüber Nichtkernwaffenstaaten eineklare Absage.Dass dieser Forderungskatalog von der Mehrheit die-ses Hauses mitgetragen wird, ist ein erstaunlicher Fort-schritt. Doch bei allem gerechtfertigten Lob und bei allergerechtfertigten Freude über diesen Fortschritt dürfenwir uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen.
Der interfraktionelle Antrag, so gut er auch ist, kann füruns Grüne als Minimalkonsens nur ein Grundstein sein,auf dem wir weiter aufbauen müssen. Wer den Bauplankennt, der weiß, dass es darüber hinaus noch viel zu tungibt.Ich möchte drei Baustellen nennen, die für uns we-sentlich sind.Die erste Baustelle befindet sich in Deutschland. Wirwollen auf die Beendigung der nuklearen Teilhabe nichtlänger warten als nötig. Nukleare Abrüstung beginnt vorder eigenen Haustür. Deutschland kann und sollte sichschon jetzt dafür einsetzen, dass die Ausbildung vonBundeswehrsoldaten und die Bereitstellung von Träger-mitteln für den Abwurf von Atomwaffen eingestellt wer-den, und damit dem Beispiel Kanadas und Griechen-lands folgen, die ihrerseits vor Jahren die nukleareTeilhabe beendet haben.
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3318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Agnes Malczak
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Die zweite Baustelle betrifft die NATO. Auch was dieRolle von Atomwaffen innerhalb der NATO angeht, istaus grüner Sicht mehr drin. Zur Überwindung einer Poli-tik der nuklearen Abschreckung muss die Ersteinsatzop-tion für Atomschläge endlich abgeschafft werden.
In der neuen NATO-Strategie, die im Herbst diesesJahres beschlossen wird, muss Abrüstung das Kernprin-zip eines Bündnisses werden, das für Frieden undSicherheit stehen will. Das Bündnis muss sich außerdemin Richtung atomwaffenfreies Europa bewegen und ineinem ersten Schritt den Abbau und vor allem auch dieVerschrottung aller US-Atomwaffen in Europa einleiten.Die dritte Baustelle ergibt sich aus der Problematikder doppelten Verwendung von Nuklearmaterial, für diees nur eine grüne Lösung gibt. Die zunehmende Aus-breitung der zivilen Nutzung der Atomenergie steigertauch die nukleare Gefahr, da immer mehr Staaten die Fä-higkeiten zum Aufbau militärischer Nuklearprogrammeerwerben.
Deutschland muss sich national und weltweit für denAusstieg aus der zivilen Nutzung der Atomenergie ein-setzen und stattdessen die Nutzung erneuerbarer Ener-gien in der Welt fördern.
Aber stattdessen fördert die Bundesregierung den Exportvon Atomtechnologie durch die Vergabe von Hermes-bürgschaften wie unlängst für das AtomkraftwerkAngra 3 in Brasilien. Wenn kurzfristiger Profit in Sichtist und die Atomlobby nach neuen Absatzmärktenlechzt, ist Schwarz-Gelb gegenüber Sicherheitsrisikenblind.Damit sind wir auch schon bei den düsteren Seitender deutschen Außenpolitik angelangt. Der vor kurzemerschienene Bericht des renommierten schwedischenFriedensforschungsinstituts SIPRI bescheinigt Deutsch-land einen bitteren Exporterfolg, auf den auch in Zeitender Weltwirtschaftskrise niemand stolz sein kann. In denvergangenen Jahren verdoppelte die deutsche Rüstungs-industrie ihre Exporte und baute ihren Weltmarktanteilvon 6 auf 11 Prozent aus. Das ist ein trauriger Rekord.Dabei ist nicht nur erschreckend, wie viele Waffenexportiert werden, sondern vor allem auch, wohin sie ex-portiert werden. Denn die Bundesregierung betreibt ihreoffensive Rüstungsexportstrategie auch in Krisenregio-nen. Eine Rüstungsexportpolitik, die sich der Rüs-tungsindustrie derart unterwirft, unterminiert alle An-strengungen um Abrüstung. Sie verschließt die Augenvor den verheerenden Folgen der weltweiten Aufrüs-tungsspirale für Sicherheit und Frieden in der Welt. Sieist unmoralisch und verantwortungslos. Abrüstung istein unverzichtbarer Bestandteil einer nachhaltigen Si-cherheits- und Friedenspolitik und muss daher industrie-politische Absichten übertrumpfen.
Ich stimme dem Minister zu: Nukleare Abrüstungdarf nicht zu konventioneller Aufrüstung führen. Abergerade deshalb müssen wir auch an die Rüstungsexporteheran.
Mit anderen Worten: Konsequente und ehrliche Ab-rüstungspolitik erfordert eine restriktive Rüstungs-exportpolitik und effektive Rüstungskontrolle. Dazu ge-hört auch, dass der Bundestag im Vorfeld und nicht wiein der bisherigen Praxis unzulänglich und erst im Nach-hinein informiert wird. Wir fordern eine unverzüglicheVorlage der Rüstungsexportberichte für 2008 und 2009und setzen uns für ein parlamentarisches Widerspruchs-recht ein.
Abschließend möchte ich festhalten: Unser heutigesBekenntnis für ein atomwaffenfreies Deutschland undeine atomwaffenfreie Welt ist ein erster wichtigerSchritt. Die Einigkeit in dieser Frage über die Par-teigrenzen hinweg ist hierfür ein vielversprechenderLichtblick. Wir Grüne wollen eine nachhaltige Sicher-heits- und Friedenspolitik, zu der eine konsequente Ab-rüstungspolitik untrennbar dazugehört. Und mehr grünesLicht vertreibt auch die hier noch bestehenden Schatten.Vielen Dank.
Das Wort erhält die Kollegin Elke Hoff für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Auch ich möchte an dieser Stellemeine große persönliche Freude darüber zum Ausdruckbringen, dass es den Frauen und Männern in den ver-schiedenen Fraktionen gelungen ist, einen gemeinsamenAntrag für den Deutschen Bundestag auf den Weg zubringen. Wir setzen damit ein starkes Signal, für das eskeinen besseren Zeitpunkt hätte geben können als dasVorfeld der Überprüfungskonferenz des nuklearenNichtverbreitungsvertrages und des Gipfels zur nuklea-ren Sicherheit.
Der Deutsche Bundestag setzt hierdurch ein deutlichesZeichen für eine Welt frei von Atomwaffen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3319
Elke Hoff
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Der gemeinsame Antrag ist deshalb auch ein starkesMandat für den Bundesaußenminister, der damit seinenbeherzten und zukunftsweisenden Kurs in der Abrüs-tungspolitik national wie international fortsetzen kann.Er gibt der Bundesregierung und dem Außenminister diewichtige Rückendeckung des deutschen Parlamentes.Deutschland steht in den kommenden Monaten vorwichtigen internationalen Verhandlungen. Wir Parla-mentarier wollen, dass insbesondere die Überprüfungs-konferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages einErfolg wird. Wir wollen auch, dass Deutschland hierbeieine Vorreiterrolle übernimmt. Dies wird durch unserengemeinsamen Antrag sehr deutlich.
Das Ziel einer Welt frei von Atomwaffen ist eine Her-kulesaufgabe. Kein Staat der internationalen Gemein-schaft kann es allein erreichen. Aber mit der Prager Redevon Präsident Barack Obama wurden Möglichkeiten er-öffnet, die wir nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen.Die verantwortungsvolle Politik deutscher Staatsmännerwie Hans-Dietrich Genscher oder Helmut Schmidt wäh-rend des Kalten Krieges hat maßgeblich dabei geholfen,dass wir heute die Chance auf eine atomwaffenfreie Weltnutzen können. Deutschland hat hierbei als Land, daswährend des Kalten Krieges ein potenzielles Feld für ei-nen Atomkrieg war, eine besondere Verantwortung. Des-halb nutzen wir diese Chance gemeinsam mit der Bundes-regierung. Mit dem vorliegenden interfraktionellenAntrag bekennt sich der Deutsche Bundestag zu diesergemeinsamen Verantwortung.Für unsere Abrüstungsziele müssen wir aber auchendlich die überkommenen militärischen Kalkulationendes Kalten Krieges über Bord werfen. Wir werden dieKonflikte des 21. Jahrhunderts nicht mehr mit den Stra-tegien des 20. Jahrhunderts bewältigen können.
Es ist deshalb richtig, dass die christlich-liberale Koali-tion in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat, sich imRahmen der Ausarbeitung des neuen strategischen Kon-zepts und in enger Zusammenarbeit und Absprache mitunseren NATO-Verbündeten für einen Abzug der letz-ten US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen.Das Ziel einer umfassenden Abrüstung wird nichtohne neue Abkommen zu erreichen sein. Insbesonderedie USA und Russland sind hier in der Pflicht, da sichder Großteil der noch bestehenden weltweiten Atomwaf-fenbestände im Besitz der amerikanischen und der russi-schen Streitkräfte befindet. Es ist deshalb eine große Er-leichterung, dass es den Regierungen in Washington undMoskau offensichtlich gelungen ist, den gordischenKnoten im Ringen um ein Nachfolgeabkommen zumSTART-Vertrag zu durchschlagen. Dies wäre auch einwichtiges Abrüstungssignal im Vorfeld der Überprü-fungskonferenz des NPT.Die START-Nachfolge darf aber nicht der letzteAbrüstungsschritt bleiben. Gerade im Bereich der sub-strategischen Atomwaffen müssen transparente und ve-rifizierbare Rüstungskontrollvereinbarungen gefundenwerden. Diese Kategorie von Atomwaffen stellt eine be-sondere Gefahr dar, in die Hände von Terroristen oderProliferateuren zu fallen. Ein solches Risiko muss durchneue Abrüstungsvereinbarungen zwischen den USA undRussland minimiert werden.Die Abrüstung der bestehenden Nukleararsenale istaber nur eine Seite der Medaille, soll das Ziel eineratomwaffenfreien Welt erreicht werden. Mehr noch, dieinternationale Gemeinschaft steht vor der schwierigenAufgabe, die Entstehung neuer Kernwaffenstaaten zuverhindern. Die Konflikte um das iranische und dasnordkoreanische Atomprogramm zeigen, wie schwierigdies ist. Sowohl ein nuklearbewaffneter Iran als auchein dauerhaft nuklearbewaffnetes Nordkorea würdeneine erhebliche Gefährdung der internationalen Sicher-heit darstellen. Deshalb muss es oberstes Ziel der Welt-gemeinschaft bleiben, diese Konflikte durch eine politi-sche Lösung nachhaltig beizulegen.
Das Jahr 2010 wird ein weichenstellendes Jahr für dasZiel einer Welt frei von Atomwaffen. Der Deutsche Bun-destag bekennt sich zu diesem Ziel. Mit dem heute ein-gebrachten Antrag haben wir als Parlament hierfür einwichtiges Zeichen gesetzt. Ganz herzlichen Dank dafüran alle. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft auf diesemKonsenswege eine vernünftige Abrüstungspolitik ma-chen können.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Rolf Mützenich für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Auch ich freue mich über den gemeinsamenAntrag der vier Fraktionen. Ich würde gern das Augen-merk auf die Kolleginnen und Kollegen sowie die Mitar-beiter des Auswärtigen Amtes richten; denn sie habeneinen wichtigen Bericht über Abrüstung und Rüs-tungskontrolle vorgelegt. Ich finde, sie verdienen nichtnur Aufmerksamkeit, sondern auch Respekt für die Ar-beit, die sie bei der Erstellung dieses Berichts geleistethaben. Ich freue mich, dass wir auf der Grundlage diesesBerichtes in den nächsten Wochen und Monaten weiterdiskutieren können.
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3320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Dr. Rolf Mützenich
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Herr Außenminister, Sie haben zu Recht gesagt, wirhätten mit dem heutigen Tag einen guten Zeitpunkt ge-wählt, weil wir uns offensichtlich in den nächsten Tageneinem Vertrag über die Begrenzung der strategischenAtomwaffen näherten. Das ist ein wichtiger Schritt.Aber nun kommt auf den amerikanischen und den russi-schen Präsidenten die große Aufgabe zu, im amerikani-schen Senat und in der Duma um Zustimmung zu wer-ben. Ich appelliere an den Deutschen Bundestag und dieBundesregierung, zum Beispiel bei Gesprächen mit Se-natoren in Washington für diesen Vertrag zu werben, umdeutlich zu machen, dass es im deutschen und im euro-päischen Interesse liegt, wenn die amerikanischen Kolle-ginnen und Kollegen diesen Vertrag schnellstmöglich ra-tifizieren. Wir vom Deutschen Bundestag werden dastun. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung dem folgte.
Ich habe in der bisherigen Debatte ein bisschen denBeitrag Europas zu Abrüstung und Rüstungskontrollevermisst. Ich finde, Europa kann eine Menge dazu lie-fern. Ich wünsche mir – wahrscheinlich stehen die Ver-handlungen noch nicht vor dem Abschluss –, dass die27 Mitglieder der Europäischen Union gemeinsam nachNew York fahren und dort eine gemeinsame Verabre-dung zur Überprüfungskonferenz einbringen. Das wäreein wichtiges Signal; denn unter diesen Staaten wärenzwei Kernwaffenstaaten als ständige Mitglieder des Si-cherheitsrates. Das wäre ein entscheidender Beitrag Eu-ropas, die Überprüfungskonferenz zum Erfolg zu führen.Die Bundesregierung täte gut daran, bis zum Schluss in-tensiv daran zu arbeiten.
Wir unterstützen Sie, Herr Bundesaußenminister,wenn Sie sagen, dass wir eine Universalisierung desNPT-Vertrages brauchen. In der Tat fehlen noch immerStaaten in diesem Vertrag. Wir müssen alles daransetzen,auf der NPT-Konferenz die letzten Widerstände zu bre-chen und diesen Vertrag zu einem Erfolg der internatio-nalen Politik zu machen. Ich glaube, gerade die neue Be-auftragte der Europäischen Union, Frau Ashton, solltedarüber nachdenken, ob sie der Abrüstung und Rüs-tungskontrolle mit einer eigenen Organisationseinheit imEuropäischen Auswärtigen Dienst eine stärkere Be-deutung geben sollte.
Der Lissabon-Vertrag enthält Hinweise, dass das eineoder andere im Bereich des Militärischen aufgegriffenworden ist. Mir behagte es aber viel mehr, wenn diesauch die Abrüstung und Rüstungskontrolle beträfe.Ich möchte auf Rüstungskontrolle und Abrüstung alsInstrumentarium der Politik aufmerksam machen. Die-ses Instrument ist kein Selbstzweck – darauf wurdeschon hingewiesen –, sondern dient der Kooperation unddem Dialog. Wir haben dieses Instrument richtigerweiseund klugerweise auch während des Kalten Krieges ein-gesetzt; denn es war sozusagen der erste Gesprächska-nal, der sich zwischen den Blöcken entwickelt hat. Dieeuropäischen Staaten, aber auch andere, die vom Endedes Kalten Krieges profitiert haben, sollten andere Re-gionen ermutigen, das Instrument der Abrüstung undRüstungskontrolle zu nutzen, um die notwendigen Dia-logstrukturen in den Regionen wirksam zu machen. Wasbeobachten wir? Um uns herum gibt es in der Welt diegrößte Aufrüstung. Der SIPRI-Bericht hat darauf hinge-wiesen. Sie haben eben an den Doppelcharakter erinnert.Aber der entscheidende Aspekt wird sein, Abrüstungund Rüstungskontrolle sozusagen zur politischen Leit-kultur in den Regionen weltweit zu machen. Ich finde,dazu hätten wir eine Menge beizutragen. Wir dürfennicht nur Empfehlungen geben.Wenn wir über die Universalisierung von Abrüstungs-verträgen sprechen, möchte ich daran erinnern, dassnoch nicht alle Staaten den wichtigen Vertrag über dasVerbot von Streubomben unterzeichnen haben. DieserVertrag ist ein ganz wichtiger Meilenstein, den wir inden letzten Jahren erreicht haben. Ich ermutige Sie, an-dere Staaten darauf hinzuweisen. Es darf nämlich keineAusnahmetatbestände im Bereich von Abrüstung undRüstungskontrolle geben.
Das gilt dann natürlich auch für andere Staaten, diesich zum Beispiel das Recht herausnehmen, im Bereichder Urananreicherung eigene Rechte für sich zu rekla-mieren. Auch das müssen wir hier ganz offen benennen.Dazu zählt zum Beispiel Brasilien.
Es entsteht nach meinem Dafürhalten eine große Gefahr,wenn es nicht gelingt, diese Sonderrechte zu beseitigen.Ich finde, dafür müsste auch die Bundesregierung zu-sammen mit den europäischen Partnern eine Menge tun.Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, überden wir zwar nicht so stark diskutiert haben, den ich aberfür höchstgefährlich halte. Die Volksrepublik China hatdokumentiert, dass sie in der Lage und auch bereit ist,Satelliten abzuschießen. Sie denkt im Zusammenhangmit dem Weltraum auch die militärische Komponente.Das ist eine große Gefahr und große Herausforderung.Ich weiß, dass andere Staaten – die USA und Russland –den Weltraum natürlich auch bereits für das Militär ent-deckt haben, aber dass allein dieses Dokument gezeigtworden ist, wonach auch die Volksrepublik China dazubereit ist, gibt eine Menge zu denken. Ich glaube, wirsollten diese Besorgnis in Gesprächen auch mit derVolksrepublik China immer wieder deutlich machen.
Ich unterstütze das, was viele meiner Vorrednerinnenund Vorredner gesagt haben. Die NATO muss wiederein Forum für den Dialog über Abrüstung und Rüstungs-kontrolle werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3321
Dr. Rolf Mützenich
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Das ist nicht die Erfindung dieser Bundesregierung, son-dern aller Bundesregierungen. Wir haben immer dafürplädiert – und ich bin damals froh darüber gewesen, dassFrank-Walter Steinmeier und der norwegische Außen-minister vorgeschlagen haben –, dieses Forum innerhalbder NATO zu entwickeln. Sie greifen das auf; ich findedas richtig. Ich glaube, innerhalb des Bündnisses gibt esdann auch eine Menge zu tun.Herr Bundesaußenminister, ja, wir unterstützen Siedarin, die taktischen Atomwaffen aus Deutschland undauch aus den anderen Ländern zu bringen. Das mussman gemeinsam tun. Das kann dieses Parlament mit die-sem wichtigen Antrag nicht allein, das kann man nur mitden Partnern insgesamt erreichen.Ich bitte Sie, dann gleichzeitig auch eine Gefahr mit-zubenennen, die entsteht, wenn sich andere Staaten inEuropa melden und sagen: Na ja, dann nehmen wir dieseWaffen einmal in unsere Länder auf. Auch das müssenwir diskutieren. Ich hätte mir schon gewünscht, dass Siezu den Plänen der US-Regierung, diese Waffen mögli-cherweise auch zu modernisieren, Stellung genommenhätten. Auch das ist nach meinem Dafürhalten eine He-rausforderung für Ihre ambitionierte Politik, die takti-schen Atomwaffen aus Deutschland und aus Europa zubringen; denn die Herkulesaufgabe wird doch eigentlicherst dann bewältigt sein, wenn es uns gelingt, auch Russ-land zu überzeugen, die taktischen Atomwaffen einerVerhandlungslösung zuzuführen. Das ist doch das großeProblem, und daran sollten wir gemeinsam arbeiten.
Damit komme ich zu einer weiteren Herausforderungin diesem Zusammenhang. Die Raketenabwehr lastetsozusagen – das haben wir bei den Gesprächen zwischenden USA und Russland doch gemerkt – wie ein Stein aufder Abrüstung und Rüstungskontrolle. Deswegen unter-stützen wir nicht nur das, was Sie gesagt haben, nämlichdie partnerschaftliche Öffnung hinsichtlich der Raketen-abwehr, sondern ich glaube, ein wichtiger Bestandteilmuss sein, die Raketenabwehr zu einem Teil von Abrüs-tung und Rüstungskontrolle zu machen.
Wir werden keinen ABM-Vertrag mehr erreichen,aber ich finde, wir werden immerhin einen Dialog überdie Raketenabwehr eröffnen müssen, weil das, was wirals defensiv betrachten, andere Staaten möglicherweiseals zusätzliche, begleitende Offensivoption ansehen.
Ich glaube, das ist die große Gefahr, der wir auch durchAbrüstung und Rüstungskontrolle begegnen müssen.Ich komme zum Schluss. Der Iran hat hier in der Dis-kussion immer wieder eine Rolle gespielt. Das, was dortim Iran im Hinblick auf eine möglicherweise militäri-sche Nutzung der Atomenergie geschieht, ist in der Tateine große Gefahr. Ich glaube, wir haben im DeutschenBundestag oft auch gemeinsam dafür appelliert, dass eseine politische Lösung geben muss. Frau Hoff, ich dankeIhnen dafür, dass Sie dies noch einmal ausdrücklich be-tont haben.Ich will nur noch einmal daran erinnern: Wir dürfennicht alles, was in den letzten Tagen auch aus dem Iranzu hören war, einfach beiseiteschieben. Ich finde schon,dass wir das, was Teheran auf den Tisch gelegt hat, nocheinmal ernsthaft prüfen sollten.
Vielleicht sollte eine Eins-zu-eins-Begleitung diesesKonzepts erfolgen. Es wäre fatal, wenn sich bei uns derEindruck vermitteln würde, dass es hinsichtlich einerVerhandlungslösung jetzt sozusagen reicht. Wir brau-chen die Verhandlungslösung in Zukunft. Wir braucheneine politische Lösung und nicht nur eine Drohkulisse.Deswegen glaube ich, Abrüstung und Rüstungskontrollekönnen uns bei der Lösung dieses Konfliktes helfen.Die Errichtung atomwaffenfreier Zonen ist ange-sprochen worden.Wenn wir darüber sprechen, wie man es schaffenkann, dass die Welt in Zukunft ohne Atomwaffen aus-kommt, dann müssen wir – das will ich deutlich machen –auch einen entsprechenden Appell an Israel richten. Daszu sagen, gehört nach meinem Dafürhalten zu einer ehr-lichen Debatte dazu.
Ich glaube, wir sollten den Mut aufbringen, auch dies zudiskutieren. Die US-Administration hat es getan. Europakönnte das auch tun.Diese Abrüstungsdebatte ist gut. Die deutsche Außen-politik darf sich allerdings nicht in Abrüstung und Rüs-tungskontrolle erschöpfen. Ich würde mir wünschen,wenn mehr kommt. Wir haben Ihnen Angebote gemacht.Wir werden auch in Zukunft weiter über den richtigenWeg streiten.Vielen Dank und alles Gute.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Abrüstung ist ein langer und ein beschwerlicher Weg. Esgibt auf diesem Weg meist nur kleine, oft kaum wahr-nehmbare Fortschritte und dazwischen immer wiederschmerzhafte Rückschritte. Trotzdem lohnt es sich, die-sen Weg zu gehen. Selbst wenn die Ziele aus heutigerSicht manchmal unerreichbar erscheinen, bedeutet schonjeder kleine Schritt in die richtige Richtung einen Zuge-winn an Sicherheit.Der vorliegende Bericht dokumentiert die vielen klei-nen Schritte und die großen Anstrengungen der Bundes-
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Dr. Reinhard Brandl
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regierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle imvergangenen Jahr 2009. Dafür möchte ich allen Regie-rungsorganisationen von ganzem Herzen danken. Ge-nauso danken möchte ich aber auch allen Nichtregie-rungsorganisationen, die sich im vergangenen Jahr fürFrieden und Sicherheit in dieser Welt eingesetzt haben.Abrüstung und Rüstungskontrolle ist ein Thema, dasuns auch hier im Deutschen Bundestag fraktionsüber-greifend am Herzen liegt. Ich freue mich, dass es uns ge-lungen ist, mit einem gemeinsamen Antrag ein deutli-ches Signal aus diesem Parlament heraus für eine Weltfrei von Atomwaffen zu senden. Und das ist ein wichti-ges Signal; denn gerade was die Frage der atomaren Ab-rüstung angeht, befinden wir uns momentan in einerPhase, in der die Weichen für die Zukunft gestellt wer-den.Präsident Obama – das ist schon mehrfach hier er-wähnt worden – hat in seiner wegweisenden Rede am5. April letzten Jahres in Prag ein Bekenntnis zum Fern-ziel einer atomwaffenfreien Welt abgegeben. Mit derUnterstützung der USA ist dieses Ziel ein ganzes Stücknäher gerückt. Jetzt gilt es, alles daranzusetzen, dass esauf dem Weg dorthin Fortschritte und keine Rückschrittemehr gibt.Ein klarer Rückschritt war das Scheitern der Überprü-fungskonferenz für den Nuklearen Nichtverbreitungs-vertrag im Jahr 2005. Bei der nun anstehenden Überprü-fungskonferenz im Mai brauchen wir endlich einenErfolg für den Atomwaffensperrvertrag.Im Moment laufen auch die bilateralen Verhandlun-gen zwischen den USA und Russland für ein START-I-Nachfolgeabkommen. Ich würde mir wünschen, dassvon diesen beiden Ländern, die gemeinsam über 90 Pro-zent der weltweit verfügbaren Kernwaffen besitzen, mitBlick auf die Konferenz im Mai baldmöglichst positiveSignale ausgehen.
Positive Signale aus den USA gab es auch, was denVertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversu-chen angeht. Die US-Regierung hat angekündigt, dessenRatifizierung im Senat voranzutreiben. Das würde denDruck auf diejenigen Länder, die diesen Vertrag nochnicht unterschrieben bzw. ratifiziert haben, weiter erhö-hen.Aber die besten Verträge nutzen nichts, wenn sie nichteingehalten und überprüft werden. Nehmen wir als Bei-spiel Syrien – das wurde heute noch nicht genannt –: Esgibt klare Hinweise darauf, dass die von Israel im Jahr2007 zerstörte Einrichtung ein noch im Bau befindlicherKernreaktor war. Syrien kooperiert immer noch nicht inso genügendem Maße mit der IAEO, dass diese Vor-würfe ausgeräumt werden konnten. Wenn die Vorwürfestimmen, dann wäre das ein klarer Verstoß gegen denAtomwaffensperrvertrag. Ich weiß nicht, was beunruhi-gender ist: die Existenz eines geheimen syrischen Nukle-arprogramms an sich oder dass es über Jahre hinweg un-entdeckt geblieben ist.Den Risiken der Proliferation steht das legitime Inte-resse vieler Länder gegenüber, die Kernenergie zurEnergieversorgung zu nutzen. Ungeachtet der Diskus-sion in Deutschland ist die Kernenergie weltweit, abergerade im Nahen Osten und in den dort angrenzendenRegionen, auf dem Vormarsch.
Waffenfähiges Material kann entweder durch dieHochanreicherung von Uran oder in Wiederaufberei-tungsanlagen für Plutonium hergestellt werden. Es mussdeswegen gelingen, den Betrieb solcher Anlagen vondem Betrieb von Kernkraftwerken zu trennen. AuchDeutschland hat dazu einen Vorschlag eingebracht. Wirmüssen jetzt international um die Akzeptanz der Multila-teralisierung des Nuklearbrennstoffkreislaufs werben.Die nukleare Abrüstung ist zwar die wichtigste, aberbei weitem nicht die einzige Aufgabe, der wir uns beiAbrüstung und Rüstungskontrolle stellen. Der Berichtder Bundesregierung listet auch zahlreiche Anstrengun-gen im Bereich der konventionellen Abrüstung auf. Ichmöchte in diesem Bereich vor allem auf die Erfolge beider Ächtung von Streumunition hinweisen, die auf-grund von zahlreichen Blindgängern über Jahrzehntehinweg eine Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellt.Ende 2008 haben wir dazu die sogenannte Oslo-Konven-tion als einer der ersten mit unterzeichnet und im Juli2009 als elfter Staat auch im Parlament ratifiziert. ImJuni 2009 hat die Bundesregierung in Berlin eine Konfe-renz zur Zerstörung von Streumunition ausgerichtet.Aufgrund der überwältigenden Teilnahme hat sie demProzess politische Dynamik verliehen und ganz prak-tisch Wege zur technisch komplizierten Zerstörung die-ser Munition aufgezeigt.Das war wieder ein kleiner Schritt. Wir brauchen inZukunft eine Vielzahl solcher Schritte auf dem Weg zumehr Frieden und Sicherheit auf dieser unserer Welt.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege van Aken für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Abrüstung muss doch zu Hause anfangen. Nehmenwir die Waffenexporte. Ich finde es grauenhaft, dasskein anderes Land in Europa so viel Waffen exportiertwie Deutschland. Es ist kein totes Metall, das da ver-kauft wird, sondern diese Waffen töten, jeden Tag. Inpraktisch jedem Krieg und in jedem Bürgerkrieg auf derWelt werden deutsche Maschinengewehre eingesetzt,manchmal auf beiden Seiten. Es ist verlogen, hier überAbrüstung zu reden und gleichzeitig für viele MilliardenEuro andere Länder aufzurüsten.
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Jan van Aken
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Wenn jemand sagt, an den Waffenexporten hingenviele Arbeitsplätze, dann kann ich nur sagen: Wir wollenArbeit schaffen ohne Waffen.
Wir haben noch eine Vision. Wir haben die Vision einerWelt, die frei ist von Waffen. Wir haben die Vision einerWelt, die frei ist von Atomwaffen und Kriegen.
Helmut Schmidt soll einmal gesagt haben: Wer Visionenhat, soll zum Arzt gehen. – Ich weiß nicht, ob er daswirklich ernst gemeint hat; falsch ist es auf jeden Fall.Ich sage: Wenn jemand Visionen hat, dann soll er nichtzum Arzt gehen, sondern auf die Straße,
jetzt zum Ostermarsch und jeden Tag, immer wieder, biswir endlich eine Welt ohne Atomwaffen und frei vonKriegen haben.
Damit komme ich zu Ihrem Antrag zur atomaren Ab-rüstung. Erst einmal muss ich sagen: Ich finde ihn wirk-lich bemerkenswert.
Ich freue mich ganz aufrichtig, dass auch die CDU/CSUjetzt die Forderung nach atomwaffenfreien Zonen unter-stützt. Besonders freue ich mich, dass nun alle fünf Frak-tionen im Bundestag dafür eintreten, dass endlich dieletzten US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutsch-land abgezogen werden.
Aber da Sie selbst regieren, frage ich Sie: Wann?Wenn Sie es wirklich wollen, kann das doch innerhalbkürzester Zeit passieren. Nennen Sie ein konkretes Da-tum: Abzug aller amerikanischen Atombomben noch indiesem Jahr. Punkt. Denn Abrüstung kann doch nurfunktionieren, wenn sie ganz konkret und ganz verbind-lich ist.Einiges in dem Antrag finde ich gut, sogar sehr gut;anderes finde ich aber eher bedenklich. Sie wollen im-mer noch nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffenverzichten. Wie kann das zusammengehen, wenn Sie ei-nerseits eine atomwaffenfreie Welt fordern und anderer-seits immer noch daran festhalten, anderen Ländern mitdem Ersteinsatz von Atomwaffen zu drohen? Das passtnicht zusammen.In einem Punkt hat sich ein richtig kapitaler Fehler inden Antrag eingeschlichen. Da kann ich nur sagen: Hät-ten Sie mal mit uns geredet! Wir haben vor fünf Mona-ten den ersten Antrag zur atomaren Abrüstung einge-bracht. Dann haben Sie von den anderen vier Fraktionensich zusammengesetzt, ohne mit uns zu reden. Ich findedas ziemlich kleinkariert, aber das ist Ihr gutes Recht.Wenn ich jetzt diesen peinlichen Fehler in dem Antragsehe, muss ich sagen: Ein bisschen mehr Expertise hätteIhnen gutgetan.
Wenn ich den Antrag genau lese, komme ich zu demSchluss, dass Sie darin den engsten Verbündeten derBundesrepublik – England, Frankreich und den USA –mit Sanktionen drohen. Dazu muss man eines wissen– Herr Westerwelle hat es vorhin erklärt –: Der Atom-waffensperrvertrag kennt zwei Ländergruppen. Die ei-nen haben Atomwaffen; die anderen haben keine Atom-waffen. Die einen haben sich verpflichtet, abzurüsten;die anderen haben sich verpflichtet, überhaupt keineAtomwaffen zu erwerben.Es gibt fünf Länder, von denen wir ganz sicher wis-sen, dass sie ihre Verpflichtungen nach dem Atomwaf-fensperrvertrag nicht erfüllt haben. Das sind die fünf of-fiziellen Atomwaffenstaaten China, Russland, England,Frankreich und die USA. Seit Jahren tun sie nichts, aberauch gar nichts für die atomare Abrüstung. Alle Exper-ten in der Welt sind sich einig, dass das eine gravierendeVerletzung des Atomwaffensperrvertrages ist.Jetzt fordern Sie in Ihrem Antrag unter der Nr. 10Sanktionen gegen alle Länder, die den Atomwaffen-sperrvertrag verletzt haben.
Ich weiß nicht, wie das in London, Paris und Washingtonaufgenommen wird.
Sie werden natürlich sagen: Die sind gar nicht ge-meint. Wir meinen nur die Länder, die noch gar keineAtomwaffen haben, die erst welche erwerben wollen. –Dazu muss ich Ihnen sagen: Diesen Unterschied kenntdas Völkerrecht nicht. Vor dem Völkerrecht sind alleVerpflichtungen gleich. Danach haben die Atomwaffen-staaten nun einmal die Verpflichtung, abzurüsten, unddie haben sie gebrochen.Das ist auch der Grund dafür, dass wir diesem Antrag– ich muss sagen: leider – nicht zustimmen können.
Ich hätte es gern gesehen, dass wir als gesamter Bundes-tag diesem Antrag zustimmen. Aber mit diesem Punktzu den Sanktionen geht das nicht.Sie meinen mit den Sanktionen natürlich den Iran.Ich sage Ihnen: Da gehen Sie einen ganz gefährlichenWeg. Wer jetzt immer mehr Sanktionen gegen den Iranfordert, der kommt in eine Eskalation, die er nicht mehrstoppen kann. Das Ganze erinnert mich fatal an das Jahr2002. Damals wurden die Drohungen gegen den Irakimmer mehr verschärft, und am Ende hatten wir einenKrieg, den keiner hier mehr stoppen konnte. Ich sage Ih-
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Jan van Aken
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nen als jemand, der jahrelang auf dem Gebiet der Abrüs-tung gearbeitet hat, auch bei den Vereinten Nationen:Hören Sie auf, mit Sanktionen zu drohen, und kehren Siean den Verhandlungstisch zurück!
Eine atomwaffenfreie Welt werden Sie nie, aber auch niemit Sanktionen und Drohungen durchsetzen, sondernnur mit Verhandlungen.Ich bedanke mich.
Das Wort erhält der Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Herr van Aken, es trifft sich gut, dass wirdirekt nacheinander reden. Ich möchte Ihnen erst einmalentschieden widersprechen, was Ihre Einschätzung zumVerhalten gegenüber dem Iran angeht. Ich bin wirklichder festen Überzeugung, dass jetzt eine klare Spracheund klare Handlungen gegenüber dem Iran notwendigsind.
Es ist sehr viel Zeit verstrichen, die der Iran genutzthat, um sein Nuklearprogramm voranzutreiben undgleichzeitig auch noch weitere Trägersysteme zu entwi-ckeln. Vor dem Hintergrund sind die Weltgemeinschaftund natürlich auch der Deutsche Bundestag gefordert,klarzumachen, dass es uns nicht möglich ist, zu akzeptie-ren – so hat es der Minister schon gesagt –, dass der IranNuklearwaffen besitzt.
Deshalb stemmen wir uns auch dagegen.Wenn Sie denken, dass es einen einfacheren Weg gibt,der nur Dialog beinhaltet, machen Sie es sich zu einfach.Wir müssen die Option auf Sanktionen selbstverständ-lich realistisch vorantreiben, weil wir uns sonst vonvornherein um alle Handlungsoptionen bringen. Dage-gen würde ich mich entschieden wehren. Reden alleinwird den Iran nicht überzeugen. Das haben wir schon inden vergangenen Jahren gesehen. Israel macht sich zuRecht sehr große Sorgen um seine Sicherheit. Das kön-nen wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Ge-schichte auf keinen Fall akzeptieren.
Ich bin froh darüber, dass wir in diesem Haus in ei-nem breiten Konsens über das Thema Abrüstung disku-tiert haben. Herr van Aken, geben Sie sich einen Ruckund stimmen Sie diesem wirklich vernünftigen Antragzu, der auf einem breiten Konsens fußt.
– Ich rede ja gerade mit Ihnen. –
Wir haben einen breiten Konsens hergestellt.Sie haben einen Punkt herausgegriffen bzw. konstru-iert, damit Sie wenigstens einen Grund, dagegenzustim-men, für Ihre Ablehnung vorweisen können. Ich fordereSie auf: Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie die-sem Zeichen für Abrüstung zu! Gerade heute, vor denanstehenden Konferenzen, ist es wichtig, dass wir deut-lich machen, dass auch der Deutsche Bundestag ein kla-res Zeichen für Abrüstung in der Welt setzt. Stimmen Siedeshalb bitte zu.
Wir dürfen natürlich nicht außer Acht lassen, dass estrotz allen Bemühens – an dieser Stelle komme ich aufIran und Nordkorea zu sprechen – unterschiedliche Ent-wicklungen gibt:In der westlichen Welt wird intensiv darüber disku-tiert, wie es mit den Nuklearwaffen weitergehen soll; dasist auch richtig so. In Amerika gibt es die Global-Zero-Initiative, die auch von deutscher Seite begleitet wird,beispielsweise durch die Initiativen des Bundesaußen-ministers. Auch der frühere BundesaußenministerGenscher hat dies immer wieder angesprochen. Das allesist sehr wichtig und zeigt eine Vision von einer nuklear-waffenfreien Welt, die sicherlich sehr wünschenswertist.Daneben stellen wir fest, dass Länder wie Iran undNordkorea davon nichts wissen wollen, sondern weiter-hin im Verborgenen daran arbeiten, ein Nuklearpro-gramm voranzutreiben. Dass dies eines Tages auch einerealistische Bedrohung für uns werden könnte, zeigenErkenntnisse darüber, dass die Trägertechnologien, dieim Iran erarbeitet werden, in fünf bis zehn Jahren eineReichweite von etwa 3 000 Kilometern haben könnten.Wenn man sich überlegt, dass München nur rund2 700 Kilometer vom Iran entfernt ist, dann wird klar:Dieses Programm stellt unter strategischen Gesichts-punkten selbstverständlich auch für uns eine Bedrohungdar. Der Iran entwickelt dieses Programm nicht, umDeutschland heute einen Nuklearschlag anzudrohen,sondern um strategisch in die Vorhand zu kommen unddamit die westliche Welt als Schutzmacht Israels auszu-hebeln.Vor diesem Hintergrund muss man trotz allen Wohl-wollens in unserer heutigen Debatte berücksichtigen,dass sich andere Staaten ganz anders verhalten. Deshalbgehört zu dieser Diskussion trotz aller Visionen eine ge-hörige Portion Realismus. Daraus muss man in dennächsten Wochen konkrete Schlussfolgerungen ziehen.Ich werbe erneut dafür, dass der UN-Sicherheitsrat – ambesten gemeinsam mit China und Russland; denn nurdann wird man effektiv und effizient sein – den Iran stär-ker unter Druck setzt. Ich glaube, dass es vor allem danngelingen kann, unsere Partner in China und in Russlandfür dieses Projekt zu gewinnen, wenn wir an andererStelle Ernst machen und sie in größerem Maße – Herr
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Philipp Mißfelder
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Kollege Mützenich hat es gerade gesagt – in die Debatteum die Nuklearwaffen einbeziehen.Erfolgreich werden wir nur mit der NATO, also zu-sammen mit unseren Bündnispartnern, sein. Außerdemmüssen wir gemeinsam mit Russland einen vernünftigenWeg finden, über die Nuklearwaffen zu diskutieren. Ichbin der festen Überzeugung, dass das der richtige Wegist. Welches das richtige Diskussionsforum ist, das lasseich offen.Damit verknüpft ist die Frage, wie man in den nächs-ten Wochen, Monaten und Jahren verantwortungsbe-wusst Außenpolitik gestalten kann. Ich halte die imRaume stehende Vision für richtig. Ich halte auch denangestoßenen Prozess für richtig. Er muss gemeinsammit der NATO, mit unseren Verbündeten und darüber hi-naus mit Russland fortgeführt werden, um Erfolge erzie-len und eine emotionale Bindung an dieses Projekt errei-chen zu können.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält Herr Kollege van
Aken das Wort.
Herr Mißfelder, Sie haben gerade gesagt, wir hätten
nach einem Haar in der Suppe gesucht. Das lasse ich
nicht auf mir sitzen. Seit Jahren arbeite ich im Bereich
der Abrüstung – an der Universität, in NGOs, bei den
Vereinten Nationen. Sie können versichert sein, dass uns
die Abrüstung über alles geht. Ich habe lange nach ei-
nem Weg gesucht, wie wir diesem Antrag zustimmen
können. Eines ist klar: In Washington und überall auf der
Welt wird dieser Antrag völlig anders wahrgenommen,
wenn der gesamte Bundestag zugestimmt hat. Diese
Stärke hätte ich diesem Antrag gerne verliehen.
Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wir sollten
uns einen Ruck geben, dann kann ich nur sagen: Sie von
der CDU/CSU-Fraktion waren diejenigen, die darauf be-
standen haben, dass die Linke bei der Ausarbeitung des
Antrags nicht dabei ist.
Jetzt fällt Ihnen das auf die Füße. Sie haben diesen An-
trag geschwächt.
Lassen Sie uns beim nächsten Mal zu fünft zusam-
mensetzen. Gemeinsam bringen wir etwas zustande. Das
wird ein Signal an die Welt sein, das die Abrüstung
wirklich voranbringt. Das, was Sie jetzt machen, ist par-
teipolitisches Schmierentheater. Dafür bin ich nicht zu
haben. Mir geht es um die Abrüstung.
Zu einer kurzen Replik erhält der Kollege Mißfelder
jetzt Gelegenheit.
Ich möchte mich kurzfassen, Herr Präsident. – Herr
van Aken, wir haben hier die Gelegenheit, das öffent-
lich, transparent, sogar im Fernsehen und in Anwesen-
heit vieler Zuschauer auf den Rängen zu diskutieren.
Das heißt, wir gehen hier vernünftig miteinander um.
Wozu Sie uns jedoch nicht zwingen können, ist, mit der
SED-Nachfolgepartei gemeinsame Initiativen einzubrin-
gen.
Das wollen wir einfach nicht. Das ist der Grund, warum
wir mit Ihnen bei diesen wichtigen Themen nicht zusam-
menarbeiten wollen. Ich kann hier offen bekennen: Mit
Ihnen nicht!
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Vielleicht wäre es im Zusammenhang mitder Debatte über Abrüstung sinnvoll, wenn der eine oderandere in diesem Haus auch sprachlich ein wenig abrüs-ten würde; denn all diese Themen eignen sich gar nichtzu überwiegend emotionaler und polemischer Auseinan-dersetzung. Dafür sind sie zu ernst, und dafür sind sie invieler Hinsicht auch viel zu kompliziert.Ich möchte mich jetzt mit dem Antrag der Grünenauseinandersetzen. Mir ist der Widerspruch in der Rededer Kollegin vom Bündnis 90/Die Grünen aufgefallen,die, was Rüstungsexporte angeht, in alte Muster zurück-gefallen ist, während sie in der Abrüstungsdebatte sehrsachlich und zukunftsorientiert argumentiert hat. DieTatsache, dass wir als Bundestag die offiziellen Zahlenbekommen, lange nachdem SIPRI sie schon veröffent-licht hat, GKKE uns die Stellungnahme zugeschickt hatund Zahlen aus allen möglichen Himmelsrichtungen ge-liefert worden sind, ist unbefriedigend – das wissen auchSie selbst, Herr Außenminister –; aber das hat mit demVerfahren zu tun, mit dem gearbeitet wird. Ich bin sicher,dass die Zahlen über Exporte Deutschlands, die SIPRI indiesem Jahr veröffentlicht hat, vermutlich wieder nichtstimmen und dass sich die Schlagzeilen, auf die so heftigreagiert worden ist, relativieren werden. Es wird sichweder die Verdoppelung der Zahlen herausstellen – da-von gehe ich aus –, noch werden wir auf der Rangstufesein, die man uns jetzt bescheinigt.Was geschieht tatsächlich? Tatsächlich gibt es einegroße Kontinuität in der deutschen Rüstungsexportpoli-tik, die sich an den sehr restriktiven Regelungen desJahres 2002 orientiert. Vieles von dem, was in dennächsten Berichten stehen wird, ist im Übrigen auf Ver-
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Erich G. Fritz
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träge zurückzuführen, die geschlossen worden sind, alsdiese Regierung noch längst nicht im Amt war.
Es sind sogar Verträge dabei, die schon die vorherge-hende Regierung geerbt hat.Es empfiehlt sich, das Ganze sehr nüchtern zu be-trachten. Der EU-Standpunkt, der zu einer gemeinsamenRüstungsexportpolitik in Europa führt, hat einen weite-ren Fortschritt gebracht. Er hat die europäischen Exportezwar noch nicht deutlich reduziert, aber wir haben eineVergleichbarkeit, eine größere Transparenz. Der EU-Standpunkt trägt außerdem dazu bei, dass sich die Rüs-tungswirtschaft in Europa stärker auf gemeinsame Zielefokussiert. Das sieht man an der deutschen Rüstungsex-portpolitik: Rüstungsgüter gehen in der Regel an Mit-gliedstaaten der EU und der NATO. Selbst SIPRI undandere kritische Beobachter bestätigen, dass Deutsch-land beim Export in Staaten, die nicht Mitglieder der EUoder der NATO sind, äußerst restriktiv ist. Auch das soll-ten wir einmal sagen. Wir müssen doch nicht so tun, alswären wir da überhaupt nicht vorangekommen. Über dieJahre hat sich die Transparenz immer weiter erhöht.Die Verabschiedung des Antrags, der jetzt einge-bracht wurde, würde dazu führen, dass der Jahresabrüs-tungsbericht – das erkennt, wer genau hinschaut undweiß, wie ein solcher Bericht zustande kommt – in Zu-kunft später vorgelegt wird. Denn es gibt einen bestimm-ten Vorlauf für die Vorlage des Rüstungsexportberichts,den man nicht einfach auflösen kann. Da gibt es einmaldie Genehmigungen; sie kann man ziemlich früh erfas-sen, weil das BAFA sie laufend ermittelt. Dann gibt esdie tatsächlichen Exporte. Die kann man erst im Nach-hinein erfassen. Dazu benötigt man die abgeschlossenenDateien des Statistischen Bundesamtes. Sie auszuwer-ten, dauert ein bisschen länger; sie können eigentlichnicht vor Mitte des Jahres vorliegen. Ein weiterer Aspektim Zusammenhang mit dem Rüstungsexportbericht istdie Pflicht zur Meldung an das UN-Waffenregister. Auchdamit ist ein zeitliches Auseinanderfallen verbunden.Natürlich geht es nicht, dass wir zwei, drei Jahre hin-terherhinken. Die Bundesregierung hat zugesagt, dassder Bericht 2008, dessen Vorlage sich durch den Regie-rungswechsel verzögert hat – so etwas ist schon frühervorgekommen –, jetzt an das Kabinett geht und uns an-schließend zügig vorgelegt wird. Nach der Sommer-pause, im dritten, spätestens im vierten Quartal, werdenwir auch den Bericht von 2009 vorgelegt bekommen. Ichglaube, das ist richtig. Spätestens im Herbst des Folge-jahres – das ist, wenn man alle Abläufe betrachtet, mach-bar – muss der Rüstungsexportbericht vorliegen.Noch etwas kommt hinzu: Wir alle sollten bei denParlamentsdebatten darauf achten, dass nicht alles undjedes auf die Tagesordnung kommt und wichtige Punktenicht im Stapel der Dinge, die nicht abgearbeitet werdenkönnen, weil die Zeit nicht ausreicht, untergehen.
Ich wünsche mir auch, dass alle, die hier auftretenund sich öffentlich zur Rüstungsexportpraxis melden,dann, wenn der Bericht in den zuständigen Ausschüssenbehandelt wird, über ihn debattieren, konkret über seineEinzelheiten sprechen und wirklich einen Dialog mit derRegierung führen. In den vergangenen Jahren haben wirimmer wieder Folgendes erlebt: Im Ausschuss wurde derBericht durchgewinkt, und im Plenum fanden große De-batten statt. Das ist vor dem Hintergrund der Artikula-tionsfunktion des Parlaments zwar zu rechtfertigen; abermit sachlicher Arbeit, damit, wie wir mit dieser Frageumgehen und wie wir zu einer weiteren restriktiven Pra-xis kommen, die mit unserer und der europäischen Au-ßenpolitik übereinstimmt, hat dies nichts zu tun. Das istzu wenig.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen für dieCDU/CSU-Fraktion zu: Wir werden einen solchen An-trag gemeinsam mit Ihnen einbringen, wenn die Bundes-regierung nicht einhält, was sie für dieses Jahr verspro-chen hat. Aber ich bin sicher, dass sie ihre Versprecheneinhält.Dieses Thema eignet sich nicht für Aufregungen. Inder Koalitionsvereinbarung steht, dass Abrüstung undRüstungskontrolle wichtig sind und dass dies ein zentra-ler Baustein einer globalen Sicherheitsarchitektur ist.Wir können aufgrund der jetzt in Bewegung gerateneninternationalen Abrüstungsdiskussionen davon ausge-hen, –
Herr Kollege!
– dass es demnächst wieder Abrüstungsberichte gibt,
die keine Regierungsprosa enthalten nach dem Motto:
„Wir haben etwas aus den laufenden Prozessen, die wir
beobachten, zu berichten“, sondern substanzielle Fort-
schritte vorweisen, über die zu debattieren wir mit gro-
ßer Freude hier zusammenkommen werden.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufder Drucksache 17/445 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/DieGrünen auf der Drucksache 17/1159 mit dem Titel„Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt freivon Atomwaffen setzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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dieser Antrag mit den Stimmen der einbringenden Frak-tionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mitbreiter Mehrheit angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23 d. Hierwird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlage auf derDrucksache 17/1167 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse zu überweisen. Dabei ist allerdingsdie Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSUund der FDP wünschen die Federführung beim Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie, die FraktionBündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beimAuswärtigen Ausschuss.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen, dem Auswärtigen Aus-schuss die Federführung zu übertragen, abstimmen. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Gegen-stimmen sind erkennbar die Mehrheit. Damit ist dieserÜberweisungsvorschlag abgelehnt.Ich lasse nun über den anderen Überweisungsvor-schlag, die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaftund Technologie anzusiedeln, abstimmen. Wer stimmtdiesem Überweisungsvorschlag zu? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Dieses Mal waren die Stim-men für den Überweisungsvorschlag in der Mehrheit,und damit ist die Federführung beim Ausschuss fürWirtschaft und Technologie beschlossen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 24:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland,Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine Vorratsdatenspeicherungen über denUmweg Europa– Drucksache 17/1168 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. –Ich höre keinen Widerspruch. Wir können so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Konstantin von Notz für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg einZitat:Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nichttotal erfasst und registriert werden darf, gehört zurverfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepu-blik Deutschland, für deren Wahrung sich die Bun-desrepublik in europäischen und internationalenZusammenhängen einsetzen muss.So das Bundesverfassungsgericht am 2. März dieses Jah-res. Das sind wahre Worte.
Das Gericht hat mit seinem Urteil die sogenannte Vor-ratsdatenspeicherung für nichtig erklärt und damit derVerfassungsbeschwerde einer breiten Bürgerrechtsbewe-gung, die über 34 000 Menschen umfasst – viele darun-ter aus meiner Fraktion –, stattgegeben.Als Konsequenz aus diesem Urteil fordern meineFraktion und ich zwei Dinge.Erstens. Die Bundesregierung muss sich auf der euro-päischen Ebene für eine vollständige Aufhebung der be-treffenden Richtlinie einsetzen.Zweitens. Darüber hinaus muss sie allen weiterenVorhaben, die eine Vorratsdatenspeicherung vorsehen,entschieden entgegentreten.
Schon in der mündlichen Verhandlung am 15. De-zember letzten Jahres, zu der sich in Karlsruhe – daskann ich Ihnen an dieser Stelle erneut nicht ersparen –kein einziger Befürworter des Gesetzes eingefundenhatte, wurde deutlich: Die anlasslose, massenhafte Spei-cherung individueller Kommunikationsdaten ist ein tie-fer Eingriff in die Privatsphäre aller Bürgerinnen undBürger. Die Speicherung – so das Gericht – sei geeignet,„ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins her-vorzurufen“ und könne „eine unbefangene Wahrneh-mung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchti-gen“. Wenn sich selbst Sie, liebe Kolleginnen undKollegen der Union, gegen eine flächendeckende Kame-raüberwachung des öffentlichen Raumes aussprechenund wie Frau Aigner lauthals gegen Google Street Viewzu Felde ziehen, dann können Sie doch nicht allen Erns-tes für eine flächendeckende und anlasslose Datenerfas-sung im Internet sein. Das ist ein echter Wertungswider-spruch.
Die jüngsten Erhebungen der Stiftung Warentest ma-chen erneut deutlich: Wir haben nicht zu viel Daten-schutz, sondern wir haben viel zu wenig Datenschutz.Eine Regierung, die sich über die Datenskandale beiLidl, Google und der Deutschen Bahn echauffiert, aberselbst Vorratsdatenspeicherung propagiert, ist unglaub-würdig und handelt datenschutzrechtlich schizophren.
Das gilt leider auch für den Innenminister. Seine Bemü-hungen, nach den Ministern Schily und Schäuble eherbürgerrechtlich wahrgenommen zu werden, sind un-glaubwürdig. Den Datenbrief im Munde führen, aber einGesetz zur Vorratsdatenspeicherung in der Tasche tra-gen, das passt einfach nicht zusammen.
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3328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Dr. Konstantin von Notz
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Noch einmal: Das Internet war nie ein rechtsfreierRaum, und es ist auch durch das jüngste Urteil nichtdazu geworden. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik,PKS, aus dem Jahr 2007 – also vor der Vorratsdatenspei-cherung erstellt – weist für alle in Deutschland erfasstenStraftaten eine Aufklärungsquote von 55 Prozent aus.Bei Straftaten mit dem Tatmittel Internet kommt es – wiegesagt: ohne Vorratsdatenspeicherung – zu der spektaku-lär guten Aufklärungsrate von 83 Prozent. So viel zu derMär vom rechtsfreien Raum Internet.Nur als Randbemerkung: Die PKS weist für 2008,also für das erste Jahr mit Vorratsdatenspeicherung, beiInternetstraftaten eine Aufklärungsrate von 79,8 Prozentaus. Das ist immer noch gut, aber schlechter als in demJahr vor Einführung der Vorratsdatenspeicherung.
Diese Zahlen können nicht verwundern, Herr Binninger;denn aus einer Studie des Max-Planck-Instituts ergibtsich,
dass die Vorratsdatenspeicherung bestenfalls bei 0,01 Pro-zent aller Straftaten von Nutzen sein kann. Auf gutDeutsch heißt das, dass die Vorratsdatenspeicherung fürmindestens 99,9 Prozent aller Straftaten absolut nutzlosist.
Dafür wollen Sie, meine Damen und Herren von derUnion, die verfassungsrechtliche Identität der Bundesre-publik Deutschland – so sagt das Bundesverfassungsge-richt – aufbohren. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernstsein.
Das Internet ist ein grundrechtlich geschützter Frei-heitsraum. Wir alle hier sind deswegen primär in derPflicht, diese grundrechtlichen Freiheiten zu schützen,unter anderem Art. 10 des Grundgesetzes. Wir fordernSie deswegen auf: Schluss mit der Eskalationsrhetorik!
Ziehen Sie die bürgerrechtlichen Konsequenzen aus demUrteil und lassen Sie die verfassungsrechtliche Identitätunseres Landes unberührt! Beerdigen Sie Ihre Pläne zurVorratsdatenspeicherung auf nationaler und auf europäi-scher Ebene!Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Michael Grosse-
Brömer für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einenAntrag der Fraktion der Grünen zur Vorratsdatenspei-cherung. Dort steht, man möge ihr entschlossen entge-gentreten.
Herr von Notz, ich glaube, Sie sind sogar Jurist.
– Ich komme jetzt dazu. Ich erkläre das. Mich hat dasverwundert, weil Sie immer nur Zitate gebracht habenund dann eklatant falsche Schlüsse daraus gezogen ha-ben.
Was die von Ihnen angesprochene Nichtigkeit betrifft– Sie tun immer so, als sei das alles eine eindeutige Ge-schichte gewesen –:
Das Bundesverfassungsgericht hat mit vier zu vier ent-schieden. Nun zu sagen, die Richter hätten übereinstim-mend die Bedenken der Grünen geteilt, ist völlig abwe-gig. Da gab es eine Entscheidung, die überhaupt nichteindeutig war, sondern offensichtlich sehr geteilt. Damitbeginnt es. Ich kann nur raten: Hören Sie einmal auf denvon mir sehr geschätzten Kollegen Wieland. Er hat beider letzten Debatte zu dem Thema gesagt: Bevor manüber das Urteil spricht, sollte man es sehr genau lesen.
Ich kann Ihnen sagen: Hören Sie auf die Ratschläge Ihrerälteren Kollegen.
Natürlich haben wir von der CDU/CSU gehofft, dassSie auch einmal bei Themen wie AntidiskriminierungSensibilität, was Umwege über Europa betrifft, an denTag legen. Wir haben hier eines festzustellen: In Europagibt es eine Mehrheit für die Vorratsdatenspeicherung;das Europäische Parlament hat nämlich so entschieden.
Auch da gibt es offensichtlich keine Mehrheit für dievon Ihnen vertretene Auffassung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3329
Michael Grosse-Brömer
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Ich will noch eines sagen: Falsch ist auch die von Ih-nen gezogene Schlussfolgerung, das Gericht habe dieVorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Die Vorrats-datenspeicherung ist – so steht es ausdrücklich in demUrteil – sogar per se geeignet und auch notwendig zurBekämpfung schwerster Verbrechen. Das steht in demUrteil.
Angesetzt wird da, wo es um die Umsetzung, wo es umdie Datensicherung und um die Datenverarbeitung geht.Das nehmen wir mit Respekt zur Kenntnis. Aber hörenSie auf, falsche Wahrheiten zu verbreiten.
Die Vorratsdatenspeicherung wurde vom Gericht nichtfür verfassungswidrig erklärt.
Es ist festzustellen, dass auch der Schutz der Bürgerein Wert ist. Ich glaube, wir alle sind der Auffassung – esist sogar verfassungsrechtlich abzuleiten –, dass es wich-tig ist, den Schutz der Bürger vor schweren Straftaten si-cherzustellen.
Wenn das Bundesverfassungsgericht in dem von Ihnenmehrfach zitierten Urteil feststellt, dass die Vorratsdaten-speicherung ein wichtiges Instrument ist, um schwersteStraftaten, um Terrorismus und organisierte Kriminalitätzu bekämpfen, dann ist das für uns als CDU/CSU einganz wichtiger Aspekt. Wir sagen: Daran muss man fest-halten. Die Bürger in diesem Land haben einen An-spruch auf effektive Strafverfolgung.
Es geht noch weiter. Es gibt Spezialisten, teilweise inIhrer Fraktion, in größerem Maße in meiner Fraktion.
– Ja.
– Ja, es gibt ja nichts Schöneres, als Ihnen eine Freudezu machen, und das an diesem Vormittag.
– Ich werde manches nachholen.Die Personen, die sich beruflich mit effizienter Straf-verfolgung beschäftigen, zum Beispiel der Präsident desBundeskriminalamtes, die Mitglieder des Bundes Deut-scher Kriminalbeamter – wir müssen ihnen dankbar sein,dass sie das tun –, sagen: Bitte begeht nicht den Fehlerund verzichtet auf die Vorratsdatenspeicherung; denn wirbrauchen sie. Herr Ziercke, der Präsident des BKA, hatvor dem Bundesverfassungsgericht ein deutliches Bei-spiel genannt: Ein Teil der 145 Mitglieder eines Internet-boards, wo kinderpornografisches Bild- und Filmmaterialausgetauscht wurde – das ist schwerste Kriminalität –,konnten identifiziert werden. Über die erhobenen Ver-kehrsdaten, etwa die E-Mail-Adressen, konnten 20 Mit-glieder – Kinderschänder und damit Schwerverbrecher –identifiziert werden.Ich sage Ihnen: Wir brauchen die Vorratsdatenspei-cherung, um effizient gegen solche Leute vorzugehen.
Herr Kollege Grosse-Brömer, darf der Kollege
Montag Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Danke, Herr Präsident. – Lieber Kollege Grosse-
Brömer, Sie haben Fachleute auf dem Gebiet der Be-
kämpfung von Straftaten zitiert, Kriminalbeamte und
insbesondere den BKA-Präsidenten Ziercke. Würden
Sie mir recht geben, dass die Autorität des BKA und
auch die von Herrn Ziercke – bisher habe ich sie, so wie
Sie, als hoch angesehen – schwer angekratzt ist, nach-
dem es gerade das BKA und Herr Ziercke waren, die uns
allen hier im letzten Jahr im Brustton der Überzeugung
gesagt haben, wir müssten unbedingt und sofort – das sei
äußerst effektiv – Internetsperren zur Bekämpfung von
Kinderpornografie einführen. Er hat Sie und die Union
sozusagen davon überzeugt. Inzwischen ist allgemein
klar – alle Fachleute sagen das; die Industrie sagt das –,
dass das von Anfang an ein völlig sinnloses und zweck-
loses Mittel war, weil jede Sperre innerhalb von einigen
Sekunden von jedem einfachen User umgangen werden
kann. Stimmen Sie mir zu, dass es bei den jetzigen Aus-
sagen des Herrn Ziercke, man brauche die Vorratsdaten-
speicherung dringend, angebracht ist, Vorsicht walten zu
lassen?
Lieber Herr Kollege Montag, ich bin Ihnen für dieseFrage sehr dankbar. Zu dieser Feststellung gibt es vonmir nicht einmal einen Hauch von Zustimmung. Ichkann Ihnen das erklären. Wir, die CDU/CSU-Fraktion,haben eine Veranstaltung zur Effizienz bei der Bekämp-fung von Kinderpornografie durchgeführt. Ich gebe Ih-nen recht, dass das Löschen im Zweifel effizienter ist alsdas Sperren – wenn man es denn kann und dazu die Ge-legenheit hat. Ein Problem ist nämlich, dass die Seitenmit diesen perversen Inhalten wöchentlich wechseln.
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3330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Michael Grosse-Brömer
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Die Auffassung meiner Fraktion ist, dass das Sperren,wenn man das Löschen nicht schafft, immer noch nichtdie perfekte Möglichkeit ist, jeglichen Zugriff auf be-stimmte Seiten zu verhindern. Aber es ist immerhinmöglich – das zeigen ganz konkrete Erfahrungen ausNorwegen –, die Anzahl der Zugriffe auf die entspre-chenden Seiten um bis zu 40 Prozent zu reduzieren. DerPräsident des Bundeskriminalamtes hat recht, wenn ersagt: Wir können nicht darauf verzichten, zumindest diehinter dieser Zahl stehenden Personen davon abzuhalten,diese perversen Seiten anzusehen.
Insofern hat er für mich immer noch ein hohes Ansehen.Ich hoffe, auch Sie kommen irgendwann zu dieser Er-kenntnis.Wenn ich daran gleich anknüpfen darf: Es ist aus mei-ner Sicht und für meine Fraktion sehr wichtig, dass dieMenschen, die sich fachlich permanent und intensiv mitder Bekämpfung schwerster Kriminalität beschäftigen,nicht aus durchschaubaren politischen Gründen diskredi-tiert werden,
nur weil die Erkenntnisse der großen Polizeidienststellenund der Verbände, in denen sich jeden Tag viele Beamtemit der Bekämpfung von Kriminalität befassen, nicht indas eigene politische Konzept passen. Sie sollten so frühwie möglich damit aufhören, diese Personen zu diskredi-tieren. Das ist der falsche Weg, in Deutschland für eineeffiziente Strafverfolgung zu sorgen.
Ich halte es in der Tat für arrogant und leichtfertig, zuversuchen, diese Leute sozusagen hintenherum und mitwenig argumentativer Überzeugungskraft in eine be-stimmte Ecke zu stellen.
Warum fordern diese Personen wohl eine zügige neuegesetzliche Grundlage? Glauben Sie, die hätten davon inirgendeiner Form persönliche Vorteile? Nein, die ma-chen sich Sorgen um die Situation in Deutschland. Siemachen sich Sorgen, dass Schutzlücken bestehen, wenndie Vorratsdatenspeicherung nicht mehr zur Verfügungsteht. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Die Bürger inDeutschland haben einen Anspruch auf effiziente Straf-verfolgung und auf Schutz durch den Staat.
Ich finde, wenn die Beamten, die mit diesem Themazu tun haben, die Vorratsdatenspeicherung als wirksamesInstrument in Anspruch nehmen, dann ist es unser Job,ihnen dieses Instrument auch zur Verfügung zu stellen.
– Herr Kollege von Notz, was ich bei Ihrer Argumenta-tion ganz spannend finde – auch ich habe das Urteil gele-sen –, ist der Bezug auf dieses diffuse Gefühl des Be-obachtetseins.
Ich kann das gut nachvollziehen. Dabei geht es nämlichnicht um die Einzelmaßnahmen. Schließlich ist es nichtso, dass wir grundsätzlich der Auffassung sind: Allesläuft bestens, und wir können ohne Ende Daten erheben.Ich kann, wie gesagt, nachvollziehen, dass man diesesGefühl hat. Ich glaube, meine Tochter, die mittlerweilezwölf Jahre alt ist, hat vom Internet schon mehr Ahnungals ich. Deswegen macht sie sich vielleicht auch wenigerSorgen. Auch Sie sind schon eine andere Generation. Ichnehme Ihre Argumente ernst. Was mich aber immer wie-der wundert, ist, dass dieses diffuse Gefühl des Beobach-tetseins, wenn es um Google oder Facebook geht, über-haupt keine Rolle spielt.
Vor kurzem hat Herr Schirrmacher im Frühstücks-fernsehen eine spannende Frage gestellt: Wer kontrol-liert eigentlich Google?
Diese Frage werden wir hier und heute nicht beantwor-ten können. Aber es wäre schön, wenn Sie aufhören wür-den, dem Staat in dieser Debatte grundsätzlich ein Aus-forschungs- und Aushorchungsinteresse zu unterstellen,aber dann, wenn es um Google und Facebook geht, dieFreiheit des Internet zu betonen, die sie gerade denen ge-währen wollen, die über mehr Daten verfügen, als derStaat jemals bekommen kann.
Ich finde, das ist ein Fehler in Ihrer Argumentation.
– Herr Kollege Montag, wenn Sie von Popanz reden,scheint meine Rede gut gewesen zu sein; denn dann sindSie ein bisschen unruhig. Das freut mich.Wenn wir über die Datenspeicherung diskutieren,müssen wir ein erhöhtes Problembewusstsein an denTag legen; hier sind wir mit Ihnen einer Auffassung.Auch meine Fraktion wird sensibel vorgehen und daraufachten, was für den Staat möglich sein muss und wasnicht. Das ist doch gar keine Frage. Dafür sitzen wir hier.Was den konkreten Fall, die Vorratsdatenspeicherung,angeht, können wir aber nicht behaupten, sie sei ein In-strument, das für den Bürger auf keinen Fall erträglichist. Ich glaube sogar, es ist umgekehrt: Die Bürger erwar-ten, dass man, wenn man wirksame Instrumente zur Ver-fügung hat, diese auch nutzt, um sie vor Gewalttaten zuschützen; dafür gibt es viele Beispiele. Ich jedenfalls
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Michael Grosse-Brömer
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glaube den Leuten, die mit diesem Thema täglich zu tunhaben.Die Regierungskoalition analysiert derzeit das Urteildes Bundesverfassungsgerichts. Auf europäischer Ebenetut man das auch. Die CDU/CSU hat vor dieser DebatteRücksprache mit einigen Kollegen aus dem Europäi-schen Parlament gehalten. Wir können feststellen: DasSchutzniveau, das auf europäischer Ebene geschaffenwird, wird – ungeachtet der Bemühungen der Justizkom-missarin – nicht höher sein als das Schutzniveau, das unsvom Bundesverfassungsgericht vorgegeben wurde. Eswird in Europa keine strengeren Maßstäbe geben, als siein Deutschland nach der Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichtes gelten.
– Weil gar nichts anderes in der Debatte ist.Unsere Koalition arbeitet nach dem Motto: So sorg-fältig wie nötig, aber so zügig wie möglich müssenSchutzlücken geschlossen werden.
Das wird beim Arbeitstempo zu berücksichtigen sein.Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass die Frist fürdie Umsetzung dieser Richtlinie bereits abgelaufen ist.Was Europa uns vorgibt, ist also zu berücksichtigen, undzwar in dem Rahmen, den das Bundesverfassungsgerichtvorgegeben hat. Ein schönes Datenschutzkorsett ist ge-richtlicherseits vorgegeben. Wir werden es nun gesetz-geberisch auffüllen und damit wahrscheinlich sehr er-folgreich sein.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wie so oft reizt die Rede des Kollegen Grosse-Brömerdazu, einiges klarzustellen. Da Sie selbst einräumen,vom Internet wenig zu verstehen, haben Sie zumindestdiese These klar belegt. Bei allem Respekt für eine Ver-teidigungshaltung: Wenn jemand bei Google Daten übersich freigibt, wenn die jüngere Generation in verschie-densten sozialen Netzwerken persönliche Daten freigibt,kann man diese Daten doch nicht in einen Zusammen-hang stellen mit Daten, die bei einer anlasslosen Vorrats-datenspeicherung erfasst werden. Das eine hat mit demanderen wenig zu tun. Bei den Daten, die bei Googlegesammelt werden, erklären sich die Nutzer einverstan-den, wissen, was mit den Daten passiert.
– Man weiß es sehr wohl; denn man selbst entscheidet,was man über sich preisgibt. Zumindest ist es ein gewal-tiger Unterschied dazu, dass anlasslos die Telekommuni-kationsverbindungen Hunderttausender Menschen er-fasst werden. Natürlich muss man die Menschen dazuaufrufen, mit ihren persönlichen Daten sorgfältig umzu-gehen, sie nicht leichtfertig irgendwo einzuspeisen.
Aber das ist ein anderer Punkt. Bei der Vorratsdatenspei-cherung hat man diese Möglichkeit nicht.Das ist ja das, was das Bundesverfassungsgericht derBundesregierung mit seinem Urteil ins Stammbuch ge-schrieben hat: Es hat nicht gesagt, dass eine Vorratsda-tenspeicherung per se unmöglich sei; aber es hat sehrhohe Hürden benannt. Diese Hürden müssen bei derUmsetzung berücksichtigt werden.
Es gibt Hürden bei der Verwendung der Daten, bei derSicherheit der Speicherung sowie bei der Transparenz.Es muss darüber informiert werden, für was und warumdiese Daten erhoben werden. Vor allen Dingen muss der-jenige, dessen Daten verwendet werden, darüber infor-miert werden. So weit gehen wir, glaube ich, d’accord.Sie haben zu Recht angesprochen, Herr Grosse-Brömer, dass eine Ursache für die Einführung einergesetzlichen Regelung zur VorratsdatenspeicherungAttentate in europäischen Großstädten wie in Madridwaren. Anhand von aufgefundenen Handys konnte da-mals festgestellt werden, mit wem die Attentäter telefo-niert hatten. So konnten Rückschlüsse auf entsprechendeVerbindungstäter gezogen werden.
Jetzt muss es darum gehen, die Vorratsdatenspeiche-rung gerichtsfest, verfassungsfest umzusetzen.
Da haben Sie eine große Aufgabe vor sich.
Wir werden das gespannt beobachten.Ich rate aber, in der Öffentlichkeit nicht so zu tun, alsob momentan eine gewaltige Sicherheitslücke ent-stünde, als ob man – wie Sie es beschrieben haben –Kinderschänder derzeit nicht verfolgen könne.
Zur Aufklärung solch schwerster Verbrechen gibt es dieMöglichkeit der Telefonüberwachung.
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3332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Christine Lambrecht
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Sie können doch nicht behaupten, dass gegen Kinder-schändernetzwerke derzeit in keiner Weise vorgegangenwerden könne, dass man solche Verbrechen nicht ahndenkönne, weil keine anderen Maßnahmen zur Verfügungstünden.
Schüren Sie nicht Ängste! Selbstverständlich sind wiruns darin einig, dass organisierte Kriminalität, schwersteVerbrechen verfolgt werden müssen. So zu tun, als obman dazu momentan keinerlei Mittel habe, verwirrt. Dasist der Sache nicht dienlich.
Wir werden beobachten, wie Sie mit dieser großenAufgabe umgehen. Wir haben im Vorfeld ja schon eini-ges gehört: Die Ministerin – die selbst gegen die Vorrats-datenspeicherung geklagt hat – hat erklärt, sie wird dasVerfahren jetzt erst einmal aussetzen und abwarten, wasin Europa passiert. Die zuständige EU-Kommissarin,Justizkommissarin Reding, hat gesagt, dass sie dieseRichtlinien auf den Prüfstand stellen will. Diese Über-prüfung will Frau Leutheusser-Schnarrenberger abwar-ten. Aus der Fraktion der CDU/CSU habe ich anderesgehört. Da will man ganz schnell eine Lösung, die sofortumgesetzt wird, damit keine Lücken entstehen.
Ich bin gespannt, wie sich bei diesem Thema die Mehr-heitsverhältnisse entwickeln. Wir werden beobachten,wer sich hier durchsetzt:
die Ministerin, die gegen die Vorratsdatenspeicherunggeklagt hat und recht bekommen hat, oder die CDU/CSU, die eine ganz andere Position vertritt, nämlich jetztsofort eine Lösung zu finden, weil sonst Lücken entstün-den. Ich war eben schon ein bisschen perplex, dass Siesich hier wechselseitig beklatschen. Ich bin gespannt,was der Kollege von der FDP dazu sagen wird.
Vielleicht vertritt auch er die Position, dass sofort etwasgemacht wird und nicht abgewartet wird, was auf euro-päischer Ebene passieren wird. Davon rate ich Ihnen ab.Aber ich gehe davon aus, dass die FDP in dieser Fragedie Fahne der Freiheitsrechte der Bürger ganz klar hoch-hält, so wie sie das in allen Wahlkampfslogans vertretenhat. Wir werden sehen, wer sich am Ende durchsetzt. Ichhoffe, es wird die FDP mit ihrer Ministerin, FrauLeutheusser-Schnarrenberger, sein.
Aber, wie gesagt, momentan ist in dieser Koalition allesdenkbar.
Von daher kann ich der FDP anbieten, mit uns konstruk-tiv zusammenzuarbeiten. Aber, wie gesagt, wir sind ge-spannt, wer sich durchsetzt.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Christian Ahrendt für die FDP-
Fraktion.
Liebe Frau Kollegin Lambrecht, seien Sie versichert:Wir werden die Fahne der Freiheit weiter hochhalten.
Ich habe gerade festgestellt, dass Sie eine solche Fahnegar nicht im Schrank haben.
Um Ihre Gedächtnislücken etwas zu schließen: Siehaben, glaube ich, am 9. November 2007 in der nament-lichen Abstimmung zur Vorratsdatenspeicherung dafürgestimmt.
Ich habe auch gesehen, dass Sie noch nicht einmal eineErklärung zu Protokoll gegeben haben.
Es ist sehr schön, von Leuten belehrt zu werden, wieman mit einem Thema umzugehen habe, die zu keinerZeit in der Lage waren, dieses Thema auch nur annä-hernd sorgfältig zu bearbeiten.
Schauen wir uns einmal an, wie das gelaufen ist, weildas jetzt ein Stück weit Vergangenheitsbewältigung ist.Ihre Parteifreundin, Frau Zypries, war Justizministerin.Sie hat es auf EU-Ebene nicht geschafft, die Richtlinieaufzuhalten. Sie war als zuständige Justizministerin fürdie Umsetzung der Richtlinie verantwortlich. Insofernerinnerte mich das Haus Zypries ein bisschen an eineRudi-Carrell-Show. An diese Show erinnert man sicheher, wenn man so eine Frisur wie ich hat. Die Showhieß „Am laufenden Band“. Das, was an Gesetzen ausdem Hause Zypries kam, ist am laufenden Band vom
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3333
Christian Ahrendt
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Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe aufgehoben wor-den, Frau Kollegin Lambrecht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lambrecht?
Nein.
Sie können gerne eine Kurzintervention machen, Frau
Kollegin. Ich werde jetzt zum Thema kommen. Das
Thema ist – der Kollege Notz hat es angesprochen, das
ist, glaube ich, ein Kernsatz der Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichtes – die Freiheitswahrnehmung.
Mit der Freiheitswahrnehmung nicht vereinbar ist, dass
alltägliche Daten erfasst, gesammelt und gespeichert
werden und dadurch ein Gefühl der Überwachung ent-
steht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
Entscheidung deutlich gesagt, dass es Aufgabe der Bun-
desregierung ist, diese Freiheitswahrnehmung auf euro-
päischer Ebene und auch auf internationaler Ebene zu
verteidigen.
Weil ich weiß, dass die Justizministerin selber Kläge-
rin gegen diese Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung
bzw. das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung war, brau-
chen wir Ihren Antrag nicht, weil Frau Leutheusser-
Schnarrenberger persönlich dafür steht, dass die Frei-
heitsrechte, so wie es das Bundesverfassungsgericht vor-
gegeben hat, auf europäischer Ebene gewahrt werden.
Das Entscheidende ist, dass auch auf europäischer
Ebene schon ein Umdenken eingesetzt hat. Die Justiz-
kommissarin Reding hat angekündigt, dass sie die euro-
päische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung evaluie-
ren will. Die Innenkommissarin, Frau Malmström, hat
hinterfragt, ob es noch ein ausreichendes Gleichgewicht
zwischen Terrorismusbekämpfung auf der einen Seite
und den privaten Freiheitsrechten auf der anderen Seite
gibt. Auch von dort ist also zu erwarten, dass man die
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene
evaluiert. Auch eine dritte Frage wird in diesem Zusam-
menhang geklärt werden, nämlich ob diese Richtlinie
noch mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist, die
zusammen mit dem Lissabon-Vertrag in Kraft getreten
ist.
Wenn wir uns das alles sorgfältig anschauen,
dann stellen wir fest, dass es derzeit gar keine Veranlas-
sung gibt, in Hektik zu verfallen.
Die Berichte werden im September 2010 vorliegen, und
wir werden das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
sorgfältig auswerten.
Es besteht auch keine Sicherheitslücke. Durch die
einstweilige Verfügung wurde die Regelung zur Vorrats-
datenspeicherung schon vorzeitig suspendiert. Die Fest-
stellung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Richtli-
nie zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland zunächst
keine Anwendung findet, hat dem Sicherheitsgefühl in
Deutschland keinen Abbruch getan. Insofern ist es in der
aktuellen Situation nicht unbedingt erforderlich, übereilt
eine Richtlinie umzusetzen, die ohnehin auf dem Prüf-
stand steht. Vor diesem Hintergrund bedarf es derzeit des
etwas populistischen Antrages der Grünen nicht.
Deswegen werden wird dem Antrag auch nicht zustim-
men.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gin Lambrecht.
Da der Kollege Ahrendt keine Zwischenfrage zulas-
sen wollte, nutze ich die Möglichkeit der Kurzinterven-
tion und weise darauf hin, dass es die SPD-Justizminis-
terin Brigitte Zypries war, die darauf hingewirkt hat,
dass die in der Richtlinie ursprünglich vorgesehene
Dauer der Speicherung von 36 Monaten auf EU-Ebene
auf sechs bis 24 Monate gekürzt wurde und dass in dem
entsprechenden Umsetzungsgesetz in Deutschland nur
noch eine Dauer von sechs Monaten vorgesehen war.
Frau Zypries hat diese EU-Richtlinie in ihrer Eigen-
schaft als Justizministerin also nicht einfach durchlaufen
lassen, sondern sie hat entscheidenden Einfluss darauf
genommen, dass es nicht zu unverhältnismäßig langen
Speicherungsdauern gekommen ist.
Kollege Ahrendt.
Verehrte Frau Kollegin, dieser Sachverhalt ist be-kannt.
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3334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Christian Ahrendt
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Aber wir kennen auch den Satz: „Wer immer strebendsich bemüht, den können wir erlösen.“ Frau Zyprieskonnte bei dem wenigen Bemühen, das sie an den Taggelegt hat, nicht erlöst werden. Denn wir haben immergesagt, dass wir diese Richtlinie in Deutschland garnicht wollen.
Es wäre also eigentlich ihre Aufgabe gewesen, dieRichtlinie auf europäischer Ebene zu verhindern. Dashat sie nicht geschafft, daran muss sie sich messen las-sen. Deswegen können wir Ihnen das Argument der ge-ringen Fristverkürzung auch nicht durchgehen lassen.
Das Wort hat nun Jan Korte für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerFDP traue ich nun wirklich alles Schlechte dieser Weltzu,
aber in diesem Falle, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der SPD, war es in der Tat maßgeblich BrigitteZypries, die diese Richtlinie auf europäischer Ebene undim Bundestag durchgesetzt hat. Das muss man der Fair-ness halber einmal sagen. Deswegen hätte mich interes-siert, welche Meinung die SPD jetzt zu dieser Richtliniehat und wie Sie gedenken, mit dem Antrag der Grünenumzugehen. Aber vielleicht geht ja der zweite Redneraus Ihrer Fraktion darauf ein.Vor dem Hintergrund welcher Situation diskutierenwir heute? – Abermals ist vom Bundesverfassungsgerichtein sogenanntes Sicherheitsgesetz kassiert worden – ver-bunden mit recht drastischen Ermahnungen. Die damali-gen Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linke habenschon damals gesagt, dass das so kommen wird und dassIhre Entscheidung auch politisch falsch ist. Darauf woll-ten Sie aus ideologischen Gründen nicht hören, und jetzthaben wir sozusagen den Salat.Wenn das höchste deutsche Gericht urteilt, dass einGesetz oder eine Richtlinie fachlich falsch ist, dass dasalles so nicht geht, dass man das neu regeln müsste, danndenkt man als Bürger ja, die erste Reaktion daraufmüsste eigentlich sein, zur Ruhe zu kommen, in sich zugehen und zu prüfen, wie man es besser und grund-rechtskonform machen könnte bzw. ob man das Ganzeüberhaupt braucht. Das hat diese Bundesregierung abernicht getan.
Der Bundesinnenminister und die CDU sagen: Wir müs-sen unbedingt vor der Sommerpause noch irgendetwasunternehmen. – Die Bundesjustizministerin dagegensagt – und dabei unterstütze ich sie sehr –: Am bestenmachen wir erst einmal gar nichts; denn gar nichts zutun, ist besser, als das Falsche zu tun.
Deshalb wissen wir bis heute nicht, was die Meinung derKoalition ist.
Ich denke, wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass dasBundesverfassungsgericht abermals etwas kassiert hat,und einen Richtungswechsel vornehmen. An dieser Stellestellt sich die berühmte Frage: Was tun?Um noch einmal auf das Problem zurückzukommen:Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es darum – dasist der Unterschied zu Google, Facebook und anderen –,dass ohne Anlass und ohne Verdacht das Kommunika-tionsverhalten von 80 Millionen Bundesbürgern kom-plett registriert wird. Das ist das Kernproblem, über daswir hier diskutieren. Es geht also sozusagen um eine To-talprotokollierung von menschlichem Kommunikations-verhalten, und zwar anlasslos.Daraus ergeben sich in einer Demokratie grundle-gende Fragen. Denn Datenschutz und das Wissen, unbe-obachtet und unangepasst kommunizieren zu können, isteine entscheidende Grundlage demokratischen Engage-ments. Dies wird durch die Vorratsdatenspeicherung be-hindert und infrage gestellt. Denn klar ist – darauf wirdauch in dem Urteil hingewiesen –, das jemand, der sichständig beobachtet und registriert fühlt, automatisch,vielleicht sogar unbewusst, anfängt, sein Kommunika-tionsverhalten zu ändern. Man fängt an, angepasst zukommunizieren. Das will zumindest die Linke nicht. Wirwollen eine unangepasste Kommunikation in diesemLand.
Wer sich ständig beobachtet fühlt, passt sich an. Dasmag jemandem mit einem autoritären Weltbild wie Ih-nen vielleicht sinnvoll erscheinen.
Wir wollen das aber nicht. Wir wollen unangepasst sein,und wir wollen den aufrechten Gang. Deswegen lehnenwir das politisch ab.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3335
Jan Korte
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– Da haben Sie allerdings recht, um kurz vor Osternauch einmal etwas Persönliches zu sagen. Das Bundes-verfassungsgericht hat nicht gesagt, es sei völlig unmög-lich, die Richtlinie umzusetzen. Das ist in der Tat richtig.
– Ja, ich will schließlich, dass wir eine differenzierte De-batte führen. – Man muss aber deutlich sagen – das istdie Aufgabe des Bundestages –: Nicht alles, was juris-tisch und technisch möglich ist, muss man auch machen.Darum geht es in der politischen Auseinandersetzung.
Deswegen unterstützt meine Fraktion ganz klar denAntrag der Grünen, auf europäischer Ebene darum zukämpfen, dass die Richtlinie außer Kraft gesetzt wird.Auch in anderen europäischen Ländern gibt es entspre-chende Ansätze. Wir sind also nicht alleine, wie es diegroße Sorge der Bundesregierung ist. Man könnte aufeuropäischer Ebene etwas für die Grundrechte tun. Eswäre auch klasse, wenn eine Bundesregierung auf euro-päischer Ebene in der Frage von Datenschutz und Bür-gerrechten positiv auffallen würde.Die FDP hat in der Frage komplett versagt. Sie sindschon kurz nach Ihrer Vereidigung beim SWIFT-Ab-kommen vom Innenminister vorgeführt worden.
Wir sind gespannt, wie es bei der FDP weitergehen wird.Die Linke wird auf jeden Fall die FDP in ihremKampf gegen den eigenen Koalitionspartner unterstüt-zen,
wenn Sie bereit sind, die Richtlinie zur Vorratsdatenspei-cherung insgesamt zu Fall zu bringen. Dabei haben Sieuns an Ihrer Seite.Die Linke unterstützt selbstverständlich auch weiterdas außerparlamentarische Engagement. Im Rahmender Debatte um die Vorratsdatenspeicherung ist erstma-lig seit Jahren in der Bundesrepublik über die Frage vonGrundrechten, Demokratie und Rechtsstaat relevant dis-kutiert worden. Das ist doch etwas Gutes, wenn Men-schen auf die Straße gehen und sich organisieren.
– Ich erinnere mich, Kollegin Piltz: Es war eine gute Sa-che, als wir alle auf der Demo „Freiheit statt Angst“ wa-ren, die FDP-Fahnen Seite an Seite mit den roten Fahnender Linken. Die Grünen waren auch dabei. Das war einegute Sache. Ich bin gespannt, ob Sie im Herbst wiederdemonstrieren werden. Ich schätze, nicht; denn auf Siekann man sich in dieser Frage nicht verlassen.
Es ist eine traurige Entwicklung, die Sie durchlaufen.Deswegen ist jetzt die politische Auseinandersetzung zuführen. Wir müssen die Vorratsdatenspeicherung wederals Bundestag noch als Bundesregierung mittragen.
Man könnte erst einmal in sich gehen und über Osternnachdenken. Dann könnten wir auf die Vorratsdatenspei-cherung verzichten und hätten damit einen wichtigenBeitrag zur Stärkung der Demokratie in diesem Land ge-leistet. Die Linke macht mit.Schönen Dank.
Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die Fraktion
der CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im-merhin wissen wir jetzt schon seit gut 14 Stunden, wel-ches Anliegen die Grünen unter der Überschrift „KeineVorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“bewegt. Sie haben uns lange darüber im Unklaren gelas-sen, was Sie auf dem Umweg über Europa nicht wollen.Aber die viele Zeit, die sich die Grünen für die Formu-lierung des Antrags gelassen haben, hat offensichtlichnicht gereicht, um einen ausgewogenen und vollständi-gen Antrag vorzulegen. Zwar wird Bezug auf eine Bun-destagsdrucksache aus dem Jahr 2004 genommen. Aberdann sind Aussagen zu dem Zeitraum zwischen 2004und 2006 in dem Antragstext doch merkwürdig lücken-haft. Sollte das Zufall sein, oder hat es etwas damit zutun, dass die Grünen bis 2005 in der Regierung waren,oder sogar damit, dass in dieser Zeit in Europa die we-sentlichen Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherunggetroffen wurden,
und zwar unter tatkräftiger Mitwirkung einer rot-grünenBundesregierung?
Gerne helfe ich Ihrer Erinnerung auf die Sprünge.Es ist interessant, sich die Entwicklung um das Jahr2005 genauer anzusehen. Ihre Reaktionen zeigen, dassich richtig liege. Wenn man sich die Geschichte derVorratsdatenspeicherung anschaut, trifft man auf einPhänomen; ich nenne es das Chamäleonphänomen.Beim Blick zurück stößt man nicht nur auf eine rot-grüne Bundesregierung, nein, man stößt auch auf einen
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3336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Ansgar Heveling
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Bundesinnenminister, der einmal grün war, irgendwannzu den Roten wechselte, um dann in einer rot-grünenBundesregierung den schwarzen Sheriff zu geben.
Es war dieser rot-grüne bzw. grün-rote InnenministerSchily, der genau das mit initiiert hat, was die Grünennun mit dem Antrag „Keine Vorratsdatenspeicherungenüber den Umweg Europa“ so vehement von sich weisenwollen.
Ich darf dazu aus der Süddeutschen Zeitung vom13. März 2005 zitieren, kurz vor der Implosion der letz-ten rot-grünen Bundesregierung:Über den Umweg Brüssel– das passt wie die Faust aufs Auge –will Otto Schily seine im vergangenen Jahr aufBundesebene abgelehnten Pläne zur Datenspeiche-rung doch noch durchsetzen.Weiter heißt es:Dabei gehe es darum, einen Rahmenbeschluss fürdie Europäische Union … vorzubereiten, der denBehörden im Kampf gegen Terror und Kriminalitäthelfen soll.
Lassen wir uns das doch einmal auf der Zunge zergehen.Das ist doch die Wahrheit.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wieland?
Danke, es reicht schon, dass wir über diesen Antragdiskutieren. Ich möchte diesen schönen Gedanken fort-führen.
Vor allem: Wo war damals der Aufschrei der Grünen?
Wo war der Antrag damals? Warum haben die Grünennicht am 24. März 2005 beantragt „Keine Vorratsdaten-speicherungen über den Umweg Europa“? Warum nichtdamals?
Die Süddeutsche Zeitung hätte Ihnen damals doch mitdieser passenden Formulierung eine Steilvorlage gelie-fert.
Aber nein, Sie haben geschwiegen. Wären die Grünendoch besser auch heute kleinlaut geblieben!
Denn es ist unredlich, was Sie heute machen. Es ist Hel-dentum nach Ladenschluss, nichts anderes. Es sollschamhaft vergessen machen, dass damals die entschei-denden Weichen durch Rot-Grün selbst gestellt wurden.Nochmals im Klartext: Die Innen- und Justizministerin der EU haben damals eifrig einen Rahmenbeschlusszur Vorratsdatenspeicherung vorbereitet, einen Rahmen-beschluss, der tiefere Eingriffe in die Grundrechte vor-sehen sollte als die schließlich erlassene Richtlinie. Mit-tendrin, nein, vorneweg ein Innenminister Schily! Erstals ein Rahmenbeschluss an der Einstimmigkeit zuscheitern drohte, wurde umgeschwenkt. Wir sehen also:Schon das Fundament des Antrags ist rissig. Es ist vorallem auf Selbsttäuschung und Unglaubwürdigkeit auf-gebaut.Es wird nicht besser mit dem Antrag. Es ist schonabenteuerlich, das Bundesverfassungsgericht zum Kron-zeugen für einen Antrag zu machen, auf europäischerEbene loszulegen und die Richtlinie aufzuheben; denndas Bundesverfassungsgericht hat gerade nicht die Not-wendigkeit gesehen, einen Umweg über Europa zu ma-chen. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Klarund deutlich wird im Urteil dargestellt, dass die anste-henden Fragen bezüglich der Vorratsdatenspeicherungauf der Ebene des nationalen Rechts zu beantworten sindund auch dort gelöst werden können. Dementsprechendhat sich das Bundesverfassungsgericht bewusst entschie-den, den Europäischen Gerichtshof nicht einzuschalten,und auch, dass es keine Fragen gibt, die dem EuGH vor-zulegen sind. Insofern ist zumindest die Überschrift desAntrags gar nicht so falsch; denn wenn das Bundesver-fassungsgericht keinen Umweg über Europa braucht,dann brauchen wir ihn allemal auch nicht.
Das europäische Recht steht, und wir brauchen Europaan dieser Stelle gar nicht zu strapazieren.Es gibt eine geltende Richtlinie, bei der es im Übrigenfür den Europäischen Gerichtshof keinen Anlass zur Be-anstandung gegeben hat. Damit haben wir eine europa-rechtliche Grundlage. Sie gilt nach wie vor. Wir wer-den uns daher mit dem Thema Vorratsdatenspeicherungauch deshalb weiter befassen, weil es nach wie vor dieVerpflichtung gibt, die europäische Richtlinie in nationa-les Recht umzusetzen.
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Ansgar Heveling
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Diesem Handlungsauftrag können und werden wir unsnicht entziehen. Hierbei ist zu bemerken, dass die Richt-linie ohne Zweifel dem nationalen Gesetzgeber einenweiten Gestaltungsspielraum einräumt. Diesen Spiel-raum werden wir ausfüllen. Hierzu ist es zunächst erfor-derlich, sich genau anzusehen, welche Anforderungen aneine verfassungsfeste Regelung zur Vorratsdatenspeiche-rung zu stellen sind.Es ist festzuhalten, dass das Bundesverfassungsge-richt die Speicherung und Nutzung von Vorratsdatennicht schlechterdings untersagt hat. Im Gegenteil: Eszieht sich wie ein roter Faden durch das Urteil, dassgrundsätzlich eine grundrechtsgerechte Ausgestaltungder Vorratsdatenspeicherung möglich ist.Nun geht es also darum, sorgfältig und natürlich unterBerücksichtigung der grundgesetzlichen und grundrecht-lichen Anforderungen eine neue gesetzliche Ausgestal-tung für die Vorratsdatenspeicherung zu entwickeln.Dementsprechend ist die gebotene Sorgfalt der entschei-dende Maßstab auch für den Zeitplan.
Durch diese notwendige Sorgfalt wird auch ausrei-chend Raum gegeben, positiv weiter über den Sinn derVorratsdatenspeicherung zu debattieren. Ja, ich habe dieHoffnung, dass dieser Raum auch dazu dienen kann,Fehlentwicklungen in den Debatten – ich betone: inden Debatten und nicht in der Sache – zur Vorratsdaten-speicherung zu beseitigen, deren Wurzeln auch ganz amAnfang der Diskussion liegen und die wiederum eng mitdem Auftreten und dem Vorgehen der damaligen rot-grünen Bundesregierung verknüpft sind. Damals ist dasThema virulent geworden, damals sind die grundlegen-den Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffenworden.Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vor-ratsdatenspeicherung war nicht der Endpunkt einer Dis-kussion. Im Gegenteil: Es ist der Auftakt für eine neueDebatte entlang der durch das Urteil formulierten Krite-rien für die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung.Hinter dieser Zulässigkeit steht im Kern, dem Staat ef-fektive Möglichkeiten zur Verfolgung schwerer Strafta-ten an die Hand zu geben. Auch durch die aktuellenFälle wird die Notwendigkeit dafür gezeigt.Diesen Weg werden wir gehen, und wir brauchen hierkeine Umwege über Europa. Wir gehen den geradenWeg: hier in diesem Parlament mit dieser Regierungsko-alition. Ich bin mir sicher: Wir werden unsere Schlüsseaus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil gemeinsamziehen und gemeinsam unsere Vorschläge dazu unter-breiten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Kollege Gerold Reichenbach für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerin-nen und Zuschauer! Die Debatte vonseiten der Koalitionerinnert mich ein bisschen an den Pfadfinder, der sichbeharrlich weigert, zu sagen, wo er hin will, weil er esgar nicht weiß, und stattdessen den Betroffenen ständigerklärt, wer sich wie und wo woanders auch schon ein-mal verlaufen hat.
Lassen Sie mich festhalten: Die SPD-Bundestagsfrak-tion begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts zur Vorratsdatenspeicherung, in der dem Ge-setzgeber jetzt klare Grenzen für einen derartig schwerenEingriff in die Rechte der Bürger aufgezeigt wurden.Die SPD hat – und dazu stehen wir – die vom Bun-desverfassungsgericht monierte Regelung in der GroßenKoalition mit verabschiedet. Wir ducken uns hier nichtweg.
Wir haben uns in den schwierigen Abwägungsprozesszwischen Sicherheit und Freiheit begeben, als damalsnoch – das ist erwähnt worden – die Anschläge vonMadrid und die Anschlagsvorbereitungen in Deutsch-land in den Köpfen der Bevölkerung und der Entschei-denden präsent waren.
Es war uns allen klar, dass diese Abwägung zwischenSicherheit und Freiheitsrechten in einem freiheitlich-demokratischen Staat sehr schwierig sein wird. Wir ha-ben uns dieser Verantwortung gestellt, und wir werdenuns auch weiter dieser Verantwortung stellen und unsnicht wegducken,
gerade auch vor dem Hintergrund, dass uns das Bundes-verfassungsgericht an dieser Stelle klar gesagt hat: Ihrhabt dort Fehler gemacht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es istimmer einfacher, zu sagen, was man nicht will, als eineDebatte durchzustehen und für ein Gesetz in die Verant-wortung genommen zu werden. Jetzt stehen aber Sie in
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3338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Gerold Reichenbach
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der Regierungskoalition in der Verantwortung, und Siemüssen sich positionieren.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteilnicht nur gesagt, welche zentralen Rahmenbedingungenzum Schutz der Freiheitsrechte, zum Schutz der Freizü-gigkeit und zum Schutz der Freiheit bei einem solchenEingriff für die Bürger gewahrt bleiben müssen, sondernes hat auch den Spielraum für Regelungen eröffnet, mitdenen dem Sicherheitsbedürfnis entgegengekommenwird.
Eine unverhältnismäßige, anlasslose Datenspeicherungauf Vorrat wird abgelehnt. Herr Staatssekretär und FrauBundesjustizministerin, Sie müssen aber eingestehen,dass es für den Gesetzgeber durchaus Regelungsmög-lichkeiten gibt. Dabei müssen natürlich die fundamenta-len Freiheitsinteressen berücksichtigt und gewährleistetwerden, aber auch Sicherheitsinteressen abgedeckt wer-den.
Sie werden sich also schon die Mühe machen müssen,Regelungen zu finden, die den Anforderungen der Frei-heitsprinzipien unseres Grundgesetzes und der innerenSicherheit genügen.
Sie scheinen sich aber wegducken zu wollen. DieHinhaltetaktik, die die Bundesregierung momentanfährt, ist weder für die Gegner der Vorratsdatenspeiche-rung noch für die Sicherheitsexperten nachvollziehbar.Wie zu vernehmen ist, wollen Sie jetzt darauf warten, zuwelchem Ergebnis die Überprüfung der Richtliniedurch die Europäische Union kommt. Damit können Siesich nicht herausreden. Sie müssen sich positionieren;denn auch die Bundesregierung muss bei der Überprü-fung der Richtlinie auf europäischer Ebene ihre Positioneinbringen. Da frage ich mich eben nur, welche.Ich darf die Äußerungen der Bundesjustizministerinund des Bundesinnenministers zitieren. Sie sagt: „Ichfreue mich über das Urteil.“ Er sagt: „Bei dem Urteils-spruch ist keine Freude aufgekommen.“ Sie sagt: „Wirdürfen die Bedeutung der Vorratsdaten für die Terrorab-wehr nicht überbewerten.“ Er sagt: „Wir müssen die Si-cherheitslücke klug, maßvoll und zügig schließen.“ Siesagt: „Es ist nicht der Zeitpunkt für nationale Schnell-schüsse.“ Er sagt, man müsse „klug und schnell han-deln.“ Ich sage: Ja, was denn nun?
Welche Position wollen Sie denn bei der Überprüfungder Richtlinie einbringen? Oder läuft das nach demMotto: Weil wir uns gerade nicht einigen können, lassenwir die anderen europäischen Länder entscheiden undschauen dann, was bei uns herauskommt?Sie müssen sich übrigens nicht nur bei diesem Themader Debatte und der Abwägung stellen. Ich habe mir hierin der Parlamentsdebatte die Redner von CDU/CSU undFDP angehört – Frau Piltz wird das wahrscheinlich fort-führen und mit dem Finger auf andere zeigen –
und dabei gemerkt, dass das Spiel immer das gleiche ist:CDU gegen FDP; FDP gegen CSU. Ansonsten verweistdie FDP auf das, was in der Vergangenheit passiert ist,sagt aber nicht, was sie in Zukunft machen will. Thesame procedure as every day.
Sie müssen sich aber auch bei einem anderen Themader geforderten Abwägung der Verhältnismäßigkeit desEingriffs in die Grundrechte stellen, um notwendige Re-gelungen treffen zu können, die die Sicherheitsbedürf-nisse und die Bürgerfreiheiten wahren.
Ich nenne das Beispiel SWIFT. Auch hier geht es umdie Weitergabe von zunächst einmal anlasslos gespei-cherten Daten.
– Sie haben es gestoppt? – Wie verhielt es sich bei demvom Europäischen Parlament kassierten SWIFT-Ab-kommen? Wir erinnern uns. Sie sagt: „Ich halte das auchaus datenschutzrechtlicher Sicht für extrem bedenklich.“
Er sagt: Durchwinken!
Das ist wieder das Gleiche: Es gibt nur Nachrichten vonder schwarz-gelben Zankstelle, aber keinen Hinweis da-rauf, wie Sie sich in Zukunft bei diesem Thema positio-nieren wollen.
Das Bundesverfassungsgericht fordert eindeutig undklar, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer Datenspei-cherung dem besonderen Gewicht des mit der Speiche-rung verbundenen Grundrechtseingriffs Rechnung tra-gen muss. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, dafürzu sorgen, dem auch auf europäischer Ebene Geltung zuverschaffen. Das gilt sowohl für die Überprüfung derVorratsdatenspeicherung als auch für das jetzige Mandatfür die Verhandlungen über ein zukünftiges SWIFT-Ab-kommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3339
Gerold Reichenbach
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Sie müssen sich im Parlament der Verantwortungstellen, Freiheit und Sicherheit, Schutz der Bürgerrechteund der Bürger nach den Vorgaben unserer Verfassungauszutarieren. Es reicht nicht mehr – das werden wirwahrscheinlich anschließend wieder bei Ihnen, FrauPiltz, erleben –, zu sagen, was man nicht will, und an-sonsten mit dem Finger auf die anderen zu zeigen.
Sie sind in der Regierungsverantwortung. Sie müssensich dem stellen.Wir werden eigene Anträge einbringen, in denen wirdeutlich machen, was nach unserer Vorstellung die Um-setzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerich-tes auch für die europäische Ebene bedeutet. Ich freuemich auf die Debatte und darauf, dass Sie endlich einmalsagen, was Sie wollen,
und nicht, was andere gemacht haben; denn das wissenwir.
Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ehrlich gesagt: Wenn Sie meinen, das war hoch gelegt,
dann haben Sie vom Sport keine Ahnung.
Es ist schön, wenn man zu einem späteren Zeitpunkt
in der Debatte reden darf; denn dann kann man auch auf
die Kollegen eingehen. Herr Reichenbach, wie Sie hier
zu SWIFT und zur Vorratsdatenspeicherung sprechen,
macht deutlich, dass die SPD nach wie vor an politischer
Amnesie leidet. Denn Sie sind diejenigen, die entweder
nichts gemacht haben oder die Gesetze verabschiedet ha-
ben, nicht wir.
Sie tragen die politische Verantwortung für das, was Sie
gemacht haben. Auch das ist etwas, dem man sich stellen
muss. Wenn Sie hier so tun, als ob Sie nicht elf Jahre die-
ses Land regiert hätten, ist das ein billiges Gerede, hat
aber mit Politik nichts mehr zu tun.
Wofür Ihre Abwägung von Freiheit und Sicherheit
steht, das sehen wir an dem, was in Karlsruhe gescheitert
ist. Frau Lambrecht, Sie haben ja öfter gefragt: Wieso,
weshalb, warum? Dazu ist mir eigentlich nur ein Satz
eingefallen – Christian Ahrendt und ich sind heute ziem-
lich fernsehbezogen –: Wieso, weshalb, warum,
die SPD verkauft uns hier für dumm.
Etwas anderes kann ich Ihnen heute angesichts dessen,
was Sie hier gemacht haben, nicht sagen. Stehen Sie ein-
fach einmal zu Ihrer Verantwortung!
Herr Korte, abschließend zu Ihnen. So eine Rede von
ihnen – ich meine „ihnen“ kleingeschrieben, nicht groß-
geschrieben; denn dafür sind Sie zu jung –, also von Ih-
rer Partei hätte ich mir vor 40 Jahren in der Volkskam-
mer gewünscht.
Nennen Sie mir einen sozialistischen Staat, der seine
Bürger nicht mehr oder weniger überwacht. Was Sie hier
machen, ist wirklich sehr durchsichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, als
eine der erfolgreichen Klägerinnen vor dem Bundesver-
fassungsgericht – Sie wissen das, weil wir uns da getrof-
fen haben – gegen die Vorratsdatenspeicherung brauche
ich von Ihnen keine Nachhilfe und muss mir von Ihnen
das Urteil auch nicht erklären lassen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Korte?
Ja, gerne.
Liebe Kollegin Piltz, Ihr Vorwurf war wirklich totaloriginell. Aber davon einmal abgesehen: Ich habe nichteinmal im Zonenrandgebiet gewohnt. Das ist also völligabsurd.Aber jetzt einmal ganz ernsthaft. In der Tat finde iches richtig, sich immer wieder mit der Vergangenheitauseinanderzusetzen. Das gilt dann jedoch für alle. Des-wegen nur eine Frage: Hat denn insbesondere die FDP inNordrhein-Westfalen einmal substanziell ihre Vergan-genheit aufgearbeitet, insbesondere in Bezug auf dasPersonal in den 50er- und 60er-Jahren? Darüber solltenSie einmal diskutieren, und mich würde das Ergebnissehr interessieren. Sie kommen ja aus Nordrhein-Westfa-len,
und da waren reichlich führende Nazis in der FDP unter-wegs.
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3340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Jan Korte
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Herr Korte, ich persönlich finde das, was Sie jetzt ma-
chen, wirklich geschmacklos.
Sie sprechen hier für eine Fraktion bzw. für eine Partei,
die Leute, die aus ihrem Land fliehen wollten, an der
Grenze erschossen hat. Dafür ist niemand aus Nord-
rhein-Westfalen und niemand aus der FDP verantwort-
lich. Die Vergleiche, die Sie hier ziehen, sind wirklich
billig. Wenn Sie sich endlich einmal dazu bekennen wür-
den, dass Sie die Nachnachnachfolger der SED sind,
dann könnten Sie sich hier so äußern. Solange Sie das
nicht tun, haben Sie kein Recht, hier mit dem Finger auf
andere zu zeigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat – das ist ja der An-
lass – die nationale Umsetzung der Richtlinie für verfas-
sungswidrig erklärt. Es hat uns damit deutlich vor Augen
geführt, dass bei der Umsetzung europarechtlicher
Vorgaben genau dieselbe Abwägung in Bezug auf die
Verhältnismäßigkeit zu treffen ist wie bei Fragen natio-
naler Gesetzgebung. Der Gesetzgeber darf nicht einfach
sagen: Das kommt aus Europa, Augen zu und durch! –
Dessen ist sich diese christlich-liberale Koalition sehr
bewusst.
Der Gesetzgeber muss – auch dessen sind wir uns be-
wusst – bei jedem Gesetz die gleiche Sorgfalt walten las-
sen. Ich möchte den Bundesinnenminister zitieren, der
bei einer Veranstaltung in dieser Woche gesagt hat: Ins-
gesamt ist diese Gesellschaft bislang ganz gut damit ge-
fahren, dass der Gesetzgeber sich Zeit gelassen hat. Das
hat auch etwas Freiheitliches. – Da sind wir einer Mei-
nung mit ihm.
Der Bundesinnenminister sagte weiter, dass mit man-
chen Einzeleingriffen das Vertrauen zwischen Gesetzge-
ber und Anwendern gefährdet werden könne, wenn das
Recht nicht systematisch und passend zur technischen
Entwicklung entwickelt wird. – Auch da sind wir einer
Meinung.
– Jetzt wundert mich aber, dass die Kollegen von der
CDU/CSU gar nicht klatschen, wenn ich ihren Minister
zitiere.
Bei der Frage, ob und wie weit der Zugriff auf Tele-
kommunikationsverbindungsdaten zur Gefahrenabwehr
und Strafverfolgung im Internet notwendig ist, geht es
genau darum. Das Bundesverfassungsgericht hat da of-
fensichtlich auf überzeugendere Argumente gewartet
und solche auch immer angefordert; die Bundesregie-
rung hat sie leider nicht liefern können, weil – das muss
man hier auch einmal sagen dürfen – viele Beispiele, die
in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, an den Haaren
herbeigezogen sind. Deshalb lautet meine Bitte: Wenn
man Beispiele ins Feld führt, dann bitte solche, die wirk-
lich treffend sind!
Zu hören ist etwa, dass man Lawinenopfer jetzt nicht
mehr finden kann.
– Der Kollege Herrmann aus Bayern hat von Lawinen-
opfern gesprochen. – Es wäre ein Armutszeugnis, wenn
wir dafür die Vorratsdatenspeicherung bräuchten. Das
macht man mit dem GPS-Signal, damit man ein solches
Opfer hoffentlich noch lebend findet und nicht erst nach
sechs Monaten weiß, wo die Leiche ist. Das wäre ein
bisschen spät für die Rettung.
Zu hören ist ferner, dass Stalking und Phishing nicht
mehr verfolgt werden könnten. Auch das ist ein Beispiel,
das sehr gern gebracht worden ist. Mir ist neu, dass diese
Taten Katalogstraftaten nach § 100 a StPO sind. Es war
bis heute nicht möglich, in solchen Fällen auf diese Da-
ten zuzugreifen. Insofern ist es unredlich, so zu tun, als
ob das jetzt zum Problem würde.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Reichenbach?
Wenn er Spaß daran hat.
Frau Kollegin Piltz, ich mutmaße, Ihre Redezeit neigt
sich so langsam dem Ende zu.
Sie verlängern die Redezeit. Dafür bin ich Ihnen auch
sehr dankbar.
Ja, eben; deswegen meine Zwischenfrage. – NachdemSie nun ausreichend erklärt haben, was alle in der Ver-gangenheit gemacht oder auch nicht gemacht haben,frage ich Sie: Wären Sie bereit, diesem Parlament nochvor Ende Ihrer Redezeit zu sagen, ob Sie der Auffassungsind, dass die Bundesregierung noch vor der Sommer-pause, also noch vor einer Revision der EU-Richtliniezur Vorratsdatenspeicherung, den Entwurf eines Geset-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3341
Gerold Reichenbach
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zes zur Änderung der Regelungen zur Vorratsdatenspei-cherung in den Bundestag einbringen oder auf diese Re-vision warten oder ganz auf die Vorlage einesGesetzentwurfs verzichten soll?
Geschätzter Herr Kollege Reichenbach, so wie ichoder auch Sie wissen wir alle hier, dass wir gezwungensind, europäisches Recht in nationales Recht umzuset-zen.
– Nein, das habe ich nicht. Wenn Sie hier sind, hören Siemir bitte richtig zu oder lassen Sie solche Zwischenrufe!Das muss ich einfach einmal sagen.
– Nein. Warum? Die gehen auch nicht höflich mit mirum.
– Das mag sein. Dass wir alles schuld sind, obwohl Siehier elf Jahre regiert haben, kann ich, ehrlich gesagt,nicht mehr hören. Das muss man Ihnen auch einmal sa-gen dürfen.
Das war ein Gesetz, das Ihre Ministerin gemacht hat. Sie– nicht wir – haben es verabschiedet. Das sage ich Ihnenso oft, wie Sie es hören wollen oder auch nicht hörenwollen.
Ich bin es leid, dass Sie hier keine Verantwortung für dasübernehmen, was Sie gemacht haben.
Aber es ist schön, dass ich das noch einmal sagen durfte.Selber schuld!
– Wir analysieren das Urteil in aller Ruhe.
Dann werden wir, die Fraktionen und die Regierung, dastun, was wir für notwendig halten.
Wir werden Sie darüber rechtzeitig in Kenntnis setzen.
Ich denke, das beantwortet Ihre Frage ganz klar.
– Eigentlich dachte ich, dass man sich sachlich damitauseinandersetzt.
– Bei Ihnen gab es leider nichts, mit dem ich mich sach-lich hätte auseinandersetzen können. Deshalb wollte ichüber die Beispiele reden, die da immer so durch die Ge-gend wabern.Ich komme zu dem Beispiel mit den Flatrates. Wennjemand im Internet unterwegs ist, dann kann man ihnselbstverständlich auch bekommen; denn wenn jemandimmer zur gleichen Zeit im Internet unterwegs ist, kannman diese Daten heute selbstverständlich im Quick-freeze-Verfahren einfrieren. Das wäre im wirklichenLeben so, als wenn jemand sagen würde, dass er um elfUhr jedes Mal dieselbe Bank überfällt und die Polizei ander nächsten Ecke steht.Wir müssen sehr sorgfältig aufpassen, dass wir unsmit solchen Beispielen nicht politisch zu Tode reden. Eskommt darauf an, dass man sieht, was notwendig ist undwas man tun muss, mehr aber auch nicht.An dieser Stelle komme ich auf das Zitat des Bundes-innenministers zurück, das ich eingangs schon einmalbemüht habe: Wir brauchen keine Einzeleingriffsbefug-nisse, sondern einen vernünftigen und systematischenAnsatz, der der Technik entspricht. – Wir glauben, dassdas Quick-freeze-Verfahren ein solcher Ansatz ist.Wir dürfen nicht vergessen, dass wir im Internet eineAufklärungsquote von 80 Prozent haben. Die Aufklä-rungsquote im Internet ist übrigens viel höher als außer-halb des Internets, wo sie bei nur 55 Prozent liegt.Im Internet muss weiter ermittelt werden, aber tat-angemessen, lageangemessen und technikangemessen.Dazu gehören aus unserer Sicht zum Beispiel auch In-ternetwachen, die auf direktem Wege ansprechbar sind.Zudem können bei diesen in den Ländern die Kompeten-zen gebündelt werden.Wenn es aber nur in sieben von 15 Landeskriminal-ämtern eigene Internetabteilungen gibt, dann gibt es si-cherlich noch Verbesserungsmöglichkeiten auf derdurchführenden Ebene, die wir ausschöpfen müssen unddie wir ausschöpfen werden, um Kriminalität zu be-kämpfen.Für uns ist wichtig, dass wir in Europa die Evaluie-rung begleiten, um zu sehen, ob das, was Europa ge-macht hat, wirklich sinnvoll ist. Ich glaube, das steht je-dem gut zu Gesicht. Man muss auch berücksichtigen,dass das noch nicht in jedem Mitgliedstaat umgesetzt ist.Ich bin mir mit dem Kollegen Grosse-Brömer einig: Wirwerden das so sorgfältig wie möglich und so schnell wienötig machen.Vielen Dank.
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3342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
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Das Wort hat nun Kollegin Petra Pau für die Fraktion
die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorweg ein Satz an Sie, Kollegin Piltz: Richtig ist, der
Kollege Korte war nicht Mitglied der SED, aber ich war
Mitglied der SED.
Aus einem schmerzhaften Auseinandersetzungspro-
zess mit der verfehlten Politik der SED, mit dem Schei-
tern des realen Sozialismus und auch aufgrund persönli-
cher Verantwortung, die ich in der DDR getragen habe,
bin ich zu der festen Überzeugung gekommen: Eine so-
zialistische Partei ist nur dann eine linke Partei, wenn sie
Bürgerrechte und Demokratie verteidigt und sich dafür
einsetzt. Das kann der Kollege Korte genauso für sich in
Anspruch nehmen, wie die Kollegin Jelpke und jeder an-
dere Kollege aus der Fraktion Die Linke das für sich in
Anspruch nehmen kann.
– Das könnte Ihnen so passen, dass wir einen neuen Na-
men wählen und uns neu gründen, aber nicht den Ruck-
sack der Geschichte tragen. Nein, mit diesem Rucksack
der Geschichte nehme ich mir heute das Recht, mich mit
politischen Tendenzen auseinanderzusetzen, die aus mei-
ner Sicht falsch sind.
Damit kommen wir jetzt einmal zum Thema. Das
Bundesverfassungsgericht hat die praktizierte Vorratsda-
tenspeicherung aller Telekommunikationsdaten für ver-
fassungswidrig erklärt. Das war gut für den Datenschutz
und wichtig für den Rechtsstaat.
Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, und das
erleben wir heute. Die Begehrlichkeiten nach immer
mehr persönlichen Daten sind ungebrochen. Das zeigen
die ersten Stellungnahmen nach dem Bundesverfas-
sungsgerichtsurteil, zum Beispiel die Stellungnahme von
Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
Deshalb will Bündnis 90/Die Grünen mit dem aktuel-
len Antrag verhindern, dass die gerade gestoppte Vor-
ratsdatenspeicherung durch die EU-Hintertür wieder ein-
geführt und sogar noch ausgeweitet wird. Die Gefahr ist
real, und deshalb unterstützt die Linke den grünen An-
trag.
Zu alledem muss man die Vorgeschichte kennen. Vor
sechs Jahren debattierte der Bundestag erstmals über die
Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsver-
bindungsdaten. Der Bundestag lehnte seinerzeit, also
2004, dieses Ansinnen mit klarer Mehrheit ab.
Dann begann Kapitel 2 der Geschichte. Die damalige
Bundesregierung stampfte in Brüssel so lange mit den
Füßen, bis die EU-Kommission die Vorratsdatenspeiche-
rung verfügte, und zwar verbindlich für alle EU-Mit-
gliedstaaten. Das war 2006.
Kapitel 3 ist genauso schnell erzählt. Die damalige
Regierungskoalition, wieder bestehend aus CDU/CSU
und SPD, beschloss 2007 im Bundestag die noch kurz
zuvor einhellig abgelehnte Vorratsdatenspeicherung.
Man berief sich dabei auf die Europäische Union, quasi
auf einen höheren Notstand.
Kapitel 4 und 5 waren von der CDU/CSU und von der
SPD so nicht erwartet worden. Erst formierte sich unter
dem Kürzel „Vorratsdatenspeicherung“ eine bundes-
weite Bürgerrechtsbewegung. Sie drohte obendrein mit
Massenklagen beim Bundesverfassungsgericht. Dann
entschied das Bundesverfassungsgericht nach einer
Klage gegen den EU-Vertrag von Lissabon, dass EU-
Recht mitnichten deutsches Recht breche, jedenfalls
nicht, wenn dies gegen das Grundgesetz verstoße. Das
war 2009. Erfolgreich geklagt hatte übrigens die Linke.
Kapitel 6 fand am 2. März 2010 ein vorläufiges Ende.
In seinem Urteil erklärte das Bundesverfassungsgericht
die praktizierte Vorratsdatenspeicherung aller Telekom-
munikationsdaten für verfassungswidrig und das ent-
sprechende Gesetz für null und nichtig.
Umgehend folgte Kapitel 7. Während die einen das
Urteil des Verfassungsgerichts als Erfolg für den Rechts-
staat priesen, bliesen die anderen sofort zur nächsten At-
tacke. Und wieder droht der Trick aus Kapitel 2, nämlich
der Umweg über die EU-Instanzen.
Deshalb möchte ich anmerken: Wer unentwegt nach
Wegen sucht, verbriefte Bürgerrechte auszuhebeln, der
missachtet die Bürgerinnen und Bürger, gefährdet die
Demokratie und lanciert die Europäische Union in eine
zwielichtige, bürgerferne Ecke. Ich halte das für gefähr-
lich.
Nun fordert der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
– ich zitiere: –
Die Bundesregierung möge auf der europäischen
Ebene Vorhaben, die Vorratsdatenspeicherungen
vorsehen, energisch … entgegentreten.
Ich hätte in diesem Antrag gern ein Wörtchen mehr,
nämlich „alle“ Vorhaben. Stichworte wie ELENA, elek-
tronischer Personalausweis oder elektronische Gesund-
heitskarte gehören dazu. Deshalb fordert die Linke im
Übrigen immer noch ein Moratorium für all diese elek-
tronischen Großprojekte.
Danke.
Das Wort hat nun Wolfgang Wieland für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3343
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(B)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach derHaushaltsdebatte vergangene Woche wurde ich aus denReihen der Union von den Kollegen Brandt undBinninger kritisiert: Immer nur auf die FDP einschlagen– wo bleiben eigentlich wir? – Das war offenbar eine ge-fühlte Missachtung durch Nichterwähnung. Ich will sieheute wieder gutmachen.
In der Tradition meiner Fraktionsvorsitzenden, diediese Woche schon Richard von Weizsäcker gelobt hat,will ich herausragende Konservative loben. Da ist zumeinen Ernst Benda, seinerzeit Bundesinnenminister undvon mir noch Bunker-Benda genannt, weil es die Zeitder Notstandsgesetzgebung war. Später hat er uns alsPräsident des Bundesverfassungsgerichts alle mit demwegweisenden Volkszählungsurteil überrascht, das dasRecht auf informationelle Selbstbestimmung erstmalsfestgeschrieben hat und den schönen Satz enthielt, dasses keine Vorratsdatensammlungen ins Blaue gebendürfe. Wir bleiben bei diesem Satz. Das ist unsere grund-sätzliche Haltung geblieben. Das war so unter Rot-Grün,Herr Kollege Heveling. Otto Schily hat sich unter Rot-Grün nicht durchgesetzt. Deswegen haben wir die Be-schlüsse, die die Kollegin Pau zitiert hat, hier im Plenummit Mehrheit gefasst. Wir wollen keine Vorratsdaten-speicherung. Aus eigenem Erleben sagen wir: Wir wol-len sie erst recht nicht auf dem Umweg über Brüssel.Dabei bleibt es.
Aber es gibt noch mehr Persönlichkeiten. RomanHerzog schuf als Gerichtspräsident die Brokdorf-Ent-scheidung, und last, but not least hat Hans-Jürgen Papierdas gemacht, was Jutta Limbach die permanente „verfas-sungsgerichtliche Nachhilfe“ nennt. Das bezog sich aufdie Rasterfahndung, den großen Lauschangriff,
die Onlinedurchsuchung – danke, Herr Kollege Stadler.Wir waren immer dagegen.
– Es ist doch nett, wenn ein Parlamentarischer Staats-sekretär an seine gute Vergangenheit als Bürgerrechtlerauch dann denkt, wenn er auf der Regierungsbank ist. –Zum Schluss ist die Vorratsdatenspeicherung zu nennen.Sie haben nicht etwa gesagt, das seien starke Urteiledurch starke Richterpersönlichkeiten, sondern Sie habengestöhnt und den Untergang der Rechtsordnung und dasEnde der Strafverfolgung vorausgesagt – so auch beimletzten Urteil; Beispiele wurden genannt. Der Innenaus-schussvorsitzende Bosbach hat sogar behauptet, Stalkingkönne nun nicht mehr verfolgt werden. Dies ist ein abso-luter Unsinn. Das ist Ihre Methode.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie habenleider noch nicht gelernt – da sind Sie in gewisser Weiseunbelehrbar –, dass es nicht nur Sicherheit durch denStaat, sondern auch Sicherheit vor dem Staat gebenmuss. Bei Ihnen geht es immer nur in Richtung Ver-schärfung. Es gibt keine Sättigungsgrenzen bei IhrenKampagnen mit der Angst und der inneren Sicherheit.Weil uns die Kollegin Piltz zur Sesamstraße geführt hat,sage ich Ihnen: Wie das Krümelmonster nach Keksenruft, so rufen Sie ständig nach neuen Gesetzen. Das istunersättlich, das ist unerträglich. Das waren die wahrenWorte zur CDU/CSU, die Sie angefordert hatten.
Wir geben natürlich zu, Frau Kollegin Piltz, dass manes mit diesem Koalitionspartner schwer hat. Aber es wardoch Ihre Traumhochzeit. Sie wussten doch aus der Nah-beobachtung über Jahre, mit wem Sie da zusammenge-hen.
Dennoch haben Sie keinen Ehevertrag mit Nägel undKöpfen gemacht, sondern eine völlig schwammige Ver-einbarung getroffen, die so war, dass der Innenminister– gerade 14 Tage im Amt – auf der Herbsttagung desBKA erklärte – ich zitiere den Behörden Spiegel, der nunwirklich kein linksradikales Blatt ist –:Das Wichtigste fürs BKA kam zum Schluss. DieNeuregelung des BKA-Gesetzes bleibt in allenPunkten bestehen. Damit kriege die Polizei, sode Maizière, was sie brauche.Ich stelle fest: Es gibt 100 Prüfaufträge in Ihrer Koali-tionsvereinbarung und einen Minister, der sagt: „Das al-les gilt überhaupt nicht.“ Letzte Woche wurde hier eineEvaluierung angekündigt. Die Evaluierungscrew ringsum Eckart Werthebach wurde auf dieser Tagung desBKA offenbar spontan zusammengestellt. Keine bürger-rechtliche Komponente und keine Wissenschaftskompo-nente sind vorgesehen. Dies alles, auch die Evaluierung,ist doch eine Farce. Auch wie Sie sich hier behandelnlassen, ist eine Farce.
Sie, liebe Frau Piltz, sind – das wissen wir – ein gro-ßer Fan von Düsseldorfer Vereinen. Deswegen sage ichin der Sprache der Fans: Wir erwarten nicht viel; aberwir wollen Sie wenigstens kämpfen sehen.
Das Gleiche gilt für das Gesetz zu Internetsperren imZusammenhang mit Kinderpornografie.
– Hören Sie doch mal zu. – Sie schreiben in Ihrer Koali-tionsvereinbarung, das Gesetz werde ein Jahr lang aus-
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3344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Wolfgang Wieland
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gesetzt. Im Januar dieses Jahres schreibt das Hausde Maizière im Zusammenhang mit dem Haushalt 2010an das Parlament – ich zitiere –:Aufgrund der besonderen Bedeutung des Internetsin diesem Deliktsbereich beschreitet das BKA inder Umsetzung des sogenannten Access Blockingeinen in Deutschland bislang nicht verfolgten Be-kämpfungsansatz.Das heißt, im BKA und im Innenministerium ist nichtangekommen, dass Sie das Gesetz angeblich gestoppthaben. Schon die zweite Reihe der Abgeordneten – Kol-lege Wellenreuther oder wer auch immer – sagt, ein Jahrsei Ruhe, dann wolle man es aufs Neue haben. Von dahersage ich: Sie kannten Ihren schwierigen Partner. Sie hät-ten ganz anders mit ihm verhandeln müssen. Dann hät-ten Sie ganz andere Dinge vorzuweisen als das, was bis-her vorgelegt wurde.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ein Letztes, Herr Präsident.
Sie wollen ja keine Ratschläge hören, wie Sie vorhin
gesagt haben. Ich gebe Ihnen dennoch einen; so nett bin
ich. Mein Rat zum Schluss: Speichern Sie auf Vorrat Be-
sonnenheit und Vernunft. Aber hören Sie auf mit der
Vorratsdatenspeicherung.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Michael Frieser für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Der Kollegin Piltz kann ich nach eigenemBekunden nicht nur in der Ausschussdiskussion, sondernauch sonst im Parlament sehr wohl bestätigen, dass siezum Kämpfen nicht nur bereit ist, sondern dies auch tut,wenn es um ihre Themen und ihre Ansätze geht.
Insofern, Herr Wieland, besteht auch an dieser Stellekeine Notwendigkeit zur Nachhilfe.Wenn man allein den Titel des Antrages „Keine Vor-ratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“ liest,dann wird klar, dass wir noch eine Flut von Anträgen ausdieser Ecke zu erwarten haben. Ich warte noch immergespannt auf einen Antrag „Keine Sozialistische Interna-tionale auf dem Umweg über Europa“ und bin gespannt,zu sehen, wie die Grünen einen solchen Antrag begrün-den werden.Leider Gottes muss man immer wieder das Prinzipder pädagogischen Wiederholung anwenden. Man mussfolgende Tatsche immer wieder betonen – ich hoffe, wirkönnen wenigstens das festhalten –: Das Bundesverfas-sungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung nichtgänzlich für verfassungswidrig erklärt. Das ist der erstePunkt, den wir festhalten müssen.Beim zweiten Punkt müssen wir etwas genauer hinse-hen. Sie versuchen immer wieder, den Eindruck zu er-wecken – Herr Wieland, das nehme ich Ihnen fast per-sönlich übel –,
der Staat würde diese Daten sammeln.
Dieser Eindruck ist nicht nur falsch, sondern Sie behaup-ten das wider besseres Wissen. Diese Daten werdennicht vom Staat gesammelt. Sie fallen ohnehin an. Dasmuss man deutlich sagen.
Von daher ist der Denkansatz im Antrag der Grünen ver-kehrt, weil davon ausgegangen wird, dass alle Menschenunter Generalverdacht gestellt werden. Das ist definitivnicht der Fall.
Diese Daten sind ohnehin vorhanden. Es geht also nichtdarum, die Menschen unter Verdacht zu stellen. Ich bitteSie, das zur Kenntnis zu nehmen.Über den Umgang mit Sicherheitslücken haben wiruns schon ausgetauscht. Ich glaube, man sollte das eineoder andere Beispiel noch einmal anführen. Frau Kolle-gin Piltz, in einer Koalition kann man gerne auch malunterschiedlicher Auffassung sein, beispielsweise beider Frage des dringenden Bedarfs. In dieser Hinsichtbrauchen wir von der SPD keine Nachhilfe. Denn das,was die Koalition aufgrund dieses Diskurses aushaltenmuss, erlebt die SPD innerhalb ihrer eigenen Reihen. Ihrbraucht also keinen anderen dazu, um etwas aushalten zumüssen.Reden Sie mit dem BKA, dann wissen Sie, um wel-che Beispiele es geht. Es geht beispielsweise darum,dass sich Pädophile im Chat damit brüsten, dass sie Wo-chenende für Wochenende ihre minderjährigen Kindermissbrauchen. Unter der Woche ist das BKA nicht in derLage, auf die Daten zurückzugreifen, um dagegen einzu-schreiten, weil die Daten nicht mehr vorhanden sind.Dem wollen wir einen Riegel vorschieben. Deshalbbrauchen wir eine verfassungsgemäße Umsetzung derVorratsdatenspeicherung. Ich bin der Überzeugung, wirkönnen und werden das auch tun. Es ist nun einmal eineTatsache, dass eine Sicherheitslücke besteht.
Ich bin schon immer ein Verfechter eines gesundenMisstrauens gegenüber dem Staat gewesen. Natürlich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3345
Michael Frieser
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gibt es in dieser Hinsicht Sorgen und Ängste; denn wirhaben eine lange Tradition. Ich spiele damit zum Bei-spiel auf die Tradition der SED an. Seit Metternich mitseinem Bespitzelungsstaat bis hin zur dunkelsten Ge-schichte der DDR gilt: Es ist richtig, vorsichtig zu seinund ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Staat zuhaben und sich zu fragen, ob er eventuell zu viel Infor-mationen hat und wofür er sie eigentlich braucht.
Im Ergebnis geht es darum, die Interessen abzuwä-gen, nämlich die Wahrnehmung von Strafverfolgung aufder einen Seite und der Garantiepflicht des Staates aufder anderen Seite.
Der Bürger hat einen Anspruch darauf, dass der Staat ihnbestmöglich schützt. Deshalb kommt es darauf an, dasswir bei dieser Frage mit Augenmaß, aber auch zügighandeln. Wir können auf den Innenminister verweisen.Er will entsprechende Regelungen zeitnah auf den Wegbringen und umsetzen. Ich bitte dringend darum, dasswir nicht dieses diffuse Gefühl der Überwachung undder ständigen Sammelwut des Staates bedienen, nur weiles im Augenblick ins parteipolitische Kalkül passt. Dasist der falsche Weg.
– Herr Montag, zu Ihnen komme ich noch, keine Angst.Gemäß dem pädagogischen Prinzip der Wiederholungstelle ich Folgendes fest: Wir haben Sicherheitslücken.Ich bitte Sie, es nicht nur dem BKA, sondern auch denjeweiligen Fraktionen zu überlassen, sich mit dieserFrage zügig zu beschäftigen, damit die Defizite behobenwerden können.Es reizt mich, noch eine Bemerkung zum Thema„Sperren und Löschen“ zu machen. Herr KollegeMontag, Sie sagen, dass man dem BKA-Präsidenten des-halb nicht trauen darf, weil er sich früher für das Sperrenvon Internetseiten ausgesprochen hat. Für die Unionkann ich sagen: Weil es um kinderpornografische Seiten,um Straftaten höchsten Ausmaßes geht, werden wir allestun, was in unserer Macht steht, um solche Straftaten zuverhindern, egal auf welchem Weg.
Wenn das durch eine Sperre erreicht werden kann, dannsperren wir eben. Wenn wir das durch Löschen errei-chen, dann löschen wir.Herr Montag, Sie sagen, Sie wollen nicht sperren. Daserinnert mich an das Beispiel der roten Ampel. Eine roteAmpel kann man auch überfahren. Sie soll aber davorwarnen, dass man, wenn man sie überfährt, eine Ord-nungswidrigkeit, eine Straftat begeht. Ich halte diesenVergleich für absolut stichhaltig.
Im Ergebnis kann ich nur sagen: Wir haben den Auf-trag, das zu tun, was in unserer Macht steht, damit wirsolchen Straftaten begegnen können. Das ist bei derFrage der Sperrung und bei der Frage der Vorratsdaten-speicherung so. Wir wollen den Staat nicht in die Lageversetzen, alles und jeden zu überwachen, im Gegenteil.Aber dort, wo Daten ohnehin anfallen, sollten wir sie ef-fektiv ausnutzen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Eva Högl für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Piltz, Sie haben Ihre Redezeit mit Beschimpfungenund alten Hüten gefüllt. Wir wollten aber von Ihnen hö-ren, was Sie zu tun gedenken,
was Sie in Sachen Vorratsdatenspeicherung vertreten.Frau Kollegin, dazu habe ich leider, obwohl Sie sehrlange gesprochen haben, kein einziges Wort gehört.
– Da muss ich durch, sagen Sie. Das finde ich einiger-maßen interessant. Sie regieren, und ich muss da durch,dass Sie keine Konzepte haben.
– Da müssen wir alle durch. Auch die Bürgerinnen undBürger in Deutschland und in Europa müssen da durch,dass Sie keine Konzepte haben.Frau Kollegin, Sie haben gesagt, Sie analysieren ersteinmal und warten ab, was aus Europa kommt.
Das ist zu wenig. Wir wollen hier in Deutschland überIhre Konzepte diskutieren. Das Bundesverfassungsge-richt hat im Übrigen über ein deutsches Gesetz geurteilt.Sie haben dagegen geklagt, und deswegen sind Sie jetztgefordert.Trotz des desaströsen Auftretens der Koalition bin icheine Optimistin; das will ich hier einmal zum Ausdruckbringen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, aberauch die Gesamtlage in Europa bieten eine Chance, dassDatenschutz und Bürgerrechte wieder eine größere Rollespielen.
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3346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Dr. Eva Högl
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Ich finde, wir sollten diese Chance jetzt ergreifen. Dasses sie gibt, meine ich sehr ernst.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass das unermüdlicheEngagement von Datenschützerinnen und Datenschüt-zern, von engagierten Parlamentarierinnen und Parla-mentariern, aber auch von den Gerichten – Sie, HerrKollege Wieland, haben auch Konservative genannt, diedabei waren – dazu beiträgt, dass Gesetze überprüft wer-den und wir zu einer guten Balance zwischen Bürger-rechten und den notwendigen Sicherheitsgesetzen kom-men.Ich will auf die Internetsperren und SWIFT zu spre-chen kommen. Wir haben gezeigt, wie mit einer enga-gierten Auseinandersetzung die richtigen Akzente ge-setzt werden können und die notwendige Balancezwischen den Maßnahmen und der Wahrung der Bürger-rechte geschaffen werden kann. Das führt dazu, dass ichoptimistisch bin.
Es gibt noch einen anderen Grund, nämlich Europa.Auch Europa fordert eine Neubewertung dieser Gesetze.Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, zu einer Neubewer-tung zu kommen. Der Vertrag von Lissabon ist eine wei-tere Chance; denn er bietet eine hervorragende Grund-lage für mehr Grundrechte und mehr Datenschutz.Wir haben die Grundrechtecharta. Darüber wird vielzu wenig diskutiert, und sie wird viel zu wenig beachtet.Die Grundrechtecharta ermöglicht es, dass wir unsereGesetze und eben auch die Richtlinie zur Vorratsdaten-speicherung noch einmal überprüfen und vielleicht zu ei-ner neuen Abwägung kommen.Frau Kollegin Piltz und liebe Kolleginnen und Kolle-gen von den Koalitionsfraktionen, Europa läuft nichtvon selbst. Auch eine Überprüfung durch die Europäi-sche Kommission läuft nicht von selbst. Man muss sichpositionieren. Man muss Europa gestalten und sagen,was man möchte. Man kann nicht einfach bis zumHerbst warten und schauen, was aus Richtung Europakommt. Wir erwarten von Ihnen und der Bundesregie-rung, dass Sie sagen, was Sie in Europa gestalten wollen.Ich will in diesem Zusammenhang noch einen Satz zuEuropa und zu den Parlamenten sagen – auch das halteich für wichtig –: Der Vertrag von Lissabon stärkt dieParlamente. Darüber haben wir hier im Deutschen Bun-destag schon öfter diskutiert. Darüber sind wir auch sehrfroh. Das Europäische Parlament hat uns vorgemacht,nämlich bei der Abstimmung über SWIFT, wie man dieRechte des Parlaments nutzt, wie man sich deutlich äu-ßert und klar Position bezieht. Daran können wir unshier im Deutschen Bundestag ein Beispiel nehmen. Ichfinde – das sage ich als Europapolitikerin –, wenn wirklare Akzente bei Bürgerrechten, Datenschutz undGrundrechten setzen, dann tragen wir dazu bei, dass Eu-ropa von den Bürgerinnen und Bürgern besser akzeptiertwird, dass es positiv bewertet wird, weil auf der europäi-schen Ebene Bürgerrechte nicht wie ein Stiefkind behan-delt werden, sondern der zentrale Maßstab für unserePolitik sind.Ich sage es noch einmal: Jetzt ist die Bundesregierunggefragt. Ich habe eben schon gesagt, dass ich Optimistinbin, dass es jetzt ein Zeitfenster und eine Chance fürmehr Bürgerrechte gibt. Ich bin aber keinesfalls optimis-tisch, wenn ich auf die Politik der Koalitionsfraktionenund der Bundesregierung schaue. Da bin ich sehr skep-tisch.Die Bundesjustizministerin – Sie ist heute leider nichtda –
– genau, das ist auch richtig; Herr Staatssekretär, Sie sindja da – betont bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wiewichtig ihr Bürgerrechte sind. Aber wir brauchen Taten.Wir lesen Sonntagsreden und Presseerklärungen, aber Ta-ten haben wir bisher nicht gesehen. Ich sehe nicht – auchdas muss ich sagen –, dass sich die Justizministerin in derKoalition durchsetzen kann. Kollege Reichenbach hatdargelegt, was die FDP und die Justizministerin vertretenbzw. was CDU/CSU und der Innenminister vertreten. Daspasst nicht zusammen; das konnten wir heute in der De-batte wieder sehen. Sie haben sich ja sogar beklagt, dassIhr Koalitionspartner nicht applaudiert, wenn Sie zu demThema reden und sogar den Minister zitieren.
Wir konnten auch beim SWIFT-Abkommen beobach-ten, dass sich die Justizministerin leider nicht durchset-zen konnte und dass Bürgerrechte nicht großgeschriebenwerden.
Wir werden Sie an Ihren Taten messen. Herr KollegeAhrendt, Sie haben gesagt – ich sehe ihn gerade nicht,ich weiß nicht, ob er noch anwesend ist –: Wir haben dieRichtlinie nicht gewollt. Sie haben gegen das deutscheGesetz geklagt. Sie haben jetzt die Chance, zu handeln.Wir werden ganz gespannt verfolgen, wie Sie handeln.Wir werden auch hier im Deutschen Bundestag weiterengagiert darüber diskutieren.
Wir als SPD werden Sorge dafür tragen, dass Bürger-rechte und Datenschutz großgeschrieben werden, unddas nicht nur in Deutschland, sondern auch auf der euro-päischen Ebene.Vielen Dank.
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Das Wort hat nun Clemens Binninger für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Am Ende der Debatte kann man feststellen – das wird
niemanden überraschen –, dass zwischen uns, zwischen
den einzelnen Fraktionen, große Unterschiede und zwi-
schen den Regierungsfraktionen vielleicht kleine Unter-
schiede bestehen. Das ist aber nichts Neues. Eines würde
ich mir für die Zukunft wünschen: Bei diesem Thema
– kein Redner der Opposition hat sie in dieser Debatte
auch nur einmal erwähnt – müssen wir auch über die Op-
fer reden, um die es geht, wenn wir Straftaten aufklären
und verhindern wollen. Sie haben unsere Aufmerksam-
keit verdient. Wir müssen auch sie betrachten und dürfen
nicht so tun, als ob es sie nicht gibt.
Die Freiheit im Internet und auch alles andere Posi-
tive, was das Internet bietet, sind wichtig. Sie tun gerade
so, als ob die Vorratsdatenspeicherung ein Selbstzweck
wäre. Das ist sie nicht. Ich will darauf hinweisen, dass
große Teile der Bevölkerung von Ihnen ein Stück weit
verunsichert werden
mit der unterschwelligen Mutmaßung, dass der Staat
diese Daten speichert. Der Staat speichert überhaupt
keine Daten.
Diese Daten fallen, ob mit oder ohne Gesetz, bei den Te-
lefonanbietern und bei den Internetprovidern an. Sie fal-
len in jedem Fall, auch heute ohne Gesetz, an. In dem
entsprechenden Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung war
vorgesehen, die Anbieter zu verpflichten, die Daten ein-
heitlich zu speichern
und nicht nach einem Tag, einer Woche oder drei Mona-
ten zu löschen, wie es in der Vergangenheit der Fall war.
Nur bei Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für
Straftaten und Gefahren darf der Staat unter Hinzuzie-
hung eines Richters auf die Daten zugreifen.
Ich finde, das ist ein kolossaler Unterschied zu dem Bild,
das Sie hier zeichnen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Jederzeit. Ich hatte eigentlich mit Kollegen Wieland
gerechnet, aber ich akzeptiere auch Zwischenfragen von
anderen Grünen.
Danke sehr, Herr Präsident, und Dank auch an Sie,
Herr Kollege Binninger. – Sie haben hier zu Recht ange-
sprochen, dass die Daten nicht beim Staat gespeichert
werden; das hat auch nie jemand behauptet. Wir sagen
immer: Der Staat lässt speichern. Dem werden Sie ja
nicht widersprechen.
Sie haben gerade gesagt, bei der Vorratsdatenspeiche-
rung seien sowieso nur die Daten gespeichert worden,
die angefallen sind. In dem Zusammenhang frage ich
Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass es
im Rahmen der Beratungen eines Gesetzentwurfs in der
letzten Legislaturperiode – auch da waren Sie in Regie-
rungsverantwortung – um die Frage ging: Wie regeln wir
die Kosten, die die Unternehmen durch die Vorratsdaten-
speicherung haben? Dazu hatte der Rechtsausschuss eine
Sachverständigenanhörung durchgeführt. Dabei waren
Vertreter aller großen, aber auch kleinerer Firmen, die
zur Speicherung von Daten verpflichtet sind. Ich habe
sie alle persönlich gefragt: Stimmt die Behauptung, dass
Sie jetzt verpflichtet sind, die Daten, die sowieso bei Ih-
nen anfallen, zu speichern? – Alle haben mir gesagt
– das steht auch so im Protokoll –: Das ist falsch. Wir
müssen nach den Regelungen zur Vorratsdatenspeiche-
rung viel mehr Daten und viel länger speichern, sogar
solche Daten, die bei uns überhaupt nicht anfallen wür-
den, wenn wir keine entsprechenden Routinen und Pro-
gramme einführen würden.
Ich frage Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass der Bundestag längst darüber informiert ist,
dass es nicht stimmt, dass nur die Daten, die sowieso an-
gefallen sind, gespeichert worden sind?
Herr Kollege Montag, ich bin nicht bereit, das zurKenntnis zu nehmen. Ich habe gesagt – wenn Sie mir ge-nau zugehört hätten, wüssten Sie das –: Daten, die beimBetrieb anfallen. Es ist richtig, dass viele Provider ange-sichts der technischen Entwicklungen und auch der Ein-führung von Flatrates gesagt haben: Daten, die wir frühergebraucht haben, zum Beispiel für Rechnungen – damalshat sich übrigens niemand gestört oder verfolgt gefühlt,dass alle möglichen Daten für drei, vier, fünf, sechs Mo-nate zur Ermittlung von Tarifmodellen gespeichert wur-den –,
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3348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Clemens Binninger
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brauchen wir heute zum Teil nicht mehr, weil wir Flatra-tes eingeführt haben. – Beim Betrieb fallen diese Datentrotzdem an, auch wenn sie von vielen Providern sofortgelöscht werden.Insofern ist das für uns keine Veranlassung, zu sagen:Ihr müsst jetzt neue Daten, die beim Betrieb nicht anfal-len würden, generieren und uns bereitstellen. Hier gehtes um Daten, die beim Betrieb von Telekommunika-tionsnetzen, bei der Nutzung von E-Mail und Internetanfallen. Ich bestreite nicht, dass viele Provider sagen:„Wir brauchen diese Daten nicht“ und sie sofort löschen.Aber beim Betrieb fallen diese Daten, wie gesagt, an.Was wir in diesem Hause brauchen, ist ein gemeinsa-mes Verständnis. Die Internettechnologie schreitet immerweiter voran, und jeder von uns hat einen Bezug zu die-sem Medium. Dennoch müssen wir zur Kenntnis neh-men, dass das Internet – trotz all seiner positiven Eigen-schaften und bei der Freiheit im Internet, die wir wollen –leider auch ein Tatraum ist, in dem bestimmte Straftatenbegangen werden.Da wir für die Arbeit der Sicherheitsbehörden verant-wortlich sind, müssen wir ihnen die Instrumente an dieHand geben, die sie brauchen, um bei schweren Strafta-ten im Internet zu ermitteln. Das muss der Konsens sein,auf dessen Grundlage wir über dieses Thema diskutie-ren. Das ist der Ausgangspunkt unserer Überlegungen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz?
Es ist leider immer noch nicht der Kollege Wieland,
aber ich gestatte auch dem Kollegen von Notz eine Zwi-
schenfrage.
Herrn Wieland heben wir uns bis ganz zum Schluss
auf. – Vielen Dank, Herr Präsident.
Herr Kollege Binninger, was sagen Sie zu den bemer-
kenswerten Zahlen der Kriminalitätsstatistik, die bele-
gen, dass Straftaten im Internet zu über 80 Prozent auf-
geklärt werden, während Straftaten in der realen Welt
– so nenne ich sie einmal – nur zu 55 Prozent aufgeklärt
werden? Da Kindesmissbrauch – weil dieses Beispiel
gleich bestimmt wieder angeführt wird, füge ich das
hinzu – in der realen Welt stattfindet, frage ich Sie: Wa-
rum verspüren Sie nicht einen enormen Antrieb, auch in
der realen Welt auf eine effektivere Strafverfolgung hin-
zuwirken?
Wir Grüne wünschen uns auch in der realen Welt eine
effektivere Strafverfolgung. Da Sie gerade von einem
Tatraum Internet gesprochen haben, muss ich Ihnen sa-
gen: Die Verfolgung von Straftaten, die im Internet be-
gangen wurden, ist hochgradig effektiv. Das würden wir
uns auch für die reale Welt wünschen.
Herr Kollege von Notz, ich halte nichts davon, dieStrafverfolgung in der realen Welt und ihre Aufklärungs-quote sowie die Strafverfolgung im Internet und ihre Auf-klärungsquote gegeneinander aufzurechnen. Ich halte esauch für einen denkbar schlechten Ansatz, im Hinblickauf die Schwere von Straftaten Rechtsprinzipien wie Ver-hältnismäßigkeit und Ermessensreduzierung auf null, diees im Polizeirecht gibt, mit betriebswirtschaftlichenKennzahlen – wie 80 und 55 Prozent – auszuhebeln. Ichfinde, das ist die falsche Auffassung.Wir müssen die Straftaten, die geschehen, analysieren.Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen – ich kommenachher darauf zurück und nenne Ihnen dann ein ganzkonkretes Beispiel –, dass im Internet schwere Straftatengeschehen, die, weil die geeigneten Instrumente fehlen,nicht mehr aufgeklärt werden können, dann darf unsdiese Erkenntnis nicht ruhen lassen, egal ob es um 5, 10oder 15 Prozent der Straftaten geht. Das ist unsere Auf-fassung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Dissenssollten wir uns in dieser Diskussion von zwei Fakten lei-ten lassen. Fakt eins: Das Bundesverfassungsgericht hatnicht die Vorratsdatenspeicherung per se für verfas-sungswidrig erklärt; es hat lediglich kritisiert, dass diekonkrete Ausgestaltung verfassungswidrig ist. Fakt zwei:Im Zeitalter des Internets und angesichts mehr Handy-anschlüssen in Deutschland als Einwohnern und einerzunehmenden Verbreitung des Internets ist die Vorrats-datenspeicherung eine Ermittlungsmethode, auf die diePolizei, auf die die Sicherheitsbehörden nicht verzichtenkönnen. Das sind die beiden Fakten, an denen wir unsorientieren sollten.
Jetzt zwei Sätze zu dem Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts. Wir haben dieses Urteil zu akzeptierenund zu respektieren. Es ist unsere Pflicht, dieses Urteilumzusetzen. Man darf aber gegenüber der Öffentlichkeitdarauf hinweisen, dass dieses Urteil nicht so einig gefälltwurde, wie es uns die Gegner der Vorratsdatenspeiche-rung gern glauben machen würden: Zwei der acht Rich-ter hatten ein abweichendes Votum, waren der Auffas-sung des Gesetzgebers.In der Frage, ob das Gesetz für einen Übergangszeit-raum noch angewandt werden soll oder vielmehr sofortaußer Kraft zu setzen ist, inklusive einer Löschung dergespeicherten Daten, ging die Abstimmung denkbarknapp aus: Vier Richter waren dafür, das Gesetz für ei-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3349
Clemens Binninger
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nen Übergangszeitraum bestehen zu lassen, vier Richterwaren dagegen. Das muss man bei der Diskussion be-rücksichtigen. Man muss anerkennen, dass dieses Themazu schwierig ist, als dass auch nur eine Fraktion hier be-haupten könnte, der Weisheit letzten Schluss zu haben.
Wenn wir das berücksichtigen, müssen wir uns fragen,welche Auswirkungen das Urteil – das ist der Auftragfür den Gesetzgeber – für die Praxis hat.Wir können noch lange Gefechte führen, wer unterRot-Grün für alles zu haben war, was an Sicherheitsmaß-nahmen beschlossen wurde. Ich bedanke mich, KollegeReichenbach, dass Sie zu dem, was wir in der GroßenKoalition beschlossen haben, stehen. Dass wir in derchristlich-liberalen Koalition jetzt eine Aufgabe haben,die wir zu erfüllen haben, gehört auch dazu.Wir sollten uns, wie schon gesagt, Gedanken machen,was für Auswirkungen dieses Urteil in der Praxis hat.Der Kollege Uhl hat hier letzte Woche in der Haushalts-debatte einen dramatischen Fall von Kindesmissbrauchgeschildert. Da man die IP-Adressen jetzt nicht mehr er-mitteln kann, hat die Polizei keine Handhabe gegen denTäter, der sich im Internet mit dieser schrecklichen Tatbrüstet. An dieser Stelle haben Sie, Herr KollegeWieland – ich bekomme meine Zwischenfrage schonnoch –,
dazwischengerufen, dass beim Internet solche Möglich-keiten noch bestehen und dass wir das Urteil genau lesensollten.Da ich weiß, dass Sie selten aus der Hüfte schießen,habe ich das Urteil zu diesem Punkt noch einmal gele-sen. Aber auch für diesen Teil des Gesetzes zur Vorrats-datenspeicherung gilt die Nichtigkeit. Das heißt, alle ge-speicherten Daten sind zu löschen, und es sind keineDaten mehr zu speichern. Ich habe daraufhin bei einemPraktiker angerufen und ihn gebeten, mir den Sachver-halt zu schildern.
– Sie dürfen, auch wenn der Präsident mir noch nichtszugeflüstert hat.
Ich wollte, dass Sie genießen können, wie Herr
Wieland aufsteht und auf Sie reagiert. – Bitte schön,
Kollege Wieland.
Herr Kollege Binninger, schon um mir nicht wieder
den Missachtungsvorwurf einzuhandeln oder Ihnen gar
das Osterfest zu vermiesen, –
Das würden Sie nicht schaffen.
– frage ich jetzt: Ist Ihnen denn entgangen, dass ich
mir bei meiner Frage – der Kollege Uhl war schon weg;
der Kollege Grosse-Brömer brachte aber dasselbe Bei-
spiel – sozusagen den Kopf der Sicherheitsseite zerbro-
chen habe?
Sie haben zu Recht gesagt, dass die Entscheidung
beim Bundesverfassungsgericht mit vier zu vier in dieser
Frage sehr umstritten war. Man muss aber auch einmal
sehen, dass immerhin die Hälfte der Richter die Art, wie
die Vorratsdatenspeicherung eingerichtet war – was an
Vorratsdaten gesammelt wurde und wie diese gespei-
chert wurden –, so daneben fand, dass sie den gravieren-
den Schritt gemacht haben, diese Regelung nicht einmal
für eine Übergangszeit in Kraft zu lassen.
In Ziffer 4 des Tenors des Urteils steht ausdrücklich:
Zu löschen sind die Telekommunikationsverkehrsdaten.
In der Begründung des Urteils wird aber ausführlich be-
schrieben, dass nach Ansicht des Gerichtes die IP-
Adressen nicht die Telekommunikationsverkehrsdaten
selbst seien. Ich gebe zu, das ist juristisch ein bisschen
schwierig. Ich gebe auch zu, dass mein Kollege Montag
das spontan nicht so sieht, wie ich es sehe.
Aber warum sperren Sie sich dagegen, dass man das
einmal abklopft – in der Spitze des BKA sitzen schließ-
lich keine Juristen; die Juristen sitzen woanders und soll-
ten auch hinzugezogen werden – und die Analyse durch-
geführt hat, die die Kollegin Piltz angesprochen hat?
Man könnte ja mit den Diensteanbietern eventuell zu
dem Ergebnis zu kommen: Nicht alles muss gelöscht
werden. Die IP-Adressen kann man davon ausnehmen. –
Warum, so frage ich mich, wird das von Ihnen abge-
wehrt?
Wir sperren uns überhaupt nicht dagegen. Aber ichwill deutlich machen, dass es nach dem Urteil eine wirk-lich große Sicherheitslücke in diesem Bereich gibt. Ichwill – Sie dürfen sich gerne setzen, weil ich das sowiesogebracht hätte – ein praktisches Beispiel schildern. Beialler juristischen Auslegung hilft es nichts, wenn es inder Praxis anders aussieht. Ich habe in dieser Woche miteinem Kollegen von der Polizei telefoniert, der speziel-ler Internetermittler ist, und ihn gefragt: Welche Auswir-kungen hat das Urteil für Sie konkret in der Praxis? – Erhat mir folgenden Fall geschildert und Auszüge aus Ant-worten der Provider vorgelesen. Dieses Beispiel mussuns alle zutiefst erschrecken.Er hat erzählt – dabei geht es gar nicht um Home-pages –: Ein Straftäter, dessen Identität nicht bekannt ist,stellt eine Datei mit kinderpornografischem Inhalt in ei-
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3350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Clemens Binninger
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ner Tauschbörse ins Netz. Diese Datei wird von anderenStraftätern heruntergeladen. Von dieser Person ist nur dieIP-Adresse bekannt. Daraufhin wendet sich die Polizeian den Provider und sagt: Wir möchten wissen, wer zudem Zeitpunkt, als diese Datei mit kinderpornografi-schem Inhalt eingestellt wurde, unter dieser IP-Adresseangemeldet war. – Von allen Providern kam unisono dieAntwort: Diese Daten haben wir schon gelöscht. Oder:Wir sind nicht mehr verpflichtet, diese Daten zu spei-chern.Es geht sogar noch weiter. Er sagte mir: Selbst wennSie das Glück haben, dass diese Datei entdeckt wird,während der Täter online ist, und damit in sehr kurzerZeit beim Provider anrufen und sagen können: „DerMann ist noch online. Wer verbirgt sich hinter dieserAdresse?“, hängt es vom Zufall oder vom Goodwill derProvider ab, ob es heißt: „Jawohl, diese Daten geben wirIhnen, weil das keine Speicherung ist“ oder ob es heißt:„Wir haben keinerlei Pflicht, hier Auskünfte zu geben.“
Diesen Zustand können wir so nicht akzeptieren.
Herr Kollege Wieland, ich hoffe auf den Konsens al-ler Fraktionen,
dass wir gemeinsam sagen: Bei allem Dissens in dergrundsätzlichen Auffassung – Sie wollen gar keine Vor-ratsdatenspeicherung, auch nicht mit einer strengen Reg-lementierung, wir aber wollen sie und halten sie für not-wendig – sind wir uns darin einig,
dass, wenn diese Information der einzige Ansatzpunktfür die Polizei ist, einen Straftäter zu ermitteln,
die Provider die Daten nicht einfach löschen dürfen, so-dass die Polizei kein wirksames Instrument in der Handhat. Das ist für unser aller Rechtsstaatsempfinden nichtakzeptabel.
Jetzt noch ein Satz zu Europa. Tenor Ihres Antragesist es, dass Sie nichts auf der europäischen Ebene regelnlassen wollen bzw. möglichen europäischen Regelungenvorbeugen wollen. Andere weisen darauf hin, dass manvielleicht die Bewertung auf europäischer Ebene abwar-ten sollte. Ich warne die Gegner einer Vorratsdatenspei-cherung davor, darin zu hohe Erwartungen zu setzen. Inder Richtlinie steht schon – daher ist das nicht überra-schend –, dass sie im September 2010 zu überprüfen ist.Das gilt besonders für zwei Gesichtspunkte: Sind dieDaten, die man gespeichert hat, ausreichend, oder müs-sen es mehr oder weniger sein? Das ist jetzt meine Inter-pretation. Ist die Dauer der Speicherung, mindestenssechs Monate, höchstens zwei Jahre, ausreichend, odermüsste sie anders sein?All das ist im Lichte der technischen Entwicklung zuprüfen; denn diese schreitet voran. Daher können dieAnforderungen eher höher geschraubt werden. Wir sindgut beraten, uns in diesem Hause mit diesem Thema zubefassen, mit dem speziellen Problem der IP-Adressenbei laufenden Ermittlungen vielleicht sogar noch vor derErarbeitung eines Gesetzentwurfs.Ich will für mich und für meine Fraktion sagen: Wirnehmen die Kritik der Gegner der Vorratsdatenspeiche-rung bzw. des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung– es sind heute mehr Gegner als Befürworter im Saal –ernst. Aber ich halte es nach wie vor für möglich, dasswir zu einer Annäherung kommen, weil Freiheit und Si-cherheit nicht zwei sich ausschließende Punkte sind,sondern sich gegenseitig bedingen. Es muss aber auchfür beide Punkte Bedingungen geben. Deshalb solltenwir, meine ich, die Gespräche nicht nur innerhalb derKoalition führen, sondern auch mit all denen, dieBeschwerde geführt haben, damit wir zu einem vernünf-tigen Ergebnis kommen. Wir sind dazu bereit; das An-gebot steht. Insofern hoffe ich, dass wir zügig voran-kommen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1168 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 bauf:a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDFairness in der Leiharbeit– Drucksache 17/1155 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Unterrichtung durch die BundesregierungElfter Bericht der Bundesregierung über Er-fahrungen bei der Anwendung des Arbeitneh-merüberlassungsgesetzes– Drucksache 17/464 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3351
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der KolleginAnette Kramme von der SPD-Fraktion das Wort.Ich bitte aber vorher darum, liebe Kolleginnen undKollegen, die Gespräche hier vorne einzustellen. Kol-lege Ahrendt, hallo! Könnten Sie die Gespräche ir-gendwo weiter hinten im Plenarsaal fortsetzen?Kollegin Kramme, jetzt haben Sie hoffentlich Gehör.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir wissen nicht erst seit dem Fall Schlecker,dass Leiharbeit kein Zuckerschlecken ist: Da gibt es un-erträgliche Niedriglöhne. In Forchheim arbeitet einLeiharbeitnehmer für 3,60 Euro brutto pro Stunde. Hel-fer verdienen 45 Prozent weniger als in anderen Bran-chen. Die Branche wird durch SGB-II-Zahlungen anLeiharbeitnehmer in einer Größenordnung von 500 Mil-lionen Euro dauersubventioniert.Wir beobachten auch ständige Verstöße gegen das Ar-beitsrecht: Da wird Urlaub nicht ordnungsgemäß geneh-migt, da wird nicht ordnungsgemäß eingruppiert, dawerden Kündigungsfristen fehlerhaft berechnet. Vor al-lem werden Stammarbeitsplätze vernichtet, indem statt-dessen Leiharbeitnehmer eingesetzt werden. Und dieServicegesellschaften haben letztlich nur eine Funktion:Tarifflucht und Lohndrückerei.Darüber hinaus mussten wir feststellen, dass die Leih-arbeit leider nur einen sehr eingeschränkten Beitrag zurReintegration von Arbeitslosen leistet. Die Arbeitsver-hältnisse in der Leiharbeit dauern im Regelfall nicht län-ger als drei Monate. Der „Klebeeffekt“ wird durch dasIAB auf circa 15 Prozent geschätzt.
Auf den Punkt gebracht: Die Reform des Jahres 2003hat sich nicht bewährt.
– Herr Kolb, der denkende Menschen ändert seine Mei-nung.
Vielleicht sollte das Herr Westerwelle auch im Hinblickauf seine Reisepartner tun.
Der Geburtsfehler dieser Leiharbeitsreform besteht,denke ich, vor allem in einem Punkt: Die Union hat ge-gen Rot-Grün durchgesetzt, dass in einem individuellenArbeitsvertrag durch eine arbeitsvertragliche Bezug-nahme auf einen Tarifvertrag vom Grundsatz Equal Payabgewichen werden darf. Es darf auf einen x-beliebigenTarifvertrag verwiesen werden. Das hat der CGZP, die-ser vermeintlichen Gewerkschaft, Leben eingehaucht.Dort sind Tarifverträge abgeschlossen worden, die nurArbeitgeber glücklich machen – und das ist kein Wun-der. Wenn auf Arbeitnehmerinteressen und auf Gewerk-schaftsmitglieder keine Rücksicht genommen werdenmuss, dann kommt so etwas dabei heraus.
Dass sich der einzelne Leiharbeitnehmer nicht gegen dieTarifvertragsgeltung per Arbeitsvertrag wehren kann, istklar, insbesondere wenn man weiß, dass im Bereich derLeiharbeit vor allem Niedrigqualifizierte tätig sind. Ichdenke, wir alle hoffen in diesem Punkt auf das BAG. Wiralle hoffen, dass der CGZP zumindest vorübergehenddas Handwerk gelegt wird, dass sie keine Handlungs-möglichkeiten mehr hat.Aber die Union war nicht nur bei diesem Gesichts-punkt blind für die Probleme in der Leiharbeit. DieUnion hat sich leider auch gegen Mindestlöhne in derLeiharbeit gestemmt. Jeder wusste, dass mit den Christ-lichen Gewerkschaften etwas nicht stimmt. Trotzdem hatin den Verhandlungen der Mindestlohn-Kommission einHerr Brauksiepe süffisant erklärt, wir bräuchten keineMindestlöhne, die tarifvertragliche Absicherung seidoch ganz wunderbar, man setze auf Tarifautonomie –und das bei Tarifverträgen, die Löhne in Höhe von4,50 Euro und Ähnliches vorsehen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, uns geht esvor allen Dingen um Folgendes: Wir wollen die Leihar-beit nicht abschaffen, aber wir wollen sie auf ihre Kern-funktionen zurückführen. Es geht darum, Auftragsspit-zen abzudecken. Wenn Arbeitnehmer fehlen, sollLeiharbeit möglich sein. Dabei ist eines essenziell: DerGrundsatz des Equal Pay muss uneingeschränkt gelten.
Wir verhindern damit das Interesse an Ausgliederungvon Beschäftigten in eine Entleihfirma. Warum sollteman Beschäftigte ausgliedern, wenn die Arbeit dort ge-nauso teuer ist? Außerdem erreichen wir damit eine faireBezahlung und tragen zur Verbesserung des Betriebsfrie-dens bei. In Bayreuth zum Beispiel arbeitet gegenwärtigeine Krankenschwester nach dem Tarifvertrag des öf-fentlichen Dienstes, während eine andere Kranken-schwester am selben Arbeitsplatz auf derselben Stationweniger verdient, weil sie nach einem Tarifvertrag fürLeiharbeit bezahlt wird. Dass die eine auf die anderesauer ist, ist gut nachvollziehbar.Darüber hinaus brauchen wir einen Mindestlohn, derentleihfreie Zeiten absichert. Wir wollen den Betriebsrä-ten ein echtes Mitbestimmungsrecht einräumen. DasMitbestimmungsrecht soll den Umfang der Leiharbeit,die Dauer des Einsatzes und die Einsatzbereiche regeln.Wenn sich Betriebsrat und Arbeitgeber nicht einigenkönnen, dann entscheidet die Einigungsstelle. Ich bin derfesten Überzeugung, dass das zu betriebsnahen und indi-viduellen Regelungen führt, die den Interessen sowohl
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3352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Anette Kramme
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des Arbeitgebers als auch der Arbeitnehmer des Entleih-betriebes gerecht werden.Der Niedriglohnsektor in der BundesrepublikDeutschland ist mittlerweile zu einem riesigen Problemgeworden, zu einem Problem, das Folgen für die sozialeSicherheit in der Bundesrepublik und das gesamte so-ziale System hat. Wir brauchen nicht nur Regelungen zurEindämmung der Leiharbeit; notwendig sind auch Rege-lungen, die sich darauf beziehen, wie man mit der befris-teten Arbeit, Praktikumsverhältnissen und Ähnlichemumgeht.Wir müssen uns vor allem auch damit befassen, obwir die Tarifvertragsparteien nicht dadurch stärken kön-nen, dass wir Allgemeinverbindlichkeitserklärungen er-leichtern, sodass nicht eine Seite – in diesem Fall die Ar-beitgeberseite – immer wieder blockieren kann.In dem Sinne bedanke ich mich ganz herzlich. Ichhoffe, auch Sie kommen zu der Erkenntnis, dass in Sa-chen Leiharbeit essenziell etwas zu tun ist. Prüfen reichtnicht; Handeln ist erforderlich.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Ralf Brauksiepe.
D
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Fähigkeit zur Selbstkritik steht uns Politikern sicherlich
gut an. Aber wenn es dazu führt, dass man das, was man
einst selbst in eigener Verantwortung eingeführt hat, auf
einmal in Bausch und Bogen verdammt, obwohl sich ein
differenziertes Bild der Beurteilung anböte, dann schießt
das sicherlich weit über das Ziel hinaus. Das ist ein Pro-
blem, das Sie, Frau Kollegin Kramme, glaube ich, deut-
lich gemacht haben.
Die Zeitarbeit bietet Chancen und Risiken.
Sie ist nicht in Bausch und Bogen zu verdammen.
Frau Kollegin Kramme, Sie müssten seit der letzten
Ausschusssitzung wissen, dass jemand, der sich zu weit
von der Wahrheit entfernt, befürchten muss, dass ich ihm
mit den Fakten komme.
Lassen Sie mich deswegen im Sinne der geschichtlichen
Wahrheit darauf hinweisen, was Sie auch im Elften Be-
richt der Bundesregierung zum Arbeitnehmerüberlas-
sungsgesetz nachlesen können. Die Regelungen, die die
Zeitarbeit betreffen, sind im Ersten Gesetz für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember
2002 festgelegt worden. Dieses Gesetz war im Bundes-
rat nicht zustimmungspflichtig. Es hat auch unsere Zu-
stimmung nicht gefunden.
Das Zweite Gesetz ist ebenso wie das Vierte Gesetz für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt mit unserer
Zustimmung im Bundesrat beschlossen worden.
Das Erste Gesetz war nicht zustimmungspflichtig.
Das haben Sie ganz allein gemacht. Der Bundesrat hat
Ihnen die Bedingungen nicht diktiert. Sie sollten wenigs-
tens zu dem stehen, was Sie ganz allein gemacht haben.
Man wird hier doch wohl über Fakten berichten können.
Wer sich vorurteilsfrei mit der Branche der Zeitarbeit
auseinandersetzt, wird feststellen: Es gibt ein differen-
ziertes Bild. Im Bericht der Bundesregierung wird deut-
lich, dass der Aufbau von Zeitarbeit insbesondere in
Großbetrieben häufig mit einem Aufbau von Stammbe-
schäftigten oder zumindest mit einer konstanten Zahl
von Stammbeschäftigten einhergegangen ist. Die Be-
hauptung, dass es zu einem massiven Abbau von Ar-
beitsplätzen bei der Stammbelegschaft gekommen ist, ist
in Bezug auf die gesamte Branche sicherlich so nicht
richtig.
Wir sollten uns auch vor Augen führen, über welche
Dimensionen wir hier eigentlich reden. Ich sage das vor
dem Hintergrund dessen, was hier schon angeführt
wurde.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
D
Nein, heute mal nicht, Herr Präsident.
Ich finde es wichtig, den Zusammenhang darzustel-len. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Zeitarbeit weitdavon entfernt ist, zu einem prägenden Element unsererArbeitswelt zu werden. Wir hatten in der Spitze rund800 000 Zeitarbeitnehmer. Diese Zahl ist in der Krise zu-rückgegangen. Wir sind froh, dass die Zeitarbeit schonmit dem Beschäftigungsaufbau wieder begonnen hat.Wir hoffen, dass alle anderen Branchen bald nachziehenwerden. Es gehört zu den Fakten, dass etwa 1,25 Pro-mille der insgesamt Erwerbstätigen in der Zeitarbeitsozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und zusätz-lich Arbeitslosengeld II bekommen. Es gibt rund
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3353
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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600 000 Beschäftigte in der Branche. Knapp 10 Prozentdavon erhalten aufstockende Leistungen. Das heißt, rund50 000 Beschäftigte, darunter sehr viele Teilzeitkräfte,die zumeist aufgrund persönlicher Lebensumständenicht länger arbeiten können oder wollen, bekommenzusätzlich Arbeitslosengeld II. Ich habe es schon an an-derer Stelle gesagt: In manchen Lebenssituationen sind1,25 Promille eine Menge und auch zu viel. Aber nie-mand wird sagen können, dass eine solche Zahl die Ar-beitswelt in Deutschland prägt. Davon kann keine Redesein.
Es macht Sinn, in diesem Zusammenhang über grö-ßere Zahlen zu reden. Wie gesagt, 1,25 Promille derrund 40 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland – zumTeil in Teilzeitarbeit – bekommen aufstockendesArbeitslosengeld II in der Zeitarbeit. Es waren nie mehrals 2,6 Prozent aller Beschäftigten in der Zeitarbeits-branche tätig. Ich möchte auf Folgendes hinweisen:60,6 Prozent der Zeitarbeitnehmer waren zuvor entwe-der länger als zwölf Monate nicht beschäftigt oder kurz-fristig nicht beschäftigt oder noch nie beschäftigt. Dasheißt, über 60 Prozent der Menschen, die in Zeitarbeits-unternehmen Beschäftigung finden, waren vorher kurz-fristig nicht, lange nicht oder noch nie beschäftigt. Derüberwiegende Teil der ehemaligen Zeitarbeitnehmerin-nen und Zeitarbeitnehmer befindet sich mittelfristig wei-terhin in Beschäftigung und nicht in Arbeitslosigkeit.Auch das gehört zur Realität in Deutschland. Auch dasgehört zu den Chancen, die die Zeitarbeit bietet.
Herr Kollege, es gibt einen weiteren Wunsch nach ei-
ner Zwischenfrage, diesmal von der Fraktion Die Linke.
D
Es wäre seltsam, wenn ich diese Zwischenfrage zu-
ließe, nachdem ich eine Zwischenfrage der SPD nicht
zugelassen habe.
Okay.
D
Ich bringe lieber meine Argumentation zu Ende.
Ich will deutlich sagen: Da, wo Missbrauch vorliegt
– Missbrauchsfälle gibt es; darüber wurde bereits disku-
tiert; die Bundesarbeitministerin hat sich dazu deutlich
geäußert –, muss er bekämpft werden. Diese Bundes-
regierung wird sich bei der Bekämpfung von Missbrauch
von niemandem überbieten lassen.
Wir setzen aber weiterhin in erster Linie auf die Tarifver-
tragsparteien.
Die Entwicklung, die wir jetzt haben, ist doch gut und
richtig. Der Christliche Gewerkschaftsbund hat vor we-
nigen Wochen mit seinem Tarifpartner einen Tarifvertrag
abgeschlossen, der alle vom DGB in diesem Bereich ab-
geschlossenen Tarifverträge übertrifft. Mittlerweile hat
der DGB mit seinem Tarifpartner nachgezogen. Ich sage
ausdrücklich für die Bundesregierung: Diese Entwick-
lung begrüßen wir. Wir wollen keine Lohnspirale nach
unten. Es ist gut, wenn sich die Tarifvertragsparteien bei
den Löhnen nach oben überbieten.
Mit diesem Trend hat der Christliche Gewerkschafts-
bund begonnen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat
nachgezogen. Das begrüßen wir ausdrücklich. Wir
schließen nicht aus, als Gesetzgeber zu handeln, wenn es
notwendig ist. Aber der Vorrang von tariflichen Lösun-
gen gilt auch hier. Ich begrüße, dass wir bei den tarifli-
chen Lösungen auf einem guten Weg sind.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist „Equal PayDay“, und von daher passt dieses Thema genau zu die-sem Tag, weil es auch hier um gleichen Lohn für gleicheArbeit geht.
Ich persönlich finde es toll, dass die SPD mittlerweilewieder von „Leiharbeit“ und nicht von „Zeitarbeit“spricht, wie die Zeitarbeitsbranche das gerne hätte. DerBetriebszweck von einem Leiharbeitsunternehmen istdas Verleihen von Menschen, um selbst Gewinne zu ma-chen. In Zeiten spätrömischer Dekadenz
war das Sklavenarbeit, im Feudalismus war das Leib-eigenschaft, und im Kapitalismus ist das Leiharbeit.Leiharbeit ist kein Problem, wenn sie gut bezahlt ist:mit gleichem Geld für gleiche Arbeit und bei gleichenArbeitsbedingungen.
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3354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Jutta Krellmann
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Zudem darf sie wirklich nur für Auftragsspitzen genutztwerden. Das hat die SPD nach sieben Jahren nun endlichals Geburtsfehler ihrer Reformpolitik erkannt. Herz-lichen Glückwunsch!
In einer von der CDU – nicht von irgendjemandem,sondern vom CDU-Arbeitsminister Laumann – in Auf-trag gegebenen Studie wird für Nordrhein-Westfalen ge-sagt:
Ein Viertel der Entleihbetriebe nutze Leiharbeitnehmerzur Verdrängung von Stammbelegschaften. Der Einkom-mensunterschied betrage bis zu 45 Prozent. – Ein Ein-stieg für Arbeitslose in Beschäftigung – das ist der soge-nannte Klebeeffekt – ist die Leiharbeit auch nicht:einmal Leiharbeitnehmer, immer Leiharbeitnehmer.Wer leiharbeitet, ist mit einem Bruttolohn von6,65 Euro im Osten und 7,60 Euro im Westen, wie diesgerade für diesen Bereich in einem Tarifvertrag be-schlossen wurde, oftmals arm trotz Arbeit.
Durch die Leiharbeit wird gute und faire Arbeit vernich-tet.
Dies wurde durch die rot-grünen Hartz-Gesetze möglich.Okay, man muss sich ja darüber freuen, dass die SPDan dieser Stelle auch wieder zur Vernunft gekommen ist.
So fordern Sie beim Einsatz von Leiharbeit die Auswei-tung der Mitbestimmung durch Betriebsräte über Dauerund Umfang. Die Linke fordert dagegen ein zwingendesMitbestimmungsrecht über die Dauer, den Umfang unddas Ob der Leiharbeit.
Das Ob und die Möglichkeit, bei Nichteinigung die Eini-gungsstelle anzurufen, sind entscheidend.Nichts Konkretes sagt die SPD zur Einsatzdauer in ei-nem Betrieb. Die Linke sagt dagegen: höchstens dreiMonate, wie es früher im Gesetz stand. Um Auftrags-spitzen abzudecken, sind drei Monate genug.Der entscheidende Knackpunkt liegt bei der Equal-Pay-Forderung. Die SPD fordert, den Grundsatz „Glei-ches Geld für gleiche Arbeit“ wieder ohne Ausnahmegelten zu lassen. Die Gefahr einer Abweichung durchTarifverträge wäre also gebannt. Das wäre auch gut so.Was macht aber die SPD jetzt nach sieben Jahren mit fa-talen Ausnahmen? Sie fordert eine neue Ausnahme. Dasist im Grunde unglaublich. So heißt es in dem Antrag,dass der Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“erst nach einer kurzen Einarbeitungszeit gelten soll. Ichfrage Sie: Was ist kurz?In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechtesteht in Art. 23 Abs. 2 eindeutig:Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichenLohn für gleiche Arbeit.
Das ist der Maßstab der Linken.Die schwarz-gelbe Politik schlägt dem Fass in diesemZusammenhang aus meiner Sicht den Boden aus. Siekennen nämlich nur Vorzüge der Leiharbeit. Die ver-sprochene Prüfung des Lohndumpings – Fall Schlecker –zieht sich nunmehr schon seit Monaten hin. Handlungs-bedarf sieht die Regierung nur bei anderen. Sollen dieGewerkschaften doch mit den Arbeitgebern eine Lösungverhandeln! Damit sagt Schwarz-Gelb nichts anderesals: „Lohndumping durch Leiharbeit: Weiter so!“; denndurch das Gesetz wird Lohndumping legal. Das mussgeändert werden.
Die Linke will: gleichen Lohn für gleiche Arbeit, unddas vom ersten Tag an, Begrenzung der Überlassungs-höchstdauer auf drei Monate, starke betriebliche Mit-bestimmung bei Leiharbeit und Bezahlung der Leih-arbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer mit einerFlexibilitätsprämie von 10 Prozent.
Der Antrag der SPD ist zwar ein Schritt in die richtigeRichtung, aber eben nicht genug. Seien Sie sicher: Wirwerden versuchen, auch weiterhin Druck zu machen.
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieKollegin Kramme hat in ihrer Rede gesagt: Der den-kende Mensch ändert seine Meinung.
Frau Kollegin Kramme, das halte ich nicht für zwingend.Man kann ja auch nachdenken und zu dem Ergebniskommen, dass man bisher schon das Richtige gedachthat. Sehen Sie, so ist es mir bei der Vorbereitung meinerRede für den heutigen Tagesordnungspunkt gegangen.Deswegen will ich Ihnen noch einmal in Erinnerungrufen, welche Positionen die FDP in der aktuellen Dis-kussion um die Zeitarbeit vertritt:Erstens. Zeitarbeit ist das wichtigste und erfolg-reichste Arbeitsmarktinstrument, das wir haben. Mit kei-nem anderen Instrument ist es gelungen, so vielen Men-schen, die zuvor langzeitarbeitslos waren, zu einemneuen Arbeitsplatz zu verhelfen. Das sollten wir hierdoch einmal deutlich festhalten.
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Weil das so ist, werden wir alles daransetzen, das Instru-ment der Zeitarbeit auch künftig nutzbar zu machen undzu halten.
Zweitens. Die FDP-Fraktion ist gemeinsam mit denKollegen der Union entschlossen, dem Missbrauch derZeitarbeit entgegenzutreten. Das haben wir, Herr Kol-lege Schiewerling und ich, auch unverzüglich zu Beginndes Jahres, als der Fall Schlecker bekannt wurde, getan,ohne Wenn und Aber. Es ist nicht akzeptabel, wennStammbelegschaften von Konzernen in Leihgesellschaf-ten, wo die Konditionen günstiger sind, ausgelagert wer-den. Das wollen wir ausdrücklich nicht.
Deswegen begrüßen wir drittens, dass es jetzt tarif-vertragliche Regelungen gibt, mit denen genau diesesausgeschlossen wird, nämlich dass man von dem imAÜG verankerten Grundsatz des Equal Pay abweichenkann, wenn es sich um Unternehmen im Konzernver-bund handelt. Der Tarifvertrag, den AMP jetzt geschlos-sen hat, geht genau in diese Richtung. Das halte ich fürrichtungsweisend. Die Tarifpartner können zu dieser De-batte auch einen wichtigen Beitrag leisten, auf den wirnicht verzichten sollten.Viertens. Das Ministerium prüft – das ist auch eineFolge der Debatte zu Beginn des Jahres – derzeit, wiedie Situation ist, wie viele Missbrauchsfälle es gibt undwas getan werden muss, um diese Missbräuche gegebe-nenfalls über das hinaus, was tarifvertraglich geregelt ist,zu verhindern. Diesem Bericht sehen wir mit Interesseentgegen. Wir werden dann gemeinsam mit den Kolle-gen der Union überlegen, wo gegebenenfalls gesetzge-berisches Handeln erforderlich ist.Ich will Ihnen fünftens meine Position zum Mindest-lohn in der Zeitarbeitsbranche hier nicht verschweigen.Ich glaube, dass es in einer Branche, in der der Grund-satz des Equal Pay gilt, von dem nur durch tarifvertragli-che Regelungen abgewichen werden kann, in der es alsoeine hundertprozentige Tarifbindung gibt, keinen Sinnmacht, einen Mindestlohn einzuführen.
Das ist mein Argument zumindest hinsichtlich der aktu-ellen Lage.Dann gibt es diejenigen, die schon vorauseilend sa-gen: Das könnte alles ganz schlimm werden, wenn abdem 1. Mai nächsten Jahres Freizügigkeit herrscht. – Ichmöchte für uns alle noch einmal darauf hinweisen, dassdie Branchen, in denen offensichtlich ein besondererLohndruck besteht, im letzten Jahr Gelegenheit hatten,sich für die Einführung von Mindestlöhnen starkzuma-chen. In einer Reihe von Branchen wurden ja auch schonMindestlohnregelungen eingeführt, die auch unmittel-bar gelten würden, wenn Zeitarbeiter in diese Branchenentsandt werden. Das heißt, würde ein Zeitarbeiter inDeutschland im Bereich der Abfallwirtschaft eingesetzt,würde der Mindestlohn Abfallwirtschaft notwendig zurAnwendung kommen. Deswegen rate ich uns allen dazu,so wie es auch der Präsident der Bundesvereinigung derDeutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, getanhat, hier ohne Zorn und Eifer ans Werk zu gehen und zubeobachten, ob hier tatsächlich Verwerfungen auftreten.Ich glaube auch mit Blick auf das, was wir heute anZahlen vorweisen können oder aktuell registrieren, zumBeispiel die Aktivitäten polnischer Zeitarbeitsunterneh-men in Deutschland oder den sehr geringen Anteil aus-ländischer Leiharbeiter, sagen zu können, dass sich dieWelt am 1. Mai 2011 nicht grundlegend verändern wird.In diesem Sinne freue ich mich, Ihnen mitteilen zukönnen: Das waren bisher meine Gedanken, das sind sieweiterhin. Auch in künftigen Diskussionen werde ichnicht anstehen, diese Position hier ein drittes, viertesoder fünftes Mal zu vertreten.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin BeateMüller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Jetzt hat auch die SPD endlich einenAntrag zur Leiharbeit vorgelegt. Rot-Grün hat die Libe-ralisierung in der Zeitarbeit zu verantworten; das wissenwir. Schon lange fordern wir Grünen, dass die Fehlerkorrigiert werden. Herr Brauksiepe, Selbstkritik gehörtfür mich selbstverständlich auch in die Politik; denn sieist ein wichtiger Wert.Die Leiharbeit muss endlich wieder zu einem verträg-lichen Instrument werden, das der Abfederung von Auf-tragsspitzen dient, nicht mehr und nicht weniger. DerAntrag zeigt, dass auch die SPD mit der Vergangenheits-bewältigung begonnen hat. Er ist zwar an einigen Stellenetwas vage, und er geht mir auch nicht weit genug, aberzumindest stimmt die Richtung, und das ist gut so.
Der Elfte Bericht der Bundesregierung zur Leiharbeitsollte eigentlich die Entwicklung in der Zeitarbeit be-schreiben und soziale und beschäftigungspolitische Pro-bleme aufdecken. Aber Fehlanzeige: Die Fakten werdenverharmlost; der wichtige IAB-Forschungsbericht, dieLaumann-Studie sowie kritische Stellungnahmen derAgentur für Arbeit wurden in weiten Teilen gar nicht erstaufgenommen. – Aber diese Fakten sind wichtig. Nur8 Prozent der Erwerbslosen erhalten durch die Leih-arbeit eine reguläre Beschäftigung. Das IAB spricht so-gar davon, dass die Zeitarbeit eher eine Brücke in die
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3356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Beate Müller-Gemmeke
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Zeitarbeit ist. Im Bericht der Bundesregierung steht – ichzitiere –:Der überwiegende Teil der ehemaligen Zeitarbeit-nehmerinnen und Zeitarbeitnehmer befindet sichauch mittelfristig weiterhin in Beschäftigung undnicht in Arbeitslosigkeit.Das stimmt einfach nicht. Das zeigt die zweifelhafteQualität des Berichts der Regierung.
Die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung hat zu-genommen. Sogar die Bundesagentur für Arbeit warnt,dass Dauerarbeitsplätze mit Zeitarbeitskräften besetztwerden. Ein Blinder mit Krückstock sieht also, dass eseinen offensichtlichen Missbrauch in der Zeitarbeit gibt.Herr Brauksiepe, es geht hier nicht nur um 2,6 Prozentder Beschäftigten, sondern um Menschen. Ich finde, je-der einzelne Mensch muss wichtig sein.
Seit Wochen höre ich aus dem Bundesministerium fürArbeit und Soziales aber nur, dass Gespräche geführtwerden und dass die Prüfung der Leiharbeitsbranche an-dauert. Ich frage mich: Wie viele Gespräche sind nochnötig? Wie lange wollen Sie eigentlich noch prüfen?Wenn Sie dem IAB nicht glauben, dann reden Sie docheinmal mit Ihrem CDU-Kollegen Laumann aus NRW.Am Wochenende hat die Ministerin die Branche auf-gefordert, die Probleme endlich aus eigener Kraft zu lö-sen. Ich meine, gegen den Missbrauch in der Zeitarbeitmuss gesetzlich vorgegangen werden und nicht durchdie Branche selbst.
Fangen Sie endlich an, zu regieren! Notwendig ist, dassder Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durch-gesetzt wird, ebenso ein Mindestlohn für verleihfreieZeiten. Vor allem muss die konzerninterne Arbeitneh-merüberlassung verhindert werden. Das wäre verantwor-tungsbewusste Politik und eine klare Reaktion auf denMissbrauch in der Zeitarbeit.Aber vielleicht steckt die Regierung auch den Kopf inden Sand, weil es wieder einmal Streit mit der FDP gibt.Es wäre ja nicht das erste Mal, dass die FDP bei diesemThema auf der Bremse steht, weil sie den Niedriglohn-sektor weiter ausbauen möchte. Dazu passen auch IhreÄußerungen, Herr Kolb, dass Zeitarbeitskräfte grund-sätzlich weniger verdienen sollten als das Stammperso-nal.
Das haben Sie im Februar in einem Zeitungsinterviewgesagt.
Gibt es dafür ein einziges plausibles Argument? MeinenSie wirklich, dass Zeitarbeitskräfte grundsätzlich weni-ger wert sind? Mein Grundsatz ist, dass es keine Be-schäftigten erster und zweiter Klasse geben darf.
Machen Sie endlich Politik für alle Bürgerinnen undBürger und sorgen Sie dafür, dass für alle BeschäftigtenIhr Spruch gilt: Arbeit muss sich wieder lohnen.Vor der Krise waren fast 800 000 Menschen in derZeitarbeit beschäftigt, obwohl jeder Achte zusätzlichstaatliche Leistung beantragen musste. Die Agentur fürArbeit zahlt bereits eine halbe Milliarde Euro für Löhnein der Zeitarbeit. Spätestens bei dieser Zahl, die aus demArbeitsministerium stammt, müssten bei den Regie-rungsfraktionen alle Alarmglocken läuten.Wollen Sie wirklich weiterhin Unternehmen auf die-sem Weg subventionieren, obwohl sich die Zeitarbeit inkeinerlei Weise als arbeitsmarktpolitisches Instrumentbewährt hat? Ich appelliere an die Regierungsfraktionen:Schauen Sie nicht weg! Wenn Sie nicht wollen, dass dieZeitarbeit für bisher fair bezahltes Stammpersonal zumSchleudersitz in den Hungerlohn und für Zeitarbeits-kräfte zur Einbahnstraße in eine dauerhafte Niedriglohn-falle wird, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, zügig zuhandeln, statt ewig zu prüfen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Herr, die Not ist groß!Die ich rief, die Geister,Werd ich nun nicht los.So rief der Zauberlehrling bei Goethe entsetzt im Ange-sicht der Kräfte, die er entfesselt hatte. An diesen Zau-berlehrling erinnern Sie mich, liebe Kolleginnen undKollegen der SPD. Erschrocken weichen Sie vor demzurück, was Sie im Jahr 2002 gemeinsam mit den Grü-nen bei der Zeitarbeit auf den Weg gebracht haben. Aberfür Erschrecken und Entsetzen besteht kein Anlass; dennSie haben Ihr Gesellenstück abgeliefert.Ein Blick zurück: 2002 hatte der rot-grüne Zauber-lehrling unter Anleitung seines Meisters Peter Hartzgroße Pläne für den Arbeitsmarkt. Millionen neuer Ar-beitsplätze sollten entstehen. Das Herzstück war die Fle-xibilisierung der Zeitarbeit. So sollte eine Brücke ausArbeitslosigkeit in Beschäftigung gebaut werden. Sosollten insbesondere Geringqualifizierte eine Chance be-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3357
Heike Brehmer
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kommen. So sollten Unternehmen wettbewerbsfähigerwerden. Das, meine Damen und Herren von der SPDund von den Grünen, waren Ihre Ziele – gute Ziele.
Wenn wir heute Bilanz ziehen, können wir gemein-sam feststellen: Die Ziele von damals sind erreicht wor-den.
Im letzten Aufschwung sind laut dem Institut der deutschenWirtschaft Köln über 1,4 Millionen neue Jobs entstanden,davon übrigens 1,3 Millionen neue sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Dieses deutsche Ar-beitsmarktwunder hat zwar nicht ausschließlich, aber dochauch mit den Reformen der Agenda 2010 zu tun. Dabeihat Hartz I die Fesseln für die Zeitarbeit gelöst. Alleinhier hat sich die Zahl der sozialversicherungspflichtigBeschäftigten seit 2004 auf knapp 800 000 im Jahr 2008fast verdoppelt. Ich finde das beachtlich. Das ist ein Be-leg für erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, Siesollten den Mut haben, sich darüber auch zu freuen. Of-fenbar aber genießt das Reformwerk bei Ihnen nicht dashöchste Ansehen.
Das gilt wohl vor allem für die Arbeitnehmerüberlas-sung. Sie fürchten sogar, die Reformen hätten die Lageauf dem Arbeitsmarkt verschlimmert. So weit wie beikaum einem anderen Thema liegen bei der ZeitarbeitWahrnehmung und Wirklichkeit auseinander; ich mussfeststellen: leider auch bei Ihnen.Sie behaupten: Stammbelegschaften werden durchLeiharbeitnehmer ersetzt.
Tatsache ist aber, dass die Hälfte der Einsatzbetriebe dasBeschäftigungsniveau nicht verändert hat.
34 Prozent haben Beschäftigung aufgebaut, und nur16 Prozent haben Beschäftigung abgebaut.
Entscheidend ist: Nur 2 Prozent der Betriebe habengleichzeitig Beschäftigung abgebaut und Zeitarbeit auf-gebaut. Das ist laut einem Bericht der Bundesregierungso.Sie behaupten: Zeitarbeit wird immer weniger als In-strument zur Abdeckung kurzfristiger Auftragsspitzenbenutzt.
Tatsache ist aber, dass mehr als die Hälfte aller beende-ten Zeitarbeitsverhältnisse weniger als drei Monate dau-erte. Laut Bericht der Bundesregierung war nur jederZehnte ohne Unterbrechung das ganze Jahr lang in derArbeitnehmerüberlassung tätig.Sie behaupten: Zeitarbeit ist eine Variante prekärerBeschäftigung. Tatsache ist aber, dass in Deutschlandknapp 800 000 Zeitarbeitnehmer sozialversicherungs-pflichtig beschäftigt sind, die Mehrheit von ihnen unbe-fristet.
– Ich betone es: sozialversicherungspflichtig und unbe-fristet beschäftigt. – Dabei handelt es sich im Übrigenüberwiegend um Arbeitskräfte, die vor Beginn des Zeit-arbeitsverhältnisses nicht unmittelbar oder überhauptnicht beschäftigt waren.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bitteerkennen Sie an, dass Zeitarbeit neue Jobs schafft, dasssie Brücken in Arbeit baut und alles andere als prekär ist.
Frau Kollegin Brehmer, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Müller-Gemmeke?
Nein. – Wenn Sie in Ihrem Antrag also Fairness for-dern, dann gehen Sie doch bitte mit gutem Beispiel vo-ran. Beweisen Sie selbst Fairness, Fairness für die Zeit-arbeit.Zu dieser Fairness gehört, zu sagen, dass der FallSchlecker und die Zeitarbeit nichts, aber auch gar nichtsmiteinander zu tun haben. Das Gebaren von Schleckerund Konsorten ist ein Skandal. Da gibt es nichts zu be-schönigen. Diese Leute betreiben Missbrauch auf demRücken einer ganzen Zeitarbeitsbranche.
Ich bin deshalb froh, dass die Zeitarbeitsbranche inzwi-schen reagiert hat. Sowohl der Bundesverband ZeitarbeitPersonal-Dienstleistungen, BZA, als auch der Arbeitge-berverband Mittelständischer Personaldienstleister, AMP,haben gemeinsam mit den Gewerkschaften Anti-Schlecker-Klauseln vereinbart. Der Fall Schlecker wirdsich deshalb nicht wiederholen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ih-rem Antrag behaupten Sie zwar, die Zeitarbeit nichtabschaffen zu wollen. Würden wir die von Ihnen vorge-schlagenen Änderungen allerdings umsetzen, würde ge-nau dies geschehen. Durch neue Beschränkungen derZeitarbeit würden den Unternehmen die notwendigenFlexibilitätsreserven genommen und der Beschäfti-gungsmotor Zeitarbeit abgewürgt.
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Heike Brehmer
(C)
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Am Ende hätten Sie damit nicht der Branche geschadet,sondern dem Wirtschaftsstandort Deutschland insge-samt. Das wäre nicht nur nicht fair, sondern auch völligfalsch.
Untauglich sind die in der Debatte immer wieder an-geführten Vergleiche mit anderen Ländern. Das Arbeits-recht funktioniert eben nicht nach dem Cafeteria-Prinzip, bei dem Sie sich mal hier und mal da eine Klei-nigkeit nehmen. Deshalb können Sie das französischeAgenturprinzip nicht mit dem deutschen Zeitarbeitsver-hältnis vergleichen. Bei uns besteht zwischen Zeit-arbeitsunternehmen und Zeitarbeitnehmer ein vollwerti-ges sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mitallen Schutzrechten wie Kündigungsschutz,
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsansprü-chen etc., von allen anderen arbeitsrechtlichen Regelun-gen ganz zu schweigen.
Nur aus einem Anlass werden wir das Arbeitnehmer-überlassungsgesetz in diesem Jahr noch einmal in denBlick nehmen, und zwar vor dem Hintergrund der Her-stellung der vollen Freizügigkeit für Arbeitnehmer ausden neuen EU-Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropasab Mai 2011. Diese Freizügigkeit darf nicht dazu führen,dass durch den Einsatz ausländischer Zeitarbeitnehmerdie Zeitarbeitsbranche in Deutschland diskreditiert wirdund es zu sozialen Verwerfungen kommt.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Dies zu verhindern, ist der Zweck des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes. Deshalb kommt für uns auch eine
Aufnahme der Zeitarbeit in das Gesetz in Betracht. Vo-
raussetzung dafür ist ein Mindestlohntarifvertrag der
Branche.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Hiller-
Ohm von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberHerr Kollege Kolb, Frau Brehmer, wir lernen aus Erfah-rungen und ziehen die richtigen politischen Schlüsse fürdie Beschäftigten. Das kann man leider nicht von allenin diesem Haus sagen.
Frau Ministerin von der Leyen hat der Leiharbeits-branche vor wenigen Tagen ein Ultimatum gesetzt,Missbrauch aus eigener Kraft zu unterbinden. Toll, dievielen schwarzen Schafe sollen sich also selbst weißwa-schen. Falls sie das nicht in einigen Wochen oder Mona-ten – da bleibt die Ministerin ein bisschen unbestimmt –schaffen, will die Ministerin zum Gesetzesknüppel grei-fen. Die Auswüchse bei der Leiharbeit sind allerdingsnicht erst in diesen Tagen vom Himmel gefallen. Es gabsie schon lange vor dem Skandal der DrogerieketteSchlecker, über den wir bereits im Januar hier debattierthaben. Jetzt den Finger zu heben, den Tarifparteien zudrohen und auf Freiwilligkeit zu setzen, ist nicht sehrüberzeugend. Wir fordern die Ministerin auf: Warten Sienicht länger! Raus aus der Abwartstarre! Legen Sie einGesetz vor!
In unserem Antrag zeigen wir, wo es langgehen muss.Wir haben unter Rot-Grün in Übereinstimmung mitden Gewerkschaften 2003 das Arbeitnehmerüberlas-sungsgesetz reformiert. Wir haben damals auf Fairnessder Arbeitgeber gesetzt. Dieser Schuss ging bedauerli-cherweise nach hinten los. Wir haben gelernt: Fairnessohne Regeln funktioniert nicht. Deshalb brauchen wirklare Gesetze.
Diese bittere Erfahrung sollte auch die Ministerin zurKenntnis nehmen. Die Ministerin hat ihre Betroffenheitüber die unhaltbaren Zustände in der Leiharbeitsbranchezum Ausdruck gebracht. Ob dahinter aber tatsächlich derWille und vor allem die Kraft stecken, auch etwas für dieMenschen zu verbessern, wage ich zu bezweifeln.
Gelegenheit dazu bestand bereits in der Großen Ko-alition, als wir gemeinsam regiert haben.
Was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU, damals getan? Sie haben so auf der Bremsegestanden, dass Ihnen heute noch die Füße wehtun müs-sen.
Ich bin mir sicher: Bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen werden wir in den Medien eine Ministerin se-hen, die die Missstände in der Leiharbeitsbranche be-klagt und tüchtig mit dem Finger droht. Dann kommt derganz große Katzenjammer. Warum, so frage ich Sie,sollte die Union ausgerechnet mit einer marktradikalen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3359
Gabriele Hiller-Ohm
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FDP an ihrer Seite Arbeitnehmerrechte verbessern,wenn sie es noch nicht einmal mit uns getan hat?
Die Ministerin hat die Katze bereits aus dem Sack gelas-sen. Sie will den Arbeitgebern ein tolles Geschenk ma-chen und den Kündigungsschutz schleifen.
Als wenn wir nicht schon genug prekäre Beschäftigungin Deutschland hätten. Nein, nun soll es noch mehr ge-ben, und zwar durch die Ausweitung befristeter Arbeits-verhältnisse.
Das haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernun wirklich nicht verdient.
Zurück zur Leiharbeit. Schön, dass das Ministeriumdem Parlament nun endlich auch den Bericht über dieErfahrungen mit der Arbeitnehmerüberlassung für denZeitraum 2005 bis 2008 vorgelegt hat. Leider ver-schweigt der Bericht wichtige Fakten, die die tatsächli-che Situation der Beschäftigten in der Leiharbeit be-schreiben, Fakten, die zum Beispiel im IAB-Forschungsbericht zum Thema Arbeitnehmerüberlas-sung zu finden sind, oder Erfahrungen, die die Bundes-agentur für Arbeit gesammelt hat. Wichtige Daten desStatistischen Bundesamtes finden ebenfalls keine Be-rücksichtigung. Der Deutsche Gewerkschaftsbund kriti-siert diese Art der Berichterstattung zu Recht. Solangedie Probleme in der Leiharbeitsbranche von der Bundes-regierung dermaßen verharmlost werden, wird man auftiefgreifende Änderungen vergeblich warten.Aber zum Glück gibt es unseren Antrag. Wir wollengute Arbeit und faire Arbeitsbedingungen für die Leihar-beit. Dazu gehören gleicher Lohn für gleiche Arbeit,Mindestlohn, Begrenzung konzerninterner Verleihung,Stärkung der Mitbestimmungsrechte und Synchronisa-tionsverbot. Damit können wir es schaffen, Leiharbeitauf ihre ursprüngliche Funktion, nämlich Auftragsspit-zen zu bewältigen, zurückzuführen und für die Beschäf-tigten in der Leiharbeit faire Arbeitsbedingungen sicher-zustellen.Die Forderungen in unserem Antrag sind im Übrigennicht neu. Bereits im Frühjahr 2008 haben die SPD-Bun-destagsabgeordneten aus meinem Bundesland Schles-wig-Holstein gemeinsam mit der IG Metall Küste einenumfassenden Forderungskatalog zur Leiharbeit verab-schiedet. Die Umsetzung ist allerdings bislang an derLernunfähigkeit der Union gescheitert. Das ist wirklichschade für die mittlerweile über 600 000 Leiharbeitneh-merinnen und Leiharbeitnehmer in Deutschland. Aberman soll die Hoffnung ja nie aufgeben.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Frau Hiller-Ohm, ich habe mit großen Oh-ren vernommen,
wie konsequent Sie in Ihrer Rede von Leiharbeit stattvon Zeitarbeit gesprochen haben.
Der Sinn ist klar: Sie möchten ein Arbeitsverhältnis dis-kreditieren, das für viele Menschen hilfreich war und einSegen geworden ist.
– Ich habe Ihre Rede sehr aufmerksam verfolgt, in derSie konsequent von der Leiharbeit gesprochen haben. –Dieses Arbeitsverhältnis war für diejenigen Menschenhilfreich – die christlich-liberale Koalition will dieseMenschen nicht aus dem Blick verlieren –, die bisher au-ßerhalb des Arbeitsprozesses waren und für die die Zeit-arbeit eine Möglichkeit ist, in ein Arbeitsverhältnis zugelangen.
Wir wissen, dass 62,2 Prozent der Menschen, die in Zeit-arbeitsverhältnissen arbeiten, zuvor nicht beschäftigtwaren. Wir wissen, dass 11,4 Prozent davor überhauptnoch nie beschäftigt waren. Das zeigt deutlich, dass Zeit-arbeit den Menschen eine Chance bietet, wieder in dieArbeitswelt integriert zu werden.
Auf diesen positiven Effekt für die betroffenen Men-schen wollen wir nicht verzichten.
Wir werden nicht zulassen, dass dieses Arbeitsverhältnisdiskreditiert wird, sei es auch nur in der Wortwahl.
Was wir auch noch in den Vordergrund rücken wol-len, ist der sogenannte Klebeeffekt. Dies ist kein schönesWort; aber der Sachverhalt, der dahintersteckt, ist klar.Nun hat Frau Kramme in diesem Zusammenhang eineStudie zitiert, die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass15 Prozent der Menschen ein dauerhaftes Arbeitsver-
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Pascal Kober
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hältnis in den Betrieben erhalten. Es gibt eine andereStudie – sie stammt vom Institut der deutschen Wirt-schaft –, die von 25 Prozent spricht.
Irgendwo dazwischen wird vielleicht die Wahrheit lie-gen; wir müssen uns da nicht festlegen. Aber auf genaudiesen Effekt wollen wir im Sinne der betroffenen Men-schen nicht verzichten.Ich füge hinzu: Es gibt darüber hinaus den Effekt,dass Menschen, die in Zeitarbeitsverhältnissen gearbei-tet haben, zwar nicht in dem entleihenden Unternehmentätig geworden sind, aber in einem anderen. Es gibt Stu-dien, die davon ausgehen, dass dies in 20 Prozent derFälle so ist. Ich sage für die christlich-liberale Koalition:Auf diesen positiven Effekt wollen wir nicht verzichten.
Frau Kramme, wir gestehen Ihnen zu, dass Sie dazu-lernen wollen. Sie sollten allerdings nicht den Eindruckerwecken, dass dieses Dazulernen erst nach dem28. September 2009 eingesetzt hat,
letztlich koalitionstaktisch motiviert ist und nicht der Sa-che entspricht.Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Ulrich Lange von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren von der SPD, Ihr heutiger An-trag ist die Demonstration des späten schlechten Gewis-sens. Wie Sie selber sagen: In der Regierung haben SieFehler gemacht. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Sie dasheute so sehen. In der Opposition haben Sie, nachdemSie elf Jahre das Arbeitsministerium innehatten, dieseErkenntnis. Wir können Ihnen nur wünschen: BleibenSie in der Opposition!
Jetzt versuchen Sie krampfhaft die Rolle rückwärtsaus der – wie ich es das letzte Mal vor acht Wochen ge-nannt habe – Populismusfalle.
– Es wird ein Salto mortale. Ihr ehemaliger Arbeits- undWirtschaftsminister Clement hat das damals als „HartzerRolle rückwärts“ bezeichnet.
Das ist ein Salto mortale rückwärts, um ganz links zulanden; das hat man gemerkt. Aber das schaffen Sienicht.
Das hat Ihnen die Kollegin Krellmann gerade vorge-macht. Sie springen nach links,
und in der Zwischenzeit springen die Linken noch einStück weiter.
Sie kommen nicht hinterher. Lesen Sie das Lafontaine’scheManifest. Dann wissen Sie, was los ist.
– Es ist einfach so. Die heutige Debatte kann man nichtanders bewerten.Ich möchte Sie nicht nur schelten; denn in seinerGrundidee ist das AÜG richtig.
Die jetzt vorgelegte Unterrichtung ist nichts anderes alseine Bilanz des Arbeitsministers Olaf Scholz.
– Es nützt Ihnen nichts. Sie müssen sich das anhören. –Auf die positiven Effekte hat der Kollege Kober ebenhingewiesen. Auch ich habe sie mir noch einmal aufge-schrieben: Die Leih- bzw. Zeitarbeit – ich verwendebeide Begriffe, damit Sie zufrieden sind – ist ein wichti-ger Faktor auf dem deutschen Arbeitsmarkt geworden.Wir wollen diesen wichtigen Faktor erhalten. Zeitarbeitschafft Perspektiven. Sie ist die Brücke in den ersten Ar-beitsmarkt, die wir so dringend brauchen.
Außerdem handelt es sich um voll sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
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Ulrich Lange
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Frau Kollegin Kramme, in einem Punkt kann ich Ih-nen nicht recht geben. Bei der Zeitarbeit gelten die glei-chen Arbeitnehmerschutzrechte wie in anderen Arbeits-verhältnissen. Sie behaupten, das stimme weder beimUrlaub noch beim Kündigungsschutz.
Das ist nicht richtig. Ich gehe davon aus, dass Sie das alsRechtskundige wissen, auch wenn Sie einen anderenEindruck vermitteln wollen.
– Ich habe zugehört. – Ich nenne Ihnen noch einen Punkt,wo Sie die Linke nicht einholen werden – Sie gehen nurein bisschen auf sie zu; die Linke geht viel weiter –: Wirwollen keine zusätzlichen Mitbestimmungsrechte in derZeitarbeit.
Es wäre das Ende der Zeitarbeit, wenn wir versuchenwürden, das über Einigungsstellen zu regeln.
Das funktioniert nicht. Das kann ich Ihnen aus der Praxisberichten.Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben auf die Kritikdes DGB Bezug genommen. Ich habe mir das extra ausmeinen Unterlagen herausgesucht. Schon wieder kannman sehen, wie nahe Sie an der Linken dran sind; denndie DGB-Kritik bezieht sich auf eine Kleine Anfrage derLinken aus der letzten Legislaturperiode, auf Drucksa-che 16/9410. Nennen Sie doch gleich Ross und Reiter.Sagen Sie, wohin Sie wollen. Setzen Sie sich in einervereinigten Linken zusammen. Dann ist das in Ordnung;aber führen Sie keine solchen Debatten.
– Nein. Wenn Sie reden wollen, dann lassen Sie sich aufdie Rednerliste setzen. Ansonsten rede heute ich.
Die christlich-liberale Koalition steht zur seriösenund soliden Zeitarbeit. Wir sagen klar Nein zum Lohn-dumping und zum Drehtüreffekt.
In meiner letzten Rede habe ich das bereits ausgeführt.Wir glauben an die Tarifvertragsparteien und möchten ih-nen das überlassen. Schauen Sie sich den neuen Tarifver-trag der BZA-DGB-Tarifgemeinschaft an. Es sind 3 Centmehr als bei den christlichen Gewerkschaften. Ich würdevorschlagen, dass Sie die Kirche im Dorf lassen.Wir sagen Nein zum Missbrauch. Das haben AngelaMerkel und Ursula von der Leyen deutlich gemacht. Ge-ben Sie den Menschen durch die Zeitarbeit die Chance,auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren.Herzlichen Dank und frohe Ostern.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1155 und 17/464 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard
Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht
dem Zufall überlassen
– Drucksache 17/1149 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll von der
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Bekämpfung von Steuerflucht funktio-niert in Deutschland letztendlich nur noch über den An-kauf von illegal beschafften Steuersünder-CDs. Damitwird offenkundig der Teufel mit dem Beelzebub ausge-trieben. Sich auf kriminelle Machenschaften zu stützen,ist dem Anspruch eines Rechtsstaates nach Meinung derLinken nicht nur unwürdig, sondern auch ungerecht unduneffektiv, da rein willkürlich und zufällig.Die Ergebnisse der internationalen Verhandlungen zurBekämpfung von Steuerflucht sind bescheiden, sofernüberhaupt welche erreicht werden; denn etliche Steuer-paradiese spielen ganz offenkundig auf Zeit. Aufgrundbloßer Absichtserklärungen, ohne auch nur einen Deutverändert zu haben, werden sie von der OECD nichtmehr als Steueroasen betrachtet.
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3362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Dr. Barbara Höll
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Das Beispiel Frankreich zeigt allerdings, dass mansich von der Definitionsmacht der OECD nicht abhängigmachen muss. Frankreich hat eigene Kriterien entwi-ckelt. Auf deren Grundlage kann Frankreich seit Februar18 Länder eindeutig als Steueroasen bestimmen, undFrankreich hat es getan. Demgegenüber kennt die Bun-desregierung bis heute keine einzige Steueroase. Würdenwir jedoch die französischen Kriterien anwenden, so wä-ren auch bei uns mindestens 10 der 18 Steueroasen alssolche einzuordnen.Wir brauchen also einfach eine eindeutige Definition.Deshalb schlagen wir Ihnen vor, dass alle Staaten, dienicht bis zum 30. Juni dieses Jahres die folgenden beidenBedingungen erfüllen, als Steueroasen gelten und alssolche behandelt werden:
Erstens. Es muss ein Abkommen mit Deutschlandüber den Informationsaustausch in Steuersachen nachdem OECD-Standard nicht nur angekündigt, sondernauch umgesetzt sein.Zweitens. Es muss eine Verpflichtung dieser Staatenvorliegen, die zur Bekämpfung der Steuerhinterziehungnotwendigen Informationen auch zu erheben;
denn ohne die entsprechenden Informationen läuft jedesAuskunftsersuchen offenkundig ins Leere.Als erste Maßnahme sind vorhandene Doppelbesteue-rungsabkommen mit den Steueroasen zu kündigen. Dieeindeutige Identifikation dieser ermöglicht sodann wirk-same Maßnahmen auf nationaler Ebene. Hierzu schlagenwir Ihnen vor: Dividenden, Zinsen und Lizenzabgaben,die in Steueroasen fließen, müssen mit einer spürbarenQuellensteuer von 50 Prozent belegt werden.
Die Quellensteuerbefreiung für Personen mit Wohnsitzin Steueroasen muss natürlich aufgehoben werden. Ähn-liches hat Frankreich bereits umgesetzt. Banken, dieFilialen oder gar ihren Sitz in Steueroasen haben, muss dieGeschäftsgenehmigung entzogen werden. Ich glaube, dasist ein sehr wirksames Mittel. Die zur Besteuerung rele-vanten Informationen müssen über eine Meldepflicht fürVermögenstransfers über 100 000 Euro ins Ausland be-schafft werden. Das sind drei ganz konkrete Maßnah-men, die wir relativ schnell umsetzen könnten.Die Bekämpfung von Steuerhinterziehung ist abernicht zuletzt auch eine Frage der Personalausstattung derSteuerverwaltungen. Hier liegt in Deutschland aufgrundder föderalen Gestaltung sehr viel im Argen. Man musseinfach feststellen, dass es sich für die Bundesländer garnicht lohnt, Investitionen in die Steuerverwaltung zu tä-tigen, da ihnen daraus resultierende Mehreinnahmenüber den Länderfinanzausgleich gleich wieder abgenom-men werden. Auch fehlt ein verbindlicher Standard beider Ermittlung des Personalbedarfs. Hier besteht drin-gender Änderungsbedarf.
Auf EU-Ebene bleibt die Neugestaltung der EU-Zins-richtlinie vorrangig. Diese muss endlich alle Kapitalein-künfte erfassen und auch für Kapitalgesellschaften gel-ten.Noch eine grundsätzliche Forderung: Schaffen Sieendlich die ungerechte und hinterziehungsanfällige Ab-geltungsteuer ab. Kapitaleinkommen gehören genausowie Lohneinkommen dem persönlichen Steuersatz un-terworfen.
Dies wäre ein wichtiger erster Schritt zur Eindämmungdes internationalen Steuerwettbewerbs, der Steuerhinter-ziehung überhaupt erst attraktiv macht.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Die Linke meint: Die Bekämpfung der Steuerhinter-
ziehung darf nicht dem Zufall überlassen werden. Des-
halb haben wir unsere Vorschläge hier zur ersten Bera-
tung vorgelegt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Manfred Kolbe von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich begrüße insbesondere die beiden Mitglie-der meiner Arbeitsgruppe, Patricia Lips und MathiasMiddelberg, die zu dieser Debatte erschienen sind.
Die unionsgeführte Bundesregierung, Frau Höll, hatnicht nur gefordert, sie hat bei der Bekämpfung derSteuerhinterziehung auch gehandelt.
Unsere Bilanz seit 2005 ist eindrucksvoll. Da könntenauch Sie von der SPD klatschen; Sie waren ja einigeJahre dabei.Wir haben den verfassungsrechtlich problematischen§ 370 a der Abgabenordnung abgeschafft und verfas-sungsfest durch § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 der Abgaben-ordnung ersetzt, durch den eine bandenmäßige Hinter-ziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuern qualifiziertbestraft wird.Wir haben mit dem Gesetz zur Neuregelung der Tele-kommunikationsüberwachung die bandenmäßige Hin-terziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuer in den Ka-talog des § 100 a Strafprozessordnung aufgenommen.
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Manfred Kolbe
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Damit ermöglichen wir erstmals eine Telekommunika-tionsüberwachung bei Steuerhinterziehungstaten. Dashat es vorher nicht gegeben.Wir haben im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2009die Verjährungsfrist für besonders schwere Fälle derSteuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert.Neben unseren gesetzgeberischen Aktivitäten arbeitetauch die Steuerfahndung in Deutschland erfolgreich.Jahr für Jahr gibt es 40 000 Verfahren, 17 000 Strafver-fahren und Mehreinnahmen in Milliardenhöhe.Sehr zu begrüßen ist auch, dass der Bundesgerichts-hof jüngst die Strafzumessungsregeln bei Steuerhinter-ziehung präzisiert hat. Der Strafrahmen von bis zu zehnJahren Freiheitsstrafe ist durchaus ausreichend, aberman hatte manchmal, wenn man die Urteile gelesen hat,den Eindruck, dass er nicht immer voll ausgeschöpftwurde. Deshalb hat der Bundesgerichtshof jetzt ent-schieden, dass Freiheitsstrafen künftig schon bei einemSteuerschaden von mehr als 50 000 Euro möglich und ab100 000 Euro, jedenfalls bei Wiederholungstätern, uner-lässlich sind. Bei Hinterziehung in Millionenhöhe istauch bei Ersttätern grundsätzlich eine Freiheitsstrafe ge-boten. Wer künftig Steuern in Millionenhöhe hinterzieht,wird also tatsächlich im Gefängnis sitzen. Das ist richtigso.
Schließlich haben wir den Koalitionsantrag „Steuer-hinterziehung bekämpfen“ beschlossen, in dem insbe-sondere eine umfassende Überarbeitung und Erwei-terung der EU-Richtlinie zur Zinsbesteuerung und einverbesserter Informationsaustausch auf internationalerEbene gefordert werden. Dies haben wir im Laufe desletzten Jahres erreicht. Wir haben jetzt mit allen großenIndustriestaaten einen Informationsaustausch, der denOECD-Standards entspricht. Derzeit laufen letzte Ver-handlungen. Beispielsweise wird heute Bundesfinanz-minister Schäuble seinen Schweizer Amtskollegen tref-fen; auch hier werden wir zu einem erfolgreichenAbschluss gekommen.In Brüssel liegt auch ein Abkommen der EU mitLiechtenstein unterschriftsreif vor. Man höre und staune– im Ausschuss am Mittwoch waren wir alle etwas er-staunt –: Das wird von Luxemburg und Österreich blo-ckiert, weil sie weniger einschneidende Maßnahmen beider EU-Richtlinie zur Zinsbesteuerung fordern. Das istin der Tat unerhört. Die Sozialdemokraten haben letztesJahr den Einsatz der Kavallerie gefordert.
Jetzt könnten Sie zumindest zum Telefonhörer greifenund mit dem österreichischen Bundeskanzler sprechen,damit er eine etwas konstruktivere Haltung einnimmt.
Wir haben auch gerade in den letzten Wochen bewie-sen, dass wir Steuerhinterziehung energisch bekämpfen,Stichwort „Steuersünder-CD“. Obwohl das eine schwie-rige rechtliche Frage ist, die eine Abwägung erfordert,hat sich die Bundeskanzlerin klar positioniert. Am1. Februar dieses Jahres hat sie gesagt: Vom Ziel hersollten wir, wenn diese Daten relevant sind, auch in ih-ren Besitz kommen. Jeder vernünftige Mensch weiß,dass Steuerhinterziehung geahndet werden muss. – Daswar von Anfang an keine Moderation, sondern eine klarePositionierung, und das auf einem schwierigen Rechts-gebiet.Es geht um einen Konflikt, der sämtliche Rechtsord-nungen seit Jahrhunderten durchzieht: Man möchte diematerielle Wahrheit erforschen, darf dabei aber nicht alledenkbaren Mittel anwenden, muss also prozessual ein-wandfrei vorgehen. Hier sind in allen Rechtsordnungenimmer wieder schwierige Abgrenzungen vorzunehmen.Die Frage ist: Liegt ein Beweisverwertungsverbot vor,wenn Beweismittel, wie im Falle der Steuer-CD offen-kundig, rechtswidrig erlangt worden sind?
Diese Abwägung haben wir durchgeführt und sind zueinem eindeutigen Ergebnis gekommen.
Die Koalition verfolgt nicht nur die Steuerhinterziehungenergisch, sondern wahrt dabei auch die rechtsstaatli-chen Grundsätze.
Unsere Politik ist erfolgreich. Seit Beginn dieses Jah-res sind bei deutschen Finanzämtern über 10 000 Selbst-anzeigen eingegangen. Wir erzielen möglicherweiseSteuermehreinnahmen in Milliardenhöhe. Dies zeigt,dass wir erfolgreich sind und dass man sehr vorsichtigsein muss, ehe man die vollständige Abschaffung des§ 371 Abgabenordnung fordert.
Dieser Schuss kann auch leicht nach hinten losgehen.
Abschließend will ich noch zu dem Antrag der Lin-ken kommen. Frau Höll, einige Punkte Ihres Antragssind wirklich bemerkenswert,
selbst dann, wenn man berücksichtigt, welches Niveaudie Anträge, die die Linken sonst einbringen, haben.Zum Teil ist das, was Sie fordern – wenn dieser Aus-druck nicht unparlamentarisch ist, Herr Präsident –,wirklich abwegig.
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3364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
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Erstens. Sie fordern, dass Deutschland auf dem Ge-biet der internationalen Steuerhinterziehung einen natio-nalen Alleingang unternimmt. Die Bundesregierung sollhierzu einen Gesetzentwurf vorlegen.
Das Problem der internationalen Steuerhinterziehungkönnen wir möglicherweise noch nicht einmal auf euro-päischer Ebene alleine lösen, sondern das ist nur globalmöglich. Aber Sie fordern die Bundesregierung auf, einnationales Gesetz zu diesem sehr komplizierten Gebietvorzulegen.
Das ist doch kompletter Unsinn. Das wird zu keinem Er-gebnis führen.
Zweitens. Sie möchten, dass Deutschland eine Liste„nicht kooperativer Staaten“ aufstellt.
Wollen Sie allen Ernstes, dass die Bundesregierung eineListe „nicht kooperativer Staaten“ aufstellt?
Das ist doch nationale Kanonenbootpolitik. Das gehtnach hinten los.
Wegen der Äußerungen des ehemaligen Bundes-finanzministers Steinbrück hatten wir schon genug Pro-bleme;
damals war von Indianern, von der Kavallerie und vonOuagadougou die Rede.
Jetzt soll die Bundesrepublik Deutschland eine Listenicht kooperationswilliger Staaten aufstellen,
an der OECD und der EU vorbei. Das ist wirklich hane-büchener Unsinn.
Was Ihre dritte Forderung betrifft, möchten Sie, dasssie bis zum 30. Juni 2010 erfüllt wird. Dieses Datummuss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Zu IhrerInformation: Heute ist der 26. März 2010.
Selbst wenn Ihr Antrag eine Mehrheit fände und derBundestag ihm zustimmen würde, wäre es April oderMai, ehe die Bundesregierung tätig würde.
Sie fordern die Bundesregierung auf, bis zum 30. Juni2010 alle Doppelbesteuerungsabkommen, die Deutsch-land geschlossen hat, zu kündigen,
wenn sich der jeweils andere Staat nicht kooperativ ver-hält. Das ist eine Forderung, die den deutschen Interes-sen massiv schaden würde.
– Herr Kollege Troost, Deutschland als internationalagierender Staat hat ein großes Interesse an Doppelbe-steuerungsabkommen.
– Es geht ja um alle Doppelbesteuerungsabkommen.
– Mit Steueroasen schließen wir gar keine Doppel-besteuerungsabkommen; das sollten Sie wissen.
Doppelbesteuerungsabkommen werden nur mit wirt-schaftlich tätigen Ländern geschlossen.
Wir haben doch beide selber erlebt, wozu die Kündigungeines Doppelbesteuerungsabkommens führt: Das scha-det der deutschen Wirtschaft, das schadet den deutschenKulturschaffenden vor Ort. Eine Kündigung ist Unsinn.
– Dann fordern Sie doch so etwas nicht in einem Antrag!Bis zum 30. Juni 2010 alle Doppelbesteuerungsabkom-men zu kündigen, das ist einfach ein Eigentor.
Ich sage abschließend: Ersparen Sie uns die Beratungdieses Antrages im Ausschuss!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3365
Manfred Kolbe
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Ziehen Sie den Antrag in Ihrem eigenen Interesse zu-rück!Danke.
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alsich zu Beginn dieser Woche erfahren habe, dass dasThema Steuerhinterziehung einmal mehr auf der Tages-ordnung des Deutschen Bundestages steht, war ich zu-nächst erfreut. Schon als ich den Titel Ihres Antrags ge-lesen hatte, dachte ich allerdings: Das ist offensichtlichein mit heißer Nadel gestrickter, unausgegorener Antrag.Der Titel „Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nichtdem Zufall überlassen“ passt nicht. Der Faktor Zufall istnicht das, was wir angehen müssen. In Bezug auf dieSteuerhinterziehung haben wir doch ein ganz anderesProblem: dass es mancher politischen Partei in Deutsch-land an dem Willen fehlt, Steuerhinterziehung wirksamund nachhaltig zu bekämpfen.
Kollege Manfred Kolbe, ich schätze Sie persönlichsehr. Sie haben hier von einer eindrucksvollen Bilanz ge-sprochen. Was wir in der Großen Koalition auf den Weggebracht haben, kann sich, denke ich, sehen lassen. Aberwer war eigentlich der Motor, wer war die Triebfeder fürall das, was wir gemacht haben? Das war doch nicht dieUnionsfraktion, das war doch nicht die Kanzlerin. Eswar Finanzminister Peer Steinbrück von der SPD, derdas Ganze angeregt und angetrieben hat.
Das gehört doch auch zur Wahrheit: Wir mussten Siezum Jagen tragen, damit wir am Schluss nach quälendenDiskussionen und Monaten des Verschiebens überhauptetwas auf den Weg bringen konnten.Wenn ich hier höre, dass Schwarz-Gelb die Steuerhin-terziehung tatsächlich zum großen Thema mache, will ichsagen: Ich habe den Eindruck, dass Schwarz-Gelb keineklare Linie hat. Was Sie hier veranstalten, ist ein Torso.Schauen Sie einmal, was die Landesregierung von Ba-den-Württemberg macht! FDP-Justizminister Goll sagt:Wir wollen diese Steuer-CD nicht ankaufen. CDU-Finanzminister Stächele sagt: Wir wollen sie kaufen. Derneue Ministerpräsident, Stefan Mappus, sagt: Wir kaufensie lieber nicht. – Andernfalls wäre nämlich seine Wahlgefährdet gewesen. Das ist doch kein effizienter Kampfgegen Steuerhinterziehung. Baden-Württemberg hättediese CD kaufen müssen. Dann hätten Sie Ihren eigenenMinister, Bundesfinanzminister Schäuble, nicht in diemissliche Situation gebracht, dass er letztendlich vonBundesland zu Bundesland laufen und jemanden suchenmusste, der sich bereit erklärt, diese Steuer-CD zu kaufen.
– In NRW hat man diese CD jetzt gekauft. Die Fragebleibt: Ist das eigentlich ein nachhaltiger und guter An-satz, um Steuerhinterziehung zu bekämpfen? Sie sinddoch ganz unterschiedlich unterwegs: Hier sagen Sie Ja,dort sagen Sie Nein.
So sieht ein effektiver Kampf gegen Steuerhinterziehungjedenfalls nicht aus.
Ich will deutlich machen, dass es hier nicht um ir-gendein Thema geht. Die Steuerhinterziehung hat einegigantische Dimension angenommen, ein unglaublichesAusmaß: 11 000 Selbstanzeigen – davon, vielleicht auchkein Zufall, 3 000 in Baden-Württemberg – sprechen fürsich.Es wäre notwendig, dass Schwarz-Gelb überall dort,wo man in den Ländern Verantwortung trägt, sagt: An-gesichts der Verfahren, die jetzt eingeleitet werden, mussdie Steuerfahndung personell besser ausgestattet werden.
Was passiert in den Ländern, in denen Sie regieren? Garnichts.
Das zeigt: Es ist kein Zufall, es hat System. Es fehlt andem politischen Willen, tatsächlich intensiv gegen Steu-erhinterziehung vorzugehen.
Das zeigt, dass wir sinnvolle, nachhaltige Maßnahmenbrauchen, um der systematischen Hinterziehung vonGeldern entgegenzuwirken. Das sind im Übrigen Gelder,die wir für öffentliche Leistungen dringend brauchen.Ich erinnere nur an die Haushaltsberatungen der letztenWoche oder auch an jeden einzelnen Tagesordnungs-punkt hier im Plenum, den wir diskutieren. Überall stelltsich die Frage: Woher soll das Geld kommen? Sie wärengut beraten, die Maßnahmen in Sachen Steuerhinterzie-hung zu intensivieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-tion, ich komme ganz konkret auf Ihren Antrag zu spre-
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Martin Gerster
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(B)
chen. Ich habe den Eindruck, dass es sich um einenSchaufensterantrag handelt.
Es ist sicher richtig: Wir müssen schauen, dass wir dieOECD-Standards bei den Doppelbesteuerungsabkom-men einhalten. Es ist sicher auch wichtig, dass wir denAustausch der Informationen zur Ermittlung der Delikteso umfassend wie möglich gestalten. Aber ich kommeauf das zurück, was der Kollege Kolbe gesagt hat: Wasbringt uns bitte schön die Androhung, die bestehendenDoppelbesteuerungsabkommen zum 30. Juni dieses Jah-res zu kündigen? Die internationale Signalwirkung wäreaus meiner Sicht verheerend. Wer wäre davon betroffen?Die Leidtragenden wären die unbescholtenen, ehrlichenBürgerinnen und Bürger, die dann nach Auflösung derDoppelbesteuerungsabkommen damit rechnen müssten,dass sie, ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen,an dieser Stelle doppelt besteuert würden. Ich denke,dass nationale Drohgebärden ohne Verbündete auf inter-nationaler Ebene keine Lösung sein können.
Richtig hingegen, so glauben wir, ist der Weg, denBundesfinanzminister Peer Steinbrück damals mit sei-nem französischen Kollegen eingeschlagen hat. DieserWeg war richtig und erfolgreich. Die Reaktionen der be-troffenen Länder machen deutlich, dass sie die OECD-Standards umsetzen und dass die angedrohten Maßnah-men gegenüber diesen unkooperativen Staaten Wirkungzeigen. Wir glauben, dass wir in der Großen Koalitionsehr viel Wichtiges auf den Weg gebracht haben.Kollege Kolbe hat das Steuerhinterziehungsbekämp-fungsgesetz angesprochen, ein riesiger Schritt. Damithaben wir viel erreicht. Wir hätten noch ein bisschenmehr erreichen können, Herr Kolbe, wenn unser Koali-tionspartner nicht immer so widerspenstig gewesenwäre. Aber die Anhebung der Verjährungsfrist in Fällenbesonders schwerer Steuerhinterziehung, der Ausbau derMöglichkeiten, die Steuerhinterziehung zu verfolgen,aber auch die Einschränkung der Steuergestaltungsmög-lichkeiten bei der Unternehmensteuerreform 2008 warenrichtige Schritte. Schade ist, dass offenbar Ihr ohnehinnicht besonders ausgeprägter Ehrgeiz mit dem neuenKoalitionspartner an dieser Stelle ganz erloschen ist.
Bislang haben wir von Ihnen jedenfalls zu diesemThema keine Initiative gesehen.
Von der FDP-Fraktion vermissen wir seit Jahren parla-mentarische Initiativen zum Thema Bekämpfung vonSteuerhinterziehung.
– Das hat sicher auch Gründe.Kurzum: Wir haben ein klares Ziel. Steuerhinterzie-hung muss endlich intensiv bekämpft werden, und zwarnoch stärker als bisher. Sie von Schwarz-Gelb sind dagefordert. Steuerhinterziehung muss aus dem verniedli-chenden Image des Kavaliersdelikts herauskommen. Wirbrauchen diese Gelder, die notwendig sind, wichtige In-vestitionen für unser Land zu tätigen. Deswegen glaubenwir, dass weitere Maßnahmen erforderlich sind, zumBeispiel ein einheitlicher Umgang mit den angebotenenDaten von Steuerhinterziehern. Wir müssen die Länderin die Lage versetzen, die Steuerfahndungen entspre-chend auszubauen. Wir brauchen in der Steuerfahndungeine internationale Zusammenarbeit, besonders beimUmsatzsteuerbetrug.Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ich denke, sagen zu können: DieSPD-Fraktion steht für die konsequente Verfolgung undAhndung von Steuerkriminalität in der Vergangenheit,aber auch in der Zukunft. Deswegen werden wir weitereInitiativen auf den Weg bringen.Herzlichen Dank und frohe Ostern.
Das Wort hat der Kollege Daniel Volk von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Um eines vorab klarzustellen: Steuerhinterziehung
ist in Deutschland kein Kavaliersdelikt, sondern eine
Straftat. Trotzdem muss sich der Staat auch selbst an gel-
tendes Recht halten. Der Diebstahl von Daten Tausender
Bankkunden ist ebenso eine Straftat. Daher muss genau
geprüft werden, ob der Kauf von Informationen zulässig
ist. Die FDP unterstützt den Bundesminister der Finan-
zen in seinem Vorgehen gegen Steuerhinterziehung, aber
dies muss im Einklang mit den Prinzipien unseres
Rechtsstaates stehen.
Was die Linksfraktion mit dem Titel ihres Antrags
suggerieren möchte, nämlich dass Steuerfahndung sozu-
sagen ein Zufall sei,
ist an sich eine Beleidigung sämtlicher Finanzbeamter,
die ihren Dienst sehr ordentlich versehen.
Sie beleidigen damit 152 400 Finanzbeamte in 1 536 Fi-
nanzämtern. Das muss auch klar gesagt sein.
Herr Kollege Volk, erlauben Sie eine Zwischenfrageder Kollegin Höll?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3367
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Nein. – Allerdings stellen sich in unserem Land nichtwenige Menschen die Frage, ob unser Steuersystemnoch gerecht ist. Wenn mittlerweile nicht mehr nur dieLeistungsträger, sondern auch die gesamte Mittelschichtfinanziell ausgequetscht wird, dann kann man das ver-stehen. Wir werden für ein einfaches, niedriges und ge-rechtes Steuersystem sorgen
und damit auch die notwendigen Ressourcen in den Fi-nanzämtern für die Steuerfahndung und Steuerüberprü-fung freisetzen.
Das macht auch einen allzu neugierigen Staat in vie-len Bereichen überflüssig. Wenn man den Antrag derLinksfraktion liest, dann hat man ein bisschen das Ge-fühl – ich habe es jedenfalls –, dass sie ganz gerne wie-der einen Schnüffelstaat hätte. Damit kennen Sie sich inIhrer Geschichte ja sehr gut aus.
Wir werden dafür sorgen, dass sich Arbeit wiederlohnt, dass den Bürgern mehr Netto vom Brutto bleibt.
Das Steuersystem und das Besteuerungsverfahren wer-den wir deutlich vereinfachen und für die Anwenderfreundlicher gestalten: Zeitnahe Betriebsprüfungen, ge-rechtere Steuern, die Abschaffung des Mittelstandsbau-ches, Steuerverfahrensvereinfachungen werden Schritte– um nur einige zu nennen – in die richtige Richtungsein.
Sie von der Linksfraktion wollen Übertragungen vonGeldvermögen ins Ausland ab einem jährlichen Betragvon 100 000 Euro meldepflichtig machen. Ihnen ist hof-fentlich klar, dass das ein Verstoß gegen die Kapitalver-kehrsfreiheit innerhalb der Europäischen Union ist.
Insofern sieht man auch hier, dass die Linkspartei offen-bar bereit ist, gegen die Bestimmungen und Vereinba-rungen der Europäischen Union zu verstoßen.Die mehr als 100 Doppelbesteuerungsabkommen, dieDeutschland mit anderen Ländern geschlossen hat, sindein sinnvolles Instrument für mehr Steuergerechtigkeit –nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Das Ziel derDoppelbesteuerungsabkommen ist die Vermeidung derDoppelbesteuerung, aber nicht das Herbeiführen einerNullbesteuerung. Es sind also sinnvolle Instrumente fürmehr Steuergerechtigkeit. Es entspricht nicht meinemRechtsverständnis, dass Menschen doppelt Steuern ab-führen müssen. Das widerspricht dem Grundsatz derEinmalbesteuerung.
Zur Vermeidung von Nullbesteuerungen sind in vieleDoppelbesteuerungsabkommen sogenannte Subject-to-Tax-Klauseln integriert worden. Diese Rückfallklauselnrichten sich gegen eine Doppelbefreiung bei der Veranla-gung. Gerade Deutschland hat diese Ergänzung im Rah-men der Gestaltung von Doppelbesteuerungsabkommensehr häufig vereinbart. Und das wollen Sie jetzt abschaf-fen?
Auch bleibt zu überlegen, wen Sie mit Ihrer Forde-rung eigentlich bestrafen wollen. Die großen Steuerbe-trüger? Wohl nicht. Denn die bringen ihr Geld von vorn-herein in ein anderes Land.
Sie werden eher die steuerehrlichen Kleinanleger bestra-fen, die im Rahmen der deutschen und europäischen Ge-setze ihr Erspartes in Europa oder anderswo anlegen.
Sie nehmen also für die Steuersünder eine ganze Be-völkerung in Sippenhaft. Auch damit kennen Sie sich of-fenbar sehr gut aus.
Sie wollen die Niederlassung ausländischer Bankenin Deutschland verbieten, Kreditinstituten mit Filialenim Ausland die Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb versa-gen. Sie wollen die Übertragung von Geldvermögen insAusland meldepflichtig machen.
Und letztens habe ich von Ihrer wirtschaftspolitischenSprecherin Wagenknecht gehört, es soll auch eine Weg-zugsteuer eingeführt werden.
In Wahrheit wollen Sie wieder Mauern bauen,
aber nicht wie früher aus Beton und Stacheldraht, mitTretminen und Selbstschussanlagen. Nein, Sie wollenjetzt viel subtiler Mauern bauen: durch AbschottungDeutschlands vom Ausland, durch Wegzugsbeschrän-
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3368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Dr. Daniel Volk
(C)
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kungen und Abschaffung von Kapitalverkehrsfreiheit,durch Eingriffe in die Freiheit jedes einzelnen Bürgers.Die christlich-liberale Koalition hingegen steht fürdie Freiheit des Einzelnen, für ein faires Verhältnis zwi-schen Bürger und Staat. Wir werden Ihren Antrag daherablehnen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Gerhard Schick vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich finde
es nicht in Ordnung, dass, wenn man Defizite bei der
Bekämpfung von Steuerflucht anspricht, dies damit
gleichgesetzt wird, dass man sich gegen die engagierten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Finanzverwal-
tung richtet.
Ganz im Gegenteil: Gerade die fordern von uns, dass wir
endlich die Grundlagen schaffen, damit sie sinnvoll ar-
beiten können und nicht mehr so viele Verfahren durch
Verjährung oder in irgendwelchen Deals enden, weil wir
nicht die entsprechenden Voraussetzungen schaffen.
Deswegen fand ich den Vorwurf daneben.
Ich glaube, man kann in aller Sachlichkeit wahrneh-
men – das haben wir auch aus dem Bericht im Ausschuss
erfahren –, dass das Ministerium an verschiedenen Stellen
die Politik weiterführt, die Doppelbesteuerungsabkom-
men am OECD-Standard auszurichten. Dazu laufen ver-
schiedene Verhandlungen. Das ist auch gut. Mit der
Schweiz scheint eine Einigung erzielt worden zu sein.
Das Problem dabei ist allerdings, dass der OECD-
Standard völlig unzureichend ist. Deswegen brauchen
wir dringend eine Initiative dieser Bundesregierung auf
internationaler Ebene, um den OECD-Standard weiter-
zuentwickeln. Denn um sich freizukaufen, reicht es aus,
dass man mit zwölf weiteren Steueroasen ein schönes
Doppelbesteuerungsabkommen schließt. Daher brau-
chen wir endlich einen Standard, der die effektive Zu-
sammenarbeit zwischen den Ländern zum Maßstab
macht.
Eine Erklärung, irgendwo gebe es eine Zusammenarbeit,
reicht nicht aus. Diese Initiative durch die Bundesregie-
rung steht aus. Da müssen Sie nachlegen.
Es ist vielleicht nicht alles dem Zufall überlassen,
aber die Bemühungen, die es derzeit gibt, haben schon
etwas damit zu tun, dass Daten angeboten worden sind,
und zwar die berühmten CDs. Das haben Sie sicherlich
nicht geplant; das ist wohl Zufall.
Auch an einem weiteren Punkt wird deutlich, dass Sie
nicht aktiv versuchen, innerhalb der Möglichkeiten des
deutschen Rechts das Bestmögliche zu tun. In Frank-
reich sind seit Dezember Daten von einer Schweizer
Bank verfügbar. Die Bundesregierung hat diese Woche
meine Frage, ob inzwischen Daten aus diesem Bestand
in Deutschland verfügbar sind, mit Nein beantwortet.
Warum warten Sie ab, bis Frankreich irgendwann auf
die deutsche Steuerverwaltung zukommt? Aktive und
kontinuierliche Bekämpfung von Steuerflucht würde be-
deuten, dass Sie so wie andere Staaten, die bei uns ange-
fragt haben, sobald wir Daten hatten, selber aktiv auf die
französischen Behörden zugehen und nach diesen Daten
fragen. Das haben Sie nicht gemacht. Sie überlassen es
eben doch dem Zufall.
Das Absurdeste ist der Umgang mit dem Steuerhinter-
ziehungsbekämpfungsgesetz. Ich will zugestehen, dass
innerhalb der insgesamt desaströsen Bilanz von Bundes-
finanzminister Steinbrück die Bekämpfung der Steuer-
flucht einer der wenigen Lichtblicke ist. Was aber ist da-
raus geworden? Passiert de facto irgendetwas mit diesem
Gesetz? Wo ist seine Wirkung? – Nichts. Denn die Liste,
auf die Sie die Maßnahmen anwenden könnten, ist leer.
Es ist schon merkwürdig, wenn das Bundesfinanz-
ministerium feststellt: Wir haben keine Steueroasen, auf
die wir dieses Gesetz anwenden könnten. Das Gegenteil
ist doch der Fall: Die Steuerhinterziehung funktioniert
immer noch mit vielen Staaten hervorragend.
Sie wollen dieses Gesetz im Unterschied zu Frankreich
nicht anwenden. Das zeigt, Sie leisten nicht wirklich
eine aktive Bekämpfung der Steuerflucht. Sie warten,
wie es in der Überschrift des Antrags steht, tatsächlich
auf den Zufall. Das muss sich ändern.
Ich schließe die Aussprache.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3369
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1149 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UteVogt, Ulrich Kelber, Marco Bülow, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPDKeine Vorbereitungen für die Wiederauf-nahme der Erkundung des Salzstocks in Gor-leben bis zum Abschluss der Arbeit des 1. Par-lamentarischen Untersuchungsausschusses– Drucksache 17/1161 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-nität und Geschäftsordnung zudem Antrag der Abgeordneten Ulrich Kelber,Dr. Matthias Miersch, Dorothée Menzner, SylviaKotting-Uhl und weiterer AbgeordneterEinsetzung eines Untersuchungsausschusses– Drucksachen 17/888 , 17/1250 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard KasterMichael Hartmann
Jörg van EssenDorothée MenznerVolker Beck
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Kollegin Ute Vogt von der SPD-Frak-tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirwerden nun einen parlamentarischen Untersuchungsaus-schuss einsetzen, um zu klären, ob die Entscheidungüber die Untersuchung des Standorts Gorleben nach wis-senschaftlichen Kriterien erfolgt ist oder ob nicht viel-mehr politische Kriterien für die Auswahl des Standortseine entscheidende Rolle gespielt haben. Schlimmernoch: Untersuchungsgegenstand ist auch, ob nicht sogarbegründete wissenschaftliche Zweifel aus politischenGründen beiseitegeschoben worden sind.
Jetzt, bevor das Parlament Klarheit über Zweifel undFakten schaffen kann, will die Bundesregierung weitereFakten schaffen und Gorleben als Endlagerstandort ver-festigen. Das ist respektlos gegenüber der Arbeit desParlaments, und das ist ein Affront gegenüber den Bür-gerinnen und Bürgern im Wendland.
So verständlich Ihre Befürchtungen als Bundesregierungsind, muss man sagen: Sie machen Atompolitik gegenden Willen und die Akzeptanz der großen Mehrheit derBürgerinnen und Bürger in Deutschland.
Sie beschließen längere Laufzeiten, wodurch Jahr fürJahr 400 Tonnen mehr Atommüll produziert werden. In60 Jahren Laufzeit sind dann 24 000 Tonnen Atommüllangefallen, von dem keiner von Ihnen, aber auch welt-weit niemand sagen kann, wo er jemals sicher endgela-gert werden kann. Sie haben keine Antwort. Sie sind indieser Frage aufgrund Ihrer Politik für die Atomlobbyvon Not getrieben.
Der Kollege Max Straubinger von der CSU bringt esauf den Punkt. Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zi-tiere ich: „Keine Diskussion über alternative Standorte,sonst zünden wir die ganze Republik an.“
Das ist das, was Sie bei dieser Entscheidung tatsächlichbewegt. Sie wollen den Widerstand in Deutschland ge-gen die Standortentscheidung und gegen Ihre Atompoli-tik so gering wie möglich halten. Das ist heute nicht an-ders als früher.
Die Aktenlage von 1983 lässt uns vermuten, dass schondamals solche politischen Ängste die Debatte bestimmthaben.
Wir sollten ernsthafte Diskussionen führen. Wenn al-les so ernsthaft, seriös und offen wäre, wie es uns derBundesminister
glauben machen will: Warum scheut er dann die Prüfungzum Beispiel nach dem Atomrecht und muss auf das alteBergrecht ausweichen, das in keinem Punkt mehr denAnforderungen der Sicherheit gerecht wird? Warumscheut er, sich dieser Debatte zu stellen?Es ist schon bemerkenswert: Im südbadischen Lan-desteil von Baden-Württemberg klagen Ihre Kollegenaus der CDU-Fraktion Hand in Hand mit den dortigenKommunalpolitikern gegenüber der Schweiz ein – undzwar zu Recht –, dass die Bevölkerung bei der Suche
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3370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Ute Vogt
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(B)
nach Endlagern von Anfang an ein Mitspracherecht ha-ben und an der Suche beteiligt werden muss.
Auf der Bundesebene aber, wo Sie direkte Möglichkei-ten hätten, wo Sie die Entscheidung in der Hand habenund in der Verantwortung stehen, will der Bundesum-weltminister den Bürgerinnen und Bürgern die Beteili-gung versagen.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak-tionen, Sie haben heute die Chance, auch für etwasGlaubwürdigkeit in diesem Punkt zu sorgen. StimmenSie unseren beiden Anträgen zu, und zeigen Sie damitRespekt. Zeigen Sie Respekt vor der Aufklärungsarbeitdieses Parlaments, vor unserer parlamentarischen Arbeit,aber vor allem auch vor den Bürgerinnen und Bürgern,die man in diesen Zeiten, wenn es um so wichtige Ent-scheidungen geht, nicht mehr außen vor lassen darf, son-dern von Anfang an einbeziehen und beteiligen muss.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdebattieren heute in der Tat über zwei Anträge und eineBeschlussempfehlung.Zum einen debattieren wir über den Antrag allerOppositionsfraktionen zur Einsetzung eines Untersu-chungsausschusses zu einer Entscheidung der Bundes-regierung Kohl/Genscher aus dem Jahr 1983 zur aus-schließlichen untertägigen Erkundung des SalzstocksGorleben als möglichem Endlager.Die erste Debatte diesbezüglich hat in diesem Hausbereits am 4. März 2010, also eine Sitzungswoche vorder Haushaltswoche, stattgefunden. Darüber hinaus gibtes jetzt eine Beschlussempfehlung und den Bericht desGeschäftsordnungsausschusses, der diesen Antrag recht-lich geprüft hat. Insbesondere wurde geprüft, ob gewähr-leistet ist, dass der Auftrag des Untersuchungsausschus-ses lediglich das Regierungshandeln auf Bundes- undnicht auch auf Landesebene umfasst, wie das die gesetz-liche Vorgabe ist.
Darüber hinaus debattieren wir über den Antrag derSPD-Fraktion, die Wiederaufnahme der Erkundung desSalzstocks Gorleben bis zum Abschluss der Arbeit desUntersuchungsausschusses auszusetzen.
Die Frage bezüglich der Einsetzung eines Untersu-chungsausschusses ist relativ einfach zu beantworten. Eshandelt sich dabei um ein Minderheitenrecht und dasschärfste Schwert der Opposition, in Art. 44 Grundge-setz festgeschrieben. Im Geschäftsordnungsausschusshat nach einem vorherigen Berichterstattergespräch diePräzisierung des Umfangs des Untersuchungsgegenstan-des stattgefunden. Es ist kontrovers diskutiert worden.Schließlich sind die Mehrheitsfraktionen aber auf einenKompromiss eingegangen, der sich angedeutet hat. DerBundestag wird heute einen Untersuchungsausschusseinsetzen, der sich in der kommenden Sitzungswochekonstituieren wird.Zum Antrag der SPD-Fraktion zur Fortsetzung desMoratoriums hat Bundesminister Röttgen in der letztenAusschusssitzung übrigens alles gesagt, was erforderlichist;
denn die eigentlich entscheidende Frage ist ja: Will mantatsächlich ein Endlager finden, oder will man das ebennicht?
Will man diese Entscheidung weiter herausschieben,will man Gründe finden, zu verzögern?
Angesichts der Komplexität der Materie ist das sicher-lich auch einfach.Die Union will Verantwortung übernehmen.
Wir wollen für den von unserer Generation verursachtenAbfall auch zu unseren Zeiten eine Lösung finden, einnationales Endlager, und das Problem eben nicht denkommenden Generationen überlassen, wie das in denletzten zehn Jahren gehandhabt worden ist.
Zeitgleich mit der sogenannten Ausstiegsentschei-dung hatte die rot-grüne Bundesregierung damals einMoratorium von drei bis zehn Jahren, wie es hieß, verab-redet, um sogenannte Zweifelsfragen abzuarbeiten.Diese Zweifelsfragen waren dann auch nach fünf Jahrenabgearbeitet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3371
Dr. Maria Flachsbarth
(C)
(B)
Es gab einen Syntheseberichts des Bundesamtes fürStrahlenschutz, in dem ausdrücklich erwähnt worden ist,dass ein Nachweiskonzept für die Langzeitsicherheitverfügbar sei, die Sicherheit dann aber nur konkret vorOrt durch Erkundung festgestellt werden könne. Den-noch hat Rot-Grün das Moratorium verlängert, den Syn-thesebericht aber nicht etwa diesem Hause für eine Dis-kussion zur Verfügung gestellt.
– In der Großen Koalition wurde das Moratorium letzt-endlich verlängert,
obwohl wir uns eigentlich in die Hand versprochen hat-ten, die Endlagerfrage zügig anzugehen.
Das hatten wir auch im Koalitionsvertrag festgehalten.
Im Jahr 2006 hat die Union ein Angebot gemacht.Wir hatten vorgeschlagen, einen International PeerReview durchführen zu lassen, also internationale Ex-perten mit unserem Problem zu befassen, und letztend-lich die Befunde miteinander zu bewerten. Da hat derKoalitionspartner gesagt: Nein, das geht nicht wirklich;wir suchen besser den bestgeeigneten Standort. Einensolchen Standort gibt es laut Atomgesetz eigentlichüberhaupt nicht. Es ist die Frage, ob wissenschaftlichüberhaupt feststellbar ist, welcher Standort am bestengeeignet sein soll.
Jetzt soll der Untersuchungsausschuss der Grund dafürsein, das Moratorium zu verlängern.Ich begrüße, dass sich Bundesminister Röttgen hinge-gen zur Lösung der Endlagerfrage bekennt.
Er hat in der vergangenen Woche konkrete Vorschlägegemacht und gesagt, dass wir die Erkundungsarbeitenergebnisoffen und so zügig wie möglich aufnehmen, umjetzt endlich die notwendige Datengrundlage zu erarbei-ten, damit die Eignungsprüfung des Salzstocks Gorlebenerfolgen kann.
Frau Kollegin Flachsbarth, der Kollege Kelber würde
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie das er-
lauben.
Sehr gerne.
Bitte, Herr Kelber.
Frau Kollegin, Sie haben gerade behauptet, dass es
bei einer ergebnisoffenen Endlagersuche vermutlich we-
der wissenschaftlich noch anderswie zu belegen ist, was
der bestgeeignete Standort in Deutschland ist. Wenn Sie
recht haben, warum verlangt dann die schwarz-gelbe
Landesregierung in Baden-Württemberg vom Nachbar-
land Schweiz bzw. die schwarz-gelbe – vorher rein
schwarze – Regierung in Bayern vom Nachbarland
Tschechien genau eine solche ergebnisoffene Suche nach
dem bestmöglichen Standort?
Wenn man, ehrlich gesagt, mit den Schweizer Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftlern und den dortVerantwortlichen darüber spricht, warum dieses Verfah-ren gewählt worden sei, so sagen sie uns, dass sie vondem Verfahren gelernt hätten, das damals in den 70er-Jahren in Bezug auf den Standort Gorleben angewendetworden ist.
Damals hatten sowohl die Bundesregierung als auch dieLandesregierung verschiedene Standorte, verschiedeneSalzstöcke in Augenschein genommen; letztendlichwurde der Salzstock Gorleben als der Standort identifi-ziert, an dem eine intensivere Erkundung, sprich: eineVorprüfung auf eine mögliche Eignung, erfolgen sollte.
Wie gesagt: Ich begrüße, dass BundesministerRöttgen nun eine ergebnisoffene Erkundung angestoßenhat, und zwar – auch das will ich hier sagen – auf Grund-lage des Bergrechts, dessen Anwendung immer wiederin Zweifel gezogen wird. Wir haben diese Debatte auchschon im Ausschuss geführt. Bitte zeigen Sie mir denArtikel, den Paragrafen im Atomrecht, nach dem dieÜberprüfung eines Salzstocks auf Eignung überhauptmöglich sein soll! Abgesehen davon hat das Bundesver-waltungsgericht bereits 1990 und 1995 höchstrichterlichüber diese Frage entschieden. Ich denke, es ist einfacheine Frage der politischen Kultur in einem Rechtsstaat,
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3372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Dr. Maria Flachsbarth
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(B)
Urteile zu akzeptieren und zu respektieren, selbst wennsie einem nicht passen.
Herr Röttgen hat auch gesagt – das ist in diesem Zu-sammenhang ganz wichtig –, dass wir schon im Voraus-wahlverfahren eine möglichst umfassende Öffentlich-keitsbeteiligung erreichen wollen, Bürgerinitiativen undKommunalpolitiker einbeziehen wollen. Zudem wollenwir Wissenschaftler aus dem Ausland bitten, die Ergeb-nisse zu evaluieren, damit klar wird, ob sich ein Planfest-stellungsverfahren für den Standort Gorleben anschlie-ßen soll.
Das Planfeststellungsverfahren findet selbstverständlichunter Anwendung des Atomrechts statt, mit zusätzlichenUmweltverträglichkeitsprüfungen, entsprechender Öf-fentlichkeitsbeteiligung und der Möglichkeit der an-schließenden Planung. Das ganze Verfahren wird noch20 bis 25 Jahre dauern, sodass frühestens zwischen 2030und 2035, also 70 Jahre nachdem Deutschland sich – üb-rigens in großer, um nicht zu sagen: in ganz großer Ko-alition – entschieden hat, Kernenergie friedlich zu nut-zen, ein Endlagerstandort feststehen wird. Wir haben dieVerantwortung, jetzt nicht nur Vergangenheit zu bewälti-gen, sondern endlich auch Zukunft zu gestalten, aus Ver-antwortung vor unseren Kindern und Kindeskindern,aber auch vor den Bürgerinnen und Bürgern, die in Gor-leben seit 30 Jahren in Ungewissheit über ihre Zukunftleben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner von der
Fraktion Die Linke.
Ich bitte doch, für den Rest der Debatte wenn möglich
auf Zwischenfragen zu verzichten,
weil einige sonst Terminprobleme bekommen, was die
Rückreise betrifft.
Frau Kollegin Menzner, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Wiralle merken, dass wir es mit einem hochemotionalenThema zu tun haben. Das gilt nicht nur für die Region,für Niedersachsen, für das Wendland, sondern auch füruns hier.
Das haben die Debatten, auch zwischen den Fraktionen,der letzten Tage und Wochen deutlich gemacht.Ich möchte drei Punkte kurz erklären: Wieso soll jetztder Untersuchungsausschuss eingesetzt werden? Wie istdie Lage im Wendland? Was wollen wir mit dem Unter-suchungsausschuss eigentlich erreichen?Warum soll jetzt der Untersuchungsausschuss einge-setzt werden?
Die Fragezeichen zu Gorleben sind alt.
Es gibt seit Jahrzehnten Gutachten, die die Eignung vonGorleben massiv infrage stellen. Es gibt seit Jahrzehntenernst zu nehmende Wissenschaftler, die Gorleben für un-geeignet halten. Außerdem gibt es seit Jahrzehnten einemassive Gegenwehr der örtlichen Bevölkerung, unab-hängig vom politischen oder sozialen Hintergrund.Im Zusammenhang mit diesem Untersuchungsaus-schuss musste ich an einen Satz denken, der dem Kolle-gen Müntefering zugeschrieben wird: Opposition istMist. So ganz stimmt das nicht. Ohne SPD in der Oppo-sition hätten wir den Untersuchungsausschuss wahr-scheinlich nicht einsetzen können.
Da hat Opposition auch einmal etwas Gutes.
Wieso ist es so wichtig, das jetzt zu klären? Wir dis-kutieren im Bundestag, aber auch in der Gesellschaft seitWochen den aberwitzigen Vorschlag der Koalition, dieLaufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern, aus ei-nem Kompromiss, der mit der Energiewirtschaft ge-schlossen wurde und der von uns immer abgelehntwurde, weil wir ihn zu weitgehend fanden, auszusteigenund auf unabsehbare Zeit weiteren Atommüll zu produ-zieren, für den es bis heute kein Endlager gibt.Asse ist abgesoffen. Das wissen wir alle; die Pro-bleme haben wir hier mehrfach erörtert. Wenn man sichdie alten Genehmigungsunterlagen und Gerichtsaktenzieht, dann liest man, dass unter anderem für Brokdorf,Stade und Biblis A und B sowohl die abgesoffene Asseals auch Gorleben der Entsorgungsnachweis für die Be-triebsgenehmigung waren. Damit wird natürlich klar,wieso die Koalition meint, weiter an Gorleben festhalten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3373
Dorothée Menzner
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zu müssen: Ohne diese Option werden Betriebsgenehmi-gungen und mögliche Laufzeitverlängerungen obsolet.Wie ist die Lage im Wendland? Die Menschen sindmassiv verunsichert, und die Emotionalität im gegensei-tigen Umgang ist hoch. Von daher ist es eine Selbstver-ständlichkeit, was die SPD in ihrem Antrag fordert, näm-lich die weiteren Untersuchungen auszusetzen, solangeder Untersuchungsausschuss arbeitet, und zu versuchen,Transparenz in die Lage und in die damalige Entschei-dungsfindung zu bringen.
Sie werden kein Vertrauen von der Bevölkerung be-kommen, wenn, wie am letzten Wochenende geschehen,Demonstrantinnen und Demonstranten inklusive Kinder,die sich auf einem privaten Grundstück, nämlich imWald des Grafen von Bernstorff, aufhalten, mit Schlag-stöcken und Pfefferspray vertrieben werden.Was wollen wir mit diesem Untersuchungsausschusserreichen?
Wir wollen Transparenz herstellen hinsichtlich derFrage: Wie konnte es zu der verengten Sicht auf dieseneinen Standort kommen? Waren wissenschaftliche Vor-bedingungen ausschlaggebend, oder war das eine Fragevon politischer Opportunität und Durchsetzbarkeit? Da-für liegen ernst zu nehmende Hinweise vor, die wir unterdie Lupe nehmen werden, um Transparenz herzustellen.Demokratie kann nämlich nur funktionieren, wennTransparenz vorhanden ist, wenn die Menschen wissen,wie, auf welcher Grundlage Entscheidungen zustandegekommen sind. Das wird nicht funktionieren, indemwir Menschen belügen und sie weiter an der Nase he-rumführen, wie das seit 30 Jahren am Standort Gorlebenpassiert, oder indem wir Dokumente zurückhalten.Ich danke.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Parallel zur Einsetzung des Untersuchungsaus-schusses fordert die SPD hier heute, die Erkundung imSalzstock Gorleben so lange auszusetzen, bis der Unter-suchungsausschuss seine Arbeit beendet hat. Wir sindstrikt dagegen. Wir meinen, dass Ihre Forderung entlar-vend ist, und zwar in der Weise, dass es Ihnen anschei-nend nicht um die Aufklärung im Untersuchungsaus-schuss, sondern eher darum geht, die Entscheidung umdie Endlagerfrage weiter zu verzögern.
Die SPD war rund zehn Jahre in Regierungsverant-wortung. Durch das von Rot-Grün beschlossene Erkun-dungsmoratorium sind wir keinen Schritt weitergekom-men; das müssen Sie hier einfach zugeben.
Der ehemalige Umweltminister Trittin – er ist sogar zu-gegen –
und Herr Gabriel haben zehn Jahre lang verhindert, dassdiese Frage beantwortet wird.
Die bisher gewonnenen geologischen Befunde spre-chen überhaupt nicht gegen eine Eignungshöffigkeit desGorleben-Standorts.
Ihr werter Herr Exkanzler Gerhard Schröder
und Sie, Herr Trittin, persönlich haben im Atomkonsenszusammen unterschrieben und bestätigt, dass die Eig-nungshöffigkeit von Gorleben überhaupt nicht infragesteht.
– Ja, ja.Die Endlagerung radioaktiver Abfälle ist eine staatli-che Aufgabe.
Der Bund hat Anlagen zur Endlagerung einzurichten.Deswegen wollen wir klären, ob der Standort Gorlebengeeignet ist. Im Gegensatz zu SPD, Grünen und Linkenstellen wir von der CDU/CSU und der FDP uns dieserVerantwortung. Wir wollen das nicht auf die nächste Ge-neration abwälzen.
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3374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010
Angelika Brunkhorst
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Den Ausgang des Untersuchungsausschusses abzu-warten, macht überhaupt keinen Sinn, weil wir danachnichts über die Eignung oder Nichteignung sagen kön-nen.
– So ist es, genau.
Die konkrete Erkundung wird es zeigen. Deswegenmuss die Erkundung des Salzstocks, so wie Herr Röttgendas vorgeschlagen hat, vorangetrieben werden.
Wir unterstützen das Verfahren mit den drei Schrittenganz ausdrücklich. Wir werden dann zu einer definitivenAussage darüber kommen, ob dieser Salzstock geeignetist oder nicht.
Frau Vogt, Ihnen möchte ich zum Schluss noch einessagen: Wir sind in einer Erkundungsphase, und in einerErkundungsphase sind wir beim Bergrecht.
Wenn wir über die Erkundungsphase hinaus sind undüber die Einrichtung sprechen, dann gehen wir in dasatomrechtliche Planungsverfahren.
– Genau so ist es.
– Ich habe das Urteil hier. Ich kann das gern zitieren,Herr Trittin, wenn Sie es wünschen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl vonBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sokommen wir also heute zur Einsetzung des Unter-suchungsausschusses zu Gorleben. Dieser Untersu-chungsausschuss ist ein parlamentarisches Instrument,demgegenüber Rednerinnen und Redner der Koalitions-fraktionen in der ersten Lesung Respekt gezollt haben,das Sie in der Zwischenzeit aber doch in seinem Kern,nämlich dem von der Opposition beschriebenen Auftrag,verändern wollten.Herr Grindel, wir haben Ihnen nicht den Gefallen ge-tan, uns den Untersuchungsauftrag auf die Ereignissedes Jahres 1983 zusammenschnüren zu lassen.
– Das war in der letzten Woche Ihr Vorschlag. – Das sinddie Ereignisse, zu denen Sie heute in der Presse schoneinmal verlautbart haben, dass der angebliche Skandal,die Manipulation von Gutachten, sich längst in Luft auf-gelöst habe.
Zum einen, Herr Grindel, legt niemand – auch nichtdie Mitglieder von Regierungsfraktionen – das Ergebniseines Untersuchungsausschusses im Vorhinein fest.
Zum anderen sollten Sie spätestens heute zur Kenntnisnehmen, dass Ihre Versuche, Fragen, die nicht auf dasJahr 1983 zielen, aus dem Untersuchungsauftrag heraus-zustreichen, nicht erfolgreich waren.Ich bin sehr gespannt darauf, was die Zeugin Merkelim Untersuchungsausschuss sagen wird, wenn wir sienach den Gründen für die Änderung des Erkundungs-konzepts in den 90er-Jahren fragen. Der Verdacht, dassbei Gorleben ein Konzept einem Standort angepasstwurde, ist für mich einer der spannendsten Teile des Un-tersuchungsauftrags.
Ich möchte noch einmal den Gegensatz herausstellen.Bei einer ehrlichen Endlagersuche wird erst ein Konzepterstellt und dann der Standort gesucht, der den Kriteriendieses Konzeptes am besten entspricht. Das ist das Ver-fahren, das wir einfordern. Dass Sie sich diesem Verfah-ren verweigern, dass Sie den Weiterbau von Gorlebenwollen
unter Umgehung des dafür vorgeschriebenen Atom-rechts,
unter Anwendung eines seit 20 Jahren außer Kraft ge-setzten Bergrechts, das nicht einmal die Öffentlichkeits-beteiligung vorschreibt, und ohne die Ergebnisse diesesparlamentarischen Untersuchungsausschusses abzuwar-ten, das zeigt Ihre Vorstellung von Verantwortung, mit
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. März 2010 3375
Sylvia Kotting-Uhl
(C)
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der Sie sich in den vergangenen Tagen so großgetan ha-ben.
Ethische Verantwortung, von der Sie hier sprechen– die Sie übernehmen wollen, indem Sie den Müll derAtomkraftwerke den nächsten Generationen nicht vordie Füße werfen wollen –, hätten Sie praktizieren kön-nen, wenn Sie die Atomkraft nicht legalisiert und Atom-spaltung nicht zur herausragenden Energieerzeugungs-form in diesem Land erklärt hätten.
Das wäre ethische Verantwortung gewesen. Das wäreVerantwortung für die nachfolgenden Generationen ge-wesen. Jetzt geht es nur noch um Nachsorge.
Reden wir doch auch einmal über die Verantwortungunseres Umweltministers.
Er nennt einen parlamentarischen Untersuchungsaus-schuss kein Erkenntnisgewinnungsinstrument, sondernein Kampfinstrument. Diese Auffassung praktiziert erauch dadurch, dass er heute bei der Einsetzung des vonihm so benannten Kampfinstruments gar nicht mehr imParlament anwesend ist, sondern bereits im Skiurlaubweilt. Das ist Respekt vor dem Parlament. Größte Hoch-achtung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak-tionen, ich hoffe, dass wenigstens Sie die Respektlosig-keit Ihres Umweltministers in diesem Fall nicht teilenund in diesem Untersuchungsausschuss kein reinesKampfinstrument sehen. Wir haben das nicht vor. Wirhaben vor, Erkenntnisse daraus zu ziehen. Erfüllen SieIhre parlamentarische Pflicht und tun sie das Gleiche.Darum bitte ich Sie.
Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! MeineHeimat ist der Wahlkreis Lüchow-Dannenberg – Lüne-burg. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Mit die-sem Thema beschäftige ich mich nicht erst, seitdem ichAbgeordneter dieses Wahlkreises bin. Ich kann Ihnen sa-gen: Wenn Rot-Grün die Region mit dem Moratoriumnicht in eine zehnjährige Ungewissheit gestürzt hätte,wären wir bei der Endlagerfrage heute schon einigeSchritte weiter.
Stattdessen: weitere zehn Jahre Ungewissheit, weiterezehn Jahre Unfrieden in der Region, weitere zehn JahreUntätigkeit in der Endlagerfrage, und das alles auf demRücken der Menschen vor Ort.
Mit der Aufhebung des Moratoriums werden wirdiese Hängepartie beenden. Wir wollen eine ergebnis-offene und transparente Enderkundung des SalzstockesGorleben. Ich möchte betonen, dass es vollkommen legi-tim ist, gegen ein Endlager in Gorleben zu sein. Es istauch völlig legitim, dies zu artikulieren, aber, bitteschön, in ziviler und gewaltfreier Form.Dazu gehört nach meinem Verständnis und dem Ver-ständnis der Koalition ein enger Dialog zwischen allenBeteiligten schon in der ersten Phase, nämlich der Wei-tererkundung.
Wir werden in den Fragen der Transparenz und Ergebnis-offenheit Wort halten, Herr Trittin. Ich kann an alle, auchan Sie, Herr Trittin, nur appellieren, das Angebot zum zi-vilen Dialog nicht auszuschlagen, sondern sich aktiv da-ran zu beteiligen.
Es wird von der Opposition bemängelt, dass die Er-kundungsphase nach Bergrecht und nicht nach Atom-recht erfolgt.
Die Erkundung kann nicht nach Atomrecht erfolgen,weil das Atomrecht die erforderlichen Rechtsnormen füreine Erkundung des Salzstocks gar nicht beinhaltet.
Das Bergrecht ist zudem nach Bewertung des Bun-desverwaltungsgerichts – wir haben es schon gehört –ein zulässiges Verfahren. Das heißt jedoch noch langenicht, dass wir keine Transparenz schaffen wollen. Sie,meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion, unterliegen einem Trugschluss, wenn Sie darausschließen, dass eine Einbeziehung der Bürgerinnen undBürger nicht gewollt sei. Es mag sein, dass das Berg-recht keine Bürgerbeteiligung beinhaltet; das bedeutetaber noch lange nicht, dass Transparenz und Einbezie-hung der Bevölkerung vor Ort verboten sind.
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Eckhard Pols
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Wenn man dann am Ende der Erkundungsarbeiten zudem Ergebnis kommt, dass Gorleben als Endlagerstand-ort geeignet ist, dann muss bei der Errichtung eines End-lagers ein atomrechtliches Verfahren eingeleitet werden,das eine umfassende Bürgerbeteiligung vorsieht. Daswissen Sie ganz genau.
Herr Kollege Pols, Frau Kotting-Uhl würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, jetzt nicht. –
Ob es dazu kommen wird, wissen wir nicht. Dazu muss
erst einmal zu Ende erkundet werden. Aber genau das
wollen Sie verhindern. Sie nehmen in Kauf, dass die
Menschen vor Ort weiter mit der Ungewissheit leben
müssen und die ohnehin schon wirtschaftlich schwache
Region noch schwächer wird.
In Ihrem Antrag zum Stopp der Erkundungsarbeiten
argumentieren Sie ferner damit, dass nicht berücksichtigt
worden sei, dass die Geltungsdauer der Salzrechte in
fünf Jahren ausläuft. Das Bundesamt für Strahlenschutz
ist zuständig für die Verlängerung der Geltungsdauer der
Salzrechte. Aber in den letzten Jahren ist in dieser Hin-
sicht nichts passiert. Die Inhaber der Salzrechte mussten
den Präsidenten des BfS, Herrn Wolfram König, gera-
dezu drängen, damit es demnächst zu Verhandlungen
über die Verlängerung der Rechte kommt.
Erlauben Sie mir noch ein Wort zur Diskussion über
die Suche nach Alternativstandorten. Sie führen immer
wieder ein bestimmtes Argument gegen die Erkundung
von Gorleben ins Feld. Wenn Sie wirklich für eine Lö-
sung des Endlagerproblems sind, dann sollten Sie auch
den Mut haben, geeignete Alternativstandorte explizit zu
benennen. SPD und Grüne haben die Endlagerfrage mut-
willig verschlafen, verzögert und verschleppt. Ich kann
Ihnen nur eines empfehlen, Frau Kollegin Vogt: Fahren
Sie einmal nach Gorleben, reden Sie mit Ihren Genossen
vor Ort! Die dortige SPD ist nämlich – hören Sie genau
zu! – für eine schnelle Aufhebung des Moratoriums.
Ich zitiere aus einer Resolution, die Ihre SPD-Rats-
kollegen gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen
der CDU vor Ort in den Samtgemeinderat Gartow ein-
gebracht und verabschiedet haben: Der Rat der Samt-
gemeinde Gartow fordert im Interesse unserer Bevöl-
kerung die Weitererkundung und den Abschluss der
Erkundungsarbeiten im Salzstock Gorleben; nach fast
30-jähriger Diskussion dieses Themas hat die Bevölke-
rung Anspruch darauf, Klarheit über die voraussichtliche
künftige Entwicklung der Standortregion Gorleben zu
erlangen.
Dass dies nicht eine Mindermeinung der politischen
Gremien ist, sondern ebenso von der Bevölkerung vor
Ort mehrheitlich getragen wird, zeigt sich an dem Ergeb-
nis der Bundestagswahl. Ich habe meine besten Ergeb-
nisse in dieser Region geholt.
Hören Sie einfach einmal auf Ihre Parteibasis in Gorle-
ben und in der Samtgemeinde Gartow, Frau Vogt. Mit
zunehmender Vernunft verbessern sich dann sicherlich
auch Ihre Wahlergebnisse.
Was machen Sie stattdessen? Sie setzen einen Unter-
suchungsausschuss ein, um vermeintliche Vorwürfe zu
klären, die Ihnen im Wahlkampf 2009 plötzlich eingefal-
len sind, aber nichts gebracht haben. Obendrein wollen
Sie beschließen, dass die Erkundung in Gorleben bis
zum Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses
nicht fortgeführt wird. Mit anderen Worten: Sie wollen
eine geologische Frage nicht beantworten lassen, weil
Sie noch die Antwort auf eine politische Frage suchen.
Abgesehen davon bin ich mir sicher: Der Untersu-
chungsausschuss wird zu dem Ergebnis kommen, dass
an den von Ihnen erhobenen Vorwürfen nichts dran ist.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Deshalb sehen wir als CDU/CSU dem Ganzen sehr
gelassen entgegen.
Noch eines: Wenn Sie beweisen wollten, dass der
Standort Gorleben nach rein politischen und nicht nach
geologischen Gesichtspunkten ausgewählt wurde, dann
müssten gerade Sie ein Interesse an einer schnellen Wei-
tererkundung des Salzstockes Gorleben haben.
Wenn Sie keine Angst vor dem Ergebnis haben –
Herr Kollege Pols, bitte kommen Sie zum Schluss,
und zwar sofort.
– ja, gerne –, dann hören Sie sofort auf, eine solcheErkundung zu verzögern und zu verschieben.
Auch ich kenne das Ergebnis noch nicht; aber einesweiß ich gewiss: Sowohl Gegner als auch Befürworter
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Eckhard Pols
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eines Endlagers in Gorleben haben Verantwortung fürdie Region. Dazu gehört, dass die Ungewissheit derMenschen vor Ort beendet wird. Deshalb mein Appellan die Fraktion der SPD: Nehmen Sie Vernunft an undziehen Sie den Antrag zurück!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Edathy von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In
einer Agenturmeldung von heute morgen hieß es – ich
zitiere –:
Der angebliche Skandal, auf den die SPD hinweise,
habe sich längst in Luft aufgelöst,
sagte der Obmann der CDU,
– im Untersuchungsausschuss –
Reinhard Grindel, am Freitag
– also heute –
im SWR. Denn der Behauptung, die Regierung
Kohl habe Gutachten aus dem Jahre 1983 beein-
flusst, hätten beteiligte Wissenschaftler widerspro-
chen.
Das liest man und reibt sich verwundert die Augen.
Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen – ge-
rade denen aus der Union –, nachher in ihren Büros die
Internetseite des Bundesumweltministeriums aufzuru-
fen. Da kann die ganze Welt aus einem großen Konvolut
wichtige Aussagen damals beteiligter Wissenschaftler
herunterladen, und dies im Namen von Herrn Röttgen.
Professor Duphorn am 31. Mai 1982:
Nach meiner Auffassung hat der Salzstock Gorle-
ben … seine Eignungshöffigkeit … verloren.
Professor Dr. Memmert, Institut für Kerntechnik der
Technischen Universität Berlin, ein Freund der Atom-
kraft, am 2. August 1982:
Während die Laufzeit für Gorleben rund
10 000 Jahre betragen mag,
– erforderlich wäre wohl mindestens 1 Million und
mehr –
liegt diese für Mors
– dies befindet sich in Dänemark –
bei einigen Millionen Jahren.
Der Professor weiter:
Sollten diese dänischen Berichte den Gegnern der
Kernenergie oder des Endlagers Gorleben bekannt
werden, wird der Meinungskrieg um das Endlager
Gorleben erneut und verstärkt einsetzen.
Alles von der Internetseite des BMU. Professor
Dr. Hermann, Universität Göttingen:
Ich persönlich bin nicht bereit, wissenschaftliche
Argumente zugunsten parteipolitischer bzw. allge-
meinpolitischer Erwägungen und Taktiken aufzuge-
ben … In einer von dauernden Kompromissen und
Selbsttäuschungen geprägten Situation könnte ich
nicht mehr sinnvoll arbeiten.
Usw., usw.
Dann gab es von Wissenschaftlern den Entwurf eines
kritischen Gutachtens zu Gorleben. Es musste auf Wei-
sung des damaligen Forschungsministers nachgebessert,
man kann auch sagen: manipuliert und geschönt werden.
Herr Kollege Edathy, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Grindel?
Gerne.
Herr Edathy, ist Ihnen bekannt, dass das Gutachten,um das es Herrn Gabriel im Wahlkampf ging, ein Gut-achten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt war,dass der Abteilungsleiter Röthemeyer in Interviews – ei-nes gegenüber dem Spiegel am 14. September 2009, einzweites gegenüber dem Stern am 17. September 2009 –erklärt hat, dass die inhaltliche Ausrichtung dieses Gut-achtens nicht verändert ist, und dass der damalige Präsi-dent der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Kind,diese Aussage im Untersuchungsausschuss des Nieder-sächsischen Landtages bestätigt hat? Vielleicht zitierenSie Herrn Röthemeyers Aussagen im Stern – eventuellhaben Sie ihn vorliegen –; Herr Röthemeyer ist nämlichderjenige, der für das Gutachten, das angeblich manipu-liert worden ist, verantwortlich war. Sind Sie bereit, daszuzugestehen und auch zuzugestehen, dass die Zitate,die Sie eben angeführt haben, vor diesem Hintergrundvöllig irrelevant sind?
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Da ich leider nur eine knappe Redezeit habe, bedanke
ich mich für die Zwischenfrage; denn sie gibt mir Gele-
genheit, ein bisschen weiter auszuholen. Das Schöne ist
ja: Auf der Internetseite des BMU – in Verantwortung
von Herrn Röttgen – lässt sich nicht nur der Endbericht
der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt downloa-
den,
sondern auch der Zwischenbericht, also der Entwurf. Sie
können dort, bezogen auf den Entwurf des Gutachtens,
ein Telex – das gab es damals noch – vom 13. Mai 1983
finden. Der damalige Bundesminister für Forschung und
Technologie schrieb an die Physikalisch-Technische
Bundesanstalt – wir werden das im Ausschuss noch sehr
genau auswerten können –:
Unsere Besprechung vom 11.05. Erstens …
– Dieses Schreiben ist ein Beleg dafür, dass politisch
Einfluss auf wissenschaftliche Erkenntnisse genommen
worden ist.
Dagegen haben sich Wissenschaftler auch gewehrt.
– Herr Präsident, ich bin mit der Beantwortung der Frage
noch nicht fertig.
– Herr Grindel, wie ich Ihre Frage beantworte, ist letzt-
lich meine Sache. Sie haben das Thema angesprochen,
zu dem ich mich gerade äußere.
Ich bin mit der Beantwortung der Frage noch nicht
fertig.
Solange Sie die Frage beantworten, halte ich die Uhr
an, –
Gut.
– unabhängig davon, ob der Fragesteller steht oder
sitzt.
Ist das neu?
Herr Kollege Edathy, darüber, wie lange die Zeit für
eine Antwort bemessen wird, entscheidet der Präsident
und nicht der Fragesteller.
Ich bin aber eindeutig noch im Rahmen der Beant-
wortung.
Ich zitiere aus einem Telex des Forschungsministers der
damaligen schwarz-gelben Koalition. Darin heißt es in
Richtung des Instituts:
Dieser Abschnitt sollte sinngemäß mit der Feststel-
lung schließen,
dass die Eignungshöffigkeit des Salzstocks Gorle-
ben … untermauert werden konnte.
– Herr Kollege, wer schreit, hat unrecht. Das lernen Sie
vielleicht auch noch.
An anderer Stelle heißt es: Es wäre wünschenswert,
wenn
dieser Abschnitt mit der Aussage schließen kann,
dass nach Einschätzung der Fachleute die noch zu
erzielenden Ergebnisse … die Eignungshöffigkeit
des Salzstocks voraussichtlich nicht in Frage stellen
können.
Herr Kollege.
Ich bin am Ende der Beantwortung der Frage des Kol-legen Grindel.
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Sebastian Edathy
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An dieser Aussage kann es überhaupt keinen Zweifelgeben: Es besteht Aufklärungsbedarf. Diesem Rechnungzu tragen, ist die Aufgabe des Untersuchungsausschus-ses, den wir heute einsetzen. Ich kann Ihnen versichern,Herr Kollege Grindel: Das wird mehr werden als einehistorische Kommission oder eine fachpolitische De-batte.
Es wird dabei vielmehr um zentrale, gegenwartsrele-vante Fragen gehen:Erstens. Wie war es um die Verflechtung von schwarz-gelber Politik und Atomwirtschaft bestellt? In welcherTradition steht diesbezüglich die neue Bundesregierung?
Zweitens. Wurden für die Durchsetzung einer ideolo-gischen Position wissenschaftliche Gutachten manipu-liert? Wurde die Öffentlichkeit entsprechend getäuscht?Welche Auswirkung hat das auf die Endlagersuche? Ge-nau deshalb ist es nicht nur sachlich falsch, sondern eineMissachtung des Parlaments, wenn wir heute einen Un-tersuchungsausschuss ins Leben rufen und gleichzeitigdie Beplanung von Gorleben weitergehen soll. Das istein Unding; das geht so nicht. Ich frage mich, was bei ei-ner so wichtigen Debatte der BundesumweltministerWichtigeres tun könnte, als hier im Plenum zu sein.
Ich habe gehört, dass der Präsident des Niedersächsi-schen Landtags vor wenigen Tagen bei Herrn Röttgenangefragt hat, ob er vor dem Umweltausschuss des Nie-dersächsischen Landtags Rede und Antwort stehenkönne. Es kam ein Rückruf aus einem Referat des BMU.Es wurde mitgeteilt, weder die Leitungs- noch die Ar-beitsebene wolle gegenüber den LandtagsabgeordnetenStellung zu dem nehmen, was Sie hier vorhaben. Das istunglaublich. Als Sie 1998 in die Opposition kamen, ha-ben Sie der damals neugewählten rot-grünen Regierungzu Unrecht Arroganz der Macht vorgeworfen. DieserVorwurf fällt nun – völlig zu Recht – auf Schwarz-Gelbin der Regierungsverantwortung zurück. Was Schwarz-Gelb praktiziert, ist Arroganz der Macht, das ist Über-heblichkeit, das ist Politik gegen die Interessen der Men-schen.
Ich empfehle Ihnen zur Lektüre ein Rechtsgutachten,das vom Bundesamt für Strahlenschutz herausgegebenwurde; es ist vom 8. September 2009. Dieses Gutachtenbeantwortet die Frage, ob zulässig ist, was Sie mit derFortsetzung des alten Bergrechts planen. Auf Seite 57dieses Rechtsgutachtens heißt es wörtlich – damit be-ende ich meine Rede, Herr Präsident –:Eine weitere Erkundung des Bergwerks Gorlebenauf bergrechtlicher Grundlage – etwa durch Zulas-sung eines neuen bzw. geänderten Rahmenbetriebs-planes – ist unzulässig …Nehmen Sie wenigstens das zur Kenntnis, wenn Ihnender Umgang mit dem Untersuchungsausschuss schon re-lativ egal zu sein scheint.Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun das Wort der Kollege Marco Buschmann von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Diese Debatte zeigt eines: In Deutschlandtobt ein Glaubenskampf, und dieser Glaubenskampfrankt sich, wie alle anderen Glaubenskämpfe, um einenMythos. Dieser Mythos trägt den Namen Gorleben. Daszentrale Glaubensbekenntnis seiner Anhänger fasst dasGreenpeace-Magazin – wie ich finde, recht originell –zusammen:Deutschland wird von der Atomindustrie be-herrscht. Ganz Deutschland? Nein. Im Wendland,wo der deutsche Atommüll endgelagert werdensoll, leisten Bauern, Adlige und Freaks seit mehr als20 Jahren Widerstand.
Diese scheinbar harmlose Anspielung auf die Asterix-Comics wie der ganze Mythos Gorleben stellen in Wahr-heit das Verfassungsleben der Bundesrepublik Deutsch-land infrage;
denn die Glaubenssätze dieses Mythos, den Sie auch hierpredigen, enthalten ganz fundamentale Vorwürfe.
Sie behaupten, in Deutschland herrsche nicht das Volk,sondern die Energieversorger. Sie behaupten, in Deutsch-land gelte nicht das Recht, sondern nur Lobbyinteressen,und die Bürger könnten sich nicht darauf verlassen, dassdie relevanten Sicherheitsbelange ausgiebig geprüft wer-den. Dass diese Glaubenssätze zu einem Glaubenskampfführen, sehen wir an den Bildern dieser heftigen Aus-einandersetzung.
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Marco Buschmann
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Vor dem Hintergrund dieser Glaubenskämpfe, die Siemit anheizen, begrüßt die FDP-Fraktion ganz ausdrück-lich, dass wir nun einen Untersuchungsausschuss einset-zen;
denn ein Untersuchungsausschuss ist ein Instrument zurund unserer Verantwortung für das Vertrauen der Bürge-rinnen und Bürger in die rechtsstaatlichen Verfahren un-serer Demokratie.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Faktenermittlung. Er gibt uns die Möglichkeit, die Sach-
verhalte, um die es geht, in aller Sachlichkeit aufzuarbei-
ten.
Sachliche Aufarbeitung entzaubert Mythen und führt auf
konkrete Lebenssachverhalte zurück, die wir dann mit
klarem Kopf würdigen können. Das trägt hoffentlich
dazu bei, diesen erbitterten Glaubenskampf, den Sie mit
anheizen, zu beenden oder zumindest zu entschärfen.
Ob das mit dem Instrument des Untersuchungsaus-
schusses gelingen kann, liegt nicht allein in den Händen
der Koalitionsfraktionen. Das liegt auch in Ihren Hän-
den. Ich weiß natürlich, dass Sie diesen Mythos gerne
predigen, weil er für viele Ihrer Anhänger sinnstiftend ist
und ihnen Motivation vermittelt. Ich kann mir schon
vorstellen, dass Herr Trittin an bessere Zeiten seines Le-
bens denkt, wenn er sich mit dem Mythos beschäftigt;
aber die Verantwortung in diesem Haus ist eine andere.
Wenn die Fakten durch den Untersuchungsausschuss
geklärt sind, dann sollten Sie mit dem Predigen von My-
then aufhören,
spätestens dann sollten Sie an die Stelle des Mythos einen
nüchternen Sachverhalt setzen, spätestens dann sollten
wir uns gemeinsam darum bemühen, den Glaubenskampf
in diesem Land, der auf dem Rücken der Menschen aus-
getragen wird, zu beenden. Das schulden wir alle gemein-
sam unserer Verantwortung, unserer Verantwortung für
den Rechtsfrieden in unserem Land
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1161 mit dem Titel
„Keine Vorbereitungen für die Wiederaufnahme der Er-
kundung des Salzstocks in Gorleben bis zum Abschluss
der Arbeit des 1. Parlamentarischen Untersuchungsaus-
schusses“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist eindeutig ab-
gelehnt.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprü-
fung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag
der Abgeordneten Ulrich Kelber, Dr. Matthias Miersch,
Dorothée Menzner und weiterer Abgeordneter zur Einset-
zung eines Untersuchungsausschusses. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/1250, den Antrag auf Drucksache 17/888
in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? –
Erlauben Sie, dass ich diese Abstimmung wiederhole!
– Damit sich einige klar werden können, wie sie stim-
men sollen. – Noch einmal: Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 21. April 2010, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.