Gesamtes Protokol
Guten Tag,
liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff-
net.
Zur Beratung des Tagesordnungspunktes 3 haben die
Fraktionen der CDU/CSU und der PDS eigene Anträge
zur Wirbelsturmkatastrophe in Mittelamerika einge-
bracht, die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Tagesordnung um diese Anträge erweitert werden:
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen
Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert Blüm, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion CDU/CSU: Nach der Wirbel-
sturmkatastrophe in Mittelamerika: Hilfsmaßnahmen ko-
ordinieren, Schuldendienst aussetzen, Schulden erlassen
und Wiederaufbau unterstützen – Drucksache 14/56 –
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf,
Carsten Hübner, Heidi Lippmann-Kasten, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der PDS: Soforthilfe, Wiederauf-
baumaßnahmen und Entschuldung für Mittelamerika
– Drucksache 14/57 –
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
Deutsche Beteiligung an möglichen NATO-
Operationen zum Schutz und Herausziehen
von OSZE-Beobachtern aus dem Kosovo in
Notfallsituationen
– Drucksachen 14/47, 14/51 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christoph Zöpel
Karl Lamers
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke-Reymann
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die
Aussprache über diese Vorlage namentlich abstimmen
werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Minister
Fischer das Wort, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deut-sche Bundestag hat am 13. November 1998 der Entsen-dung von deutschen Kräften zur Teilnahme an derNATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovozugestimmt. Heute bittet die Bundesregierung den Deut-schen Bundestag – wir haben dies in der vorangegange-nen Debatte bereits angekündigt; es wurde auch schonim Zusammenhang politisch diskutiert –, einer deut-schen Beteiligung an einer in Mazedonien zu stationie-renden NATO-Notfalltruppe zum Schutz und zur Ret-tung von OSZE-Beobachtern aus dem Kosovo in Not-fallsituationen zuzustimmen.Alle unmittelbaren militärischen Fragen wird derKollege Scharping ansprechen, während ich noch einmalauf den politischen Begründungszusammenhang einge-hen möchte.Daß wir in der vergangenen Woche keine Entschei-dung in einem Zuge hinbekommen haben, lag nicht ander Bundesregierung, sondern am Verfahren bei derNATO. Wir hätten uns eine einheitliche Entscheidungim Deutschen Bundestag gewünscht; denn in der Tatgibt es hier einen nicht auflösbaren Sachzusammenhang.Dieser Sachzusammenhang ergibt sich aus dem Ab-kommen, das Holbrooke mit der Regierung in Belgradgeschlossen hat. Durch den Abschluß dieses Vertragesist es gelungen, eine humanitäre Katastrophe abzuwen-den, worüber wir sehr froh sind. Die dauerhafte Abwen-dung einer humanitären Katastrophe setzt aber voraus,daß es zu einer friedlichen Entwicklung kommt, hof-fentlich eines Tages auch zu einer Entwicklung hin zueinem substantiellen Frieden, so daß man nicht nur voneiner Abwesenheit von Krieg sprechen kann.
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Eine ganz wesentliche Bedingung der Umsetzung ist,daß der Prozeß des Rückzugs der militärischen Einhei-ten sowie der Einheiten der Sonderpolizei auf jugoslawi-scher Seite überwacht wird und daß es gleichzeitig eineVertrauensgrundlage für die Menschen im Kosovo gibt,die es ihnen ermöglicht, in ihre zum großen Teil beschä-digten oder gar zerstörten Häuser zurückzukehren –Vertrauen in den Wiederaufbau zu finden und so insge-samt zu einer friedlichen Entwicklung beizutragen. Fürdie Überwachung dieses Prozesses werden unbewaffne-te, nichtmilitärische OSZE-Verifikateure – Beobachte-rinnen und Beobachter – eingesetzt. Deutschland betei-ligt sich mit bis zu 200 unbewaffneten Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern für die OSZE an diesem Programm.Dabei handelt es sich um einen zwar zivilen, jedochalles andere als ungefährlichen Auftrag. Damit die Risi-ken dieses Auftrags minimiert werden können, bedarf esnicht nur einer unbewaffneten militärischen Luft-raumüberwachung – diese hat der Deutsche Bundestagbereits beschlossen –, sondern auch einer entsprechen-den Notfallmaßnahme. Diese Maßnahme bezieht sich –ich wiederhole es – allerdings nur auf den Notfall.Mit dem Beschlußvorschlag der Bundesregierung istnicht die militärische Durchsetzung, ist nicht die militä-rische Begleitung der OSZE-Mission gemeint. Dazu wä-ren die ausgesuchten Einheiten weder von der Größen-ordnung noch von der Zusammensetzung her geeignet.Das muß klar sein. Ich denke, das ist bei der Bewertungder heutigen Entscheidung wichtig. Es handelt sich alsoum eine Truppe für den äußersten Notfall, wenn es zurAbwehr eines Schadens für Leib, Leben und Gesundheitzu einer beschleunigten Evakuierung der unbewaffnetenOSZE-Beobachter, die im Kosovo in einem gefahrvollenund zugleich wichtigen Einsatz sind, kommt. Darumgeht es in der Entscheidung, die heute zu treffen ist.Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen, ichfinde es gut und richtig, daß es im Deutschen Bundestageine breite Zustimmung zu dieser OSZE-Mission gibt.Was ich allerdings nicht begreifen kann, ist: Wenn manweiß, daß diese unbewaffneten, zivilen OSZE-Beobachterinnen und -Beobachter in einen gefahrvollenEinsatz gehen, warum hat man dann nicht den Mut, dieKonsequenz daraus zu ziehen und auch zur letztenSicherheitsreserve Ja zu sagen, damit diese Menschen,falls sie in eine lebensbedrohliche Situation kommen,schnell evakuiert werden können und die Gefahr fürLeib und Leben abgewehrt werden kann?
Das begreife ich nicht; ich glaube, Sie begreifen esselbst nicht. Wenn ich diesen OSZE-Einsatz unterstützeund die Menschen dort hinschicke, kann ich ihnen,selbst wenn ich tausend Bedenken habe, diesen Schutzdoch schon von der Logik her nicht verwehren.
Dennoch ist es mir sehr wichtig, Herr Kollege Breuer,heute noch einmal festzuhalten, daß sich die Bundes-republik Jugoslawien vertraglich verpflichtet hat, für denSchutz, für die Sicherheit und für die Bewegungsfreiheitder OSZE-Beobachter zu garantieren. Wir werden sehrsorgfältig darauf achten, daß diese Verpflichtung ent-sprechend realisiert wird.
Wir haben über alle umfassenden Fragen zu diesemThema bereits in der vorangegangenen Debatte disku-tiert: über die Grundlagen der politischen Bewertung desVertrages und die Konsequenzen, die sich daraus erge-ben; die Gespräche, die wir mit der kosovo-albanischenSeite geführt haben, und das Insistieren darauf, daß dieUCK ihre Gewaltaktionen einstellen muß, wenn es zueinem dauerhaften Frieden im Kosovo kommen soll;
über die Bedeutung, die der WEU-Polizeimission inAlbanien unter dem Gesichtspunkt der Stabilisierung derinnenpolitischen Verhältnisse vor allen Dingen in Nord-albanien zukommen kann – was am Rande der WEU-Ratstagung in Rom eine Rolle gespielt hat –, denn auchinsofern gibt es ein Instrument, das fortentwickelbar ist.Ich möchte all das heute nicht mehr vertiefen. Wir habenuns entschieden – ich finde diese Entscheidung richtigund alternativlos –, bis zu 200 unbewaffnete, zivileOSZE-Beobachter in eine gefahrvolle Mission in denKosovo zu schicken.Ich bitte den Deutschen Bundestag darum, dem Be-schlußvorschlag der Bundesregierung zuzustimmen,damit es eine Letztversicherung, eine Sicherheitsreservefür diese Menschen in ihrem gefahrvollen Einsatz gibt.Danke.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsi-dentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Über-betonung der OSZE als europäisches Sicherheitsinstru-ment kann man in der Koalitionsvereinbarung der neuenRegierung nachlesen. Dort heißt es:Die OSZE ist die einzige gesamteuropäische Si-cherheitsorganisation. Das macht sie unersetzlich.Meine Damen und Herren, unersetzlich für die euro-päische Sicherheit – das haben uns nicht erst die letztenJahre gelehrt – ist vor allem die NATO. Sie ist die einzi-ge voll einsatzfähige, durchsetzungsfähige und damitwirkungsvolle Sicherheitsorganisation in Europa. Nie-mandem nützt es, beim Thema Sicherheit Fakten nichtzur Kenntnis zu nehmen und der OSZE mehr andichtenzu wollen, als sie sein kann, nämlich ein Instrument derKrisenwarnung und der friedlichen Streitschlichtung.Der Tagesordnungspunkt, über den wir heute zuBundesminister Joseph Fischer
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befinden haben, macht denn auch in aller Deutlichkeitklar: Die von Herrn Außenminister Fischer erhoffte neueOperabilität der OSZE ist nur machbar, wenn die NATOder OSZE Deckung gibt. Wie schwer diese nüchterneEinsicht einigen gefallen sein muß, kann man daranerkennen, wie lange die Regierung für eine Kabinett-vorlage gebraucht hat, in der es letztendlich nur umSelbstverständlichkeiten geht. Zudem hat sie gestern aufFragen im Plenum und in den verschiedenen Ausschüs-sen höchst bemerkenswerte unterschiedliche Interpreta-tionen geliefert.
Eine Selbstverständlichkeit aus unserer Sicht ist es, dennotwendigen militärischen Schutz für zivile Beobachterzur Verfügung zu stellen, die wir in ein Gebiet entsenden,in dem ausschließlich die zynische Sprache der Gewaltgilt und in dem zur Zeit wohl niemand die Hoffnung derGrünen teilt, man könne die entfesselte Gewalt einesKrieges oder die menschenverachtende Politik einesTyrannen ohne militärische Abschreckung stoppen.Herr Außenminister, Sie appellieren an dieses Haus –an welche Seite appellieren Sie denn eigentlich mit IhrerVorlage? –, der NATO die Möglichkeit zum Schutz derunbewaffneten OSZE-Beobachter zu geben. Bei unsbrauchen Sie keinerlei Sorge zu haben. Aber es ist schonBall paradox, wenn die eigene Fraktion in beschwören-den Worten angesprochen werden muß, damit sie viel-leicht gnädigerweise von einer ablehnenden Haltung zurEnthaltung kommt.
Wir werden da noch einiges erleben, und wir werden danoch einiges zu kommentieren haben.
Um Milosevics Propagandamaschine, die schon wie-der läuft, von hier aus nicht unkommentiert zu lassen,sollten wir eines feststellen – ich finde, hierin treffen wiruns wieder –: Wenn aus Belgrad bereits jetzt wiederEinschüchterungsversuche zu beobachten sind, die dar-auf hinauslaufen, die in Mazedonien zu stationierendeTruppe und das Stationierungsland zu kritisieren, dannsetzen wir dem klar entgegen, daß wir der mazedoni-schen Regierung für ihre Bereitschaft außerordentlichdanken und daß wir der Überzeugung sind, daß dieseNotfalltruppe alleine durch ihre Präsenz zur Stabilisie-rung der Situation Mazedoniens im komplizierten Ge-flecht Südosteuropas beitragen wird.Ganz wohl kann sicherlich keinem von uns bei demGedanken sein, daß wir 2 000 unbewaffnete Beobachterin dieses unsichere Gebiet schicken. Aber das war wohldas Optimale, was Herr Holbrooke hat herausholen kön-nen. Allerdings bleibt schon die Erinnerung an die inweiße Overalls gekleideten EU-Monitore zu Beginn desJugoslawien-Konflikts, die nur Statistiken des Grauensführen konnten und die man dann schließlich vor An-griffen schützen mußte.Mir wäre es lieber gewesen, eine SFOR-ähnlicheTruppe hätte im Kosovo stationiert werden können.Nachdem das nicht so ist, muß Milosevic klargemachtwerden, daß erstens der militärische Druck, den wirauch und gerade durch den Beschluß des 13. Bundesta-ges vom 16. Oktober dieses Jahres deutlich gemacht ha-ben, im Grundsatz aufrechterhalten bleibt
und daß zweitens eine effiziente Notfalltruppe für dieOSZE-Beobachter bereitsteht. Gerade deswegen ist esdringend notwendig, nicht nur auf die OSZE, sondernauch auf die NATO zu setzen, ich darf hinzufügen: er-freulicherweise mit einer sehr starken, ja führenden Be-teiligung unserer französischen Partner.So kann man denn mit Verlaub auch nicht glauben,daß die so späte Vorlage des Antrages, die ich schon an-gesprochen habe, alleine durch Hinweis auf NATO-Entscheidungsprozesse zu entschuldigen sei. Mein Ver-trauen in den militärischen Apparat der Hardthöhe istsehr groß, und ich bin sicher, daß die Aufstellung derSchutztruppe keine schwierige, unlösbare Aufgabe ist.Man muß beim Nachdenken über die Schwierigkeitennicht lange grübeln, um zu der Vermutung zu kommen,daß es eigentlich darum gegangen ist, politische Unge-reimtheiten innerhalb der Koalition zu überdecken.
Sie werden sich noch mehrfach anhören müssen: Wiralle haben noch die kritischen Anmerkungen von Bünd-nis 90/Die Grünen gegen die Aufstellung der sogenann-ten „Kommando-Spezialkräfte“ im Ohr. Es handelt sichum ein Kommando, das damals aus der Situation inAfrika heraus politisch entstanden war, als deutscheRundfunkjournalisten von belgischen Fallschirmjägernentsetzt werden mußten. Gerade da ging es um die Be-fähigung zur Geiselbefreiung – eine Option, die in Sze-nario 2 des NATO-Operationsplans für die Notfalltruppevorgesehen ist.Um so verwunderlicher ist es, daß diese Spezialein-heit jetzt nicht zum Einsatz kommen soll. Ich kann nursagen: Hört, hört, Hohes Haus!
– Frau Beer hat sich mit dem Zwischenruf sofort zuWort gemeldet. Sie weiß, wer gemeint ist. Wir werdensicherlich gewundene Versuche der Erklärung von ihrhören.Ich will nicht die Sinnhaftigkeit militärischer Planun-gen diskutieren. Herr Verteidigungsminister, wir gehendavon aus, daß die unbenommen dem Antrag gefunde-nen vieldeutigen Worte die am besten geeigneten – –Wo ist denn der Herr Verteidigungsminister? Gesternbei der Regierungsbefragung war er auch nicht da.
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Das Wort hatjetzt der Herr Verteidigungsminister Rudolf Scharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Vielleicht sollte ich allen Kolleginnen und Kollegen imHause noch einmal ins Gedächtnis rufen, daß derNATO-Rat am Freitag, dem 13. November den Operati-onsplan für diese Notfall- und Risikovorsorge gebilligthat. Es handelt sich um den Freitag der vergangenenWoche. Es wird für die Beurteilung durch das Hausvielleicht auch von Interesse sein, daß die Rules of En-gagement gestern im NATO-Rat gebilligt worden sind.Wenn vor diesem Hintergrund – mehr oder wenigerkünstlich – ein Vertreter der CDU/CSU-Fraktion denVorwurf erhebt, die Bundesregierung habe zögerlich ge-handelt,
wo sie doch ihren Antrag in der ersten Sitzung desBundeskabinetts, unmittelbar nach der Verabschiedungdes Operationsplanes und vor der Billigung der Rulesof Engagement gestellt hat, dann finde ich das einiger-maßen erstaunlich. Dahinter kann ich nur das Bedürfniserkennen, in einer Frage, die hinsichtlich der politischenBeurteilung unstreitig ist, noch wenigstens ein Minimumvon Streit vom Zaune zu brechen. Das aber ist in diesemFall alles andere als angebracht.
Es ist deshalb nicht angebracht, weil wir einen der ganzwenigen Fälle haben, in denen in einer hochrisikorei-chen Situation OSZE und NATO in einer klugen Ar-beitsteilung zusammenwirken, auf der Grundlage inter-nationaler Abkommen, auf der Grundlage von Resolu-tionen der Vereinten Nationen, auf der Grundlage vonBeschlüssen des Ständigen Rates der OSZE.Deshalb glaube ich, daß es der Sache mehr dient, Siedarüber zu informieren, daß der Operationsplan vorsieht,in Notfallsituationen das Personal der OSZE mit militä-rischen Kräften aus dem Kosovo herausziehen zu kön-nen, wenn die Bundesrepublik Jugoslawien ihren einge-gangenen Schutzverpflichtungen nicht nachkommt odernicht nachkommen kann, was sich hier und da wegendes Verhaltens der UCK im Kosovo durchaus als Risikoergeben kann. Eine solche Notfallsituation wäre bei-spielsweise vorhanden, wenn Leib oder Leben einzelnerVerifikateure gefährdet wäre oder wenn diese mit Ge-walt an ihrer Bewegungsfreiheit gehindert würden undeine Evakuierung durch die OSZE selbst ausgeschlossenwäre. So ist es ausdrücklich in den entsprechenden Un-terlagen vorgesehen.Der Einsatz der Streitkräfte ist im übrigen in dreiSzenarien abgestuft. Szenario eins geht von einer gra-duellen Zunahme bewaffneter Zwischenfälle und derEvakuierung in einem relativ friedlichen Umfeld trotzdes einen oder anderen bewaffneten Zwischenfalls aus.Szenario zwei geht davon aus, daß es direkte Übergriffein einem begrenzten Gebiet geben könnte, aber mögli-cherweise – das zeigt die Erfahrung in Bosnien und Her-zegowina – verbunden mit Geiselnahmen. Ein drittesSzenario geht davon aus, daß das vollständige Herauslö-sen des Verifikationspersonals und übrigens auch, so-weit das irgend möglich ist, der Mitarbeiterinnen undMitarbeiter von zivilen Hilfsorganisationen notwendigwerden könnte.Auch da will ich mit Blick auf die Bemerkungen, diegerade gemacht wurden, sagen, daß der deutsche Beitragbei allen diesen Szenarien sichergestellt ist. Die Bundes-republik Deutschland wird sich mit Hilfe der Bundes-wehr an allen drei Optionen dieser möglichen Operationmit einer verstärkten Kompanie und den dazugehörigenKräften beteiligen, einschließlich des notwendigen Ha-fenpersonals, Luftumschlagkräften etc. Dazu zählt auchdas Personal für die internationalen Hauptquartiere undfür die Beteiligung an der NATO-Luftüberwachung.Sie wissen, das deutsche Kontingent wird zunächstbis zu 250 Soldaten umfassen, wovon zur Zeit 190Dienstposten ausgeplant sind. Das muß ich Ihnen des-halb sagen, weil Frankreich dankenswerterweise nichtnur die Rolle der sogenannten „lead nation“ übernimmtund damit die Hauptlast der ganzen Operation trägt, wasChristian Schmidt
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ein bedeutsamer politischer Fortschritt ist, sondern weildie Planungen im einzelnen auch noch gar nicht abge-schlossen sind, so daß wir uns hier zum Teil auf einemBoden bewegen, der es notwendig macht, zu sagen: Wirhaben zur Zeit 190 Leute ausgeplant, aber wir beantra-gen bis zu 250, um im Hinblick auf die Verhandlungenund Gespräche einen gewissen Spielraum zu haben.Übrigens: Die Vereinbarung mit Mazedonien wirdhoffentlich bald getroffen, denn nach dem Ausgang derWahlen und der Nachwahlen kann man hoffen, daß dieRegierung bald gebildet ist. Sollte es beispielsweise imZusammenhang mit einem entsprechend risikoreichenund gefährlichen Szenario notwendig werden, ausDeutschland oder aus anderen Ländern weitere Kräftezur Verfügung zu stellen, dann erfordert das selbstver-ständlich erneut eine entsprechende Zustimmung desDeutschen Bundestages. Ich möchte Ihnen aber sagen,daß wir auch darauf vorbereitet sind.Insgesamt ist meine Bitte, daß das Haus mit großerMehrheit, wie sich das Gott sei Dank auch bei den frü-heren Entscheidungen abgezeichnet hat, dem Antrag derBundesregierung zustimmt
und daß wir uns im übrigen die Versuchung versagen, ineiner Situation, in der wir Menschen, sowohl die Verifi-kateure der OSZE als auch die Soldaten der Bundes-wehr, in einen sehr risikoreichen, möglicherweise ge-fährlichen Einsatz schicken, hier in vordergründige par-teipolitische Kleinkrämerei zu verfallen. Das nutzt denMenschen und übrigens auch dem Auftrag nicht.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günther Friedrich Nolting.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird dem Antrag der Bundesregie-rung zustimmen. Nur, Herr Außenminister Fischer, eshätte Ihrer Überzeugungskünste wahrlich nicht bedurft,damit die F.D.P. hier heute zustimmt. Sehen Sie es mirnach: Wenn ich Sie heute hier reden höre, komme ichmir vor wie im falschen Film.
Aber ich gratuliere Ihnen, daß es Ihnen gelungen ist,Ihre eigene Fraktion zu überzeugen, und ich hoffe imInteresse des gesamten Hauses, daß es Ihnen auch nochgelingen wird, die PDS zu überzeugen. Sie haben jahier, wenn ich es richtig gesehen habe, überwiegend inRichtung der linken Ecke gesprochen.Meine Damen und Herren, 2 000 OSZE-Beobachterwerden in Kürze eine unbewaffnete Mission beginnen.Deutschland beteiligt sich an dieser bedeutenden Aufga-be mit zirca 200 Beobachtern. Herr Außenminister, wirsind mit Ihnen einig: Dies ist eine schwierige Aufgabe,eine bedeutende Aufgabe. Es ist aber keine ungefähr-liche Aufgabe, sondern eine äußerst gefährliche.Die Bundesrepublik Jugoslawien ist zwar auf Grundihrer Vereinbarung mit der OSZE zum Schutz dieserBeobachter verpflichtet. Aber wissen wir, ob sich Milo-sevic und sein unberechenbares Regime an die einge-gangene Verpflichtung halten werden? Haben wir nichtin den vergangenen Jahren allzuoft erlebt, daß Vereinba-rungen gebrochen oder umgangen wurden, bevor dieTinte der Unterschrift getrocknet war?Deshalb sind wir gezwungen, vorbeugende Maßnah-men zu treffen, Maßnahmen, die uns ein eigenständigesund äußerst wirkungsvolles Handeln erlauben. Unterkeinen Umständen dürfen wir Leib und Leben der OS-ZE-Beobachter in die Disposition des Belgrader Regi-mes stellen. Wir dürfen sie nicht zum Spielball der Lau-nen und des – häufig genug – menschenverachtendenHandelns von Milosevic werden lassen. Ich wiederholean dieser Stelle: Die Bundesrepublik Jugoslawien hatsich auch ausdrücklich verpflichtet, eine Evakuierungder OSZE-Verifikateure im Notfall zu gestatten.Soldaten aus Frankreich, aus Italien, aus Großbritan-nien und den Niederlanden werden gemeinsam mit Sol-daten der Bundeswehr die sogenannte Extraction Forcebilden, die in Mazedonien stationiert wird. Hoffentlichsorgt allein ihre Präsenz dafür, daß alle OSZE-Beobachter ihre wichtige Arbeit unbeeinträchtigt und si-cher durchführen können.Herr Minister Scharping, Sie haben davon gespro-chen, hier werde ein Streit vom Zaun gebrochen. Wirwollen Soldaten nach Mazedonien schicken, die bestensausgebildet sind, die bestens ausgerüstet sind, und dazugehören für uns auch Soldaten von KSK. Wir haben unsja im Verteidigungsausschuß darüber unterhalten, undSie haben dort nicht ausgeschlossen, daß auch Soldatenvon KSK eingesetzt werden. Sie sprechen hier vonStreit. Dazu will ich Ihnen sagen: Wir hätten uns ge-freut, wenn die frühere Opposition uns so unterstützthätte, wie wir dies heute hier im Parlament tun werden.
Meine Damen und Herren, wir haben gestern ja auchim Verteidigungsausschuß über dieses Thema diskutiert.Ich habe mich gefreut – das sage ich ganz offen –, daßes dort eine einhellige Zustimmung zum Antrag derBundesregierung gibt. Ich denke, die OSZE-Beobachterund auch unsere Soldaten brauchen diese breite Zu-stimmung, und sie haben diese breite Zustimmung zwei-fellos verdient. Ich denke, dies trifft auch für die Einsät-ze der vergangenen Jahre zu. Deshalb sage ich auch andieser Stelle, daß die bisherige Verweigerung der Grü-nen falsch war. Ihre Behauptung, die sie noch bis zum27. September dieses Jahres aufgestellt haben, es handlesich um die Militarisierung der Außenpolitik, ist gerade-zu abwegig, geradezu abstrus.
Ich denke, dieser Gesinnungswandel ist auch dienachträgliche Anerkennung – ich sage: die verdienteBundesminister Rudolf Scharping
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Anerkennung – der Richtigkeit der Außenpolitik der li-beralen Außenminister Scheel, Genscher und in denletzten sechs Jahren vor allem Klaus Kinkel.
Ich will mich für diese Unterstützung noch einmal aus-drücklich auch bei den Grünen bedanken.Erlauben Sie mir zum Abschluß, noch darauf hinzu-weisen, daß es der Kollege Ulrich Irmer aus der F.D.P.-Bundestagsfraktion war, der gesagt hat, wir bräuchtenein Abkommen für den Kosovo analog zum Dayton-Abkommen. Herr Minister Fischer, ich denke, Sie sindhier gefordert, solch eine Initiative zu ergreifen. Auchhierbei sichern wir Ihnen unsere Unterstützung zu.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schmidt und Herr Nolting, es ist schon bemerkenswert,
wenn Sie dem Außenminister unterstellen, er rede nur zu
uns, und wenn Sie, Herr Schmidt, nicht sehen, daß es bei
der Grundentscheidung vom 16. Oktober, über deren
Folgen wir hier reden, auch in Ihrer Fraktion immerhin
zwei Enthaltungen gab. Auch bei uns hat es einige Ent-
haltungen gegeben. Hier muß also wirklich mit Über-
zeugungskraft geredet werden.
Außerdem finde ich es schon erstaunlich, Herr
Schmidt, daß Sie, wenn Sie hier den Streit darüber, ob
NATO oder OSZE, vom Zaun brechen, die NATO in
der Tat so verinnerlicht haben, daß Sie die Entschei-
dungsgänge schon schneller vornehmen, als sie sich in
den NATO-Gremien selbst abspielen. Ebenso erstaunt
mich, daß Sie dabei nicht bemerken, daß wir heute über
den bedeutendsten OSZE-Einsatz und dessen Absiche-
rung sprechen. Wir sprechen jetzt nicht über die wirk-
lich hoffnungslosen Situationen, in denen es immer
hieß: Wir verhandeln. – Aber dann passierte nichts, und
das Militär mußte eingreifen.
Wir sprechen hier über eine Politik, bei der wir mit
der OSZE versuchen, einen Konflikt im Konflikt mit zi-
vilen Mitteln zu bewältigen. Ich denke, das ist ein ganz
großer Fortschritt in der Außenpolitik. Es ist bemer-
kenswert, wie sehr sich Herr Schmidt in unseren Begriff
der „Militarisierung der Außenpolitik“ verliebt hat, den
wir sehr gern benutzen. Wir sind jetzt auf einem anderen
Wege. Das sollte man begrüßen. Wir wollen hoffen, daß
auch Sie solche Wege nachvollziehen können, damit wir
uns hier einen überflüssigen Streit ersparen können.
Wir als Deutsche antworten heute auf das dringende
Ersuchen des polnischen Außenministers – auch das ist
zu erwähnen –, der gleichzeitig der amtierende Präsident
der OSZE ist, auf Schutz der 2 000 OSZE-Beobachter.
Meine Fraktion wird dem Stattgeben des Ersuchens zu-
stimmen.
– Das kommt noch hinzu: Wir sprechen über Extraction
in speziellen Notfällen.
Deshalb ist die Diskussion über den Einsatz von Sol-
daten der KSK an dieser Stelle völlig überflüssig. Sie
selbst wissen, daß in den Operationsplänen noch ganz
andere Dinge angedacht sind, die man aber, so denke
ich, nicht beschließen muß, bevor die Notwendigkeit da-
zu besteht; denn sonst wird durch solche Beschlüsse die
politische Flexibilität vermindert, die wir für die Erstik-
kung eines Konfliktes mit friedlichen Mitteln dringend
brauchen.
Schlußwort: Vieles bleibt offen. Wir müssen uns dar-
über im klaren sein, daß wir jetzt zwei oder drei Win-
termonate lang Atempause haben. Wir wissen, daß so-
wohl die serbische Seite – also die serbische Armee –
wie auch die albanische Seite die Zeit zur Regruppie-
rung nutzen. Um so dringender ist natürlich der Appell,
diese Monate intensiv politisch zu nutzen, um so drin-
gender der Appell, den wir auch an die albanische Seite
richten sollten, endlich eine verantwortliche Führung,
die sowohl die militärische als auch die politisch legiti-
mierte Seite umfaßt, einzusetzen, so daß es keine einsei-
tigen Erklärungen mehr gibt, sondern Verträge auch mit
dieser Seite möglich sind.
Um so dringender ist die Ermahnung an die serbische
Seite, nicht immer nur zu sagen: Wir wollen ja verhan-
deln, aber wir wollen keine Dritten dabeihaben bzw. wir
stellen sie in die Kulisse.
Verhandlungen zwischen Albanern und Serben sind
nur möglich, wenn eine dritte Seite da ist und wenn die-
se von der serbischen Seite nicht kleingeredet wird. Wir
hoffen sehr, daß die Serben über ihren Schatten springen
können, so daß wir zu wirklich vertrauensaufbauenden
Verhandlungen kommen, und die Wintermonate dazu
genutzt werden.
Deshalb ist nach der Unterstützung für die Sicherheit
der OSZE-Beobachter, die wir heute geben, die politi-
sche Seite wieder um so dringender gefordert.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Nachdem der Bun-desaußenminister, wie mir schien, versucht hat, meinerFraktion ins Gewissen zu reden,
will ich zu Beginn meiner Ausführungen sagen, daß icheinige der Gründe, die der Außenminister genannt hat,verstehen kann, wenn ich sie auch für falsch halte.Günther Friedrich Nolting
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Vielleicht ist es umgekehrt möglich, die Sorge andererzu verstehen, auch wenn man sie für falsch hält.Im übrigen ist meine Auffassung von einem Mei-nungsaustausch nicht, daß man mit einer Meinung hin-eingeht und mit der des anderen wieder herauskommt.Das heißt, man muß sich schon auf eine Debatte einlas-sen.Die Bundesregierung begründet ihren Antrag unteranderem damit, daß die Entsendung unbewaffneter Be-obachter im Rahmen der OSZE auch deren Schutz imNotfall nach sich zieht. Daß zivile OSZE-Beobachtergeschützt werden müssen, steht für mich außer Frage.Diesen Schutz hat vertraglich in vollem Umfang die Re-publik Jugoslawien übernommen. Aus dieser Ver-pflichtung können und wollen wir sie nicht entlassen.Die Sicherheit der OSZE-Beobachter kann letztlich nurdurch Jugoslawien selbst gewährleistet werden.Ich befürchte, daß die Stationierung von NATO-Einheiten in Mazedonien nicht mehr Schutz bietet,sondern das Risiko erhöht. Es gibt im Kosovo politischeKräfte, deren erklärte Strategie und Wunsch es ist, eineNATO-Intervention zu provozieren. NATO-Truppen inder unmittelbaren Nachbarschaft – welch eine wunder-bare Steilvorlage für diese Kräfte.Zusätzlich wird mit der NATO-Stationierung in Ma-zedonien ein weiteres Land auf dem Balkan destabili-siert. Die Bundesregierung – auch der Außenministersprach darüber – versucht, den Eindruck zu erwecken,als gäbe es zwischen der Entsendung unbewaffneterOSZE-Beobachter und der Stationierung von NATO-Verbänden einen zwingenden inneren Zusammenhang.Dies ist aus meiner Sicht mitnichten der Fall.
Mit der Stationierung wird hintenherum das Militär-bündnis NATO doch noch ins Geschäft gebracht, nach-dem es politisch der zivilen OSZE das Feld überlassenmußte.Liegt es da so fern, in diesem Umstand die eigentli-che Begründung zu sehen? Wenn ich dann noch lese,daß der Verteidigungsminister gerade diese Truppensta-tionierung als Ermutigung für seine WEU-Pläne sieht,habe ich den Eindruck, daß es bei der Stationierungnicht nur um die Sorge für die OSZE-Beobachter geht.
Die Truppenstationierung in Mazedonien hat unüber-sehbar eine militärische Drohfunktion. Wir debattierenhier nicht nur über den Einsatz von 250 Mann, sondernfür den Fall, daß der Notfall tatsächlich eintritt, über denmöglichen Einsatz des gesamten SFOR-Kontingents,über eine Dimension von mehreren tausend deutschenSoldaten; so steht es jedenfalls im Regierungsantrag. Ichglaube sagen zu können: Man sieht, Militärbündnissesind für nichtmilitärische Lösungen nicht geeignet.
Dünn ist aus meiner Sicht auch die rechtliche Argu-mentation der Bundesregierung. Das Notwehrrechtnach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen kannvölkerrechtlich nicht herangezogen werden. Im Vertragmit Jugoslawien ist die Stationierung von NATO-Truppen nicht verankert. Vertragliche Vereinbarungenmit Mazedonien und der OSZE liegen bis zur Stundenicht vor. Der von der Regierung benutzte Ausdruck, siebefänden sich im Regelungsprozeß, kann darüber nichthinwegtäuschen. Nach dem Motto „Steter Tropfen höhltden Stein“ wird seitens der NATO das Gewaltmonopoldes UN-Sicherheitsrates ausgehöhlt. Das wollen wirnicht mitmachen.
Es ist tragisch, daß sich auch die neue Regierung aufden ausgetretenen Wegen einer alten Politik fortbewegt,gehetzt von einer außenpolitischen Krise zur anderen,und nicht die Kraft findet, aus diesem Teufelskreis vonimmer neuer Gewalt auszubrechen. Sie täuschen sich,Herr Außenminister, wenn Sie glauben, daß die Dro-hung mit Gewalt oder mit dem Einsatz derselben letzt-lich doch erfolgreich sei, auch dann, wenn einzelne Ent-scheidungen einen solchen Eindruck rechtfertigen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Herr Kollege Gehrcke, ich
bräuchte viel Zeit, wenn ich die Anträge Ihrer Fraktion
zur Unterstützung einer größeren Rolle, die die OSZE
im internationalen Leben spielen soll, aufzählen würde.
Können Sie dem Hohen Haus einmal erklären: Was für
eine Logik besteht darin, daß Sie auf der einen Seite die-
se Anträge einbringen, daß Sie aber auf der anderen
Seite keinen Vorschlag machen, wie man OSZE-
Vertreter dafür gewinnen soll, unbewaffnet in eine ge-
fährliche Region zu gehen, und was eigentlich passieren
soll, wenn sie dort in Gefahr geraten? Können Sie ein-
mal Ihren Standpunkt erklären?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Ange-bot, das wir unterbreiten, ist, sich auf zivile Konflikt-lösung zu konzentrieren und vertragliche Vereinbarun-gen ernst zu nehmen.
Wenn man mit der Bundesrepublik Jugoslawien einenVertrag abschließt, in dem nichts von Entsendung einerNATO-Truppe steht, muß man diesen Vertrag auf dereigenen Seite so ernst nehmen, wie man es vom Ver-tragspartner erwartet, sonst wird aus dem Völkerrechtein Schweizer Käse, der für die Weltgemeinschaft un-verdaulich ist.
Die Bundesregierung ist auf einem falschen Wege,wenn sie glaubt, daß diese Probleme mit Gewalt zu lö-sen sind, auch wenn Einzelerscheinungen einen solchenEindruck rechtfertigen mögen. Jeder auf diese WeiseWolfgang Gehrcke-Reymann
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428 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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„gelöste“ Konflikt zieht einen neuen Konflikt nach sich,auf den dann wieder mit Gewalt reagiert wird.Ich komme zum Schluß. Es ist für mich bedrückend,daß wir in fast jeder Sitzungswoche gefordert sind, deut-sche Soldaten und Kriegsgerät in die Welt hinauszu-schicken.
Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag ab und hof-fen, daß sich auch Kolleginnen und Kollegen andererFraktionen zu einer solchen Gewissensentscheidungdurchringen können.Schönen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christoph Zöpel.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Heute fassen wirseit Mitte Oktober den dritten Beschluß, um einen Bei-trag zur inneren Sicherheit des Kosovo zu leisten. Dieseinnere Sicherheit des Kosovo ist allerdings auch in einerWeise gefährdet, die durch den Strom von Flüchtlingen,überwiegend albanischer Herkunft, Auswirkungen aufandere Teile Europas hat.Ursache für dieses humanitäre Desaster im Kosovoist das Zusammentreffen von zwei historischen Ent-wicklungen, die den demokratisch-zivilgesellschaft-lichen Werten Europas widersprechen: dem Zusammen-treffen von Elementen eines totalitären politischenSystems, das aus der Zeit vor 1989 in die Gegenwarthineinragt, und den Auswüchsen eines extremen Natio-nalismus auf beiden Seiten, der sich in Gewalt gegenandere ethnische Gruppen niederschlägt.Gegen einen Teil dieser Gewalt, gegen die Gewalt-anwendung durch serbische Streitkräfte, half nur – die-ses Vorgehen ist leider weiterhin ohne Alternative – dieAndrohung von überlegener militärischer Gewalt durchdie NATO. Wie von allen gewünscht, mußte die Gewaltnicht angewendet werden. Ein weiteres Mal hat, wie imkalten Krieg, die Androhung mit Gewalt gereicht, umsie nicht anwenden zu müssen.
Da der Bundestag zwar verpflichtet ist, dem Einsatzvon Soldaten zuzustimmen, er aber nicht verpflichtet ist,dem Einsatz von Friedenskräften zuzustimmen – mirliegt daran, diesen Punkt deutlich zu machen –, kommeich auf das eigentliche Ereignis, um das es geht. DieFolge war die historisch erstmalige Vereinbarung, daßunbewaffnete Kräfte der OSZE eingesetzt werden, umeinen Konflikt einzudämmen und vielleicht zu beenden.Ich glaube, ohne Übertreibung sagen zu können: Wirstehen hier in einer historisch neuen Situation.
Durch das Abkommen von Helsinki im Jahre 1975wurde erträumt – damals wohl nur von den westlichenSignatarstaaten – und 1989 durch die Charta von Pariswurde deklarativ vereinbart, zu einer europäischen Zi-vilgesellschaft zu kommen, in der sich alle Europäergemeinsam um ihre innere Sicherheit bemühen. DieserEinsatz ist ein erster Schritt der OSZE, zu prüfen, wiedas umgesetzt werden kann.
Indem dieser Einsatz vertraglich vereinbart wurde,stellt sich nun eine neue konkrete Frage: Wie kann diepersönliche Sicherheit von Menschen garantiert werden,die sich bereit erklären, unbewaffnet in ein Konfliktge-biet zu gehen? Da machen abstrakte Überlegungen we-nig Sinn. Ich glaube, kaum jemandem wird man ver-mitteln können, er müsse, solle oder dürfe in ein Krisen-gebiet gehen, wobei nicht ausgeschlossen werden könne,daß es weiterhin zu Gewaltanwendung komme, wennman ihm nicht sagt, was im Krisenfall zur Gewährlei-stung seiner persönlichen Sicherheit geschieht. Das mußman sagen. Dazu hat es Überlegungen gegeben. Darüberwird heute eine Entscheidung getroffen. Ich sehe sie alsalternativlos notwendig an.
Die Sicherheitskräfte, die in der Republik Mazedoni-en stationiert sein werden, kommen aus fünf Ländern:aus Frankreich, das die militärische Führung übernimmt,aus Großbritannien, aus Italien, aus den Niederlandenund aus Deutschland, also nur aus europäischen Län-dern. Darüber wird diskutiert. Es wird die Frage gestellt,warum sich die Vereinigten Staaten nicht beteiligen.Meine Bewertung dazu lautet: Es liegt in der Logik derOSZE, daß diese Aufgabe allein von Europäern über-nommen wird.
Offenkundig bleibt eines erforderlich: Wo als Vor-aussetzung für die Vermeidung militärischer Gewaltweiterhin die Androhung überlegener Gewalt notwendigist, geht dies nur innerhalb der NATO unter Beteiligungder Vereinigten Staaten. Dazu benötigen wir diesesBündnis. Aber die Frage, wie die europäische Zivilge-sellschaft dauerhaft gemeinsam ihre innere Sicherheitregeln kann, können letztlich nur die Europäer gemein-sam beantworten.
Insoweit halte ich es für historisch richtig – das solltevon uns so aufgefaßt werden –, daß dieser Einsatz nurvon Europäern unternommen wird. Sie werden sich na-türlich weiter auf die Vereinigten Staaten verlassen kön-nen. Der Einsatz in Mazedonien, den wir hier beschlie-ßen, ist ja gekoppelt an die Mission der SFOR-Truppe,der die Vereinigten Staaten angehören.Manche diskutieren über diese Situation abstrakt. Da-zu trägt aus meiner Sicht falsches Vokabular im RahmenWolfgang Gehrcke-Reymann
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europäischer Sicherheitspolitik bei. Das Bild von dereuropäischen Sicherheitsarchitektur, die entworfenund geplant werden muß, führt in die Irre. Wir sollten indiesen Monaten und Jahren gelernt haben: Der Weg zueiner gemeinsamen Sicherheit – ich wiederhole dieseVokabel: zu einer gemeinsamen inneren Sicherheit – ei-ner mehr und mehr vernetzten europäischen Zivilgesell-schaft ist ein Prozeß, den man nicht planen kann. Diesist ein Prozeß, den man, orientiert an Werten, leitenkann. Das ist das, was wir tun. Wir brauchen für ganzEuropa die Werte der Demokratie und der Zivilgesell-schaft. Sie bestimmen den Prozeß, in immer wieder neu-en Situationen und durch immer neue Entscheidungenfestzustellen, wie die Instrumente, die wir besitzen,möglichst häufig die OSZE und möglichst selten dieNATO – aber es geht weiterhin offenkundig nicht ohnedie NATO –, eingesetzt werden können. Das ist derWeg.Keiner wird planen können, wie die Garantie innererSicherheit in Gesamteuropa zum Schluß aussieht undwann dieser Prozeß zu Ende ist. Er wird nur gelingen,wenn wir uns an den Werten orientieren, um die es mirgeht, wenn wir an der Ablehnung von totalitären Syste-men und übertriebenem Nationalismus festhalten undversuchen, Schritt für Schritt mit den der OSZE zur Ver-fügung stehenden Mitteln – also möglichst ohne militä-rische Lösungen – irgendwann einmal in die Lage ver-setzt zu werden, daß es in Europa nur noch normalePolizisten gibt, die unvermeidbare Konflikte lösen.
Weil wir diesen Prozeß für immer wieder unvorher-sehbare Ereignisse wollen, stimmen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, heute der Vorlage der Bundesregie-rung zu.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Christian Schwarz-Schilling.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir haben die deutsche Beteiligung an der OSZE-Mission im Kosovo beschlossen. Der Schutz der zivilenMitarbeiter, die in einer Notsituation unbewaffnet in eingefährliches Krisengebiet gehen, ist eine moralischeVerpflichtung aller, die diese Entscheidung getroffenhaben.
Auch diejenigen, die diese Entscheidung nicht mitgetra-gen haben, müßten heute zu dem Schluß kommen: Dadies so entschieden wurde, muß ich für den Schutz die-ser Leute als Zivilisten aufkommen. Das sollten Sie sichnoch einmal sehr genau vor Augen führen, HerrGehrcke.
Die CDU/CSU-Fraktion ist deswegen uneingeschränktfür die Drucksache 14/51, wie gestern auch vom Aus-schuß beschlossen.Die Historie zu diesen Beschlüssen ist nicht nur er-freulich. Bis zum Herbst waren es verbale Reaktionender westlichen Staatengemeinschaft auf die sich aufhei-zende Lage im Kosovo: verzweifelte Appelle der Betrof-fenen und der internationalen Hilfsorganisationen sowiedie Dauerreisen von Herrn Rugova, der verzweifelt ver-suchte, uns den Ernst der Lage klarzumachen und damitdie immer stärkere Bedeutung der bewaffneten Kräfteder UCK, weil nichts geschehen ist.Es ist leider nicht fünf Minuten vor zwölf, sondernzehn Minuten nach zwölf. Es gab in den letzten Mona-ten mehr als 300 000 Flüchtlinge. Ein Drittel aller Häu-ser ist total zerstört, ein weiteres Drittel schwer beschä-digt, also nur noch ein Drittel bewohnbar. Wieviel Gelddas kostet, kann sich jeder ausrechnen.Es war ein Fehler, diese Maßnahmen nicht schon imFrühjahr einzuleiten. Wir alle, die wir die Verhältnissedort kannten, haben das gefordert. Erst als der Winternahte und sich der Schrecken breitmachte, welche Bilderes wieder im Fernsehen zu Weihnachten geben könnte,gab es eine gewisse Erregung unter den Politikern: Daskönnen wir ja wohl nicht zulassen. Und so wurden danndie Sicherheitsratsresolutionen 1199 vom 23. Septemberund 1203 vom 24. Oktober verabschiedet. Auf dieserGrundlage ist das Drohpotential der NATO aufgebautworden, und durch ein Bündel von Maßnahmen ist beiden Verhandlungen von Herrn Holbrooke einiges er-reicht worden. Das ist erfreulich.Die Verhinderung eines erneuten Genozids, einer to-tal verbrannten Erde und riesiger Flüchtlingsströme, dieunausweichlich gewesen wären, wenn diese Maßnah-men nicht getroffen worden wären, wurde nur durch diemilitärische Drohung möglich. Durch nichts andereswäre dieser Erfolg erreicht worden.
Meine Damen und Herren, welcher Erfolg ist diesauch in der deutschen Bewußtseinslage, wenn ich ein-mal an die Situation in Bosnien im Jahre 1992/93 denke,als wir zuschauten und nur durch Argumente, warumDeutsche nicht beteiligt sein dürfen, erklärt haben, daßwir eine entsprechende internationale Intervention füruns nicht als gegeben ansehen. Die CDU/CSU war nocham mutigsten, indem sie die Möglichkeiten, die sichboten, ergriffen hat. Über die F.D.P. will ich nicht weitersprechen; dort gab es eine gewisse Verwirrung.
Dr. Christoph Zöpel
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Die SPD war weit von einer Position wie jener derCDU/CSU entfernt. Sie hat Prozesse gegen die Bundes-regierung angestrengt wegen einiger Schiffe in der Adria– das muß man sich einmal vorstellen –, mit denen wirein wenig bei der Beobachtung geholfen haben.Lieber Herr Lippelt, die Grünen waren noch in einerFundamentalopposition. Ich muß Ihnen natürlich eineszugestehen: Wenn Sie mit diesem Tempo bei der Ver-änderung Ihrer Positionen weitermachen, könnten Siehier einmal die Spitze sein. Dazu herzlichen Glück-wunsch.
Aber wir dürfen die Gefahren für die Zukunft nichtvergessen. Durch diesen Auftrag der OSZE und durchunseren Beschluß ist keine militärische Absicherung ge-geben. Es ist eine schlechtere Ausgangslage als in Bos-nien, wo es noch vor Ort UNPROFOR-Kräfte zumSchutz der UNHCR-Mitarbeiter gab. Hier gibt es keinebewaffneten Kräfte vor Ort. Das ist natürlich ein Ergeb-nis der Holbrooke-Verhandlungen.Die Menschen dort werden nicht geschützt. Es liegtgenau der gleiche Fehler wie in Bosnien-Herzegowinavor. Da hat man Friedenszonen etabliert, und die Mitar-beiter der internationalen Organisationen sind, als esbrenzlig wurde, mit ihren Hubschraubern verschwunden,und das Massaker in Srebrenica konnte beginnen. Dasist hier vielleicht noch eher möglich als in Bosnien.Deshalb müssen der Verteidigungsminister und derAußenminister, bevor es zum Einsatz der ExtractionForce kommt, schon darüber nachgedacht haben, fürwelche Begleitmaßnahmen Vorbereitungen getroffenwerden müssen – etwa NATO-Luftangriffe –, um dortMassaker zu verhindern. Wir dürfen nicht nur unsereeigenen Leute schützen, vielmehr müssen in einem ent-sprechenden Fall schnellstens neue Beschlüsse gefaßtund umgesetzt werden, um etwas Ähnliches wie das,was in Srebrenica passierte, nicht wieder eintreten zulassen.Die „local police“ muß eine ausreichende Exekutiv-gewalt bekommen. Denn wie sollen die Flüchtlinge, diein die Gebiete zurückkehren sollen, von denen sie wis-sen, daß dort serbische Polizei ist, ein Gefühl der Si-cherheit bekommen, wenn nicht die lokale Polizei eineentsprechende Exekutivgewalt erhält?Es müssen Verwaltungshilfen und Finanzhilfen ingroßem Umfang für das Kosovo und die es umgebendenStaaten zur Verfügung gestellt werden.Wir müssen Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeitund Medienfreiheit bei Herrn Milosevic mit Nachdruckeinklagen – und zwar jede Woche, täglich. Sonst stehenwir auf einer schiefen Bahn zum Abgrund; das muß unsklar sein.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in der Debatte am 16.Oktober gesagt:Die Umsetzung des von Holbrooke erreichten Ver-handlungsergebnisses wird uns vor weitere schwie-rige Aufgaben und Entscheidungen stellen.Sehr wahr! Sie wollen „Frieden und Stabilität in diesemTeil Europas“ schaffen. Meine Fraktion wird Ihnen si-cherlich in dieser Frage jede Unterstützung zukommenlassen. Auch ich werde meine Funktion als internatio-naler Streitschlichter weiter intensivst ausüben und wer-de Ihnen natürlich in gleicher Weise wie der vorherigenRegierung zur Verfügung stehen. Sie haben das Glück,das Amt des Bundeskanzlers zu einem Zeitpunkt über-nommen zu haben, in dem es einen großen Konsens indiesem Hause gibt. Nutzen Sie ihn schnell! Es könnteauch wieder anders werden.Ich danke Ihnen.
Herr KollegeSchwarz-Schilling, ich möchte Ihnen im Namen desHauses zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren.Ich habe das gerade erfahren. Ich wünsche Ihnen allesGute.
Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zuden Abstimmungen. Der Kollege Volker Kröning hateine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung ab-gegeben, die ich mit Ihrer Zustimmung zu Protokoll ge-be.*)Wir kommen zur Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusseszu dem Antrag der Bundesregierung zur deutschen Be-teiligung an möglichen NATO-Operationen zum Schutzund Herausziehen von OSZE-Beobachtern aus dem Ko-sovo in Notfallsituationen, Drucksachen 14/47 und14/51. Der Ausschuß empfiehlt, dem Antrag zuzustim-men.Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentlicheAbstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen undSchriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.Sind alle Urnen besetzt? – Ich eröffne damit die Ab-stimmung. – Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend,das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Damit schließeich die Abstimmung.Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu be-ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen spä-ter bekanntgegeben.**)–––––––––––– *) Anlage 2**) Seite 433Dr. Christian Schwarz-Schilling
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Wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe jetzt Tages-ordnungspunkt 3 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: 3. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSchuldenerlaß und Aufbaumaßnahmen inMittelamerika nach der Wirbelsturmkata-strophe– Drucksache 14/54 – ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. NorbertBlüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUNach der Wirbelsturmkatastrophe in Mit-telamerika: Hilfsmaßnahmen koordinieren,Schuldendienst aussetzen, Schulden erlassenund Wiederaufbau unterstützen– Drucksache 14/56 – ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Win-fried Wolf, Carsten Hübner, Heidi Lippmann-Kasten, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder PDSSoforthilfe, Wiederaufbaumaßnahmen undEntschuldung für Mittelamerika– Drucksache 14/57 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstdie Ministerin Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können nicht an-fangen, wenn nicht Ruhe einkehrt. Ich bitte darum, dieDebatten nach draußen zu verlegen. – Das gilt auch fürden Mittelgang. Ich bitte Sie, sich auf die Plätze zu set-zen, damit wir anfangen können.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Be-ginn dieser Debatte möchte ich noch einmal zum Aus-druck bringen, daß uns die Menschen in Honduras undin Nicaragua auf unserer Reise in der letzten Wocheimmer wieder ihre Dankbarkeit gezeigt haben. Die häu-figsten Sätze, die man hörte, wenn man mit den Men-schen in Honduras sprach, waren zum Beispiel: IhrDeutschen wißt doch, wie schlimm es ist, in einem zer-störten Land zu leben. Ihr wißt auch, wie wichtig es ist,daß man Hilfe von Freunden erhält.Ich sehe Bilder von Schulen vor mir, in denen Hun-derte von Kindern, die ohne Obdach sind, in engstenKlassenzimmern zusammengedrängt sind und dort auchnoch längere Zeit leben müssen. Ich sehe auch das Bildeines Mannes vor mir, der mit den Füßen und Beinen imSchlamm stehend dabei ist, mit seinen Händen seineWerkstatt wiederaufzubauen. Solche Bilder bleiben mirimmer vor Augen.Ich möchte an dieser Stelle sagen: Wir stehen zu unse-rer Verpflichtung. Wir danken allen deutschen Entwick-lungshelfern und Entwicklungshelferinnen sowie allenVertretern der Nicht-Regierungsorganisationen vor Ort.
Sie haben dazu beigetragen, daß die deutsche Soforthilfeschnell und unbürokratisch geleistet werden konnte, daßdas Leid der Menschen gemildert worden ist und daßweniger Opfer und Tote zu beklagen waren.Wir danken aber auch allen Menschen in Deutsch-land, die mit ganz großem Engagement gespendet habenund nach wie vor spenden. Diese Hilfsbereitschaft zeigt,daß unser Land engagiert ist, zum Wiederaufbau derLänder in Mittelamerika beizutragen. Ein herzlichesDankeschön auch an sie.
Es ist vielleicht noch zwei, drei Wochen Soforthilfezu leisten. Gleichzeitig geht es aber auch schon um denWiederaufbau. Wir haben in unseren Gesprächen dieBereitschaft der Bundesregierung erklärt, kurzfristig,aber auch über einen längeren Zeitraum aktiv beimWiederaufbau zu helfen. Vor allem geht es auch darum,Fehlinvestitionen zu verhindern. Schon in dieser Wochewerden den Menschen in einer Region Nicaraguas, imBosawas-Bereich, von der GTZ beschaffte Saatgutmittelzur Verfügung gestellt, damit sie ihre Grundnahrungschnell wieder selber produzieren können und nur ganzkurze Zeit auf Nahrungmittelhilfe angewiesen sind.Es gilt noch einmal deutlich zu machen: In Nicaraguagibt es eine außerordentlich hilfreiche Arbeit der Städte-partnerschaften aus Deutschland. Wir haben diese Arbeitauch vor Ort außerordentlich schätzengelernt; wir habensie gelobt. Wir haben die nicaraguanische Regierungunter Präsident Alemán aufgefordert, die Behinderungder Arbeit dieser Städtepartnerschaften zu unterlassenund sich mit allen Hilfsorganisationen an einen Tischzu setzen, damit die Hilfe aus dem Ausland den Men-schen in Nicaragua auch wirklich zugute kommt. Dieleidende Bevölkerung braucht diese Hilfe, und zwarschnell und unbürokratisch. Dabei muß es völlig gleich-gültig sein, welche Farbe, auch politische Farbe dieseHilfe hat.
Wir müssen daran arbeiten, daß beim Wiederaufbauendlich auch die Interessen der armen Bevölkerung, diebesonders gelitten hat, und der Schutz der Natur berück-sichtigt werden. Es ist ganz klar, daß die Vernachlässi-gung dieser beiden Aspekte eine wichtige Ursache fürdas Ausmaß der Katastrophe war. Diese Fehler dürfensich nicht wiederholen; sie müssen beim Wiederaufbauvermieden werden.
Was den deutschen Beitrag anbelangt: Wir habenaus den unterschiedlichsten Finanzquellen rund40 Millionen DM für die Region zur Verfügung gestellt.Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Sie werden eingesetzt zum Beispiel zum Wiederaufbauvon kleinen und mittleren Unternehmen, von Wohnun-gen, von Energieversorgung, von Straßen, von Wasser-versorgung, von nachhaltiger Forstwirtschaft. Wir wer-den immer Wert darauf legen – zum Beispiel auch beiden Regierungsverhandlungen mit Honduras, die An-fang Dezember in Bonn stattfinden werden –, daß diePartnerländer selbst Anstrengungen unternehmen, indiese Richtung zu arbeiten. Ich möchte ausdrücklich sa-gen, daß wir den Nichtregierungsorganisationen ausAnlaß dieses Besuches und dieser Regierungsverhand-lungen Zuschüsse für ihre Arbeit vor Ort anbieten. So-weit das 1998 nicht möglich ist, wollen wir das 1999 mitPräferenz tun.
Die Umwidmung von Mitteln reißt natürlich ein Lochin die betroffenen Kassen. Deshalb sage ich mit Blickauf den Bundesfinanzminister, der jetzt nicht anwesendist: Wir haben beim Bundesfinanzminister beantragt,30 Millionen DM aus den 1998 für andere Bereiche zu-gesagten Finanzmitteln, die nicht gebraucht werden, fürden finanziellen Wiederaufbau, für die Finanzielle Zu-sammenarbeit, für Wiederaufbauvorhaben in Zen-tralamerika freizugeben. Meine Bitte ist, daß diesemAntrag entsprochen wird.
Nachdem sich Ende November ein EU-Entwick-lungsministertreffen mit diesen Fragen beschäftigt habenwird, wird am 10. und 11. Dezember 1998 eine Sitzungder Interamerikanischen Entwicklungsbank, zu derbereits einberufen worden ist, stattfinden. Wir habengegenüber deren Präsidenten Iglesias, der gestern zuGesprächen in der Bundesrepublik war, klargemacht,daß Wiederaufbauprogramme für diese Region notwen-diger als für viele andere Regionen, die manchmal bezu-schußt werden, sind und daß sie eine nachhaltige sozialeund ökologische Entwicklung zur Konsequenz habenmüssen. Das sind wir den Menschen dort, aber auch denMenschen bei uns schuldig. Schließlich geht es hier umSteuermittel, die so effektiv wie möglich und im In-teresse der großen Mehrheit der Bevölkerung in diesenLändern eingesetzt werden müssen.
– Soweit ich es sehen konnte, hat er scharf nachgedacht.Vielleicht muß man dem Nachdenken noch etwas nach-helfen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schuldener-laß, der in der Diskussion eine große Rolle spielt,möchte ich noch einmal die Position der Bundesregie-rung darstellen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat inseiner Regierungserklärung von letzter Woche unserenWillen zum Ausdruck gebracht, einen internationalenSchuldenerlaß für die Länder der Region, vor allem fürHonduras und Nicaragua, zu verwirklichen.Nicaragua und Honduras sind bereits, ohne daß esschon entschieden wäre, Kandidaten für die Initiativevon Weltbank und IWF zugunsten der ärmsten und amhöchsten verschuldeten Länder. Ich möchte an dieserStelle meine persönliche Auffassung zum Ausdruckbringen, daß wir beiden Staaten eine schnelle Teilnahmean dieser Initiative von Weltbank und IWF ermöglichensollten, weil sie dadurch am schnellsten einen wirkli-chen Schuldenerlaß erhalten. Deshalb bitte ich um IhreUnterstützung gerade auch für eine solche Initiative.
Des weiteren geht es darum, den bilateralen Schul-dendienst – bis hin zum Schuldenerlaß – auszusetzen.
Die Bundesregierung tritt für ein Moratorium bei denlaufenden Schuldendienstverpflichtungen ein undmöchte möglichst viele Teilnehmer, die im Pariser Clubals bilaterale Gläubiger vertreten sind, für eine solcheInitiative gewinnen. Ich bitte auch hier um die Unter-stützung des ganzen Hauses.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung stimmt dem Antrag von SPD und Grünen sowiedessen Ausführungen zur Verschuldung zu. Das habeich hier deutlich gemacht.Zum Schluß möchte ich aber noch eine eindringlicheBitte an alle Fraktionen in diesem Hause richten. Ange-sichts des Themas, um das es heute geht, ist es schade,daß sich eine Fraktion von dem interfraktionellen Antragmit der Begründung zurückgezogen hat, daß ihn auchdie PDS unterschrieben habe. Das finde ich deshalbschade und schlecht, weil es hier um die Hilfe fürMenschen geht. Dabei zählt nur, daß Leid gelindert undgeholfen wird; aber es zählt nicht, nach Farbe zu sortie-ren.
Wir dürfen doch niemanden zurückstoßen, der sichan dieser Hilfe beteiligen will. Deshalb appelliere ichan Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Oppositi-onsparteien: Tragen Sie bei der Schlußabstimmungüber den Antrag der Koalitionsfraktionen dazu bei,daß es ein breites, vielleicht sogar einstimmiges Votumgibt, das nachdrücklicher ist und in Mittelamerikavon der leidenden Bevölkerung auch gehört wird. Ichappelliere an Sie, diesem Antrag zuzustimmen unddamit ein Signal der Solidarität und Unterstützung zusetzen.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Bevor wir inder Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen das von denSchriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergeb-nis der namentlichen Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu demAntrag der Bundesregierung zur deutschen Beteiligungan möglichen NATO-Operationen zum Schutz und Her-ausziehen von OSZE-Beobachtern aus dem Kosovo in Notfallsituationen bekannt: Abgegebene Stimmen 598.Mit Ja haben gestimmt 555, mit Nein haben gestimmt36. Es gab 7 Enthaltungen. Die Beschlußempfehlungund damit der Antrag der Bundesregierung sind ange-nommen worden.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 595ja: 553nein: 35enthalten: 7JaSPDBrigitte AdlerGerd AndresRainer ArnoldErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagPeter Friedrich
Lilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnAchim GroßmannWolfgang GrotthausHans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachKlaus HasenfratzNina HauerReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Gerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherWaltraud LehnRobert LeidingerDr. Elke LeonhardEckhart LeweringChrista LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieIngrid Matthäus-MaierHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Gerhard Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausEckhard OhlLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerGeorg PfannensteinDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserGerhard SchröderGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
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Ilse SchumannEwald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitGünter VerheugenSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerHans-Joachim WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Engelbert Clemens WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingDr. Joseph-Theodor BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Norbert BlümFriedrich BohlSylvia BonitzWolfgang BosbachKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberHartmut Büttner
Cajus CaesarPeter H. Carstensen
Hubert DeittertRenate DiemersWilhelm DietzelThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttRainer EppelmannAnke EymerIlse FalkDr. Hans Georg FaustIngrid FischbachDirk Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbMichaela GeigerGeorg GirischPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundGottfried Haschke
Gerda HasselfeldtNorbert Hauser
Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesHubert HüppePeter JacobySusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkBartholomäus KalbSteffen KampeterDr. Dietmar KansyManfred KantherIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus Lippold
Dr. Manfred LischewskiJulius LouvenDr. Michael LutherErich Maaß
Erwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaMarlies PretzlaffDieter PützhofenThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberChrista Reichard
Erika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerDr. Klaus RoseKurt RossmanithNorbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheDr. Jürgen RüttgersAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenGerhard ScheuNorbert SchindlerDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Hans Peter Schmitz
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffClemens SchwalbeWilhelm - Josef SebastianHeinz SeiffertRudolf SeitersWerner SiemannJohannes SinghammerBärbel SothmannMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerErika SteinbachDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerThomas StroblMichael StübgenDr. Rita SüssmuthDr. Hans-Peter UhlGunnar UldallArnold VaatzAngelika VolquartzAndrea VoßhoffPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 435
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Werner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannBenno ZiererWolfgang ZöllerBÜNDNIS 90 /DIE GRÜNENMarieluise Beck
Angelika BeerMatthias BerningerEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtDr. Angelika Köster-LoßackDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SterzingJürgen TrittinDr. Antje VollmerSylvia Ingeborg VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
F.D.P.Hildebrecht Braun
Rainer BrüderleErnst BurgbacherUlrike FlachPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Dr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich Leonhard KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDirk NiebelGünter Friedrich NoltingDetlef ParrCornelia PieperDr. Günter RexrodtGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleNeinSPDUwe HikschBÜNDNIS 90 /DIE GRÜNENMonika KnochePDSMonika BaltPetra BlässMaritta BöttcherEva Bulling-SchröterRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsFred GebhardtWolfgang Gehrcke-ReymannDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiDr. Barbara HöllCarsten HübnerUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi Lippmann-KastenUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthAngela MarquardtManfred Müller
Kersten NaumannRosel NeuhäuserPetra PauDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertEnthaltenSPDRenè RöspelCDU/CSUManfred Carstens
Willy Wimmer
BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNENAnnelie BuntenbachIrmingard Schewe-GerigkChristian SimmertHans-Christian StröbeleEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rah-men ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versamm-lungen des Europarates und der WEU, der NAV, der OSZEund der IPUAbgeordnete(r)Behrendt, Wolfgang, SPD Irmer, Ulrich, F.D.P.Bühler , Klaus, Siebert, Bernd, CDU/CSUCDU/CSUWir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat jetzt derAbgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! WerteKolleginnen und Kollegen! Mit dem Hurrikan „Mitch“ist eine der schwersten Katastrophen der letzten Jahr-zehnte über die Menschheit hereingebrochen. Daß dieMeteorologen Wirbelstürmen auch noch menschlicheNamen geben, ist wohl ein hilfloser Versuch, dasSchreckliche gedanklich und emotional zu erfassen. Ei-ne besondere Tragik ist natürlich, daß diese KatastropheLänder getroffen hat, die heute schon zu den ärmsten aufder Erde gehören und die in ihrer Entwicklung wahr-scheinlich – das Ausmaß kann man ja noch nicht völligüberblicken – um Jahrzehnte zurückgeworfen sind. Dasheißt, sie brauchen unsere Solidarität.Ich möchte mich dem anschließen, was die Frau Mi-nisterin vorgetragen hat: Ein Dank an diejenigen, dieauch aus Deutschland unmittelbar geholfen haben! Ichglaube, wir können auf unsere Entwicklungshilfeorgani-sationen – ob sie nun staatlicher oder kirchlicher Natursind, ob es politische Stiftungen oder private Nicht-Regierungsorganisationen sind – ein bißchen stolz sein.Es wird eine tolle Arbeit geleistet.
Man kann wohl hinzufügen – jemand, der den Wahl-kreis vertritt, in dem das schreckliche Unglück vonEschede passiert ist, darf das sagen –: Die oft beschrie-bene und beschworene Kälte in unserer Bevölkerung istin Notfällen eben doch nicht vorhanden. Vielmehr sindunsere Bürger in solchen Notsituationen zu einer über-durchschnittlichen – auch finanziellen – Hilfe bereit.Auch dafür sollten wir an dieser Stelle ein Dankeschönsagen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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436 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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Die internationale Gemeinschaft hat unmittelbar zuhelfen begonnen. Der französische Präsident JacquesChirac hat den Ländern Mittelamerikas einen Schulden-erlaß zugesagt. Insgesamt sollen den Ländern Guate-mala, Nicaragua, Honduras und El Salvador Schulden inHöhe von 255 Millionen DM erlassen werden. Darüberhinaus forderte er die anderen Länder auf, dem BeispielFrankreichs zu folgen. Die Vereinigten Staaten habenfür Hilfsmaßnahmen im Katastrophengebiet eine ersteTranche in Höhe von 210 Millionen DM zugesagt. DerDirektor des IWF, Camdessus, hat Nicaragua und Hon-duras in der letzten Woche bereits einen 80prozentigenSchuldenerlaß zugesagt. Er wies ausdrücklich daraufhin, daß sich diese Hilfe nicht auf Soforthilfe beschrän-ken soll, sondern von Nachhaltigkeit geprägt ist.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz,Karl Lehmann, hat das Instrument des Schuldenerlassesfür die betroffenen Länder als Tat echter Nächstenliebebegrüßt. Wir freuen uns darüber und unterstützen, daßdie Bundesregierung ausdrücklich erwähnt hat, diesemBeispiel folgen zu wollen. Wir fordern die Bundesregie-rung daher auf, den Schuldendienst unverzüglich auszu-setzen und sich international für einen Erlaß der Schul-den auf allen Ebenen einzusetzen.
Mit einem Schuldenerlaß alleine ist es aber nicht ge-tan. Darüber hinaus ist die internationale Koordinierungaller Maßnahmen, die zum Wiederaufbau der betroffe-nen Länder beitragen können, notwendig. Die französi-sche Regierung hat daher eine Initiative zu einer inter-nationalen Mittelamerika-Aufbaukonferenz gestartet, dieam 10. und 11. Dezember 1998 in Washington stattfin-den soll. Wir erwarten von dieser Konferenz entschei-dende Impulse für den Wiederaufbau der betroffenenRegion.Das vorrangige Ziel der Wiederaufbaumaßnahmenmuß natürlich in der Wiederherstellung der agrarischenProduktion, also der Ernährungssicherung, und der Basis-infrastruktur liegen. In diese Maßnahmen sind die Akti-vitäten der Kirchen, der politischen Stiftungen, der Or-ganisationen der Wirtschaft und der anerkannten priva-ten Nicht-Regierungsorganisationen einzubeziehen.Bei der entwicklungsorientierten Nothilfe handelt essich um Maßnahmen, die erst einmal das reine Überle-ben sichern, aber auch um Maßnahmen, die auf Langfri-stigkeit angelegt sind. Ich wiederhole: Zu diesen Maß-nahmen gehört auch das Instrumentarium des Schulden-erlasses.Ich darf daran erinnern, daß die Vorgänger-Bundesregierung von CDU/CSU und F.D.P. bereits imAugust dieses Jahres ein umfangreiches Umschuldungs-abkommen mit Nicaragua unterzeichnet hat, welches aufHandelsforderungen einen Schuldenerlaß von 67 Pro-zent gewährt.Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen, daß dergrößte Teil der Schulden Nicaraguas auf die Mißwirt-schaft der sandinistischen Diktatur zurückzuführenist. Davon hat sich das Land bis heute nicht erholt.
Deshalb sage ich auch: Der Schuldenerlaß ist auchein Beitrag zur Demokratisierung der Region,
weil er den in demokratischen Wahlen legitimierten Re-gierungen das Leben erleichtert. Das ist ganz entschei-dend.
Herr Abgeord-
neter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne-
ten Wolf?
Ja, gerne.
Herr Abgeordneter
Hedrich, Sie sagen, Nicaragua sei eine Diktatur gewe-
sen. Ist Ihnen bekannt, daß dieses Land einem Bürger-
krieg ausgesetzt war, daß die Contras von den USA fi-
nanziert waren und daß der Gerichtshof in Den Haag die
USA unter anderem deshalb verurteilt hat, weil sie Mi-
nen gelegt haben, weil sie die Häfen Nicaraguas vermint
haben? Sagen Sie trotzdem, daß die Schulden dieses
Landes vor allem auf „Mißwirtschaft“ zurückzuführen
seien?
Ich kann nurbestätigen, was Sie in Ihrer Frage andeuten. Die sandini-stische Diktatur hat eine absolute Mißwirtschaft im Lan-de geführt,
die dazu beigetragen hat, die wirtschaftlichen Grundla-gen dieses Landes zu ruinieren. Das ist um so bedauerli-cher, als nach dem Sturz der Somoza-Diktatur, an demsich übrigens alle politischen Kräfte Nicaraguas außer-halb dieser Diktatur beteiligt haben, eine große, euphori-sche Aufbruchstimmung in diesem Land vorhanden war,die zur Demokratisierung und zur Freiheit der Menschenin Nicaragua hätte beitragen können. Schritt für Schritt –das wissen Sie doch – haben sich Demokraten aus dersandinistischen Regierung zurückgezogen, weil sie er-kannt haben, daß dort ein ganz anderer Kurs verfolgtwird.
Klaus-Jürgen Hedrich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 437
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Das hat das Land dann ruiniert. Unter den Folgen leidetNicaragua bis heute. Das sind die Fakten.
Die Ministerin hat noch einen anderen Punkt der Hil-fe angesprochen, – möglicherweise treffe ich damit wie-der mehr Ihre Stimmungslage, vielleicht auch nicht –:Wir haben mit Skepsis zur Kenntnis genommen, daß dieRegierung Alemán – übrigens eine demokratisch ge-wählte Regierung –
ein Hilfsprogramm auf den Weg gebracht hat und dabeiim Begriff ist, die Spenden, die von der internationalenGemeinschaft gekommen sind, sehr einseitig an die Be-völkerung zu verteilen. Das findet – ich sage das mitgroßem Nachdruck – unsere Mißbilligung.
Deshalb möchte ich die Bundesregierung bitten, beiallen Hilfsmaßnahmen darauf zu achten, daß die Hilfewirklich bei den Betroffenen ankommt. Ich darf Sie zi-tieren, Frau Ministerin: Nicht die Farbe und schon garnicht die politische Farbe ist entscheidend. Hilfe darfnicht nur jenen gegeben werden, die einem politisch na-hestehen. Nein, hier geht es darum, der Bevölkerung imganzen Lande zu helfen.
Eine letzte Bemerkung: Die Ministerin hat an dasHaus appelliert, dem Antrag von SPD und Grünen zuzu-stimmen. Der Grundtendenz dieses Antrages stimmenwir in der Tat zu. Wenn Sie unseren Antrag nachlesen,dann werden Sie feststellen, daß er einige ergänzendePunkte enthält; aber in der Tendenz unterscheiden sichunsere Anträge nicht.
– Immer mit der Ruhe. – Das Interessante ist nur: Sieappellieren an uns, es sollte hier einen interfraktionellenAntrag geben, und gleichzeitig beschweren Sie sich dar-über, daß wir keinen Antrag unterstützen wollen, in des-sen Kopf auch „PDS“ steht. Ich nehme mit Interesse zurKenntnis, daß Sie bei Ihrer alten Marschrichtung nichtgeblieben sind; vielmehr legen Sie jetzt einen eigenenKoalitionsantrag vor. Wenn Sie einen solchen Antragvorgelegt hätten und uns gebeten hätten, ihn mitzutra-gen, dann bin ich ziemlich sicher – das gilt auch für dieKollegen von der F.D.P. –, daß wir das getan hätten.
– Bitte keine Aufregung! – Das sind die Fakten.
Ich kann uns nur ermutigen, uns bei den gegenseiti-gen Anträgen zu unterstützen. Ich biete folgendes Ver-fahren an: Wir werden uns bei Ihrem Antrag enthalten;Sie enthalten sich bei unserem Antrag. Wenn das ge-schieht, dann kommen beide Anträge durch, und dieBundesregierung hat eine solide Grundlage für die wei-tere Arbeit in der Region. Es geht in der Tat nicht dar-um, sich möglicherweise gegenseitig mit parlamentari-schen Vorwürfen zu überziehen; vielmehr geht es dar-um, in diesem Parlament deutlich zu machen: Den Men-schen in der betreffenden Region in Mittelamerika ge-hört unsere Solidarität. In dieser Frage sollten wir unsnicht durch Streit in diesem Hause auseinandertreibenlassen.Herzlichen Dank.
Herr Abgeord-
neter, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Ströbele?
Ja, gerne.
Das weiß ich
noch nicht.
Antrag die Forderung nach Schuldenerlaß fehlt? Geben
Sie mir recht,
daß in Ihrem Antrag insbesondere das fehlt, was im An-
trag von Bündnis 90/Die Grünen und SPD enthalten ist,
nämlich daß die Bundesregierung den einseitigen Schul-
denerlaß der Bundesrepublik Deutschland nicht nur prü-
fen, sondern dieses Ziel auch erreichen soll?
Da ich denAntrag selbst mitformuliert habe, würde es mich sehrwundern, wenn das fehlt. Wenn Sie den Antrag nachle-sen, dann sehen Sie, daß wir uns ausdrücklich dafür aus-sprechen, daß die Bundesregierung unverzüglich denSchuldendienst aussetzen soll
– das ist Ziffer 3 – und daß sie sich in den internationa-len Gremien um einen allgemeinen Schuldenerlaß fürdie Region bemühen soll.
Ich wiederhole ausdrücklich: Wir erwarten von derBundesregierung, daß sie den betroffenen Ländern derKlaus-Jürgen Hedrich
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Region die Schulden erläßt. Dazu gehört auch, dies inden entsprechenden internationalen Gremien – wie esüblich ist – in einem normalen Verfahren abzustimmen.Genau dasselbe fordern Sie; wir liegen da nicht ausein-ander.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Dr. Angelika Köster-Loßack.
Kollegen! Wir sind erschüttert über die Folgen derfurchtbaren Naturkatastrophe in Mittelamerika: Es gabZehntausende Tote, und ein Fünftel der Bevölkerung inHonduras ist obdachlos geworden. Wir sind uns einig,daß alles getan werden muß, um den betroffenen Län-dern beim Wiederaufbau zu helfen. Vor allem Hondurasund Nicaragua – das ist gesagt worden –, die zu denärmsten Ländern der Welt gehören, sind in ihrer Ent-wicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen worden.Es gibt große Hilfsbereitschaft in der deutschen Be-völkerung, und die bereits bestehenden Partnerschaftenvon Kirchengemeinden, Städten und Nicht-Regierungsorganisationen, aber auch insbesondere dieStädtepartnerschaften sind eine tragfähige Basis für dieengen und fundierten Beziehungen, die jetzt für eineschnelle und effektive Hilfe genutzt werden. Ich möchteallen Menschen in diesem Bereich dafür danken, daß siesich sofort auf den Weg gemacht haben und geholfenhaben.
Für die Überlebenden der Katastrophe ist eine ganzschnelle Hilfe nötig. Krankheiten und Seuchen habensich ausgebreitet, viele Kinder haben ihre Eltern verlo-ren, sie sind traumatisiert, und für die Gesamtbevölke-rung ist die Ernte vernichtet. Was das für die nähere Zu-kunft bedeutet, ist noch nicht absehbar.Wir begrüßen es deswegen ausdrücklich, daß dieBundesregierung schnell und unbürokratisch ein Sofort-programm an Hilfen für die Länder Mittelamerikas be-schlossen hat. Die Nicht-Regierungsorganisationen lei-sten dabei einen unverzichtbaren Beitrag.
Es muß durch Vereinbarungen mit den Regierungen si-chergestellt werden – das gilt vor allem für Nicaragua –,daß die Arbeit der NROs nicht behindert wird. Ich dankeauch der Frau Ministerin, daß sie dazu klare Worte ge-sagt hat.
Als Soforthilfe muß auch der Schuldendienst für dieLänder der Region, insbesondere für Honduras und Ni-caragua, ausgesetzt werden, wobei uns allen klar ist, daßdiese Länder sowieso absolut zahlungsunfähig sind unddas eine Bedienung der Schuldenlast nicht möglich ist.
Schon vor den Verwüstungen war die Situation Nicara-guas katastrophal. Über die Hälfte der Einwohner sindarm und haben auch keinen Zugang zu sauberem Was-ser.Vor diesem Hintergrund wollen wir, daß die bilate-ralen und internationalen Schulden beider Länder erlas-sen werden. Der Schuldenerlaß ist nicht alles, aber ohneeinen Schuldenerlaß ist keine Lösung der gegenwärtigenund auch der mittelfristigen Probleme möglich.
Dabei kommt den bilateralen Schulden Nicaraguas undder Verschuldung gegenüber Deutschland eine Schlüs-selrolle zu.
Vor allem auch für die DDR-Altschulden Nicaraguas –weit über 300 Millionen DM – muß eine Lösung gefun-den werden.
Honduras hingegen hat 60 Prozent seiner Schuldenbei multilateralen Gläubigern. Bilaterale und multilate-rale Lösungen müssen aber Hand in Hand gehen, und injedem Land ist eine spezifische Vorgehensweise erfor-derlich.Durch die aktuell nachvollziehbare Konzentration aufdie Katastrophenländer Mittelamerikas darf es nicht zueiner Vernachlässigung der anderen hochverschuldetenarmen Länder kommen. Deren Problem besteht in derpermanenten Unterfinanzierung entscheidender gesell-schaftlicher Bereiche wie Gesundheitsversorgung undArmutsbekämpfung.Wir müssen deswegen unverzüglich an die Umset-zung eines gezielten Schuldenerlasses für alle hochver-schuldeten Länder gehen.
Dabei wird die Bundesregierung nicht ohne jeglicheKonditionen Schulden erlassen, wie es manchmal vonfalscher Kritik suggeriert wird. Es muß sichergestelltwerden, daß durch Entschuldung freiwerdende Mittelden Ärmsten in diesen Ländern auch zugute kommen.
Ein wirksamer Schuldenerlaß muß letztendlich inter-national abgestimmt sein. Wenn Deutschland mit gutemBeispiel vorangeht, besteht die große Chance, dies auchinternational durchzusetzen. Frankreich und Österreichhaben angekündigt, die Schulden von Honduras und Ni-caragua zu erlassen. Das konservativ regierte SpanienKlaus-Jürgen Hedrich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 439
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will einen Teil erlassen, und auch die USA und Groß-britannien wollen ihren Beitrag leisten.Wir erwarten von IWF und Weltbank ein klares, kon-kretes Zeichen für die Entschuldung der Länder Mittel-amerikas. Zwar ist die Bereitschaft dazu schon erklärtworden, aber eine Umsetzung ist notwendig. Die Grün-dung eines Hilfsfonds für den multilateralen Schulden-dienst der betroffenen Länder ist ein erster sinnvollerSchritt. Dabei müssen auch von beiden internationalenFinanzinstitutionen mehr Gelder für eine Gesamtent-schuldung bereitgestellt werden. In diesem Sinne hoffeich auch, daß unsere deutschen Exekutivdirektoren indiesen Institutionen initiativ werden.Über Soforthilfe und Entschuldungsprogramme hin-aus wird es auch darauf ankommen, daß internationallangfristig abgestimmte Konzepte entwickelt werden,die in den betroffenen Ländern eine ökonomisch undökologisch nachhaltige Entwicklung begründen. Einbesserer Schutz gegen die Folgen von Naturkatastrophenkann nämlich nur durch eine Umsteuerung in den so-zialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gelei-stet werden.Die hohen Schuldendienste haben in den betroffenenLändern zur Fortführung einer einseitigen Export-orientierung beigetragen, insbesondere bei Agrar-produkten. Die für den einheimischen Markt pro-duzierende Landwirtschaft wurde vernachlässigt. Land-reformen stehen weiterhin aus. Gerade hier aber liegt derSchlüssel zur Hilfe für die ärmsten Bevöl-kerungsgruppen. Die bisherige ungleiche Verteilung vonLand hat dazu geführt, daß viele Menschen in den amstärksten betroffenen Ländern in ihrer Not dort siedelnmußten, wo sie auch gegen die Wassermassen keinenSchutz finden konnten.Auf Grund der landwirtschaftlichen Monokulturen istdie Bodenerosion eine große Gefahr. Jedes Jahr werdenin Mittelamerika bis zu 400 000 Hektar Wald vernichtet.Gerade diese Abholzung und die Bodenerosion warenaber entscheidende Faktoren bei den extremen Folgender Überschwemmungen und der Erdrutsche.Zukünftig müssen die mittelamerikanischen Länderdie sozialen und ökologischen Probleme ins Zentrum ih-rer Politik stellen. Die krasse soziale Ungerechtigkeit,eine mangelnde Grundversorgung in bezug auf Gesund-heit und soziale Dienste schaffen für die ärmsten Men-schen bisher einen Teufelskreis, aus dem sie sich aus ei-gener Kraft nicht befreien können. Wir können diesenTeufelskreis jetzt durchbrechen helfen, wenn die Aus-landsschulden zum Beispiel in Fonds umgewidmet wer-den, mit denen eine soziale und ökologische Entwick-lung angeschoben werden kann. Damit wir diese Zieleinsbesondere einer Armuts-bekäpfung und nachhaltigenEntwicklung befördern können, müssen alle westlichenIndustrieländer ihren Beitrag leisten. Die rot-grüne Ko-alition hat sich auf eine globale Strukturpolitik ver-pflichtet, die die wirtschaftlichen, sozialen und ökologi-schen Verhältnisse in den Entwicklungsländern verbes-sern hilft.Unverzichtbar ist auch eine andere Klimapolitik.Es ist unbestritten, daß die zunehmenden Natur-katastrophen der letzten Jahre im engen Zusam-menhang mit Klimaveränderungen stehen. Deshalbmüssen in erster Linie wir, die westlichen Indu-strienationen, die größten Klimaverschmutzer, unsereEnergie- und Verkehrspolitiken ändern.
Nur dadurch sind die Klimaschutzziele erreichbar. Nurdurch gemeinsame Anstrengungen in Nord und Südkönnen wir verhindern, daß in immer kürzer werden-den Abständen solche vermeintlich nur natur-gegebenen Katastrophen diese schrecklichen Folgenhaben.Zum Schluß möchte ich sagen, daß ich es sehr bedau-ere, daß es nicht zu einem gemeinsamen Antrag allerFraktionen gereicht hat. Wir lehnen in der jetzigen Si-tuation die von den Oppositionsfraktionen einge-brachten Anträge ab, denken aber, daß es notwendig ist,gerade auch im Hinblick auf die betroffenen Menschen,daß wir einstimmig unsere Zustimmung zu dem Antragder Koalition geben. Ich glaube, angesichts des mensch-lichen Elends in dieser Weltregion müssen parteipoliti-sche Gesichtspunkte wirklich ganz in den Hintergrundtreten.
Ich bitte Sie darum!
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DerWirbelsturm „Mitch“ hat verheerende Zerstörungen bis-her unbekannten Ausmaßes angerichtet, und die kata-strophalen Regenfälle und Überschwemmungen habenvor allem in Honduras und Nicaragua viele Tausendevon Menschenleben gekostet. Hunderttausende Sturm-opfer haben ihr Obdach verloren und benötigen dringendüberlebensnotwendige Hilfsgüter. Die Seuchen sind be-reits ausgebrochen. Auch in Guatemala, Belize, El Sal-vador und Costa Rica sind Sturmschäden und unzähligeOpfer zu vermelden. Die Infrastruktur hat in den betrof-fenen Ländern schwerste Schäden erlitten.Unsere Partner und Freunde in Zentralamerika sinddringend auf unsere Unterstützung zur Linderung derschlimmsten Not und zur Beseitigung der Sturm-schäden und auf den Wiederaufbau angewiesen. DieF.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt es daher, daß dieBundesregierung, die Europäische Union, aber auchviele andere Länder und Organisationen sowie vieledeutsche und internationale Nichtregierungsorgani-sationen umgehend umfassende humanitäre Hilfe zurVerfügung gestellt haben.
Dr. Angelika Köster-Loßack
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440 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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Der Dank dafür wurde ja von meinen Vorrednern bereitsausgesprochen. Wir möchten uns diesem Dank anschlie-ßen.Wir begrüßen es, daß die deutschen Hilfsleistungen,auch dank der deutschen Experten vor Ort und der Pro-jekte vor Ort – die übrigens von dieser Katastrophe auchbetroffen wurden –, schnell anliefen. Es wäre aber ausunserer Sicht nützlich gewesen, wenn man bei der Ab-wicklung zum Beispiel auch auf die Lufttransport-kapazitäten der Bundeswehr zurückgegriffen hatte. DieTransportlogistik der Bundeswehr hat sich in der Ver-gangenheit in Katastrophensituationen hervorragendbewährt. Die Übernahme derartiger Aufgaben im Rah-men der deutschen humanitären Nothilfe befindet sichnach unserer Auffassung auch im Einklang mit demAuftrag der Bundeswehr, gemeinsam mit unseren Part-nern einen konstruktiven Beitrag zur Behebung derarti-ger Notfälle zu leisten.
Mein Kollege Werner Hoyer hat bereits am 4. No-vember mit Schreiben an Bundesaußenminister Fischerund Innenminister Schily die Entsendung von Einheitendes Technischen Hilfswerks und Unterstützung durchLufttransportkapazitäten der Bundeswehr angemahnt.Aber außer der Antwort, ein Hilfsteam erkunde derzeitvor Ort, welcher Hilfsbedarf bestehe, ist noch keine In-itiative erkennbar. Es ist bedauerlich, daß unser Vor-schlag in dieser Richtung keine Zustimmung gefundenhat.Wir begrüßen dennoch, daß die Hilfsmaßnahmennunmehr schrittweise umgesetzt werden und besondersin den Bereichen der Nahrungsmittelversorgung und derSeuchenvorbeugung bereits Wirkung zeigen.Wir fordern die Bundesregierung auf, die betroffenenStaaten durch weitere Mittel und Aufbaumaßnahmen zuunterstützen. Ich hoffe, daß auch die von Ihnen, FrauMinisterin Wieczorek-Zeul, gestern im Ausschuß aufge-zeigten Maßnahmen schnell und unbürokratisch umge-setzt werden.Die Zusagen für konkrete Maßnahmen wie Straßen-und Wasserleitungsbau sowie Pionierbrücken sind ausunserer Sicht unproblematisch. Sie müssen aber an derSelbsthilfe der betroffenen Menschen und Gemeindenansetzen.
Die Unterstützung von kleinen und mittleren Unter-nehmen sowie der Forstwirtschaft sollte über die mo-mentane Hilfe hinausgehen und dann in mittelfristigeProgramme eingebunden werden.
Dabei sollte – so sieht es eigentlich auch der Antragvor – auf eine enge Koordinierung mit den Maßnahmender Europäischen Union und der Vereinten Nationen ge-achtet werden.Mit den für den Wiederaufbau der Region vorgesehe-nen Mitteln und Projekten soll ein Beitrag sowohl zurSchaffung von Frühwarnsystemen als auch zur Verbes-serung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen und zur Stärkung der Eigeninitiative derPartnerländer geleistet werden. Diese Entwicklungsori-entierung ist für unsere Hilfe ganz entscheidend.Die Menschen Mittelamerikas sind durch die Natur-katastrophe in den Entwicklungsbemühungen um Jahr-zehnte zurückgeworfen worden. Ein Wiederaufbau derRegion darf nicht durch Altlasten zusätzlich erschwertwerden. Ein umfassender Schuldenerlaß für die meistenbetroffenen Länder ist daher dringend erforderlich. Wirfordern deshalb vor allem, daß Nicaragua und Hondurasdie Schulden, die aus der Entwicklungszusammenarbeitentstanden sind, umgehend erlassen werden.Darüber hinaus ist es erforderlich, daß sich die Bun-desregierung – das haben Sie, Frau Ministerin, eben be-stätigt – in allen internationalen Gremien – auch im Pa-riser Club – für einen möglichst umfassenden Schulden-erlaß auf multilateraler Ebene einsetzt.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat aktiv an der For-mulierung eines interfraktionellen Antrags zur Wirbel-sturmkatastrophe in Mittelamerika mitgewirkt. Dabeiwurden die von mir genannten Aspekte im wesentlicheneingearbeitet. Angesichts der dramatischen Situation inMittelamerika hätten wir es begrüßt, wenn der Bundes-tag in dieser Frage über Parteigrenzen hinweg einenKonsens gefunden hätte.
Dies wäre unserer Meinung nach auch ein richtiges Si-gnal der Solidarität an die mittelamerikanischen Partnerund Freunde gewesen.Um so bedauerlicher ist es nun, daß der inter-fraktionelle Ansatz, nachdem sich die Fraktionen ei-gentlich schon auf einen gemeinsamen Text geeinigthatten,
offensichtlich aus innerpolitischen Gründen von derCDU/CSU kurzfristig aufgegeben wurde.
Welche Ergebnisse so etwas nach sich zieht, kannman am besten am PDS-Antrag sehen, der jetzt unterdem Motto „Koste es, was es wolle; wir fordern mal 100Millionen DM“ völlig falsche Dimensionen und völligeUnberechenbarkeit auf den Weg bringen soll.
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion stehtzu ihrer einmal eingenommenen Haltung. Wir Libera-len stimmen dem von uns mit formulierten Antrag derKoalition zu.
Joachim Günther
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 441
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Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach einer Meldungder Nachrichtenagentur IPS vom 17. November, alsovon vorgestern, müssen allein die beiden am schwerstenvom Hurrikan „Mitch“ verwüsteten Länder Hondurasund Nicaragua täglich rund 2,2 Millionen US-Dollar, al-so mehr als 3,5 Millionen DM, zur Bedienung ihrerAuslandsschulden aufbringen – täglich, meine Damenund Herren, also auch heute und gestern, als wir nochüber den interfraktionellen Antrag verhandelt haben.Ich möchte das hier deshalb so deutlich unterstrei-chen, weil der Antrag der PDS-Fraktion inzwischen dereinzige ist, der von der Bundesregierung einen soforti-gen bilateralen Schuldenerlaß für die betroffenen Staa-ten verlangt und diese inzwischen von vielen Seiten er-hobene Forderung nicht verwässert oder die angeblicheNotwendigkeit einer Entscheidung des Pariser Clubsvorschiebt.
Länder wie Frankreich, Österreich oder selbst dashochverschuldete Kuba sind uns hierbei bereits weitvoraus. Wir sollten uns dieser auch aus der Sicht desIWF vorbildlichen Initiative schleunigst anschließen,
was natürlich die dringend notwendige Initiative ein-schließt, endlich zu multilateralen Vereinbarungen übereinen generellen Schuldenerlaß für die ärmsten und amwenigsten entwickelten Staaten zu kommen. Angesichtsder hier gemachten Äußerungen denke ich, daß wir unsdarin ziemlich einig sind.Darüber hinaus ist die PDS-Fraktion der Überzeu-gung, daß die von der Bundesregierung angekündigtenund zum Teil bereits ausgereichten Mittel in Höhe vonrund 40 Millionen DM mit Blick auf die verheerendeSituation gerade in Honduras und Nicaragua keineswegsausreichen, sondern daß eine deutliche und vor allemverbindliche Aufstockung der Mittel für Soforthilfe undWiederaufbau auf 100 Millionen DM erfolgen muß.Was die scheinheilige Frage von eben angeht, so mußich sagen: Natürlich sind die 50 Millionen DM eineVerhandlungsposition gewesen. Es ist doch selbstver-ständlich, daß man in solche interfraktionellen Ver-handlungen mit einer Summe geht, die zunächst kon-sensfähig zu sein scheint.Ein Betrag von 100 Millionen DM ist angesichts derGesamtschäden von mehreren Milliarden Dollar aus un-serer Sicht durchaus nicht überhöht, sondern trägt einerSituation Rechnung, in der neben der drohenden Gefahrvon Hunger auch die Gefahr von Epidemien besteht,ganz abgesehen von der massenhaften Obdachlosigkeit,der weitgehend zerstörten Infrastruktur und den vielen,zum Teil noch nicht geborgenen Toten. Auch diesbe-züglich könnten andere Länder durchaus ein Anspornfür uns sein; das ist bereits erwähnt worden.Selbst die dringend erforderliche Aussetzung desSchuldendienstes soll – so sieht es der Antrag der Regie-rungskoalition vor – allein für Nicaragua und Honduraserfolgen. Von den – wenn auch nicht in vergleichbarerWeise – betroffenen Staaten El Salvador und Guatemalaist hier nicht einmal mehr die Rede.Die PDS-Fraktion verkennt nicht, daß die neue Bun-desregierung bereits erste Schritte unternommen hat, umdie Situation in Mittelamerika lindern zu helfen. Wir be-grüßen das ganz ausdrücklich. Gleichzeitig müssen wiraber feststellen, daß diese Schritte längst nicht weit ge-nug gehen, daß sie außerordentlich zaghaft sind und daßdie vorhandenen Spielräume nicht ausgeschöpft werden.Meine Damen und Herren von der Regierungs-koalition, in Notsituationen wie dieser beweist sich, obein Kurswechsel, ob ein wirklich substantieller Poli-tikwechsel tatsächlich gewollt ist oder ob das in-zwischen omnipräsente Wort „Kontinuität“ auch in die-ser Frage zur treffenden Situationsbeschreibung taugt.Erlauben Sie mir, zum Abschluß noch meine Enttäu-schung darüber zum Ausdruck zu bringen, wie mit demvon meiner Fraktion am Dienstag letzter Woche ange-regten interfraktionellen Antrag verfahren wurde. Ent-täuschend ist nicht nur, daß die CDU/CSU erst im Rah-men der gestrigen Beratung des Ausschusses für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung öffentlichihren Rückzug vom ausgehandelten Kompromiß erklärteund einen eigenen Antrag ankündigte. Das war das Endedes interfraktionellen Verständigungsversuchs und da-mit ein äußerst bedenkliches Zeichen in dieser wichtigenFrage. Sie können dazu gern einmal den Kommentar imBerliner „Tagesspiegel“ lesen, Herr Hedrich. Das Zei-chen ist ein deutliches.Zusätzlich enttäuscht hat mich jedoch, daß sich, alsMinisterin Wieczorek-Zeul gestern im Ausschuß nochfür den interfraktionellen Antrag warb, SPD und Grünelängst darauf verständigt hatten, den eigentlich inter-fraktionellen Antrag nun ganz als den ihren auszugebenund so einzubringen, als hätte es nicht weiterhin dieMöglichkeit gegeben, ihn als interfraktionellen Antrageinzubringen, wenn auch ohne die CDU/CSU; auch dieF.D.P. wäre dazu ja bereit gewesen.
Das ist ein Umgang, meine Damen und Herren, dernicht nur Ihre Aussagen über ein gemeinsames und ein-vernehmliches Signal gegenüber den Betroffenen kon-terkariert – wenn Sie sich erinnern, Frau Ministerin, wa-ren Sie es, die gestern davon sprach, daß in den verwü-steten Gebieten niemand ein derartig kleinkariertes Vor-gehen verstehen würde –, sondern der auch Ihre Ankün-digung konterkariert, zu neuen Formen des Umgangs,der Transparenz und der Kooperation in Sachfragenkommen zu wollen.Ich hoffe deshalb sehr, daß dieses Handeln eine Aus-nahme bleiben wird und daß wenigstens in Zukunft mitoffenen Karten gespielt wird, gerade dann, wenn es sichum so dramatische und bedeutende Fragen wie diese
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442 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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handelt. Sie taugen nämlich nicht für Profilierungsspiel-chen.Vielen Dank.
Herr Kollege,
Sie haben Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag ge-
halten. Es ist üblich, daß wir Ihnen vom Haus aus dazu
gratulieren. Das tue ich hiermit.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Adelheid Trö-
scher.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß bei die-sem Thema das Haus relativ gut besetzt ist. Ich hoffedoch, daß dies auch in Zukunft so sein wird. Hurrikan„Mitch“ hat uns alle sehr betroffen gemacht. Diese Ka-tastrophe ruft uns auf, nicht nur kurzfristig zu helfen,sondern uns auch längerfristig Gedanken über Entwick-lungspolitik zu machen. Das ist wohl das einzig Gute andiesem schrecklichen Naturereignis.
Entwicklungspolitik ist globale Strukturpolitik. Ichglaube, auch Abgeordnete in diesem Hause müssen dasnoch lernen. Wir dürfen nicht immer nur bei den The-men des eigenen Ausschusses verharren. Wir müssenvielmehr schauen, welche Themen in anderen Ausschüs-sen behandelt werden. Wir müssen dabei sehen, welcheschlimmen Zustände hinsichtlich der Menschenrechts-verletzungen und mangelnder Demokratie auf dem Glo-bus, vor allem auf der Südhalbkugel, herrschen. Dortgibt es noch sehr viele Diktaturen und korrupte Regi-mes, die die Lage der Menschen erschweren, weil sieihnen noch mehr Unglück bringen, als es ohnehin schonder Fall ist.Den Betroffenen hilft es nicht, wenn wir in diesemPunkt nur politisch-ideologisch denken. Wir müssen alleein bißchen über unseren Schatten springen. Es geht umMenschen, denen wir helfen müssen. Deswegen ist eswichtig, daß wir unsere Hilfsmaßnahmen in Mittelame-rika zunächst auf die unmittelbare Katastrophenhilfekonzentrieren: die Rettung von Menschen, die noch im-mer in Lebensgefahr sind, die Bereitstellung von Le-bensmitteln, die Vermeidung von Seuchen durch die Be-reitstellung provisorischer Unterkünfte sowie die Bereit-stellung sauberen Trinkwassers und die Wiederherstel-lung eines Minimums an öffentlicher Ordnung.Es war gut, daß die Bundesregierung den betroffe-nen Ländern, vor allem Honduras und Nicaragua, So-forthilfe für die Nahrungsmittelversorgung und die Seu-chenvorbeugung zur Verfügung gestellt hat unddaß die Bereitstellung weiterer Mittel für Aufbau-maßnahmen in den betroffenen Gebieten vorbereitetwird.Es war weiterhin gut, daß die Ministerin in die ent-sprechenden Gebiete geflogen ist und an Ort und Stellemit Regierungen und NGOs, aber vor allem mit den be-troffenen Menschen gesprochen hat.
Dies war ein gutes Zeichen, Frau Ministerin, für unsereSolidarität und unser Mitgefühl. Ihr Handeln war mutigund unkonventionell. Ich möchte Ihnen daher an dieserStelle unseren großen Dank für Ihr Handeln ausspre-chen.
Über diese unmittelbaren Maßnahmen hinaus bestehtHandlungsbedarf bei der mittelfristigen Wiederher-stellung einer grundlegenden Infrastruktur sowie derProduktionskapazitäten, insbesondere im Hinblick aufdie für die Selbstversorgung wichtige Landwirtschaft.Der Naturkatastrophe folgt nun nämlich ein wirt-schaftliches Fiasko. Nach vorläufigen Schätzungen be-trägt der Schaden des Wirbelsturms insgesamt mehr als5 Milliarden DM – weit mehr als zum Beispiel das jähr-liche Bruttosozialprodukt Nicaraguas. In weiten Teilender Region existieren heute weder Straßen noch Tele-fonleitungen. Es sollen allein 180 Brücken zerstört wor-den sein. Ich glaube, dieses Ausmaß können wir uns inunserem hochzivilisierten Land gar nicht vorstellen.Die Landwirtschaft existiert in Honduras praktischüberhaupt nicht mehr. Der Exporterlös der Bananenerntevon 1,4 Milliarden DM ist weggefallen. Kaffee-, Zuk-ker- und Reisernte fallen in diesem Jahr aus. Wo Nutz-tiere den Hurrikan überlebten, finden sie nun kein Futtermehr.Dies ist die Bilanz, die der Hurrikan „Mitch“ hinter-lassen hat. Die internationale Staatengemeinschaft istnun gefragt, in den betreffenden Regionen zu helfen. Esgeht nicht mehr allein um die Frage, wie wir kurzfristigdie Not- und Katastrophenhilfe, Nahrungsmittel-lieferungen, Wiederaufbauprogramme und die Flücht-lingsversorgung sicherstellen können. Hinzu kommtauch, welche bisher geleisteten Investitionen im Rahmender Entwicklungszusammenarbeit der Hurrikan ver-nichtete.Ein zusätzliches Problem liegt in der Nothilfe auf dereinen Seite und in der Entwicklungszusammenarbeitauf der anderen Seite. Beide werden weltweit aus dengleichen Töpfen finanziert, und zwar aus den knapperwerdenden Etats für internationale Zusammenarbeit.Das Problem aber ist: Im Nothilfebereich explodierendie Kosten; für die Entwicklungszusammenarbeit bleibtimmer weniger übrig.
Gaben etwa Anfang der 80er Jahre die Geberländer nochweniger als 2 Prozent ihrer Entwicklungsmittel für dieNothilfe aus, so hat sich dieser Anteil inzwischen auf11 Prozent erhöht. Allein die GTZ erhielt 1985 rund20 Aufträge zur Katastrophenbewältigung; Mitte derCarsten Hübner
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90er Jahre waren es 250. Für Frauenförderung bleibtdann überhaupt nichts mehr übrig. Überschuldung ist zueinem entwicklungshemmenden Problem geworden.Selbst die Weltbank, neben dem IWF, privaten Ge-schäftsbanken und einzelnen Staaten Hauptgläubigervieler Entwicklungsländer, fordert mittlerweile neue In-itiativen ein, um zumindest die Verschuldung der aller-ärmsten Länder, der „highly indebted developing coun-tries“, in den Griff zu bekommen. Der von der Weltbankeinschlagene Weg, einen internationalen Fonds zurEntschuldung der multilateralen Forderungen zu schaf-fen, könnte wegweisend auch für die Entschuldung pri-vater und bilateraler Forderungen sein.
Die bisherigen Bemühungen von IWF und Weltbankgegenüber den hochverschuldeten armen Ländern sindkleine Schritte in die richtige Richtung. Dennoch sindbeide auch weiterhin gefordert, innovative Maßnahmenzu ergreifen, um die Belastungen der armen Schuld-nerländer auf ein tragbares Niveau zu reduzieren. Einevolle Aufrechterhaltung der Finanzforderungen ist nichtzu rechtfertigen.Wir könnten bei der Lösung dieser Fragen weitersein, als wir es heute sind. Leider aber hat die alte Bun-desregierung auf nationaler wie auch auf internationalerEbene Chancen und Möglichkeiten in diesem Bereichvertan, was auch von Mitgliedern des Pariser Clubs kri-tisch angemerkt wurde.
Schon auf den letzten Jahrestagungen von IWF undWeltbank hätte die alte Bundesregierung die Möglich-keit gehabt, umfassende Initiativen zur Lösung der Ver-schuldungskrise zu ergreifen. Versäumnisse dieser Artdürfen nicht wieder vorkommen. Die Bundesregierungmuß in diesem Zusammenhang eine aktivere Rolle aufdem internationalen Parkett spielen.
Ich begrüße es daher außerordentlich, daß die jetzigeBundesregierung den bilateralen Schuldendienst für diebetroffene Region, vor allem für Honduras und Nicara-gua, zunächst aussetzen will, und zwar mit dem Ziel, ei-nen Erlaß der Auslandsschulden zu erreichen, und daßsie sich in den internationalen Gremien für einen ge-zielten internationalen Schuldenerlaß einsetzen wird.Ebenso wichtig ist die Bereitschaft der Bundes-regierung, sich auf internationaler Ebene an der Ein-richtung eines Hilfsfonds für multilateralen Schul-dendienst für die betroffenen Länder zu beteiligen. Vorallem ist wichtig, einen Beschluß des Pariser Clubs zuinitiieren – Frau Ministerin Wieczorek-Zeul hat schondarauf hingewiesen –, in dem sich die Gläubigerstaatenzu einer massiven Minderung der Schuldenlast bis hinzu einem völligen Schuldenerlaß bekennen.
– Auch die bekommen wir vielleicht noch mit ins Boot.Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der letztenLegislaturperiode Vorschläge zur Lösung der Entschul-dungsproblematik erarbeitet und in den Deutschen Bun-destag eingebracht. Wir hatten seinerzeit die Vorschlägeder Weltbank begrüßt, einen internationalen Fonds zurEntschuldung der ärmsten 40 Länder einzurichten. Überdiesen Fonds sollte unseres Erachtens unverzüglich aufeiner internationalen Schulden-konferenz diskutiert unddessen Umsetzung und Konzeption geprüft werden.Wir hatten dazu eine Reihe von Fragen formuliert,die auf dieser Konferenz behandelt werden sollten unddie auch heute noch ihre Aktualität besitzen. Hierzu ge-hören die Fragen, gegenüber welchen Ländern derFonds Entschuldungen durchführen könnte, welcheKriterien den Entschuldungsmaßnahmen zugrunde ge-legt werden und ob im Zuge von Entschuldungen Ge-genwertfonds für entwicklungspolitische Maßnahmen inden betreffenden Ländern eingerichtet werden sollten.Hierzu gehört die Sicherstellung, daß die Entschul-dungsprogramme der breiten Bevölkerung zugute kom-men und nicht den korrupten Eliten, die eine große Ver-antwortung für die Misere der Bevölkerung tragen.
Hier warne ich ausdrücklich vor einer Geschichts-klitterung, wie sie Herr Hedrich vorhin vorgetragen hat.Ich denke, zum Beispiel die Regimes Somoza usw., dielange, lange Jahre unter anderem auch von Nordamerikaunterstützt worden sind, haben den Grundstein für dieEntwicklung in diesen Ländern gelegt, die für die breiteBevölkerung höchst negativ ist und zu diesem Ausmaßder Katastrophe geführt hat.
Wir wollen weiter eine ausreichende Finanzierungdes Fonds, wobei der Fonds von der Weltbank insge-samt auf ein langfristiges Volumen von 11 MilliardenUS-Dollar veranschlagt wird und in den ersten drei Jah-ren über zirka 1,5 Milliarden US-Dollar verfügen müßte,und müssen überlegen, welche Anteile am Fonds durchEinlagen der internationalen Finanzinstitutionen – vorallem von IWF, Weltbank und regionalen Entwick-lungsbanken – selbst, durch einen Teilverkauf der IWF-Goldreserven, durch eine Erhöhung der Sonderziehungs-rechte und gegebenenfalls durch bilaterale Einlagen ab-gedeckt werden können. Hinzu kommt, daß es sinnvollist, in bestimmten Fällen der Entwicklungsfinanzierungdiese nur noch in Form von Zuschüssen zu unterstützenoder mit niedrigverzinslichen und langfristigen Kreditenzu flankieren.Darüber hinaus, liebe Kolleginnen und Kollegen,sollten wir prüfen, wo wir noch mehr Spielräume beiEntschuldungsmaßnahmen haben, vor allem dann, wennder Schuldendienst armer Entwicklungsländer nicht ih-rer Leistungsfähigkeit entspricht und deshalb Investitio-nen in Entwicklung verhindert. Auf deutsch: Mit neuenKrediten werden alte Schulden bezahlt. Das kann nichtAdelheid Tröscher
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so weitergehen. Das kann nicht Sinn von Entwicklungs-politik sein.
Zum Schluß: Auch ich finde es sehr bedauerlich, daßdie CDU/CSU-Fraktion nicht über ihren Schatten sprin-gen konnte und unseren Antrag, der interfraktionellschon abgesegnet war, nicht mittragen konnte. Es wäregerade vor dem Hintergrund der katastrophalen Lage inMittelamerika ein positives Zeichen gewesen, wenn dasHaus geschlossen hinter diesem Antrag gestanden hätte.Sie haben diese Chance leider vertan. Vielleicht gelingtes Ihnen aber doch noch, einen kleinen Schritt zu tunund, nachdem wir über die Anträge der Opposition ab-gestimmt haben, unserem Antrag zuzustimmen. Das wä-re ein schönes Zeichen von gemeinsam gezeigter Solida-rität für diese Länder.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die
Kollegin Erika Reinhardt, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, noch niehaben uns so viele schreckliche Nachrichten über Natur-katastrophen erreicht wie in diesem Jahr: Überschwem-mungen in China, Bangladesch und Nordamerika,Waldbrände und Smog in Asien, Hunger im Sudan. Be-sonders schlimm aber ist es, wenn solche Naturkatastro-phen Entwicklungsländer treffen.Der Wirbelsturm „Mitch“ hat in den Ländern Mittel-amerikas eine Schneise der Verwüstung hinterlassen undinsbesondere die Länder Nicaragua und Honduras in ih-rer Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen und dieMenschen in Not und Elend gestürzt. VerheerendeÜberschwemmungen haben fast 350 000 Häuser zerstörtoder schwer beschädigt. Dem Hurrikan sind möglicher-weise bis zu 30 000 Menschen zum Opfer gefallen.Viele Tausende Kinder haben ihre Eltern verloren. Dasmenschliche Leid und Elend, das durch den Wirbelsturmund die Überschwemmungen angerichtet worden ist, istunermeßlich.Die Menschen in dieser Region brauchen unsere Hil-fe und Unterstützung; da sind wir uns einig. In diesemMoment darf ich vielleicht gleich anfügen: Ich habe we-nig Verständnis, wenn Sie jetzt der CDU ankreiden, daßsie einen eigenen Antrag formuliert. Sie, SPD und Grü-ne, würden aber diesen Antrag, der in der Sache genausolautet wie Ihr Antrag – beiden Anträgen geht es um Ent-schuldung und Soforthilfe –, ablehnen. Glauben Sie tat-sächlich, daß der Bürger draußen dies versteht?
Sie wissen, warum wir den gemeinsamen Antrag abge-lehnt haben. Auch Sie haben sich nämlich jetzt plötzlichvon der PDS distanziert.
Lieber Herr Kollege, Sie sollten sich das schon sehr ge-nau überlegen. Ich mache Ihnen ein Angebot: StimmenSie unserem Antrag zu!
Wir werden kein Problem damit haben, auch IhremAntrag zuzustimmen. Es werden beide zur Abstimmunggestellt. Überlegen Sie es sich; Sie haben noch Zeit!
Der bilaterale Schuldendienst für Honduras, Nica-ragua und Guatemala muß ausgesetzt werden, um denMenschen überhaupt eine Chance zu geben, aus diesemDilemma herauszukommen. Die Bundesregierung solltesich deshalb in den internationalen Gremien für einenumfassenden Schuldenerlaß einsetzen, um einen nach-haltigen Wiederaufbau der verwüsteten Regionen zufördern. Was das Instrumentarium des Schuldenerlassesbetrifft, so sage ich: Man muß darüber von Fall zu Fallentscheiden. Die durch eine Naturkatastrophe hervorge-rufene Situation in Guatemala, Nicaragua und Hondurasist eine besondere und sollte nicht zum Anlaß genom-men werden, einen bedingungslosen Schuldenerlaßplötzlich für alle Entwicklungsländer zu fordern.
Als Entwicklungspolitikerin habe ich gelernt, Pro-bleme pragmatisch anzugehen und sie grundsätzlichnicht um ihrer selbst willen zu sehen. Die Situation inMittelamerika ist außergewöhnlich. Durch die bittereNot und die existenzbedrohende Armut durch dasfurchtbare Wüten des Wirbelsturms in der Region sindLeben und Zukunft von 2,5 Millionen Menschen ge-fährdet. Hier müssen wir ohne Wenn und Aber helfen.
Der in unserem Antrag geforderte Schuldenerlaß fürGuatemala, Nicaragua und Honduras ist ein wichtigerWeg, um den Menschen nicht nur zu helfen, sondern ih-nen auch eine Chance zu geben.Aber der Schuldenerlaß ist eben nur die eine Sache.Darüber hinaus müssen auch Sofortmaßnahmen in dieWege geleitet werden, um zumindest die drängendstenProbleme lösen zu können. In den verwüsteten Ländernsind die hygienischen Verhältnisse nach der Hoch-wasserkatastrophe – dies ist nicht verwunderlich – ver-heerend. Sauberes Trinkwasser fehlt überall. Dies be-günstigt die Ausbreitung von Krankheiten. Insbe-sondere in den schwer zugänglichen Dörfern werden dieInfektionsrisiken immer höher. Verseuchter Schlamm,übergelaufene Latrinen und Kadaver führen zur Aus-breitung von Krankheiten und Seuchen. Die Trinkwas-serversorgung ist fast völlig zusammengebrochen. In ih-rer Verzweiflung schöpfen die Menschen das Wasseraus verseuchten Flüssen und Tümpeln. Die Seuchenspi-rale dreht sich immer schneller. Im Zusammenhang mitdem Wirbelsturm wurden in Honduras 115 000 Krank-heitsfälle registriert; in Nicaragua waren es annähernd60 000. Mehrere hundert Fälle von Cholera, Denguefie-Adelheid Tröscher
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ber und Malariaerkrankungen wurden bereits gemeldet.Hier ist dringend medizinische Hilfe erforderlich. Des-halb fordern wir auch die Bundesregierung auf, die nöti-gen Mittel zur Verfügung zu stellen und in den Kata-strophengebieten einzusetzen. Denkbar wäre zum Bei-spiel der Einsatz des Technischen Hilfswerks. Das THWhat Erfahrung und verfügt über die modernste technischeAusstattung; es könnte vor allem bei der Trinkwasser-aufbereitung und der Reparatur von lebensnotwendigerInfrastruktur wie dem Wiederaufbau von Brücken undStraßen helfen.
Neben sauberem Trinkwasser fehlen den MenschenNahrungsmittel. Trotz aller internationaler Hilfsbe-mühungen droht in Honduras immer noch eine Hun-gersnot. Ähnlich schwierig ist die Situation in Nicara-gua. Die Ernten sind nach den verheerenden Über-schwemmungen vernichtet. Für ein Agrarland wie Hon-duras, in dem drei Viertel der Bevölkerung in der Land-wirtschaft arbeiten, ist dies eine doppelte Katastrophe.Zum einen fehlen Nahrungsmittel für die eigene Bevöl-kerung, zum anderen fallen exportfähige Produkte wieBananen, Zuckerrohr, Zitrusfrüchte als Hauptdevisen-bringer weg, was die Situation im Land natürlich we-sentlich verschlimmert. Wenn nicht schnellstens Nah-rungsmittel und Saatgut zur Verfügung gestellt werden,dann ist die Abwärtsspirale geschlossen, möglicherweiseauch mit Folgen für die Industrieländer. Mehr und mehrMenschen werden in den Ländern Zuflucht suchen, dieihnen ein relativ sicheres Leben garantieren.Honduras und Nicaragua sind durch die Natur-katastrophe in ihrer Entwicklung um mindestens zweiJahrzehnte zurückgeworfen. 20 verlorene Jahre bedeu-ten auch den Verlust von 20 Jahren Entwicklungshilfe.Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung unter Minister Spranger hatnoch in den Jahren 1997 und 1998 300 Millionen DM indiese Region gegeben; ein großer Teil davon ist jetztunter dem Schlamm begraben. Dies ist um so tragischer,als diese Länder sowieso zu den ärmsten der Welt gehö-ren. Wir müssen den Menschen dort Hoffnung gebenund ihnen durch Solidarität und Anteilnahme beweisen,daß uns ihr Schicksal nicht gleichgültig ist. Nur rascheund unbürokratische Hilfe ist Garant für effektive Hilfe.Langfristig müssen aber auch Gelder für den Wie-deraufbau der Infrastruktur bereitgestellt werden.Dazu bedarf es vor allen Dingen der Koordination unter-schiedlicher Politikbereiche, aber auch der Koordinationbilateraler und multilateraler Entwicklungszusam-menarbeit. Dabei müssen wir im Blick behalten, daßHilfe immer Hilfe zur Selbsthilfe sein muß. Das heißt,wir müssen die Menschen vor Ort verstärkt in den Wie-deraufbau einbinden. Ziel muß es sein, eigene Ressour-cen vor Ort zu entwickeln bzw. zu mobilisieren.
Wir fordern die Regierung auch auf, im Ausschuß zurgegebenen Zeit einen Bericht über die durchgeführtenAktivitäten zu geben.Im übrigen beweisen nicht nur Politikerinnen undPolitiker Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber denNotleidenden in Nicaragua, Guatemala und Honduras.Auch die deutsche Bevölkerung zeigt sich solidarischmit den Opfern in Mittelamerika. Viele private Organi-sationen und Initiativen haben in den vergangenen Ta-gen Spendenkonten eingerichtet. Viele große deutscheHilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz, dasDiakonische Werk oder die Caritas haben Nothilfeaktio-nen gestartet, um den Menschen in Mittelamerika beizu-stehen. Ihnen allen, vor allem den Helfern vor Ort,möchte ich für diese Solidarität mit den Menschen inNot von dieser Stelle aus ganz herzlich danken.
Diese Signale der Mitmenschlichkeit und des Mit-leidens sind für die Betroffenen vor Ort wichtig; dennsie machen ihnen Mut und deutlich, daß sie trotz ihrerVerzweiflung nicht alleine sind.Nun bitte ich Sie noch einmal: Stimmen Sie dem An-trag der CDU/CSU-Fraktion zu!
Weitere Wortmel-dungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst überden Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu Hilfsmaß-nahmen, Schuldenerlaß und Wiederaufbau in Mittel-amerika nach der Wirbelsturmkatastrophe, Drucksache14/56. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitteich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Stimm-enthaltungen? – Das zweite war die Mehrheit. Damit istder Antrag abgelehnt.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über denAntrag der Fraktion der PDS zu Soforthilfe, Wieder-aufbaumaßnahmen und Entschuldung für Mittel-amerika, Drucksache 14/57. Wer diesem Antrag zu-stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. –Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Der Antrag istabgelehnt.Nun kommen wir zur Abstimmung über den Antragder Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/DieGrünen zum Schuldenerlaß und zu Aufbaumaßnahmenin Mittelamerika nach der Wirbelsturmkatastrophe aufDrucksache 14/54. Wer diesem Antrag zustimmenmöchte, den bitte ich um das Handzeichen? – Die Ge-genprobe! – Stimmenthaltungen? – Bei Stimm-enthaltungen ist dieser Antrag angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der F.D.P.Haltung der Bundesregierung zu einem Um-frageergebnis, nach dem nur 13 % der Unter-nehmen die bisherigen 620/520-Mark-Jobsin reguläre Arbeitsverhältnisse überführen,demgegenüber aber 20 % der Firmen diesebisherigen geringfügigen Beschäftigungsver-Erika Reinhardt
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hältnisse streichen und 23 % lieber freie Mit-arbeiter einstellen wollen, wenn die bisherigenrot-grünen Pläne zu einer Neuregelung ver-wirklicht werdenDazu eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat HerrRainer Brüderle, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde, die die F.D.P.
beantragt hat, hat offensichtlich erste, und zwar nach-
haltige Wirkung gezeigt.
Die Agenturen melden: Der Bundeskanzler, so der Re-
gierungssprecher, beabsichtigt, heute in dieser Aktuellen
Stunde seine neueste Variante zu dem Thema „620-DM-
Verträge“ vorzulegen. Es ist höchste Zeit, diese wirt-
schaftspolitische Geisterfahrt bei den 620-DM-Ver-
trägen zu beenden.
Das Chaos und das Wirrwarr, die hier inszeniert wur-
den, haben Ängste beim Mittelstand um seine Markt-
stellung und bei den Arbeitnehmern Ängste um ihre Ar-
beitsplätze ausgelöst.
Dies war alles überflüssig, weil die ganze Argu-
mentation unaufrichtig, ideologisch und falsch war.
Was wurde denn mit bebender Stimme von den Re-
gierungsfraktionen vorgetragen? Erstens. Der soziale
Schutz soll verbessert werden. Zweitens. Die soziale
Absicherung der Frauen soll verbessert werden. Drit-
tens. Es werden viele Arbeitsplätze in Vollerwerbsar-
beitsplätze umgewandelt.
Viertens. Die Parzellierung der Arbeitsverhältnisse wird
damit eingestellt. – Nichts wird geschehen. Es bleibt,
wie es war. Das ist auch vernünftig. Es wird zur Ge-
sichtswahrung jetzt ein Bankkonto durch ein anderes er-
setzt.
Sie hätten zur Verwaltungsvereinfachung gleich die
4,5 Milliarden DM aus dem Staatshaushalt an die Sozi-
alversicherung zur Finanzierung Ihrer Wahlversprechen
überweisen können. Aber diese ganzen Tricks waren
doch nicht nötig, genauso wenig wie Ihr Gesetzentwurf,
der in der Tat elementare Ängste ausgelöst hat, ergänzt
um den Fehlstart Ihrer Regierung, ergänzt um die unauf-
richtige Debatte um Ökosteuern, die mit Öko und
Lenkung überhaupt nichts zu tun haben, sondern nur ein
Abkassieren der Bevölkerung bedeuten.
Sie legten uns dieses hochbürokratische Modell vor,
das kaum umsetzbar ist. Was hat Ihnen eigentlich der
Mittelstand getan, daß Sie so mit den Ängsten und Sor-
gen der kleinen Handwerker, der kleinen Einzelhändler
und der kleinen Gastronomen spielen? Das ist unanstän-
dig, was Sie gemacht haben.
Sie wissen, daß Sie gerade diesen Bereich brauchen,
weil hier am ehesten Chancen bestehen, Arbeitsplätze zu
erhalten und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Was Sie an
Horrorinstrumenten auf den Weg gebracht haben, sitzt
tief im Bewußtsein der Menschen. Sie leisten mit diesem
Wirrwarr und mit diesen falschen Konzepten einen Bei-
trag zur tiefen Verunsicherung der deutschen Wirtschaft.
Die Fünf Weisen haben es Ihnen gestern ins Stammbuch
hineingeschrieben.
Die Beschäftigungslage ist zu ernst, um mit solchen
unausgegorenen und nicht durchdachten Konzepten als
Gesetzentwürfen draußen diese Ängste hochzuzüchten
und um anschließend die Notbremse zu ziehen, weil
man erkennt, daß das, was man vorhat, ökonomischer
Unsinn ist.
Deshalb kommt die Revision. Es wäre besser, Sie hätten
uns dies gleich erspart, aber immerhin ist es der zweit-
beste Weg, heute den Rückzug anzutreten. Vielleicht
nutzen Sie, Herr Bundeskanzler, auch die Gelegenheit,
sich ein Stück beim Mittelstand und bei den Arbeitneh-
mern, die in diesem Bereich beschäftigt sind, für die
Ängste, die Sie ausgelöst haben, zu entschuldigen.
Ich erteile das Wort
dem Herrn Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bes-sere ist des Guten Feind. Herr Brüderle, ich glaube, Siehaben sich künstlich aufgeregt.
Deswegen zurück zur Sache.Vizepräsidentin Anke Fuchs
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Drei Ziele gilt es zu realisieren. Erstens. Wir müssenund wir wollen die Erosion der Finanzierungs-grundlagen der Sozialversicherung stoppen.
Das sollte ein Ziel sein, das uns verbindet. Denn nie-mand hat etwas davon, wenn es so weitergeht wie bis-her, wenn zum Beispiel – das muß doch klar sein; dassollte selbst Ihnen von der Opposition klar sein – großedeutsche Handelsketten ein Vollerwerbsarbeitsverhält-nis, das zu finanzieren sie sehr wohl in der Lage sind, indrei 620-DM-Jobs umwandeln.
Das hilft doch keinem. Das hilft weder der deutschenWirtschaft, noch hilft es im entferntesten den betroffe-nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, noch hilftes den sozialen Sicherungssystemen, auf die wir alle an-gewiesen sind.Das zweite Ziel, das es bei dieser gewiß schwierigenFrage anzustreben gilt, ist: Die Belastungen der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, um die es mir, uns al-len in diesem Zusammenhang geht, jedenfalls gehensollte, dürfen nicht zunehmen.Drittens. Es gibt ganz viele Menschen, die auf gering-fügige Beschäftigungsverhältnisse angewiesen sind.
Es gilt zu erkennen, daß Familien damit beispielsweiseihren Urlaub finanzieren. Auch um die geht es mir, gehtes uns.
Auf der einen Seite will ich nicht, daß Mißbrauch be-trieben wird, indem Vollerwerbsarbeitsverhältnisse sy-stematisch auch da, wo es nicht nötig ist, in geringfügigeBeschäftigungsverhältnisse umgewandelt werden. Aufder anderen Seite gilt es Rücksicht auf diejenigen zunehmen, die einen solchen Job brauchen, aus welchenGründen auch immer.
Alle drei Ziele müssen miteinander in Einklang ge-bracht werden. Wir haben das in den vergangenen Tagenmit den betroffenen Verbänden, vor allen Dingen aberauch mit den Fachleuten der Koalition, mit den Frakti-onsführungen der Koalition diskutiert.
– Warten Sie doch erst einmal ab, ehe Sie weiter herum-schreien!
Ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden, die sichsehen lassen kann und die wir umsetzen werden. Ich willIhnen gerne die Elemente dieser Lösung nennen.Das erste Element sind die Arbeitsverhältnisse im Be-reich der geringfügigen Beschäftigung bis 620 DM, undzwar im Westen wie im Osten; die Unterschiede werdenaufgehoben.
Diese Arbeitsverhältnisse bleiben steuerfrei, und zwarunabhängig von weiteren Einkünften. Die Bundes-regierung wird prüfen, wie eine verfassungsrechtlichsaubere Lösung in diesem Bereich aussehen kann. Wirwerden eine solche Lösung finden.
Eine Dynamisierung findet nicht mehr statt.
Dies bedeutet: Das wird festgeschrieben.Zweitens. Für die Sozialversicherung hat der Arbeit-geber folgende Pauschsätze zu leisten: 10 Prozent an dieKrankenversicherung, 12 Prozent an die Rentenversi-cherung.Drittens. Aus diesen Leistungen heraus entstehenkeine zusätzlichen Ansprüche
– Sie sollten wenigstens einmal lernen zuzuhören, HerrHirche; sonst bekommen Sie dazu, wie schon in Nieder-sachsen, wieder Gelegenheit –,
es sei denn, daß zum Beispiel der betroffene Arbeitneh-mer oder die betroffene Arbeitnehmerin die Beiträge zurRentenversicherung aus eigenen Mitteln so aufstockt –wozu Gelegenheit gegeben werden wird –, daß derRentenbeitragssatz von zukünftig 19,5 Prozent erreichtwird.Tut er das, dann erwirbt er eigene Ansprüche im Rah-men seiner Beitragsleistungen.Viertens. Mehrere geringfügige Beschäftigungsver-hältnisse werden zusammengerechnet. Die zuvor ge-nannten steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Re-gelungen gelten nur – das ist wichtig –, sofern 620 DMinsgesamt nicht überschritten werden, denn wir wollenMißbrauch ausschließen.
Meine Damen und Herren, um das noch einmal klar-zumachen: Wir werden festlegen, daß die steuer- undsozialversicherungsrechtlichen Regelungen nicht fürNebenbeschäftigungen beim selben Arbeitgeber gelten.Fünftens. Alle Arbeitsverhältnisse im Bereich der Ge-ringfügigkeit müssen der Sozialversicherung gemeldetwerden. Sie sind auf der Lohnsteuerkarte zu vermerken,und zwar – auch dies sage ich ausdrücklich – mit demBundeskanzler Gerhard Schröder
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Ziel, stattgefundenen Mißbrauch in Zukunft jedenfallseinzuschränken, wo wir ihn nicht verhindern können,was besser wäre. Aber wir müssen den Versuch machen,zu Einschränkungen zu kommen; denn alles, was in die-sem Bereich an Mißbrauch geschieht, geht letztlich zuLasten derer, die die sozialen Sicherungssysteme finan-zieren, also derer, die als Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer beschäftigt sind.
Sechstens. Die Regelung soll zum 1. April 1999 inKraft treten.
Die Beitragsabsenkung in der Rentenversicherung auf19,5 Prozent erfolgt ebenfalls zum 1. April 1999.Siebtens. Die dargestellte Lösung wird in einem ei-genständigen Gesetzentwurf geregelt werden. Das Par-lament wird Gelegenheit erhalten, ihn zu diskutieren.Wir gehen davon aus, daß er im Januar, Februar 1999verabschiedet wird.Meine Damen und Herren, damit haben wir, wie ichglaube, einen Beitrag dazu geleistet, daß auf der einenSeite der Mißbrauch der 620-DM-Jobs eingeschränktwird, daß auf der anderen Seite jene betroffenen Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, die auf solche Jobs an-gewiesen sind, nicht zusätzlich belastet werden und daßzum dritten berechtigten Forderungen insbesonderekleiner und mittlerer Unternehmen Rechnung getragenwird – unberechtigten Forderungen, mit denen wir indiesen Tagen zuhauf konfrontiert wurden, naturgemäßnicht.Ich habe die Bitte, daß Sie, wenn es soweit ist, dieserRegelung zustimmen, und ich gehe davon aus, meineDamen und Herren von der Opposition, daß auch Sie,wenn Sie es mit der Sorge für die Beschäftigten, die dar-auf angewiesen sind, und mit vernünftigen Regelungenzugunsten des Mittelstandes ernst meinen, zustimmenwerden. Ich freue mich schon darauf, wenn Ihre Händebei den entsprechenden Gesetzentwürfen – diesmal ander richtigen Stelle – nach oben gehen.
Das Wort hat der
Kollege Julius Louven, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundes-kanzler, Ihr telegenes Lächeln vergeht Ihnen langsam.
Gestern waren es die verheerenden Ergebnisse der Wirt-schaftsweisen, heute ist es das Eingeständnis, daß Sieeine Regelung bei 620-DM-Arbeitsverhältnissen nichtso, wie angekündigt, hinbekommen. Dabei müssen Siewissen, daß uns Ihre Kolleginnen und Kollegen aus derSPD-Fraktion – allen voran Ottmar Schreiner – in derletzten Legislaturperiode immer wieder vorgeworfenhaben, wir hätten nicht die Kraft zu handeln,
obwohl doch alles so einfach sei.
Nun erleben Sie, wie schwierig es ist. Man sieht esIhnen ja an Ihrem Gesicht an, welche Probleme Sie inIhrer Fraktion gehabt haben.
Wenn die Lösung der Probleme so einfach wäre, dannhätten Sie doch nur Ihren Gesetzentwurf auf Drucksa-che 13/3301 wieder vorlegen müssen. Aber Sie habensich nicht getraut, dieses Machwerk noch einmal auf denTisch zu legen.
Zu Ihren Vorschlägen, Herr Bundeskanzler, will ichnur sagen, daß es – Sie haben es selbst eingeräumt –Verfassungsprobleme geben könnte. Das werden wirnatürlich prüfen. Ich möchte zudem feststellen, daß IhrVorschlag äußerst kompliziert ist. Wie soll das in dermittelständischen Wirtschaft denn überhaupt gehandhabtwerden?
Uns interessiert natürlich, was mit den Einnahmen pas-siert. Frau Fischer hat bereits 1,4 Milliarden DM ein-geplant, um ihre läppische Reform zu finanzieren;2,1 Milliarden DM für die Rentenversicherung – wirwerden gespannt sein, wie das weitergeht.Nun zur Sache selbst und auch zur F.D.P., zu Ihnen,Herr Brüderle: Selbst wenn die Ergebnisse der Umfrage,die Sie zum Gegenstand des Antrages einer AktuellenStunde gemacht haben, richtig sind, bleibt es Tatsache,daß erstens die Sozialversicherungssysteme mit zuneh-mender Tendenz unterlaufen werden – wobei ich weiß,daß die Unternehmen das tun, weil sie einem besonderenKostendruck unterliegen; das hat natürlich Folgen fürdie Sozialversicherungssysteme –, daß zweitens vieleArbeitnehmer, insbesondere Frauen, in dieser Beschäfti-gung keinen ausreichenden Altersschutz erreichen –darüber müssen wir reden –
und daß drittens Unternehmen und auch Freiberuflersich Wettbewerbsvorteile verschaffen und andere zwin-gen, das gleiche zu tun, womit eine Welle in Bewegungkommt, der wir nicht tatenlos zusehen dürfen.Vor diesem Hintergrund sieht meine und im übrigen,Herr Brüderle, auch Ihre Fraktion Handlungsbedarf.Denn wir haben am 11. Dezember 1997 in einer ge-meinsamen Entschließung festgestellt, daß fürschutzwürdige Personen ein ausreichender Versiche-rungsschutz sichergestellt werden muß.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 449
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Dieses Instrument wurde geschaffen, um es der mittel-ständischen Wirtschaft zu ermöglichen, Auftragsspitzenabzufangen. Ich hätte meinen Betrieb – ein Ausflugscafé– ohne dieses Instrument überhaupt nicht führen können.In mancher Landesvertretung bekämen Sie abends keinGlas Bier gebracht, wenn es dieses Instrument nicht gä-be.
Deshalb ist für uns als CDU/CSU-Fraktion folgendeswichtig: Erstens. Der flexible Zugriff auf Arbeitnehmer,die ad hoc bereit sind, auch zu unpopulären Arbeitszei-ten tätig zu werden, muß möglich bleiben. Zweitens. DieArbeitsverhältnisse dürfen sich nicht wesentlich verteu-ern – weder für die Arbeitnehmer noch für die Arbeitge-ber. Drittens. Der Einstieg in normale Teilzeitbeschäfti-gung, die jetzt an der 620-DM-Mauer endet, muß miteiner Neuregelung erleichtert werden. Viertens. Wirmüssen alles vermeiden, was Arbeitnehmer und Arbeit-geber in die Illegalität treibt. Fünftens. Wir brauchenRegelungen, die einfach handhabbar sind. Deshalb rateich auch zur Vorsicht bei Ausnahmen.Meine Damen und Herren, das alles geht, wenn Sienicht Geldquellen suchen, mit denen Sie andere Löcherschließen. Die soziale Absicherung der Menschen mußim Mittelpunkt stehen und nicht die Suche nach Ein-nahmequellen.
Die Löcher, die Sie leichtfertig und gegen jede Vernunftaufreißen, dürfen Sie nicht auf Kosten des Mittelstandszu schließen versuchen.
Das Wort hat Frau
Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie dieAktuelle Stunde eingeleitet worden ist, war gewiß einungewöhnlicher Vorgang in diesem Hohen Hause. Dar-an, Herr Kollege Brüderle, sehen Sie eins: Es bleibt ebennichts, wie es war. Ich glaube, das ist es, was bei IhnenÄngste auslöst.
Meine Damen und Herren, in der gebotenen Kürzeder Zeit kann ich nur eine erste Bewertung vornehmenund sicherlich auch nicht alle Punkte ansprechen, die derHerr Bundeskanzler soeben vorgestellt hat.Erster zentraler Punkt. Ab der ersten Mark wird dieSozialversicherungspflicht eingeführt.
Das, meine Damen und Herren, wollten wir als Grüneimmer, und das, Herr Kollege Brüderle, ist keine kom-plizierte, sondern eine einfache, klare und übersichtlicheRegelung.
Wir wollten das unter anderem deshalb, weil sich inden letzten fünf Jahren gezeigt hat, daß es eine unsozialeund gesellschaftlich gefährliche Tendenz gibt, Vollzeit-und sozialversicherungspflichtige Jobs immer mehrdurch nicht sozialversicherungspflichtige Jobs zu erset-zen.
– Ja, freilich. Die Zahl der prekären Beschäftigungsver-hältnisse ist in den letzten fünf Jahren um 30 Prozentangestiegen. Gleichzeitig ist der Anteil der sozialversi-cherungspflichtigen Jobs um 6 Prozent gesunken. Hieransieht man die Substitution. Mit dieser Regelung wirdgenau diesem Prozeß, der insbesondere Frauen in prekä-re Beschäftigungsverhältnisse drängt, ein Riegel vorge-schoben. Ich denke, das ist eine vernünftige Entwick-lung.Zweitens: keine Lohnsteuer bis 620 DM. Dies be-deutet natürlich eine Entlastung der kleinen Einkommen.Aber ich sage an dieser Stelle auch: Wir müssen hier-über noch weiter diskutieren, weil es auch um Neben-jobs geht. Der Herr Bundeskanzler hat dies angespro-chen. Wir müssen hinsichtlich der Besteuerung eineauch verfassungsrechtlich haltbare Lösung finden.Drittens. Es läuft darauf hinaus, daß die geringfügigBeschäftigten, also jene, die unter 620 DM monatlichverdienen, keine zusätzlichen Belastungen haben, weildie Arbeitgeber den Sozialversicherungsbeitrag leistenmüssen. Aber es ist auch richtig, daß Frauen und Män-ner, wenn sie ihren eigenen Rentenanteil nicht zahlen,auch keine zusätzlichen Ansprüche erwerben.
Das muß man sehr ausgewogen diskutieren. Das istvollkommen klar.Aber wir müssen eines sehen: Wir haben zum er-stenmal und endlich für alle und insbesondere für Frau-en ab der ersten Mark Verdienst die Möglichkeit ge-schaffen, sich überhaupt einen Rentenanspruch zu er-werben. Das müssen wir einfach sehen.
Wäre die Grenze bei 300 DM festgesetzt worden, hätteein großer Teil der Frauen diese Möglichkeit nicht be-kommen. Auch das müssen wir in diesem Zusammen-hang sehen, und hierüber werden wir diskutieren.Auf alle Fälle besteht mit dieser Regelung die auchfür die Frauen schlechte Möglichkeit nicht mehr, 620-DM-Jobs beispielsweise in nicht sozialversicherungs-pflichtige Jobs unter 300 DM aufzusplitten. Denn daslohnt sich für die Arbeitgeber nicht. Wir werden also dieTendenz, Arbeitsverhältnisse immer weiter aufzu-Julius Louven
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splitten, aufhalten können. Das ist eine positive Ent-wicklung.Viertens: die Pauschalbesteuerung. Die Aufregung,die hierüber in der letzten Zeit entstanden ist, habe ichnicht verstanden. Auch bisher war ja die Pauschalbe-steuerung eine Kann-Lösung. Wer in diesem Hausekann mir einen Unternehmer oder eine Unternehmerinnennen, die freiwillig eine Doppelbesteuerung vorzieht?Ob und in welcher Weise sie abgeschafft wird, ist alsokein zentraler Punkt.Zum Schluß möchte ich eine vorläufige Bewertungabgeben, die wie folgt lautet: Es ist ein Fortschritt, daßdie Sozialversicherungspflicht ab der ersten verdientenMark eingeführt wird.
Es ist ein richtiger Weg, daß Frauen endlich die Mög-lichkeit haben, sich einen Rentenanspruch zu erwerben.
Aber – auch das sage ich –: Die Armut in dieser Gesell-schaft ist immer noch weiblich. Dieses Problem werdenwir weder mit der Geringfügigkeit noch mit einer neuenGrenze abschaffen können.Deswegen besteht an dieser Stelle der politischeAuftrag an Rotgrün, unter anderem mit einer großenSteuerreform das Problem der weiblichen Armut grund-sätzlich neu anzugehen.
Das Wort hat
Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Es ist nichts Neues, daß die F.D.P.die sozialversicherungsfreien Jobs protegiert. Nach denAusführungen des Herrn Bundeskanzlers könnte ich Ih-nen, meine sehr verehrten Damen und Herren von derF.D.P., sagen: Erstens kommt es anders, zweitens alsman denkt.
Bisher waren diese Jobs ein probates Mittel, um dieMisere am Arbeitsmarkt zu verschleiern – eine Misere,für die die rechte Seite in höchstem Maße Verantwor-tung trägt.
Am Entgelt und an der Arbeitszeit festgemacht, handeltees sich um ein in den vergangenen Legislaturperiodenständig gewachsenes Defizit an regulären existenzsi-chernden Arbeitsplätzen. Dies haben Sie in all IhrenDiskussionen niemals einbezogen. Sie haben von400 000 Arbeitsplätzen gesprochen, die geschaffen wor-den sind; Sie sehen aber nicht, daß in diesem Bereich bei6 Millionen prekär Beschäftigten nahezu 3,5 bis 4 Mil-lionen reguläre Arbeitsplätze fehlen.Wenn Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P.,als Begründung für Ihren Antrag Umfrageergebnisseherangezogen haben, dann muß ich Ihnen sagen, daß Sieim Verlaufe Ihrer Regierungszeit vieles hätten ändernmüssen, wenn Sie schon damals auf Umfrageergebnissereagiert hätten.
Es scheint mir auch bei Ihnen zuzutreffen, daß dann,wenn man hinter dem Schalter sitzt, die Gegend andersaussieht, als wenn man vor dem Schalter sitzt.Zunächst hat die PDS-Fraktion festgestellt, daß dieVerlautbarungen, die in der Vergangenheit zu 620-Mark-Jobs und 520-Mark-Jobs gekommen sind, nichtauf unsere Zustimmung gestoßen sind. Herr Bundes-kanzler, ich gratuliere Ihnen dazu, daß Sie mit Ihren jet-zigen Aussagen Ungereimtheiten in den Diskussionen –300 DM oder 200 DM als Untergrenze für die Sozial-versicherungspflicht bzw. 20 Prozent Abzug als Lohn-kostenpauschale für die Unternehmen? – beseitigt ha-ben. Sie haben hier eine Klarheit geschaffen, die auchdie PDS-Fraktion weitestgehend mittragen kann. Dasbetrifft insbesondere die Äußerung, daß von der erstenArbeitsstunde und von der ersten verdienten Mark an dieSozialversicherungspflicht eintritt. Das findet unsereZustimmung.
– Sie haben jahrelang Zeit gehabt, sich das zu überlegenund einen Neuanfang zu wagen. Jetzt können Sie nurherummosern. Daß Ihnen das nicht vorher eingefallenist!
Wir hätten allerdings gern gewußt, ob die prekär Be-schäftigten, die 520- bzw. 620-Mark-Jobs haben, einenAnspruch auf Sozialleistung erwerben
oder ob sie ihren Anspruch erhöhen können, wenn siesozialversicherungspflichtig beschäftigt werden.Das, was die Regierung hier vorgestellt hat, bedarfeiner tiefergehenden Betrachtung. Eines darf nicht pas-sieren: Es dürfen keine Veränderungen erfolgen, die da-zu führen, daß einerseits der Anspruch auf ergänzendeSozialhilfe wächst und damit den Kommunen weitereKosten zugeschoben werden und daß andererseits dieArmut in unserem Lande wächst.Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie, zu überlegen, obman in der Tat so stark von Leistungsmißbrauch redenkann. Die ehemalige Regierungskoalition hat sich in derDiskussion um den Leistungsmißbrauch unter anderembei den Empfängern von Arbeitslosenhilfe hinreichendblamiert. Ich hoffe nicht, daß uns ähnliches passiert,Dr. Thea Dückert
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imdem wir von zu hohen Zahlen hinsichtlich des Miß-brauchs in diesem Bereich ausgehen. Die Menschenwollen Arbeit. Sie können arbeiten. Was ihnen gebotenwerden muß, ist Arbeit, die menschenwürdig ist und sievor Ausgrenzung und Armut schützt.
Herr Kollege Grehn,
das war Ihre erste Rede. Im Namen des Hauses gratulie-
re ich Ihnen dazu.
Das Wort hat jetzt Dr. Peter Struck, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Was dieser alten Re-
gierungskoalition jahrelang nicht gelungen ist, wird die-
se neue Koalition innerhalb eines halben Jahres erledi-
gen.
Wir werden den Mißbrauch bei geringfügigen Beschäf-
tigungsverhältnissen beenden. Wir werden soziale Si-
cherheit für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer schaffen,
und wir werden nicht die mittelständische Wirtschaft
belasten,
so wie Sie es falsch an die Wand gemalt haben, Herr
Kollege Brüderle.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird die vom Herrn
Bundeskanzler vorgetragenen Eckpunkte in einer ersten
Beratung heute in einen Gesetzentwurf umgießen. Herr
Kollege Louven, Ihre Rede bringt mich zu der optimisti-
schen Erwartung, daß die CDU/CSU-Fraktion, endlich
aus der Gefangenschaft mit der F.D.P. befreit, unsere
Vorstellungen mittragen wird.
Wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen. Selbstver-
ständlich werden wir die Einwände, insbesondere auch
die Einwände, die von Betroffenen kommen, sehr sorg-
fältig im Anhörungsverfahren erörtern. Die SPD-
Bundestagsfraktion und die Koalitionsfraktion der Grü-
nen werden selbstverständlich berechtigte Einwände
aufgreifen.
Wir sind jetzt noch nicht soweit, daß wir hier eine
ausführlichere Debatte über die Einzelheiten führen
könnten. Deshalb erkläre ich für die SPD-Fraktion: Wir
werden uns an der im übrigen einen unsinnigen Titel
tragenden Aktuellen Stunde, Herr Kollege Brüderle,
nicht mehr beteiligen.
Aber es wäre schön,
wenn Sie im Saal blieben, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen.
Das Wort hat Kollege Thomas Strobl, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute in dieserAktuellen Stunde über die geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnisse, weil die rotgrüne Koalition zu diesemThema ein heilloses Durcheinander verursacht hat.
Die betroffenen Menschen müssen wissen, was aufsie zukommt. Das wissen sie auch nach der Rede desHerrn Bundeskanzlers leider nicht,
wiewohl wir anerkennen müssen, daß es dem HerrnBundeskanzler in nächtlicher Sitzung gelungen ist, dieRegierungskrise wegen der 620-DM-Jobs abzuwenden.
Aber ich glaube, Sie werden noch einige nächtliche Sit-zungen haben. Vielleicht nehmen Sie auch den grünenKoalitionspartner in diese Sitzungen mit, damit wenig-stens der Koalitionspartner weiß, was Sie hier oben ver-künden, und es versteht. Dies ist bei den Ausführungender Kollegin von der grünen Fraktion deutlich gewor-den.
Es ist wahr, Herr Bundeskanzler, daß es bei den ge-ringfügigen Beschäftigungsverhältnissen Mißbrauchgibt. Genau diesen Mißbrauch müssen wir bekämpfen.Handlungsbedarf besteht vor allem dort,
wo die Flucht aus den Sozialversicherungsbeiträgen ge-sucht wird oder wo die Umwandlung von sozialversi-cherungspflichtiger Beschäftigung in nicht sozialversi-cherungspflichtige Beschäftigung betrieben wird.Aber diese Probleme löst man nicht durch Umvertei-lung von der einen Tasche in die andere Tasche,
von der Sozialversicherungskasse in die Steuerkasse undumgekehrt. Richtig wären strukturelle Reformen, damitdie reguläre Teil- und Vollzeitarbeit durch die Senkungvon Steuern und Abgaben wieder attraktiver wird.
Dr. Klaus Grehn
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Meine Damen und Herren, wie die rotgrüne Koali-tion, eher der rote Teil der Koalitionsfraktionen, an diegeringfügigen Beschäftigungsverhältnisse herangeht,zeigt sehr deutlich, daß es nicht um strukturelle Maß-nahmen für mehr Beschäftigung geht, sondern daß sieoffensichtlich nur Gelder für die Sozialkassen sucht, dieanderwärtig leichtfertig ausgegeben werden.
Meine Damen und Herren, so etwas nennt man Abkas-sieren, auch wenn jetzt der Finanzminister mit abkassiertwird.
Klar ist: Wir werden nur eine Lösung mittragen kön-nen, die nicht zur Verteuerung von Arbeit führt.Meine Damen und Herren, es ist immer gesagt wor-den, es gehe um die Absicherung von Frauen im Alter.Da haben wir jetzt eine seltsame Lösung: Es werdenBeiträge zur Sozialversicherung bezahlt, aber Ansprüchehat man keine.
Ich finde dies schon seltsam. Ich finde es auch nichtin Ordnung, daß Sie damit den Schwarzen Peter denFrauen zuschieben, indem Sie sagen: Ihr könnt ja jetztein bißchen weniger verdienen, indem ihr noch mehr indie Sozialversicherungskasse einzahlt, um einen An-spruch zu erwerben.
Meine Damen und Herren, ich möchte auch ein Wortzum Ehrenamt sagen. Sie haben viel Verunsicherungauch in die Vereine und in den ehrenamtlichen Bereichhineingetragen.
Ich möchte für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sa-gen: Wir werden keine Lösung mittragen können, die zuLasten kleiner Sportvereine und kultureller Einrichtun-gen geht. Diese fühlen sich dem Gemeinwohl ver-pflichtet. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse fürPlatzwarte, Geschäftsführer, Jugendbetreuer, Trainerin-nen und Trainer, Chorleiter sind die existentielle Basisvieler Vereine und kultureller Einrichtungen.
Diese Arbeitsverhältnisse sind häufig Voraussetzungenfür das millionenfache Ehrenamt.Die Einführung einer Sozialversicherungspflicht fürgeringfügig Beschäftigte wird sämtliche vorgegebenenZiele verfehlen: kein einziger neuer Arbeitsplatz, gerin-ge Mehreinnahmen in der Sozialversicherung, auf deranderen Seite riesige Steuerausfälle.Und ein Letztes: Herr Bundeskanzler, Sie haben ge-sagt, alle Maßnahmen dieser Regierung sollen darangemessen werden, ob mehr Beschäftigung entsteht.Durch diese Aktion, die Sie hier planen, entsteht imZweifel nicht mehr, sondern weniger Beschäftigung.Vielleicht geht es Ihnen in Wahrheit um etwas ganzanderes. Die Einführung der Sozialversicherungspflichtführt nämlich zweifellos dazu, daß statistisch die Zahlder sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze zu-nimmt und auf der anderen Seite Leute aus der Arbeits-losenstatistik herausfallen.
Wenn die Regierung durch solcherlei teure kosmetischeOperationen die Statistik schönen will, würde dies aufunseren entschiedenen Widerstand stoßen. Wir wollenmehr Beschäftigung in diesem Lande, keine kosmeti-schen Operationen. Diese lehnen wir ab.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Herr Kollege Strobl,
das war Ihre erste Rede; ich darf Sie dazu beglückwün-
schen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dirk Niebel,
F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich kann sehr gut verste-hen, daß sich die SPD-Fraktion an der Diskussion nichtweiter beteiligen darf. Sie durfte sich ja auch an der Lö-sungsfindung nicht beteiligen, weil der Bundeskanzlerdiese Lösung heute hier vorgestellt hat und die Fraktionsich erst heute abend zusammensetzt.
Herr Bundeskanzler, ich glaube, es ist das erste Malin der Geschichte dieses Hauses, daß ein Kanzler inner-halb von vier Wochen nach Regierungsantritt seineeigene Regierungserklärung zurücknimmt und etwasganz anderes als das behauptet, was er in der Regie-rungserklärung gesagt hat. Da sprachen Sie noch von300 DM, von nicht sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigungsverhältnissen in diesem Bereich. Jetzt giltdie Versicherungspflicht von der ersten Mark an.Es wird Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen sage: DieF.D.P. ist die Partei der sozialen Verantwortung.
– Ja, das gefällt Ihnen nicht. – Denn sie erlaubt es denMenschen, daß diese für ihren Lebensunterhalt selbersorgen. Ihre Pläne dagegen, Herr Bundeskanzler, sindunsozial, weil dadurch den Menschen die Arbeit wegge-nommen wird.
Thomas Strobl
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Sie, Herr Bundeskanzler, versuchen allen Ernstes, die-sem Hohen Haus eine reine Umbuchung als Ei des Ko-lumbus zu verkaufen. Erklären Sie mir doch bitte ein-mal, wie Sie 4,5 Milliarden DM Steuerausfälle finanzie-ren wollen.
Wer 620-Mark-Beschäftigungsverhältnisse versiche-rungspflichtig macht, will die Sozialkassen füllen. Dasist eine gute Idee, wenn man sich die Situation der So-zialkassen ansieht, eine schlechte Idee aber, wenn mandie ökonomischen Folgen betrachtet. Glauben Sie dennwirklich, daß Arbeitslosigkeit so bekämpft werdenkann? Damit schaffen Sie Arbeitslosigkeit. Durch IhrePolitik werden Arbeitnehmer verunsichert, Arbeitsplätzevernichtet und ist Schwarzarbeit vorprogrammiert. Siewerden die Verwaltungen aufblähen.
Sie sollten lieber konstruktive Vorschläge machen, umdie Arbeitslosigkeit abzubauen, anstatt das letzte biß-chen Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen.
Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind seitJahr und Tag Thema von Plenardebatten. 93 Prozent derPersonen, die diese Arbeiten ausüben, sind mit der Ar-beit und der Entlohnung zufrieden. Vergessen Sie nichtdie engagierten Kräfte in den Wohlfahrtsverbänden, inSportvereinen, ganz besonders im Breitensport, oderauch in den Parteien. Eine Versicherungspflicht wirdeine Verschlechterung des Angebots dieser Institutionenzur Folge haben. Nach der Emnid-Umfrage vom Okto-ber werden 13 Prozent der Betriebe, die heute 620-Mark-Kräfte beschäftigen, keine Vollzeitjobs schaffen.20 Prozent werden diese Arbeitsplätze sogar abschaffen.Das ist für mich kein Abbau von Arbeitslosigkeit, son-dern Abbau von Arbeitsplätzen, für den Sie verantwort-lich sein werden.
Meine Damen und Herren, fünf Jahre Rentenbeitragwährend einer geringfügigen Beschäftigung führt zusage und schreibe 28 DM Rente. Nach 25 Jahren hatman immerhin die Anwartschaft auf stattliche 140 DMmonatlich erworben. Jetzt erzählen Sie uns, daß maneinzahlen darf, aber dafür gar nichts bekommt. Das istdoch wohl nicht in Ordnung!
Mit Sicherheit ist das kein Rezept zur Bekämpfung derAltersarmut, ganz besonders nicht der von Frauen. Diesebeziehen Sie jetzt noch nicht einmal in die Krankenver-sicherung ein. Wer 620-Mark-Jobs verteuert, nimmtZigtausenden Arbeitnehmern den Arbeitsplatz. Das istdas Gegenteil von Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Andiesem Kriterium wollten Sie, Herr Bundeskanzler, sichmessen lassen.
Die Verschiebung der Vorlage Ihres Gesetzentwurfesim Vorfeld der heutigen Debatte zeigt wieder einmalganz deutlich, daß Sie die Sache nicht im Griff haben.Sie besetzen Überschriften, ohne inhaltliche Substanzdahinter zu haben – mit anderen Worten: Sie arbeitenschlampig.
Die Ziele, Herr Bundeskanzler, die Sie sich gesetzthaben, werden durch die Regelung, die Sie uns heutehier als Kompromiß verkaufen, nicht erreicht werden.Sie werden kläglich scheitern, und in der nächsten Re-gierungserklärung werden Sie das zugeben müssen.Vielen Dank.
Herr Kollege Niebel,
das war Ihre erste Rede in diesem Parlament. Im Namen
des Hauses gratuliere ich Ihnen sehr herzlich dazu.
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singham-
mer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es mußschon ein großes Maß an Zerstrittenheit in der SPD-Fraktion herrschen,
wenn der Bundeskanzler das Forum einer AktuellenStunde nutzen muß, um Befriedungsarbeit vor allem beiden eigenen Leuten zu leisten.
Weil Sie sich offensichtlich nicht sicher sind und fürch-ten, daß hier auch andere Meinungen vertreten werdenkönnten, dürfen sich die Mitglieder der SPD-Fraktionüberhaupt nicht mehr zu Wort melden.
Statt Klarheit und Berechenbarkeit herrschen bei Ih-rer Reform Unsicherheit und Verwirrung vor. Das kenn-zeichnet geradezu alle Ihre Bemühungen. Das mag janoch angehen, wenn die Verwirrung in Ihren Reihenbliebe. Aber angesichts der Tatsache, daß 3, 4 oder 5Millionen Menschen in diesen Beschäftigungsverhält-nissen sind, deren finanzielle Sicherheit von einer Neu-Dirk Niebel
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regelung entscheidend berührt wird, und angesichts derTatsache, daß dadurch auch zahlreiche Angehörige die-ser Menschen betroffen werden, führen Sie hier einschlimmes Spektakel auf. Mit der Angst dieser Men-schen spielt man nicht.Das, was Sie hier aufführen, ist ein trauriges Schau-spiel in drei Akten: Ich erinnere zunächst einmal an das,was der jetzige Bundeskanzler noch im vergangenenJahr selbst an Vorschlägen zur Neuregelung gebrachthat. Auf dem Innovationskongreß der SPD im Oktober1997 in Dortmund haben Sie, Herr Bundeskanzler, bei-spielsweise vorgeschlagen, diese Jobs auf höchstens 10Prozent in einem Unternehmen zu begrenzen. Der Par-teivorsitzende der SPD schrieb vor Jahresfrist im Infor-mationsdienst der SPD: Ein Weg wird die Befreiung derArbeitnehmer und Arbeitgeber von Sozialversiche-rungsbeiträgen für gering bezahlte Arbeiten sein.In der Regierungserklärung haben Sie die 300-DM-Grenze – das ist der zweite Akt – ins Gespräch gebracht.Heute nun, also bereits nach wenigen Tagen, bringen Sieein völlig neues Konzept, indem Sie erklären, daß diePauschalbesteuerung entfallen, aber dafür eine Sozial-versicherungspflicht eingeführt werden soll. Herr Bun-deskanzler, was kommt als vierter Akt? Was ist dernächste Akt? Darauf sind wir gespannt.
Das, was Sie heute hier vorgestellt haben, bedeutet imKlartext, daß es ein Zwei-Klassen-System von Sozial-versicherungspflichtigen geben wird: die einen, die ein-zahlen und etwas bekommen, die anderen, die nur ein-zahlen und keine Gegenleistung erhalten.
Diejenigen, die sich von ihrem Rentenanspruch etwaserwarten, werden am Schluß enttäuscht sein, weil näm-lich die Höhe dessen, was sie zu erwarten haben, in kei-ner Weise geeignet sein wird, das Existenzminimum ab-zusichern, sondern etwa der Höhe des Betrages entspre-chen wird, für den man sich täglich eine Leberkässem-mel leisten kann.Die Pauschalbesteuerung soll entfallen. Dies aberwird bei Ihrem Modell eben nicht zu mehr Effizienz,sondern zu mehr Bürokratie führen; denn wenn die ge-ringfügigen Einkommen der Sozialversicherungspflichtunterworfen werden, dann müssen diese Beiträge auchverwaltet werden. Das bedeutet letztendlich mehr Büro-kratie und ein neues Feld von Mißbrauchsmöglichkeiten,das Sie hiermit eröffnen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Hand-lungsbedarf besteht bei den 620-DM-Jobs. Aber demHandlungsbedarf können Sie nicht dadurch gerecht wer-den, daß Sie eine Jacke falsch einknöpfen. Sie wissen,wenn Sie eine Jacke falsch einknöpfen, dann müssen Siesie irgendwann einmal ganz von oben her ausknöpfen.Genau das wird mit Ihrem Vorschlag passieren.Wir brauchen eine Reform bezüglich der 620-DM-Jobs, die mehr Beschäftigung bringt, aber keine Reform,die ein Beschäftigungsprogramm für mehr Bürokratiedarstellt.
Das Wort hat der
Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe einmal, daßich den Vorschlag richtig verstanden habe. Er ist ja rela-tiv einfach und schlicht vorgetragen worden.Ich erinnere mich an unseren Wahlkampf, den wiralle miteinander gemacht haben. Da ist uns in jederPodiumsdiskussion von den Kollegen der SPD, der Grü-nen und der PDS gesagt worden: Die 620-DM-Jobs sindein Übel. Sie müssen entschieden bekämpft werden. Ambesten schafft man sie ganz ab. – Damit haben Sie inden Podiumsdiskussionen Zustimmung bekommen. DieMenschen haben gesagt: Jawohl, hier werden Gerech-tigkeit und Verbesserung entwickelt. Das ist etwas. DerMittelstand hat sich gefürchtet. Die Sozialpolitikerhaben sich gefreut, insbesondere Sie, die Sie es vorge-tragen haben.Jetzt wollen wir einmal gucken, was da passiert. Dasmit den 620-DM-Jobs ist also schlecht. Es ist soschlecht, daß man die Bemessungsgrundlage für dieneuen Bundesländer jetzt erhöht, damit sie nicht unge-recht behandelt werden – mit einer schlechten Sache,das muß man sich einmal vorstellen!
Der Mißbrauch soll eingedämmt werden. Es ist keineinziger Ansatz zur Eindämmung des Mißbrauchs er-kennbar, kein einziger!
Es ist keine Eindämmung zu erwarten – nichts, Fehlan-zeige.Soziale Sicherheit für Frauen, damit sie im Alter et-was haben, sollte geschaffen werden.
Absolute Fehlanzeige! Der Arbeitgeber darf zahlen, unddie Frauen kriegen keinen Pfennig.
Bei der Krankenversicherung sollte der Schutz erhöhtwerden. – Null! Ob sie mitversichert sind oder nicht, 10Prozent werden abgeführt. Es ist kein Krankenversiche-rungsschutz zu erwarten.Bei diesen beiden Bereichen sehe ich eine verfas-sungsrechtliche Problematik allererster Ordnung,
denn ich halte es für nicht durchführbar, daß auf DauerBeiträge ohne jede Leistungsäquivalenz, wie das bei denSteuern der Fall ist, in das SozialversicherungssystemJohannes Singhammer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 455
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gezahlt werden. Deswegen gibt es in diesem Punkt eingroßes verfassungsrechtliches Problem.
Die Arbeitslosigkeit ist auch ein Problem. Sie wirdnatürlich nicht – das wußten wir vorher – mit IhrenMaßnahmen gelöst werden. Die Pflegeversicherung,auch ein Problem, kann so ebenfalls nicht gelöst werden.Sieben Ziele, die den Menschen im Wahlkampf verspro-chen wurden, werden absolut verfehlt. Es ist nichts ge-schehen: erst versprochen und dann nichts gehalten, hei-ße Luft, nur heiße Luft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, ich wundere mich über das, was Sie mit sichmachen lassen.
Sie müssen vor Ihre Wähler treten und ihnen sagen: Ent-schuldigung, alles, was wir euch hinsichtlich der 620-Mark-Jobs versprochen haben, tritt nicht ein – Fehl-anzeige.
Bei dieser Operation passiert nichts anderes, als daß die22 Prozent Pauschalsteuer, die bisher die Arbeitgebergezahlt haben, jetzt in zwei Teilen – einmal 12 und ein-mal 10 Prozent; addiert: 22 Prozent – nicht mehr an Os-kar, sondern an Riester überwiesen werden. Nichts ande-res passiert.
Das ist also der Reformansatz für ein zentrales Wahl-kampfthema, mit dem Sie uns bedrängt, bedrückt undbeschimpft haben. Sie sollten sich schämen, daß Sie dasmit sich machen lassen.
Wenn wir so gehandelt hätten und so wenig Kreativesfür die Lösung des Problems getan hätten, würden Sieeine viel bösartigere Rede halten, als ich sie heute halte.
Ich komme noch einmal auf den Bundeskanzler zu-rück: Es wäre besser gewesen, Sie hätten von IhrerRichtlinienkompetenz Gebrauch gemacht und hättenOskar Lafontaine gesagt: Schick dem Riester einenScheck! – Damit wäre alles klar gewesen. Sollten Sieallerdings auf diesem Weg die Grundlage für Ihre Eröff-nungsbilanz verändern wollen, indem Sie sagen, dieseMenschen seien jetzt sozialversicherungspflichtige Be-schäftigte und damit sei die Beurteilungsgrundlage un-genau, dann muß ich Ihnen sagen: Bei diesem Mogel-versuch werden wir Sie stoppen. Damit kommen Sienicht durch. Ihre Politik ist eine Enttäuschung und Fehl-anzeige.
Die vier bis fünf Millionen Menschen, die betroffensind, wurden in Unruhe versetzt. Geboten wurde ihnenwegen der Verschiebung noch nichts. Wissen Sie, war-um? Ein taktisch und strategisch ganz wichtiger Punktist: Nachdem durch die Berichterstattungen in den Zei-tungen und im Fernsehen die Stimmung umgekippt war– Frauen riefen: Laßt uns unsere Verdienste! –, hat dochtatsächlich einer von den Strategen im Kanzleramt er-kannt: Wir haben in wenigen Wochen in Hessen eineLandtagswahl. Wenn wir unser Vorhaben bis zur Wahlin Hessen umsetzen, dann werden etwa 800 000 hessi-sche Wähler von dieser Entwicklung betroffen sein. –Diese Betroffenen hätten Ihnen die Quittung gegeben.Deswegen sind Sie vor der Lösung des Problems in dieKnie gegangen.Wenn auf diese Weise Ihre Reformen fortgesetztwerden sollten, dann wird noch nicht einmal alles an-ders, geschweige denn besser.Herzlichen Dank.
Die Aktuelle Stundeist beendet.
– Das finde ich auch. Ich hätte mich zu diesem Themagerne geäußert, wie Sie sich vorstellen können. Aber ichbin zur Zeit Präsidentin.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatz-punkt 5 auf: 9. Überweisungen im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Einführungsgesetzes zur Insol-
– Drucksache 14/49 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Finanzausschuß ZP5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD,CDU/CSU, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN undF.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Gesetzes über die politischenParteien
– Drucksache 14/41 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungRechtsausschußHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOHartmut Schauerte
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456 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 6auf: 4. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSUWiderstand gegen die Aufhebung des Export-verbots für britisches Rindfleisch durch dieEU-Kommission– Drucksache 14/31 – ZP6 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENWiderstand gegen die Aufhebung des Export-verbots für britisches Rindfleisch durch dieEU-Kommission– Drucksache 14/42 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat Frau Bun-desministerin Andrea Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heutekommen Lebensmittel aus der ganzen Welt auf denTisch der Verbraucherinnen und Verbraucher inDeutschland. Deswegen brauchen wir weitestgehendeSicherheit, daß diese Lebensmittel gesundheitlich unbe-denklich sind. Deshalb hat für mich der Schutz der Bür-gerinnen und Bürger vor den Gefahren beim Verzehrvon Lebensmitteln einen hohen Stellenwert.Nationale Maßnahmen allein können angesichts desgroßen Ausmaßes des internationalen Handels mit Le-bensmitteln den Verbraucherschutz nicht mehr gewähr-leisten. Er kann in einem Europa der offenen Grenzennur im Zusammenwirken von europäischen Institutio-nen, von Bundestag und Bundesrat gestaltet werden. Mirist klar, daß es schwierig sein wird, für diese Politikgleichermaßen in Brüssel wie auch in Bonn stets Zu-stimmung zu finden und diese Auffassung durchzuset-zen.Ich will deutlich machen, von welchen Prinzipien desgesundheitlichen Verbraucherschutzes sich die neueBundesregierung bei ihrer Politik leiten lassen wird. Esist völlig klar – ich bin mir sicher, daß wir hier in diesemHaus in diesem Punkt Konsens haben –, daß es darumgeht, die Sicherung und die Stärkung des gesundheitli-chen Verbraucherschutzes zu gewährleisten.Mein erstes Prinzip dabei lautet, daß der gesundheit-liche Verbraucherschutz, das heißt der Schutz vor Ge-sundheitsgefährdungen durch Lebensmittel in Deutsch-land, im Europa des Binnenmarkts und in Drittländernabsoluten Vorrang vor allen anderen Interessen, vorallen Dingen auch vor wirtschaftlichen Interessen, habenmuß und haben wird.Beim zweiten Prinzip geht es darum, daß der vorbeu-gende gesundheitliche Verbraucherschutz in Deutsch-land verstärkt werden muß und künftig auch in der Eu-ropäischen Union Vorfahrt haben muß: Wir dürfen –auch bei nur denkbaren Gefahren – sowohl mit staatli-chem als auch mit gesellschaftlichem Handeln nichtwarten, bis der letzte wissenschaftliche Beweis einerGesundheitsgefährdung erbracht ist, bis es eventuell zuspät ist und wir es bereits mit kranken oder gar totenVerbraucherinnen und Verbrauchern zu tun haben.
Ich bin mir bewußt: Auch die verantwortlichste Ge-sundheitspolitik wird keine hundertprozentige Sicherheitgarantieren können. Risiken lassen sich selbst bei besterVorsorge nie vollkommen ausschließen. Aber das ent-bindet uns nicht von der Verpflichtung, alles Men-schenmögliche beim vorbeugenden Gesundheitsschutzzu tun.
Wohin eine Politik führt, die den vorbeugenden Ge-sundheitsschutz nicht sehr ernst nimmt, konnten wir amUmgang mit der heute zur Diskussion stehenden BSE-Problematik in Großbritannien lernen. Erst als Fälle ei-ner neuartigen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheitim Frühjahr 1996 in Großbritannien beschrieben wurdenund überhaupt erst ein Zusammenhang mit dem Rinder-wahnsinn BSE hergestellt wurde – denn es gab keineanderen Erklärungen –, hat die Europäische Union die,wie ich meine, richtige Konsequenz gezogen. Erst zehnJahre nach Entdeckung der Rinderseuche BSE wurdevon der Europäischen Kommission ein absolutes Aus-fuhrverbot für britisches Rindfleisch erlassen; drastischeVermarktungsbeschränkungen für Fleisch sowie Maß-nahmen zur Bekämpfung und Beseitigung des Rinder-wahnsinns in Großbritannien wurden eingeleitet. Ichmeine, es darf sich nicht wiederholen, daß damit so lan-ge gewartet wird.
Der dritte Grundsatz, von dem ich mich leiten lassenwerde, ist der Grundsatz der Ehrlichkeit, Offenheitund Transparenz bei der Verbraucherinformation.Denn gerade weil wir uns darauf einstellen müssen, daßes uns nicht immer gelingen wird, die sehr strengendeutschen Vorschriften im Hinblick auf den vorbeugen-den Gesundheitsschutz in der Europäischen Uniondurchzusetzen, brauchen wir eine offene, ehrliche undtransparente Verbraucherinformation, damit die Ver-braucherinnen und Verbraucher auf der Grundlage um-fassender Information darüber entscheiden können, wassie kaufen und welche Produkte sie verzehren wollen.Vor dem Hintergrund dieser von mir soeben skiz-zierten Prinzipien des gesundheitlichen Verbraucher-schutzes möchte ich mich zum Thema der heutigen De-batte äußern.Vizepräsidentin Anke Fuchs
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Der Europäische Rat hat im Zuge der Aufarbeitungder BSE-Problematik im Juni 1996 in Florenz die Be-dingungen definiert, unter denen eine schrittweise Lok-kerung des absoluten Ausfuhrverbots für britischesRindfleisch und andere vom Rind gewonnene Materiali-en ins Auge gefaßt werden kann. Die erste Bedingunglautet, daß die wissenschaftliche Bewertung in den zu-ständigen Gremien der Gemeinschaft vorliegen muß,daß die von Großbritannien jeweils vorgeschlagenenSchritte zur Lockerung des Ausfuhrverbots und die ein-zuhaltenden Anforderungen den gesundheitlichen Ver-braucherschutz nicht beeinträchtigen. Die zweite Bedin-gung ist, daß Sachverständige der Gemeinschaft vor Ortgeprüft haben müssen und weiter überprüfen können,daß die bei der Lockerung des Ausfuhrverbots einzu-haltenden Anforderungen in der Praxis dauerhaft einge-halten werden können und auch eingehalten werden.Der Vorschlag für eine weitere Lockerung des Aus-fuhrverbotes, um den es jetzt geht und der heute hierdebattiert wird, soll am 23./24. November 1998 im EU-Agrarministerrat beraten werden. Er betrifft das Fleischvon Rindern aus ganz Großbritannien, die nach dem1. August 1996 geboren worden sind und die zusätzlichweitere Anforderungen erfüllen müssen. Dieser Vor-schlag wirft aber mit Blick auf die zweite Bedingung,die in Florenz vereinbart wurde, große Fragezeichen auf.Diese Einschätzung wird auch vom Bundeslandwirt-schaftsministerium geteilt.Die Anforderungen, die von Großbritannien bei einerLockerung des Ausfuhrverbotes eingehalten werdenmüssen, sind im Interesse des gesundheitlichen Ver-braucherschutzes außerordentlich komplex. Ich räumeein, daß Großbritannien in den vergangenen Jahren er-hebliche Fortschritte bei der Lösung der BSE-Problematik erzielt hat. Diese Kraftanstrengungen ver-dienen unseren ganzen Respekt.Ich kann mir aber beim besten Willen nicht vorstel-len, daß die in dem Lockerungsvorschlag vorgesehenenAnforderungen im täglichen Routinebetrieb wirklichkonsequent und lückenlos durchgesetzt werden können.Selbst ein absolutes Ausfuhrverbot ist, wie einzelneVorfälle illegaler Ausfuhren britischen Rindfleisches imvergangenen Sommer gezeigt haben, nur schwer durch-setzbar. Jede Lockerung „mit Auflagen“ weckt daherZweifel. Daß diese Zweifel berechtigt sind, hat sichbislang bei der Beratung des Entwurfes für eine Locke-rung des Ausfuhrverbots auf Beamtenebene gezeigt.Die Kommission hat als wichtiges Element zur Siche-rung des Gesundheitsschutzes vorgeschlagen, daß dieAusfuhr von Fleisch von nach dem 1. August 1996 ge-borenen Rindern erst dann aufgenommen werden darf,wenn zuvor alle Rinder dieser Altersgruppe, derenMütter an BSE erkrankt sind, getötet worden sind undderen Fleisch dauerhaft aus der Nahrungsmittelkette ent-fernt worden ist. Dies ist wegen der Möglichkeit derBSE-Übertragung von der Kuh auf das Kalb notwendig.Prüfungen durch Sachverständige der Kommission vorOrt haben aber ergeben, daß diese Anforderung nichthundertprozentig erfüllt werden kann. Selbst die briti-schen Vertreter haben dies im Ständigen Veterinäraus-schuß eingeräumt.Meine Damen und Herren, wenn diese von derKommission selbst aufgestellten Forderungen nicht er-füllt werden können, dann kann die Konsequenz nurheißen, daß der Entwurf von der Europäischen Kommis-sion zurückgezogen werden muß.
Hierüber besteht zwischen dem Bundeslandwirt-schaftsminister und mir völliges Einverständnis.Die vorgesehene Lockerung ist im übrigen so konzi-piert, daß zunächst lediglich die Anforderungen an dieLockerung unter Beteiligung der Mitgliedstaaten be-stimmt werden sollen. Der Zeitpunkt der Lockerungselbst soll dagegen von der Europäischen Kommissionohne förmliche Befassung der Mitgliedstaaten nach ei-ner erneuten Überprüfungsreise festgesetzt werden. Da-mit werden die Mitgliedstaaten auf Gedeih und Verderbder Einschätzung der Europäischen Kommission ausge-liefert. Ich bin deswegen dafür, daß die Lockerung erstdann beschlossen wird, wenn sich die Mitgliedstaatenein Bild davon machen konnten, daß das Ergebnis be-friedigend ist. Eine solch schwerwiegende Entscheidungsollte nicht von der Europäischen Kommission allein,sondern gemeinsam mit den Mitgliedstaaten im Ständi-gen Veterinärausschuß und gegebenenfalls im zuständi-gen Ministerrat getroffen werden.Vor diesem Hintergrund wird sich die Bundesregie-rung dafür einsetzen, daß das gemeinschaftsrechtlicheAusfuhrverbot für britisches Rindfleisch aufrechterhal-ten bleibt. Nur gemeinschaftsrechtliche BSE-Regelungen, bei deren Durchsetzung und Kontrolle dieEuropäische Kommission und alle Mitgliedstaaten ihrenBeitrag leisten, sind im vereinten Binnenmarkt geeignet,den gesundheitlichen Verbraucherschutz wirksam si-cherzustellen.Unabhängig davon muß gegen BSE in der gesamtenEuropäischen Union weiter vorgegangen werden. Einenwichtigen Beitrag hierzu könnte die systematische An-wendung geeigneter Untersuchungsverfahren zurFeststellung von BSE bei geschlachteten Rindern lei-sten. Derartige Verfahren werden derzeit auf Veranlas-sung der Europäischen Kommission evaluiert. Sobaldeine sichere, routinemäßig anwendbare Untersuchungs-methode vorliegt, mit der auch klinisch gesunde – abermit BSE infizierte – Rinder ermittelt werden können,sollte die obligatorische Anwendung dieses Verfahrensim Vereinigten Königreich im Gemeinschaftsrecht ver-ankert werden.
Wir haben Beispiele dafür, daß ein solches systemati-sches Vorgehen erfolgreich ist. Ich nenne die systemati-sche Untersuchung geschlachteter Schweine auf Trichi-nen. Das sollte uns Ansporn sein, in den nächsten Jahrendie Vorbeugung durch eine vorangehende Untersuchungstärker in den Mittelpunkt zu stellen.Ich gehe – nicht zuletzt auf Grund der vorliegendenEntschließungsanträge – davon aus, daß diese Politik derBundesministerin Andrea Fischer
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Bundesregierung die Unterstützung des gesamten Hau-ses findet.
Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Wodarg, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Gele-genheit nutzen, um zu Anfang hervorzuheben, daß wiralle gemeinsame Ziele haben. Wir haben erstens dasZiel, den Gesundheitsschutz der Verbraucherinnen undVerbraucher zu verbessern, und wir haben zweitens dasZiel, die Produktion hochwertiger Lebensmittel bei unsin Deutschland zu sichern. Ich möchte außerdem dieGelegenheit dazu nutzen, etwas über die gegenwärtigeLage zu sagen. Was wissen wir? Was wissen wir nicht?Was ist sicher? Was ist nicht sicher? Denn das mußschließlich die Basis für das Handeln der Bundesregie-rung und für die Stellungnahmen der Bundesregierunggegenüber der Europäischen Kommission und auch ge-genüber Großbritannien sein.Erstens. Der Erreger von BSE ist immer noch nichtidentifiziert. Obwohl inzwischen fast 150 000 regi-strierte BSE-Fälle in Großbritannien bekannt sind, wis-sen wir nicht, wie er aussieht, und dieser Erreger istauch noch nicht nachgewiesen worden. Wir können beiden verstorbenen Tieren lediglich die Krankheitsfolgenfeststellen. Es gibt noch keinen Infektionsnachweis amlebenden Tier, das keine Krankheitszeichen aufweist.Wenn sich das Tier also unauffällig verhält, dann kön-nen wir eine BSE-Infektion nicht nachweisen.Zweitens. Die Inkubationszeit ist sehr lang. Die In-kubationszeit beim Rind beträgt mindestens 20 Monate;im Durchschnitt liegt sie bei 50 Monaten.Drittens – jetzt nenne ich ein sehr wichtiges Fak-tum –: Nur wenige Rinder in Großbritannien werdenälter als 30 Monate. Angesichts der Tatsache, daß dieInkubationszeit so sehr lang ist, bedeutet das, daß selbstbei den Rindern, die infiziert sind, keine Krankheits-symptome beobachtet werden können, weil sie vorhergeschlachtet werden, um dem Verbraucher zur Verfü-gung zu stehen. In Großbritannien sollen Rinder, die äl-ter als 30 Monate werden, getötet werden. Dafür gibt esein Programm; das OTMS-Programm, das Over-Thirty-Months-Slaughter-Programm. Dieses Programm hat da-zu geführt, daß inzwischen 2,5 Millionen Rinder ge-schlachtet und dann zu Tiermehl verarbeitet wordensind, das, bevor es verbrannt wird, zwischengelagertwird. Das ist zur Zeit die Situation in Großbritannien. –Ich hoffe, daß angesichts der Tatsache, daß die Kenn-zeichnung von Tiermehl nur schlecht möglich ist – eswird nicht eingefärbt und kann daher auch leicht miß-braucht und verschoben werden; das ist meiner Meinungnach ein großes Sicherheitsrisiko –, dieses Tiermehl tat-sächlich verbrannt worden ist und auch in Zukunft ver-brannt werden wird.Bei den in diesem Jahr beobachteten 1 600 BSE-Fällen in Großbritannien – so viele sind es bisher et-wa – handelt es sich überwiegend um Rinder, die älterals 30 Monate sind. Natürlich braucht man auch Rinder,die älter als 30 Monate werden, zum Beispiel zuZuchtzwecken. Bei den anderen Rindern – wenn siedenn älter als 30 Monate geworden wären, wären wahr-scheinlich zusätzliche BSE-Fälle zu erwarten gewesen.Sie gehen aber nicht in die Statistik ein. Es ist sehr deut-lich zu sehen, daß mit Einführung dieser Tötungsaktionder Rinder, die älter als 30 Monate sind, sich die Stati-stik plötzlich zum Positiven wendet. Das heißt, es kannsich dabei um einen künstlichen Effekt handeln, der we-nig über die Inzidenz, das heißt die Krankheitshäufig-keit, von BSE in Großbritannien aussagt.
Es gibt eine weitere Unwägsamkeit: Wir wissenletztlich immer noch nicht, wie die Übertragungswegeim Detail aussehen. Was wir wissen, ist, daß das Ver-füttern von Tiermehl ein großes Risiko darstellte. Ichdenke, daß es auf diesem Gebiet noch eine Menge zuforschen gibt.Bei der Forschung, die mit europäischen Mitteln ge-fördert wird, handelt es sich – das ist auch in Deutsch-land so – überwiegend um Prionenforschung. Die For-schung und die dahinterstehenden Geldgeber haben eingroßes Interesse daran, eine Methode zu finden, wieman BSE beim lebenden Tier nachweist. Wem das ge-lingt, der kann damit sehr viel Geld verdienen. DieseForschung ist durchaus nützlich und wichtig, aber sie isteben auch sehr attraktiv. Die epidemiologische For-schung ist dagegen, weil man damit nicht so viel verdie-nen kann, weniger attraktiv. Diese sieht so aus, daß manTiere künstlich infiziert, um festzustellen, auf welcheWeise und wann diese Tiere ihre Infektion auf andereTiere übertragen können.In England hat man versucht, die Frage der materna-len Übertragung zu klären. Es hat dort Testreihen gege-ben, es sind Populationen beobachtet worden. Doch die-se Versuche sind zum Teil viel zu früh abgebrochenworden; ihre Ergebnisse sind immer noch strittig. Esgibt viel zu wenige ernsthafte Versuche, dies zu verifi-zieren, erneut zu überprüfen.Von Scrapie, der entsprechenden Erkrankung beiSchafen, wissen wir, daß eine Übertragung der Krank-heit über den Weidegrund, über die Wiese, auf der dieseSchafe gestanden haben, möglich ist. Dies ist bei Scra-pie unstrittig und steht in den Lehrbüchern. Darüber, wiedas bei BSE aussieht, gibt es keinerlei Forschung. Auchda fehlt die nötige Sicherheit, die wissenschaftlich be-gründet sein muß.Ich mache in diesem Hause noch einmal – ich habedas schon zweimal getan – auf einen weiteren, ganzwichtigen Unsicherheitsfaktor aufmerksam: Neugebore-ne Kälber werden den Mutterkühen meistens wegge-nommen. Nur in wenigen Fällen bleiben die Kälber beiden Muttertieren und trinken deren Milch. Alle anderenKälber bekommen Milchaustauscher. Milchaustau-schern werden verschiedene Zusatzstoffe beigemischt,unter anderem auch tierisches Fett. Noch bis zum vori-Bundesministerin Andrea Fischer
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gen Jahr ist – dies ist unbestritten – auch tierisches Fettaus Tierkörperbeseitigungsanstalten verwendet worden,um es dieser Kälbernahrung zuzumischen. Es kann sehrgut sein, daß die Prionen gerade lipophil sind, das heißt,daß sie besonders in fetthaltigen Substanzen zu findensind. Dieses Risiko ist nicht geklärt. Wenn dem tatsäch-lich so ist, dann ist es verständlich, daß immer noch, wiein diesem Jahr, 1 600 Rinder in Großbritannien erkranktsind, obwohl vorher so viele getötet worden sind.Ich finde, das sind beängstigende Zahlen, die wir zurKenntnis nehmen müssen. Die epidemiologische Situa-tion ist nicht ausreichend untersucht.
Daher müssen wir darauf bestehen, daß das Verbot desExports von Tieren von der Insel weiter aufrechterhaltenbleibt. Das sind wir unseren Verbrauchern schuldig, unddas sind wir auch unseren Landwirten schuldig. Dennallzu leicht verwechseln die Verbraucherinnen und Ver-braucher die Waren und nehmen sich gar nicht die Zeit,sich anzuschauen, woher sie kommen. Wir wollen wei-terhin sagen können: Das Fleisch, was sie bei uns kaufenkönnen, ist sicher. Da kommt nichts Risikobehaftetesaus England über den Kanal.Ich bin froh, daß wir uns hier einig sind – obwohl icheben, als die Ministerin das gleiche vorgeschlagen hat,den Beifall der rechten Seite vermißt habe. Ich freuemich, daß wir einer Meinung sind und wir heute ge-meinsam an die Regierung appellieren, der Aufhebungdes Exportstopps zu widersprechen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der
Kollege Gerhard Scheu, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion un-terstützt die Bundesministerin in ihrer Absicht, die Lok-kerung des Exportverbots abzulehnen.
Die Kommission hat einen Vorschlag unterbreitet, dender Rat annehmen soll. In den Vorbemerkungen zu die-sem Vorschlag heißt es, daß nunmehr wissenschaftlichgesichert von der Möglichkeit maternaler Übertragungenauszugehen ist. Dies verändert die Risikoannahmen, diebisher zugrunde gelegt worden sind, und es verändertauch das Unverdächtigkeitsalter von sechs Monaten; denndie jungen Tiere unter sechs Monate, die maternale Über-tragungen erfahren hatten, sind asymptomatisch infiziert,weil sie die Infektion nicht über Futtermittel erhalten ha-ben. Somit erscheint schon der Parameter „sechs Monate“fragwürdig; denn eine Garantie kann das Vereinigte Kö-nigreich nicht in dem Sinne geben, wie sie in der Erwä-gung unter Punkt 6 formuliert ist:Das Vereinigte Königreich muß gewährleisten, daßdie Muttertiere von zur Ausfuhr freigegebenenRindern zum Zeitpunkt der Schlachtung dieser Tie-re nicht BSE-infiziert waren.Diese Garantie und diese Gewährleistung kann das Ver-einigte Königreich nicht geben. Wie Herr Dr. Wodargschon ausgeführt hat, gibt es keine Möglichkeit, den Er-reger am lebenden Tier festzustellen.Die Kommission führt weiter aus:Mit diesen Maßnahmen wird das Risiko der mate-riellen Übertragung des BSE-Erregers auf ein frei-gegebenes Tier angemessen behandelt.„Angemessen“ heißt hier, daß ein Risiko eingegangenwird. Wenn man dabei noch berücksichtigt, daß es in derWissenschaft nach wie vor definitiv ungeklärt ist, wel-ches Risiko mit Muskelfleisch verbunden ist, dann be-deutet dies, daß die Kommission uns zumutet, ein Risiko– wie quantifiziert es auch sein mag – einzugehen. Daßasymptomatisch infizierte Tiere vorkommen können, istseit eh und je Stand der Wissenschaft und Forschung.Die Frage war wohl immer, ab wann sie infektiös sindund die Krankheit übertragen können.Der nächste Parameter, der vorgeschlagen wird, ist,daß die Tiere, die von einer infizierten Mutter abstam-men und vor oder nach dem 1. August 1996 geborenwurden, getötet werden. Nach wie vor bleiben dieKommission und das Vereinigte Königreich bei demProgramm der selektiven Keulung. Der klinische Ver-dacht, der hinsichtlich des Muttertieres bestehen muß,unterscheidet sich wesentlich vom deutschen tierseu-chenrechtlichen Verdacht. Wenn in einem Bestand einTier an BSE erkrankt ist oder klinische Anzeichen vonBSE zeigt, dann besteht wohl die Vermutung, daß auchandere Tiere dieses Bestandes den Erreger über dasTransportmittel aufgenommen haben könnten. Das führtbei der überwiegenden Zahl der Mitgliedstaaten dazu,daß der gesamte Bestand gekeult wird. Das VereinigteKönigreich wendet diese Methode nach wie vor nichtan, sondern bleibt nach dem Prinzip der minimalisti-schen Risikobegrenzung bei selektiver Keulung bei be-stätigtem BSE-Verdacht oder bei klinischen Anzeichenfür einen Verdacht. Das ist ein anderer Verdachtsbegriffals in unserem Seuchenrecht.Die weitere Zumutung des Vorschlages der Kommis-sion besteht darin, daß diese nach dem 1. August 1996geborenen Tiere aus Risikoherden stammen dürfen;denn anders als gegenüber Nordirland wird nicht vor-ausgesetzt, daß die zur Ausfuhr freigegebenen Tiere ausrisikofreien Herden stammen, in denen nachweislich seitmindestens acht Jahren kein BSE-Fall aufgetreten ist. Eswerden nach diesem Vorschlag Tiere exportiert, die ausRisikoherden stammen können.Der nächste Punkt. Die Vorschläge und Parametersind komplex. Sie setzen eine Vielzahl von Vorschriftenvoraus, die auch beachtet werden müssen. Hier möchteich die Wissenschaftler daran erinnern, daß der FaktorMensch in der Einschätzung, die die Fachwissenschaft-ler der Veterinärwissenschaft haben, wohl anders gese-hen wird, als ihn die Wissenschaft von den angewandtenDr. Wolfgang Wodarg
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Menschenkenntnissen betrachtet, nämlich die Politik.Man muß bei solchen komplexen Vorschriften, die vor-aussetzen, daß es auf der Welt wie in einem wissen-schaftlichen Labor zugeht, prüfen, ob sie in der Realitäthinreichend verläßlich eingehalten werden.Wenn ich mich an die Vorschriften der Kommissionerinnere, die vorsahen, jeweils das Datum zu verändern,dann frage ich, welche Garantie für eine größere Sicher-heit heute gegeben ist. Erinnern Sie sich: Ursprünglichging man davon aus, daß ab Juli 1989 keine futtermit-telbedingten Übertragungen mehr stattfinden könnenund alle Tiere, die nach diesem Datum geboren wurden,exportiert werden könnten. Das war der Stand Juli 1989:Die Gefahr betrifft nur die Rinder, die vor dem18. Juli 1989 geboren wurden.Im Juli 1994 haben wir zur Kenntnis genommen, daßdie Krankheit bei einem Tier auftrat, das nach 1989 ge-boren wurde. Dann wurde die Frist bis zum1. Januar 1991 verlängert.Am 3. November 1994 mußte man zur Kenntnisnehmen, daß bei einem 1991 geborenen Tier – ,,widerjedes Erwarten“ wurde formuliert – BSE aufgetretenwar. Dann wurde die Frist durch Kommissionsentschei-dung auf den 1. Januar 1992 verlegt. In der amtlichenBegründung dazu hieß es damals:Nach dieser Empfehlung hat das britische Verbotder Verfütterung von Wiederkäuertiermehl an Wie-derkäuer wirksam gegriffen. Die Gefahr einerÜbertragbarkeit wird als vernachlässigbar einge-stuft. Damit ist das Risiko, daß der BSE-Erregerüber das Fleisch britischer Tiere, die nach dem1. Januar 1992 geboren wurden, übertragen wird,praktisch ausgeschlossen.Im Juni 1995 mußte die Kommission zur Kenntnisnehmen, daß es bei Tieren, die nach dem 1. Januar 1992geboren worden waren, zu BSE-Erkrankungen gekom-men ist. Konsequent hat man – minimalistisch – dieFrist auf 1992 geborene Tiere ausgedehnt.Im Oktober 1995 schließlich wurden wir unterrichtet,daß es auch bei Tieren mit Geburtsjahrgang 1993 zuBSE-Fällen gekommen war.Immer haben die Aussagen der Wissenschaftler aufder Annahme gefußt, die Vorschriften aus den Gesetz-und Verordnungsblättern würden wie in einem wissen-schaftlichen Labor erfüllt.
Die Beurteilung, ob eine Vorschrift von den Adressatenauch eingehalten wird, und zwar kraft freiwilliger Über-einkunft, ist eine politische Beurteilung. Hierfür sindVeterinärwissenschaftler keine Experten. Deshalb ist derVorschlag, Frau Ministerin, völlig richtig, daß über dieendgültige Freigabe ein parlamentarisch verantwortli-ches Organ, nämlich der Rat, entscheiden muß und nichtdie Kommission.
Ein weiterer Punkt. Bei der Frage, ob man den Exportzulassen kann, möchte ich die Bundesregierung daranerinnern, welche Anforderungen im Hinblick auf Arz-neimittel gelten. Stellen Sie sich bitte einmal vor, ein„british beef“ sei ein Arzneimittel und werde vom Arztverordnet. Wenn die Sicherheitskriterien des BfArM unddes Bundesgesundheitsamtes, die Exponentensumme 20,von der an Unbedenklichkeit angenommen wird, auchfür das ,,british beef“ gelten, muß ich bei Annahme desgünstigen Falles hinsichtlich der Anwendung der Krite-rien für die Arzneimittel sagen, daß höchstens eine Ex-ponentensumme von 19 erreicht wird. Das heißt, wärebritisches Fleisch ein Arzneimittel, wäre es
bedenklich, und es bestünde ein gesetzliches Verkehrs-verbot.Ich komme zum letzten Punkt. Wir hatten bei derKommission und beim Vereinigten Königreich eine Ri-sikoabwehr nach dem Prinzip: Es muß wahrscheinlichsein, daß eine Gefahr eintritt. Der Grad der Wahrschein-lichkeit eröffnet weitgehende Gestaltungsmöglichkeiten.Im WTO-Hormonstreit hingegen ging die Kommissionder Europäischen Gemeinschaften noch davon aus, esgelte das Vorsichtsprinzip. Im Falle wissenschaftlicherUngewißheit muß aber das Prinzip gelten: In dubio prosecuritate.
Daran sollte man die Kommission erinnern, die mit ih-ren Entscheidungen über Leib und Leben von Bürgernder Europäischen Gemeinschaft bestimmt. Daß BSE als„human spongiform encephalopathy“ auf den Menschenübertragbar ist, steht fest.Deutschland ist bislang frei von originärem BSE undfrei von HSE. Das Ziel der CDU/CSU-Fraktion und ih-res Antrages ist: Dabei soll es und muß es bleiben. Des-halb lehnen wir den Vorschlag der Kommission ab.Danke.
Das Wort hat die
Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehrgeehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Uns liegt ein interfraktioneller Antrag, denwir gerne gehabt hätten, leider nicht vor. Vielleicht ge-hört es noch zu den Übungsschritten der frischgebacke-nen Opposition, bei so viel Konsens einmal einen inter-fraktionellen Antrag zu stellen. Auch könnte die Oppo-sition in einem solchen Fall der Regierung – und ebensoumgekehrt – durchaus Beifall spenden.
Gerhard Scheu
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Die neue Bundesregierung bleibt bei ihrem Nein zueiner Aufhebung des Exportverbots für britisches Rind-fleisch. Das Aufflammen der Krankheit in den verschie-denen europäischen Ländern zeigt die Gefahr der schlei-chenden Verbreitung, aber auch die Tatsache, daß dieKontrollen bisher mangelhaft und die durchgeführtenSchutzmaßnahmen halbherzig waren. Die Fehler, diebislang gemacht worden sind, dürfen sich wahrhaftignicht wiederholen.Wir fordern die Bundesregierung auf, die Entwick-lung der BSE-Tests zu beschleunigen. Es stimmt, wasHerr Wodarg gesagt hat: Es ist einerseits wichtig, dieBlut- und Lebendtests zu entwickeln; soweit ich es er-kennen kann, stehen wir auch nahe davor. Andererseitsdürfen die epidemiologischen Untersuchungen nichtvernachlässigt werden. Die Tests müssen so bald wiemöglich in Deutschland und in Europa standard- undroutinemäßig eingeführt werden. Ich unterstütze hierdas, was Andrea Fischer gesagt hat: Es muß zu Routi-neuntersuchungen kommen, wie es im Hinblick auf Tri-chinen bei den Schweinen schon längst der Fall ist.Auch wenn Großbritannien seine Anstrengungen zurBekämpfung von BSE verstärkt hat, was wir durchausanerkennen wollen, gibt es dennoch nichts an den be-schriebenen Problemen zu rütteln. Verbraucherschutzmuß den Vorrang haben, zumal 99,7 Prozent aller be-kanntgewordenen Fälle in Großbritannien aufgetretensind. Gleichwohl gilt auch für Portugal und andere Län-der, in denen BSE-Fälle aufgetreten sind, daß entspre-chende Schutzmaßnahmen angewandt werden müssen.In den letzten zwei Wochen hat es vier neue Fälle inFrankreich, in Belgien und in Portugal gegeben; dieseZahl ist durchaus bedenklich. In Frankreich wurden üb-rigens alle betroffenen Herden geschlachtet – eine Maß-nahme, die, wie ich meine, nicht vom Tisch sein sollte.
Die Rindfleischproduktion muß in Deutschland wiein Europa dem Bedarf an hochwertigem Fleisch ange-paßt werden; wir alle wissen, daß dieser Bedarf wegendes mangelnden Vertrauens der Verbraucher zurückge-gangen ist. Tierhaltung hat sich in Deutschland wie inEuropa zukünftig an den Grundsätzen der artgerechtenTierhaltung zu orientieren. Fälle wie die, über die wirheute reden, dürfen sich nicht wiederholen.Sehr geehrte Damen und Herren, zur aktuellen Dis-kussion: Solange die BSE-Freiheit des Rindfleischs inden Lagerhäusern der EU nicht geklärt ist – in ihnen la-gern ja erhebliche Mengen –, darf dieses Fleisch nicht inden Verkauf gegeben werden, weder in Deutschlandnoch in Europa, noch – im Rahmen der Lebensmittelhil-fe – in der dritten Welt. Das wäre unverantwortlich, undwir können nur darauf hoffen, daß es nicht aus kurz-sichtiger Betrachtungsweise zu einer solchen Handha-bung kommen wird.
Leider können Verbraucher an der Ladentheke im-mer noch nicht erkennen, woher das Fleisch stammt, dassie kaufen möchten. Die Einführung von Herkunftsbe-zeichnungen und Etikettierungen muß beschleunigtwerden. Das ist ebenfalls ein Versäumnis der alten Bun-desregierung. Es gilt, den Verbraucherschutz auch imBereich der Kennzeichnung weiter voranzutreiben.Vielen Dank.
Nun erteile ich dem
Kollegen Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Man kann ja sehr be-friedigt feststellen, daß sich alle Fraktionen gegen dieAufhebung des Exportverbotes von Fleisch von briti-schen Rindern, geboren nach dem 1. August 1996, aus-gesprochen haben. Diese Tatsache sollte für die EU-Kommission sowie für die Mitgliedstaaten, die das Em-bargo aufheben wollen, ein deutlicher Hinweis daraufsein, daß sie ihren verbraucherfeindlichen Kurs korrigie-ren sollten.Vor dem Hintergrund der vielen Ungereimtheiten beider Bekämpfung der Rinderseuche, für die nicht zuletztdie Kommission selbst verantwortlich ist, kann ich dieEU-Kommission nur davor warnen, wieder zu ihrer al-ten Gefälligkeitspolitik zurückzukehren.
Die geplante Aufhebung des Exportverbots ist mit einemvorbeugenden Gesundheits- und Verbraucherschutznicht zu vereinbaren.Im Ständigen Veterinärausschuß der EU, also im ver-antwortlichen Expertengremium für Verbraucherschutz-fragen bei BSE, ist Anfang November keine qualifizierteMehrheit für eine Aufhebung des Embargos zustandegekommen. Eben wegen der wissenschaftlichen Zweifelbesteht meiner Meinung nach auch kein politischerSpielraum, sich in dieser Frage anders zu entscheiden.Viele Fakten sprechen gegen die Aufhebung. InGroßbritannien werden Monat für Monat rund 150 BSE-Fälle registriert. Diese Zahl erfaßt nur die Tiere, die tat-sächlich krank geworden sind, und beinhaltet noch nichtdie Tiere, die automatisch mit notgeschlachtet werden,weil sie in der gleichen Herde waren; insofern muß manunterscheiden. Die Kontrollmaßnahmen in England grei-fen immer noch nicht in der erforderlichen Weise. Ichkann nur das unterstreichen, was die Frau Ministerin unddie Kollegen schon ausgeführt haben: Es ist ein ekla-tanter Fehler, daß dort die Kennzeichnung noch nicht inder Form durchgeführt wird, wie wir sie haben. Vor al-len Dingen ist nicht zu tolerieren und zu akzeptieren,daß nicht nachgewiesen werden kann, ob die Kälber voninfizierten Kühen abstammen oder nicht.Illegale Fleischimporte nach Sachsen, Bayern undNiedersachsen haben die deutsche Öffentlichkeit sehrUlrike Höfken
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verunsichert. Solange wissenschaftlich noch nicht völli-ge Sicherheit besteht, ob der BSE-Erreger nicht dochvom Muttertier auf das Kalb übertragen werden kann,muß dem vorbeugenden Gesundheits- und dem Ver-braucherschutz absoluter Vorrang eingeräumt werden.
Unter diesem Blickwinkel können wir im Falle einerAufhebung des Exportverbotes nun wirklich nicht vonder notwendigen Sicherheit für die deutschen Verbrau-cher ausgehen. Trotz aller Versicherungen der britischenRegierung, der britischen Landwirte und der britischenFleischwirtschaft, die Rinderseuche BSE sei in Groß-britannien ausgerottet, belegt die Statistik der EU-Kommission das genaue Gegenteil: Über 1 500 BSE-Fälle allein im Jahre 1998 sind keine zu vernachlässi-gende Größe. Jeder, der vor dem Hintergrund dieserFakten behauptet, BSE stelle keine Gefährdung für dieVerbraucher mehr dar, ignoriert die Wirklichkeit undgefährdet Menschenleben.
Insgesamt sind 30 Menschen an der durch die Rinder-seuchen verursachten neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorben, davon 29 in Großbritanni-en und einer in Frankreich.
Die in beiden Anträgen aufgeführten Schutzmaßnahmengegen BSE werden von der F.D.P. ausdrücklich unter-stützt.Neben diesen verbraucher- und gesundheitspoliti-schen Aspekten sprechen auch agrarpolitische Gesichts-punkte gegen eine verfrühte Aufhebung. Jede Schlag-zeile über Pannen und kriminelle Machenschaften imZusammenhang mit BSE in Großbritannien führt un-weigerlich zu einem erneuten dramatischen Rückgangdes Fleischkonsums in Deutschland.
Gerade der deutsche Verbraucher reagiert auf Lebens-mittelskandale ausgesprochen sensibel. Auch wenn vonden 175 772 BSE-Fällen nahezu alle – immerhin 99,7Prozent – auf Großbritannien entfielen, bleibt die deut-sche Veredelungswirtschaft von den Nachlässigkeitenund kriminellen Machenschaften, die vor allem in Eng-land stattgefunden haben, nicht verschont.Meine Damen und Herren, wir müssen uns das vor-stellen: Wir sind in der Bundesrepublik Deutschlandauch auf Grund unserer sehr guten gesetzlichen Grund-lage und der korrekten Handlungsweise der Landwirteund der Tiermehlproduzenten – man muß einmal sagen,daß Tiermehl seit eh und je in der BundesrepublikDeutschland unter hohen hygienischen Standards produ-ziert wurde – von dieser Seuche verschont geblieben.
Deutsche Landwirte haben dieses Tiermehl nie an ihreWiederkäuer verfüttert. Trotzdem ist der Markt in seinerGesamtheit stark beeinträchtigt worden. Das hat derdeutschen Landwirtschaft hohe wirtschaftliche Verlustezugefügt. Auch diesen Aspekt muß man in der Debatteerwähnen, obwohl ich noch einmal sehr deutlich zumAusdruck bringen will, daß bei den Maßnahmen, die dieKommission jetzt vorgeschlagen hat, die gesundheitsge-fährdenden Auswirkungen weit überwiegen. Wir bittendaher die Bundesregierung, den Antrag, den die Kom-mission vorgelegt hat, abzulehnen. Ich bedanke mich,daß wir hier auf einer Linie arbeiten.
Ich erteile der Kol-
legin Kersten Naumann, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren Abgeordneten! Als neue Abgeord-nete muß ich sicherlich noch viel über das Parlaments-geschäft im Bundestag lernen. Aber ein großes Problemhabe ich unter anderem mit der Verfahrensweise derRegierungsparteien. Mir ist unbegreiflich, warum demAntrag der CDU/CSU eine Woche später ein in den ent-scheidenden Passagen gleicher Antrag der Regierungs-koalition nachgeschoben werden mußte. Ich kann da-hinter nur taktische Spielchen vermuten, die weder derSache noch den Menschen dienen.Dem Anliegen des CDU/CSU-Antrages werden – daswurde hier schon signalisiert – alle Abgeordneten zu-stimmen. Was sollen da solche formalen Spielchen? Sosieht für mich eine souveräne Regierungsarbeit auf jedenFall nicht aus.
Auch für die PDS gilt: Über allen Entscheidungenmuß der Schutz der Gesundheit der Verbraucher stehen.Zwar ist die Abschätzung des Risikos, das von BSEausgeht, außerordentlich schwierig; denn die Erregerbzw. die Ursachen und die genauen Übertragungswegesind nicht bekannt, und die Übertragbarkeit auf denMenschen ist noch nicht erwiesen. Doch solange dieÜbertragung auf den Menschen nicht ausgeschlossenwerden kann, muß der Eintritt von Teilen BSE-erkrankter Tiere in die Nahrungskette völlig verhindertwerden.
Deshalb wird die PDS den Forderungen des CDU/CSU-Antrages und somit auch den Forderungen des Antragesder Regierungskoalition zustimmen.Allerdings bleiben bei den vorliegenden Anträgenzwei Aspekte ausgeklammert.Erstens. Leider gab es in der letzten Zeit in anderenEU-Staaten wieder mehrere BSE-Fälle, so zum Beispielin Frankreich – 43 Fälle –, in Belgien, besonders aber inPortugal, wo 67 Tiere betroffen waren. Zu fragen wäredeshalb, was getan werden kann, um mit noch größererKonsequenz in allen Ländern gegen die Krankheit vor-Ulrich Heinrich
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zugehen. In einem Exportverbot sehe ich nicht die Lö-sung.Zweitens gehört die Produktion von Tiererzeugnissengenerell auf den Prüfstand. Überschüsse von Rind- undSchweinefleisch überschwemmen den europäischenMarkt. Mit höheren Exporterstattungen übt die EU-Kommission Druck auf die Weltmarktpreise aus. Sin-kende Weltmarktpreise zerstören die Produktion in dennicht konkurrenzfähigen Entwicklungsländern, zu deneninzwischen auch Rußland gehört. Kurz gesagt: Die EU-Agrarpolitik produziert Hunger auf der Welt. Es bestehtdie Gefahr, daß der Schutz von Verbraucherinteressendazu mißbraucht wird, Agrarmärkte zu erobern und zusichern.Die PDS fordert deshalb, in den bevorstehendenWTO-Verhandlungen nicht nur über Umwelt- und Hy-gienestandards zu verhandeln, sondern auch derenDurchsetzung zu regeln.
Diese Standards in den wirtschaftlich schwachen Län-dern einzuführen kostet viel Geld, das diese Ländernicht haben. Im Kampf gegen BSE hat die EU den briti-schen Bauern mit mehreren Millionen DM geholfen. Diegeforderten Standards dürfen nicht zu einem Instrumentder Abschottung der europäischen Märkte werden. DieVerhandlungen über Hygienestandards müssen die Be-reitschaft einschließen, die eigene Entwicklungshilfe aufmindestens 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes zu er-höhen und darüber hinaus den wirtschaftlich schwachenAgrarstaaten gezielte Hilfe für die Modernisierung derProduktion von Agrargütern und für deren Verarbeitungzu gewähren.
Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung wird es miteiner Liberalisierung, für die die reichen Staaten desNordens die Bedingungen formulieren, nicht geben.Statt Liberalisierung brauchen Deutschland und alleLänder stabile Handelsbeziehungen zum gegenseitigenVorteil. Sie brauchen eine stärker regional orientierteProduktion, die es der Landwirtschaft ermöglicht, ihrespezifischen Standortvorteile zu nutzen und damit auchihre umweltschützende Funktion zu erfüllen.
Wer BSE bekämpfen will, muß den Herkunfts-nachweis sichern, was global kaum realisierbar ist. WerAgrarüberschüsse vermeiden will, muß für die Nachfra-ge auf einem bekannten Markt produzieren. In einemSatz gesagt, heißt das: Ein neues europäisches Modellder Agrarproduktion ist dringend erforderlich.
In diesem Sinne greifen die vorliegenden Anträge zukurz. Setzt man sie in Beziehung zu dem engagiertenEinsatz von CDU/CSU und SPD für die Anwendung derGentechnologie in der Landwirtschaft, dann entstehenerhebliche Zweifel hinsichtlich des tatsächlichen Risi-kobewußtseins und des Versprechens, die Gesundheitder Verbraucher zu schützen.Wir mahnen zu einer Versachlichung der BSE-Diskussion; denn ängstliche Verbraucher werden nochweniger Rindfleisch essen und den Werbeslogan derBauern „Unser Rindfleisch ist sicher!“ ignorieren. Unse-re Zustimmung zu den Anträgen der CDU/CSU und derRegierungskoalition verbinden wir mit der Forderungnach politischer Ehrlichkeit und keinen politischenPlänkeleien.Danke schön.
Das Wort hat die
Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKollegen! Liebe Kolleginnen! Nur Insider bringen mitder Abkürzung BSE die medizinische Krankheitsbe-zeichnung „bovine spongioforme Enzephalopathie“ inVerbindung. Otto Normalverbraucher würde dafür sehrschnell ein anderer Ausdruck einfallen: besondersschreckliches Ereignis! Der Volksmund bezeichnet dieseKrankheit mit dem Wort „Rinderwahnsinn“. Das Sün-denregister der BSE-Problematik ist sowohl in seinerzeitlichen Ausdehnung wie auch in der großen Anzahlder falschen politischen Entscheidungen, insbesonderezu Beginn dieses besonderen schrecklichen Ereignisses,kaum zu übertreffen.
Wir erinneren uns: Vor mehr als einem Dutzend vonJahren, genau: 1985, traten die ersten Fälle des Rinder-wahnsinns in Großbritannien auf. Schon ein Jahr späterkonnte der Nachweis geführt werden, daß die Verfütte-rung von verseuchtem Tiermehl die Krankheitsursacheist. An Scrapie verendete Schafe wurden zu Tiermehlverarbeitet. Dabei ist eine falsche thermische Behand-lung vorgenommen worden. Bei dieser thermischen Be-handlung, in der Eiweißverbindungen nur unvollständiginaktiviert wurden, hat sich der Scrapieerreger einerWandlung unterzogen, die ihn befähigte, die Artenbar-riere zu überspringen. Damit war nicht mehr ausge-schlossen, daß auch Menschen von diesem Erreger infi-ziert werden, insbesondere dann, wenn sie rohes odernicht gut gegartes oder durchgebratenes Rindfleisch es-sen. In der Humanmedizin wird diese Krankheit alsCreutzfeldt-Jakob-Syndrom bezeichnet.Lasche Bekämpfungs- und Überwachungspraktikensowohl auf nationaler wie auch auf EU-Ebene habenBSE damit zu einer Bedrohung im Rindfleischbereichvon europäischem Ausmaß wachsen lassen, die ihrenHöhepunkt in den Jahren 1996 und 1997 erreichte.Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Schweiz undin den letzten Tagen auch Portugal haben BSE-Erkrankungen bei im eigenen Land geborenen Kälbernfestgestellt und die Herden ausgemerzt. Bis heute gibtes noch keine sichere Antwort, ob diese lokale Maß-nahme ausreicht, das Auftreten von neuen Fällen zuverhindern.Kersten Naumann
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Erst spät hat die Bundesregierung Mitte der90er Jahre auf die zunehmenden Fälle der BSE-Seuchereagiert.
Es waren die Agrar- und Gesundheitsminister der SPD-regierten Länder unter der Federführung von Frau Ge-sundheitsministerin Martini in Rheinland-Pfalz sowiedie SPD-Opposition im Deutschen Bundestag, die dieBundesregierung im wahrsten Sinne des Wortes ersteinmal zum Jagen haben tragen müssen.
Erst danach hat Gesundheitsminister Seehofer dienotwendigen Dringlichkeitsverordnungen erlassen, dieeinen ordnungsgemäßen Verbraucherschutz gewährlei-steten.
Eine Keulungsaktion gegen alle Rinder britischen Ur-sprungs in Deutschland mit Zahlung von Entschädigun-gen an die betroffenen Tierhalter, angeordnet durch dendamaligen Bundeslandwirtschaftsminister, hat Deutsch-land bisher seinen Status als BSE-freies Land erhalten.Der Verbraucher hat auf die seit 1991 verstärkt er-folgten Presseveröffentlichungen in seiner Weise mitKonsumverzicht reagiert. Noch heute hat der Rind-fleischverzehr nicht den Stand des Jahres 1990 erreicht,als die ersten Alarmzeichen von BSE bekanntgewordensind.Wenngleich die Fachexperten den Rückgang desRindfleischverzehrs auf Grund der BSE-Problematiknicht in Tonnen quantifizieren können, so sind doch alleder einhelligen Meinung, daß dadurch die Abnahme desRindfleischverbrauchs in der Europäischen Union be-schleunigt wurde. Die Rindfleischproduktion der BSE-freien Mitgliedstaaten, zu denen auch die Bundesrepu-blik gehört, wurde ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen.Die Spezialbetriebe der Bullenmast und der Fleischrin-derhaltung bedurften zahlreicher Stützungsmaßnahmendurch die Europäische Union, aber auch der nationalenParlamente, damit sie die Durststrecken des Rind-fleischabsatzes, nachdem der Markt mehrmals zusam-mengebrochen war, überstehen konnten.Wenngleich die Statistiken der letzten Jahre uns zei-gen, daß die Zahlen der Erkrankungen EU-weit jährlichzurückgehen, so machen auch die Neuerkrankungen inanderen europäischen Mitgliedstaaten, wie jetzt in Por-tugal, deutlich, daß ein definitives Ende des Seuchenzu-ges noch nicht absehbar ist.Vor diesem Hintergrund ist eine Aufhebung des Ex-portverbotes für britisches Rindfleisch aus deutscherSicht nicht zu verantworten. Der letzte monatliche Be-richt der britischen Regierung an die EU-Kommissionführt für das Jahr 1998 bis Ende September 1 619 neuregistrierte Fälle an BSE-Erkrankungen auf. Gleichzeitigweist dieser Bericht auf insgesamt 29 bestätigte oderwahrscheinliche Creutzfeldt-Jakob-Erkrankungen derneuen Variante hin.Mehrere Faktoren erschweren damit auch heute nochdie Bekämpfung der BSE außerordentlich: Das sind er-stens die lange Inkubationszeit der Krankheit von derAnsteckung bis zum Ausbruch von vier bis fünf Jahrenund darüber, zweitens die wahrscheinlichen maternalenEffekte, drittens die schwierige Bestimmungsmethodikam lebenden Tier, da der bisherige Nachweis nur durchdie Sezierung von Gehirn und Rückenmark möglich ist,und viertens die Verstöße in einzelnen Mitgliedstaatengegen die Kennzeichnung und Deklarierung von Fleischund Risikomaterial.
Der bereits zitierte britische Bericht gibt auch Hin-weise auf falsche Tierpässe und nicht vorgenommeneKennzeichnungen von Risikomaterialien. Zu den letz-teren gehören zum Beispiel Schädel mit Gehirn,Lymphgewebe und Knochen. So positiv die Kontroll-dichte der britischen Behörden zu bewerten ist, so nega-tiv müssen aber auch Verstöße gegen die Kennzeich-nungsrichtlinien der EU im Mutterland der BSE gesehenwerden.Die Bundestagsfraktion der SPD wird daher die Bun-desregierung und besonders den Bundeslandwirt-schaftsminister in seinem Veto gegen die Aufhebung desExportverbotes für britisches Rindfleisch unterstützen.
Wir halten es für erforderlich, die wissenschaftlicheEntwicklung von einfachen Bestimmmungsmethodender Krankheit am lebenden Tier finanziell zu unterstüt-zen und auf EU-Ebene zu koordinieren. Es ist ein Ver-säumnis der EU, daß trotz dieser bekannten Problematikdie wissenschaftlichen Bemühungen nicht verstärktwurden, um bei einer solch langen Inkubationszeit dieErkennungsdiagnostik zu verbessern.Es ist für mich unverständlich, weshalb die EU-Kommission, die durch ihre lasche Handlungsweisekurz vor der Entlassung durch das Europäische Parla-ment stand, bis heute keine nennenswerten Erfolgeaußerhalb der strikten Kontrolle vorweisen kann. Es hatden Anschein, daß sie das Problem eher aussitzen willund darauf hofft, daß es bei den Fleischkonsumenten inVergessenheit gerät. Solange jedoch die Infektionskettenicht unterbrochen wird und die Neuerkrankungen nichtauf Null zurückgegangen sind, kann ein Exportverbotnicht aufgehoben werden.
Das berühmte „Landgraf, bleibe hart“ gilt für den Bun-deslandwirtschaftsminister ganz besonders in dieserFrage. Die Koalitionsfraktionen des Deutschen Bundes-tages werden ihn dabei unterstützen.
Das Wort hat derKollege Wilhelm Dietzel, CDU/CSU-Fraktion.Jella Teuchner
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Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Verbraucherschutzhat höchste Priorität, und vorbeugender Gesundheits-schutz ist ein hohes Gut. Meine Damen und Herren, dassehen wir von der CDU/CSU so, das sehen die deut-schen Landwirte so, und ich freue mich, daß alle Frak-tionen des Deutschen Bundestages dies ebenso sehenund daß wir einheitlich gegen das vorgehen können, wasdiesen Tatsachen widerspricht.Um so unverständlicher ist es, daß der Ständige Vete-rinärausschuß der EU den Exportstopp gegen englischesRindfleisch mit acht zu fünf Stimmen bei zwei Stimm-enthaltungen aufheben will. In der Begründung heißt es,daß hier nicht politisch, sondern wissenschaftlich ent-schieden werden soll. Diese Begründung ist eigentlichrichtig, aber sie ist doch gerade in diesem Fall doch zu-mindest anzuzweifeln. Denn es soll entbeintes Fleischvon Tieren, die nach dem 1. August 1996 geboren wor-den sind, exportiert werden können. So meint es derStändige Veterinärausschuß.Wenn ich sehe, daß allein in Großbritannien 19974 334 Tiere an BSE erkrankten und bis zum 13. Okto-ber dieses Jahres 1 435 neue Fälle aufgetreten sind,dann meine ich, daß wir dem so nicht folgen können.Wenn ich weiterhin sehe, daß die maternale Übertra-gung, die Übertragung von der Mutterkuh auf dasKalb, zumindest nicht ausgeschlossen werden kann,dann frage ich mich, wer diesen Satz, daß eine Ausfuhrmöglich ist, geschrieben hat. Ich will den Text hierzitieren:„Ferner muß durch amtliche Kontrolle bestätigtwerden, daß die Muttertiere nicht an BSE erkranktwaren und die Geburt wenigstens sechs Monateüberlebt haben.“Meine Damen und Herren, als ich diesen Satz gelesenhabe, fand ich ihn doch etwas makaber, und zwar vorallem deshalb, weil wir inzwischen wissen, daß in derSchweiz und auch in Großbritannien je Jahrgang 200 bis300 Tiere an BSE erkrankt sind, äußerlich aber nicht er-kennbar war, daß sie erkrankt waren.In Deutschland ist BSE ein sehr sensibles Thema. Alsim März 1996 das Gutachten des englischen Sozialmini-sters auf den Tisch kam, in dem es hieß, daß es möglichist, daß diese Krankheit auf den Menschen übertragenwird, gab es in Deutschland eine heftige Diskussion. Bisdahin hatten wir in Deutschland vier Tiere, die an BSEerkrankt waren. Alle vier Tiere wurden importiert, allevier Tiere hatten die Krankheit mitgebracht, und allevier Tiere wurden entsorgt, ohne daß ein Verbrauchermit ihnen in Verbindung kam. Sie wurden geschlachtetund verbrannt.Dies hat in Verbindung mit der Diskussion dazu ge-führt, daß wir in der Landwirtschaft bei Rindfleisch ei-nen Einbruch von 30 Prozent hatten. Zur gleichen Zeitgab es in Großbritannien insgesamt 160 000 Fälle BSE-erkrankter Tiere. Das hat dazu geführt, daß in Großbri-tannien der Umsatz an Rindfleisch um 3 Prozent nachoben gegangen ist unter dem Motto: So billig war Rind-fleisch noch nie!Meine Damen und Herren, sicherlich gibt es hier einegewisse Hysterie, die auch von Medien geschürt wur-de. Und die Überschrift einer großen deutschen Illu-strierten „Unser tägliches Gift gib uns heute“ trägtnicht dazu bei, daß Verbraucher über dieses Problemaufgeklärt werden. Trotzdem meine ich, daß es eine derwichtigsten Aufgaben ist – auch für mich als Bauer –,das Vertrauen der Verbraucher wiederzugewinnen. Wirbieten an: „Schwein von hier“ oder „Rind von hier“und versuchen, dem Verbraucher zu zeigen, wo dieTiere herkommen. Ich glaube, daß die Landwirte inEuropa, vor allen Dingen hier in Deutschland, starkunter diesem Preiseinbruch gelitten haben, der Mil-liardenverluste für deutsche und europäische Bauerngebracht hat, der den einen oder anderen Bullenmästerin den Ruin getrieben hat. Ich selbst weiß – ich habeetwa 120 Rinder in meinem Stall stehen –, wie diePreisentwicklung in diesen Bereichen war, daß esfatale Einbrüche auf diesem Markt gab, die von unsausgehalten werden mußten.Meine Damen und Herren, ich darf mich hier bei Ex-Minister Jochen Borchert bedanken, der hier konsequentgegengehalten hat, im Interesse der Bauern und der Ver-braucher.
Er hat bei der Europäischen Union mit das Exportverbotfür Rindfleisch aus Großbritannien und ein Programmzur Tilgung von BSE in Europa durchgesetzt. Die Her-stellung von Fleischmehl wurde auf dem hohen deut-schen Niveau standardisiert, durch Herauskauf wurdendie Preise gestützt, und durch Werbemaßnahmen inDeutschland und innerhalb der Europäischen Unionwurde der Absatz wieder angekurbelt.Ich denke, wir haben durch Minister Borchert auch mitauf den Weg gebracht, daß in Zukunft die Herkunftlückenlos nachweisbar ist. Denn der Verbraucher hierwird erst dann wieder langfristig Vertrauen zu Rind-fleisch haben, wenn er weiß, wenn er vor der Ladenthe-ke steht, wo das Rind geschlachtet wurde, wo es gemä-stet wurde, wo es aufgezogen und geboren wurde. Dasschafft Vertrauen. Deswegen ist zum 1. Januar 1998 inder Bundesrepublik Deutschland der Tierpaß eingeführtworden, der in einigen Bundesländern schon im Jahre1995 eingeführt wurde. Ich denke, daß das der richtigeWeg war. So schaffen wir bis zum Jahre 2000 eine zen-trale Datenbank, mit deren Hilfe wir, wenn es Proble-me gibt, diese Tiere finden können.Das Rindfleischetikettierungsgesetz, das durchausheftig diskutiert wurde und im Augenblick noch auffreiwilliger Basis umgesetzt werden kann, aber ab dem1. Januar 2000 obligatorisch gelten soll,
trägt sicherlich mit dazu bei, daß der Verbraucher selbstentscheiden kann, welches Rindfleisch er haben will. Erkann nämlich an Hand dieser Rindfleischetikettierungerkennen, woher dieses Rindfleisch kommt, also ob essich zum Beispiel um deutsches Rindfleisch handeltoder ob es aus anderen Ländern – hoffentlich nicht ausGroßbritannien – kommt.
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Auffallend ist, daß bei dieser Frage in der gesamtenPolitik – auch innerhalb der Europäischen Union – of-fensichtlich mit zweierlei Maß gemessen wird. Auf dereinen Seite ist Portugal ein Exportverbot von Rind-fleisch auferlegt worden. Das finde ich richtig, weil derSchlendrian, der gerade in diesem Land eingerissen ist,meiner Meinung nach auch geahndet werden sollte. Aufder anderen Seite erkrankten in Portugal in diesem Jahr66 Tiere und in Großbritannien 1 400 Tiere an BSE.Deshalb verstehe ich nicht so ganz, daß der Exportstopp,der über Portugal verhängt wurde, für Großbritannienaufgehoben werden soll.
Meine Damen und Herren, Herr Minister Funke, ichhoffe, daß Sie beim Agrarrat am 23. und 24. Novembermit aller Macht und mit vollem Gewicht für die deut-schen Verbraucher und für die deutschen Landwirteeintreten, damit über uns nicht wieder eine kata-strophale Talfahrt der Preise, die durch Fehlverhal-ten anderer hervorgerufen wurde, hereinbricht. Ich wün-sche Ihnen Erfolg und auch das notwendige Durchset-zungsvermögen, denn nationale Lösungen sind meinerMeinung nach nicht so hilfreich wie EG-weite Entschei-dungen. Deutsche Verbraucher wollen kein Hormon-fleisch und auch kein BSE-Fleisch. Der deutsche Ver-braucher hat recht.
Deswegen hat die CDU/CSU-Fraktion diesen Antrageingebracht. Unser Antrag, Frau Höfken, vom 11. No-vember 1998 erlebte eine wundersame Kopie: Alle vierPunkte tauchen fast wortgleich im Antrag von SPD undGrünen vom 17. November wieder auf. Deswegen bitteich Sie, meine Damen und Herren, dem CDU/CSU-Antrag zuzustimmen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aus-
sprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU zum Widerstand gegen die Auf-
hebung des Exportverbots für britisches Rindfleisch auf
Drucksache 14/31. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Damit ist der An-
trag mit den Stimmen der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS abgelehnt.
Nunmehr folgt die Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zum Widerstand gegen die Aufhebung des Export-
verbots für britisches Rindfleisch durch die EU-
Kommission auf Drucksache 14/42. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Antrag zustimmen, um das Handzeichen. –
Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der Fraktionen der SPD, des Bündnisses
90/Die Grünen, der F.D.P. und der PDS sowie einigen
Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen
Staatssekretäre
– Drucksache 14/30 –
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– Ja, das Kabinett ist kleiner. Hier haben wir uns gegen-seitig nichts vorzuwerfen.
Von der Qualität will ich gar nicht reden. Zahlen sindSchall und Rauch. Sie wissen, daß wir weniger Regie-rungspersonal haben als Sie. Schauen Sie sich an, wasSie an Regierungspersonal bestellt haben und was dieneue Koalition bestellt hat. Von daher haben die Haus-hälter keinen Grund, die Stirn zu runzeln. Sie haben alsjemand, der im Glashaus sitzt, wirklich keinen Grund,einen Stein auch nur anzufassen, geschweige denn zuwerfen.
Meine Damen und Herren, bisher war es Praxis, daßdie Parlamentarischen Staatssekretäre aus den Reihendes Bundestages bestimmt worden sind. So steht es imGesetz, und so ist es bisher gehandhabt worden. Es gibtaber keinen Grund, nicht auch Personen mit den Aufga-ben eines Parlamentarischen Staatssekretärs zu betrauen,die nicht oder noch nicht Mitglied des Bundestagessind. Wir wollen dem Bundeskanzler die Möglichkeitund den Spielraum geben, ins Kanzleramt auch Persön-lichkeiten zu berufen, die dem Parlament nicht odernoch nicht angehören. Sie wissen, wie sich die Verhält-nisse inzwischen weiterentwickelt haben. Sie wissen,wie die Aufgabenspektren gewachsen sind.Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt undnotwendig, dem Bundeskanzler hier mehr Handlungs-spielraum zu geben. Diesen Handlungsspielraum wollenwir ihm mit dieser Gesetzesänderung verschaffen.
Meine Damen und Herren, Sie wissen auch, daß einerster konkreter Fall zur Entscheidung ansteht. AlleSeiten des Hauses haben den neuen Beauftragten derBundesregierung für Kultur mit großem Beifall be-dacht. Alle haben seine Aufgabe für richtig und wichtiggehalten.
Jetzt geht es darum, daß wir auch die institutionelleVerankerung dieser Persönlichkeit im Parlament richtigvornehmen.
Dazu gehört die Berufung in das Amt eines Parla-mentarischen Staatssekretärs. Wenn wir es so gemachthätten, wie die alte Koalition es getan hat, so hätten wirschlicht einen neuen Minister bestellt. Das war bei Ihnendie Praxis. Sie hätten einen zusätzlichen Bundesministerberufen und hätten die Probleme, die wir jetzt mit die-sem Gesetz lösen wollen, gar nicht gehabt. Sie wissenaber genauso gut wie wir, daß wir im Kulturbereich mitRücksicht auf die Länder,
mit Rücksicht auf den Föderalismus zurückhaltend imSinne eines kooperativen Föderalismus vorgehen müs-sen. Die Rede des Beauftragten war in dieser Hinsichtsehr wohltuend, weil er gesagt hat, daß die Kulturhoheitder Länder eben nicht tangiert wird, sondern daß nurAufgaben erfüllt werden sollen, die die Länder nicht al-leine bewältigen können. In Sachen Kulturhoheitbraucht mir als Bayer keiner Nachhilfeunterricht zu ge-ben.
Es geht eben nicht darum, einfach einen Bundesmini-ster, so wie Sie es getan hätten, zu bestellen. Wir wollenvielmehr dem neuen Beauftragten mit der Berufung zumParlamentarischen Staatssekretär die Möglichkeit eröff-nen, daß er Staatsminister werden kann und daß er diezunehmenden europäischen und internationalen Ver-pflichtungen angemessen erfüllen kann. Ich wäre HerrnKinkel sehr dankbar, wenn er seiner Fraktion beibringenwürde:
Es ist notwendig – gerade in bezug auf die neue Me-dienpolitik –, daß derjenige, der mit unserer Zustim-mung die neue Aufgabe erfüllen soll, den Titel und dieprotokollarische Stellung hat, die es ihm ermöglichen,daß er seine Aufgaben in unser aller Interesse erfüllt.
Liebe Kollegen aus Oberbayern, Sie müssen zurKenntnis nehmen, daß wir nicht mehr in Krähwinkel le-ben. Es genügt nicht mehr, sich allein im GroßraumMünchen aufzuhalten, sondern der Beauftragte für Kul-tur muß seine Aufgaben europa- und weltweit erfüllenkönnen.
– Wir Oberpfälzer sind offenkundig viel weiter als Sie.Das sieht man daran, daß ich die Internationalität in die-sem Bereich unterstütze.
Wir wollen, daß er seine Aufgabe international ange-messen erfüllen kann.Jürgen Koppelin
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Schauen Sie sich einmal an, was allein im Urheber-recht an internationalen Aufgaben auf ihn zukommt undwas im Bereich des Internets durch internationale Ver-handlungen zu klären ist! Wenn Sie die Medienpolitik inihrer vollen Breite und im Rahmen unserer kulturpoliti-schen Diskussionen betrachten, die europa- und weltweitund nicht nur in Krähwinkel stattfinden sollen, dann er-kennen Sie, daß es notwendig ist, daß der Beauftragtefür Kultur mit der notwendigen Statur und Titulatur fürunser Land auftreten kann.
Statt hier herumzumäkeln, sollten Sie uns dabei hel-fen, daß er die vom Parlament angenommene Aufgabe– auch auf Ihrer Seite ist die Art, wie er sich vorgestellthat, gerühmt und bejubelt worden; einen solchen Kandi-daten hatten Sie all die Jahre nie aufzubieten – erfüllenkann.
Vor diesem Hintergrund müssen Sie auch den zwei-ten Schritt tun. Wir haben A gesagt; jetzt müssen wirauch B sagen. Ich bitte um Ihre Zustimmung.Vielen Dank.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Hartmut Koschyk.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Sitzung des14. Deutschen Bundestages am 12. November hat dieamtierende Vizepräsidentin dem Beauftragten der Bun-desregierung für Kunst, Kultur und Medien, MichaelNaumann, das Wort erteilt. In der zweiten Sitzung desneu gebildeten Bundestagsausschusses für Kultur undMedien am gestrigen Tage stand ein Bericht des Beauf-tragten der Bundesregierung für kulturelle Angelegen-heiten und Medien auf der Tagesordnung. Beide Vor-gänge zeigen, wie absurd und überflüssig der heute inerster Lesung zu beratende Gesetzentwurf der Fraktio-nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderungdes Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamen-tarischen Staatssekretäre ist.
Alleiniger Zweck dieses Gesetzes ist, daß dem imOrganisationserlaß von Bundeskanzler Schröder ge-nannten Beauftragten der Bundesregierung für Angele-genheit der Kultur und Medien der schmückende Titeleines Staatsministers im Bundeskanzleramt verliehenwerden kann.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, esist ja bezeichnend, daß die Kolleginnen und Kollegenvom Bündnis 90/Die Grünen Ihren Gesetzentwurf zwarmittragen, aber bei Ihrer Einlassung, Herr Stiegler, nichtgeklatscht haben und die Aufregung, die jetzt bei mei-nem Redebeitrag in Ihren Reihen herrscht, nicht teilen.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, Sie müssen natürlich zur Kenntnis nehmen,daß durch die deutsche Medienlandschaft bereits derBegriff „Lex Naumann“ geistert.
Friedrich Karl Fromme hat in der „Welt am Sonntag“vom 15. November dieses Jahres diesen Skandal in dietreffenden Worte gekleidet: „Was nicht paßt, wird ange-paßt.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitions-fraktionen, mich erinnert dieser Vorgang an den schönenbayerischen Satz: Wollen haben wir schon gekonnt, aberdürfen haben wir uns nicht getraut.
Mitglied des Deutschen Bundestages konnte oderwollte Herr Naumann nicht werden. Für die Ernennungzum Bundesminister – Herr Stiegler, das haben wir ge-rade von Ihnen gehört – fehlte der rotgrünen Regierungaber die Courage, weil man seitens der SPD-Mehrheitim Bundesrat Zoff befürchtete. Denn ein Bundesministerin diesem Bereich steht natürlich nicht mit der beschwo-renen Wahrung der Kulturhoheit der Länder in Ein-klang.
– Lieber Herr Stiegler, da irren Sie. Es wird nicht derBundesbeauftragte oder, wenn Sie den Gesetzentwurfhier durchpeitschen, der Staatssekretär Naumann sein,der die Bundesrepublik Deutschland in kulturellen Be-langen auf EU-Ebene vertritt, sondern gemäß LindauerAbkommen und Briefwechsel der Vertreter der KMK.
Der Titel eines Beauftragten reicht also nicht, und dieErnennung zum Bundesminister geht nicht.
Im schönen alten Österreich gibt es den Spruch: Einschöner Titel möcht's schon sein. Deshalb muß jetzt die-ser Kunstgriff vorgenommen werden, um Herrn Nau-mann zum Staatsminister zu machen.Ich war sowohl bei Ihrem Redebeitrag, Herr Nau-mann, den Sie letzte Woche hier im Plenum gehaltenLudwig Stiegler
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haben, als auch bei Ihrer gestrigen Vorstellung im Aus-schuß für Kultur und neue Medien dabei. Ich habe Ihnenaufmerksam zugehört. Herr Naumann, ich hatte denEindruck – das will ich ganz ehrlich sagen –: Es ist nichtder Titel, der Ihnen Probleme macht, sondern es sind dieMittel, angefangen von der – wie Sie uns gestern imAusschuß berichtet haben – völlig unzureichenden Bü-roinfrastruktur – es ist wirklich bedauerlich, mit welchenDingen Sie sich abzuplagen haben, um mit Ihrer Arbeitin die Gänge zu kommen – bis hin zu der Frage, wieviele Mittel aus welchen Ressorts der neue Kulturbeauf-tragte letztendlich zu verwalten haben wird.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion jedenfalls wirdeiner Lex Naumann nicht zustimmen. Es ist eine Zu-mutung der rotgrünen Bundesregierung und der rotgrü-nen Koalition, dem Deutschen Bundestag die Zustim-mung zu einem Einzelfallgesetz abzuverlangen, das demeinzigen Zweck dient, eine fragwürdige Zusage vonBundeskanzler Schröder zu erfüllen. Es ist Sache derrotgrünen Bundesregierung und der rotgrünen Koalition,wie sie mit dem schon gebrochenen Wahlkampfverspre-chen einer deutlichen Verkleinerung der Bundesregie-rung zurechtkommen und gleichzeitig in einem bislangnie gekannten Ausmaß Beamte wegen eines fehlendenoder nicht genehmen Parteibuchs entlassen oder verset-zen.
Wir alle haben noch die vollmundige Ankündigungdes damaligen Fraktionsvorsitzenden und jetzigen Ver-teidigungsministers Scharping im Ohr, der noch imSommer dieses Jahres die Absicht von Gerhard Schröderbegrüßte – ich zitiere –, „die künftige Bundesregierungdeutlich zu verkleinern“, und dies als „ein Signal für ef-fiziente Regierungsarbeit, für einen sorgfältigen Um-gang mit Steuergeldern und für eine Absage an jede Artvon Vetternwirtschaft“ bezeichnete. Was ist aus dieservollmundigen Ankündigung von Herrn Scharping ge-worden,
wenn man Ihre Regierungsbildung, Ihre Entlassungs-und Versetzungspraxis sowie den Coup, Herrn Naumannzum Staatsminister zu machen und nur für ihn ein Ge-setz zu ändern, betrachtet?
Sie sollten sich wirklich noch einmal überlegen, obSie dem Deutschen Bundestag die Änderung dieses Ge-setzes zumuten wollen,
ob Sie also an diesem abstrusen Gesetzentwurf festhal-ten wollen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie dasdurchziehen, dann sichern Sie zwar Herrn Naumannnicht einen Platz am Kabinettstisch von Herrn Schröder– Sie kennen die Situation noch immer nicht –, aber ei-nen Platz im Kuriositätenkabinett deutscher Rechtsge-schichte.
In der Aussprache zur Regierungserklärung des Bun-deskanzlers hat die CDU/CSU-Fraktion klar zum Aus-druck gebracht, daß sie an der beabsichtigten und vonder neuen Bundesregierung teilweise vollzogenen Neu-ordnung der Organisation der Bundesregierung im Kul-turbereich kritisch-konstruktiv mitarbeiten wird. Dieshaben wir auch gestern in der ersten Aussprache im zu-ständigen Ausschuß gegenüber Herrn Naumann zumAusdruck gebracht.Mit diesem Gesetzentwurf – das belegt die Kommen-tierung in den Medien – erweisen Sie der Kulturpolitikdes Bundes und dem dafür vom Bundeskanzler Be-auftragten einen Bärendienst, ja, Sie geben ihn ein Stückder Lächerlichkeit preis.Wir fordern Sie auf, noch einmal in sich zu gehenund den Gesetzentwurf zurückzuziehen. Wir würdenauch mit einem Beauftragten des Herrn Bundeskanzlersfür Kultur und Medien – ohne Titel, aber mit den ent-sprechenden Mitteln – kritisch-konstruktiv als Opposi-tion zusammenarbeiten.
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin
Ekin Deligöz.
HerrPräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DieFraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt die Ein-richtung des Amtes eines Beauftragten für Kultur imKanzleramt.
Die Kulturpolitik ist ein wichtiger Bestandteil derKoalitionsvereinbarung. Die Stelle des Kulturbeauf-tragten, die Bündelung der kulturpolitischen Kompeten-zen, bietet uns eine große Chance, nämlich die Chance,daß die Kulturpolitik in der neuen Regierung den Stel-lenwert erhält, der ihr nach unserer Überzeugung zu-steht.
Hartmut Koschyk
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470 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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Das allein wäre an sich schon eine schöne Neuerung: ei-ne neue Kultur im Umgang mit der Kultur, die jahrelangvon der jetzigen Opposition mit schönen Worten abge-speist wurde.
In der Öffentlichkeit und, wie ich jetzt höre, auch vonTeilen der Opposition wurde und wird immer nochspöttisch von einer Lex Naumann gesprochen, weilHerr Naumann den Rang eines ParlamentarischenStaatssekretärs bekleiden soll, ohne selbst Mitglied desParlaments zu sein.Hier gilt es folgendes zu bedenken: Es ist im interna-tionalen Umfeld ganz einfach so, daß ein Kulturbeauf-tragter protokollarisch nicht den Rang eines Referentenhaben kann, wenn er zum Beispiel neben einem franzö-sischen Kulturminister ernst genommen werden soll.
Deshalb mein Appell an die Opposition, sich nicht nurhinter billiger Polemik zu verschanzen,
sondern mit uns gemeinsam für eine angemessene Ver-ankerung des Kulturbeauftragten in der Regierung zusorgen. Stimmen Sie unserer Vorlage zu!
Es gibt aber noch einen weiteren Gesichtspunkt, dermir als Grüne besonders wichtig ist: Daß Herr Naumannals Regierungsmitglied nicht dem Parlament angehört,hat im Sinne der Gewaltenteilung auch seine Vorteile.
Die Verquickung von Exekutive und Parlament ist einProblem, das wir schlichtweg zur Kenntnis nehmenmüssen. Dies wird nicht nur von den Grünen so gesehen.Auch Sie von der F.D.P. haben sich in Ihrer bürger-rechtlichen Vergangenheit bereits einmal dafür ausge-sprochen, daß die verschiedenen staatlichen Ebenen zutrennen seien. Und Sie hatten damals auch Ihre Gründedafür.
– Dürfte ich einmal weiterreden?
– Es ist die mangelnde Kultur. Deshalb sind Sie ja auchabgewählt worden.
Bei der praktischen Umsetzung des Ganzen ist natür-lich einiges zu bedenken. Es stärkt durchaus die Unab-hängigkeit der Ministerinnen und Minister in einem Ka-binett, wenn sie ihr Abgeordnetenmandat im Hinter-grund haben. Es tut den Ministerinnen und Ministern si-cherlich auch ganz gut, wenn sie neben ihrem Amt dieWahlkreisarbeit als Abgeordnete weiterführen können.Andererseits fällt mir kein zwingender Grund ein, war-um die Ministerinnen und Minister zusätzlich zu ihrenBezügen als Amtsträger und zusätzlich zu ihren Sach-und Personalmitteln einen Teil ihrer persönlichen Bezü-ge als Abgeordnete behalten müssen. Doppelversorgungmuß nicht sein. Hier sind längst Reformen überfällig!
Natürlich weiß auch ich: Es gibt für das Problem derVerquickung von Amt und Mandat keine Patentlösung,und übertriebene Hektik wäre für die Interessen desParlaments ebenso schädlich wie das bisherige Aussit-zen.Lassen Sie mich deshalb am Schluß meiner erstenRede im Bundestag noch einen Gedanken formulieren.Wir stehen jetzt am Anfang einer neuen Wahlperiode.Wir haben als Parlament die Möglichkeit, ein neuesSelbstbewußtsein gegenüber der Regierung zu entwik-keln. Weder wollen die neuen Regierungsfraktionendemütige Befehlsempfänger sein,
noch müssen die neuen Oppositionsfraktionen als pau-schale Neinsager und Verweigerer dastehen.
Ich möchte deshalb mit meinem Beitrag einen Anstoßdafür geben, daß wir Probleme ehrlich benennen und ei-nen intensiven Reformdialog über die Fraktionsgrenzenhinweg beginnen. Ein solches konstruktives Miteinanderwird an der Schwelle zum 21. Jahrhundert einer aufge-klärten und weltoffenen Bundesrepublik Deutschlandgut zu Gesicht stehen. In diesem Sinne, sehr verehrteKolleginnen und Kollegen, freue ich mich auf eine wei-terhin gute Zusammenarbeit.Danke schön.
Dies war die erste
Rede der Kollegin Deligöz. Auf weitere gute Reden von
Ihnen!
Das Wort hat jetzt für die Fraktion der F.D.P. der
Kollege Edzard Schmidt-Jortzig.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! DerEkin Deligöz
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vorliegende Gesetzentwurf erfüllt alles, was man sichvom ersten Schritt einer neuen Kulturpolitik nur erwar-ten kann: Er ist hintergründig, er ist ein wenig frivol, erist feinsinnig und geheimnisvoll.
Hintergründig kommt schon die unscheinbareSchlußzeile auf dem Deckblatt daher, wo es heißt „Ko-sten: Keine“. Man hört noch die Versprechungen, daßdie neue Regierung bei der Regierungsbildung ganzfürchterlich sparen wolle, daß es also keine neuen Pöst-chen und keine weiteren Kosten geben werde. Aber dergute Herr Naumann, den man sich als Beauftragten derBundesregierung für die Angelegenheiten der Kulturund der Medien – eigentlich ist der Titel so ja auchschon eindrucksvoll genug – ausersehen hat, muß dochirgendwie entlohnt und besoldet werden. Was machtman schließlich mit einem Kulturbeauftragten, wenn ernichts kosten soll? Macht er dann keine Politik? Machter keine Kultur? Und was ist eigentlich – jetzt einmalwieder ein bißchen juristisch gefragt – mit dem neuen§ 40 Abs. 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung derBundesministerien, den wir uns vor zwei Jahren gege-ben haben und der doch immerhin Ehrlichkeit bei derKostenangabe verlangt? Also Fragen über Fragen. Ichfinde, es ist hintergründig.Der Gesetzentwurf gibt sich dann aber auch ein biß-chen frivol – finde ich jedenfalls –, weil er eben einesonst allenthalben schamhaft verhüllte Neigung desMenschen bedienen soll, nämlich das Streben nach Ti-teln, besserem Dienstrang, Ehrenbezeugungen und an-gemessener Anrede, versteht sich.
Einfach nur für die Bundeskultur zuständig sein und da-für einen schlichten Anstellungsvertrag zu haben, dasreicht nicht.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Gerne. Wenn
sie der Wahrheitsfindung dient, immer.
Sie dient der Wahrheitsfindung.
Darf ich Sie, Herr Bundesminister a. D. und lieber
Herr Kollege Schmidt-Jortzig, fragen, ob Sie sich noch
an die letzte Legislaturperiode erinnern
– Sie beklagen hier jetzt lautstark, daß, berechtigter-
weise, die Stelle eines Staatsministers eingerichtet wer-
den soll –, als wir den bemerkenswerten Vorgang erle-
ben konnten, daß ein verdientes Mitglied dieses Haus
verlassen mußte und Staatssekretär werden durfte, damit
der hochverehrte Kollege Westerwelle überhaupt in die-
ses Parlament einziehen konnte, und sind Sie nicht der
Auffassung, daß dieser Vorgang Sie vielleicht dazu
bringen müßte, das, was Sie heute so vehement kritisie-
ren, mit etwas größerer Zurückhaltung zu kommentie-
ren?
Herr KollegeTauss, daß Sie jetzt so freundlich mit mir kommunizie-ren, ist wohl auch eine Ausgeburt dieser neuen Kultur-politik. Ich kenne Sie sonst immer nur als intensivenZwischenrufer.
So haben wir Gelegenheit, die Dinge einmal zu beäugen.Dabei stelle ich fest, daß das Justizministerium – wahr-scheinlich immer noch, auch unter der neuen Leitung –heftig davon beeindruckt ist, daß Sie es mit Kulturpolitikin Verbindung bringen. All das, was Sie so schön ge-schildert haben,
hat sich nämlich im Justizministerium abgespielt.Nun müssen wir feststellen, daß das offenbar dierichtige Kultur gewesen zu sein scheint. Weshalb wirjetzt einen richtigen Beauftragten für Kultur haben, weißich nicht so genau. Aber offensichtlich müssen schöneKünste, müssen Literatur und Theater, müssen denkma-lerische Erinnerung, musische Aufgeschlossenheit undangenehme Lebensart – einleuchtenderweise – mit ei-nem respekterheischenden Titel, mit einer hübschen Vi-sitenkarte vertreten werden. Die Menschen sind eben so– man weiß das ja –, und das muß natürlich bedachtwerden. Also: Das schöne Etikett „Staatsminister“müßte her. Aber so deutlich darf dieser Zug nun auchwieder nicht werden. Also deklariert man das ganzeStück nicht da, wo es eigentlich hingehört hätte – in dasMinistergesetz, wo man „Juniorminister“ einführenkönnte –, sondern man versteckt es, ein bißchen scham-haft, in dem eher beamtenmäßig, unaufwendig und un-auffällig klingenden Gesetz über die ParlamentarischenStaatssekretäre.Richtig feinsinnig ist – mir ist es jedenfalls so vorge-kommen – die Zielbeschreibung des gesetzgeberischenSchrittes gelungen. Wir lesen da:Im Einzelfall kann es im Bundeskanzleramt imHinblick auf die Aufgabenstellung erforderlichwerden,eine ganz spezifische personelle Sonderausstattung vor-zusehen. Auf diese exquisiten Ausnahmegründe ist manrichtig gespannt. Das nenne ich gelungene Dramaturgie;das steigert die Spannung, die Höhepunkte werden er-wartet. Schrecklich schnöde ist dann leider die rauheWirklichkeit, vor allen Dingen auch die Juristerei.Da hat im Wahlkampf einfach einer einem Mit-streiter handfeste Versprechungen gemacht, ohne dieRechtslage zu kennen. Nun soll das Ganze möglichstelegant – gesetzgeberisch – geradegerückt werden.
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
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472 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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Wie demgemäß die Dinge hübsch formuliert, ummaltund verziert werden, das ist wahrlich einer Kultur-initiative würdig. Schließlich sprechen wir hier – auchdas muß man einmal anmerken – von Gesetz-gebungskultur.
Zuletzt wird alles noch ganz geheimnisvoll: Da solldas Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parla-mentarischen Staatssekretäre geändert werden. Manerinnert sich doch, daß diese Figur extra geschaffenwurde, um einen Minister in der parlamentarischen Ein-bindung zu unterstützen oder zu vertreten. Irgendwiealso – so denkt sich das jedenfalls ein argloses Gemüt –müßten die Parlamentarischen Staatssekretäre, auchwenn sie auf den schönen Titel „Staatsminister“ hören,etwas mit Parlament zu tun haben. Nicht aber diese Ge-setzesoperation! Denn dieser ganze Kraftakt wird aus-drücklich unternommen, um jemanden zu inkorporieren,der gerade nichts mit dem Parlament zu tun hat und ha-ben soll: Er ist weder selbst Parlamentsmitglied, nochsoll er einen politischen Vormann in dessen parlamenta-rischer Einbindung stärken – ein Fisch also, der gar keinFisch ist, aber doch wie ein Fisch behandelt werden soll,obwohl er eigentlich für seine Aufgabe auch gar nichtFisch sein müßte. Also ziemlich dubios das Ganze.Die F.D.P. wird dieses Meisterstück kulturpolitischerInnovation jedenfalls mit großem Interesse auf seinemweiteren Diskussionsgang verfolgen.
Der neue Kulturausschuß wird sicherlich heftig und an-gestrengt beraten, aber, so nehme ich an, wahr-scheinlich auch nicht all die vielen Fragen ehrlich klärenkönnen. Deshalb lehnen die Liberalen diese künstleri-sche Camouflage ab
und hoffen nur – auch das möchte ich gezielt an IhreAdresse, Herr Naumann, sagen –, daß das, was Sie alsder neue Wundermann sachpolitisch leisten mögen,überzeugender ausfällt. Dann werden wir Sie auch un-terstützen.Danke sehr.
Das Wort hat derKollege Roland Claus, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich stelle mir jetzt einmalvor, wie es den Autorinnen und Autoren des vorliegen-den Gesetzentwurfes nach der Rede meines geschätztenKollegen geht, der vor mir gesprochen hat. Sie werdeneine Art Ehrfurcht vor dem eigenen Produkt bekommenhaben, die Sie vorher bestimmt noch nicht hatten. Wie-viel ist in diesen Entwurf doch hineininterpretiert wor-den!Aber ich will zunächst an die Adresse der Koalitionsagen: Die Kritik der Opposition läßt sich heute nichtganz so leicht abtun wie sonst. Bisher haben Sie jedeKritik der Opposition damit abgetan, daß sie nicht sorichtig gehaltvoll sei, weil der Wählerwille das alles an-ders bestimmt habe. Ich kann Sie nur daran erinnern:Die alte Regierung hatte 25 Parlamentarische Staats-sekretäre, die neue hat es bisher schon auf 22 gebracht.Als unmittelbaren Wählerwillen können Sie das wohlnicht interpretieren. Wir merken uns an dieser Stelle: Inder Schamfalle ist die neue Koalition schwer zu fangen.Es stört sie offenbar nicht sonderlich, mit eigenen Aus-sagen aus Reden früherer Legislaturperioden kon-frontiert zu werden.
Nur soviel zum Beweis. Gerade die AbgeordnetenRezzo Schlauch und Wilhelm Schmidt ha-ben zum Thema „Parlamentarische Staatssekretäre“ imBundestag sehr viele regierungskritische Fragen gestellt.
Ich hätte nicht übel Lust, Ihnen Ihre eigenen Anfragenvorzutragen. Die Redezeit verwehrt mir diesen Lustge-winn und damit Ihnen leider auch. Aber Drucksachensind Tatsachen. Allerdings ist es richtig, daß dieCDU/CSU aus ihrem Glashaus heraus nicht mit Steinenwerfen sollte.
Ich komme nun zur jähen Wende in meiner Rede;denn es gibt Gründe, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
– Ich weiß wohl, daß ich mich hier zwischen alle Stühlerede; aber auch zwischen allen Stühlen kann man es sichgemütlich einrichten.Ich will Ihnen sagen, warum wir für den Gesetzent-wurf der Koalition stimmen wollen. Das Amt des Par-lamentarischen Staatssekretärs – bisher vorwiegend,sagen wir einmal, als Posten eingerichtet, um Nachteileauszugleichen; sozusagen ein saisongebundener Mon-chéri-Posten –
soll nun für eine neue Aufgabe eingerichtet werden undfür einen ganz neuen Mann. Wir alle wissen: Naumannheißt der neue Mann. Wir stehen jetzt gemeinsam vorder Frage: Wollen wir ihn im Rahmen des parlamentari-schen Verfahrens, mit dem wir es jetzt zu tun haben,hier reinlassen oder nicht? Ich will für meine Fraktionsagen: Ja, wir wollen ihn reinlassen.
Wir stimmen zu, weil wir durchaus meinen, daß dieBundespolitik originelle und kreative Entscheidungenbraucht – was man vielleicht auch als eine gewisseDr. Edzard Schmidt-Jortzig
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Selbstkritik der Koalition an der Regierungserklärungverstehen kann –, und weil wir meinen, daß die Fixie-rung auf Bundestagsabgeordnete bei der Besetzung derPosten von Parlamentarischen Staatssekretären eine be-hutsame Öffnungsklausel braucht. Es wäre auch einganzes Stück Selbstüberschätzung, wenn wir meinten,daß Bundestagsabgeordnete nun für jede Aufgabe ge-eignete Leute in ihren eigenen Reihen finden könnten.Mit unserer Zustimmung öffnen wir kein breites Tor,sondern nur ein Fensterchen, wenngleich ich meine, daßHerr Naumann nicht der einzige Nutznießer der LexNaumann bleiben muß.Wir stimmen zu, weil es schließlich darum geht, vondem wenigen, was der Kanzler anders machen will, ei-niges besser zu machen. Wenn der Kanzler schon etwasNeues mit seiner Koalition ausprobieren will, dann soller dafür auch eine Reformchance bekommen. Deshalbwerden wir zunächst der Überweisung und dann auchdiesem Gesetzesvorhaben zustimmen.Ich danke Ihnen.
Nun drängt es den
Kollegen Ludwig Stiegler noch einmal zum Mikrophon.
Er hat sich vorhin von seiner Redezeit viereinhalb Mi-
nuten aufgehoben.
Meine Damen und Herren!
Wer beizeiten spart, hat in der Not.
Ich freue mich, daß wir Herrn Schmidt-Jortzig ein
kulturelles Erlebnis verschafft haben. Ich muß Ihnen
aber zu Ihrer Rede sagen: Wenn Detlef Kleinert dage-
wesen wäre, hätte er sie wenigstens in Versen vorgetra-
gen. Hier müssen Sie noch etwas üben.
Am interessantesten war das, was Herr Professor
Schmidt-Jortzig nicht gesagt hat. Er hat nämlich Herrn
Koschyk nicht bestätigt. Hier hat ein Staatsrechtslehrer
gesprochen. Herr Koschyk wollte uns mit dem „FAZ“-
Guru vorhalten, wir hätten ein Maßnahmegesetz be-
schlossen.
Hier wird eine generell abstrakte Regelung beschlossen.
Jeder generell abstrakten Regelung folgt ein erster
Schritt. Und jedem Anfang wohnt bekanntlich ein Zau-
ber inne. Das müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen.
Es ist gerade kein Maßnahmegesetz, sondern ein erster
Schritt.
Was mir auch nicht gefallen hat, Herr Schmidt-
Jortzig, ist, daß hier ausgerechnet ein Liberaler, der im-
mer sagt, Wirtschaft und Politik sollten Austausch be-
treiben, die Finanz- und die Besoldungsfrage anspricht.
Ich verrate hier keine Geheimnisse und verletze nicht
den Datenschutz, wenn ich sage: Herr Naumann ver-
zichtet auf erhebliche Einkommen, um sich unserem
Land zur Verfügung zu stellen. Er hat nicht Mäkelei,
sondern Dank und Anerkennung verdient.
Die Opportunitätskosten dieses Amtes – um es liberal
anzusprechen – sind ganz erheblich.
– Herr Westerwelle, an das, was Herr Naumann woan-
ders machen könnte, würden Sie nie herankommen; das
ist völlig klar.
Ich finde es unglaublich, daß man einem, der bereit
ist, diesem Land zu dienen, auch noch Vorhaltungen
macht. So geht es nicht.
Herr Kollege Stieg-
ler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mar-
schewski?
Ja, mit Vergnügen.
Herr Kollege
Stiegler, wäre es nicht möglich, aus diesem Einzel-
fallgesetz ein „Zweifallgesetz“ zu machen? Sie könnten
beispielsweise Frau Christa Müller in das Gesetz einbe-
ziehen,
damit sie in Zukunft nicht als Privatperson, sondern als
Amtsperson, als Staatssekretärin ihre Dinge zum besten
gibt.
Ich glaube, lieber KollegeMarschewski, auch Sie haben Anlaß, Ihr Verhältnis zumZusammenleben von Frau und Mann zu überprüfen undhier auf eine neue Partnerschaft aus zu sein.
Ein Letztes: Der Kollege Koschyk möchte mit demLindauer Abkommen heute Kulturpolitik machen.Manchmal habe ich den Eindruck, Sie sind in irgendei-nem Einödhof steckengeblieben.
Roland Claus
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474 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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Wer bei den vielfältigen Verschränkungen heute mitdem Lindauer Abkommen Kulturpolitik machen will,dem kann ich nur sagen: Herr Naumann, nehmen Sie ihnein paarmal mit auf die Reise, damit der Bub was lernt!Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/30 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Kein Bau einer Magnetschwebebahn Ham-
burg–Berlin – Transrapid-Förderung einstel-
len
– Drucksache 14/38 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktionen der F.D.P. und der PDS jeweils fünf Minuten
erhalten sollen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Werte Kolleginnen und Kollegen! Großprojektenach Art des Transrapid scheinen, den Katzen gleich,sieben Leben zu haben. Den Katzen sollten wir dieseLanglebigkeit gönnen. Bei der Magnetbahn wäre einesolche Weitherzigkeit jedoch fehl am Platz.Doch offensichtlich ist hier von keiner Bundes-regierung, gleich welcher Farbtönung, zu erwarten, nachVernunft zu entscheiden. Das hat Tradition. So war esbeim Schnellen Brüter Kalkar, bei der Wiederaufberei-tungsanlage Wackersdorf und beim Atomendlager Gor-leben: Immer wollten Bund und die jeweilige Landesre-gierung diese Großprojekte gegen alle Vernunft durch-setzen. Sie scheiterten aber am Widerstand vor Ort.So ist es auch beim Transrapid. Investiert wurden indiese Technologie bereits 2,2 Milliarden DM. Gestor-ben sind in den 80er Jahren bereits die Magnet-bahnprojekte München–Hamburg, Hannover–Berlin undDüsseldorf–Köln. Seit Anfang der 90er Jahre wird dieStrecke Berlin–Hamburg konkret projektiert, obgleichder Transrapid alles andere als perfekt durchs Emslandzuckelt.Dennoch ließ die vorausgegangene Bundesregie-rung die gesetzlichen Grundlagen für den Bau derStrecke Hamburg–Berlin verabschieden. Diese bein-halten unter anderem ein Gesetz, bei welchem derundemokratische Charakter bereits durch jede Zeileseiner zwei Paragraphen schimmert. Zu diesem Ma-gnetschwebebahnbedarfsgesetz äußerte ich in diesemHaus bereits einmal:Das für das Projekt Magnetbahn gewählte Verfah-ren ist feudal. Der Satz des französischen Sonnen-königs „L'État c'est moi!“– „Der Staat, das bin ich“ –wird hier von Betonbolschewisten ... mit „Den Be-darf bestimmen wir selbst“ aktualisiert.In diesem Gesetz wird in § 1 schlicht festgestellt:Es besteht Bedarf für den Neubau einer Magnet-schwebebahnstrecke von Berlin nach Hamburgüber Schwerin. Die Feststellung des Bedarfs ist fürdie Planfeststellung ... verbindlich.In § 2 heißt es:Die Durchführung der in dieses Gesetz aufgenom-menen Maßnahme und deren Finanzierung bedür-fen einer Vereinbarung zwischen dem Bund undden privaten Projektträgern . . .Bleibt es bei diesem Gesetz, dann ist klar: Der Bedarfder Strecke kann gar nicht mehr hinterfragt werden. Mitdem Bau kann durch einfache Vereinbarung losgelegtwerden, die zum Beispiel der Bundesverkehrsministermit dem Transrapid-Konsortium trifft.Nun ist all das eine Erblast von Kohl, Riesenhuber,Krause und Wissmann. SPD und Bündnisgrüne habenvor der Wahl wiederholt erklärt, sie lehnten eine Trans-rapid-Strecke Hamburg–Berlin ab. Noch im Protokolldes Verkehrsausschusses vom 29. April dieses Jahreswird festgehalten, daß die SPD für einen entsprechendenAntrag der Bündnisgrünen stimmte.Den Antrag las ich heute nochmals, und fürwahr,Kollegin Gila Altmann – heute Staatssekretärin – undKollege Albert Schmidt – alle Achtung – , es handeltsich um einen ausgesprochen sophistischen – auf baye-risch: hinterfotzigen – Antrag. Nach diesem Antrag sindTrassenpreise, die laut EU vorgeschrieben sind, in dasFinanzierungskonzept des Transrapid einzubeziehen.Damit käme eine Transrapid-Strecke Hamburg–Berlinjedoch rund 4 Milliarden DM teurer und wäre mit offizi-ell 10 Milliarden DM allein deswegen schon gestorben.Das Ja der SPD zu diesem Antrag begründete damals –es war vor sieben Monaten – im Ausschuß die SPD-Kollegin Elke Ferner, heute, von meinen besten Wün-schen begleitet, ebenfalls als Staatssekretärin in Amtund Würden.Nun entstand nach der Wahl in der Öffentlichkeit tat-sächlich der Eindruck, daß es mit Rotgrün keine Ma-Ludwig Stiegler
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gnetschwebebahn Hamburg–Berlin geben werde. Dochdieser Eindruck trügt. Dies belegen drei Tatsachen: Er-stens wird im Koalitionsvertrag die Magnetbahntechnolo-gie explizit als „hochentwickelte Technologie“ begrüßt.Zweitens laufen seit der Wahl die Planfeststellungsverfah-ren entlang der Strecke ungebremst weiter. Drittens wurdeim „Bundesausschreibungsblatt“ vom 2. November 1998,also von vor gut zwei Wochen, der „Transport der Über-bauten für den Magnetbahn-Fahrweg von deren Ferti-gungsstätten ... an die Einbauorte in der Trasse derMagnetschnellbahn“ ausgeschrieben.Wenn mir angesichts dessen jemand – wie Freund AliSchmidt in der vergangenen Woche – kommt und sagt,diese Ausschreibung diene der Verfeinerung der Kalku-lation, dann höre ich förmlich den Amtsschimmel imVerkehrsministerium wiehern. Aber es kommt noch bes-ser. Gestern bekannte sich BundesverkehrsministerMüntefering im Ausschuß mündlich und schriftlich einweiteres Mal zum Transrapid und sagte explizit: „Ham-burg–Berlin ist die Strecke, die ich anstrebe.“
Kurzer Rede kurzer Sinn: Auch die neue Regierungwill den Transrapid. Sie will nach Möglichkeit dieStrecke Hamburg–Berlin bauen und dort mindestens6,1 Milliarden DM in Beton gießen. All die guten Ar-gumente gegen die Strecke werden nicht gehört. Damitsetzt Rotgrün auch hier auf Kontinuität.Meine Damen und Herren, es entspräche jetzt durch-aus dem feudalen Politstil des Magnetschwebebahnbe-darfsgesetzes, wenn wir an Herrn Müntefering, Schillers„Don Carlos“ abwandelnd, lediglich appellierten: „Sire,gewähren Sie transrapide Freiheit und wenden Sie § 2des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes nicht an.“
Doch die PDS schwört, wie Sie ja spätestens seit derRegierungsbildung in Schwerin wissen, auf das Grund-gesetz und somit auf Einsicht im gesetzgeberischen Ver-fahren. Daher unser Antrag,
der, Herr Friedrich, strikt auf bündnisgrüner und zumTeil auch auf SPD-Linie liegt, bezogen allerdings aufdie Zeit vor dem 27. September.Wir gestatten uns jedoch auch, zumindest aus derVerkehrsgeschichte zu lernen, und sagen daher ergän-zend: Dieses Projekt kann und wird offensichtlich nurvor Ort gestoppt werden. In diesem Sinne sind wir mitdenen solidarisch, die in Berlin und Brandenburg mehrals 200 000 Unterschriften gegen den Transrapid ge-sammelt haben.
Zusammen mit diesen Menschen werden wir weiter vorOrt gegen dieses Monster und gegen die Verschwen-dung von Steuergeldern protestieren.Danke schön.
Das Wort hat die
Kollegin Angelika Mertens, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Es gibt ja immer einmal Anträge,über die man sich richtig freut, wie es auch immer wie-der welche gibt, über die man sich überhaupt nicht freut.Ich bin jedenfalls nicht unglücklich über diesen PDS-Antrag, denn er bietet uns erneut Gelegenheit, der Öf-fentlichkeit und der PDS Klarheit über die Zukunft desTransrapid und vor allem auch Klarheit über die unter-schiedlichen Verantwortlichkeiten von Bund und priva-ten Herstellern zu verschaffen.Für die SPD war immer klar, daß die Magnetschwe-betechnik eine unbestrittene Attraktivität hat: hohes Be-schleunigungsvermögen, hohe Geschwindigkeit, und beibis zu 250 km/h ist sie vergleichsweise leise. Auch be-geisterte Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer können sicheinem Charme nicht entziehen: Man gleitet und kannsich anderen Dingen, als Kaffeebecher festzuhalten odersich für unleserliche Schriftstücke zu entschuldigen,widmen. Absolute Spitzengeschwindigkeiten, die aufder Schiene in Deutschland noch nicht realisiert wurden,werden mit dieser Technik möglich.In diesem Hause haben Vertreterinnen und Vertretermeiner Partei in den letzten Jahren mehrfach dargelegt,daß sie gleichwohl die ausgewählte Magnetschwebe-bahnreferenzstrecke Hamburg–Berlin für keine glück-liche Wahl gehalten haben. Denn sie verläuft parallel zueiner bestehenden Schienenverbindung und ist mit demdauerhaften Verzicht auf die Einbindung dieser Streckein das europäische Hochgeschwindigkeitsschienennetzverbunden. Unsere Skepsis, ob es möglich sein wird,diese Strecke nicht nur zu realisieren, sondern auch wirt-schaftlich darzustellen, ist während der letzten Jahre imParlament immer wieder zum Ausdruck gebracht wor-den. Diese Skepsis ist nicht kleiner geworden. Wir ha-ben der damaligen Bundesregierung statt dessen emp-fohlen, die Magnetschwebetechnik auf einer kurzenAnwendungsstrecke zu erproben, möglichst in Form ei-ner Flughafenanbindung.Mit ziemlicher Verärgerung hat die SPD während derletzten Jahre verfolgt, daß aus einem rein privatwirt-schaftlichen Projekt ein Projekt wurde, das zunehmendauf öffentliche Mittel aus dem Bundeshaushalt angewie-sen war. Die Leichtfertigkeit, mit der Vorgängerregie-rungen den Wünschen der Transrapidhersteller nachweiteren Bundesmitteln nachgegeben haben, haben wirhäufig kritisiert. Das kann jeder nachlesen; ich brauchedas nicht zu wiederholen.Der letzte Sachstand, der uns hinterlassen wurde, wardie sogenannte Eckpunktevereinbarung von April 1997:6,1 Milliarden DM öffentliche Mittel für den Fahrwegund 3,7 Milliarden DM privat aufzubringende Mittel fürdas Betriebssystem. Die endgültige Risikoaufteilungsollte einer noch zu schließenden Finanzierungsverein-barung überlassen werden. Jeder weiß, daß es zu dieserVereinbarung zwischen Bund, Deutscher Bahn AG undprivaten Herstellern nicht gekommen ist.Dr. Winfried Wolf
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476 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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Nun hat die SPD-geführte Bundesregierung – na-mentlich Verkehrs- und Bauminister Müntefering – die-ses Projekt geerbt. Mit dem Erben ist es manchmal nichtso einfach, zumal wenn das Instrument eines Ausschla-gens einer Erbschaft nicht zur Verfügung steht. Deshalbgibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entwedermachen wir das Beste daraus, oder wir machen dasSchlechteste daraus. Mit ihrem Antrag, das Transra-pidprojekt sofort abzubrechen, empfiehlt uns die PDS,das Schlechteste daraus zu machen, nämlich das Schei-tern der Verhandlungen vorwegzunehmen und alle Vor-arbeiten ohne Rücksicht auf Verluste in den Wind zuschreiben. Im Moment sind aber weder die Vertragsver-handlungen endgültig ausgelotet, noch sind Finanzie-rungs- und Risikoverteilung geklärt. In anderen Berei-chen des Lebens würde die PDS übrigens wahrschein-lich nach der letzten Chance greifen, etwa wenn es umMenschen geht, die – aus welchen Gründen auch immer– Schwierigkeiten haben, sich an Grenzen zu halten. Indiesem Fall gibt es so etwas wie eine letzte Chance. Eswäre wirklich der falsche Zeitpunkt, jetzt so zu tun, alshätte es in diesem Land nie eine nähere Beschäftigungmit der Magnetschwebetechnik gegeben.Die Koalitionsparteien und der Verkehrs- undBauminister haben in der Koalitionsvereinbarung deut-lich gemacht, daß sie in der gegebenen Situation wün-schen, das beste Ergebnis für die Zukunft dieses Pro-jektes zu erzielen. Dazu gehört als allererstes die klareFestlegung für alle Beteiligten: Es gibt für die Bundes-mittel einen festen Kostenrahmen, der einzuhalten ist.Alle Kosten, die darüber hinausgehen, sind von der pri-vaten Industrie zu tragen. Es liegt nun an den privatenHerstellern, in diesem festen Finanzrahmen ein schlüssi-ges, wirtschaftlich darstellbares Fahrweg- und Betriebs-konzept auf der Referenzstrecke Hamburg–Berlin vor-zulegen. Denn eines ist klar: Nur wenn sich die öffentli-chen Finanzbeiträge auf dieser Referenzstrecke in über-schaubaren Grenzen halten, kann aus der technischenAttraktion Magnetschwebebahn auch so etwas wie einewirtschaftliche Attraktion – der sogenannte Export-schlager – werden.Ein dauerhafter Zuschußbetrieb hätte notwendiger-weise zur Folge, daß sich kein Land der Welt für diesesVerkehrssystem interessierte. Insofern liegt der feste Fi-nanzierungsdeckel, den die Regierungskoalition verord-net hat, im Interesse aller Beteiligten, ich wiederhole: imInteresse aller Beteiligten, einschließlich der herstellen-den Industrie.Mit dem Regierungswechsel ist die Frage, ob in die-sem Land eine Magnetschwebebahn-Referenzstreckerealisiert werden soll, von großem Ballast befreit wor-den. Dies ist nun nicht mehr länger eine Prestigefrageder Bundesregierung, und dies ist auch keine Frage mehrder Ideologie zur Unterscheidung zwischen Technolo-giefeinden und Technologiefreunden. Diese Frage un-terliegt nun ganz allein der wirtschaftlichen und der ver-kehrspolitischen Rationalität. Ich halte das für eine guteEntwicklung.
Das Wort hat nun
der Kollege Georg Brunnhuber, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag derPDS wäre es eigentlich nicht wert, ausführlich diskutiertzu werden, da die Argumente dieses Antrages in diesemHause schon zum wiederholten Male widerlegt wurden.
Dennoch ist der Antrag interessant. Denn alle in ihmenthaltenen Argumente sind solche, die hier von derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon wortwört-lich vorgetragen wurden.
Dies ist insofern interessant, als die Grünen jetzt nichtmehr in der Opposition, sondern in der Regierung sind.Da freuen wir uns natürlich schon,
heute zu hören, wie sie denn jetzt zu diesen Argumentenstehen.Wenn ich den Redebeitrag der Frau Kollegin Mertensrichtig ausgelegt habe, so ist sie sehr viel skeptischer, alsder Herr Minister gestern im Ausschuß war und als erauch in seinen öffentlichen Äußerungen zum Transrapidist. Herr Staatssekretär Ibrügger, wenn es um den Trans-rapid geht, werden Sie sich wahrscheinlich viel mehr aufdie CDU/CSU-Fraktion verlassen können
als auf Ihre eigene. Denn wir stehen uneingeschränkt zudiesem Projekt.Ich bin dem Minister wirklich dankbar, daß er beidiesem Projekt in der Kontinuität seines VorgängersMatthias Wissmann bleibt. Er hat nämlich nicht so ober-flächlich gesprochen wie die Frau Kollegin Mertens,sondern er hat in einer ganz hervorragenden Pressemel-dung erklärt, nach zwei Jahrzehnten Skepsis der Sozial-demokraten gegenüber technischen Fortschritten dürfedie innovative Technologie nicht aus ideologischenGründen verschüttet werden. Genau diese Position hatdie CDU/CSU jahrelang vertreten. Es ist schön, daß sichder Minister dieser Position nunmehr anschließt.
Immer dann, wenn Zahlen neu auftauchen, gibt esProbleme. In diesem Zusammenhang hat der Ministerauch noch darauf hingewiesen, daß diese neuen, immerhöheren Zahlen nicht amtlich seien, daß sie einer Prü-fung nicht standhielten, und vor allem hat er gesagt, dieneuen Zahlen, die immer höhere Kosten darstellten, sei-en nur aufgebracht worden, um das Gesamtprojekt zustören oder es zu Fall zu bringen.Auch hierzu kann ich nur sagen: Das ist ausschließ-lich die Position, die wir von der CDU/CSU-FraktionAngelika Mertens
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 477
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schon seit Jahr und Tag zu diesem Projekt einnehmen.Vielleicht trägt die Debatte heute dazu bei, endgültigKlarheit zu schaffen. Der Herr Staatssekretär wird hier-zu vielleicht noch Stellung nehmen. Klarheit ist notwen-dig, und zwar sowohl für die betroffenen Bürgerinnenund Bürger entlang des Planungsbereiches als auch fürdie Investoren. Denn auf Dauer kann es nicht so sein,daß die Verantwortlichen ständig wackeln und die SPDin jedem Land eine andere Position zu diesem Projektvertritt. Hierzu muß eine Entscheidung fallen.Heute besteht auch die Chance, nochmals darauf hin-zuweisen, was der Transrapid kann und welche techni-sche Möglichkeiten vorhanden sind. Insofern sind wirfür diese Debatte dankbar; denn sie ermöglicht es, deut-lich zu machen, welch tolle Technik von uns eingeleitetworden ist und von Minister Müntefering – zusammenmit uns – hoffentlich zu Ende gebracht wird.
Erstens. Der Transrapid hat, wie wir auch schondurch die Äußerungen von Ihnen, Frau Kollegin Mer-tens, gehört haben, eindeutig technische und umweltre-levante Vorteile.Zweitens. Der Transrapid bietet Möglichkeiten fürden wirtschaftlichen Einsatz bei Geschwindigkeitenzwischen 300 und 500 km/h.Drittens. Der Transrapid ist – das sollten sich diejeni-gen, die ständig für die Umwelt eintreten, hinter die Oh-ren schreiben – bei einer Geschwindigkeit von 400 km/hleiser als ein IC bei 160 km/h. Auch das muß man sicheinmal vor Augen führen.
Viertens. Der Energieverbrauch des Transrapid bei400 km/h liegt in etwa bei dem Wert eines ICE bei 300km/h, und er verbraucht 30 Prozent weniger als ein Air-bus auf der Strecke Hamburg–Berlin.
Das sind Zahlen, die Sie, Herr Schmidt, eigentlich dazubewegen müßten, auf diesen Transrapid aufzuspringen,weil dies doch eigentlich in Ihrem Sinne sein müßte. Of-fensichtlich haben Sie ein unterschiedliches Bewußtsein,was Umweltstandards angeht: Wenn Sie ein Projekt, dastechnisch hervorragend ist, nicht mögen, dann kommenSie mit allen möglichen Argumenten, und das Umwelt-argument wird plötzlich unter den Tisch gekehrt.
Fünftens. Durch die engen Kurvenradien, die derTransrapid aufweist, ist der Flächenverbrauch nur halbso groß wie der beim Ausbau einer konventionellenSchienenstrecke.Sechstens. Der Transrapid wird das sicherste Ver-kehrsmittel der Zukunft sein. Der Transrapid zwischenHamburg und Berlin ist im übrigen das erste echteModell einer privaten partnerschaftlichen Finanzierungin Deutschland. Wir vom Bund bauen die Strecke;
das Wagenmaterial und den Betrieb bezahlen Privateohne eine einzige Mark aus öffentlichen Kassen. So et-was hat es in Deutschland noch nie gegeben. Ich finde,das ist etwas, was wir herausheben sollten; denn auchdies ist ein Zeichen moderner Verkehrspolitik.
Siebtens. Der Transrapid ersetzt zwischen Hamburgund Berlin den überflüssigen Luftverkehr.Achtens. Ich nenne ein Argument, das in diesemHause offensichtlich nur gelegentlich eine Rolle spielt –Sie sind doch aber mit dem Willen angetreten, mehr Ar-beitsplätze zu schaffen –: Allein in der Bauphase desTransrapid werden 18 000 neue Arbeitsplätze gesichert,und auf Dauer werden nur auf dieser kleinen StreckeHamburg–Berlin 4 500 neue Arbeitsplätze geschaffen.Wenn es hier darum geht, über moderne Technik, überZukunft und über neue Arbeitsplätze zu reden, dannkann man dieses Argument nicht einfach vom Tisch wi-schen.
Herr Kollege Brunn-
huber, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schmidt?
Selbstverständ-
lich.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Kollege Brunnhuber, Sie haben soeben
die wünschenswerte Verlagerung des Luftverkehrs auf
den Schwebeverkehr angeführt. Ist Ihnen bekannt, wie
viele Menschen täglich zwischen Hamburg und Berlin
im Flugzeug unterwegs sind? Ist Ihnen bekannt, daß es
lediglich 200 Menschen sind, daß wir aber im Jahr
14 Millionen Gäste bräuchten, damit sich der Transrapid
einigermaßen rechnete?
Lieber HerrSchmidt, wenn es nur ein Flugzeug wäre, das durch denTransrapid ersetzt werden könnte, dann wäre das schoneine Idee.
Wir haben im Ausschuß schon vor vier Jahren – HerrSchmidt, Sie müssen noch immer stehen bleiben –
Georg Brunnhuber
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478 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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eine Anhörung und eine Diskussion. Auch schon voracht Jahren hatten wir eine ähnliche Anhörung und eineähnliche Diskussion. Damals waren Sie noch nicht da-bei.
Sie sollten sich in einem Punkt über folgendes im kla-ren sein: Damals, bei der ersten Anhörung 1990, wurdedarüber gesprochen, daß die Strecke Paris–Lyon mitdem schnellen Zug TGV ursprünglich mit etwa drei bisvier Millionen Fahrgästen pro Jahr geplant war. Heute,acht Jahre danach, sind es 16 Millionen Menschen, diepro Jahr zwischen Paris und Lyon fahren. SämtlichePrognosen sind um ein Mehrfaches übertroffen worden.Insofern können Sie sich auch hier darauf verlassen. DieInstitute waren doch nicht im Sinne der Bundesregie-rung tätig, sondern es waren objektive und neutrale In-stitute. Sie haben doch diese Zahlen von 14 MillionenFahrgästen errechnet. Ab 10 Millionen Fahrgästenmacht sich der Transrapid schon bezahlt.
Herr Kollege Brunn-
huber, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Deichmann?
Nein.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben auf
dem heiß umkämpften Milliardenmarkt der Hochge-
schwindigkeitsverkehre mit dem Transrapid eine Chan-
ce, hier dauerhaft für die Bundesrepublik Deutschland
Arbeitsplätze zu schaffen und mit dieser Referenzstrek-
ke Hamburg–Berlin auch Kunden im Ausland anzu-
werben.
Alles in allem möchte ich zusammenfassen, daß der
Transrapid ein Symbol für die Leistungsfähigkeit und
Innovationskraft des Standorts Deutschland ist.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Re-
gierungskoalition und insbesondere meine sehr verehr-
ten Vertreter der Bundesregierung, wir fordern Sie auf:
Handeln Sie schnell, verzögern Sie nicht weiter, wak-
keln Sie nicht weiter! Kommen Sie zu Entscheidungen!
Sie haben bei diesem Projekt die volle Unterstützung der
CDU/CSU-Fraktion. Wir lehnen deshalb den Antrag der
PDS ab.
Das Wort hat nun
der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ihr Antrag, lieber Kollege Wolf, ist ein zwar
leicht mißglückter, aber trotzdem ziemlich abgebrühter
Zweitaufguß vieler früherer besserer bündnisgrüner An-
träge. Er hat natürlich auch den Zweck, uns hier vorzu-
führen. Dafür habe ich größtes Verständnis. Ich würde
es an Ihrer Stelle ganz genauso anpacken.
Der Kern Ihres Antrags aber ist windelweich. Der
Kern ist die Kritik an der Koalitionsvereinbarung. Sie
schreiben, das, was in der Koalitionsvereinbarung ent-
halten ist, sei keine klare Aussage. Stellen wir uns das
Wahlergebnis einmal umgekehrt vor: 41 Prozent Grün,
6,7 Prozent Rot.
Dann stünde an dieser Stelle natürlich etwas anderes in
der Koalitionsvereinbarung.
Trotzdem haben wir dieser Passage letztendlich sehr
gern zugestimmt, denn entscheidend ist – um es einmal
mit Helmut Kohl zu sagen –, was auf Grund dieses wei-
sen Textes hinten rauskommt. Das ist die intelligente Art
des Siegens, die manchmal besser ist, als eine vorder-
gründige Schlacht zu kämpfen.
Ich will gern auf den Text des Koalitionsvertrages zu
sprechen kommen. Da heißt es im ersten Satz: „Die Ma-
gnet-Schwebebahn Transrapid ist eine hochentwickelte
Technologie.“ Wer sollte dem widersprechen? Natürlich
ist es eine hochentwickelte Technologie. Das ist also
abgehakt.
Dann geht es weiter: „Grundlage für die Realisierung
des Projekts sind die Vereinbarungen im Eckpunktepa-
pier zwischen dem Bund, der Deutschen Bahn AG und
der Industrie vom April 1997.“ Das wurde von den drei
Beteiligten rechtsverbindlich unterschrieben.
Dann heißt es weiter: „Darüber hinausgehende“ –
jetzt kommt das, was ich schon als eine klare Aussage
bezeichnen würde – „Kosten hinsichtlich Investition und
Betrieb wird der Bund nicht übernehmen.“ Das ist eine
klare Aussage. Das bedeutet im Klartext, daß bei 6,1
Milliarden DM ein Deckel drauf ist. Mehr Geld ist vom
Bund nicht zu haben. Gleiches hat inzwischen die Deut-
sche Bahn AG in Gestalt ihres Vorstandsvorsitzenden
Dr. Ludewig erklärt, der gesagt hat: Von der Bahn gibt
es nicht mehr Geld.
Angesichts der Verteuerung tritt nun das Eckpunkte-
papier in Ziffer 10 in Kraft. Wenn die Kosten erheblich
höher werden, muß neu entschieden werden, heißt es
dort. Jetzt müssen die drei Partner sich treffen, und dann
muß einer von den Dreien diese 2 oder 3 Milliarden DM
Mehrkosten auf den Tisch legen, oder die Strecke Ham-
burg–Berlin kann nicht gebaut werden. So einfach ist die
Situation.
Herr KollegeSchmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des KollegenWolf?Georg Brunnhuber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 479
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Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Aber gern, ja.
Kollege Schmidt, ist Ih-
nen bekannt, daß gerade die Passage, die die Kostenbe-
grenzung betrifft, und die Koalitionsvereinbarung dazu
von der Industrie, das heißt dem Konsortium von Sie-
mens, Thyssen und Adtranz, begrüßt wurde? Und ist Ih-
nen klar, daß unser Antrag nicht darauf hinausläuft, ir-
gend etwas Großartiges zum Koalitionsabkommen zu
sagen, sondern schlicht und einfach darauf, zu sagen,
daß die gesetzgeberischen Voraussetzungen geschaffen
werden sollen, um das Magnetschwebebahnbedarfsge-
setz aufzuheben? Ich frage Sie: Was spricht Ihrer Mei-
nung nach dagegen – aus Ihrer grünen Sicht von vor
dem 27. September und danach –, daß nicht länger ge-
sagt wird: erstens besteht Bedarf für die Magnetbahn-
strecke Hamburg–Berlin, und zweitens kann das erledigt
werden, indem Herr Müntefering sagt „Jetzt geht's los“?
Was spricht dagegen, das aufzuheben?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Es spricht dagegen, daß wir eine intelligente
Lösung gefunden haben, eine Lösung nämlich, die bei-
den Partnern gerecht wird und ganz klar sagt: eine belie-
bige Kostensteigerung ist nicht vertretbar. Der Trichter,
auf den jetzt die Magnetbahnplanungsgesellschaft und
das Konsortium zu kommen glauben, indem sie sagen,
man könnte ja jetzt vielleicht mal abschnittsweise nur
eingleisig bauen, um die Kosten zu senken, oder den
Halt in Schwerin weglassen – das wollen die sowieso
nicht –, um Kosten zu senken, oder man könnte viel-
leicht die Takte verlängern, um Kosten zu senken, dieser
Trick funktioniert nicht. Denn das Eckpunktepapier –
und das ist ja das Gute daran, daß das in dem Koaliti-
onsvertrag steht – gilt natürlich in allen Teilen, inklusive
der ganzen Parameter, die darin enthalten sind hinsicht-
lich Vertaktung, hinsichtlich der Zweigleisigkeit und
hinsichtlich der Haltepunkte. Genau das ist der Punkt,
warum die Strategie des Konsortiums an dieser Stelle
nicht aufgehen wird.
Herr Kollege
Schmidt, es gibt einen weiteren Wunsch zu einer Zwi-
schenfrage, nämlich des Kollegen Niebel von der F.D.P.
Er möchte etwas fragen. – Rechts!
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Aha! – Der Kollege Niebel ist mir noch
nicht bekannt; deswegen habe ich jetzt in die falsche
Richtung gesehen.
Ich hoffe, das wird sich ändern.
– Stimmen Sie mir zu, daß, gesetzt den Fall, alles das,
was Sie soeben geschildert haben, tritt nicht ein und die
Finanzierung ist gesichert, daß es sich dann nicht mehr,
wie Sie uns glauben zu machen versuchen, um einen
Sieg der Bündnisgrünen handeln würde, und stimmen
Sie mir weiter darin zu, daß Sie im Endeffekt den Trans-
rapid nicht wollen?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ich stimme Ihnen in dem zweiten Punkt
vollständig zu. Das ist für uns eine Verkehrstechnik wie
jede andere Verkehrstechnik auch. Sie muß sich entlang
den Kriterien der Wirtschaftlichkeit und der Umwelt-
verträglichkeit ausweisen, die wir bei dieser Technik
noch nie gegeben sahen und auch weiterhin nicht gege-
ben sehen. Das ist überhaupt nicht der Punkt.
Zur ersten Frage, die Sie gestellt haben, was denn nun
geschähe, wenn diese Kosten durch ein Wunder Gottes
irgendwie bei 6,1 Milliarden DM gedeckelt werden
könnten: Das ist für mich so, als würden Sie fragen: Was
werden Sie tun, wenn in diesem Jahr am 24. Dezember
Weihnachten nicht eintritt? Ich verspreche Ihnen: Weih-
nachten wird eintreten. Diese Kostensteigerungen, mit
denen wir es jetzt zu tun haben, sind eben nicht, wie
vorhin gesagt worden ist, nichtamtliche Zahlen. Das sind
amtliche Zahlen. Ich will es Ihnen präzise sagen, Herr
Kollege Niebel. Es war die Magnetbahnplanungsgesell-
schaft selbst, die bereits im August Fahrwegkosten von
7,2 Milliarden DM statt 6,1 Milliarden DM ausgerechnet
hat. Es war das Eisenbahnbundesamt, die nachgeordnete
Behörde des Bundesverkehrsministers, das im Oktober
darauf hingewiesen hat: Die Kosten explodieren auf 7,7
bis sogar 8,9 Milliarden DM. Und wissen Sie, woher
diese Kostensteigerungen stammen? Aus Ausschrei-
bungsergebnissen, Herr Kollege Dr. Wolf! Das sind kei-
ne Plandaten, sondern man hat ausgeschrieben und bei
der Ausschreibung festgestellt, daß es noch teurer wird.
Deshalb sehe ich weiteren Ausschreibungen gelassen
entgegen. Ich bitte sogar darum auszuschreiben, denn
das wird zeigen, daß das Ganze noch viel, viel teurer ist,
als wir bisher annehmen.
Herr Kollege
Schmidt, es gibt noch einen weiteren Zwischenfrage-
wunsch. Herr Brunnhuber möchte etwas fragen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja, immer, Herr Brunnhuber. Es ist immer
witzig, wenn sich die Bayern und die Württemberger
über den Transrapid unterhalten.
Herr KollegeSchmidt, würden Sie mit Ihrer Ausführung, daß dieseneuen Zahlen auf Ausschreibungsergebnissen beruhen,sagen wollen, daß der Herr Minister gestern den Aus-schuß belogen hat?Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Der Herr Minister hat nichts anderes gesagt.Ich war wie Sie in der Ausschußsitzung.
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480 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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Der Herr Minister
hat in einer amtlichen Presseerklärung darauf hingewie-
sen
– Minister Müntefering –, daß diese Zahlen schon des-
halb absurd seien, weil noch keine Ausschreibungen er-
folgt seien.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Diese Aussage, Herr Brunnhuber, habe ich
so nicht gehört, obwohl ich in derselben Ausschußsit-
zung war. Ich weiß aber aus dem Ministerium, daß diese
Zahlen genauso, wie ich sie vorgetragen habe, dort vor-
liegen. Insofern sehe ich den weiteren Entwicklungen
dort sehr gelassen und beruhigt entgegen. Ich glaube,
auch Sie können sich da ganz entspannt zurücklehnen.
– Er hat eine Behauptung seitens des Ministers unter-
stellt, die ich nicht bestätigt habe.
Ich finde übrigens, der Minister hat auch noch in ei-
nem anderen Punkt völlig recht, nämlich wenn er sagt:
Das einzige Projekt, um das wir noch ernsthaft und seri-
ös diskutieren sollten, ist Hamburg–Berlin. Wenn ich
höre, was da alles inzwischen auf dem Markt gehandelt
wird: Berlin–Schönefeld oder jetzt Köln–Düsseldorf, wo
doch gerade die ICE-Verbindung im Bau ist und der
Transrapid seine Geschwindigkeitsfeatures überhaupt
nicht entfalten kann, dann muß ich sagen: Das ist wirk-
lich nicht seriös. Wenn schon, dann sollten wir über die
Strecke sprechen, die ernsthaft zur Diskussion steht,
nämlich Hamburg–Berlin, und über nichts anderes.
Aber eine Transrapidverbindung Hamburg–Ber-
lin – das wird die abschließende Bewertung erweisen,
die nach Ziffer 10 des Eckpunktepapiers vorgesehen
ist – ist die falsche Antwort auf eine richtige Frage. Die
richtige Frage lautet: Wie bekommen wir eine moderne
Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Hamburg
und Berlin? Im Rahmen dieser weiteren Beratungen
wird sich als richtige Antwort erweisen – da bin ich sehr
gelassen –, daß wir eine ICE-Verbindung von Hamburg
nach Berlin brauchen. Diese führt am besten über Uel-
zen und Stendal, denn im ersten Drittel und im letzten
Drittel haben wir fertige ICE-Strecken, und nur die 103
Kilometer zwischen Uelzen und Stendal müßten noch
hochgeschwindigkeitstauglich ausgebaut werden. Das
verursacht einen Bruchteil der Kosten, die für den
Transrapid nötig sind, bringt auch Arbeitsplätze und
verkürzt die Fahrzeit zwischen Hamburg und Berlin auf
82 Minuten.
Diese Lösung wird sich von alleine durchsetzen, denn
bei allen Unterschieden in den Positionen, die es noch
geben mag, liebe Kolleginnen und Kollegen in der SPD,
eint uns alle die Tatsache, daß wir sehr wenig Geld zu
verteilen haben. Deshalb sollten wir die Verkehrsinve-
stitionen dort bündeln und konzentrieren, wo es Sinn
macht, und uns finanzielle Abenteuer unkalkulierbarer
Art schenken. Ich bin überzeugt, daß sich diese Position
letztlich auch in der Bundesregierung durchsetzen wird.
Ich danke Ihnen.
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Hans-Michael Gold-
mann.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie können sich si-
cherlich vorstellen, daß ich mich als Emsländer, der fast
aus Lathen bzw. Dörpen kommt, besonders freue, daß
ich meine erste Rede über den Transrapid halten kann.
Ich will hier auch überhaupt keinen Hehl daraus ma-
chen, daß ich ein großer Fan dieser Technologie und ih-
rer Anwendung bei uns vor Ort bin. Ich kann Ihnen, ge-
schätzter Kollege Wolf, nur sagen: „Kommen Sie mal,
schauen Sie es sich mal an, steigen Sie mal ein, und fah-
ren sie mal mit! Hinterher werden Sie das Glücksgefühl
des Schwebens erlebt haben und bekehrt sein.“
Wissen Sie, Herr Kollege Wolf, Ihre Vergleiche ge-
hen nicht nur haarscharf an der Sache vorbei, sondern es
fehlen Transrapidbreiten zwischen dem, was Sie sagen,
und dem, was der Realität entspricht.
Er zuckelt nicht, er schwebt bei 450 Kilometer pro
Stunde. Das macht er jede Woche in der Erprobung und
jede Woche in der Anwendung. Hunderttausende kom-
men jedes Jahr in das Emsland, um mitzufahren.
Es hat Probleme gegeben. Es ist wohl völlig normal, daß
in einer neuen Technologie – deswegen wird er ja er-
probt – auch Kinderkrankheiten stecken. Aber das, was
Sie beschreiben, ist lange her. Was Sie in Ihrem Antrag
zum Ausdruck bringen, ist schlicht und ergreifend
falsch.
Herr Kollege Gold-
mann, Sie werden schon bei Ihrer ersten Rede mit einer
Zwischenfrage beehrt. Genehmigen Sie diese?
Es ist mir eineEhre, wie Sie sagen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 481
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Herr Kollege Goldmann,
zunächst danke ich Ihnen. Es stimmt, mein Wunsch, ei-
ne Frage zu stellen, ist etwas frech, aber Sie haben es
genehmigt.
Ist Ihnen bekannt – das kann Ihnen zwar nicht be-
kannt sein, aber ich muß den Satz als Frage formulieren
–, daß ich zweimal versucht habe, mit dem Transrapid
zu fahren, davon einmal im Auftrag des „Spiegel“; beide
Male wurde die Probefahrt kurzfristig abgesagt, weil der
Transrapid nicht fuhr,
und ist Ihnen bekannt, daß noch vor einem Jahr, am 17.
Mai 1997, ein Transrapid-Befürworter, ein Ingenieur, in
der „Frankfurter Rundschau“ feststellte:
Mit dem Auftrag, einen neuen, besseren Fahrweg
für den Transrapid [im Emsland] zu entwickeln,
hatte unser Team die Möglichkeit, eine Probefahrt
auf der Versuchsstrecke mitzumachen. Die Fahrt ...
mußte bei Tempo 220 km/h abgebrochen werden,
da am Fahrwerk Probleme aufgetreten waren.
Deswegen sprach ich von „zuckeln“.
Herr Kollege
Wolf, natürlich hat es solche Fälle gegeben. Das ist doch
überhaupt kein Thema. Wer würde das denn bestreiten
wollen? Allerdings hat es eine Entwicklung dieser
Technologie vor Ort gegeben, die meiner Meinung nach
außerordentlich beeindruckend ist. Die Zahl derjenigen,
die mittlerweile schon vom Transrapid transportiert
wurden und von dieser Technologie begeistert sind, ist
wirklich riesengroß. Lassen Sie uns über Dinge reden,
die sicherlich noch zu lösen sind, bis der Transrapid
wirklich von Hamburg nach Berlin fährt! Lassen Sie uns
aber nicht über Dinge reden, die einfach an der Sache
vorbeigehen!
Die Beschreibung in Ihrer Begründung ist absolut
realitätsfremd. Ich nehme sonst die Ausführungen der
PDS sehr wohl wahr und ernst. Es hat mir schon impo-
niert, wie Sie bei bestimmten Dingen argumentiert ha-
ben. Aber hier liegen Sie schlicht und ergreifend völlig
daneben.
Ich will, gerade weil es Ihr Antrag ist, auf einen be-
sonderen Sachverhalt eingehen und Ihnen sagen: Ich
kann nicht mehr verstehen, was Sie machen. Ich habe
hier eine Skizze der Bietergemeinschaft Mittelstand zur
Realisierung der Transrapidstreckenführung. Sie können
dieser Skizze entnehmen, daß es bezüglich der Beton-
elemente, die in dieser Trassierung realisiert werden
können, eine mittelständische Bietergemeinschaft gibt,
die das gesamte Konzept ungefähr 1 Milliarde DM gün-
stiger anbietet. Lieber Kollege von den Grünen, Sie
wissen wahrscheinlich, daß für die ICE-Strecke Köln–
Frankfurt ein Angebot in Höhe von 11 Milliarden DM
vorlag und daß diese Strecke für 7,7 Milliarden DM
durch mittelständische Unternehmen realisiert wird. Es
sind also noch Kostenreserven vorhanden.
Ich möchte Ihnen einmal vorlesen, Herr Dr. Wolf,
wo die Produktionsstandorte zum Erstellen der Beton-
platten, der Hybridträger sind – sie kennen das wahr-
scheinlich: das ist ein Element, das Stahlbeton mitein-
ander verbindet und eine unendlich gute Präzision er-
reicht; es ist mit Blick auf die Umweltverträglichkeit
hochinteressant und unter dem Gesichtspunkt der Ko-
stenminderung toll –: Potsdam, Magdeburg, Dessau,
Leipzig, Dresden, Gera, Erfurt, Schwerin und Rostock.
Das sind die Standorte, an denen die 6,1 Milliarden
DM, von denen Sie vorhin sprachen, nicht in Beton
gegossen werden sollen, sondern in Arbeitsplätze vor
Ort fließen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Diese Technologie ist eine
riesige Chance gerade für einen Bereich, in dem wir uns
besonders um Arbeitsplätze bemühen müssen. Ich kann
überhaupt nicht verstehen, daß die rotrote Landesregie-
rung in Mecklenburg-Vorpommern dieser Zukunfts-
technologie in einer Situation, in der dieses Land ohne
jeden Zweifel Probleme hat, nicht positiv und engagiert
gegenübersteht. Das ist eine riesige Chance für dieses
Land. Ich meine, wir sollten diese Chance wirklich ge-
meinsam nutzen, und wir sollten endlich Nägel mit Köp-
fen machen.
Es waren auch andere in Lathen. Die Chinesen waren
da. Sie wollen jetzt eine Kurzstrecke bauen. Die Ameri-
kaner – überlegen Sie das bitte einmal! – bringen 1 Mil-
liarde Dollar in die Planung ein – dazu gibt es einen
Kongreßbeschluß –, um eine Strecke zu bauen. Die Au-
stralier waren da und sagten, daß das Verkehrsproblem
um Sydney herum mit dem Transrapid gelöst werden
soll.
Ich denke, daß da riesige Chancen vorhanden sind, die
wir nutzen sollten. Die Transrapidtechnik ist eine zu-
kunftsorientierte Technik.
Herr Kollege von den Grünen, lassen Sie mich noch
eines sagen. Ich finde es – um ein Wort zu gebrauchen,
das parlamentarisch ist – bescheiden, wenn Ihre Parla-
mentarische Staatssekretärin bei uns vor Ort erklärt, das
faktische Aus für die Referenzstrecke sei in den Koaliti-
onsvereinbarungen festgeschrieben. Ich finde es zynisch,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lathen ist als Demonstrationsstrecke nicht überflüssig,wenn selbst Bundeskanzler Schröder nach der Fahrt zumglühenden Befürworter geworden ist. Ich kann mir alsoauch eine touristische Vermarktung vorstellen, damitkeine Bauruine übrigbleibt.
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482 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998
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Wenn das die Antwort für die Menschen sein soll, diein dieser Technologie hochqualifiziert ausgebildet wer-den bzw. arbeiten,
wenn die Antwort Ihrer Partei bzw. von Frau Altmannsein soll, daß Menschen bei einem Gesamtprojekt zuFreizeitgestaltern im touristischen Bereich werden sol-len, von dem Sie genau wissen, daß es über den touristi-schen Sektor überhaupt nicht zu unterhalten ist, dannfinde ich das zynisch. Ich meine, damit sind Sie vondem, was Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung festge-schrieben haben – von mir aus: Aufbruch für mehr Ar-beit in Deutschland –, zukunftsdumm meilenweit ent-fernt. Das mache ich Ihnen zum Vorwurf.
Als letzter Redner in
der Debatte hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Lothar Ibrügger das Wort.
L
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antragder PDS-Fraktion gibt dem BundesverkehrsministeriumAnlaß, Standpunkte aufzuzeigen und Hinweise zumFortgang der weiteren Beratungen, Erörterungen undEntscheidungen auch des BundesverkehrsministersMüntefering zu geben, und zwar einmal, soweit es dieTechnologie angeht, zum anderen, soweit es das Projektangeht. Da Herr Präsident Thierse hinter mir sitzt, spre-che ich von der Strecke Berlin–Hamburg und nicht –wie andere Kolleginnen und Kollegen – von der StreckeHamburg–Berlin.Am 16. November sind – das kann ich Ihnen versi-chern, Herr Kollege Dr. Wolf – Mitglieder einer Kom-mission des Staates Kalifornien auf der Anlage mit demTransrapid bei einer Geschwindigkeit von 350 Kilome-tern pro Stunde über 60 Kilometer ohne Störungen undohne Probleme gefahren.Ich will die hochentwickelte Technologie des Trans-rapid kurz erwähnen: das berührungsfreie Schweben aufdem Trag- und Führungssystem, der berührungsfreieAntrieb und das berührungsfreie Bremsen sowie dasneue Energiekonzept. Dies sind Verbesserungen gegen-über hergebrachten Technologien, die den Anspruchverdeutlichen, daß die Magnetschwebebahntechnik einehochentwickelte und, wie Herr Minister Münteferingsagt, auch eine zukunftsträchtige und exportfähigeTechnologie ist.Grundlage für die Bundesregierung – Herr KollegeSchmidt hat dies schon angesprochen – ist das Eck-punktepapier vom April 1997. Die Koalition – auchdas ist schon häufig gesagt worden – hat zu diesem Pa-pier einen klaren Standpunkt eingenommen. DieserStandpunkt ist Grundlage für unsere gemeinsame Arbeitin der Regierung. Ich nenne einen Satz aus der Koaliti-onsvereinbarung: Darüber hinausgehende Kosten für In-vestitionen und Betrieb sind nicht von der Bundesregie-rung zu tragen. Andererseits wollen wir die Option ge-gebenenfalls anderer Referenzstrecken offenhalten, fallssich das Projekt Berlin–Hamburg nicht verwirklichenläßt.Die spurgeführte Magnetschwebebahntechnologieermöglicht, wie schon zum Ausdruck gebracht wurde,eine Geschwindigkeit bis zu 500 Kilometern in derStunde. Ich räume als früherer Berichterstatter des Deut-schen Bundestages für die Magnetschwebebahntechnikim Jahre 1978 ein – Kollege Catenhusen, der im Mo-ment auf der Regierungsbank sitzt, bekleidete das glei-che Amt –,
daß es angesichts der Siedlungsstruktur der Bundesre-publik Deutschland schwerfällt, Strecken zu finden, diefür diese hohen Geschwindigkeiten geeignet sind. DieFahrgäste müssen in Deutschland schon die Möglichkeithaben, eine gewisse Strecke zurückzulegen, bevor sieaussteigen.Wir sehen den Transrapid als eine zukunftsträchtigeund exportfähige Technologie an. Wir wollen sie im ei-genen Land nutzen, wenn – ich wiederhole dies – derKostenrahmen so, wie vereinbart, gehalten wird. Überdie Einhaltung kann heute niemand verläßliche Aussa-gen treffen.Die Magnetschwebebahntechnik erfüllt Anforderun-gen an ein modernes, sicheres und umweltfreundlichesVerkehrssystem des 21. Jahrhunderts. Japan hat sich –vergleichbar mit der Bundesrepublik Deutschland –schon vor Jahrzehnten bemüht, diese Technologie vor-anzubringen. Das Beispiel USA wurde gerade angespro-chen. Eine Milliarde Dollar sind dort vom Kongreß zurVerfügung gestellt worden.Ich darf in diesem Zusammenhang BundeskanzlerSchröder erwähnen, der in seiner Regierungserklärungdie Mobilisierung aller schöpferischen Kräfte für neueProdukte und neue Märkte erwähnte und zum Ausdruckbrachte: Auch diese Technologie kann schöpferische,innovative Kräfte für den Export und für die Verbesse-rung der Verkehrssituation auch in anderen Teilen derErde freisetzen.Mit dem Bau der Strecke in Deutschland sind Chan-cen und natürlich auch Risiken verbunden. Es gilt jetzt,die Chancen zu nutzen. Grundlage sind die Vereinba-rungen zwischen Bund, der Deutschen Bahn AG und derIndustrie vom April 1997. Auf dieser Basis wollen wirdas Projekt angehen. Es ist völlig klar: Es liegt auch imInteresse der Industrie, daß der Staatsanteil an einemsolchen Projekt kalkulierbar gehalten wird, um die Ex-portfähigkeit dieser Technologie im internationalenWettbewerb zu behaupten. Diese Kalkulierbarkeit istund bleibt der Maßstab, wie im Eckpunktepapier verab-redet wurde.In diesem Sinne wird die Bundesregierung die Ge-spräche mit der Industrie führen.Herzlichen Dank.
Hans-Michael Goldmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. November 1998 483
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Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/38 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. November,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.