Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung von zwei Ergebnissen des Vermittlungsausschusses zu erweitern. Sie betreffen das 6. Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und das Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren. Die Beschlußempfehlungen auf den Drucksachen 13/5642 und 13/5643 werden nach Tagesordnungspunkt 16 aufgerufen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes
- Drucksachen 13/4587, 13/4718 -
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/5606 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Mascher Manfred Grund
Andrea Fischer
Uwe Lühr
Petra Bläss
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/5607 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel
Antje Hermenau
Ina Albowitz
Dazu liegen 21 Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der Gruppe der PDS vor. Die Gruppe der PDS hat beantragt, zu drei Änderungsanträgen namentliche Abstimmungen durchzuführen. Nach § 52 der Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung nur von einer Fraktion oder von anwesenden 5 Prozent der Mitglieder des Bundestages verlangt werden. Ob der Antrag der PDS die notwendige Unterstützung findet, werde ich vor der Abstimmung feststellen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Manfred Grund.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Überführung von Rentenansprüchen und Rentenanwartschaften aus der Sozialversicherung der ehemaligen DDR in die gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland ist - da sind wir wohl im Konsens aller demokratischen Parteien in diesem Hause - eine besonders großartige Leistung, ein wahres Glanzstück im deutsch-deutschen Einigungsprozeß.
Millionen Rentner der neuen Bundesländer erhalten damit erstmals Rente, die ihrer Lebensarbeitsleistung entspricht. Statt Almosen von SED-Gnaden erfolgen seit der Wiedervereinigung Rentenzahlungen in harter D-Mark bei einem einklagbaren Rechtsanspruch. In keinem anderen Bereich - vielleicht mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung der Bundesanstalt für Arbeit - haben die Rechtsangleichung zwischen Ost und West und die Annäherung der Lebensverhältnisse mehr Vertrauen in den bundesdeutschen Rechtsstaat und seine sozialen Sicherungssysteme geschaffen, wie es millionenfach in der gesetzlichen Rentenversicherung geschehen ist. Sind in den postkommunistischen Staaten Ost- und Mittel-
Manfred Grund
europas die Rentner die Verlierer des Systemzusammenbruchs, so sind die ostdeutschen Rentner in besonderer Weise die Gewinner der Einheit.
Wir beschäftigen uns heute zum wiederholten Male mit der Überführung der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme der ehemaligen DDR in die gesetzliche Rentenversicherung - zum wiederholten Male, weil die Überführungsprobleme Fragen aufwerfen und weil die Überführungsbestimmungen wegen der unumgänglichen Pauschalierungen und Typisierungen zu individuellen Ungerechtigkeiten und Härten führen können. Die Beschäftigung mit diesem Thema ist für alle Beteiligten nicht leicht. Manchmal ist sie quälend; konsensfähige Lösungen sind immer schwerer zu finden.
Worum geht es in dem zu beschließenden Gesetzentwurf, der im wesentlichen die Handschrift der Abgeordneten aus den neuen Bundesländern trägt? Bereits mit dem Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ist festgelegt, daß die in den 61 Zusatzversorgungssystemen und vier Sonderversorgungssystemen erworbenen Anwartschaften und Ansprüche einheitlich in die Rentenversicherung überführt werden. Dabei sollten überhöhte Leistungen abgebaut und ungerechtfertigte Leistungen abgeschafft werden. Dies ist im Einigungsvertrag bekräftigt und mittels Anspruch- und Anwartschaftsüberführungsgesetz sowie im Renten-Überleitungsgesetz im großen parlamentarischen Konsens und bei einstimmiger Zustimmung des Bundesrates beschlossen worden.
Das Bundessozialgericht hat sich mehrfach mit dieser Problematik beschäftigt und dabei bestätigt, daß der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum für seine Entscheidung hat, wie in der ehemaligen DDR außerhalb der Sozialversicherungspflicht zustande gekommene Einkommen für die Rentenberechnung berücksichtigt werden können und daß dabei auch Typisierungen zulässig sind. Im Einigungsvertrag wurde als Überführungsmaßgabe bestimmt, daß ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen sind sowie eine Besserstellung gegenüber vergleichbaren Ansprüchen und Anwartschaften aus anderen öffentlichen Versorgungssystemen nicht erfolgen darf.
Dies war bisher Konsens zwischen den demokratischen Parteien. Dabei soll es auch beim vorliegenden Änderungsgesetz bleiben. Ich bedauere nachdrücklich, daß sich die SPD von diesem Konsens entfernt hat und die Gesetzesänderung nur von CDU/CSU und F.D.P. befürwortet wird.
Was wird sich im Vergleich zur bisherigen Gesetzeslage ändern? - Erstens. Es gibt eine Neuordnung der Begrenzungsregelung. Zweitens. Es wird ein eigenständiger Ausgleich für Dienstbeschädigung geschaffen.
Zu erstens. Obwohl im bisher geltenden Recht eine Differenzierung möglich ist, kommt es zu Unverständnis, wenn jemand eine Einkommensbegrenzung erfährt, dessen berufliche Tätigkeit für das Bestehen oder die Stärkung der DDR nach innen und außen nicht von besonderer Bedeutung war. Deshalb entfallen zukünftig alle Begrenzungsregelungen bis zur Funktion der Hauptabteilungsleiter mit der Gehaltsstufe E 3 im zentralen Staatsapparat und für Personen mit entsprechend hohem Einkommen in anderen Bereichen, wie Zoll, NVA oder Volkspolizei.
Bei einem Einkommen, welches das Mehrfache des Durchschnittsentgeltes betrug, kann davon ausgegangen werden, daß Einkommensanteile beinhaltet waren, die Ausdruck einer politisch, gesellschaftlich oder einkommensmäßig privilegierten Stellung mit besonderer Verantwortung für die Stärkung oder Aufrechterhaltung des politischen Systems der ehemaligen DDR waren. Überhöhte Einkommen in diesen Zeiten sollen nicht zu überhöhten Renten führen.
Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber dem Beitragszahler, das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber denen, die vom politischen System der DDR benachteiligt und ausgegrenzt worden sind.
Deshalb müssen wir uns auch die SED-Unrechtsbereinigungsgesetze noch einmal auf den Tisch dieses Hauses holen, um eine Verbesserung für die Opfer durchzusetzen.
Es bleibt gerade auch deshalb dabei, daß die Renten für hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit ihre bisherige Begrenzung behalten.
Zu zweitens. Bei Dienstbeschädigung wird ein eigenständiger Ausgleich geschaffen, der sich an das Unfallfürsorgerecht im Beamtenrecht und im Soldatenrecht anlehnt.
Meine Damen und Herren, von dieser Neuregelung erwarten wir eine große Befriedung in den neuen Bundesländern. Auf diese Regelung ist nichts mehr draufzusatteln. Aber für viele tausend von dieser Änderung positiv Betroffene ist es ein Stück mehr Rechtssicherheit, ein Zugewinn an individueller Gerechtigkeit, die Anerkennung ihrer ostdeutschen Biographie. Diese Neuregelung wird zu wachsendem Vertrauen in den Rechtsstaat führen.
Damit dieses Gesetz zum 1. Januar 1997 in Kraft treten kann, bitte ich um ungeteilte Zustimmung.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Mascher.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich heute erneut - ich bin sicher, nicht zum letztenmal - mit Korrekturen am Renten-Überleitungsgesetz, genauer: mit dem am heftigsten umstrittenen Teil dieses Gesetzes, dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz.
Ulrike Mascher
Die Überführung der Renten und Rentenanwartschaften der DDR in den Leistungsrahmen der dynamisierten gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik ist und bleibt eine große soziale Leistung des Einigungsprozesses, auch eine große Leistung aller Beitragszahler. Denn so werden zum Beispiel für die Auffüllbeträge zur sozialen Abfederung der Überführung allein im Jahre 1996 zirka 4 Milliarden DM aus Beitragsmitteln finanziert.
Aber auch Bund und Länder haben eine erhebliche Leistung erbracht. Leider hat diese große soziale Gesetzgebung, die 1991 auch von der SPD mitgetragen wurde, von Anbeginn an einen Geburtsmakel, der ihr bis heute selbst nach dieser neuerlichen Korrektur anhaftet: die politisch motivierte Kürzung von Renten von Personen, bei denen eine besondere Nähe zum Staatsapparat der DDR vermutet wurde, denen man eine besondere Bedeutung bei der Aufrechterhaltung des Staatssystems der DDR zurechnet oder die in besonderer Weise für das Unrecht des DDR-Systems verantwortlich gemacht werden, also die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit.
Die Begriffe „Staatsnähe" und „besondere Verantwortung innerhalb des Systems" zeigen, wie wenig trennscharf die Begründungen für Rentenkürzungen ausfallen. Im bundesdeutschen Sozialversicherungssystem galt bis zur Rentenüberleitung das Prinzip der Wertneutralität des Sozialrechtes. Bis zum Renten-Überleitungsgesetz hatten die Politiker der Versuchung widerstanden, einem allgemeinen und möglicherweise auch verständlichen Strafbedürfnis zu folgen und Rentenansprüche zu kürzen.
Dem populären Begriff des Rentenstrafrechts versucht nun der Gesetzentwurf der Regierung den Begriff Privilegienabbau entgegenzusetzen. Es wird ausgeführt, daß Führungspersonen in der DDR zuletzt das 1,6fache des Durchschnittsverdienstes bekommen haben. Ich glaube, daß Führungskräfte im westdeutschen Gehaltsgefüge das 1,6fache des Durchschnittseinkommens - das waren in Westdeutschland 1995 zirka 1 900 DM - kaum als privilegierte Einkommen bezeichnen würden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?
Nein, ich möchte jetzt erst einmal diesen Gedanken ausführen.
Aber dieser Begriff des Privilegienabbaus dient dazu, erneut eine Feinsortierung bei den Angehörigen der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme vorzunehmen. Jetzt, so wird suggeriert, bleibt wirklich nur der harte Kern der privilegierten Führungseliten der DDR im Bereich der Rentenkürzungen. Aber gehören dazu wirklich auch die Köchin und der Pförtner des MfS?
Aber welcher Begriff auch verwendet wird, es bleibt beim jetzt vorliegenden Korrekturgesetz der Regierung bei politisch begründeten Rentenkürzungen. Sie sehen ja schon an der Diskussion hier im Hause, daß die befriedende Wirkung, die Herr Grund und die Regierungsfraktionen sich von ihrer Korrektur versprechen, vermutlich nicht eintreten wird.
Die SPD sieht zwar eine deutliche Korrektur der ursprünglichen Haltung der Koalition. Wir wissen, daß die F.D.P. eine vollständige Aufhebung des Kappungskataloges angestrebt hat. Aber leider hat sich die sonst so durchsetzungsstarke liberale Fraktion hier nicht durchsetzen können.
Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit mit großer Anerkennung an unseren leider vor einigen Wochen verstorbenen F.D.P.-Kollegen Dr. Bruno Menzel, der sich von Anfang an in der letzten Legislaturperiode gegen die Vermengung des Sozialrechtes mit anderen politischen Zielen gewandt hat.
Sicherlich ist das Argument der gerechten Abwägung zwischen den Erwartungen derjenigen, die in der DDR aus politischen Gründen keine beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten hatten und heute nur einen unzureichenden Ausgleich erhalten, ernst zu nehmen. Auch für Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion ist das ein ganz entscheidender und gewichtiger Punkt. Auch die CDU/CSU-Fraktion - Herr Grund hat es hier noch einmal ausgeführt - betont in diesem Punkt eine besondere Verantwortung.
Ich würde mir wünschen, nein, ich erwarte von Ihnen nach Ihren Ankündigungen aktives Handeln, praktische Gesetzesinitiativen im Interesse dieser Opfer des DDR-Systems; praktisches Handeln, das aber nicht, wie beim zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz die Kosten den Beitragszahlern der Rentenversicherung auflastet.
Die PDS hat wie bei den vorangegangenen Beratungen einen umfangreichen Wunschkatalog vorgelegt. Hier werden unter der Überschrift Behebung von Überführungslücken und Überführungsungerechtigkeiten Forderungen ganz unterschiedlicher Qualität vermengt: zusätzliche Anrechnungen von Ausbildungszeiten in Ostdeutschland, zusätzliche Begünstigungen von Lehrern in Ostdeutschland und die Wiederherstellung hoher DDR-Rentenansprüche.
Wir werden diese Forderungen nicht unterstützen; das haben wir auch schon in der Vergangenheit deutlich gemacht. Forderungen, die erhebliche Kostenbelastungen insbesondere für die ostdeutschen Länderhaushalte bedeuten, werden wir ebenfalls nicht unterstützen.
Die PDS macht zur Finanzierung zwar den Vorschlag, alle Kosten dem Bund anzulasten; aber auch
Ulrike Mascher
das können wir angesichts der Haushaltslage des Bundes nicht unterstützen. Es war auch bei der Diskussion über die Frage des Inkrafttretens zum 1. Januar 1996 oder zum 1. Januar 1997 schon überdeutlich, wie eng die finanziellen Spielräume der neuen Bundesländer sind.
Weiterhin gibt es Anträge der PDS zu Bereichen, bei denen wir keinen Regelungsbedarf sehen, einen unzumutbaren Verwaltungsaufwand für die BfA befürchten, und es gibt Anträge, die technisch so unpräzise formuliert sind, daß wir ihnen ebenfalls nicht zustimmen werden.
Erneut wird der Antrag gestellt, die Auffüllbeträge, die Sozialzuschüsse, die besonderen Besitzstandsregelungen, die den Übergang des DDR-Rentenrechts in das Recht des Sozialgesetzbuches VI sozialverträglich gestaltet haben, weiter zu verlängern. Wir haben diese Frage ja ausführlich beim Abschmelzen der Auffüllbeträge diskutiert. Wir werden auch dem erneuten Versuch, diese Übergangsregelungen zu verlängern, so wünschenswert es für einige Fälle wäre, nicht zustimmen.
Ob es politisch klug ist, solche Forderungen immer wieder zu stellen, ob es dem Einigungsprozeß nützt, wenn die PDS in ihren Anträgen jetzt eine Beibehaltung bzw. Wiederherstellung der Altersrente ab 60 Jahre für ostdeutsche Frauen fordert, wenn sie Rentenleistungen für nichtversicherte mitarbeitende Familienangehörige bzw. Ehegatten für Ostdeutsche fordert - eine Regelung, die es, so wünschenswert sie wäre, für westdeutsche Frauen nicht gibt -, ob solche ostdeutsche Frauenpolitik hilfreich ist, muß die PDS für sich entscheiden.
Die SPD hat sich bei der Ablehnung des Hauruckverfahrens zur Anhebung der Altersgrenze von 60 Jahren nicht nur für Frauen in Ostdeutschland, sondern für alle Frauen in der Bundesrepublik eingesetzt. Wir wollen eine bedarfsabhängige Mindestsicherung in der Rentenversicherung für alle, die Altersarmut für alle Frauen verhindert; so haben wir auch die gemeinsame Erklärung des Bundestages am 21. Juni 1991 verstanden.
Ich muß sagen, ich bin bei diesen Forderungen der PDS für eine Altersgrenze für Ostfrauen einigermaßen ratlos, ob das die authentische Ostfrauenpolitik sein soll. Wir werden diese Forderung jedenfalls nicht unterstützen.
Wir werden den Anträgen für eine Regelung für Blinde und für die Beschäftigten bei Bahn und Post zustimmen. Das wird heute zwar auch keine Veränderungen bringen, aber wir halten die Forderungen für berechtigt bzw. haben sie bereits in unserem eigenen Gesetzentwurf verfochten.
Auch den Anträgen, die mit dem Gesetzentwurf der SPD zur Abschaffung der Rentenkürzungen aus politischen Motiven, also der Abschaffung des „Rentenstrafrechts", übereinstimmen, werden wir zustimmen, damit hier die Position der SPD noch einmal festgehalten wird.
Ich habe mich so ausführlich mit all den Anträgen der PDS auseinandergesetzt, weil ich deutlich machen will: Wir lehnen die Anträge nicht pauschal ab, aber bis auf die drei zuletzt genannten halten wir sie entweder für politisch falsch oder angesichts der knappen finanziellen Rahmenbedingungen gerade auch in den ostdeutschen Länderhaushalten für unrealisierbar.
Das mag für einzelne Betroffene bitter klingen; ich halte es aber für notwendig, hier zu sagen, was mit der SPD zu machen ist und wozu wir nein sagen. Wir werden auch der Entschließung der PDS, die wieder alles miteinander vermischt, nicht zustimmen.
Als Resümee bleibt: Es hat bei dieser Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes von seiten der CDU/ CSU einen weiteren Schritt weg von der politisch motivierten Rentenkürzung gegeben. Die F.D.P. hat sich bereits für die vollständige Aufhebung der Kappungsregelungen ausgesprochen. Die Grünen haben bei den Beratungen erklärt, daß sich die Rentenversicherung nicht zur Vergangenheitsbewältigung eignet. Die SPD hat sich mit ihrem von der Koalition abgelehnten Gesetzentwurf ohne Wenn und Aber gegen die Rentenkürzungen ausgesprochen.
Theoretisch gibt es dafür also eine Mehrheit in diesem Haus. Heute wird sie noch einmal von den Koalitionszwängen verhindert und - das muß der Ehrlichkeit halber hinzugefügt werden - auch von den finanziellen Nöten der Bundesländer gebremst. Ohne die Initiative der SPD seit Beginn dieser Legislaturperiode gäbe es auch diesen halben Korrekturschritt der Regierung nicht.
Da bin ich ganz sicher.
Eine beachtliche Zahl von Betroffenen wird damit zumindest ab dem 1. Januar 1997 von den politisch motivierten Rentenkürzungen entlastet - ein Schritt in die richtige Richtung.
Wir stimmen trotzdem der halbherzigen Lösung des jetzigen Gesetzentwurfes nicht zu. Eine Bemühung, Herr Grund, um einen Konsens hat es leider nicht gegeben. Wir regen aber an, bei den Renten für die Blinden rasch gemeinsam zu einer angemessenen Lösung zu finden.
Die nächste Runde in der unendlichen Geschichte des RentenÜberleitungsgesetzes geht nun wahrscheinlich an das Verfassungsgericht in Karlsruhe, weil wir es leider nicht aus eigener parlamentarischer Kraft geschafft haben, dieses mühsame Kapitel der Einigungsgeschichte zu beenden. Aber wie gesagt, es kann sich bei der CDU/CSU ja noch etwas bewegen; wir haben hier ja schon Erstaunliches erlebt.
Danke.
Zu einer Kurzintervention hat Herr Kollege Manfred Grund das Wort.
Kollegin Mascher, Sie haben das Wort Rentenstrafrecht in den Mund genommen. Ich kenne in den neuen Bundesländern viele Rentner, die sich gerne mit einer solchen Rente bestrafen lassen würden. Sie sind sicher mit mir einig, daß die besonderen Zusatzversorgungssysteme ein System der Belohnung oder Bestrafung gewesen sind. Genauso willkürlich wie ein Rentenanspruch zuerkannt worden ist, ist er auch wieder entzogen worden.
Sie sprachen auch die Privilegierung beim Einkommen, nämlich das 1,6fache im Jahr 1989, an. Frau Mascher, darauf entgegne ich Ihnen: In den 50er Jahren betrugen die Einkommensunterschiede insbesondere bei der Gehaltsstufe E 3 bis zum Zehnfachen des durchschnittlichen Einkommens. Wenn das keine Privilegierung gegenüber dem Durchschnittsverdiener, dem einfachen Bürger der ehemaligen DDR gewesen ist, frage ich mich, wo eine Privilegierung überhaupt auszumachen ist.
Möchten Sie antworten? - Bitte.
Herr Grund, ich kann Ihnen versichern, daß der Begriff des Rentenstrafrechtes in meinem Manuskript in Anführungszeichen steht. Ich habe auch immer von politisch motivierten Kürzungen gesprochen. Ich denke, das zeigt präziser, worum es dabei geht.
Sie haben davon gesprochen, daß die Sonder- und Zusatzversorgungssysteme willkürlich Bestrafungen und Belohnungen ausgesprochen haben. Das mag so sein. Sie haben sicher genaueren Einblick in die Geschichte der Rentenversicherung der DDR. Ich glaube aber, gerade wegen dieser Willkürlichkeit des früheren DDR-Rentenrechtes sollten wir uns hüten, genau solche Willkürlichkeiten und solche von den Zufälligkeiten der Organisation des Staatsapparates der DDR abhängigen Rentenkürzungen nun weiter fortzuführen. Sie wissen selber, welche Ungereimtheiten sich bei der Zuordnung zu bestimmten Ministerien und zu bestimmten Sonderversorgungssystemen auch in der Vergangenheit ergeben haben. Das war ja für Sie wohl auch ein Motiv, hier Änderungen vorzunehmen.
Wenn Sie die 50er Jahre ansprechen, kann ich mich nur der Kollegin Andrea Fischer anschließen: Das Rentenrecht taugt wirklich nicht zur Vergangenheitsbewältigung. Mit einem Blick auf die Gehaltsentwicklung können Sie erkennen, daß die DDR - völlig wertfrei gesprochen - ein relativ egalitärer Staat war. Die Privilegien lagen in einem ganz anderen Bereich: nicht in der Höhe des Gehaltes, sondern, wie ich es einschätzen würde, in dem, was man mit dem Gehalt und wo man es kaufen konnte. Ich denke, Sie werden im Rentenrecht nicht korrigieren können, ob man Zugang zum Intershop hatte oder nicht.
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie schön wäre es doch gewesen, wenn wir heute erleichtert das Ende der Debatte über die Rentenüberleitung hätten ausrufen können, nicht um dem Parlament Arbeit zu ersparen, sondern um den Betroffenen Frieden zu geben und eine Ungerechtigkeit zu beseitigen, die schon lange viele Menschen empört.
Dazu konnte sich die Koalition aber nicht durchringen. Deshalb haben wir heute über eine Vorlage abzustimmen, die viele Mängel aufweist. Trotzdem ist der heutige Tag auch ein Erfolg, ein Erfolg all derjenigen, die mit ihrem Protest gegen die falschen Bestimmungen des RentenÜberleitungsgesetzes nicht lockergelassen haben,
ein Erfolg auch der parlamentarischen Opposition, die die Kritik an den Diskriminierungen im Rentenrecht immer wieder in die Bonner Politik getragen hat. Denn allein die Tatsache, daß die Koalitionsfraktionen heute diesen Gesetzentwurf vorlegen, ist ein Anerkenntnis des Korrekturbedarfs, der von uns immer behauptet und von Ihnen immer bestritten wurde.
Lange haben Sie bestritten, daß es überhaupt Handlungsbedarf gibt. Nun haben Sie eingelenkt.
In der Tat, der Gesetzentwurf ist ein Fortschritt. Drei Viertel der bislang von den Rentenkürzungen Betroffenen werden nun endlich eine Rente erhalten, die nicht mehr nach sozialrechtsfremden Maßstäben berechnet ist.
Weil wir diesen Fortschritt sehen, werden wir diesen Gesetzentwurf nicht ablehnen, sondern uns bei der Abstimmung enthalten. Enthaltung deswegen, weil Sie sich wieder einmal nicht zu einer konsequenten Lösung durchringen konnten.
Nun haben Sie doch wieder Einzelfälle konstruiert. Sie haben Gehaltsstufen als Anhaltspunkt genommen. Damit werden Sie der DDR-Realität nicht vollkommen gerecht. Sie haben immer noch bei höheren Renten einen Überrolleffekt eingebaut.
Andrea Fischer
Wenn es irgendeines Beweises bedurft hätte, daß die Bundesregierung mit dem Mittel der Rentenpolitik Vergangenheitsbewältigung betreiben will - da ist er.
Herr Kollege Grund, ich glaube nicht, daß wir von Ihnen gesagt bekommen müssen, daß wir die Situation der Opfer im Auge behalten müßten. Sie wissen, was uns dies für ein Anliegen ist. Wir haben in diesem Hause Initiativen eingebracht in Sachen SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und anderen. Es hat keinen Sinn, das gegeneinander auszuspielen. Wir haben hier ganz häufig deutlich gemacht, daß für uns das eine nicht gegen das andere aufzuwiegen ist.
Wir haben es hier mit einem traurigen Kapitel der deutschen Vereinigung zu tun. Im Zorn der ersten Nachwendejahre ist es zu einem Bruch mit unseren rechtsstaatlichen Prinzipien gekommen. Im Grunde hat es auch gar nicht lange gedauert, bis den meisten Beteiligten klar wurde, was sie da angerichtet haben, nicht nur materiell, sondern vor allen Dingen mit der Verletzung des Rechtsempfindens der Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland.
Das ist ein Fehler, der in meinen Augen um so schwerer wiegt, als wir um den Wert und die Anerkennung des demokratischen Rechtsstaats gerade in Ostdeutschland immer noch werben müssen. Die Bestimmungen, die Sie im Rentenrecht getroffen haben, haben geradezu verheerende Wirkung gehabt, was die Legitimation und auch die Zustimmung zum demokratischen Rechtsstaat anbelangt.
Die Bundesregierung hat mit dem heute vorliegenden Gesetz sehenden Auges eine Chance vertan, die Identifizierung der Bürgerinnen und Bürger mit dem geeinten Deutschland zu fördern. Ich sehe nicht, daß Ihr so verspäteter Antrag diesen Schaden wirklich beheben wird, einmal ganz abgesehen davon, daß Sie ihn auch noch mit der Perfidie versehen haben, Ihr langes Säumen in dieser Angelegenheit jetzt zum Anlaß zu nehmen, das Inkrafttreten Ihres Gesetzes um noch ein Jahr hinauszuschieben.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?
Ja.
Frau Kollegin Fischer, ist Ihnen bekannt, daß die Landesregierung von Sachsen-Anhalt den Finanzminister des Bundes gebeten hat, das Inkrafttreten dieses Gesetzes, das bis vor einer Woche rückwirkend zum 1. Januar 1996 vorgesehen war, auf den 1. Januar 1997 festzulegen, weil die neuen Bundesländer ihren Mitfinanzierungsanteil nicht erbringen können? Und ist es richtig, daß die Grünen in Sachsen-Anhalt mit in der Landesregierung sitzen?
Herr Kollege Grund, zweifelsohne ist es richtig, daß die Grünen in Sachsen-Anhalt mit in der Landesregierung sitzen. Aber es ist doch auch unbestritten: Bei dieser Art von Austausch pflegen wir in der Regel eine Debatte darüber anzufangen, wer welche Schuld an der Finanzmisere der Länder hat.
Wir bestreiten das ja auch gar nicht.
- Nein, das ist nicht wahr. Ich gebe offen zu, daß wir im Moment große Finanzierungsprobleme auf allen Ebenen haben.
Gleichwohl haben wir es hier mit dem Umstand zu tun, daß wir seit mehreren Jahren darum streiten, daß hier eine falsche Regelung korrigiert werden soll. Für die Betroffenen ist es in der Tat schwer nachzuvollziehen, wenn die Frist jetzt noch einmal hinausgeschoben werden soll.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Bierling?
Ja, bitte.
Frau Fischer, ich möchte gern in einem Punkt korrigieren, was Sie gesagt haben. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es aus der Fraktion, für die ich hier stehe, in der vorigen Wahlperiode bereits Versuche gab, Gesetzesänderungen in dieser Richtung vorzunehmen, zu einer Zeit, als Sie noch gar nicht in diesem Parlament waren?
Ich weiß nicht, ob Sie es mir nicht zutrauen; aber ich habe sehr wohl zur Kenntnis genommen, was in diesem Parlament geschehen ist, bevor ich selbst sein Mitglied wurde.
Wir haben das Problem, daß sich die ostdeutschen Abgeordneten in Ihrer Fraktion sehr engagiert dafür einsetzen, bestimmte Perspektiven aus Ostdeutschland in die Debatten einzubringen. Dies ist uns auch von vielen anderen Fragen bekannt. Zugleich sind wir seit Jahr und Tag mit dem Umstand konfrontiert, daß Sie sich leider nicht durchsetzen können und das auch in diesem Fall nur sehr begrenzt konnten.
Ich wiederhole: Wir sehen, daß sich die Koalition bewegt hat. Wir halten diesen Gesetzentwurf für einen Fortschritt gegenüber dem vorherigen Zustand.
Andrea Fischer
Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung enthalten und ihn nicht ablehnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Lühr.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wohl über kaum ein Gesetz in dieser Legislaturperiode ist so lange und so emotional diskutiert worden, bevor es in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden konnte. Frau Mascher, es ist ein bißchen billig, zu sagen, daß hier nur die SPD den Gesetzentwurf auf den Weg gebracht hätte. Ich erinnere mich, daß alle Fraktionen und die Gruppe, die in diesem Haus vertreten sind, im Wahlkampf Versprechungen abgegeben haben, etwas zu bewegen. Aber bewegt hat es am Ende die Koalition, und darauf bin ich sehr stolz.
Der Gesetzentwurf in der heutigen Fassung leistet zweifellos einen Beitrag zur weiteren Ausgestaltung der inneren Einheit Deutschlands. Aber es gibt keinen Grund zur übermäßigen Freude bei der Verabschiedung.
Der Einigungsvertrag sah vor, die infolge der zugrunde gelegten überhöhten Einkommen im staatstragenden Bereich der DDR ungerechtfertigt hohen Leistungen der Rentenversicherung abzubauen. Es ging den Verfassern nicht um die systemtragende Funktion, sondern um die daraus resultierenden extrem überhöhten Einkommen, die nicht auch noch zu Spitzenrenten führen sollten. Von Systemnähe oder Regimeträgerschaft steht im Einigungsvertrag nichts. Die F.D.P.-Fraktion - ich bin Frau Mascher sehr dankbar, daß sie speziell meinen Kollegen Bruno Menzel hier erwähnt hat; namentlich nenne ich außerdem meine Kollegen Cronenberg, Schnittler und Pohl - hat daher von Anfang an vor einer Vermischung gewarnt und an dem Prinzip festgehalten, daß unser Rentenrecht neutral und von Sanktionsmechanismen, die dem Rentenrecht fremd sind, frei bleiben sollte.
Ich muß Ihnen sagen, daß es mich wurmt, daß ausgerechnet jene glauben, uns Vorhaltungen machen zu können, die im umgekehrten Fall mit Sicherheit anders verfahren werden.
Da unser Rentenrecht als Berechnungsgrundlage ohnehin eine systemkonforme Bemessungsgrenze einhält, hätte ein Vorwegabzug des überhöhten Betrages unseres Erachtens ausgereicht, um nicht Profiteure des SED-Regimes zu ungerecht bevorzugten Nutznießern der Wiedervereinigung werden zu lassen.
Allerdings waren kurz nach der Wende die Verhandlungen wohl emotional noch zu geladen, als daß nicht doch der Versuchung nachgegeben worden wäre, empfundenes Unrecht mit einer Kappung der Renten für einen pauschalierten Kreis von Funktionsträgern abzugelten. Betroffene haben dagegen geklagt und waren bis hin zum Bundessozialgericht erfolgreich. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu steht noch aus. Mit der Behandlung des Vorlagebeschlusses hat das Gericht offensichtlich auf den Gesetzgeber gewartet, auf das Ergebnis heute.
Seit Beginn der Beratungen über eine Änderung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes haben zunehmend wohl auch fiskalische Überlegungen Einzug gehalten, insbesondere in den Bundesländern, die die Hauptlast der Finanzierung zu tragen haben. Ich muß hier auch klar sagen, daß wir das Gesetz wesentlich eher auf den Weg gebracht hätten, wenn die ostdeutschen Bundesländer von Beginn an konstruktiver und zielorientierter mitgearbeitet hätten.
Das Problem wurde weder gestern im Ausschuß noch wird es heute im Plenum politisch vom Grundsatz her gelöst. Der Kappungskatalog wird zwar reduziert, aber nicht ob seiner rentenrechtlichen Systemwidrigkeit abgeschafft. Aber es ist nun einmal so: Das Gesetz verläßt dieses Haus und den Bundesrat nur in einer Fassung, die mehrheitsfähig ist. Soll die unseres Erachtens dringend notwendige Korrektur nicht in der Selbstblockade steckenbleiben, so müssen wir zunächst wenigstens das Erreichbare umsetzen, so unbefriedigend das für diejenigen bleiben muß, die auf eine grundsätzliche Lösung gehofft hatten. Aber es wäre ein überhaupt nicht zu vertretendes Ergebnis, wenn im Beharren auf diese prinzipielle Lösung eine Verbesserung für drei Viertel der von der Regelung Betroffenen storniert würde.
Ähnlich verhält es sich mit den angemeldeten Ansprüchen zum Beispiel der ehemaligen Reichsbahner. Die Stellungnahme des BMA konnte nicht hinreichend überzeugen, daß die Versorgungszusagen der ehemaligen DDR nicht als Äquivalent für zwangsweise verfügte Mindereinkommen bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden können. Haben wir nicht auch an anderen Stellen das Prinzip der Beitragsbezogenheit unberücksichtigt lassen müssen, zum Beispiel dort, wo Versicherte überhaupt nichts für die Zugehörigkeit zu den Zusatz- bzw. Sonderversorgungssystemen eingezahlt haben?
Ich muß einsehen, der Versuch einer Regelung dieses Sachverhalts in diesem Gesetz richtet sich auf derzeit Unmögliches und würde die Aussetzung der jetzt möglichen Regelung auf ungewisse Zeit bedeuten. Das kann man guten Gewissens denjenigen nicht antun, denen mit diesem Gesetz zu ihrem Recht verholfen werden kann.
Ich weiß, wie schwer es manchem Kollegen - vor allem bei unserem Koalitionspartner - fällt, diese Entscheidung heute mitzutragen. Deshalb bezeuge ich
Uwe Lühr
meinen Respekt all denen, die trotz innerer Vorbehalte heute zustimmen.
Die F.D.P.-Fraktion stimmt dem Entwurf in der vorliegenden Ausschußfassung zu.
Es spricht jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit den vollmundigen Wahlversprechen des Jahres 1994 wird von Tausenden Betroffenen sehnlichst eine Korrektur der Rentenüberleitung Ost erwartet. Ohne die permanenten, konsequenten Forderungen der PDS wären wir wohl nicht da angelangt, wo wir heute stehen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, natürlich wäre auch uns eine völlige Abschaffung des Rentenstrafrechts lieber; für die Sie jetzt so vehement einstehen. Ich darf Sie aber daran erinnern, daß sich die PDS von Anbeginn gegen den Mißbrauch von Rentenrecht als politisches Strafrecht gewehrt hat, während Sie 1991 der Installierung und noch 1993 den Schönheitsreparaturen zugestimmt haben. Nun, wo tatsächlich eine Abschaffung des Strafrechts für einen Großteil der Betroffenen ins Haus steht, sind Sie dagegen.
Wenn ich an der Glaubhaftigkeit Ihrer Forderungen zweifle, dann liegt das vor allem auch daran, daß Sie vorgestern im Ausschuß auch gegen unseren Änderungsantrag gestimmt haben, mit dem die völlige Abschaffung des Strafrechts in den Regierungsentwurf Eingang gefunden hätte. Sie haben im Anschluß der Debatte aber noch einmal Gelegenheit, sich zu unseren Anträgen zu positionieren.
Natürlich weiß auch die PDS um die verfassungsrechtlichen Bedenken der vorliegenden Änderungen. Denn die Regierung zeigt uns auch, wer hier im Lande die Macht hat, und kredenzt neben dem Zukkerbrot auch die Peitsche und verfährt nach dem uralten Motto: Teile und herrsche.
Ist Ihnen klar, daß Sie vor allen Dingen diejenigen im Strafrecht belassen, die zwar in der DDR an maßgeblichen Stellen saßen, die aber gerade diejenigen waren, die mit Besonnenheit und Vernunft in Wendezeiten Gewalt mit all den unübersehbaren Folgen verhinderten?
Als Vorsitzende der Wahlkommission zu den ersten freien Wahlen in der DDR weiß ich, wovon ich hier spreche.
Dem können wir nicht zustimmen. Aber der Verbesserung nicht nur der finanziellen Lage, sondern auch der Aufhebung diskriminierender Bewertung von Lebensleistung in der DDR wollen wir uns in der Mehrheit nicht verschließen. Natürlich müssen diesem Schritt weitere folgen, und zwar bald - nicht erst jenseits des Jahres 2000.
Wir legen deshalb zur Verabschiedung des Gesetzes einen Entschließungsantrag vor, mit dem wir alle in diesem Hohen Hause die Bundesregierung verpflichten könnten, bis Sommer nächsten Jahres Vorschläge für die noch zu lösenden Überführungsprobleme vorzulegen. Neben der völligen Abschaffung des Strafrechts im Rentenrecht sehen wir eine Vielzahl von Überführungslücken. Diese Sachverhalte benennen wir heute nicht zum erstenmal. Unsere Forderungen werden durch die tagtägliche Praxis mehr und mehr unterstrichen. Um so unverständlicher ist die Sturheit der Bundesregierung, mit der sie sich der Lösung dieser Probleme verschließt.
Da sind die Betriebsrenten. Die PDS fordert seit Anbeginn ein Gesetz zur Fortzahlung der Betriebsrenten. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts bestätigte unlängst, daß die Ansprüche nach der Anordnung von 1954 weiterhin bestehen. Ist es denn wirklich notwendig, daß sich jetzt Tausende Betroffene mit ihren ehemaligen Betrieben über Wiederherstellungsanträge herumschlagen müssen, um 20 bis 100 DM Rente zu erstreiten? Oder ist bei dem Betriebsrentenurteil ein ähnliches Vorgehen wie bei den Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern beabsichtigt? Auch hier begann der Weg der Sozialgerichtsbarkeit vielversprechend, und postwendend wurde mit dem sogenannten Sparpaket ganz nebenbei ein für die Berechtigten günstiges Urteil kassiert.
Sozial äußerst brisant ist die Lage von Blinden und Sonderpflegegeldempfängerinnen und -empfängern. Wir fordern, daß deren Berufstätigkeit vollwertig anerkannt wird.
Noch unterliegen diese Fälle der schützenden Vergleichsrentenberechnung nach DDR-Recht. Doch die pure Berechnung nach Einordnung in das bundesdeutsche Recht kommt zu skurrilen Ergebnissen.
Wenigstens die Bündnisgrünen und eine Ost-SPD-Abgeordnete öffneten sich im Ausschuß mit überwiegender Stimmenthaltung ein wenig gegenüber der Vielzahl der Probleme, so da noch wären rentenrechtliche Anerkennung von Frauensonderstudien, Aspiranturen, postgradualen Studien, von Zeiten als mithelfende Familienangehörige, von Auslandseinsätzen oder die berühmten geklebten Drei-Mark-Beträge.
Frau Kollegin Mascher, es handelt sich hier nicht um zusätzliche Forderungen. Diese Menschen haben ihre Lebensbiographien auf diese Anwartschaften aufbauen können,
die jetzt durch die Überführungslücken eben nicht geschlossen werden.
Petra Bläss
Wiederholt forderten wir einen Stopp für das Abschmelzen der Auffüllbeträge.
Doch der Gipfel der Ungeheuerlichkeiten in Sachen Rente Ost wird mit der Einstellung des Sozialzuschlages erreicht, obwohl die gesetzliche Verbesserung des Frauenrentenrechts nicht gekommen ist. Wenn die Zahlung für hochbetagte Frauen per 1. Januar 1997 eingestellt wird, kann es hier zu gravierenden Rentenkürzungen kommen. Frau Kollegin Mascher, Sie wissen genau, daß wir einen Antrag zur eigenständigen Alterssicherung von Frauen in Ost und West eingebracht haben. Es ist hier fehl am Platze, eine Entsolidarisierung herbeizureden.
All das muß verhindert werden. Wir stellen deshalb 21 Einzelanträge zur Abstimmung. Vielleicht schlägt bei dem einen oder anderen von Ihnen doch das schlechte Gewissen, derart einleuchtende Forderungen abzulehnen. Und wenn nicht, haben wir gelernt: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Ich will nur darauf verweisen, daß auch das Problem des Versorgungsunrechts nicht angepackt worden ist.
Frau Kollegin, die Redezeit ist vorbei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Noch einen Satz beziehungsweise eine Frage an die Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Meinen Sie wirklich, bei all den bestehenden und noch aufbrechenden Konflikten den sozialen Frieden unter den Älteren in den neuen Bundesländern so herbeiführen zu können? Wir fordern Sie auf, sich umgehend mit den dringend erforderlichen Korrekturen zu beschäftigen.
Es spricht jetzt der Herr Bundesminister Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie hat Frau Bläss gesagt? Ohne die konsequenten Anstrengungen der PDS wäre es nicht zu Verbesserungen gekommen.
Dem habe ich einen Satz hinzuzufügen: Ohne die konsequente Diskriminierung der Rentner durch die SED hätten wir gar nicht die Chance, die Rente anzuheben.
Frau Bläss, ich nenne dazu Zahlen und produziere nicht wie Sie heiße Luft: Rentenausgaben vor der deutschen Einheit im Gebiet der DDR bei gleicher Rentnerzahl - -
- Hören Sie zu! Ich weiß, das hören Sie nicht gern. Rentenzahlung, zum Mitschreiben. Je länger Sie schreien, um so öfter wiederhole ich es.
Rentenzahlungen vor der deutschen Einheit auf dem Gebiet der DDR bei gleicher Rentnerzahl: 16,7 Milliarden Ostmark. Heute, gleiches Gebiet, gleiche Rentnerzahl: 73 Milliarden DM. Und da kommen Sie her - -
- Ja, das ist Äpfel mit Birnen verglichen. Der Unterschied ist nämlich noch größer. 16,7 Milliarden Ostmark waren nicht die Hälfte dieser Summe in D-Mark wert.
Damit wir das auch noch abräumen, Frau Kollegin Mascher: Sie haben von dem erstaunlichen Meinungsumschwung bei der Koalition gesprochen. Wissen Sie, wer den größten Umschwung gemacht hat? Den größten haben Sie gemacht. Sie haben nämlich das, was Sie heute - mit oder ohne Anführungsstriche - als Rentenstrafrecht bezeichnen, mit beschlossen. Wer hat also den größeren Umschwung gemacht? Alles das haben Sie mit beschlossen.
Der Kollege Dreßler hat die Koalition mit wüsten Vorwürfen beschimpft, weil wir die Spitzenrenten nicht genügend kürzen. Meinen Sie vielleicht, ich würde an Gedächtnisschwund leiden? Vielleicht sehe ich so aus.
Das ist eine Verwechslung. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Sie konnten gar nicht genug kürzen.
Zur Rente selber. Lassen Sie uns in diesem heißen Gefecht doch eines klarstellen: Es war die größte sozialpolitische Leistung, über Nacht 4 Millionen Renten umzustellen.
Kein Privatversicherungssystem hätte das geschafft, und wie unzuverlässig eine Staatsversorgung ist, haben die Rentner in der DDR erlebt.
Jetzt zu dem Thema Gerechtigkeit. Das halte ich für ein uns alle berührendes Thema. Darüber sollten wir nicht hinweggehen. Bei meinen ersten Verhandlungen mit dem Vertreter der DDR habe ich meinen Verhandlungspartner gefragt, wieviel Sonder- und Zusatzsysteme es in der DDR gebe. Darauf hat mein Verhandlungspartner gesagt, er wisse es nicht. Ich war damals der Meinung, er wolle blocken, er wolle einfach streiken.
Heute nehme ich das zurück. Er hat es wirklich nicht
gewußt, denn da muß man wirklich Dickicht durchschauen. Das war ein Geflecht von Beziehungen, Be-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
lohnungen und Bestrafungen. Dieses System voller Privilegien zu übernehmen, haben wir wirklich nicht nötig.
Es kann keine allseits befriedigende Lösung geben. Ich stehe nicht vor Ihnen und sage: Wir haben eine allseits befriedigende, völlig gerechte Lösung. Wissen Sie, warum das nicht geht? Es müßte der Einzelfall beurteilt werden. Bis das in äußerster Gerechtigkeit durchgeführt ist, ist auch der letzte gestorben. Das wäre eine Gerechtigkeit für den Himmel. Wenn Sie nicht auf den Himmel verweisen wollen, sondern hier und heute handeln wollen, dann kommen Sie nur mit vorläufigen - ich gebe sogar zu: unvollkommenen - Lösungen zurecht. Allerdings bemühen wir uns, so gut es geht, uns absoluter Gerechtigkeit zu nähern.
Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten, daß sie bei dieser Anstrengung - mühsam, wie sie ist, im Wissen, daß es keine vollbefriedigende Lösung gibt -, bei dieser Suche nach mehr Gerechtigkeit nie aufgegeben haben.
Rentenrecht hin, Rentenrecht her: Meinem Gerechtigkeitsempfinden hätte es nicht entsprochen, wenn diejenigen, die systembedingt Einkommensvorsprünge hatten, diese Einkommensvorsprünge ins Rentenrecht hätten übernehmen können. Deshalb mußte es Kürzungen geben.
Ich befinde mich damit in Übereinstimmung mit den Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, die damals gesagt haben:
Der gänzliche Verzicht auf eine Entgeltpunktbemessungsgrenze für die Systemträger
bedeutet letztlich nichts anderes, als demokratieund menschenrechtsfeindliches Verhalten ehemaliger Begünstigter des SED-Systems nunmehr auch im vereinigten Deutschland rechtsstaatlich zu sanktionieren und in Form vergleichsweise hoher Renten im nachhinein zu würdigen.
Deshalb bleibt es auch in unserem Vorschlag bei Begrenzungen der Renten der hauptamtlichen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Im übrigen sind die Begrenzungen für drei Viertel der Betroffenen zurückgenommen. Begrenzungen gibt es dann nur noch bei weniger als 1 Prozent der Renten.
Ich gestehe - ich will es wiederholen -: Eine perfekte Lösung gibt es nicht. Aber im Sinne einer Befriedung und auch im Sinne einer sozialpolitischen Einheit ist dies ein großer Schritt vorwärts. Ich bedanke mich bei allen, die an diesem mühsamen, sehr schwierigen Unternehmen teilgenommen haben.
Ich bleibe dabei: Die Rentner können sich auf uns verlassen. Ich appelliere auch an die Rentner im Westen, Verständnis für diese Sonderschritte zu haben; denn immerhin sind in der DDR unsere Landsleute vom Leben schwerer getroffen worden als viele, die das Glück hatten, im Westen zu leben. Es ist nicht mein Verdienst, daß ich im Westen geboren worden bin.
Viele Rentner haben zwei Weltkriege mitgemacht. Im Unterschied zu ihren westlichen Alterskameraden und -kameradinnen haben sie nicht eine Diktatur, sondern zwei erlebt: nach der braunen die rote. Im Unterschied zu den Jungen haben sie nicht mehr soviel Zeit, das Unrecht, das ihnen das Leben zugefügt hat, auszugleichen. Deshalb plädiere ich für eine große Solidaritätsanstrengung im Westen für die deutsche Einheit auch in Sachen Rente.
Es sind zwei Kurzinterventionen angemeldet: zunächst die Kollegin Mascher, dann die Kollegin Fischer. Herr Minister, Sie können dann auf beide zusammen antworten.
Herr Arbeitsminister Blüm, ich denke, Ihnen ist geläufig, daß die SPD bei den mühsamen Beratungen für das erste große Gesetzgebungsvorhaben in bezug auf die Rentenüberleitung schon immer die politisch motivierten Kürzungen bei den Rentnern und Rentnerinnen der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme kritisiert hat und immer deutlich gemacht hat, daß wir hier erheblichen Korrekturbedarf sehen. Weil wir es für richtig hielten, diese große soziale Anstrengung für die Rentnerinnen und Rentner gemeinsam und nicht im Streit der Parteien zu unternehmen, haben wir 1991 im Interesse der ganz überwiegenden Mehrheit dem Gesamtpaket zugestimmt. Dabei waren wir uns dessen bewußt, daß nicht alle unsere Wünsche erfüllt worden sind.
Wir haben aber auch Korrekturen durchgesetzt, Frau Bläss, und das waren nicht nur Schönheitsreparaturen. Mit Zustimmung der CDU/CSU haben wir dramatische Kürzungen für bestimmte Gruppen der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme verhindert.
Herr Blüm, wenn Sie behaupten, mein Kollege Rudolf Dreßler habe immer wieder gefordert, die Renten der Spitzenverdiener abzubauen, so erinnere ich Sie daran, daß es da auch um die Versorgung der Parteien der ehemaligen DDR gegangen ist. Das war eine ganz schwierige Debatte, auch mit der CDU/ CSU. Ich erinnere ferner daran, daß 1991 und auch noch später die panische Angst vor der Meldung in der Zeitung mit den großen Buchstaben bestand: 2 100 DM Rente für Honecker. Das steht nun zum Glück nicht mehr zur Debatte, und ich hoffe, daß wir deswegen auch wieder zum sachlichen Konsens zurückfinden können.
Eines möchte ich ganz deutlich machen: Der wirklich große Abbau von Privilegien, von Einkommensvorteilen im Rentenrecht ist durch die Überführung aller Sonder- und Zusatzversorgungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung mit ihrer Beitragsbemessungsgrenze und damit auch mit einer Decke-
Ulrike Mascher
lung der Renten erfolgt. Dort wurde der entscheidende Schnitt bei den Privilegien vorgenommen. Zu allem, was jetzt nachfolgt, kann ich nur sagen: Gukken Sie sich einmal das 1,6fache des Durchschnittseinkommens an und denken Sie darüber nach, ob man dann angesichts der Einkommenssituation in Westdeutschland von Privilegien sprechen kann.
Eine Kurzintervention von Andrea Fischer.
Herr Minister Blüm, der Verweis darauf, wie das Rentenniveau heute in Ostdeutschland ist und wie es früher in der DDR war, tut hier überhaupt nichts zur Sache. Darüber streiten wir nicht.
Niemand von den Bündnisgrünen und meiner Kenntnis nach auch niemand von der SPD hat je die Erfolge bestritten, die die Rentenüberleitung für eine große Anzahl von Rentnerinnen und Rentnern gebracht hat. Das können Sie auch in den Protokollen des Bundestages nachlesen.
Wir reden hier über rechtsstaatliche Prinzipien und darüber, ob der Versuch tauglich ist, die Verbrechen, aber auch die Ungerechtigkeiten, die einfach daraus entstanden sind, daß die DDR ein totalitärer Staat war, mit Hilfe des Rentenrechtes rückwirkend zu korrigieren. Das ist der Streit, um den es hier geht; es geht nicht um mehr oder weniger D-Mark.
Wenn es Ihnen so sehr darum zu tun ist, die Vergangenheit zu bewältigen - auch das haben wir schon oft gesagt -, so liegt es doch an Ihnen, die Entschädigung der Opfer zu verbessern. Sie haben das bislang verweigert; über das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz haben wir ja auch schon viele Auseinandersetzungen mit Ihnen geführt. Statt dessen stekken Sie Ihre Energien in den Versuch, eine vermeintliche Gerechtigkeit rückwirkend herstellen zu wollen.
Sie sagen dann, die volle Gerechtigkeit gebe es nur im Einzelfall. Auch das halte ich für einen Irrtum. Das Problem ist nicht, wie gut Sie den jeweiligen Einzelfall prüfen, sondern das Problem ist, an welchem Ort Sie das tun. Dazu ist das Rentenrecht nicht geeignet. Darauf kommt es uns an.
Herr Minister, wollen Sie antworten?
- Sie wollen nicht antworten. Dann schließe ich damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes, Drucksachen 13/4587, 13/4718 und 13/5606. Dazu liegen, wie schon gesagt wurde, 21 Änderungsanträge der Gruppe der PDS vor.
Bereits zu Beginn der Debatte wurde mitgeteilt, daß die PDS beantragt hat, über drei Änderungsanträge namentlich abzustimmen. Diese drei Änderungsanträge betreffen die Drucksache 13/5636, Blinde und Sonderpflegegeldempfänger, die Drucksache 13/5644, Rentenrechtliche Zeiten von Selbständigen und deren mithelfenden Familienangehörigen in Land- und Forstwirtschaft sowie Handwerk und anderen Bereichen, und die Drucksache 13/ 5651, Zahlung eines Sozialzuschlags zu Renten im Beitragsgebiet.
Nach § 52 der Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung nur von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages, das sind 34 Abgeordnete, verlangt werden.
Ich stelle zunächst fest, ob die Anträge der PDS auf namentliche Abstimmung die notwendige Unterstützung finden, und zwar einzeln.
Wer unterstützt den Antrag der PDS auf namentliche Abstimmung über den Änderungsantrag auf Drucksache 13/5636? -
Das sind 25 Abgeordnete.
Über diesen Antrag wird damit nicht namentlich abgestimmt.
Wer unterstützt den Antrag der PDS auf namentliche Abstimmung über den Änderungsantrag auf Drucksache 13/5644? - Das sind wieder 25 Abgeordnete.
Auch über diesen Änderungsantrag wird damit nicht namentlich abgestimmt.
Wer unterstützt den Antrag der PDS auf namentliche Abstimmung über den Änderungsantrag auf Drucksache 13/5651? - Das sind wieder 25 Abgeordnete. Deswegen wird auch über diesen Änderungsantrag nicht namentlich abgestimmt.
Bevor wir zu den einzelnen Abstimmungen über die Änderungsanträge kommen, rufe ich Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung auf. Zunächst spricht die Abgeordnete Dr. Höll.
Zur Erläuterung: Sie dürfen nur Ihr persönliches Abstimmungsverhalten begründen.
Danke, Frau Präsidentin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte begründen, warum ich mich bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Stimme enthalten werde. Es wurde von unserer Abgeordneten Frau Bläss erklärt, daß die Richtung und bestimmte Punkte des Entwurfs begrüßenswert sind. Ich möchte betonen, daß auch wir nie in Abrede gestellt haben, daß die Rentenänderungen zum Teil tatsächlich zu Verbesserungen für die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern geführt haben.
Ich muß mich aber trotzdem der Stimme enthalten, weil in Ihrem Gesetz sehr viele Lücken, was die Überführung von Rentenansprüchen ehemaliger DDR-Bürger in bundesdeutsches Recht angeht, enthalten sind. Ich möchte meine persönliche Betroffenheit kurz erklären, weil ich denke, es ist eine ziemlich komplizierte Materie.
Ich muß mich enthalten, weil Sie wieder nicht bereit sind, DDR-Biographien anzuerkennen. Ich und mit mir sehr viele andere Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern werden im nachhinein dafür bestraft, daß wir nicht in der DDR, sondern im Ausland studiert haben. Daß Sie das in diesen Entwurf nicht mit aufgenommen und im Rentenrecht korrigiert haben - wenn Sie es schon 1991 nicht wußten, hätten Sie es wenigstens im nachhinein ändern können -, finde ich wirklich perfide.
Ich werde mich trotz der richtigen Schritte enthalten, weil ich Ihr Vorgehen als wirklich feige empfinde.
Die ersten Studenten und Studentinnen aus der DDR, die innerhalb des sozialistischen Auslandes studieren durften, taten dies Anfang der 50er Jahre. Da begann es. Ein Großteil studierte dort in den 60er und 70er Jahren; ich habe in den 70er Jahren studiert. Diese Frauen und Männer werden natürlich zum großen Teil erst in 10 oder 20 Jahren merken, daß sie mit Ihrer konkreten Ausgestaltung der Rentenüberleitung dafür bestraft werden, daß sie nicht in der DDR studiert haben, sondern in der Sowjetunion, Ungarn, Bulgarien oder Polen.
Diese Auslandsstudienzeiten waren bei uns nicht versicherungspflichtig. Dieses Problem wurde erkannt und von der Volkskammer noch 1990 in einer Verordnung geändert. Das können Sie in unserem Antrag entsprechend nachlesen. Diese Änderung haben Sie aber nur für eine Übergangszeit als rentenwirksame Zeit anerkannt.
Frau Kollegin, Sie dürfen nicht wieder diskutieren.
Das heißt zum Beispiel für meine Rentenberechnung - deswegen muß ich mich bei diesem Gesetzentwurf enthalten -, daß meine Studienzeit nicht mehr anerkannt wird. Von meinen fünf Jahren Studium werden mir nach der neuen Regelung nur drei Jahre anerkannt. Aber diese drei Jahre werden mir nicht einmal voll als rentenwirksame Zeit anerkannt. Sie werden mir vielmehr verlorengehen.
- Das stimmt, Frau Fischer. Sie können die Anträge ja noch einmal nachlesen; da ist das ausführlich begründet.
Frau Kollegin, Sie dürfen nicht wieder diskutieren.
Aus diesen Gründen werde ich mich bei der heutigen Abstimmung der Stimme enthalten und möchte Sie nochmal ermahnen, nicht im nachhinein Bestrafungen für DDR-Biographien vorzunehmen. Ich bitte Sie deshalb, unserem Änderungsantrag zuzustimmen.
Als nächste, die eine Erklärung zur Abstimmung abgibt, die Kollegin Dagmar Enkelmann.
Ich sage noch einmal zur Klärung: Wenn ich Sie bitte, nicht wieder zu diskutieren, heißt das, daß man keine anwesenden Debattenredner ansprechen, sondern nur zu seinem persönlichen Abstimmungsverhalten reden darf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde mich bei der Abstimmung über den Regierungsentwurf der Stimme enthalten. Ich kann nicht zustimmen, weil durch ihn Strafrecht sowohl für eine bestimmte Frist, nämlich bis zum 1. Januar 1997, als auch für eine bestimmte Personengruppe legitimiert wird.
Ich kann nicht zustimmen, weil nach wie vor Lükken in der Überleitung des DDR-Rentensystems nicht geschlossen werden und offenbar auch keine weiteren Anstrengungen unternommen werden sollen, diese Lücken zu schließen.
Ich kann nicht zustimmen, weil berechtigte, vor allem erworbene Ansprüche von Beschäftigten der ehemaligen Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post nicht berücksichtigt sind. Durch die betreffenden Unternehmen wurden Beitragsleistungen auf der Grundlage von entsprechenden Verordnungen entrichtet; hier sind also Anwartschaften entstanden. Ich denke, eine Nichtanerkennung dieser Leistungen kommt einer Enteignung gleich.
Ich schäme mich für den Kollegen Paul Krüger, der Betroffenen wider besseres Wissen falsche Auskünfte gegeben hat.
Ich werde mich enthalten, weil dennoch mit dem Gesetzentwurf für einen großen Teil von Betroffenen
Dr. Dagmar Enkelmann
endlich das Strafrecht abgeschafft wird; dem wollen wir uns nicht entziehen.
Mir liegen noch zwei Wortmeldungen für eine persönliche Erklärung zur Abstimmung vor. Das führen wir hier in Ruhe so, wie es die Geschäftsordnung vorsieht, durch.
Jetzt ist der Kollege Professor Dr. Heuer an der Reihe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde gegen den Regierungsentwurf stimmen. Ich befinde mich dabei in einer widersprüchlichen Situation. Einerseits bringt er für etwa drei Viertel der Betroffenen eine wesentliche Verbesserung mit sich, auch die Aufhebung des Rentenstrafrechts. Andererseits bleibt für einen Teil der Betroffenen die momentane Regelung bestehen oder wird gerade durch den Entwurf noch härter.
Es ist schwer zu erklären und zu begründen, warum für alle Mitarbeiter des MfS, gänzlich unabhängig von ihrer Tätigkeit, so entschieden wird, ebenfalls nicht, warum man ab 2 500 Mark Einkommen für bestimmte Tätigkeiten plötzlich als Privilegierter angesehen wird - es ist das 1,6fache - und man dann auf die Durchschnittsrente heruntergestuft wird. Das bedeutet für viele: bis an ihr Lebensende.
Entscheidend für mein persönliches Abstimmungsverhalten ist aber die verfassungsrechtliche Unhaltbarkeit der gesamten Regelung.
Zum ersten genießen auch Renten den Schutz des Art. 14 des Grundgesetzes; sie sind eine Form des sozialen Eigentums. Das muß auch für Bürger der DDR gelten. Professor Azzola hat ausdrücklich betont: Die Bundesrepublik hat mit der Erstreckung ihres Hoheitsrechts auf die DDR auch die Pflicht zur Eingliederung der gesamten Bevölkerung, woraus sich auch Anspruch auf Nachversicherung ergibt.
Zweitens. Ebenfalls für mein Abstimmungsverhalten von Bedeutung ist: Innerhalb der Rentenregelung muß die politische Wertneutralität des Rentenrechts gelten. Aus dem Gleichheitsgebot in Art. 3 des Grundgesetzes ergibt sich das Verbot der Willkür. Willkür liegt aber vor beim Fehlen vernünftiger Gründe für die Differenzierung oder Gleichbehandlung. Im Vorlagebeschluß des Bundessozialgerichts an das Bundesverfassungsgericht wird erklärt, daß der Zweck dieses Gesetzes schon deshalb nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, weil er für das Rentenversicherungsrecht des SGB VI fremde Kriterien für die Ungleichbehandlung einführt.
Professor Azzola hat zu dem nach 1945 erlassenen Gesetz für die „131er" erklärt: Daß damals keine Schlechterstellung erfolgt ist, „ruft bei den Opfern der nationalsozialistischen Barbarei schmerzhaft die Erinnerung an die Tatsache wach, daß den Tätern dieses mörderischen Systems eine sozialversicherungsrechtliche Diskriminierung nicht abverlangt wurde. Diese Asymmetrie" in bezug auf die Regelung für Personen des NS-Staates und für Bürger der DDR „fördert nicht die Überzeugungskraft und die Glaubwürdigkeit deutscher Politik. "
Meine Damen und Herren, entgegen manchen Auffassungen, auch in unseren Reihen, sieht die Mehrheit der Ostdeutschen, auch die Mehrheit der PDS-Mitglieder und -Anhänger, in der Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland trotz vieler Probleme einen Fortschritt. Entscheidungen wie die auf dem Gebiet des Rentenrechts, die den Stempel politischer Willkür tragen, der jetzt durch die Auswahl noch deutlicher geworden ist, sind geeignet, eine solche Haltung zu untergraben.
Herr Abgeordneter, hören Sie bitte einmal einen Moment zu.
Ich lehne aus diesen Gründen den Entwurf ab.
Herr Abgeordneter, Sie müssen jetzt einmal einen Moment zuhören. Sie dürfen zur Sache keine Ausführungen mehr machen, nur zu Ihrem persönlichen Abstimmungsverhalten.
Ich lehne den Gesetzentwurf aus den genannten Gründen ab. Er stellt Grundprinzipien des Verfassungsrechts in Frage.
Ich meine, das sollte von Bedeutung sein. Sie stellen die Frage der Gerechtigkeit. Ich erinnere Sie daran, es gibt ein Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Sie sollen auch nicht mehr mit den Kollegen diskutieren.
Die letzte persönliche Erklärung zur Abstimmung gibt die Kollegin Lüth ab.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich lehne den Gesetzentwurf der Regierung ab, weil ich nicht möchte und auch nicht verstehen kann, warum eine Gruppe, die wir in unserem Änderungsantrag besonders hervorgehoben haben, nämlich die Frauen und Männer, die Sozialzuschläge bekommen - das sind diejenigen, die weniger als 674 DM Rente erhalten -, benachteiligt wird. Diese Sozialzuschläge werden im Unterschied zu den Auffüllbeträgen ab 1. Januar 1997 ersatzlos gestrichen.
Ich werde mich der Stimme enthalten, weil ich nicht möchte, daß diese Menschen, besonders hochbetagte Frauen, sofort zu Sozialhilfeempfängern werden.
Ich werde mich der Stimme enthalten, weil ich nicht
möchte, daß diese Fälle zu einem Verschiebebahnhof
werden, nämlich heraus aus den Sozialzuschlägen
Heidemarie Lüth
und hinein in die Sozialhilfe. Sie würden damit die Kassen der Kommunen belasten. Im Grunde genommen werden diese Menschen nur aus einem anderen Topf finanziert.
Ich lehne das Gesetz ab, weil ich nicht möchte, daß sich diese hochbetagten Menschen - sie sind älter als 75 Jahre - noch einmal einer Bedürftigkeitsprüfung unterziehen, Anträge stellen und in dieser Demütigung zum Sozialamt gehen müssen.
Ich lehne diesen Antrag ab, weil in diesem Fall die Sozialzuschläge nichts anderes waren als pauschalisierte Sozialhilfe. Die Zuschläge wurden bisher gezahlt. Eine Änderung hat sich bei den betroffenen Menschen nicht ergeben. Sie werden nun aber gestrichen, ohne daß eine andere Variante, zum Beispiel eine Weiterbezahlung der Sozialhilfe ohne Antrag, in Betracht gezogen wurde. Das passiert wahrscheinlich in der Hoffnung, daß viele dieser betroffenen Frauen und Männer auf Grund ihres hohen Alters gar nicht in der Lage sein werden, diese Anträge zu stellen.
Ich lehne diesen Gesetzentwurf ab, weil ich denke, daß es seine ungeheuere Unverschämtheit ist, gerade Hochbetagte so zu behandeln.
Frau Kollegin, der letzte Teil war nun eindeutig ein Debattenbeitrag. Sie haben nicht das Abstimmungsverhalten anderer zu beurteilen, sondern Ihr eigenes zu begründen.
Wir treten jetzt in die Abstimmung ein und stimmen zunächst in einfacher Abstimmung über die Änderungsanträge der PDS ab. Es gibt 21 Änderungsanträge.
Wir stimmen zunächst über den Antrag auf Drucksache 13/5626 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.
Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 13/5628 ab. Wer stimmt dafür? -
- Frau Kollegin Mascher, wir sind in der Abstimmung.
Ich bitte die Geschäftsführer nach vorne zu kommen, damit ich erfahre, um was es geht. -
Wir haben das jetzt geklärt. Es ging der Kollegin Mascher darum, bei der Drucksache 13/5628, die zwei Einzelpunkte hat, getrennt abzustimmen. Wir haben uns jetzt geeinigt, das so zu machen; deswegen lasse ich jetzt so abstimmen.
Wer stimmt der Drucksache 13/5628 Punkt 1 zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag Punkt 1 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt worden.
Wir kommen jetzt zur Drucksache 13/5628 Punkt 2. Wer stimmt dem Änderungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Punkt 2 des Änderungsantrags ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5629. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5630. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5631. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit genau demselben Stimmverhältnis wie eben abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5632. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit demselben Stimmverhältnis abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5633. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit demselben Stimmverhältnis abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5634. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit demselben Stimmverhältnis abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5635. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit demselben Stimmverhältnis abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5636. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5637. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5638. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit demselben Stimmverhältnis wie eben abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5639. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
ser Änderungsantrag ist mit demselben Stimmverhältnis abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5644. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmverhältnis abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5645. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit demselben Stimmverhältnis abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5646. Zustimmung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5647. Zustimmung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5648. Zustimmung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit demselben Stimmenverhältnis wie eben abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5649. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5650. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Änderungsantrag auf Drucksache 13/5651. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Damit sind wir am Ende dieser Abstimmungen. Alle Änderungsanträge der PDS sind abgelehnt worden.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und einige Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und sonstigen Stimmen aus der Gruppe der PDS angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD und vier Stimmen aus der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen und sonstigen Stimmen aus der Gruppe der PDS und einer Stimme aus der SPD angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/5652. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS und zwei Stimmen aus dem Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Europäische Betriebsräte
- Drucksachen 13/4520, 13/5021 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/5608 -
Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Gisela Babel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Peter Keller.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen jetzt einen Sprung machen von einem wichtigen Gesetz zur deutschen Sozialpolitik hin zu einem wichtigen Thema der europäischen Sozialpolitik.
Es scheint ja bisweilen so zu sein, daß in Europa die politischen Entscheidungswege besonders lang sind. Aber gerade deshalb freue ich mich heute, daß endlich auch die Arbeitnehmer in europaweit tätigen Unternehmen einen gesetzlichen Anspruch auf Unterrichtung und Anhörung haben.
Ich möchte daran erinnern, daß bei uns in Deutschland die Mitbestimmung und Mitverantwortung der Arbeitnehmer ein zentraler Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft ist, ein zentraler Bestandteil dessen, was wir soziale Partnerschaft nennen. Das 1952 verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz zeigt, wie wichtig für Adenauer und Erhard die Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer waren. Dieses Vertrauen in eine betriebliche Sozialpartnerschaft hat auch in Deutschland entscheidend zum sozialen Frieden beigetragen.
Lassen Sie mich einen Vergleich europäischer Art anstellen: Der Vergleich zwischen Deutschland und Großbritannien beweist, daß Partnerschaftsmodelle nicht nur sozialer, sondern auch wirtschaftlich erfolgreicher sind.
An dieser Stelle möchte ich der jetzigen Bundesregierung, insbesondere unserem Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, aber auch früheren Bundesregie-
Peter Keller
rungen dafür danken, daß sie das deutsche Mitbestimmungsmodell nicht auf dem Einheitsaltar Europas geopfert haben. Vergessen wir nicht: Auch bei uns hat sich die Mitbestimmung seit dem Jahre 1951/ 52 kontinuierlich entwickelt.
Ich mache keinen Hehl daraus, daß auch manches von meinen persönlichen Vorstellungen als früherer Betriebsrat dem Koalitionskompromiß, wie er jetzt vorliegt, zum Opfer gefallen ist. Aber ich sage auch: Lieber das Machbare umsetzen, als immer dem Wünschenswerten nachtrauern.
Mit diesem Gesetz zeigen wir deutlich, daß der europäische Binnenmarkt nicht nur ein gemeinsamer Wirtschaftsraum sein darf. Die soziale Dimension muß im gleichen Maße mit entwickelt werden. Europaweit tätige Unternehmen brauchen eine europäische Arbeitnehmervertretung. Allerdings dürfen wir nicht dem Fehler erliegen, den Europäischen Betriebsrat, weil der Begriff gleich ist, auch in der Sache mit dem deutschen Betriebsrat gleichzusetzen. Die Richtlinie ist kein harmonisiertes europäisches Betriebsverfassungsgesetz.
Der Begriff „Betriebsrat" mag bei manchen von uns zu hohe Erwartungen wecken. Vorerst haben die Arbeitnehmer ein Unterrichtungs- und Anhörungsrecht. Sie erfahren jetzt also rechtzeitig von geplanten Verlagerungen ihrer Betriebe, Unternehmensschließungen oder europaweiten Massenentlassungen.
Der vorliegende Gesetzentwurf steckt eben Mindestbedingungen ab. Denjenigen, denen er nicht weit genug geht - wie Teilen der Opposition -, sei gesagt: Setzen wir auf die Eigenverantwortung und Vernunft der betrieblichen Partner! Es gibt viel mehr pragmatische Lösungen, viel mehr partnerschaftliche Zusammenarbeit, als man uns glauben machen will.
Auch aus persönlicher Erfahrung meine ich: Die Sozialpartnerschaft muß, gerade im Betrieb, gelebt werden. Wir können sie nicht per Gesetz verordnen.
Eines möchte ich noch deutlich herausheben: Das deutsche Mitbestimmungsrecht darf auch zukünftig nicht durch EU-Recht ausgehöhlt werden. Ich sehe hier eine gewisse Gefahr auf uns zukommen; denn die Kommission hat bereits Vorschläge für Verordnungen zu dem Statut einer Europäischen Genossenschaft, einer Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft und eines Europäischen Wirtschaftsvereins. Ziel ist es, die grenzüberschreitende Tätigkeit zu erleichtern, indem für sie eine europäische Rechtsform möglich wird.
Das bedeutet natürlich im Klartext, daß damit beispielsweise eine deutsche Aktiengesellschaft leichter in einen europäischen Wirtschaftsverein umgewandelt werden kann und so der deutschen Mitbestimmung entfliehen könnte. Deshalb müssen wir unsere ganze Kraft darauf konzentrieren, daß diese neuen Gesellschaftsformen mit ausreichenden Informations-, Konsultations- und Mitwirkungsmöglichkeiten verknüpft werden.
Noch eines: Für die nationalen Mitbestimmungsregelungen muß ein Bestandsschutz gelten, soweit sie über EU-Mindestnormen liegen. Eine Schlußbemerkung, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Ich meine, wir haben mit dem Europäischen Betriebsräte-Gesetz nicht ein halbleeres Glas, sondern ich sage, wir haben ein halbvolles Glas vor uns stehen. Wir haben etwas in der Hand, das wir gemeinsam weiterentwickeln können. Ich möchte die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ermuntern und auffordern, diese partnerschaftliche Möglichkeit optimal zu nutzen. Das Gesetz über Europäische Betriebsräte gibt Ihnen dazu die Chance.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Leyla Onur.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr als 20 Jahre haben Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen Seite an Seite mit den Gewerkschaften für einen Europäischen Betriebsrat gekämpft. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich das Zustandekommen der Euro-Betriebsratsrichtlinie vom 22. September 1994, obwohl viele berechtigte Forderungen in dem Kompromiß eines Kompromisses auf der Strecke geblieben sind, nach dem Grundsatz: Eine unbefriedigende Richtlinie ist besser als keine.
Die Verabschiedung der Richtlinie unter deutscher Ratspräsidentschaft ist nicht das Verdienst unseres Bundesministers gegen Arbeit und Soziales,
sondern eher ein Glücksfall für den sonst glücklosen Herrn Blüm. Die Richtlinie ist ihm wie ein reifer Apfel in den Schoß gefallen.
Ich möchte Sie nicht mit der Geschichte dieser Richtlinie langweilen, sondern nur nüchtern feststellen, daß vor Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages alle Vorschläge der Kommission am Einstimmigkeitsprinzip, insbesondere an der Blockadehaltung Großbritanniens, gescheitert sind.
Erst nach Maastricht konnten elf Mitgliedstaaten ohne Großbritannien auf der Basis des Sozialabkommens Mindeststandards zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer mit qualifizierter Mehrheit beschließen. Nur deshalb und weil die Zeit für diese Richtlinie überreif war, konnte sich die deutsche Ratspräsidentschaft mit dieser Richtlinie schmücken.
Um diesen Glücksfall nicht zu verspielen, hat die Bundesregierung ausnahmsweise annähernd rechtzeitig einen Entwurf zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht eingebracht. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, daß die Richtlinie fast fristgerecht umgesetzt werden soll, bedauert aber genauso ausdrücklich, daß die Richtlinie - wie bei dieser Bundesregierung ja leider üblich - sehr restriktiv umgesetzt wird.
Leyla Onur
Meine Damen und Herren, in der EU-Richtlinie sind vertragsgemäß Mindeststandards festgelegt. Der nationale Gesetzgeber kann und soll unter Anwendung seiner Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten die Richtlinie umsetzen. Das heißt, er kann und soll über die Mindeststandards hinausgehen, wenn die nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten weiter gehen.
Dieser Gesetzentwurf verzichtet nicht nur auf diese Möglichkeit, sondern unterläuft teilweise die in der Richtlinie festgelegten Mindeststandards. Das ist wieder einmal ein Beispiel dafür, daß sich diese Bundesregierung - allen voran der Bundeskanzler - in Sonntagsreden selbstgefällig als Lokomotive im europäischen Einigungsprozeß feiert, aber bei konkreten Richtlinien-Umsetzungen in dem hinteren Wagen Platz nimmt.
Um die gravierenden Mängel dieses Gesetzesentwurfes zu beseitigen, hält die SPD-Bundestagsfraktion - unterstützt von der Mehrheit der Sachverständigen, die wir am 17. Juni angehört haben - folgende Änderungen für notwendig:
Gewerkschaften sollen beratend an den Sitzungen teilnehmen können.
Die Freistellung und Kostenübernahme der Schulungs- und Bildungsmaßnahmen für Euro-Betriebsräte muß im Gesetz geregelt werden.
Den Tendenzschutz kann man dagegen streichen.
Für leitende Angestellte darf es keine Vorzugsbehandlung geben.
Zur außergerichtlichen Beilegung von Streitfällen muß eine Einigungsstelle vorgeschrieben werden.
Arbeitnehmerschutzbestimmungen müssen auch für Euro-Betriebsräte gelten, die durch eine freiwillige Vereinbarung zustande gekommen sind.
Die zentrale Leitung und der Euro-Betriebsrat sollen die Kostenübernahme für weitere Sachverständige vereinbaren können.
Der Euro-Betriebsrat soll weitere Ausschüsse bilden können, wenn es erforderlich ist, und die zentrale Leitung muß mindestens einmal im Jahr den Euro-Betriebsrat unterrichten und anhören.
Die Unterrichtung und Anhörung muß natürlich rechtzeitig und unter Zurverfügungstellung der erforderlichen Unterlagen erfolgen.
Die Unterlagen müssen selbstverständlich in der jeweiligen Muttersprache vorgelegt werden, und der Euro-Betriebsrat muß vor Durchführung von Maßnahmen eine Stellungnahme abgeben können.
Diese aus unserer Sicht notwendigen Regelungen und Klarstellungen haben wir, in 23 Änderungsanträgen formuliert, in den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung eingebracht. Wir haben erwartet, daß sich die Damen und Herren der CDU/CSU und der
F.D.P. differenziert mit unseren Vorschlägen auseinandersetzen
und nach gründlicher Prüfung einigen Änderungsanträgen der SPD zustimmen würden. - Pustekuchen!
- In der Tat.
Die Koalitionsmehrheit hat alle 23 Änderungsanträge sozusagen pauschal abgelehnt - nicht, weil die Damen und Herren der Meinung waren, die von uns eingebrachten Änderungen seien überzogen, nicht europakonform oder gar klassenkämpferisch, sondern einzig und allein, weil die F.D.P. sich mal wieder mit ihrer unternehmerfreundlichen, aber dafür arbeitnehmer- und europafeindlichen Haltung durchgesetzt hat.
Ich zitiere aus dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales:
Die Mitglieder der Fraktion der F.D.P. machten .. . deutlich, daß sie den Gesetzentwurf begrüßten,
jedoch weitergehende Wünsche verhindert hätten,
zumal deren Verwirklichung hauptsächlich die Unternehmen mit zusätzlichen Kosten belastet hätte.
Der Rest der Koalition hat sich der Blockade der F.D.P. wider besseres Wissen gefügt.
- Das ist wahr, das ist meine Anfügung.
Der Rest der Regierungskoalition hat sich der Blokkade der F.D.P. wider besseres Wissen gefügt.
Der Schwanz, meine Damen und Herren, hat mal wieder mit dem Hund gewackelt.
Meine Damen und Herren, es wäre der Bedeutung dieses Gesetzes angemessen, alle notwendigen Än-
Leyla Onur
derungen in dieser Debatte zu erläutern, aber dafür reicht leider meine Redezeit nicht aus.
Ich werde deshalb nur auf zwei Forderungen näher eingehen.
Eine wichtige SPD-Forderung lautet:
Beauftragte von im Betrieb vertretenen Gewerkschaften können auf Antrag eines Viertels der Mitglieder an den Sitzungen beratend teilnehmen.
Das ist nach den deutschen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Das Argument der Bundesregierung, die Vertretung der Gewerkschaften sei in der Richtlinie nicht geregelt worden, ist nur vorgeschoben, denn die Bundesregierung weiß ganz genau, daß die Teilnahme von Gewerkschaften deshalb nicht geregelt worden ist, weil die nationalen Gesetzgeber dies entsprechend ihren Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten umsetzen wollten.
Anders ausgedrückt: Es war keineswegs das erklärte Ziel des europäischen Gesetzgebers, ein gewerkschaftsfreies Gesetz zu schaffen. Die Änderung, die die Koalition vorgeschlagen und im Ausschuß natürlich mit ihrer Mehrheit verabschiedet hat -„Sachverständige können auch Beauftragte von Gewerkschaften sein" -, ist gelinde gesagt eine Veräppelung,
denn weder die Richtlinie noch der Gesetzentwurf schreiben vor, wen die Euro-Betriebsräte einladen dürfen.
Ich erinnere an dieser Stelle an die unternehmerfreundliche Aussage der F.D.P., den Unternehmen dürften keine zusätzlichen Kosten entstehen. Wenn es Ihnen nur darum geht, verehrte Frau Babel, dann ist diese Änderung geradezu kontraproduktiv.
Wenn ein Gewerkschaftsvertreter als Sachverständiger eingeladen wird, muß das Unternehmen die Kosten tragen. Wird er jedoch als Berater hinzugezogen, kostet dies das Unternehmen keinen Pfennig. Die Euro-Betriebsräte könnten einen oder mehrere Sachverständige auf Kosten der zentralen Leitung einladen und zusätzlich und kostenlos, Frau Babel, die Beratung durch Gewerkschaftsvertreter in Anspruch nehmen,
und zwar zum Wohle der Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Die Zeit läuft mir leider davon, deshalb einige wenige Sätze zu unserem Antrag „Freistellung und Kostenübernahme der Schulungs- und Bildungsmaßnahmen für Euro-Betriebsräte " .
Der Sachverständige Wolfgang Müller, Sekretär eines Euro-Betriebsrates einer Computerfirma, hat in der Anhörung aus der Praxis berichtet und zwei Bereiche genannt: erstens: Sprachschulung, zweitens: Kenntnisse über wirtschaftliche Zusammenhänge, zum Beispiel amerikanisches Bilanzrecht.
Der Praktiker Müller hat es auf den Punkt gebracht mit seiner Schlußfolgerung - ich zitiere -:
Wenn es nicht die Möglichkeit gibt, daß man sich durch einen Bildungsanspruch von einer Woche pro Jahr kundig machen kann, sind die einmaligen Sitzungen pro Jahr eine relative Farce, weil man nicht versteht, worum es geht.
Auf Frau Babels Kostenmanie will ich eigentlich nicht noch einmal zurückkommen; denn für große Unternehmen sind die zur Rede stehenden Kosten für Schulungsmaßnahmen auf neuhochdeutsch „Peanuts".
Der Sachverständige Professor Dr. Meinhard Heinze hat in der Anhörung geäußert, wir dürften den in unserem Betriebsverfassungsgesetz verankerten Schulungsanspruch nicht auf Euro-Betriebsräte anwenden, weil die anderen Mitgliedstaaten das Recht auf Schulungsmaßnahmen nicht vorgesehen hätten. Eine einseitige Besserstellung der deutschen Arbeitnehmervertreter würde auf den energischen Widerstand der Arbeitnehmervertreter aus anderen Mitgliedstaaten stoßen.
Argument und Einschätzung sind schlicht falsch; denn in dem bereits verabschiedeten Gesetz der Niederlande ist den Euro-Betriebsräten ein eigenständiger Schulungs- und Bildungsanspruch ausdrücklich zugestanden worden - in Art. 4 Abs. 3 nachzulesen. Auch Frankreich hat 120 Stunden für Schulung und Bildung vorgesehen, wobei die Zeit, die auf Sitzungen verbracht wird, nicht angerechnet wird. In Österreich werden die Euro-Betriebsräte natürlich ebenfalls einen Schulungs- und Bildungsanspruch haben, weil das bestehende österreichische Gesetz, das einen solchen Anspruch enthält, nur ergänzt wird.
Drei europäische Länder, drei vorbildliche Regelungen, die von uns zur Nachahmung empfohlen werden.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist eigentlich schon überschritten.
Ich bin gleich fertig.
Mit uns gemeinsam hätten Sie den Gesetzentwurf so gestalten können, daß er sich europaweit hätte sehen lassen können und den berechtigten Interessen von Arbeitnehmern und Unternehmern gerecht geworden wäre.
Leyla Onur
Wir, die SPD, stimmen dem Europäischen Betriebsräte-Gesetz dennoch zu; denn es ist ein bereits lange überfälliger erster Schritt. Auf niedrigem, aber halbwegs praktikablem Niveau wird für Arbeitnehmer eine Basis geschaffen, von der aus sie eine gemeinsame europäische Zusammenarbeit aufbauen können. Die praktische Anwendung wird - sicherlich auch im Interesse und unter aktiver Mithilfe der Unternehmer - die Schwächen dieses Gesetzes hoffentlich korrigieren.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annelle Buntenbach.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In den letzten Monaten ist in jeder Debatte das Stichwort Globalisierung bemüht worden. Es war sicher das meistbenutzte Stichwort in der Wirtschaftspolitik, insbesondere aber bei Sozialkürzungen aller Art. Dabei wird immer wieder die Ohnmacht der Nationalstaaten beschworen, den ganzen Globalisierungsprozeß irgendwie steuern zu können. In der Tat sind internationale Standards unabdingbar, wenn man nicht auf politische Gestaltung verzichten und der rasanten Internationalisierung der Ökonomie tatenlos zusehen will.
Der europäische Binnenmarkt ist inzwischen voll funktionsfähig, während der politische Einfluß nach wie vor unterentwickelt ist. Das gilt nicht nur für die demokratischen Strukturen auf der Ebene der Parlamente, sondern auch für die Demokratie in den europaweit agierenden Betrieben, die Mitbestimmung durch Belegschaften und ihre Vertretungen.
Die Konzernspitzen handeln international, oft genug entlang der Logik der Aktienkurse. Die Belegschaften haben nur geringe Chancen, ihre Interessen geltend zu machen, mitzugestalten oder auch nur den Überblick zu behalten. Das aber ist eine Mindestvoraussetzung dafür, nicht beliebig gegeneinander ausgespielt zu werden, damit nicht unter Ausnutzung von Konkurrenz die Standards von Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung überall abgesenkt werden.
In diesem Zusammenhang ist die EU-Richtlinie zu Euro-Betriebsräten und ihre Umsetzung in nationales Recht ein wichtiger Schritt. Immerhin werden die Regeln für die Errichtung eines Euro-Betriebsrates sowie seine Unterrichtungs- und Anhörungsrechte hier verbindlich festgelegt.
Das ist wenig genug, denn um Mitbestimmungsrechte oder gar das Recht, auf wirtschaftliche Entscheidungen des Unternehmens Einfluß zu nehmen, geht es hier leider noch nicht.
Aber auch mit dem wenigen, was hier geregelt werden soll, kann man so, wie es hier vorgelegt wird, nicht zufrieden sein. Das Ziel muß doch eine praktikable Lösung für die Betriebsräte sein, die deren strukturelle Nachteile gegenüber der Konzernspitze ausgleicht, und zwar, was ihre räumliche Beweglichkeit, die Rechtzeitigkeit der Information, den Zugriff auf Sachverstand und die Kooperation mit den Gewerkschaften angeht.
Der Gewerkschaftszugang, wesentlicher Teil der Koalitionsfreiheit, ist nach wie vor entgegen dem Vorschlag des Bundesrates hier miserabel geregelt. Gewerkschaften können jetzt als Sachverständige hinzugezogen werden. Allerdings - und dies ist ein weiterer Kritikpunkt - werden die Kosten für nur einen Sachverständigen übernommen.
Weiterbildung und Sprachunterstützung sind für die Betriebsratsmitglieder nicht vernünftig sichergestellt. Das hat Frau Onur soeben schon ausgeführt.
Und Frau Babel wird gleich sicherlich - wie im Ausschuß - sagen, daß dies alles zu teuer ist. Aber das sind ja keine Luxusanforderungen, sondern die Anforderungen, die in den Änderungsanträgen der SPD im Ausschuß und jetzt auch wieder von uns gestellt werden, sind die Grundvoraussetzungen, um überhaupt eine halbwegs angemessene Information und Kooperation in den Betriebsräten sicherzustellen.
Es geht hier nicht um Anforderungen an Kleinstbetriebe, sondern wir reden hier von europaweit agierenden Konzernen, denen eine informierte und motivierte Belegschaft etwas wert sein sollte.
In der Richtlinie, die hier national umgesetzt wird, ist enthalten, daß mit der Geheimhaltungs- und Vertraulichkeitsregelung in einem Gummiparagraphen die Konflikte vorprogrammiert werden. Obwohl es gar nicht um die Mitbestimmung geht, sondern um Anhörung und Unterrichtung, stehen selbst dem Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse im Wege, ohne daß dies jemals jemand überprüfen könnte.
Mit dem Tendenzschutz, hier in der Bundesrepublik seit Jahren bekanntlich umstritten, wird eine überflüssige Regelung, die in Europa einzigartig ist, exportiert. Statt so schlechte Regeln von deutscher Seite in eine EU-Richtlinie zu transportieren, sollte sich die Bundesregierung verstärkt dafür engagieren, Standards der Mitbestimmung in Europa zu verallgemeinern.
Denn so wichtig Unterrichtungs- und Anhörungsrechte als erster Schritt sind, sie reichen nicht aus, um den Interessen der Belegschaften auf dem Weg nach Europa Gehör zu verschaffen.
Es spricht jetzt die Abgeordnete Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach zweiter und dritter Lesung werden wir heute das Gesetz über die Europäischen Betriebsräte beschließen, mit dem eine EU-Richtlinie über die Einsetzung europäischer Betriebsräte umgesetzt wird.
Wir erfüllen damit sowohl dem Bundesarbeitsministerium als auch der SPD einen Herzenswunsch. Beide sind nicht müde geworden, darauf hinzuweisen, daß diese Richtlinie pünktlich umgesetzt werden muß. Den Stichtag 22. September haben wir zwar nicht ganz erreicht, wir überschreiten die Frist aber nur wenig, insbesondere dann, wenn der Bundesrat das Verfahren ebenfalls zügig durchführt und den Vermittlungsausschuß nicht anruft. Nach den Äußerungen der SPD besteht in dieser Hinsicht eine gewisse Hoffnung.
In einem zusammenwachsenden Europa agieren auch die Unternehmen länderübergreifend. Tochterunternehmen oder Filialen im Ausland sind bei größeren Unternehmen heute schon nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Die Rechte der Belegschaft dürfen bei einer solchen Internationalisierung
nicht zu kurz kommen.
Es ist daher richtig und geboten, auch auf europäischer Ebene Unterrichtungs- und Anhörungsrechte für Arbeitnehmer gesetzlich zu verankern. Der Entscheidungsprozeß in einem Unternehmen sollte die Arbeitnehmer möglichst frühzeitig erreichen.
Aus den deutschen Erfahrungen mit dem Betriebsverfassungsgesetz heraus wissen wir, daß aus dieser Akzeptanz von Entscheidungen für die Unternehmensleitung ein großer Vorteil erwächst.
Die Tatsache, daß es schon heute viele freiwillige Vereinbarungen über die Errichtung solcher Europäischen Betriebsräte gibt, beweist, daß in den Unternehmen hierfür ein Bedürfnis erkannt wird.
Für die F.D.P. war es wichtig, in diesem Prozeß die Rolle der leitenden Angestellten festzuschreiben, und zwar von Anfang an. In der Absicht des Bundesarbeitsministeriums lag es nicht, diese Gruppe mit zu berücksichtigen. Aber die F.D.P. hat es immerhin erreicht, daß der Betriebsrat auch die leitenden Angestellten, und zwar die von ihren Sprecherausschüssen gewählten Vertreter, hinzuziehen muß.
- So bedauerlich ist das nun auch nicht. Daß sie Interessen haben, werden Sie nicht ganz leugnen können. - Das gilt nicht nur für die gesetzlich vorgeschriebenen, sondern auch für die auf Vereinbarungen beruhenden Europäischen Betriebsräte. Begrüßenswert ist aus unserer Sicht, daß auch diese Gruppe in den freiwilligen Vereinbarungen zwingend berücksichtigt werden muß.
Der Inhalt des Gesetzes über den Europäischen Betriebsrat war zwischen der Koalition und der SPD-Opposition heftig umstritten. Eine Vielzahl gewerkschaftlicher Änderungswünsche wurden in der Tat nicht berücksichtigt. Frau Onur hat sie uns hier in Erinnerung gerufen; es war ein ansehnliches Paket. Sie waren weitestgehend entweder darauf gerichtet, durch ein üppiges Ausstatten der Betriebsräte Kosten zu verursachen - ich bin der Meinung, daß die Zeit nicht gerade geeignet ist, Kosten auf Unternehmen abzuwälzen, sondern daß wir auf Kostenentlastungen aus sein sollten -,
oder sie betrafen die Beauftragten der Gewerkschaften. Sie haben darauf hingewiesen, daß diese Beauftragten nichts kosten würden, weil die Gewerkschaften das zahlen. Ich frage mich immer, ob die Gewerkschaften ihre eigenen Ölquellen haben. Sie haben doch auch Kosten, die sie aus Arbeitnehmerbeiträgen finanzieren. Insofern ist der Hinweis vielleicht nicht so ganz ohne.
Ich sage es einmal so: Ein Europäischer Betriebsrat kann - das ist im Gesetz enthalten - die Präsenz der Gewerkschaft durchaus garantieren, wenn der einen solchen Beauftragten als Sachverständigen benennt. Ein Mehr scheint mir nicht sachgerecht.
Ich denke auch, daß wir mit der Umsetzung die notwendigen Entscheidungen getroffen haben. Lassen Sie uns erst einmal ein bißchen Erfahrungen sammeln. Falls es hier irgend etwas gibt, was wir verbessern können - wir wollen auch den nachkommenden Politikern etwas Arbeit übriglassen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hanns-Peter Hartmann. Da er heute Geburtstag hat, gratuliere ich ihm im Namen des Hauses dazu.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts wäre mir lieber, als einem Gesetz zuzustimmen, das die Mitbestimmungsrechte der deutschen Betriebsräte auf europäische Unternehmen ausweitet. Aber was die Bundesregierung hier vorgelegt hat, ist kein Gesetz für Europäische Betriebsräte, sondern es ist ein Betriebsräteverhinderungsgesetz.
Bis auf den irreführenden Titel gibt es doch kaum Parallelen zum deutschen Betriebsverfassungsgesetz. Kein Wunder also, daß Begriffe wie Mitwirkung oder gar Mitbestimmung im vorliegenden Entwurf gar nicht erst vorkommen. Das einzige, was dieses Gesetz der Unternehmensleitung abverlangt, sind die nur einmal im Jahr vorgeschriebene Unterrichtung und die Anhörung dieses sogenannten Betriebsrats. Mehr hat dieses Gesetz doch nicht zu bieten.
Meine Redezeit reicht leider nicht aus, um all das aufzuzählen, was dieses sogenannte Betriebsräte-Gesetz im Unterschied zum deutschen Recht nicht
Hanns-Peter Hartmann
enthält. Um so dubioser ist es doch, wenn der Regierungsentwurf ausgerechnet den Tendenzschutzparagraphen des deutschen Betriebsverfassungsgesetzes in das europäische Recht einbringt, einen Paragraphen, der erstens die geradezu lächerlichen Rechte des Europäischen Betriebsrats noch mehr einschränkt und der zweitens im europäischen Rechtsraum völlig fremd ist. Den Europäischen Betriebsräten werden zwar sämtliche Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsverfassungsgesetzes vorenthalten, aber diesen Knebelparagraphen für sogenannte Tendenzbetriebe bekommen sie trotzdem nachgereicht.
Es ist für das Europaverständnis dieser Regierung doch bezeichnend, daß sie nichts unversucht läßt, um dem deutschen Kapital auf dem europäischen Markt mehr Handlungsfreiheit zu verschaffen, aber gleichzeitig die Handlungsfähigkeit der Belegschaftsvertretungen einschränkt. Gäbe es nur einen kleinen Fortschritt in Ihrem Entwurf, könnten wir ihm zustimmen. Hätten Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich an den wesentlich weitergehenden Regelungen für die bereits bestehenden Europäischen Betriebsräte orientierte, dann hätten wir zugestimmt. Doch einem Betriebsräte-Gesetz, das hinter die bestehenden Rechte zurückfällt, kann eigentlich nur derjenige in diesem Hause zustimmen, der ausschließlich die Unternehmerinteressen vertritt.
Vielen Dank.
Jetzt hat Herr Bundesminister Norbert Blüm das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine verehrte Frau Kollegin Babel hat die Behauptung aufgestellt, daß das Europäische Betriebsräte-Gesetz ein Herzenswunsch des BMA sei. Frau Kollegin Onur hat die Behauptung aufgestellt, daß uns der Europäische Betriebsrat in den Schoß gefallen sei und wir gar nichts dafür getan hätten.
Es stehen sich also zwei Aussagen gegenüber. Man muß sich entscheiden, wer recht hat. Ich kann Ihnen das sagen: Frau. Babel hat recht.
Wo sie recht hat - ich bin auf das Einhalten der Wahrheit vereidigt -, hat sie recht: Das ist unser Herzenswunsch.
Auch Frau Onur hat mich nicht überrascht. Sie ist ihrer Tradition treu geblieben: All das, was von der Regierung kommt, muß abgelehnt werden, weil es schlecht ist. Sollte es einmal gut sein, dann kann die Regierung nichts dafür. Ganz ernsthaft gesagt: Das ist ein bißchen kleinkariert. Liebe Frau Kollegin Onur, erkundigen Sie sich einmal beim Europäischen Gewerkschaftsbund - das ist doch für Sie eine Autorität -, wer das Hauptverdienst beim Durchsetzen eines Europäischen Betriebsrates hatte. Sie werden dann zu der richtigen Meinung gelangen, daß es die Bundesregierung, der Bundeskanzler und auch der
Bundesarbeitsminister waren. Wenn schon, denn schon.
Ich wollte heute eigentlich gar nicht darüber sprechen, wie dieses Gesetz zustande kam. Erkundigen Sie sich bei der griechischen Präsidentschaft. Hören Sie doch endlich einmal mit der kleinkarierten Argumentation auf, daß all das, was die Regierung macht, schlecht ist. Das Zustandekommen dieses Gesetzes ist ein Schritt vorwärts in Richtung europäische Integration.
Dies ist aus meiner Sicht ein Schritt vorwärts, und zwar ganz im Sinne eines Europas, wie ich es mir verstelle: nicht nur eines Europas der Finanzströme, der Regierungen, der Banken und der Kapitalgeber, sondern auch eines Europas, in dem die Arbeitnehmer mitreden.
Frau Kollegin Babel, ich bitte beim Aspekt der Kostenfrage noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit. Der mündige Arbeitnehmer ist eine ganz liberale Gestalt. Er spart sogar Kosten, weil er motiviert ist und es im Sinne einer modernen Unternehmensführung ist, auf Dialog und Information zu setzen. Ich halte das für die größte Selbstverständlichkeit. Freilich muß das auch institutionell abgesichert sein.
Da wir Neuland betreten, muß man den Rahmen so spannen, daß er von allen ausgefüllt werden kann. Wenn jemand behauptet, wir könnten das deutsche Mitbestimmungsrecht und unser Betriebsverfassungsgesetz einfach exportieren, dann trifft er nicht die europäische Wirklichkeit. Es gibt ganz unterschiedliche Auffassungen über die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen. Ein einfacher Export geht deshalb nicht.
Daß wir jetzt in einem gewissen Rahmen eine Regelung treffen, ist doch ein Fortschritt. 270 Unternehmen in Deutschland werden in diesen Dialog einbezogen. Wir haben so etwas wie eine europaweite Informations- und Konsultationspflicht, denen entsprechende Rechte gegenüberstehen.
Die Gewerkschaften werden mit einbezogen; das haben Sie selber gesagt. Was haben Sie eigentlich gegen die Formulierung „als Sachverständige"? Sie werden doch die Gewerkschaften nicht als Nichtsachverständige bezeichnen. Es kann wohl nicht diskriminierend sein, wenn die Gewerkschaften „als Sachverständige" hinzugezogen werden. Das ist doch geradezu ein Kompliment an die Gewerkschaften und für mich ganz selbstverständlich. Wie kann man daraus ein Negativum machen?
Ich bleibe dabei: Das ist ein Schritt in die Richtung, Europa auch für die Arbeitnehmer verständlich zu machen. Da wir in einem Zeitalter der Globalisierung leben, geht es auch darum, die soziale Dimension dieser Globalisierung zu sichern. Dafür hat sich die Bundesregierung zusammen mit anderen europäischen Staaten und Regierungen eingesetzt.
Ich finde, das Gesetz ist ein wichtiger Beitrag, mit dem für Europa geworben werden kann, auch für ein Europa der Arbeitnehmer. Deshalb ist es für das
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
soziale Europa heute ein guter Tag, wenn wir heute diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über Europäische Betriebsräte; das sind die Drucksachen 13/4520, 13/5021 und 13/5608. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis, wie eben aufgeführt, angenommen worden.
Ich rufe die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Sechsten Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG)
- Drucksachen 13/3993, 13/4069, 13/5098, 13/ 5325, 13/5642 -
Berichterstattung: Abgeordneter Otto Schily
ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren
- Drucksachen 13/3996, 13/5100, 13/5326, 13/ 5643 -
Berichterstattung: Abgeordneter Otto Schily
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Die Geschäftsführer sind übereingekommen, eine 30minütige Aussprache durchzuführen. Als erster hat sich der Abgeordnete Blens gemeldet. Ich erteile ihm das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe nicht den Eindruck, daß Sie viel Lust haben, zu dieser Zeit noch langen Ausführungen zuzuhören. Ich bin auch sicher, daß Sie alle die Vorlage über das Ergebnis der Beratungen des Vermittlungsausschusses zu den beiden Gesetzen über die Beschleunigung von Verwaltungs- und Genehmigungsverfahren gelesen haben. Deshalb mache ich es kurz.
Im Vermittlungsausschuß bestand breite Übereinstimmung darüber, daß wir sowohl bei den Verwaltungsverfahren als auch bei den Genehmigungsverfahren zu Investitionsvorhaben zu erheblichen Vereinfachungen und Verfahrensverkürzungen kommen müssen, um die Investitionsbereitschaft nicht zu beeinträchtigen, auf die Weise zu neuen Arbeitsplätzen zu kommen und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Wir haben einige Änderungen am Gesetzentwurf vorgenommen, von denen keine einzige diesem Ziel widerspricht, sondern es geht um einige Änderungen, bei denen unterschiedliche Meinungen darüber bestanden, ob die Regelungen, die hier im Bundestag gefunden worden sind, dem Ziel der Beschleunigung dienen oder in der Praxis vielleicht das Gegenteil bewirken.
Darüber haben wir diskutiert. Wir haben uns in einigen Punkten überzeugen lassen, daß es zur Beschleunigung bessere Lösungen gibt, als wir sie hier im Bundestag in der dritten Lesung gefunden haben.
Die Änderungen sind marginal. Wir schlagen Ihnen vor, diesem Änderungsvorschlag mit der gleichen breiten Mehrheit zu folgen, mit der er im Vermittlungsausschuß beschlossen worden ist.
Herr Kollege Otto Schily, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß, daß am Freitagvormittag manchmal das Interesse am Parlamentarismus etwas erlahmt. Trotzdem meine ich, daß wir diesen Tagesordnungspunkt nicht so behandeln sollten, als ob wir es nur mit einer Marginalie zu tun hätten. Die Verwaltungsgerichtsordnung und das Bundes-Immissionsschutzgesetz, über die wir jetzt sprechen, sind zwei sehr wichtige Gesetze.
Die Vereinfachung und Beschleunigung von Genehmigungsverfahren ist 'ein wichtiges Vorhaben. Wir sind in der Zielsetzung einig, daß Genehmigungsverfahren beschleunigt und vereinfacht werden sollen. Aber es geht nicht nur um die Interessen von Antragstellern, von Industrieunternehmen, sondern auch darum, daß die Rechte Dritter, die Rechte Betroffener, gewahrt werden, daß der Umweltschutz zu seinem Recht kommt.
Wir haben im Vermittlungsausschuß eine Entdeckung gemacht, nämlich daß er durchaus auch von seiner ihm von der Verfassung zugedachten Rolle Gebrauch machen und konstruktiv zusammenarbeiten kann.
Wir haben eine weitere wichtige Entdeckung gemacht: daß es in der Koalition Potentiale an Vernunft
Otto Schily
gibt, die erschlossen werden können, wenn man mit geduldiger Pädagogik zu Werke geht.
- Nein, der Gipfel sicherlich noch nicht, Herr Kleinert. Bei Ihnen haben wir noch viel Nachholbedarf; das stimmt.
Ich denke, daß wir einige wichtige Punkte erreicht haben. In der Verwaltungsgerichtsordnung ist die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln erhalten geblieben. Wenn wir sie beseitigt hätten, wie es in der Ursprungsfassung der Koalition vorgesehen war, dann wäre nicht etwa eine Vereinfachung, sondern die Überlastung von Gerichten die Folge gewesen. Das haben wir erfreulicherweise verhindern können.
Das gleiche gilt für das Bundes-Immissionsschutzgesetz. Das Vorverfahren im Bundes-Immissionsschutzgesetz bleibt erhalten. Wenn wir dieses Vorverfahren abgeschafft hätten, wie es der ursprüngliche Wille der Koalition war, hätten wir ebenfalls das Gegenteil von dem erreicht, was zu erreichen vorgegeben wurde, nämlich nur Verzögerung und Behinderung.
Es sind auch andere Dinge gestrichen worden, beispielsweise die sogenannte Saldierungsklausel, die dazu geführt hätte, daß der Umweltschutz vernachlässigt worden wäre.
Insgesamt sind wir, glaube ich, zu einem ausgewogenen Ergebnis gelangt, in dem sowohl Vereinfachung und Beschleunigung als auch Umweltschutz und Bürgerrechte zu ihrem Recht kommen. Deshalb empfiehlt die SPD-Bundestagsfraktion, die Empfehlung des Vermittlungsausschusses anzunehmen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Jürgen Rochlitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den positiven Einschätzungen des Kollegen Schily vermögen wir nicht zu folgen. Wir bedauern das Ergebnis des Vermittlungsausschusses sehr. Es bedeutet nach unserer Auffassung einen umweltpolitischen Rückschritt in vordemokratische Zeiten.
Die Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und der Verwaltungsgerichtsordnung soll ein Signal an die Wirtschaft und an das Ausland sein: Seht her, am Standort Deutschland kann man investieren; die Genehmigungen erfolgen schneller als je zuvor; Arbeitsplätze können wieder sprießen. Diese Überlegungen erweisen sich aber bei genauer Betrachtung als Milchmädchenrechnung.
Allein aus aktuellem Anlaß, Herr Schily, hätten alle Mitglieder des Vermittlungsausschusses die Entscheidung vertagen müssen, angesichts des Umgangs der Wirtschaft mit politischen Signalen wie der
Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Wenn Daimler-Benz und BASF dieses Signal des unseligen Sparpakets als Freibrief für die Verletzung der Tarifautonomie betrachten, wie werden sie und andere erst darauf reagieren, wenn nun nach neuem Immissionsschutzrecht vorzeitig, also ohne vorliegende Genehmigung, gebaut werden darf?
Es ist vorauszusehen, daß ab sofort die Antragsteller die Genehmigungstatbestände bestimmen werden. Der Vermittlungsausschuß hat sich damit zum Handlanger für einen Immissionsschutz nicht nach Gesetzeslage, sondern nach den jeweiligen Wünschen der Industrie gemacht. Denn welche Genehmigungsbehörde wird es künftig wagen, vorzeitig errichteten Anlagen eine Genehmigung zu versagen, zumal wenn Arbeitsplätze dabei zur Disposition stehen? Damit besteht die akute Gefahr der Absenkung des Standards des materiellen Umweltrechts.
Schließlich müßten eigentlich die Ländervertreter im Vermittlungsausschuß gewußt haben, daß es insbesondere in schon länger rot-grün regierten Ländern eine gut organisierte Verwaltungspraxis gibt, die zu deutlich verkürzten Genehmigungsverfahren geführt hat. Aber der Vermittlungsausschuß hat leider nicht wahrnehmen wollen, in welchem Maße indirekt Umweltstandards abgebaut werden, wenn genehmigungsloser vorzeitiger Baubeginn und genehmigungsfreie Änderungen zugelassen werden. In diesen Fällen haben weder unmittelbar Betroffene noch die Umweltverbände die Möglichkeit, Bedenken oder gar Einsprüche zu äußern, falls der Stand der Technik nicht eingehalten wird.
So gesehen bedeutet der Beschluß des Vermittlungsausschusses ein Negativsignal an Umweltverbände und Bürger: Wir brauchen und wollen euch nicht im Genehmigungsverfahren; wir machen die Politik gegen euch.
Bezeichnend für diese undemokratische Haltung ist auch, daß Emissionserklärungen künftig lediglich alle vier Jahre zu erstellen sind. Damit werden die Bürger nicht nur entmündigt, sondern sie müssen sich - mit Verlaub - regelrecht verarscht vorkommen; denn eigentlich hätten sie ein Recht auf Mitteilung der jeweils aktuellen Emissionssituationen. Es ist ja ihre Luft, die belastet wird. Doch der Vermittlungsausschuß hat sich zum Schutzpatron derjenigen Emissionsschweine machen lassen, denen daran gelegen ist, daß ihre überhöhten Emissionen möglichst lange nicht bekannt werden.
Meine Damen und Herren aus Koalition und Landesvertretungen, Sie können per Mehrheit weiterhin solche Signale an Umwelt- und Verbraucherverbände sowie Gewerkschaften senden; doch wird
Dr. Jürgen Rochlitz
diese Art der Aufkündigung eines gesellschaftlichen Konsenses nicht zu einer Verbesserung der Standortqualität führen. Arbeitsplätze und Standortqualität werden sich nur nachhaltig sichern lassen, wenn Bürgerrechte und Umweltstandards optimiert und nicht, wie jetzt vorgeschlagen, abgebaut werden.
Danke schön, meine Damen und Herren.
Herr Professor, erlauben Sie mir die Bemerkung: Es ist eigentlich parlamentarischer, in einem solchen Zusammenhang von „nicht ernstgenommen", „verhöhnt" oder „veräppelt" zu sprechen, statt den unparlamentarischen Ausdruck zu gebrauchen, den Sie gewählt haben.
Ich erteile dem Kollegen Detlef Kleinert das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist natürlich richtig, was Herr Schily ausgeführt hat: Der Versuch, einerseits die Verfahren so zu straffen, daß einigermaßen rechtzeitig Gerechtigkeit gewährt wird, und andererseits dafür zu sorgen, daß den betroffenen und zu Recht besorgten Bürgern ihr Recht auf Anhörung und auf eine abgewogene, sorgfältig erwogene Entscheidung erhalten bleibt, ist der bekannte Weg zwischen Skylla und Charybdis. Deshalb bin ich über die einseitige Betrachtungsweise nicht entzückt, die eben Herr Kollege Rochlitz hier vorgetragen hat.
Die entscheidende Frage bei allem Umweltschutz ist - für einen vernünftigen Umweltschutz sind wir alle -: Will man grundsätzlich jede industrielle Maßnahme, jeden Fortschritt, auf welchem Wege auch immer, verzögern, behindern und schließlich unmöglich machen, wie es weite Teile der Grünen tatsächlich wollen, um dann später nach dem Zusammenbruch einmal zu sehen, wie es weitergeht,
oder will man den vernünftigen Anliegen des Umweltschutzes entsprechend seine Stimme zu Gehör bringen? Wir meinen - ich bin sehr erfreut, daß das als Ergebnis des Vermittlungsausschusses, wer dort auch immer der Pädagoge gewesen sein mag, hier auf dem Tisch liegt -, daß wir einen vernünftigen Weg gefunden haben, um den Anliegen des Umweltschutzes sehr wohl gerecht zu werden, aber Obstruktion, vielleicht auch unbewußte und ungewollte Verzögerung etwas einzuschränken. Ob das alles so funktioniert, das soll man, wie so oft, lieber empirisch bewerten. Wir werden ein Auge darauf haben und prüfen, ob sich das bewährt. Wir werden mit Sicherheit in der einen wie in der anderen Richtung Gelegenheit finden nachzubessern.
Schließlich - wenn ich das noch sagen darf - sollte uns dieser Vorgang, so bedeutend er in seinem Bereich ist, nicht ruhen lassen. Vielmehr sollten wir danach ausschauen, an welcher anderen Stelle wir die Verwaltungsgerichte entlasten können. Die Neufassung des Asylrechts, die niemandem leichtgefallen ist, hat jedenfalls zu einer maßgeblichen Entlastung der Verwaltungsgerichte geführt. Wenn an einer so schmerzhaften Stelle mit Erfolg eingeschnitten wird, dann muß man an den Stellen, an denen aus Jux und Tollerei prozessiert wird, erst recht nach dem Rechten sehen.
Ich darf das Stichwort „Konkurrentenklage" einführen. Wenn ein Richter des Bundesgerichtshofs eine Konkurrentenklage erhebt, um zu beweisen, daß er besserer Senatspräsident wäre als der Kollege von nebenan, dann ist er meiner festen Überzeugung nach von Anfang an nicht in der Lage gewesen, Richter am Bundesgerichtshof zu sein; denn diese Dinge entziehen sich einem Urteilsspruch nun einmal. Um das zu verhindern, müssen wir im Rahmen unserer Verfassung nach Mitteln und Wegen suchen.
Ich meine wirklich nicht nur einen Mann; ich meine auch die Eltern von Kindern, die beim Verwaltungsgericht das letzte Ergebnis geringfügig hochschieben wollen und dabei verkennen, daß das Gesamtergebnis furchtbar traurig war. Sonst wäre das Problem nicht entstanden.
Dieser Dinge möchten wir uns bei nächster Gelegenheit gern mit Ihnen gemeinsam annehmen, weil wir wissen, daß die Verwaltungsrichter hervorragende Arbeit leisten und weiterhin unsere Unterstützung brauchen.
- Herr Struck, der erste Teil meiner Rede war die Bewertung des Ergebnisses des Vermittlungsausschusses; der zweite war die freundliche Aufforderung an Sie, weiter an die Zukunft zu denken.
Danke schön.
Ich wünschte, Sie alle hätten sich diesem Applaus angeschlossen; denn heute war ein besonderer Tag: Es ist in meiner Amtszeit als Vizepräsident das erste Mal, daß Detlef Kleinert die Redezeit nicht überschritten hat.
Ich erteile das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank an die Kolleginnen und Kollegen des Bundesrates. Sie haben einen tollen Kompromiß ausgehandelt, der den politischen Realitäten in Deutschland Rechnung trägt. Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer brauchen ihrer Meinung nach Ausnahmeregelungen; anscheinend trauen sie ihnen doch noch ziemlich viel Widerstandswillen und Kritikfähigkeit zu. Deshalb brauchen sie weniger Klage- und Einspruchsmöglichkeiten als ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger in Westdeutschland.
Widerspruchs- und Anfechtungsklagen von betroffenen Bürgerinnen und Bürgern sollen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen keine aufschiebende Wirkung haben - im Unterschied zu den Rechten von Westdeutschen, denen, wie wir gehört haben, nach dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses sehr wohl das elementare Rechtsmittel der aufschiebenden Wirkung zugestanden wird.
Mit der Sonderregelung sollen im Osten bis zum Jahre 2002 - das wurde verlängert; danach wird es wahrscheinlich auch im Westen einziehen - Einspruchs- und Klagerechte für empfindliche Bereiche eingeschränkt werden: für alle Verfahren, die emittierende Anlagen betreffen, für die Genehmigung von Abfalldeponien, für Verfahren im Zusammenhang mit Kraftwerksbauten, für Vorhaben nach dem Bundesberggesetz, für Straßenbauvorhaben und andere Dinge. Das heißt, daß hier der Gang zu Verwaltungsgerichten quasi unwirksam ist.
Wenn ich noch mal die bayerischen Verwaltungsrichter zitieren darf, die uns damals einen Brief geschrieben haben:
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes gehört es zu den fundamentalen Grundsätzen des öffentlichen Prozesses, daß Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben und nicht schon vor einer gerichtlichen Entscheidung vollendete Tatsachen geschaffen werden.
Verfehlt wird dadurch auch das Ziel der Verfahrensbeschleunigung. Denn zwangsläufig wird sich die Zahl der Eilanträge und damit die Belastung der Gerichte automatisch erhöhen.
Das ist die Aussage der bayerischen Verwaltungsrichter; das steht im Widerspruch zu dem, was hier gesagt worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Osten kann nach diesem üblen Kompromiß also weiter Wildwest gespielt werden. Was man in den alten Bundesländern kaum noch durchsetzen kann - in den neuen Ländern läßt es sich machen: Müllverbrennungsanlagen, brisante chemische Anlagen, exzessiver Autobahnbau, die Ausplünderung von Kiesen und Sanden. Alles läßt sich ohne störende Baustopps durchziehen. Die Bau- und Anlagenlobby wird in den neuen Bundesländern weiterhin Strukturen schaffen, die eine nachhaltige Fehlentwicklung zementieren.
Manche Idealisten haben sich von der SPD im Vermittlungsausschuß einen Versuch der Abwehr dieser grundrechteverletzenden Bestrebungen der Bundesregierung erhofft. Bekommen haben sie neben diesem skandalösen Zweiklassenrecht nur Korrekturen von Tippfehlern. Die Substanz der Beschleunigungsgesetze bleibt nämlich unangetastet.
Weiterhin begünstigen die Regelungen in vielfacher Hinsicht die Eigentümer von Industrieunternehmen und schneiden tief in die Schutzrechte der Bürger ein; der Kollege Rochlitz hat das ja bestätigt. Sie verwandeln Gerichte in „Reparaturbetriebe" der Verwaltung und machen aus der Erteilung einer Genehmigung eine Dienstleistung am Kunden. Diesem Tenor schlossen sich auch alle Sachverständigen der Anhörung an, natürlich mit Ausnahme der Vertreter von Bayer, BASF, des Bundes Junger Unternehmer und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie.
Im Juni haben Vertreterinnen und Vertreter der wichtigsten Umweltverbände auf ihrer Bonner Pressekonferenz angekündigt, wenn diese Beschleunigungsgesetze durchkämen, dann sei es vorbei mit den Gängen durch die Instanzen, dann werde den Umwelt- und Bürgerbewegungen wieder die Straße gehören. Auf der gleichen Konferenz haben die Umweltverbände übrigens schon resignierend festgestellt, daß sie die Hoffnung aufgegeben haben, der Bundesrat könnte seine Macht ökologisch nutzen. Nach der Transrapid-Entscheidung sicher eine Illusion!
Im Schatten der Armutsbeschleunigungsgesetze, die am 13. September beschlossen wurden, haben Sie hier einem Kompromiß zugestimmt, der ebenfalls nichts anderes ist als die in Verwaltungsdeutsch eingegossene Standortideologie der Bundesregierung.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Sechsten Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze; das ist Drucksache 13/5642. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Vizepräsident Hans Klein
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/5642? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren; das ist Drucksache 13/5643. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß i 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/5643? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 und Zusatzpunkt 5 auf:
17 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Konrad Gilges, Gerd Andres, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Armut in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 13/1527, 13/3339 -
ZP5 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Gruppe der PDS
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Armut und Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland"
- Drucksachen 13/583, 13/5617 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Dieter Thomae
Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Wolfgang Spanier das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Armut ist stumm, tabuisiert, wehrlos. Das stellt der Armutsbericht des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes aus dem Jahre 1994 fest.
Ziel der Großen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zur Armut in Deutschland und unser Ziel in der heutigen Debatte ist, der Armut im Bundestag eine Stimme zu geben, das Tabu zu brechen und zu helfen, die Wehrlosigkeit zu überwinden. Auf Grund der Erfahrungen der letzten Monate in diesem Parlament erwarte ich: Wer Armut aufdeckt, wird als linker Dramatisierer, als Miesmacher, der die Zukunftsangst der Menschen schürt, abgestempelt. So hat sich auch der Kanzler in seiner Haushaltsrede vor 14 Tagen geäußert, in der er uns vorwarf, wir hingen veralteten Verelendungstheorien an, in der er uns unterstellt hat, daß wir offensichtlich in zwei verschiedenen Ländern leben. Wer so weit von oben wie der Bundeskanzler, sozusagen umhüllt vom Mantel der Geschichte, die Dinge betrachtet, der nimmt sie offensichtlich nicht mehr richtig wahr.
Es geht nicht um Theorien; es geht um die harte soziale Wirklichkeit, die Millionen Menschen, die in Armut oder mit Armutsrisiko leben müssen, Tag für Tag erfahren. Es geht darum, daß der Kanzler - ich spreche ihn ganz bewußt persönlich an - und mit ihm viele in der Koalition blind für die Schattenseite unserer Gesellschaft sind, ich glaube sogar, blind sein wollen für die zunehmende Armut mitten im Wohlstand. Dieses Thema soll heute im Mittelpunkt stehen.
2,5 Millionen Menschen sind auf den Bezug von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen, und darunter - diese Zahl finde ich besonders erschreckend - sind nahezu 1 Million Kinder. Die Steigerungsraten in den letzten drei Jahren lagen jeweils bei 6 bis 7 Prozent. Das stranguliert die Finanzkraft der Kommunen. In meinem Wahlkreis, dem Kreis Herford, ist die Zahl zwischen 1993 und 1995 um 30 Prozent gestiegen, und das bei einer Arbeitslosenquote von deutlich unter 10 Prozent.
Eine Reihe von Ihren Entscheidungen im Bundestag hat dazu beigetragen. Ein Beispiel: Die drastische Kürzung der Sprachkurse für Aussiedlerinnen und Aussiedler hat bei uns die Zahl der Sozialhilfebezieher schlagartig um 1 000 nach oben getrieben.
Hinzu kommt die Dunkelziffer: Über 700 000 Menschen nehmen Sozialhilfe nicht in Anspruch, obwohl sie einen Anspruch darauf hätten.
- Das ist eine sehr vorsichtige Schätzung, die auf Zahlen beruht, die in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zu finden sind. Das ist eine sehr, sehr vorsichtige Schätzung.
Über 900 000 Menschen sind wohnungslos. Auch diese Zahl stammt von der Bundesregierung und ist im Nationalbericht zur Habitat zu finden. Von diesen 900 000 Menschen leben 200 000 auf der Straße; darunter sind 50 000 Straßenkinder; so die Schätzung der Bundesfamilienministerin. Sie hat dem Vernehmen nach allerdings - das will ich gerne einräumen - sofort energisch reagiert: mit einem Forschungsauftrag.
Hinzu kommt eine Entwicklung, die in den neuen Bundesländern bereits zu beobachten ist, die aber auch in den alten Bundesländern stärker wird: Immer
Wolfgang Spanier
mehr Menschen geraten mit ihrem verfügbaren Einkommen unter das Existenzminimum des Sozialhilfesatzes, obwohl sie Arbeit haben. Die Zahl der unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsplätze steigt.
Sie sagen: Wer arbeitet, soll mehr verdienen als derjenige, der nicht arbeitet. Richtig. Nur: Wer arbeitet, soll so viel verdienen, daß er seinen Lebensunterhalt allein bestreiten kann.
Wer den Lohn bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf 75 Prozent absenken will und wer Niedriglöhne fordert, der erhöht die Zahl der arbeitenden Armen.
Die Bundesregierung kennt diese Fakten. Dennoch sagt sie: Armut ist kein Problem; die bewährten sozialen Sicherungssysteme sind ausreichend.
Aber nicht nur die Caritas hat Sie darauf aufmerksam gemacht: Die der Sozialhilfe vorrangigen sozialen Sicherungssysteme sind eben nicht mehr armutsfest. Ihre 130 Einschnitte in das soziale Netz seit 1982 haben das im wesentlichen bewirkt.
Die Entwicklung von Mieten und Wohngeld ist ein Beispiel. Die Kollegin Eichstädt-Bohlig hat hier gestern aufgezeigt, daß durch den deutlichen Anstieg der Mieten in den letzten Jahren bei einem Wohngeld, das seit 1990 nicht angepaßt worden ist, immer mehr Bezieher von kleinen Einkommen durch die hohen Mieten mit dem dann noch verfügbaren Einkommen unter das Existenzminimum der Sozialhilfe gedrückt werden.
Die Bundesregierung kennt natürlich diese Fakten; sie verdrängt sie aber. In einem ganz entscheidenden Punkt wird das in der Antwort der Bundesregierung klar. Die Armut wird gleichsam wegdefiniert. Die Bundesregierung sagt: Armut gibt es bei uns nicht, wenigstens nicht in nennenswertem Umfang; denn es gibt die Sozialhilfe. Sie sagt: Sozialhilfe ist bekämpfte Armut. Schon bei der Großen Anfrage 1986 ist Ihnen dazu nicht viel mehr als diese Aussage eingefallen.
Selbstverständlich kann man über die Armutsdefinition der Europäischen Union, die Armutschwelle liege bei 50 Prozent des durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommens, diskutieren. Letztlich ist natürlich jede Definition von Armut, gemessen am Einkommen, eine Frage der gesellschaftlichen Übereinkunft, eine normative Setzung. Damit ist sie aber noch lange nicht beliebig. Die Definition hängt vor allem davon ab, welchen Grad an Ungleichheit der Lebenschancen und Lebensbedingungen wir in dieser reichen Gesellschaft als gegeben hinzunehmen bereit sind, bis zu welchem Grad die Notlage anderer Menschen für diejenigen, die im Wohlstand leben - wir alle gehören dazu -, zumutbar erscheint.
Es ist richtig: Bei uns handelt es sich um relative Armut, eben um Armut im Wohlstand. Das ist natürlich eine andere Armut als die in den Slums von Rio de Janeiro oder Kalkutta. Wenn die Bundesregierung sagt, Sozialhilfe ist bekämpfte Armut, dann heißt das, laufende Hilfe zum Lebensunterhalt sichert die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, sichert Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Das Existenzminium wird eben gerade gesichert.
Hier liegt der Fehler. Wer sich die tatsächliche Lebenslage der Betroffenen genauer ansieht, stellt fest, daß diese Sicherung sehr oft nicht mehr ausreichend ist. Kinder, die in einkommensarmen Haushalten aufwachsen, sind in ihrer seelischen, gesundheitlichen und schulischen Entwicklung nachweislich benachteiligt. Verschärft wird die Situation dadurch, daß ein Leben am Rande des Existenzminimums - das heißt Sozialhilfe - nur allzuoft zu Verschuldung, zu Suchtabhängigkeit und zu Gewalt in Familien führt.
Leben am Rande des materiellen Existenzminimums bedeutet Unterversorgung, zum Beispiel beim Wohnen. Wissen wir, was es bedeutet, in einem Container zu leben, in einer sogenannten Schlichtwohnung für obdachlose Familien in den Armutsgettos unserer Großstädte?
Leben am Rande des materiellen Existenzminimums bedeutet auch gesundheitliche Unterversorgung. Was heißt das? Arbeitslose haben ein doppelt so hohes Sterberisiko wie Beschäftigte. Personen in der Altersgruppe zwischen 35 und 44 Jahren der untersten sozialen Schicht weisen bereits ebenso viele chronische Krankheiten und Einschränkungen auf wie die über 75jährigen in der obersten sozialen Schicht. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Armut und Lebenserwartung; so die Untersuchungsergebnisse der Medizinischen Hochschule Hannover.
Zur Lebenslage der Menschen am Rande des materiellen Existenzminimums gehört auch die Erfahrung der sozialen Ausgrenzung. Ich nenne Ihnen nur zwei kleine Beispiele. Können wir uns wirklich vorstellen - ich sage ganz bewußt „wir" -, was es heißt, an Kindergeburtstagen nicht teilnehmen zu können, weil man das Geschenk nicht bezahlen und die Gegeneinladung nicht aussprechen kann, was es heißt, die persönlichen Ausgaben so radikal reduzieren zu müssen, daß man sich nicht einmal eine Kinokarte oder ein Eis leisten kann? Diese Fragen mag mancher hier im Raum für läppisch halten; aber sie treffen, glaube ich, in ihrer Anschaulichkeit ganz konkret die Situation der sozialen Ausgrenzung.
Die Bundesregierung leugnet diese Armut, die mit Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung mit einer Reihe von Nebenwirkungen einhergeht. Sie stellt sich selbst damit ein Armutszeugnis aus.
Meine Damen und Herren, wer über Armut redet, darf über Reichtum nicht schweigen. Die Antwort der Bundesregierung blendet die wachsende Ungleichheit der Verteilung, die stärker werdende Polarisierung der Gesellschaft völlig aus. Reichtum in der Bundesrepublik ist nicht stumm, aber verschwiegen. Er ist tabuisiert. Er ist keineswegs wehrlos, sondern höchst einflußreich - bis in dieses Parlament hinein.
Wolfgang Spanier
Die Gesellschaft driftet zunehmend auseinander in eine Bevölkerungsmehrheit in der Wohlstandszone, zu der auch wir gehören, und eine große Minderheit in den Armutszonen. Ich kann das heute hier nur mit einigen Daten belegen. Die Konzentration des Geldvermögens von nahezu 5 Billionen DM in unserem Land beschleunigt sich. Die obersten 5 Prozent der Einkommensbezieher verfügen über 30 Prozent des Geldvermögens. Seit 1985 sind die Gewinne brutto um 70 Prozent, aber netto um rund 113 Prozent angewachsen. Ursache für diese Diskrepanz: Ihre Steuerpolitik. Der Rückgang der Gewinnbesteuerung, die vielen legalen Steuerschlupflöcher beschleunigen zusätzlich - offensichtlich ganz bewußt - diese ungleiche Verteilung.
Es geht nicht darum, Reichtum zu verteufeln. Aber wir sind das Land der angedrohten Steuern. Der reale Einkommensteuersatz der Einkommensmillionäre mit 10 und mehr Millionen DM Einkommen im Jahr lag 1989 bei sage und schreibe nur 34 Prozent. Wir sind das Land der degressiven Steuern für Millionäre. Wenn nur diese höchste Einkommensgruppe den normalen Steuersatz tatsächlich gezahlt hätte, hätte das ein Einnahmeplus von 10 Milliarden DM gegeben - und das beim Stand von 1989. Neuere Zahlen liegen leider nicht vor.
Sie sagen immer: Es kann nicht mehr verteilt werden, weil das Wachstum fehlt. Sie verteilen aber ständig.
Von Ihnen gewollt, läuft eine gewaltige Umverteilung von unten nach oben.
Die Verteilungsfrage, der gerechte Lastenausgleich, ist eine der zentralen politischen Aufgaben, wenn wir Armut wirksam bekämpfen und gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken wollen. Das hat Rudolf Scharping zu Recht immer wieder eingefordert. Der Markt reguliert das nicht.
Mit Ihren ideologischen Kampfbegriffen vom Sozialmißbrauch einerseits und Sozialneid andererseits wollen Sie offensichtlich die Bereitschaft der Menschen in der Wohlstandszone zu einem fairen Lastenausgleich verhindern.
Ihre neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, vom Kürzungspaket bis zur Steuerpolitik - Vermögensteuer! -, vom Arbeitsförderungsdeformierungsgesetz - ich weiß gar nicht, warum Sie das Reformgesetz nennen - bis zur nächsten Kürzungsrunde im Gesundheitswesen, verschärft die soziale Schieflage. Einige von Ihnen geben das offen und öffentlich zu, zum Beispiel Herr Lambsdorff. Ich habe mehrfach von ihm gehört: Ja, unsere Vorschläge haben eine soziale Schieflage. - Sie wollen sie offensichtlich noch weiter verschärfen.
Meine Damen und Herren, in unserer Entschließung fordern wir einen nationalen Armutsbericht. Sie wollen das nicht, obwohl die Antwort der Bundesregierung deutlich macht, wie unvollständig und ungenau die Daten sind. Unsere Entschließung greift Anträge auf, die wir in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Wir wollen aber auch darüber hinausgehen. Der Bundestag muß sich mit der Frage der sozialen Grundsicherung, die unabhängig von der Erwerbsarbeit das Armutsrisiko vermeidet, beschäftigen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen mit einem Zitat des Erzbischofs von Berlin, Georg Kardinal Sterzinsky. Er schreibt im „Tagesspiegel" vom 11. April 1996:
Über Ursachen von Armut und soziale Ausgrenzungsstrukturen besteht in unserer Gesellschaft kein Konsens. Deshalb ist eine Armutsdiskussion, die wegen wechselseitiger Zusammenhänge eine Reichtumsdiskussion einschließt, dringend geboten. Armut und aus ihr resultierende Gefahren für Demokratie, etwa in Form von politischer Radikalisierung, müssen analysiert werden, Konsequenzen müssen gezogen werden. Auch die Frage, inwieweit Eigentum sozial verpflichtet, darf kein Tabu bleiben. Gefragt sind Strategien wirksamer Armutsbekämpfung, deren effektive Kontrolle und entsprechende Sensibilisierung der Bevölkerung. Wichtiger erster Schritt wäre der seit langem geforderte nationale Armutsbericht.
Diese Sensibilisierung ist bei uns allen in diesem Hause notwendig, vor allem auch beim Bundeskanzler, der in den letzten Wochen und Monaten kein Wort darüber verloren hat, was er den kleinen Leuten zumutet.
Der Kanzler kennt die Sorgen der kleinen Leute offensichtlich nicht.
Ihre Gnaden lassen fernsehgerecht Leutseligkeit inszenieren, in Talkshows und bei Fußballeuropameisterschaften.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Peter Hintze.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist im Interesse der von Armut betroffenen Menschen, lieber Herr Kollege Spanier, daß wir in dieser Debatte nicht
Peter Hintze
Klischees verfestigen, sondern uns mit der tatsächlichen sozialen Situation in Deutschland beschäftigen.
Lassen Sie mich eine kurze Bemerkung zu Ihrem Beitrag machen: Sie haben hier unseren Bundeskanzler angesprochen. Ich will Ihnen einmal sagen, worin ein wesentlicher Verdienst unseres Bundeskanzlers liegt: daß wir einen so starken Sozialstaat haben, wie er auf der Welt wohl einmalig ist.
Ich darf einmal an die Zeit erinnern, als der Bundeskanzler noch Helmut Schmidt hieß - jetzt wollen wir einmal zu unserem Thema kommen -: Von 1977 bis 1982 sind die Realwerte der Eckregelsätze permanent gesunken. Es war eine unserer Maßnahmen, eine Leistung von Helmut Kohl, daß dieser unwürdige Zustand beendet wurde und die Werte entsprechend gestiegen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe in meiner eigenen Arbeit bedrückende Einzelschicksale kennengelernt, Menschen, die in Not geraten sind, Menschen, die Hilfe brauchen, materielle Hilfe und persönliche Zuwendung. Deswegen finde ich es richtig, daß wir in dieser Debatte auch denen danken, die sich Tag für Tag um solche Menschen kümmern, die Gegenstand unserer Überlegungen sind, solche, die materiell in Not geraten sind, solche, die in Wohnungsnot sind. Ich denke an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialämter, in den Kirchen und der Sozialverbände. Sie helfen in schwierigen und schwierigsten Situationen. Sie setzen sich Tag für Tag mit dem Problem, das wir heute diskutieren, auseinander.
Sie sind aber gleichzeitig auch einem großen Druck ausgesetzt. Denn sie werden nicht nur mit materiellen, sondern auch mit menschlichen und seelischen Problemen konfrontiert, die ihre Möglichkeiten oft übersteigen. Manchmal ballen sie auch die Faust in der Tasche, weil ihr Gegenüber versucht, das System auszunutzen. Auf der anderen Seite fehlt ihnen oft die Zeit, um so zu beraten, wie es fachlich geboten wäre.
- Es ist einfach unehrlich, liebe Frau Kollegin, wenn wir uns beim Thema Sozialhilfe die Dinge nicht wirklich genau anschauen. Wir müssen einen Beitrag für die Menschen leisten, die wirklich Hilfe brauchen, und diesbezüglich für die entsprechende Verstärkung sorgen, aber wir müssen auf der anderen Seite
auch darauf achten, daß kein Mißbrauch aufkommt. Das gleiche gilt auch im Steuerrecht.
Der Grundgedanke des Bundessozialhilfegesetzes ist nicht nur, ein menschenwürdiges Leben zu garantieren. Der Grundgedanke ist, Menschen zu befähigen, Armutslagen aus eigener Kraft zu verlassen.
Wenn wir uns einmal von den Klischees abwenden und uns den Fakten zuwenden, dann finde ich das Hochinteressante im Bericht der Bundesregierung: Es ist millionenfach gelungen, mit nur einer kurzfristigen Überbrückungshilfe den dauerhaften Rückstieg in die eigene Erwerbsfähigkeit und in die Selbstversorgung zu garantieren. Das finde ich eine beachtliche Leistung, und das muß in dieser Stunde auch angesprochen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wer wie die SPD in ihrer Anfrage Sozialhilfe mit Armut gleichsetzt, der mißversteht den Sozialstaat. Außerdem - das zweite Problem - stigmatisiert er die Menschen, die auf diesen Rechtsanspruch angewiesen sind. Damit leistet er vielleicht unfreiwillig einen Beitrag dazu, daß sie diesen Rechtsanspruch für sich gar nicht realisieren.
Es trifft zu, daß die Zahl der Sozialhilfeempfänger und die Summe der Aufwendungen für Sozialhilfe gestiegen sind. Das liegt aber nicht daran, daß Deutschland ärmer geworden wäre. Es liegt daran,
daß sich der Kreis der Anspruchsberechtigten stark verändert hat. Heute ist der Anteil der Ausländer unter den Sozialhilfeempfängern erheblich höher als noch vor zehn Jahren. Ohne diesen Anstieg gäbe es gegenwärtig rund 600 000 Sozialhilfeempfänger pro Jahr weniger. Bezogen auf die alten Bundesländer ist das immerhin ein Plus von 30 Prozent.
Damit wird deutlich: Das, was die SPD in dieser Debatte als Armutsproblem darstellen will, hat in Wahrheit ganz maßgeblich mit der Übernahme humanitärer Aufgaben und mit unserem Asylrecht zu tun. Es relativiert das Problem nicht, stellt es aber in einen anderen Zusammenhang.
Wir übernehmen in Deutschland in großem Maße humanitäre Aufgaben für Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Hunger flüchten. Dafür stehen wir, aber dafür lassen wir uns dann nicht von Ihnen vorhalten, wir hätten ein wachsendes Armutsproblem, meine Damen und Herren.
Armut wird in Deutschland durch die Leistungen der Sozialhilfe wirksam verhindert. Gleichwohl gibt es tragische Lebensläufe, die zu schweren Notlagen führen können.
Peter Hintze
Ich denke an Obdachlose, die ein Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen hat und die in ihrer Lebenssituation resignieren. Ich denke an drogenabhängige Jugendliche, die jeden Kontakt zu ihrer Familie verloren haben.
Zu Ihrem Zwischenruf muß ich sagen: Es ist wirklich traurig und wird der Situation nicht gerecht. Ich war zu einer Zeit in einer Kirchengemeinde tätig, da waren Sie noch für die Politik verantwortlich. Ich habe dort das Problem der Obdachlosigkeit kennengelernt.
Es ist einfach fahrlässig, so darüber zu reden, als ließe sich die Sache einer politischen Maßnahme zuordnen.
Die Menschen brauchen nicht derartige einseitige Zuordnungen. Diese Menschen brauchen Hilfe. Aber es gehört auch zu einer solchen Debatte, daß es uns bewußt ist, daß Politik hier immer wieder an Grenzen stößt und daß wir es wahrscheinlich nie schaffen werden, jedem Menschen in jeder persönlichen Problemlage gerecht zu werden.
In der öffentlichen Diskussion wird zwischen relativer und absoluter Armut unterschieden. Sie, Herr Kollege Spanier, haben das eben auch getan. Absolute Armut als physische Existenzbedrohung kennen wir in der Dritten Welt. Viele hundert Millionen Menschen haben keinen Zugang zu unverseuchtem Wasser, leiden an Mangel- und Unterernährung und sind Krankheiten schutzlos ausgeliefert. Der Bericht der Weltbank, der gestern veröffentlicht wurde, spricht eine bedrückende Sprache.
Es gibt auch Armutsdefinitionen, die nicht von einem absoluten Mangel ausgehen, sondern die Armut als Unterschreitung eines bestimmten Anteils am Durchschnittseinkommen verstehen. Diesen Armutsbegriff haben Sie eben angesprochen. Der Begriff führt aber in die Irre, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil Länder mit niedrigem Einkommensniveau und einer schlechten Einkommensverteilung viel weniger Armut leiden als Länder mit einem hohen Einkommensniveau und einer größeren Einkommensverteilung. Da lauern manche statistische Fallen.
Was in diesem Haus passiert ist, daß nämlich die Situation in Deutschland mit der in Mexiko verglichen wurde, ist Ergebnis genau einer solchen relativen Betrachtungsweise, meine Damen und Herren. Relativ mag es beispielsweise den Menschen in Mexiko besser gehen als denen in den USA, aber die Menschen gehen von Mexiko in die USA und nicht von den USA nach Mexiko, weil sie nicht unsere relative Betrachtungsweise interessiert, sondern das, was sie wirklich an Möglichkeiten zum Leben haben. Deswegen führt eine solche relative Betrachtungsweise in die Irre.
Ein zweiter Gedanke: Nehmen wir einmal an, das Einkommen aller Menschen in Deutschland würde sich verdrei-, vender- und verfünffachen, so würde sich nach Ihrem Armutsbegriff an der Armutssituation in Deutschland nichts ändern, weil das Verhältnis der verschiedenen Einkommen dann unverändert bestehen bliebe.
Die neuere Forschung in Deutschland ist sich darüber einig, daß Menschen im wesentlichen aus zwei Ursachen in eine Armutslage geraten können. Die erste Ursache wird als biographischer Bruch bezeichnet - Scheidung, Arbeitslosigkeit, Tod eines nahen Angehörigen, Überschuldung, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit.
Die zweite Ursache ist die unzureichende Ausstattung mit einem immer wichtiger werdenden „Lebensmittel", mit Bildung. Das gilt für fehlende Schulabschlüsse, mangelhafte Berufsausbildung und die Unfähigkeit, mit veränderten Lebenssituationen umzugehen. Deshalb ist es ganz wichtig, daß wir dieses Thema nicht nur als ein sozialpolitisches Thema verstehen, sondern erkennen, daß es sich bei der Überwindung von Armutslagen und bei dem Bestreben von Menschen, aus Armutslagen herauszukommen, um eine bildungspolitische Aufforderung an alle, die damit zu tun haben - Bund, Länder und Gemeinden -, handelt.
Herr Kollege Hintze, die Kollegin Lüth würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, danke.
- Ab einer Bank weiter hätte ich die Zwischenfrage zugelassen.
- Es tut mir einfach leid. In der Demokratie gibt es das Auswahlrecht, und davon habe ich jetzt Gebrauch gemacht.
Ein Aspekt ist mir noch wichtig. Das statische Bild von Armut, das die Sozialdemokraten in ihrer Anfrage zeichnen, und die Rede von der Zweidrittelgesellschaft ist in jeder Weise falsch und auch den Betroffenen gegenüber ungerecht. Es ist keine statische Situation, in die die Menschen versinken und aus der sie nicht mehr herauskommen.
Wir haben in den Untersuchungen, wie auch aus der Antwort hervorgeht, die deutliche Erkenntnis, daß der Großteil der Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, diese kurzfristig benötigen, hier eine Chance zur Überbrückung finden, aus ihrer Situation herausfinden, und wir erweisen den Menschen in Armutslagen keinen Dienst, wenn wir sie
Peter Hintze
durch die Art und Weise der politischen Behandlung in eine passive Opferrolle hineindrücken.
Manche Ansprüche und manche Sorgen entstehen, weil andere finanzielle Ansprüche wie Rente oder Arbeitslosengeld zu spät realisiert werden können. Wir haben dieses Problem mit der Sozialhilfereform aufgegriffen und Vorkehrungen für solche Fälle getroffen.
Es gibt natürlich auch die skandalöse Tatsache, daß Frauen auf staatliche Hilfe angewiesen sind, weil sich die Väter ihrer Kinder der Unterhaltsverpflichtung entziehen und nicht zahlen. Im letzten Jahr haben die Unterhaltsvorschußkassen 1,61 Milliarden DM zahlen müssen, weil 850 000 Väter ihrer Unterhaltspflicht nicht nachgekommen sind. Das ist auch ein Skandal, und wir müssen das Verantwortungsbewußtsein in der Gesellschaft wachrufen, damit sich dieser Zustand verändert.
Das soziale Netz in Deutschland ist fest geknüpft. Wir haben den stärksten Sozialstaat geschaffen, den es auf der Welt gibt.
Von den über 60jährigen, die zu Hause leben, sind lediglich 1,5 Prozent auf Sozialhilfe angewiesen. 98,5 Prozent können aus eigener Kraft, aus Rente, Pension, Ersparnissen oder aus Vorsorge, leben. Wir haben ein Maß an finanzieller Alterssicherheit erreicht, das einen Spitzenplatz in der Welt hat, und dies gehört zu den größten sozialen Leistungen unseres Landes.
Besonders eindrucksvoll ist die Entwicklung für die älteren Menschen in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung. Inflation, Wirtschaftskrisen, Krieg, Nazidiktatur, SED-Diktatur - diese Menschen sind in ihrem Leben um die Früchte ihrer Arbeit gebracht worden. Sie haben hart geschafft, aber sie stehen am Ende mit wenig da. Wir haben mit der Sozialunion einen Beitrag dafür geleistet, daß diese Menschen wenigstens im Alter eine kleine materielle Entschädigung für das, was ihnen das Leben bis dahin genommen hat, erhalten. Auch das ist eine große Leistung, meine Damen und Herren.
Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit!
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.
. Die größte soziale Herausforderung, vor der wir stehen, ist die Arbeitslosigkeit, und deswegen ist der wirksamste Beitrag zur Sozialpolitik eine Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung,
und wer dabei - -
- Bitte rauben Sie mir nicht die letzten Sekunden.
Wer dabei die maßvolle Absenkung der Lohnfortzahlung oder die Verkürzung der Kuren von vier auf drei Wochen als sozialen Kahlschlag diffamiert, verabschiedet sich aus einer seriösen Debatte und aus der Solidarität mit den Arbeitslosen.
Wer verantwortlich über Sozialpolitik spricht - -
Herr Kollege, die Redezeit.
Jawohl, okay, einen letzten Satz. - Nicht derjenige, der den Zusammenhang von wirtschaftlicher und sozialer Leistungskraft zur Geltung bringt,
gefährdet den Sozialstaat, sondern derjenige, der sehenden Auges zuließe, daß er unfinanzierbar wird. Daran müssen sich alle politischen Konzepte messen lassen.
Danke.
Einen Moment, Frau Kollegin Fischer. Wir haben das Instrument der Kurzinterventionen, das ja neuerdings fast ausschließlich dafür genutzt wird, daß sich jemand, wenn ihm eine Zwischenfrage verweigert wird, zur Kurzintervention meldet. Dies ist im Augenblick der Fall.
Die Kollegin Lüth hat dazu das Wort.
Ich gestatte mir, von meinem demokratischen Auswahlprinzip direkt Gebrauch zu machen, und bitte darum, es auch so zu genehmigen, denn es handelt sich ja um eine reguläre Form.
Ich verstehe nicht so ganz, Herr Hintze - deshalb hatte ich mich auch zu einer Frage gemeldet -, warum die Koalition nicht zur Kenntnis nehmen will, daß in Europa - und Deutschland will ja nach Europa oder ist in Europa - die Definition von Armut bei 50 Prozent des Nettoeinkommens angesetzt wird. In Hannover, einer Stadt in den alten Bundesländern, habe ich in einem Armutsbericht, den soziale Vereinigungen und Verbände für den Seniorenbeirat der Stadt erstellt haben, gelesen, daß dort von der älteren Bevölkerung, also im Rentenalter über 65 Jahre, derjenige als arm gezählt und gewertet wird und entsprechend gefördert werden sollte, der ein Einkommen von weniger als 2 000 DM hat. Wann, so wollte ich eigentlich fragen, ist die Koalition bereit, auch in
Heidemarie Lüth
diesem Fall europäische Standards wirklich anzuerkennen?
Ich glaube, alleine der sächsische Staatsminister für Soziales, Gesundheit und Familie, Herr Dr. Geisler, ist in diesem Land bereit, offen zu bekennen, daß er mit 496 DM Sozialhilfe leben kann. Das hat er nämlich mehrmals betont. Ich weiß nicht, warum man in einem solchen Fall nicht von Armut sprechen sollte. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie einer von Ihnen, meine Damen und Herren, mit dieser Summe auskommen will. Solange diejenigen, die Geld und Besitz haben, anderen vorschreiben, was für sie arm ist, so lange werden wir wohl nicht zu einer wahren Sozialpolitik im eigentlichen Sinne kommen.
Herr Kollege Hintze, zur Replik, bitte.
Zwei kurze Anmerkungen zu den angesprochenen Sachverhalten: Wir haben in Deutschland die Situation, daß ein Ehepaar mit einem Kind als Sozialhilfe ein verfügbares Haushaltseinkommen von 2 232 DM hat. Ein Ehepaar mit drei Kindern hat 3 182 DM. Das macht deutlich - ich will jetzt nicht auf die Werte eingehen, die früher in einem Teil Deutschlands gegolten haben -, daß es uns wichtig ist, nicht von einem prozentualem Verständnis auszugehen, wie es seinerzeit in der UNO durchgesetzt wurde, weil es in die Irre führt.
Ich will es Ihnen an einem Beispiel verdeutlichen. Wenn wir ein Land haben, wo das Durchschnittseinkommen 500 DM im Monat beträgt - nehmen Sie zum Beispiel Senegal -, dann fällt ein Einkommen von 300 DM in diesem Land nicht unter diese Armutsdefinition.
Damit können wir nichts anfangen. Wir halten nichts von einer relativen Betrachtungsweise, wie Sie sie hier angestellt haben.
Die Menschen haben nichts davon, wenn es ihnen nach Ihrer Auffassung relativ gut geht, sondern sie haben objektive Bedürfnisse für ihren Lebensunterhalt. Die ermöglichen wir ihnen, wenn sie es aus eigener Kraft nicht schaffen, mit unserem sozialen System.
Das Wort hat die Kollegin Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Damit war ja zu rechnen, daß wir uns jetzt über Armutsdefinitionen streiten. Zweifelsohne ist es mit das Schwierigste an der Armutspolitik, sich über die Armutsdefinition zu verständigen.
Herr Kollege Hintze, was Sie da über relative Armutsgrenzen sagen: Sie wollen doch wohl nicht im Ernst als Alternative eine absolute Armutsgrenze einführen! Das ist doch wohl jenseits aller Debatten.
Es ist doch vollkommen klar, wie auch immer Sie es definieren: Wir setzen jede Armutsgrenze relativ zu anderen Größen - von Einkommen, von Wohlstand - fest. Darum kommen wir nicht herum. Da haben wir es immer mit einem Spannungsfeld zu tun. Wir müssen sagen: Es gibt Prinzipien der Bedarfsdekkung.
Gleichzeitig ist es immer auch politisch gesetzt. Da gehen die Gerechtigkeitsvorstellungen derjenigen ein, die dafür zu zahlen haben. Da gehen die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft darüber ein, was denn dieser Bedarf sein kann, wo er aufhört, wo es zuviel ist.
Das ist eine hochkomplizierte Debatte, und was mich empört an der Art und Weise, wie Sie darüber gerade gesprochen haben, ist, daß dies zur Rechtfertigung Ihrer Politik instrumentalisiert wird. Die Antwort, die Sie auf die Große Anfrage gegeben haben, drückt das sehr, sehr deutlich aus: Sie haben ein ausgesprochen instrumentelles Verhältnis zum gegenwärtigen Stand der Armutsforschung, aber auch zur Definition von Armut, die sich in diesem schwierigen Spannungsfeld bewegt.
Ich will das an der berüchtigten Frage des Lohnabstands festmachen. Sie stellen in der Antwort auf die Anfrage selbst fest, daß das Niveau der Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt im Verhältnis zu den unteren Lohngruppen bei Alleinstehenden ungefähr bei der Hälfte des verfügbaren Einkommens der unteren Lohngruppen liegt.
Ausschließlich Bedarfsgemeinschaften mit drei und mehr Kindern in Ostdeutschland liegen nur um 5 bis 7 Prozent unter dem Einkommen der betreffenden Lohngruppen. Und aus diesem Umstand, den Sie selbst hier hineingeschrieben haben - das habe ich mir ja nicht ausgedacht -, ziehen Sie einen bemerkenswerten Schluß. Ich zitiere die Bundesregierung:
Aus den erhobenen Lohnabständen kann nicht abgeleitet werden, daß das Abstandsgebot in allen Ländern, insbesondere in den neuen Ländern, für den jeweiligen Bereich eingehalten wird.
Deshalb sei der Mindestabstand von 15 Prozent zu den unteren Lohngruppen, wie er in der BSHG-Reform vorgesehen ist, sachgerecht.
Das halte ich für eine bemerkenswert freie Interpretation der von Ihnen selbst präsentierten Zahlen, und ich will darauf hinweisen: Wenn Sie gerade kritisiert haben, daß eine Armutsgrenze bei 50 Prozent des Durchschnittseinkommens sich permanent mit
Andrea Fischer
den Lohneinkommen bewegt und deswegen einem nicht aus der Armut herausgeholfen würde - aus dem Problem kommen Sie mit einem auf 15 Prozent festgeschriebenen Lohnabstand genausowenig heraus. Das ist dasselbe Problem.
Wenn Sie mit diesen Zahlen argumentieren, dann verkehren Sie Ursache und Wirkung; denn nicht die Sozialhilfe ist zu hoch, sondern der Kinderlastenausgleich zu niedrig, was Sie bekanntermaßen im Sparpaket nicht ändern wollen.
Außerdem gehen Sie damit auf eine sehr freie Art und Weise um. Die Zahlen passen nicht zu Ihrer Politik, also sagen Sie: Es gibt da noch eine Region in Ostdeutschland, es gibt da noch eine Branche, wo die Löhne so niedrig sind. Das reicht Ihnen dann als Rechtfertigung, die Sozialhilfeansprüche für alle zu kürzen.
Deswegen beeindruckt es mich überhaupt nicht, wenn Sie noch einmal sagen sollten, daß Sie die Abkehr vom Bedarfsdeckungsprinzip nicht anstreben.
Sie haben ja selbst schon darauf hingewiesen, wie stark die Zahl der Bezieherinnen und Bezieher von Sozialhilfe angestiegen ist. Der Verweis auf den Anteil von ausländischen Bezieherinnen und Beziehern entschärft das Problem nicht, denn der Rest ist immer noch aussagekräftig genug.
Um sich der Dramatik dieses Problems zu entziehen, verweisen Sie in Ihrer Antwort darauf, daß ja ohnehin Armut nicht mit Sozialhilfebedürftigkeit gleichgesetzt werden kann, und Sie stellen apodiktisch fest: „Sozialhilfe bekämpft Armut, sie schafft sie nicht. Wer die ihm zustehenden Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nimmt, ist nicht mehr arm." Siehe da: Kein Problem mehr! Da könnten wir ja jetzt alle nach Hause gehen.
Statt sich auf das weite Feld der Armutsdefinition zu begeben, hätten Sie sich vielleicht besser zwei anderen Fragen zugewandt. Die eine Frage ist, warum denn die Anzahl der Sozialhilfebezieher - auch jenseits der Asylbewerber - so stark gestiegen ist. Die zweite Frage ist, ob die Sozialhilfe eigentlich für die Anforderungen und Veränderungen, die wir da beobachten, ein geeignetes Mindestsicherungssystem ist.
Sie haben sich der Mühe nicht unterzogen, sich diesen Fragen zu stellen, vermutlich auch deswegen, weil die Antwort darauf für Sie unbequem ist. Denn wenn man sich diesen Fragen stellt, erkennt man, was für ein erheblicher sozialer Reformbedarf besteht. Dem kann man sich nicht durch statistische Ablenkungsmanöver entziehen.
Die steigende Sozialhilfebedürftigkeit ist wie ein Seismograph, der die zunehmenden tektonischen Spannungen zwischen Gesellschaft und Sozialstaat anzeigt. Das System sozialer Sicherung und die Lebenswirklichkeit vieler Menschen passen nicht mehr zueinander. Während Arbeitslosigkeit und der Wandel der Familie das Normalarbeitsverhältnis und auch das Normaleheverhältnis an Allgemeinverbindlichkeit haben verlieren lassen, sind die sozialen Sicherungssysteme immer noch einseitig auf die lebenslange Kleinfamilie mit dem durchgehend erwerbstätigen Ehemann ausgerichtet, der eine Chance hat, mit seinem Lohn seine Familie ein Leben lang zu unterhalten.
Doch genau diese Lebensweise erodiert zur Zeit. Sie wird zu einer Lebensweise unter vielen. Es wird durchaus üblich, als Alleinerziehende mit Kindern zusammenzuleben, in Teilzeit zu arbeiten, um noch Zeit für Haus-, Pflege- oder Erziehungstätigkeiten zu haben, zeitweilig oder auf Dauer arbeitslos zu sein usw. Die Lebenswirklichkeiten sind sehr verschieden geworden, doch der Sozialstaat ist noch immer auf eine Gesellschaft von gestern ausgerichtet. Deshalb fallen inzwischen so viele Menschen durch den Rost und landen in der Sozialhilfe. Armut ist kein Randgruppenproblem mehr. - Da befinde ich mich übrigens in Differenz zu dem sehr statischen Bild von Armutspopulation, das die SPD in ihrer Anfrage zeichnet. - Armut ist zu einem allgemeinen Lebensrisiko geworden und hat sich entgrenzt; sie reicht auch in andere Milieus hinein. Das macht die Sache nicht besser, Herr Kollege Westerwelle
- gut, daß wir uns darin einig sind -, das macht die Sache dramatischer.
Während das Risiko, seinen Lebensunterhalt dauerhaft oder übergangsweise nicht mehr aus eigener Kraft bestreiten zu können, zu einem Bestandteil gesellschaftlicher Normalität geworden ist, wird dieses Lebensrisiko mit der Sozialhilfe immer noch als Ausnahmezustand behandelt. Es gibt zwischen dem Sozialhilfesystem und anderen sozialen Sicherungssystemen große Unterschiede in der Rechtssicherheit. Außerdem haben Sie seit Jahren die Sozialetats der Bundesregierung durch Leistungskürzungen entlastet, so daß die Kosten gesamtgesellschaftlicher Veränderungen und der Strukturdefizite der vorgelagerten Sicherungssysteme bruchlos an die Kommunen weitergegeben wurden.
Auch wenn die Bundesregierung es ausdrücklich leugnet, kommen wir nicht daran vorbei: Diese Veränderung und Ausweitung des Armutsrisikos und die Überforderung der Sozialhilfe machen eine Sozialreform notwendig, die das letzte Netz der sozialen Sicherung „normalisiert", indem sie es an die Gewährungspraxis, sprich: die rechtlichen Standards, und die Rechtsgarantien der „gehobenen" Sicherungssysteme anpaßt. Die soziale Sicherung muß endlich „armutsfest" gemacht werden. Wir brauchen ein gelassenes System, das von der Tradition der Armenpolizei, aber auch von der Überfürsorglichkeit,
Andrea Fischer
von der dieses System ebenfalls geprägt ist, Abschied nimmt.
Es geht darum, Respekt vor den Personen zu haben, die unser soziales System in Anspruch nehmen. Gerade der Verweis darauf, daß es sich bei vielen um einen kurzzeitigen Bezug von Leistungen handelt, macht es um so dringender, das System so zu gestalten, daß sich die Menschen im Sozialamt nicht entblößen oder sich dort schlecht behandeln lassen müssen. Gerade das spricht für eine Reform hin zu einem gelassenen System der bedarfsorientierten Mindestsicherung.
Ich muß noch einmal auf das Problem zurückkommen, wie man mit Statistiken umgeht. Sie sagen erneut - das kennen wir von Ihnen -, der Armutsbericht sei nicht notwendig, von ihm sei „kein substantieller Zugewinn an Informationen zu erwarten". Dabei finde ich gerade Ihre Antwort auf die Große Anfrage einen Beleg dafür, daß wir ihn brauchen. Sie haben sich in Ihrer Antwort ausführlich auf die „Bremer Sozialhilfestudie" bezogen. Das Besondere an dieser Studie ist, daß sie uns zum erstenmal Auskunft über Tatbestände gegeben hat, über die wir auch wegen des Fehlens einer Armutsberichterstattung jahrelang nicht erfahren haben.
Wenn Sie sich mit dieser Studie befassen, werden Sie sehen, daß sie hoch umstritten ist. Man kann nicht behaupten, daß mit ihr alle Erkenntnisse gewonnen wären. Über diese Studie hinaus gibt es eine Menge Fragen, die zu stellen wären: Stimmt das alte Vorurteil, daß sich Armut über Generationen vererbt? Gibt es eine räumliche Konzentration einer neuen Unterschicht? Welche Selbsthilfefähigkeiten gibt es? Und - das ist ganz wichtig, und vielleicht ist das einer der Gründe, warum Sie keinen Armutsbericht wollen -: Welche Auswirkungen hat die Sozialpolitik im Berichtszeitraum eines solchen Armutsberichts auf die Entwicklung von Verarmung, von Armutsrisiken oder auch von Chancen zur Überwindung der Armut gehabt? Das heißt, eine Armutsberichterstattung ist kein akademisches Vergnügen. Es geht vielmehr darum, wichtige Erkenntnisse über Politik zu gewinnen und damit ständig auf dem Stand der Dinge zu sein, wohin sich die Sozialpolitik entwikkelt.
Wenn ich für diese Berichterstattung plädiere, dann plädiere ich nicht für Datenfriedhöfe, sondern dafür, Spannungen, die zwischen Sozialsystemen und veränderten Lebens- und Erwerbsmustern der Menschen bestehen, wirklich zu erkennen. Das heißt, daß dieser Sozialstaat auch über sich selber nachdenken muß. Eine Politik, die vor diesem großen Handlungsbedarf, vor den Spannungen, die wir damit produziert haben, sowie vor der wachsenden Unzufriedenheit und Unzulänglichkeit die Augen verschließt, wird nicht vorwärts weisen, sondern eher zu Erdbeben führen.
Kollege Dr. Guido Westerwelle, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Armut in Deutschland ist ein Thema, das mehr verdient hat als oberflächliche Betroffenheitsrituale oder zufriedene Vergleiche mit anderen Wohlstandsländern. Die veröffentlichte Betroffenheit ersetzt nämlich nicht Konzept und Handeln der Politik. Die Tatsache, daß Deutschland zusammen mit Dänemark und Luxemburg in ganz Europa das Land mit den höchsten Leistungen für die Bedürftigen ist, taugt ebenfalls nicht zur Beruhigung.
Die Politik wird sich mit diesen Ritualen nicht vor der entscheidenden Frage drücken können: Wie organisiert ein unfinanzierbar gewordener Staat, der im internationalen Wettbewerb steht, in Zukunft soziale Gerechtigkeit? Zu dieser Frage möchte ich vier Bemerkungen machen:
Erste Bemerkung: Alles, was man verteilen möchte, muß man vorher erwirtschaften. Das ist ein Gesetz, das auch die Opposition nicht außer Kraft setzen kann.
Es gibt einen zwingenden Zusammenhang zwischen Wachstum und Wohlstand. Die entscheidende Armutsfrage in Deutschland ist die Arbeitslosigkeit.
Wenn Sie sich die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage einmal genau ansehen, dann stellen Sie fest, daß die Hauptursache der Hilfegewährung vorherige Arbeitslosigkeit ist und daß nur 20 Prozent den Bezug der Hilfe zum Lebensunterhalt beenden, weil sie eine Arbeit aufnehmen konnten. Die Denkweise staatlicher Sozialpolitik am Ende des „sozialdemokratischen Jahrhunderts" - das meine ich nicht im parteipolitischen Sinne, sondern im Sinne von Professor Ralf Dahrendorf - könnte in Deutschland mit dem Titel „Wege in die Arbeitslosigkeit" überschrieben werden.
Die künstliche Aufspaltung von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Vernunft ist eine der Ursachen der Misere. Die soziale Kompetenz eines Landes folgt der ökonomischen Kompetenz eines Landes.
Herr Kollege Westerwelle, Kollege Catenhusen würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich gerne, Herr Kollege.
Herr Kollege Westerwelle, stehen Sie nicht selbst in der Versuchung - ich denke dabei an den Entwurf Ihres Grundsatzpro-
Wolf-Michael Catenhusen
gramms -, dieses Verhältnis, das Sie jetzt als falsch beschrieben haben, in der Weise umzudrehen, daß Sie nur noch über ökonomische Kompetenz, aber nicht mehr über soziale Gerechtigkeit nachdenken?
Nein, ganz im Gegenteil. Wenn Sie die Gelegenheit wahrnehmen, zu hören, was ich im weiteren sagen werde, werden Sie erkennen können, daß ich mich genau mit dieser Frage sehr ernsthaft auseinandersetze.
Sozialpolitik, die Reformen verhindert, Investitionen vertreibt und Arbeit unverhältnismäßig verteuert, ist das Gegenteil von gut, nämlich nur noch gut gemeint. Wenn alles - von starren Arbeitszeiten über das Ladenschlußgesetz bis hin zu den unsinnigsten staatlichen Regulierungen - durch sie gerechtfertigt werden kann, wird Sozialpolitik als Wort diffus und als Tat gefährlich. Mit dem Totschlagwort „unsozial" läßt sich nahezu jede Reform blockieren, jede Einsparung verhindern. Wir finanzieren mit 130 000 DM pro Jahr jeden Steinkohlearbeitsplatz im Ruhrgebiet und begründen dies auch mit sozialen Gesichtspunkten.
Ich möchte Ihnen gerne aus der gemeinsamen Schrift der evangelischen und der katholischen Kirche zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland zitieren -
und es ist nicht die Regel, daß ich solche Schriften zitiere -:
Arbeitslosigkeit ist häufig auch eine Folge der Subventionspolitik, wenn sie - über zeitlich befristete Anpassungssubventionen hinausgehend - versucht, vorhandene Industrie- und Beschäftigungsstrukturen entgegen den Trends der wirtschaftlichen Entwicklung zu erhalten.
Die sozialste Politik ist eben die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, und nicht die Parteien sind Arbeitnehmerparteien, die mit roter Fahne und Dinosaurierparolen Besitzstände gegen jede Veränderung verteidigen, sondern diejenigen, die mit marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Investitionen und neue Arbeitsplätze sorgen, meine Damen und Herren.
Leistungsbereitschaft und die Bejahung einer marktwirtschaftlichen Ordnung sind nicht sozialer Darwinismus oder der Weg in die Ellbogengesellschaft, sondern die Voraussetzung für jede soziale Sicherheit. Nur wenn sich Leistung für diejenigen lohnt, die Leistung erbringen können, kann das erwirtschaftet werden, was diejenigen brauchen, die schwach sind, die krank sind oder gebrechlich sind in unserer Gesellschaft. Und das ist von der Rigorosität des Thatcherismus genauso weit entfernt wie von der klassischen Umverteilungsmentalität des ausgehenden sozialdemokratischen Jahrhunderts.
Nur mit funktionierender sozialer Marktwirtschaft ist soziale Sicherheit auf hohem Niveau zu verwirklichen. Wir wollen anstatt einer Staatswirtschaft der besten sozialen Absichten die Marktwirtschaft der besten sozialen Ergebnisse.
Zweite Bemerkung: Sozial gerecht kann nur das sein, was auch unter den Generationen gerecht ist. Es ist nicht nur ein Skandal, sondern auch ein Fluch für die nächsten Generationen, wenn ständig neue staatliche Wohltaten gefordert werden, die ausschließlich mit Hypotheken auf die kommenden Generationen finanziert werden können, meine Damen und Herren.
Dritte Bemerkung: In Deutschland werden pro Kopf der Bevölkerung 13 000 DM an Sozialleistungen ausgegeben. Jede dritte Mark des Bundeshaushaltes geht in den Sozialbereich. 37 verschiedene Anlaufstellen sind in Deutschland für 153 verschiedene Sozialleistungen zuständig. Eine Ursache für diese wirre Form von Sozialpolitik ist, daß soziale Gerechtigkeit mit bürokratischer Umverteilung verwechselt worden ist, meine Damen und Herren.
Sozialbürokratie, das Prinzip Gießkanne, ist nach der Arbeitslosigkeit die zweite große Gefährdung des Sozialstaates. Warum nimmt der Staat Steuern von Bürgern, um sie - nachdem er sie teuer verwaltet hat - anschließend in Form von Sozialleistungen an dieselben zurückzugeben?
Wir Liberale stellen der Sozialbürokratie das Bürgergeldkonzept entgegen, in dem die verschiedensten sozialen Hilfeleistungsarten auf eine Hilfeleistungsform gebündelt werden. Im Bürgergeldsystem verrechnet das Finanzamt die steuerfinanzierten Sozialleistungen mit der Einkommensbesteuerung. Nur eine Behörde zahlt zielgenauer an die sozial Schwachen ein Bürgergeld oder zieht die Steuern nach der jeweiligen Leistungsfähigkeit des Bürgers ein. Als Anreiz für die Aufnahme regulärer Erwerbsarbeit wird vom Arbeitseinkommen nur ein Teil für den Bürgergeldanspruch angerechnet. So lohnt sich Arbeit dann auch im Niedriglohnbereich, wo produktivitätsorientierte Entlohnung nicht einmal das Existenzminimum sichern würde.
Herr Kollege, die Frau Kollegin Fischer hat eine Frage.
Selbstverständlich, gern, ich habe es schon gesehen.
Herr Kollege Westerwelle, die Idee des Bürgergeldes verficht die F.D.P. ja schon, glaube ich, zehn Jahre. Jetzt hat sie bei den letzten Koalitionsverhandlungen vereinbart, eine Untersuchungskommission dafür einzusetzen. Nach meiner Kenntnis hat diese Kommission im Sommer einen Bericht herausgebracht und gesagt, der Finanzierungsbedarf für dieses Bürgergeld liege - bei der kärglichsten Variante - bei 60 Milliarden DM und bei der von Ihnen eigentlich angestrebten bei 170 Milliarden DM.
Könnten Sie mich aufklären, wie Sie das als Steuersenkungspartei vertreten können?
Das will ich sehr gerne tun. Zwei Bemerkungen möchte ich dazu machen. Das erste, was ich Ihnen zum Bürgergeldkonzept sagen möchte, ist, daß ich Ihnen nicht nur die Lektüre dieses einen Gutachtens empfehle, sondern übrigens auch die Lektüre des Gutachtens des Kieler Instituts für Weltwirtschaft von diesem Jahr, das übrigens zu ganz erstaunlichen und, wie ich finde, sehr viel vernünftigeren Ergebnissen kommt.
Das zweite, was ich dazu sagen möchte: Daß wir in Richtung der Bündelung der verschiedenen sozialen Leistungen gehen müssen und das auch tatsächlich tun, um Anreize zu schaffen, in den Arbeitsmarkt zurückzukommen, können Sie daran erkennen, daß seit der Neuregelung der Sozialhilfe, die von dieser Koalition durchgesetzt worden ist, bei der Sozialhilfe für Langzeitarbeitslose eine degressive Anrechnung stattfindet. Die bisherige Fallbeilregelung - Anrechnung ab 275 DM, und zwar total - wird dadurch relativiert. In dieser Richtung wollen wir als Liberale weiter Politik machen.
Im übrigen möchte ich Ihnen, Frau Kollegin Fischer, sagen, daß die Diskussion in der Wissenschaft
- ich antworte noch - längst in vollem Gange ist.
- Ich bitte Sie nur deswegen, stehen zu bleiben, weil dann meine Redezeit nicht weiterläuft. -
Es ist an der Zeit, daß die Politik sich an dieser Diskussion beteiligt.
Frau Kollegin, jetzt dürfen Sie sich setzen. Vielen Dank.
Meine Kolleginnen und Kollegen, jeder Fragesteller muß sich selbstverständlich darüber im klaren sein, daß er dem Redner die Redezeit verlängert. Das ist so.
Deswegen freue ich mich immer über Fragen.
Vierte Bemerkung: Jeder Mensch hat das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Freiheit braucht eine materielle Grundlage. Wir wissen, daß auch bei wachsendem Bürgersinn und wachsender Verantwortung für den Nächsten eine staatliche Absicherung des Existenzminimums stets notwendig bleiben wird.
Wenn wir aber weiter an alle ein wenig vom sozialen Kuchen verteilen, dann wird für die wirklich Bedürftigen zuwenig übrigbleiben. Nicht derjenige gefährdet den Sozialstaat, der ihn reformieren will, sondern derjenige, der ihn weiter überfordert.
Wenn der Sozialstaat, der Bedürftigen helfen soll, zum Wohlfahrtsstaat mutiert, der allen etwas gibt, dann wird soziale Gerechtigkeit zu Grabe getragen. Die Überforderung des Sozialstaates geht zwangsläufig zuerst auf Kosten der Schwachen.
Nächstenliebe und Solidarität dürfen nicht zu einer staatlichen Dienstleistung werden. Wenn die Schere immer weiter auseinander klafft - immer mehr Freiheiten und Rechte beim Bürger, aber immer mehr Pflichten und Verantwortung beim Staat -, muß das zur Unfinanzierbarkeit unseres Gemeinwesens führen. Wir Liberale wollen mehr Freiheit für mehr Menschen und wissen, daß wir damit mehr Verantwortungsbereitschaft verlangen. Wir wollen Freiheit zur Verantwortung anstatt Freiheit von Verantwortung.
Freiheit ist nicht Egoismus, sondern das Vertrauen auf den Willen und die Fähigkeit des Menschen, zunächst in eigener Verantwortung zu entscheiden, zu handeln und zu helfen.
Die Trennung von Freiheit und Verantwortung macht aus Staatsbürgern Staatskunden. Die Verstaatlichung der Verantwortung kostet immer mehr persönliche Freiheit und menschliche Zuwendung. Die Absicht, persönliche Verantwortung durch staatliche Agenturen für alle Lebensrisiken zu ersetzen, führt zur Überforderung des Staates, verhindert wirkungsvolle Eigenvorsorge, macht ihn unfinanzierbar und riskiert ihn damit auf Kosten der Schwächsten.
Wir setzen der Verstaatlichung der Solidarität die Bürgergesellschaft entgegen, die die Übernahme von Verantwortung durch den einzelnen fordert und fördert. Verantwortung ist in einer liberalen Bürgergesellschaft nicht nur Eigenverantwortung, sondern ebenso die Bereitschaft, Mitverantwortung für an-
Dr. Guido Westerwelle
dere zu übernehmen, und zwar durch den einzelnen Bürger oder durch die Selbstorganisation von Bürgern. Das Prinzip „Freiheit durch Verantwortung" ist klassische Solidarität.
Wer den Sozialstaat für die Schwachen und Schwächsten erhalten will, muß seine ursprüngliche Zielrichtung im Auge behalten und die tragenden Säulen schützen. Verantwortungsgemeinschaften, Selbstorganisationen von Bürgern in Vereinen, Genossenschaften, Stiftungen, Bürgerinitiativen oder anderen Ehrenämtern müssen bei der Wahrnehmung gemeinnütziger Aufgaben künftig den Vorrang vor dem Staat haben. Erst da, wo die Bürger oder der freiwillige Zusammenschluß von Bürgern soziale Gerechtigkeit nicht gewährleisten kann, beginnt die Aufgabe des Staates.
Die Bürger werden aber nur bereit sein, Verantwortung für sich selbst und ihre Nächsten stärker zu übernehmen, wenn der Staat ihnen die finanziellen Freiheiten dazu läßt. Man kann Solidarität auch wegbesteuern.
Wenn einem von jeder verdienten Mark nicht einmal mehr die Hälfte übrigbleibt, entsolidarisiert sich die Gesellschaft und wird Nächstenliebe zur staatlichen Dienstleistung, weil sich das Bewußtsein durchsetzt: „Warum soll ich selbst noch etwas tun, ich habe doch dafür bezahlt?" Deswegen hat die Sozialdemokratisierung der Politik nicht nur zu einer Überforderung des Staates, sondern gerade auch zu der Entsolidarisierung in der Gesellschaft geführt, die sie beklagt, meine Damen und Herren.
Wir stimmen völlig überein: Die Sozialhilfe kann nicht mit Armut gleichgesetzt werden. Sozialhilfe ist übrigens auch nicht in dem absoluten Sinne des Wortes bekämpfte Armut, sondern es ist der Kampf gegen Armut. Das ist ein großer Unterschied.
Wir sollten den Bericht der Bundesregierung „Armut in der Bundesrepublik Deutschland", die man nicht leugnen kann und die auch niemand leugnen sollte, zum Anlaß nehmen, um uns perspektivisch mit der Zukunft des Sozialstaates auseinanderzusetzen. Wer nämlich krank ist, wer schwach ist, wer gebrechlich ist, wer arm ist in unserer Gesellschaft, der hat nicht nur unser Herz verdient, sondern vor allen Dingen auch unseren Verstand.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Westerwelle, habe ich Sie richtig verstanden, daß auch Sie jetzt für einen „Nationalen Armutsbericht" sind? Sie sprachen ja eben vom Bericht der Bundesregierung. Vielleicht können Sie Ihrem Koalitionspartner ein paar Ideen geben.
Herr Kollege Hintze, Senegal liegt bekanntlich nicht in Europa. Armut hierzulande muß sich an dem Maßstab des gesellschaftlichen Reichtums in der Bundesrepublik Deutschland messen:
Es ist unzulässig, die deutschen Armen mit den Elenden in Kalkutta zu vergleichen; denn Obdachlose im U-Bahnschacht können sich an solcher Relativitätstheorie nicht wärmen.
Das habe ich eben in der „Frankfurter Rundschau" von heute gelesen. Das Zitat stammt von Heribert Prantl, dem Tucholsky-Preisträger von 1996.
„Die Zahl der Millionäre in Westdeutschland ist nach der Wende 1989 sprunghaft gestiegen. " „An der Tafel sitzen Arbeitslose - Bedürftige werden mit Lebensmitteln versorgt, die sonst auf dem Müll landen würden. " Das sind nur zwei Schlagzeilen der letzten Zeit, die deutlich machen, daß das soziale Gefüge hierzulande längst aus den Fugen geraten ist.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zur Armut in der Bundesrepublik ist absolut unbefriedigend. Sie enthält keinerlei substantiell neuen Erkenntnisse zum Thema Armut, und der Dimension der Problematik wird sie in keiner Weise gerecht.
Ich denke dabei daran, daß sich Armut in der Bundesrepublik dramatisch ausweitet und verschärft; daß Armut hierzulande kein Problem gesellschaftlicher Randgruppen ist; daß das Ausmaß verdeckter Armut und von „working poor" in erschreckendem Maße zunimmt; daß wir angesichts der zunehmenden Erosion des Normalarbeitsverhältnisses mit einer Pluralisierung von Lebenslagen und einer Flexibilisierung von Lebensläufen konfrontiert sind; daß die Dynamisierung von Unterversorgungslagen - wie Dauer und Kontinuität von Sozialhilfebezug - besonderer Beachtung bedarf - hier möchte ich einfügen, Herr Kollege Hintze: Die Bremer Studie kann bekanntlich so oder so interpretiert werden; ich finde es arg problematisch, sie so einseitig mißzuinterpretieren, wie Sie das getan haben, und sie als Legitimation für Leistungskürzungen zu nutzen -;
daß bei sämtlichen Analysen eine Differenzierung
nach Geschlecht und Altersgruppen unabdingbar ist.
So signalisiert die zunehmende Infantilisierung der Armut einen akuten gesellschaftlichen Handlungsbedarf. Laut Mannheimer Studie von 1994 leben 810 000 Kinder unter der Armutsschwelle. Jedes fünfte Kind in den Ostberliner Neubaustadtbezirken lebt bereits in einem Haushalt mit Sozialhilfebezug. -
Petra Bläss
Herr Kollege Hintze, das sind die Fakten; da nützt Ihre ganze Beweihräucherung überhaupt nichts.
Für die Bundesregierung ist bezeichnenderweise die ansteigende Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger „kein Hinweis auf wachsende Armut in unserer Gesellschaft". Die Sozialhilfestatistik nicht als Indiz von Armut, sondern von bekämpfter Armut zu betrachten, halte ich für gefährlich. Vor allem aber ist in der Antwort kein Ansatz erkennbar, der auf eine Verbesserung der Armutsberichterstattung hinausläuft.
Die Bundesregierung hat auf dem Weltsozialgipfel 1995 ein Aktionsprogramm gegen Armut und soziale Ausgrenzung unterzeichnet, dessen nationale Umsetzung noch immer aussteht. Damit hatte sich die Bundesregierung verpflichtet, bis November 1995 einen „Nationalen Armutsbericht" vorzulegen und auf dessen Grundlage bis 1996, dem Internationalen Jahr der Bekämpfung der Armut, einen nationalen Plan zur Bekämpfung der Armut zu entwickeln sowie halbjährlich über die Erfüllung dieses Plans zu berichten.
Nach wie vor weigert sich die Bundesregierung jedoch, den Tatbestand der Armut hierzulande überhaupt anzuerkennen. Sie lehnt eine institutionalisierte und regelmäßige Armutsberichterstattung ab. Wir sehen in einem verbesserten System der Sozialberichterstattung eine wichtige Grundlage für eine zielgerichtete und effektive Politik zur Verhinderung von Armut und Ausgrenzung. Gerade deshalb ist ein „Nationaler Armutsbericht" überfällig.
Um Armut in ihrer Komplexität und Vielfalt aufzuzeigen, ist es notwendig, von einem ganzheitlichen Armutsbegriff auszugehen, der die gesamte Lebenslage eines Menschen - von der materiellen Existenzsicherung bis zu gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten - berücksichtigt.
Wir verstehen Armut als eine komplexe Situation von Unterversorgung in verschiedenen Lebensbereichen. Dazu zählen neben dem Einkommen vor allem Arbeit, -
Frau Kollegin, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen. - Es gibt eine Unruhe, die sich am Redner entzündet - die ist in Ordnung. Es gibt eine Unruhe, die vom Redner keine Notiz nimmt - die ist nicht in Ordnung.
Jetzt ist die Ruhe wiederhergestellt. Bitte fahren Sie fort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
- ich danke -, Wohnen, Gesundheit und Bildung sowie der Mangel an Möglichkeiten, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen.
Für unverzichtbar halten wir eine korrespondierende Reichtumsberichterstattung; denn Armutslagen - der Kollege Spanier hatte bereits darauf verwiesen - müssen in einem verteilungspolitischen
Kontext, das heißt immer: in Relation zu gesellschaftlichem Reichtum, betrachtet werden.
Es ist an der Zeit, über das Ausmaß und die Ursachen des Reichtums zu reden, um die eigentlichen Ursachen öffentlicher und privater Armut aufzudecken. Herr Kollege Westerwelle, solange wir bei uns solchen Reichtum haben, müssen wir dringend über Armut reden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, daß es sich bei der Antwort der Bundesregierung nicht nur um eine beschönigende Bilanz, sondern inzwischen um völlige Makulatur handelt, davon zeugen allein Passagen wie die folgenden: Da wird unter dem Verweis auf die Reform des Bundessozialhilfegesetzes davon gesprochen, bewährte Instrumente der Sozialhilfe zu sichern und zu erhalten. Da ist die Rede davon, daß die Anhebung des Kindergelds für das erste und zweite Kind auf 220 DM bereits am 1. Januar 1997 erfolge. Da wird auf Bestrebungen der Bundesregierung hingewiesen, die soziale Sicherung von Frauen nachhaltig zu verbessern, indem beispielsweise dem weiteren Abbau von kindererziehungsbedingten Nachteilen in der Alterssicherung auch künftig hohe Aufmerksamkeit gewidmet werde. Schließlich ist davon die Rede, daß die Stärkung von Selbsthilfe für die Bundesregierung ein wichtiges Ziel bei der Fortentwicklung des Sozialstaates sei.
All das ist angesichts der mit Kanzlermehrheit in diesem Hause beschlossenen Novellierungen des Bundessozialhilfegesetzes, des Asylbewerberleistungsgesetzes - ich füge hinzu: die Asylbewerberinnen und Asylbewerber haben Sie mit Ihren Mehrheitsverhältnissen vom Bezug von Leistungen nach dem BSHG ausgenommen -, der Arbeitslosenhilfereform, vor allem aber angesichts der Verabschiedung des Pakets der sozialen Grausamkeiten ein Hohn sondergleichen.
Ich frage wieder: Wer, Kollege Westerwelle, zerstört hierzulande den Sozialstaat?
Sämtliche vermeintlichen Einspareffekte gehen einseitig zu Lasten der sozial Schwächeren in dieser Gesellschaft. Die soziale Schieflage hierzulande und die weitere Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben werden dadurch verstärkt. Armut wird vorprogrammiert.
Ich möchte nur an den Teufelskreis erinnern - Kürzungen in der Lohnfortzahlung und beim Krankengeld, steigende Zuzahlungen bei Kuren und Medikamenten -, der chronisch kranke und behinderte Menschen geradezu in die Armut treibt. Ich möchte auch an die geschlechtsspezifischen Auswirkungen
- es ist interessant, daß Sie genau an dieser Stelle losbrüllen - der Veränderungen im Kündigungsschutzrecht und an die Folgen der Anhebung der Rentenaltersgrenze für Frauen erinnnern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zöller?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Natürlich gestatte ich eine Zwischenfrage.
Bitte, Herr Kollege Zöller.
Sie haben gerade in Ihrer Rede behauptet, chronisch Kranke litten unter dem System besonders. Haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, daß gerade für chronisch Kranke die Zuzahlungen halbiert und nicht erhöht wurden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Natürlich ist mir das bekannt; ich habe ja das Gesetzgebungsverfahren für das Sparpaket mitgemacht und im Ausschuß aktiv mitverfolgt. Natürlich weiß ich das. Ich finde es übrigens schlimm genug, daß chronisch Kranke in diesem Gesundheitssystem überhaupt zu Zuzahlungen gezwungen sind.
- Ich habe nichts Falsches gesagt. Wenn Sie sich die Stellungnahmen sämtlicher Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter anschauen - Sie müssen jetzt, glaube ich, auch noch stehenbleiben -, dann wissen Sie genau, daß sie sich vehement zur Wehr gesetzt haben. Daß sie sozusagen diesen minimalen Erfolg erzielt haben, ist doch überhaupt kein Grund dafür, an diesem Punkt zufrieden zu sein.
- Habe ich nicht.
Die Lohnfortzahlung ist ja wohl gekürzt worden.
- Darf ich jetzt vielleicht fortfahren? Ich glaube, der Disput bringt hier nichts.
Bitte keinen Dialog.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Armut, meine Damen und Herren, ist auch hierzulande immer noch vor allem weiblich. Das größere Armutsrisiko von Frauen, das sich zum Beispiel an ihrem höheren Anteil beim Langzeitbezug von Sozialhilfe zeigt, ist Resultat ihres Ausschlusses aus eigenständiger Existenzsicherung. Nach wie vor sind die Folgen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung - Verdrängung vom Erwerbsarbeitsmarkt in ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse sowie Unterbezahlung - wesentliche Verarmungsursachen.
Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr Erklärung und Aktionsplattform der Vierten Weltfrauenkonferenz unterschrieben, in der Armut von Frauen als einer der Hauptproblembereiche definiert wird, in denen akuter Handlungsbedarf besteht. Als zu ergreifende Maßnahmen werden sowohl das Angehen struktureller Ursachen der Armut, die Ausarbeitung und Durchführung von Programmen zur Armutsbekämpfung als auch die Überprüfung des sozialen Sicherungssystems hinsichtlich der notwendigen Verminderung geschlechtsspezifischer Disparitäten benannt.
Verweisen möchte ich an dieser Stelle noch einmal auf unsere bereits im Februar 1995 eingebrachte Initiative zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Armut und Obdachlosigkeit" .
Frau Kollegin, die Redezeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Sie ist um.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin gleich fertig. - Ich möchte aber, zumindest noch daran erinnern, daß heute auch der Antrag der PDS zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Armut und Obdachlosigkeit" zur Abstimmung steht. Wir haben den Vorschlag gemacht, unter Einbeziehung von Betroffenen Ursachen von Armut und Obdachlosigkeit zu untersuchen und Vorschläge zu deren Bekämpfung zu erarbeiten. Das ersetzt, bitte schön, keinen nationalen Armutsbericht, aber es wäre ein erster Schritt.
Frau Kollegin!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie könnten handeln und könnten diesen schönen Worten von heute, diesen Generalsekretärsworten, auch Taten folgen lassen.
Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Claudia Nolte.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht in der heutigen Debatte nicht darum, ob man wirtschaftlich Schwachen helfen soll oder nicht. Es ist unsere Verpflichtung, denjenigen gegenüber solidarisch zu sein, die der Hilfe bedürfen. Wir helfen ihnen nicht dadurch, daß wir ein möglichst düsteres Szenario beschreiben. Deshalb ist natürlich auch der Vergleich mit anderen Ländern angezeigt und geboten. Ich denke, wir können darauf verweisen, daß wir auch im Vergleich mit
Bundesministerin Claudia Nolte
anderen Staaten Europas ein sehr hohes soziales Sicherungsniveau haben.
Deshalb, finde ich, sollten wir uns ein bißchen stärker kontrollieren und den Begriff „Armut" vorsichtiger und vor allem nicht mehr so inflationär benutzen, wie das hier passiert.
Wir sind in der Tat gefordert, unsere soziale Marktwirtschaft zu erneuern, damit sie den Sozialstaat auch auf Dauer sichern kann. Das heißt natürlich auch, daß wir Sozialleistungen daraufhin überprüfen müssen, ob sie angesichts veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse nicht ebenfalls verändert und angepaßt werden müssen. Denn es ist notwendig, daß wir die Mittel auf die konzentrieren, die sie wirklich benötigen.
Es gibt sicherlich Bevölkerungsgruppen, die unserer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Lassen Sie mich beispielhaft die Rentnerin nennen, die vier Kinder großgezogen hat, selber vielleicht nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt war und heute auf Sozialhilfe angewiesen ist.
Deshalb setze ich mich dafür ein, daß eine Lebensleistung, wie sie beispielsweise in der Kindererziehung zum Ausdruck kommt, bei der Berechnung der Rente stärker berücksichtigt wird.
Mir geht es genauso um die kinderreiche Familie, in der die Mutter für die Erziehung der Kinder zu Hause ist und das Einkommen des Vaters für alle ausreichen muß. Hier stehen wir in der Pflicht; deshalb haben wir das auch bei der Veränderung des Familienlastenausgleichs beachtet. Da das Pro-KopfEinkommen für Familien mit steigender Kinderzahl sinkt, sind gerade kinderreiche Familien auf eine stärkere gezielte Familienförderung angewiesen.
Ebenso brauchen Alleinerziehende gezielte Unterstützung, weil ihr Anteil unter den Sozialhilfebeziehern besonders groß ist.
Es ist deshalb unser Ziel, das Kindergeld so zu erhöhen, daß man wegen der Kindererziehung nicht Sozialhilfe in Anspruch nehmen muß.
Es gehört aber auch zur Wahrheit - wir müssen um Verständnis dafür werben -, daß wir die Erhöhung nicht so schnell erreichen können, wie wir es möchten. Auch das ist ein Teil unserer sozialpolitischen Verantwortung.
Ich halte es für absolut ungerechtfertigt, an einer Verschiebung der Kindergelderhöhung Armut, insbesondere etwa an Kinderarbeit festzumachen, wie es in der letzten Woche passiert ist. Wir werden 1997 für keine Familie weniger Familienleistungen durch den Familienlastenausgleich haben. Der neue Familienleistungsausgleich entlastet die Familien in diesem Jahr um 7 Milliarden DM. Genauso wird es in den Folgejahren sein.
Wir liegen in Europa auf der Kindergeldskala auf Platz 4 hinter Luxemburg, Belgien und Österreich. Deshalb ist diese Diskussion nicht so zu führen, wie Sie sie führen.
Die Daten des „Sozioökonomischen Panels" ergeben, daß der Anteil der Einkommensschwachen an der Bevölkerung Westdeutschlands, besonders bei deutschen Staatsbürgern und Kindern, im Jahre 1994 im Vergleich zu 1984 - diese Zahlen liegen uns vor - insgesamt zurückgegangen ist. Das haben wir auch in der Großen Anfrage deutlich beantwortet.
Wir haben mehr Sozialhilfebezieher - das ist wahr -, aber es bleibt genauso wahr - das wissen auch Sie -, daß Sozialhilfe dazu da ist, Armut zu verhindern. Wir dürfen den Sozialhilfeempfänger nicht als Maßstab für die Armut machen, weil jede Ausweitung - das wäre das Ergebnis - der Basis an Anspruchsberechtigung zu mehr Armut führen würde. Das kann es nicht sein, das ergäbe keinen Sinn.
Sie wissen, daß durch die Pflegeversicherung die Sozialhilfeabhängigkeit älterer Menschen, insbesondere bei stationärer Pflege drastisch verringert wird. Die Pflegeversicherung hat ganz klar bewiesen, daß wir auch in Zeiten enger Finanzspielräume unser Sozialversicherungssystem den Anforderungen anpassen.
Sie wissen auch, daß der Anteil der 65jährigen und älteren Sozialhilfebezieher, die außerhalb von Einrichtungen leben, deutlich zurückgegangen ist: von 20 Prozent im Jahre 1980 auf etwa 7,5 Prozent im Jahre 1993. Bezogen auf die neuen Bundesländer hat sich das Lebensniveau seit der deutschen Einheit für die Menschen wesentlich verbessert.
Allein die Kaufkraft der Haushalte stieg von 1991 bis 1995 um 19,3 Prozent.
Niemand bestreitet, daß es auch in Deutschland Menschen gibt, die über so geringe Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise der übrigen Gesellschaft ausgeschlossen werden. Diesen Menschen zu helfen ist unsere Aufgabe, egal, ob sie selbstverschuldet oder fremdverschuldet in diese Situation gekommen sind.
Die Möglichkeiten dazu haben wir geschaffen. Sie sind vielfältig. Die Sozialversicherung und speziell die Sozialhilfe zum Schutz gegen Not in besonderen Lebenslagen sind unsere wichtigsten Waffen gegen Armut, und sie sind unsere solidarische Pflicht.
Solidarität ist jedoch keine Einbahnstraße. Ich finde es vollkommen richtig, daß hier darauf hingewiesen wird: Es kann nicht nur uni die ständige Expansion von Sozialleistungen gehen. Wir müssen auch an die Steuer- und Beitragszahler, an die Fami-
Bundesministerin Claudia Nolte
lien denken, die mit ihren Beiträgen die Sozialleistungen bezahlen.
Deshalb ist es viel wichtiger, daß wir den Betroffenen einen Weg aufzeigen, selbst aus ihrer Situation herauszukommen.
- Ich denke, daß das Sicherungssystem sehr umfassend ist und daß wir mit solchen Hilfen wie Beratung bei Verschuldung des Haushalts, Betreuung von Nichtseßhaften und Obdachlosen einiges erreichen.
- Ich denke, daß sie ihrer Aufgabe hervorragend gerecht wird und daß dort sehr engagiert gearbeitet wird. Ich fand es vollkommen richtig, Herr Hintze, daß Sie auf die Arbeit dieser Leute hingewiesen haben und daß sie unseren Dank bekommen.
Ich glaube, zu dieser Diskussion gehört genauso, daß wir uns dafür einsetzen müssen, auch in ganz anderen Bereichen Armut zu bekämpfen; denn Sinnverlust, Orientierungslosigkeit, Bindungsangst und Egoismus stehen für eine Armut, die Sie mit finanziellen Mitteln nicht beheben können. Vielmehr ist das menschliche Klima in unserer Gesellschaft entscheidend. Das hängt von den Beziehungen untereinander ab. Das hängt von dem erlebten Gemeinsinn und der erfahrenen zwischenmenschlichen Solidarität ab.
Es gibt die Erfahrung von Geborgenheit und Angenommensein, die durch kein Sozialprogramm der Welt geschaffen werden kann. Auch dem sind wir verpflichtet.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Iris Follak, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihre Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, - so hätte Schiller den vorherigen Beitrag kommentiert.
Wir von der Opposition haben wirklich nicht die Aufgabe, Ihnen bei Ihren Schönwettermalereien auch noch den Farbtopf zu halten.
Unsere Armut ist freilich nicht derselben Natur wie die in den Entwicklungsländern. Sie hat auch nicht die Dimension der neuen Armutswelle in Osteuropa, wie beispielsweise in Bulgarien oder Rumänien.
Aber ich frage Sie allen Ernstes: Wollen und können wir bei unserem Bruttosozialprodukt etwa damit verglichen werden? Wenn Sie sich auf dieses Niveau begeben, beschädigen Sie den Sozialstaat Deutschland fundamental.
Dies werden wir Sozialdemokraten nicht zulassen. Dafür haben wir viel zuviel politische Substanz eingebracht.
Spüren Sie nicht, wie sich eine neue Subkultur armer Menschen bildet, die nur wenig Unterstützung von der Gesellschaft erhält, die von uns Politikern nichts mehr wissen will, die mit der Politik abgeschlossen hat, die nichts mehr von diesem Staat erwartet, weil ihr der Staat die Türen zum Ausstieg öffnet, aber offene Türen zum Einstieg fehlen?
Wer wie ich seit nunmehr zwei Jahren zahlreiche Zwangsräumungen miterlebt hat, in Gefängnisse geht, Obdachlosenhäuser, Sozial- und Arbeitsämter aufsucht, um den Menschen, die ich dort treffe, zuzuhören, der redet hier nicht wie der Blinde von der Farbenwelt, sondern der erlebt Armut Tag für Tag.
Mit welchen Menschen sprechen Sie eigentlich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie durch das Land gehen? Sicherlich nicht mit den Schwachen dieser Gesellschaft.
Armut ist eine Ansammlung verschiedenster Mißstände, bei denen Ursache und Wirkung klar zu unterscheiden sind. Es handelt sich nämlich häufig um einen Teufelskreis und fördert den sozialen Unfrieden.
Armut hat sich seit Anfang der 80er Jahre zu einem zentralen sozialpolitischen Problem entwickelt, das mit der Wiedervereinigung an zusätzlicher Brisanz gewonnen hat. Während die alten Bundesländer in einer Übergangsphase vom Vereinigungsprozeß wirtschaftlich erheblich profitiert haben, wurden die neuen Bundesländer mit einer tiefgreifenden sozialökonomischen Struktur- und Anpassungskrise konfrontiert, die, wie es immer augenscheinlicher wird, noch einen längeren Zeitraum andauern wird.
Für Ostdeutschland versprach der Herr Bundeskanzler zwar blühende Landschaften, aber es werden nach wie vor Weichen für den sozialen Abstieg vieler Menschen gestellt.
Wie wollen Sie eigentlich einem Jugendlichen Ihres Wahlkreises erklären, daß er keinen Beitrag für
Iris Follak
seinen Zahnersatz erhält und eine neue Brille ebenfalls nicht bezuschußt wird?
Aber vielleicht sagen Sie ihm, daß er sowieso keinen Durchblick und auch keinen Biß mehr braucht, da er mit seinem Leben nichts anzufangen weiß, weil es ohnehin keine Lehrstelle geben wird.
Wenn die Dinge des Lebens nicht mehr lebenswert und nicht mehr erreichbar sind, dann besteht der Alltag nur noch aus einem einzigen Überlebenskampf. Dieser Aspekt ist bei allen unschuldig verarmten Menschen gleich, egal, ob sie in den neuen oder alten Bundesländern leben. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß die Bürgerinnen und Bürger aus Ostdeutschland auf Grund verschiedenster Umstände schneller in die Armut geraten können.
Ich möchte in diesem Zusammenhang die denkwürdigen Worte unseres Herrn Bundeskanzler zitieren, die er nach der Wende sagte: Es wird keinem schlechter-, aber vielen bessergehen.
Tatsache ist, daß 1 135 000 Männer und Frauen in den neuen Bundesländern von Arbeitslosigkeit betroffen sind. 4,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger leben unterhalb der Grenze der Einkommensarmut, das heißt, sie müssen mit weniger als 623 DM im Monat auskommen. 288 000 Männer, Frauen und Kinder in den neuen Bundesländern sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Diese Zahlen zeigen doch wohl mehr als deutlich, daß dieser Satz, den viele Ostdeutsche geglaubt haben und glauben wollten, jeglichen Realitätsbezug verloren hat
und durch die Politik dieser Regierung als falsch entlarvt worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden zukünftig dafür arbeiten müssen, ein wenig Farbe durch Perspektiven, Hoffnung und Zuversicht in das graue Alltagsleben von armen Menschen zu bringen. Meine Partei wird dafür kämpfen, daß die Schere zwischen arm und reich nicht weiter auseinandergeht.
Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, fordere ich hiermit auf: Machen Sie endlich Schluß damit, dem kleinen Mann in die Tasche zu greifen!
Ich muß, damit dieses Haus vor der Literaturgeschichte bestehen kann, auf einen Zwischenruf des Kollegen Hintze eingehen.
Die Kollegin Follak hat die Vermutung geäußert, Schiller habe gesagt: „Die Worte hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. " Ihr Zwischenruf mit dem Hinweis auf Goethe bezog sich natürlich auf eine völlig andere Äußerung Goethes. Er sprach von der Botschaft, die er wohl hörte.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulf Fink.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir überlegt, welche Debattenstrategie die SPD anlegt, ob sie sich wirklich mit dem Thema beschäftigt oder ob sie die Debatte für eine billige innenpolitische Auseinandersetzung nutzt. Leider ist das letztere eingetroffen. Deshalb möchte ich Ihnen sagen, was Bischof Homeyer bei der Konferenz der katholischen Bischöfe anläßlich der Diskussion über das Papier der Kirchen über die wirtschaftliche und soziale Lage gesagt hat.
Bischof Homeyer hat mit Hinweis auf die Globalisierung und Internationalisierung gesagt, daß die Besitzstände auf den Prüfstand gestellt werden müssen, daß zum neuen Denken des Sozialstaates gehört, daß wir unseren Lebensstandard wahrscheinlich nicht wesentlich erhöhen können, sondern dankbar sein müssen, wenn wir ihn halten können. Er bezeichnet es im übrigen als fatal und gefährlich, angesichts der Pläne der Bundesregierung von einem Ende des sozialen Friedens zu reden. So das Wort des Bischofs.
Herr Kollege Fink, Verzeihung. Kollege Hirsch würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, sehr gerne.
Herr Kollege Fink, entschuldigen Sie bitte, aber könnten Sie meine Vermutung bestätigen, daß das Zitat „Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube" doch von Schiller, und zwar aus „Wallenstein", stammen könnte?
Da ich dem Herrn Vizepräsidenten gern immer recht gebe, gebe ich ihm auch diesmal recht.
Herr Kollege Hirsch, es stammt aus dem „Faust".
Ich möchte aber doch in unserer Debatte fortfahren.
Ich will Ihnen eine Zahl nennen, die ein Professor der Yale-Universität, Paul Kennedy, dargelegt hat. Diese macht schlaglichtartig klar, worum es in unserer Debatte eigentlich geht. Er sagt: Es gibt 1,2 Milliarden Arbeiter in den Drittweltstaaten, die seiner Rechnung nach in der Lage sind, 85 Prozent der Arbeiten zu übernehmen, die heute noch in den Industriestaaten geleistet werden. Es gibt aber einen gravierenden Unterschied, auf den er aufmerksam macht: In den Industriestaaten wird ein Tageslohn von durchschnittlich 85 US-Dollar gezahlt, während in den Entwicklungsländern ein Tageslohn von 3 US-Dollar gezahlt wird.
Diese Gegenüberstellung ist wohl das treffendste Bild dafür, was wir unter Globalisierung von wirtschaftlichen und sozialen Problemen verstehen. Wer ernsthaft über das Thema „Armut und Ausgrenzung in Deutschland" redet, muß Antworten auf diese Probleme geben können und sich die Frage vorlegen, ob wir ernsthaft in der Lage sind, dieses Problem zu bewältigen, und welche Wege überhaupt gegeben sind.
Es gibt einen Weg, der von der bedeutendsten Industrienation der westlichen Welt gegangen worden ist, nämlich den Vereinigten Staaten von Amerika. Ihnen ist es gelungen, eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze zu schaffen. Allerdings haben die Vereinigten Staaten dafür einen hohen - ich meine, einen zu hohen - Preis bezahlt. Die ohnehin auf dem Kopf stehende Einkommens- und Vermögensverteilung in den Vereinigten Staaten hat sich weiter verschärft. Mittlerweile beansprucht das obere Fünftel der Haushalte in den Vereinigten Staaten rund 50 Prozent des gesamten Volkseinkommens. Die anderen vier Fünftel müssen sich den Rest des Volkseinkommens teilen.
Entschuldigung, Herr Kollege Fink, der Kollege Gilges würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, sehr gerne.
Herr Kollege Fink, wenn Sie den Zustand in den USA richtigerweise beklagen, dann müssen Sie doch auch ähnliche Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland beklagen. Ist Ihnen bekannt, daß ein Kollege von Herrn Hintze, Herr Huster von der Evangelischen Fachschule in Bochum, uns allen mitgeteilt hat, daß sich von 1980 bis 1992 die Zahl der Sozialhilfeempfänger verdoppelt hat? Dem steht gegenüber, daß sich die Zahl derjenigen, die ein verfügbares Einkommen von 10 000 DM und mehr im Monat haben, in derselben Zeit verfünffacht hat. Sie machten 1980 noch einen Anteil von 1,5 Prozent an der Einkommensquote aus, jetzt haben sie fünf Prozent. Das heißt, deren Anteil hat sich verdreifacht. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich verdoppelt, während sich die Zahl der Bezieher dieser hohen Einkommen verdreifacht hat.
Das heißt, wir haben eine Entwicklung wie in den USA: Ein großer Teil der Bevölkerung wird immer ärmer, und ein geringer Teil der Bevölkerung wird immer reicher. Herr Westerwelle sagt, das ist richtig - und Sie teilen ja anscheinend seine Ansicht -, daß immer weniger reicher werden, in der Hoffnung, sie werfen den Armen irgendwann einmal fünf Mark in den Hut, vorausgesetzt, sie kommen an den Armen vorbei, fahren nicht mit dem Mercedes, sondern gehen zu Fuß über die Kölner Hohe Straße.
Sind Sie nicht der Meinung, daß wir die in den USA zu beobachtende Entwicklung auch schon in der Bundesrepublik haben?
Herr Abgeordneter Gilges, gerade diese Zahlen zeigen ja die riesenhaften Unterschiede in der Entwicklung zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland. In der Bundesrepublik Deutschland ist noch ein Maß an Ausgeglichenheit und sozialer Ausgewogenheit vorhanden, wie es in anderen Ländern überhaupt nicht mehr der Fall ist.
Das können Sie anhand einer weiteren Zahl sehen. Edward Wolfe, ein New Yorker Ökomom, hat einmal berechnet, wie die Vermögensentwicklung in den Vereinigten Staaten in den 80er Jahren gelaufen ist. Er stellt fest, daß das obere Fünftel der Gesellschaft am Vermögenszuwachs zu 98,8 Prozent profitiert hat, den Rest mußten sich die anderen teilen.
Konsequenterweise ist dann in den Vereinigten Staaten von Amerika mit den Stimmen der Republikaner und der Demokraten ein Gesetz verabschiedet worden, das den amerikanischen Armen nach zwei, höchstens fünf Jahren jeglichen Anspruch auf staatliche Unterstützung nimmt. Sehen Sie, diesen Weg können und wollen wir nicht gehen. Wir vertreten die Ansicht, daß jeder Mensch unabhängig von seiner Leistung und seinen Fehlern ein Recht auf die Führung eines menschenwürdigen Lebens hat.
Deshalb müssen wir uns daran erinnern, was der Grund für unsere Erfolge in den letzten Jahrzehnten gewesen ist. Es war - ich glaube, das ist unbestreitbar - die höchst geglückte Verbindung von Wirtschaftlichem und Sozialem. Wie groß diese Erfolge sind, wird deutlich, wenn man die Wertschöpfung pro Beschäftigten betrachtet. In Westdeutschland lag die Wertschöpfung pro Beschäftigten im Jahr 1995 bei 75 000 US-Dollar, die der Vereinigten Staaten bei 57 000 Dollar, also deutlich niedriger als bei uns. In Großbritannien lag sie meilenweit darunter: bei 43 000 Dollar pro Beschäftigten. Nach Jahren Thatcherscher Reformen ist der Abstand zwischen Westdeutschland und Großbritannien der höchste, den es je gegeben hat.
Deshalb kann man nur davor warnen, etwa abgeschlossene Tarifverträge leichtfertig aufs Spiel zu
Ulf Fink
setzen, zumal sich doch jeder vorstellen kann, was es für die Armutsproblematik bedeuten würde, wenn Tarifverträge durch Einzelvereinbarungen ersetzt würden.
Das gilt auch für die Diskussion um die Renten. Wer das Rentensystem kippen will, der muß sich bewußt sein, was er tut. Denn dieses System hat wie kaum ein anderes soziales Sicherungssystem in der Welt Altersarmut bekämpft. Der Anteil der über 60jährigen bei den Sozialhilfeempfängern hat sich von ehedem von über 30 Prozent auf jetzt 9 Prozent verringert.
Das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland muß umgebaut werden, das ist richtig. Aber zur ganzen Wahrheit gehört, daß es einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, daß die Bundesrepublik Deutschland, international gesehen, an der Spitze unter den Wirtschaftsländern der ganzen Welt steht.
Manch einer von Ihnen mag sich durch meine Analyse vielleicht bestätigt und ermuntert fühlen. Aber man darf es bei dieser Analyse nicht bewenden lassen. Es ist der Staat, der die Rahmendaten für die Wirtschaft setzt und für den sozialen Ausgleich sorgt. Wir stellen aber fest, daß diese nationalen Antworten zunehmend an Grenzen stoßen. Was nutzen nationale Schutzrechte, wenn Firmen ihre Produktion ins Ausland verlagern? Was nutzen nationale Maßnahmen zur Umverteilung der Arbeit, wenn die Arbeit selbst ausgelagert wird? Oder was nutzen nationale Steuergesetzgebungen, wenn die Kapitalanleger Deutschland meiden? Ich glaube, man kann auf soziale Verwerfungen und Armut heute nur mit supranationalen Regelungsmechanismen reagieren, das heißt, im Nahbereich mit einem starken Europa.
Im 19. Jahrhundert hat die christliche Soziallehre lange gebraucht, bis sie erkannt hat, daß auf die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts nicht mit karitativen Mitteln, sondern nur strukturell geantwortet werden konnte. Das war die Geburtsstunde der Sozialdemokratie. Heute, im ausgehenden 20. Jahrhundert, haben die Sozialdemokraten große Mühe, zu erkennen, daß es nichts nutzt, globale Probleme national lösen zu wollen. Die sozialen Probleme des 19. und 20. Jahrhunderts haben wir mit Hilfe eines ordnungspolitisch starken Staates beantwortet.
Die Frage ist: Wird uns das auch mit den sozialen Problemen des 20. und des 21. Jahrhunderts gelingen, vielleicht mit Hilfe eines starken Europas? Das steht im Mittelpunkt unserer Debatte. Ich würde mich freuen, wenn wir ernsthaft über solche Fragen debattierten.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Westerwelle.
Ich will eine sachliche Bemerkung machen. Herr Fink ist darauf eingegangen, daß es nicht darum geht, Almosen zu geben oder 5 DM in den Hut zu werfen. Vielmehr ist das, was ich Ihnen vorgetragen habe, eigentlich das klassische Subsidiaritätsprinzip.
Außerdem wollte ich mit Hilfe einer Mitarbeiterin - ich selber wäre natürlich nie in der Lage gewesen, das aus dem Kopf zu sagen; anders als die beiden Vizepräsidenten - diesen präsidialen Streit aufklären: Goethes „Faust" steht nicht im Thomas-DehlerHaus. Aber das Handbuch der Zitate von 1982 aus dem Delphin-Verlag, das ein Ausdruck relativer Bildung der Liberalen ist, klärt uns auf: Das Zitat stammt aus Goethes „Faust", Teil I.
Mir ist nicht völlig klar, auf wen sich diese Kurzintervention bezieht und wer jetzt antworten soll. Goethe ist auf jeden Fall nicht anwesend.
Ich erteile deshalb der Kollegin Ulrike Mascher, SPD, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fand den Beitrag des Kollegen Fink ganz interessant. Ich denke, er ist auch lohnenswert zu diskutieren, aber mit unserem Thema hat er sich nicht so ganz beschäftigt.
Es ist eine Erfahrung: In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zum Thema Armut in der Bundesrepublik wiederholt sich in beängstigender Weise eine immer wiederkehrende Reaktion der Bundesregierung. Ob nun die Caritas, der DPWV, die Arbeiterwohlfahrt oder die Nationale Armutskonferenz auf der Grundlage öffentlich zugänglicher Daten und auf der Grundlage eigener Untersuchungen Armutsberichte vorlegen, die Bundesregierung erklärt, die Zahlen seien nicht repräsentativ, sie seien nicht aussagekräftig, es handele sich um Horrorgemälde.
So wichtig, Herr Hintze, Dank und Anerkennung an die Mitarbeiter all dieser Organisationen sind, es wäre um ein Vielfaches wichtiger, wenn Sie diese Untersuchungen ernst nähmen und sich ehrlich mit den Mitarbeitern auseinandersetzten. Dann würden sich die Fäuste vielleicht an einer anderen Stelle ballen, als Sie das vermutet haben.
Dann wird immer wieder die Frage gestellt, wie Armut in der Bundesrepublik zu definieren sei; es werden immer alle bisher verwendeten Armutsdefinitionen als ungeeignet verworfen. Die Bundesregierung hat jetzt in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage eine neue Definition vorgelegt. Armut ist der „Mangel an Mitteln zur Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft". Aber weil sie weiß, daß das zu kurz greift, sagt sie darüber hinaus, Armut sei so komplex, daß eine Festlegung in einer Armutsdefinition nicht möglich sei.
Ulrike Mascher
So kann man sich an dem Problem natürlich auch vorbeimogeln.
Dann werden immer die erheblichen Kosten der Sozialhilfe dargestellt, und die SPD wird beschuldigt, nicht schnell genug die Rotstiftpolitik der Bundesregierung zu unterstützen oder nicht rasch genug dafür zu sorgen, daß Flüchtlinge wieder in ihr zerstörtes Heimatland zurückkehren. Deswegen sei die SPD auch an den hohen Sozialhilfekosten und der Armut mit schuld.
Ich finde diese selbstgerechte Politik der Bundesregierung schwer erträglich. Sehen Sie denn nicht die steigende Zahl der Langzeitarbeitslosen unter den Sozialhilfeempfängern, die steigende Zahl der überschuldeten Haushalte, die vielen Frauen mit Kindern, die von Sozialhilfe leben müssen, weil unsere sozialen Sicherungssysteme nicht „armutsfest" sind, wie die Caritas sagt, und weil sich die unterhaltsverpflichteten Väter zu 80 Prozent stillschweigend ihren Verpflichtungen entziehen?
Glauben Sie denn wirklich, mit spitzfindigen Debatten über Armutsdefinitionen und globale Horizonte ist den 20 Prozent alleinerziehenden Frauen geholfen, die dauerhaft oder vielleicht nur neun oder zehn Jahre von der Sozialhilfe leben müssen? Gott sei Dank kommen sie dann auch wieder heraus, aber das ist ja lange genug.
Können Sie sich denn überhaupt vorstellen, meine Herren, aber auch einige Damen, was es heißt, Kleider, Schuhe, Unterwäsche aus den städtischen Kleiderlagern zu bekommen oder mit Gutscheinen des Sozialamtes einkaufen zu müssen? Können Sie sich vorstellen, was es heißt, einem Kind alles das, was unsere bunte Reklamewelt täglich vorführt, immer wieder ablehnen zu müssen oder immer rechnen zu müssen, ob das Super-Magnum-Eis nun noch drin ist, ob es für ein Fahrrad reicht, was es heißt, Freizeitaktivitäten, einen Oktoberfestbesuch in München, ein Karnevalsfest, einen Kindergeburtstag - alles immer nicht finanzierbar - immer wieder neu beim Sozialamt zu erkämpfen? Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet? Die gleichberechtigte Teilhabe in unserer Gesellschaft ist da eine unerreichbare Fata Morgana.
Frau Bergmann-Pohl hat für ihre am 13. Juni nicht gehaltene Rede zu unserer Großen Anfrage formuliert:
Natürlich erlaubt Sozialhilfe keinen üppigen Lebensstil. Das soll sie auch nicht. Sozialhilfe soll Brücken für die Rückkehr in das Erwerbsleben schaffen.
Frau Bergmann-Pohl, wo sind denn die Arbeitsplätze für alleinerziehende Frauen? Wo sind die flächendeckenden Kinderbetreuungsangebote, die eine Erwerbsarbeit möglich machen? Ich weiß, es gibt in einigen Städten ausreichende Angebote, aber flächendeckend sind sie noch lange nicht vorhanden.
Wie können Alleinerziehende, die keinen beruflichen Abschluß haben, eine Berufsausbildung durchsetzen und realisieren? Kennen Sie den elenden
Kampf von Frauen bei ihrem Sozialamt, um eine Berufsausbildung durchzusetzen?
Welche Besitzstände sollen denn hier eigentlich auf den Prüfstand gestellt werden?
Selbst die Bundesregierung kann die Tatsache nicht ganz ausblenden, daß alte Frauen, obwohl sie einen Anspruch auf Sozialhilfe haben, aus Scham und aus Angst vor dem Rückgriff auf die Kinder nicht zur Fürsorge gehen. Sie leben oft in elenden Wohnverhältnissen mit einer unzureichenden Gesundheitsversorgung, fast unsichtbar in unserer Gesellschaft. „Verschämte Armut" heißt das dann offiziell.
Sichtbarer ist die steigende Zahl obdachloser Frauen. Findet es die Frauenministerin nicht alarmierend, daß Frauen, die obdachlos sind, häufig massiver Gewalt ausgesetzt sind, in sexuelle Abhängigkeiten geraten und chronisch krank sind? Ihre Staatssekretärin kennt offenbar die Probleme; ihre Antwort ist allerdings hilflos. Ich zitiere:
Das Leben in der Obdachlosigkeit ist in der Regel durch gewalttätige Beziehungen geprägt. Um auf der Straße überleben zu können, suchen Frauen oft ein vorübergehendes Unterkommen bei einem Mann oder den Schutz durch andere obdachlose Männer. Diese Abhängigkeit führt zur Gewalterfahrung.
Auch in den Obdachlosenheimen kommt es nach Angaben der zuständigen Hilfeeinrichtungen vielfach zu sexuellen Übergriffen, wenn Frauen und Männer dort gemeinsam ohne besondere Schutzräume untergebracht werden. Im Zuge unseres Modellvorhabens sollen deshalb unter anderem geschützte Wohnformen für obdachlose Frauen eingerichtet und erprobt werden.
Ich frage Sie: Welche Besitzstände sollen denn hier überprüft werden? Glauben Sie denn wirklich, daß diesen Frauen mit Modellprojekten geholfen ist?
Frauen brauchen solche Projekte vielleicht als Anstoß. Aber wir brauchen für alle Frauen Erwerbsarbeit. Wir brauchen eine soziale Absicherung und keine 590-DM-Jobs. Frauen brauchen eine bedarfsabhängige Mindestsicherung, um die verschämte Armut nach einem Leben voll schlechtbezahlter Erwerbsarbeit und/oder Kindererziehung, Familienarbeit und Pflege von Angehörigen endlich zu beenden, damit sie nicht mehr von der Oberfläche unserer Gesellschaft verschwinden müssen.
Alleinerziehende Frauen brauchen ein Betreuungsangebot für Kinder in allen Altersklassen, das Erwerbsarbeit möglich macht und keine dauernden organisatorischen Seiltänze erfordert. Frauen brauchen bezahlbaren Wohnraum und mehr Schutz und Hilfe vor gewalttätigen Partnern. Modellvorhaben sind vielleicht ein Anfang, aber sicher nicht ausreichend. In all diesen Bereichen, Herr Westerwelle, ist die Politik der Bundesregierung höchst unzureichend.
Ulrike Mascher
Ein Letztes schreibe ich Ihnen ins Stammbuch: Das vielfältige Netz sozialer Hilfen von Kirchen, von Wohlfahrtsverbänden, von Städten und Gemeinden und in steigendem Maß auch von Selbsthilfegruppen als „verstaatlichte Solidarität" abzuqualifizieren zeigt zwar demagogische Qualitäten, aber es zeigt weder Herz noch Verstand.
Das Wort hat Herr Bundesminister Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vergiß nie die Armen und die Kranken, die Heimatlosen und die Fremden - mit einem Referat zu diesem Thema hat Bischof Lehmann
die Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz vor wenigen Tagen eröffnet. Ich würde jedem und jeder, die sich zu diesem Thema geäußert haben, empfehlen, am Wochenende diese Rede nachzulesen.Ich möchte einige Passagen, die für unsere Diskussion wesentlich sind, wörtlich wiedergeben. Er spricht davon, daß es in den letzten Jahren bestimmte Entwicklungen gab, die in die Krise geführt haben:Eine Sozialpolitik, welche die wirtschaftlichen Antriebskräfte lähmt, die Flucht in die Schattenwirtschaft fördert und die Selbstverantwortung schwächt, belastet die Sozialkassen und setzt einen verhängnisvollen Zirkel von sinkender Leistungsbereitschaft und steigenden Abgabenbelastungen in Bewegung. Wenn der wirtschaftliche Fortschritt blockiert wird, leiden auch der Wohlstand und die soziale Sicherheit.Er fährt fort:Solidarische Hilfe muß stärker auf jene Fälle begrenzt werden, in denen der einzelne sich nicht mehr alleine helfen kann. Die Abhängigkeit von der staatlichen Entziehung und Zuteilung von Hilfen steht in einem Widerspruch zu dem Menschenbild einer freiheitlichen Ordnung. Die privaten Haushalte und die Selbstverantwortung vieler Bürger können kleinere Lebensrisiken besser bewältigen. Hohe Risiken sollten dagegen vollständig abgesichert werden. Soziale Leistungen müssen so bemessen werden, daß Arbeit höher entlohnt wird als Nichtarbeit.
Er kommt zu dem Fazit:Es ist noch kein Abbau des Sozialstaates, wenn gewisse Ansprüche auf Sozialleistungen nicht mehr erfüllt werden können. Es wird einem asozialen Besitzstandsdenken das Wort geredet.Ich finde, in unserer stimmungsgeleiteten Demokratie sind das mutige Worte, die in dieser schwierigen Diskussion unseren Respekt verdienen.
Unbestritten - das haben alle Redner zum Ausdruck gebracht - gibt es auch in Deutschland Armut. Es gibt Menschen, die sozial benachteiligt sind und am Rande unserer Gesellschaft leben. Wenn aber von Armut gesprochen wird, wird nicht selten übersehen, wie vielschichtig ihre Erscheinungsformen sein können. Weder die Wissenschaft noch die Politik können bislang einen Begriff vorweisen, der in der Lage wäre, diese Vielschichtigkeit zu definieren, die von sozialer Ausgrenzung über den Verlust an Perspektiven in einer leistungs- und wohlstandsorientierten Gesellschaft bis hin zur Obdachlosigkeit reicht.Frau Mascher, uns geht es nicht darum, über eine Definition der Armut von den Problemen abzulenken, von der Notwendigkeit, Hilfe und Zuspruch zu gewähren, sondern wir müssen uns damit auseinandersetzen, daß Ihre Partei ebendieser Vielschichtigkeit der Armut nicht gerecht wird, indem sie sich einfach auf die Definition von Armut, die die Nationale Armutskonferenz verankert hat, zurückzieht. Wir halten diese Definition für völlig unzureichend, denn nach dieser Definition, an der sich auch die SPD orientiert, sind jene Menschen arm, die über weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügen.Wie unzureichend diese Definition ist, zeigt schon eine ganz einfache Überlegung. Selbst wenn alle Bürger in der Bundesrepublik Deutschland auf einen Schlag das doppelte Einkommen hätten, bliebe der Anteil derjenigen, die weniger als 50 Prozent des Durchschnitts verdienten, gleich. Deshalb geht Ihre Definition an der Sache vorbei.
Ich unterstreiche ausdrücklich, daß auch im internationalen Vergleich eine solche Definition zu dem fatalen Ergebnis führt, daß es genau in den Staaten, die ein niedriges allgemeines Wohlstandsniveau und eine sehr bescheidene Streuung von Wohlstand haben, keine Armut gibt.Je höher die Wohlstandsentwicklung und je breiter die Einkommensstreuung ist, desto höher wäre nach dieser Definition auch die Armut. Wer solche vereinfachten Rückschlüsse aus den Statistiken zieht, verkennt die Realität genauso wie jene, die jede Armut in der Bundesrepublik Deutschland einfach leugnen.
Ich habe mich schon öfter von diesem Platz aus entschieden gegen den Versuch gewehrt, den Bezug von Sozialhilfe mit Armut gleichzusetzen. Natürlich erlaubt der Bezug von Sozialhilfe kein üppiges Leben. Aber, meine Damen und Herren, wir erfüllenBundesminister Horst Seehofermit der Sozialhilfe die sozialstaatliche Verpflichtung, materiell in einer Weise zu helfen, daß ein menschenwürdiges Leben möglich ist.Ich darf als Beispiel einen alleinverdienenden Arbeiter in der Industrie nehmen, Leistungsgruppe III, der nach dem Stand von Anfang 1996 ein verfügbares Haushaltseinkommen von 3 843 DM hat. Es handelt sich um ein Ehepaar mit drei Kindern. Der Bedarf an Hilfe zum Lebensunterhalt beträgt für diese Familie nach dem aktuellen Stand 3 284 DM. Ich bestreite nicht, daß diese Familie jede Mark umdrehen muß. Aber wenn im Falle der Arbeitslosigkeit diese Familie anstelle des Erwerbseinkommens von 3 843 DM eine solidarische Hilfe von dieser Gesellschaft in Höhe von 3 284 DM monatlich bekommt, kann man das nicht mit „Armut" oder „Zweidrittelgesellschaft" abqualifizieren.
Ich möchte Ihnen auch etwas zur Zahl der Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt sagen. Es ist richtig, wir haben in der Bundesrepublik Deutschland etwa 2,7 Millionen Menschen, die Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen, davon 1,8 Millionen Deutsche, 470 000 ausländische Sozialhilfeempfänger und 450 000 Personen, die Asylbewerber oder geduldete Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland sind. Fast 1 Million Menschen sind also in die Bundesrepublik Deutschland gekommen und beziehen hier Sozialhilfe.Ich bewerte dies jetzt nicht ausländerrechtlich, sondern ich möchte mich mit einem Argument der Sozialpolitiker der Opposition auseinandersetzen. Wenn in der Hauptsache wegen der Zuwanderung die Zahl derer, die Hilfe zum Lebensunterhalt in der Bundesrepublik Deutschland empfangen, massiv steigt, dann ist dies nicht Ausdruck einer neuen Armut in der Bundesrepublik Deutschland, sondern nach meiner festen Überzeugung Ausdruck der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in der Bundesrepublik.
Und weil dies so ist, bleibt das Wort richtig, das heute schon öfter erwähnt worden ist: Wir dürfen die Sozialhilfebezieher nicht diskriminieren. Wir müssen endlich damit aufhören, jemanden, der Sozialhilfe bezieht, in unserer Gesellschaft auszugrenzen. Diese Sozialhilfe wurde einmal als völlig eigenständiger Zweig unseres sozialen Sicherungssystems gegründet, der dann in Aktion treten und helfen soll, wenn alle anderen Sozialversicherungszweige versagen. Deshalb steht er gleichberechtigt neben unseren anderen Sozialsystemen.Was ich auch erwähnen möchte: 57 Prozent, also mehr als die Hälfte der Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt, sind Kurzzeitbezieher, das heißt, sie beziehen weniger als ein Jahr lang Sozialhilfe. Von diesen 57 Prozent Sozialhilfebeziehern beziehen 40 Prozent nur deshalb Sozialhilfe, weil andere Sozialsysteme, zum Beispiel die Rentenversicherung oder die Bundesanstalt für Arbeit, nicht rechtzeitig leisten. Da wird die Sozialhilfe als Vorschußkasse mißbraucht. Deshalb war es richtig, daß wir im Rahmen der Sozialhilfereform die Verpflichtung der Bundesanstalt für Arbeit eingeführt haben, auf Antrag an die Stelle des Sozialamtes zu treten, damit dem Bürger nicht der Lauf zu zwei Schaltern zugemutet wird, und zwar nur deshalb, damit er von dem einen Schalter vorübergehend Sozialhilfe bekommt, die dann von dem anderen Schalter, wenn dieser mit den Berechnungen fertig ist, ersetzt wird.
Ich möchte an Hand von zwei Beispielen auch etwas zur Leistungskraft des Sozialsystems und damit zur Bekämpfung bzw. Verhinderung von Armut in den neuen Bundesländern sagen. Die Sozialhilferegelsätze in den neuen Bundesländern sind beinahe völlig an das Niveau in den alten Bundesländern angeglichen; sie liegen zur Zeit bei 97 Prozent. Das zeigt die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaats. Und wenn ich an die ältere Generation, die schon genannt worden ist, denke: Am 1. Juli 1996 haben die in den neuen Bundesländern gezahlten Renten gut 82 Prozent des Westniveaus erreicht. Im Jahr der Wiedervereinigung lag dieser Wert gerade einmal bei 40 Prozent. Auch das muß einmal zum Ausdruck gebracht werden, weil sich hinter dieser Verdoppelung des Rentenniveaus seit der Wiedervereinigung eine ungeheure Solidarität innerhalb der Bevölkerung verbirgt.
Letzte Bemerkung. Ich zitiere noch einmal Bischof Lehmann. Er sagt in derselben Rede - auch diesen Satz unterstreiche ich -:Armut ist eine zentrale Herausforderung an jede Sinnstiftung, an jedes der Menschenwürde verpflichtete politische System und an jeden Mitmenschen. Sie fordert zum Einsatz für eine größere soziale Gerechtigkeit heraus.Auch das ist zutreffend. Nur, die einfache Antwort, daß mehr verteilen auch mehr soziale Gerechtigkeit bedeutet, ist falsch. Es ist die große Herausforderung in unserer Zeit, die Finanzmittel gezielter für jene Menschen einzusetzen, die sich selbst helfen wollen, aber nicht selbst helfen können.Ich nenne nur drei oder vier Beispiele, die sich auf die Gesetze beziehen, die der Deutsche Bundestag mit seiner Mehrheit in der vorletzten Woche verabschiedet hat, die aber in der öffentlichen Diskussion leider Gottes nicht so bewertet wurden wie mancher Lärm um manche Reform.Ich halte es in dem Sinne „mehr soziale Gerechtigkeit" für einen Riesenfortschritt, daß bei der letzten Sozialhilfereform, die heftig umkämpft war, die Entlohnung der Behinderten in Behindertenwerkstätten massiv erhöht wurde, weil das bisherige Taschengeld, das sie erhalten haben, eigentlich unwürdig war. Es war eine schwere Diskriminierung, etwa 100 DM, 150 DM oder 200 DM für eine volle Arbeitsleistung zu erhalten. Die Erhöhung hat diese Koalition zustande gebracht.
Metadaten/Kopzeile:
11374 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 126. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1996
Bundesminister Horst SeehoferIch halte es für einen Riesenfortschritt im Hinblick auf mehr soziale Gerechtigkeit, daß es uns in der letzten Sozialhilfereform gelungen ist, den Sozialämtern die Möglichkeit einzuräumen, Mietschulden zu übernehmen - das war mit heftigen Vorbehalten versehen -, um Obdachlosigkeit zu vermeiden; denn gerade das Aufhäufen von Mietschulden ist oft die Ursache für eine Zerstörung des Lebens und für die Obdachlosigkeit.Ich halte es für sehr gut, daß die Koalition in der zur Zeit anlaufenden dritten Stufe der Gesundheitsreform zu der Entscheidung gekommen ist, die Zuzahlungen der chronisch Kranken zu halbieren. Wenn gesagt wird, daß die Zuzahlung für chronisch Kranke generell unzuträglich ist, muß ich Ihnen sagen: Diese Halbierung bedeutet, daß niemand in Deutschland ab 1. Januar 1997 für Arzneimittel, für Heilmittel und für Fahrtkosten mehr als 1 Prozent seines Einkommens für Zuzahlungen leisten muß, wenn er zu dem Kreis der chronisch Kranken gehört.Wir sollten mehr darüber reden, daß trotz all der riesigen Probleme, die wir wirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch haben, dieses Land im Jahre 1996 in der Lage war, die Pflegeversicherung vollständig in Kraft zu setzen. Dies ist im besonderen eine Hilfe für jene, die auf der Schattenseite des Lebens stehen.
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, kann ich den Vorwurf nicht ersparen, daß Sie sich - auch jetzt wieder bei der Gesundheitsreform -auf die ganz einfachen Schlagworte zurückziehen,
die lauten: Zweiklassenmedizin, Bestrafung der Kranken, Zweidrittelgesellschaft und Feldzug gegen die kleinen Leute.Ich möchte Ihnen das Lexikon der 500 populärsten Irrtümer, das im Moment ein Bestseller ist, empfehlen. Dieses Buch behandelt als einen der größten populären Irrtümer exakt die Behauptung, wir hätten in der Bundesrepublik Deutschland Armut als Massenphänomen. Diesen Vorwurf haben Sie heute leider Gottes wieder ein bißchen geschürt.Sie dürfen sich aber darauf verlassen: Die große Mehrheit der Bevölkerung sieht dies anders. Deshalb werden wir die Zustimmung der Bevölkerung für unseren Umbau des Sozialstaates hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit nicht verlieren.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 13/5597. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Armut und Obdachlosigkeit" auf Drucksache 13/5617: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/583 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ursula Schönberger, Simone Probst, Margareta Wolf und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Plutoniumtransporte in Flugzeugen
- Drucksache 13/3670 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktionssicherheit
Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ursula Schönberger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 9. September 1996 hat die Internationale Atomenergie-Organisation einheitliche Standards für Lufttransporte radioaktiven Materials beschlossen. Nach diesen Standards sollen MOX-Brennelemente in Behältern des Typs B geflogen werden dürfen. Das ist der Behältertyp, zu dem auch der Castor gehört. Behälter diesen Typs sind für einen Brand von 800 Grad über eine halbe Stunde und eine Aufprallgeschwindigkeit von 48 Stundenkilometern ausgelegt. Das entspricht einem Fall aus 9 Metern Höhe. Dies ist aber nicht gerade die übliche Flughöhe von Flugzeugen.
Es gibt viele bittere Beweise für die katastrophalen Ausmaße, die ein Flugzeugabsturz annehmen kann. Denken wir doch nur wenige Jahre zurück an das schreckliche Unglück von Schiphol. Damals stürzte ein Flugzeug mit einer Aufprallgeschwindigkeit von 500 km/h - nicht 48, sondern 500 km/h! - in ein Wohngebiet und brannte über Stunden. Und jetzt, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, versuchen Sie doch mal, Ihre Phantasie anzustrengen und sich vorzustellen, was passiert wäre, wäre dieses Flugzeug mit Plutonium beladen gewesen, einem Stoff, bei dem wenige Millionstel Gramm ausreichen, um bei einem Menschen Lungenkrebs auszulösen.
Da nützt es Ihnen auch nichts zu behaupten, daß es bei MOX-Brennelementen nichts ausmachen
Ursula Schönberger
würde, wenn der Behälter versagt; sie seien ja inhärent sicher und würden nicht zerbröseln. Solche Behauptungen ohne jegliche Beweise, ohne jegliche Tests können Sie doch nicht allen Ernstes einfach in den Raum stellen. Berechnungen des amerikanischen Nuclear Control Institutes haben ergeben, daß bei einem Absturz mit nachfolgendem Brand die Brennstofftabletten in kleinste Teile zerlegt werden können und damit eine Freisetzung von Plutonium stattfinden kann.
Stellen Sie sich doch das Szenario mal vor. Irgendwo in Deutschland stürzt eine Frachtmaschine ab. Natürlich eilen die Hilfskräfte bis hin zur Freiwilligen Feuerwehr sofort an den Unglücksort, um zu helfen. Woher sollen die wissen, daß sich an Bord eine derart tödliche Fracht befindet? Oder nehmen wir ein Land, das nur Überfluggebiet ist und gar keine Atomtechnik nutzt. In diesem Land wird es auch keine Gerätschaften und keine Ausbildung für Einsatzhelfer bei Nuklearunfällen geben.
Meine Damen und Herren, es ist kein Wunder, daß die Schlüsselvereinigung der deutschen Luftfahrt, die Internationale Zivile Luftfahrtorganisation, die Internationale Lufttransportassoziation und die Internationale Föderation der Luftfahrt-Pilotenorganisationen die geplanten Standards für nicht ausreichend halten. Ein Komitee der Internationalen Zivilen Luftfahrtorganisation hat darauf hingewiesen, daß die Testkriterien für die Aufprallenergie nur halb so hoch sind wie diejenigen für Flugschreiber.
Seien wir doch mal ehrlich. Bei den einheitlichen Kriterien für Lufttransporte geht es doch gar nicht um die Sicherheit der Menschen. Es gibt zwei Probleme bei Atomtransporten: Erstens die Proteste der Bevölkerung und zweitens die hohen Kosten. Beides soll durch die Lufttransporte reduziert werden. Das Arbeitspapier der Internationalen Atomenergieorganisation nennt den Grund für die reduzierten Sicherheitsansprüche ganz offen: Alle anderen Behälter wären zu teuer.
Das war doch gerade auch der Grund, weshalb die deutsche Delegation zusammen mit Japan als Kunden und Frankreich und Großbritannien als MOX-Produzenten für geringe Standards gekämpft haben - gegen den erbitterten Widerstand der Regierung der USA übrigens, die innerhalb ihres eigenen Landes eine wesentlich strengere Gesetzgebung haben. Mit diesen einheitlichen Standards der Lufttransporte wird es zu einer neuen Qualität internationalen Brennstoffhandels innerhalb Europas und zwischen Europa und Japan kommen.
Auch die belgische Plutoniumindustrie profitiert von dem IAEO-Beschluß. Trotzdem hat vorgestern der belgische Innenminister den Protesten in seinem Land Rechnung getragen und Lufttransporte von deutschem Plutonium nach Großbritannien bis auf weiteres verboten. Erst einmal sollen in seinem Land die Gefahren solcher Transporte untersucht werden. Denn selbst wenn die IAEO diese Standards jetzt beschlossen hat und die Internationale Zivile Luftfahrtorganisation diese Standards in ihre Regelung übernehmen sollte, haben die Staaten immer noch das Recht, Flüge auf ihrem Territorium zu untersagen.
Auch die USA haben bereits angekündigt, von US-amerikanischen Flughäfen werde es keine solchen Flüge geben.
Und wo bleibt da die Bundesregierung? Gerade diese Bundesregierung, die offiziell immer erklärt, ihr gehe es im Atombereich um die Verbesserung von Sicherheitsstandards, hat sich vehement für die niedrigen Standards eingesetzt. Diese Bundesregierung hält bis jetzt daran fest, uns alle dieser tödlichen Gefahr auszusetzen.
Sehr geehrte Damen und Herren, bis jetzt hat es in der Bundesrepublik Deutschland noch keine Lufttransporte von MOX-Brennelementen gegeben. Wenn die Bundesregierung dem Beispiel von Belgien und den USA folgen würde, würde diese tödliche Fracht auch in Zukunft nicht über unseren Köpfen fliegen. Wir werden dafür kämpfen.
Das Wort hat der Kollege Hubert Deittert, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind uns zweifellos darüber einig, daß der Transport von gefährlichen Gütern jeder Art, ob zu Lande, zu Wasser oder in der Luft, mit äußerster Sorgfalt zu behandeln ist.
Die Anforderungen für die sichere Beförderung radioaktiver Stoffe richten sich nach den Empfehlungen der Internationalen Atomenergie-Organisation. Sie werden regelmäßig, im Abstand von zehn Jahren, überarbeitet und dann in internationales und nationales Verkehrsrecht umgesetzt.
Erst vor knapp drei Wochen, am 9. September 1996, wurden auf der Tagung des Board of Governors, des höchsten Gremiums der Internationalen Atomenergie-Organisation, die neuen Richtlinien verabschiedet. Die Revision dieser Empfehlungen war in den vergangenen Jahren intensiv auf Expertenebene vorbereitet worden. Die Bundesregierung hat die Fortentwicklung der Sicherheitsbestimmungen nachdrücklich unterstützt.
Bislang galten für die Behälter, in denen radioaktive Stoffe transportiert werden dürfen, für alle Verkehrsträger im wesentlichen die gleichen Sicherheitsanforderungen. Die jetzt verabschiedeten Empfehlungen enthalten speziell für den Lufttransport eine Neuerung: Für große Mengen radioaktiver Stoffe in leicht dispergierbarer Form wurde eine neue Typklasse von Transportbehältern eingeführt, die sogenannten Typ-C-Behälter. Sie müssen eine besonders hohe Bruchfestigkeit und Hitzebeständigkeit aufweisen.
Es wurden deshalb besonders harte Testbedingungen für diesen Behältertyp festgelegt. Dazu gehören unter anderem ein Aufprall mit 90 Metern pro Sekunde - dies entspricht einer Geschwindigkeit von 324 Stundenkilometern - auf ein unnachgiebiges
Hubert Deittert
Fundament und eine Feuereinwirkung bei 800 Grad Celsius über einen Zeitraum von einer Stunde.
Nur Transportbehälter, die diesen Tests standhalten und als Typ-C-Behälter eingestuft werden, dürfen künftig hochradioaktive Stoffe in beliebiger Form, auch als leicht dispergierbares Pulver, wie beispielsweise Plutoniumdioxid, enthalten.
Die von der Internationalen Atomenergie-Organisation aufgestellten Testbedingungen sind nahezu identisch mit den in den USA geltenden Bestimmungen. Eine Abweichung besteht lediglich bei der im Test angewandten Aufprallgeschwindigkeit. Nach umfangreichen und detaillierten Untersuchungen haben die Experten der Internationalen Atomenergie-Organisation eine Aufprallgeschwindigkeit von 90 Metern pro Sekunde als Standard für das Testverfahren festgelegt. Dazu ist festzuhalten, daß dieser Wert 95 Prozent aller ausgewerteten Flugzeugabstürze abdeckt. Die dabei festgestellten Schäden entsprechen denen bei einem Aufprall mit höchstens 90 Metern pro Sekunde auf ein unnachgiebiges Fundament.
Im übrigen gelten die US-Sicherheitsnormen ausschließlich für Plutonium, die Empfehlungen der Internationalen Atomenergie-Organisation jedoch für alle hochradioaktiven Stoffe einschließlich Plutonium. Der Vorwurf, es würden im Vergleich zu den USA Abstriche beim Sicherheitsstandard gemacht, trifft somit keinesfalls zu.
Logischerweise richten sich die Sicherheitsanforderungen an die Transportbehälter nach den spezifischen physikalischen Eigenschaften des zu transportierenden Materials. Im Klartext heißt das: Nach den neuen Vorschriften ist sowohl beim Lufttransport von MOX-Brennelementen und ähnlichem Material in Typ-B-Behältern als auch beim Transport von radioaktivem Material in beliebiger physikalischer Form in den neuen sogenannten Typ-C-Behältern ein gleichwertiger Sicherheitsstandard gewährleistet.
Es ist also keinesfalls so, daß beim Lufttransport für unbestrahlte MOX-Brennelemente geringerwertige Sicherheitsvorkehrungen festgesetzt werden. Die Sicherheitsstandards für die Lufttransporte von plutoniumhaltigém Material sind so ausgelegt, daß nach einhelliger Einschätzung der internationalen Fachwelt sicherheitstechnisch gegen solche Transporte keine Bedenken bestehen. Bei Einhaltung dieser Sicherheitsanforderungen ist die Beförderung radioaktiver Stoffe einschließlich Plutonium in Flugzeugen sicher.
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen unsere Verantwortung für die Sicherheit der Menschen ernst, aber wir wollen auch keine Ängste schüren, wo kein Anlaß dazu besteht. Tatsache ist, daß sich bis heute im Luftverkehr in der Bundesrepublik Deutschland kein Transportunfall mit radioaktivem Material ereignet hat.
Wir alle wissen: Es gibt keine absolute Sicherheit. Unser Ziel ist höchstmögliche Sicherheit, und davon machen wir keine Abstriche. Das kann jedoch nicht heißen, übereilt und ohne realistische Einschätzung des tatsächlichen Risikopotentials Verbote zu fordern. So einfach können wir uns die Sache nicht machen. Es gilt, Risikofaktoren genau zu analysieren, Gefahrenpotentiale realistisch einzuschätzen und dafür Sorge zu tragen, daß ein optimaler Sicherheitsstandard gewährleistet ist.
Das Sicherheitskonzept für den Lufttransport radioaktiver Stoffe wird diesen Anforderungen voll gerecht. Auch wenn es zu einem Unfall kommen sollte - den niemand hundertprozentig ausschließen kann -, können wir nach menschlichem Ermessen sicher davon ausgehen, daß die Transportvorkehrungen standhalten und sich eine Schädigung von Mensch und Umwelt durch radioaktives Material nicht ereignen wird.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Behrendt, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung geriert sich ja gern als in allen Fragen nuklearer Sicherheit besonders vorbildlich. Auch der Kollege von der CDU/CSU-Fraktion hat nun wieder versucht, uns davon zu überzeugen. Die Fakten sprechen aber eine andere Sprache.
Wenn man sieht, wie die Bundesregierung in Wien taktiert hat, dann muß man hier einfach konstatieren: Die Bundesrepublik hat sich, als es um die Festlegung der Sicherheitsstandards für Plutoniumflüge ging, als Bremser gezeigt. Sie hat nämlich dazu beigetragen, wie hier schon ausgeführt, daß in den neuesten Richtlinien für die C-Container eine Aufprallgeschwindigkeit von lediglich 320 Stundenkilometern festgelegt wurde.
Nun können Sie sagen - Sie haben das ja auch so ausgeführt -, daß das doch immerhin ein beachtlicher Fortschritt gegenüber der bisherigen Regelung sei, nach der der Typ B-Container nur für eine Aufprallgeschwindigkeit von etwa 48 Stundenkilometern ausgelegt war. Nur, meine Damen und Herren, hier geht es nicht um den Transport von Milchpulver, sondern unter anderem um den Transport von Plutonium, einem der giftigsten Stoffe, den wir überhaupt kennen. Jeder Transport des hochtoxischen Plutoniums birgt eine potentielle Gefahr, ein potentielles Risiko für Mensch und Umwelt. Deshalb müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Anforderungen so zu gestalten, daß wir hier wirklich den höchstmöglichen Sicherheitsstandard erreichen.
Unter diesen Kriterien war das Ergebnis von Wien unbefriedigend und enttäuschend. Es trägt den Sicherheitsinteressen der Bevölkerung nicht optimal Rechnung.
Es ist auch nicht richtig, wenn Sie sagen, hier seien keine Abstriche von den US-Standards gemacht worden. Die amerikanische Delegation - so habe ich jedenfalls erfahren - hat diese neue Regelung abgelehnt und für die schärferen US-Standards plädiert, die bei den Containern eine Aufprallgeschwindigkeit von 464 Stundenkilometern vorsehen.
Wolfgang Behrendt
Daß selbst diese Werte nicht völlig risikolos wären, bewies der Absturz des israelischen Fracht-Jumbos, der im Oktober 1992 nahe Amsterdam abstürzte. Seinerzeit bohrte sich die Maschine mit 520 Stundenkilometern in zwei Wohnblöcke, und das Flammenmeer erreichte Temperaturen von über 1000 Grad Celsius, also 200 Grad mehr, als jetzt bei dem Transportcontainer vom Typ C vorgesehen ist. Wenn man das zugrunde legt, scheint hier optimale Sicherheit nicht gewährleistet.
Hinzu kommt, daß wir Veranlassung zu der Annahme haben, daß es wirklich sichere Container, die die gültigen Sicherheitsnormen erfüllen, überhaupt noch nicht gibt. Die Amerikaner haben ja entsprechende Crashtests durchgeführt und dabei festgestellt, daß ihre Container den eigenen Sicherheitsanforderungen nicht genügten. Das heißt also, daß man Plutoniumflüge im Prinzip überhaupt nicht zulassen dürfte.
Folgerichtig hat übrigens auch der Präsident des schon von der Kollegin Schönberger erwähnten Nuclear Control Institutes in Washington, Paul Leventhal, die Entscheidung von Wien als „arglistige Täuschung" qualifiziert und kritisiert, daß die Behälter, in denen das Plutonium transportiert werden soll, keine angemessenen Sicherheitstests aushalten und auch einen Absturz nicht unbeschädigt überstehen würden. Er sagte - dem kann man sich nur anschließen -: Ganz offensichtlich haben ökonomische Interessen der Atomwirtschaft Vorrang vor dem Schutz der Menschen gehabt.
Am Rande möchte ich unterstreichen - auch das wurde schon erwähnt -, daß selbst die Flugschreiber, also die sogenannten Black boxes, besser geschützt sind als die Behälter, die hochgiftiges Plutonium transportieren sollen. Daß das für Deutschland Relevanz hat, denke ich, geht daraus hervor, daß nach den Statistiken der EU die meisten Lufttransporte von Nuklearmaterial in Deutschland durchgeführt worden sind. Das sollen in den Jahren 1993/94 jeweils über 40 Transporte gewesen sein.
Besonders fragwürdig ist die Ausnahmeregelung - das hat schon die Kollegin Schönberger sehr ausführlich dargestellt -, die vorsieht, daß MOX-Brennelemente weiterhin in Behältern des Typs B transportiert werden dürfen, also in Behältern, die eine Aufprallgeschwindigkeit von nur 48 Stundenkilometern aushalten sollen.
Wenn man sich vorstellt, welche Aufregung der Transport entsprechender Brennelemente per Schiff durch die Japaner in der Öffentlichkeit zu Recht verursacht hat, dann kann man sich auch leicht vorstellen, was es bedeutet, wenn die Japaner, die ihr Plutonium in Frankreich und England aufbereiten lassen, per Luft die Brennelemente in Typ-B-Containern über Europa und Rußland hinweg nach Fernost transportieren würden. Wenn man die Bestimmungen zugrunde legt, könnte das schnell Routine werden, eine Routine, denke ich, die man verhindern sollte.
Angesichts all dieser Tatsachen kann die Forderung nur lauten: Der Transport radioaktiver Stoffe und insbesondere von Plutonium in Flugzeugen muß so lange ausgesetzt werden, bis wirklich alle denkbaren Risiken ausgeschlossen werden können. Ich denke, es ist wichtig, daß diese Flüge so lange ausgesetzt bleiben, bis ein wirklich sicheres Transportbehältnis entwickelt worden ist und bis die Standards der Internationalen Atomenergie-Organisation wirklich höchsten Sicherheitsanforderungen gerecht werden. Aus diesem Grunde werden wir dem Antrag der Grünen zustimmen.
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Rainer Ortleb, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherheitsfragen als Vehikel für generelle Blockaden von Kerntechnik - das ist ein Gegenstand, den wir bereits unter verschiedenster Themensetzung behandelt haben.
Technisch-wissenschaftliche Debatten im Bundestag mit Gesetzesfolgen animieren und veranlassen einen dazu, diese Gelegenheit zu nutzen. Durch unsere ständigen persönlichen Kontakte im Umweltausschuß wissen wir doch, daß die Debatte wohl kaum geeignet sein wird, daß ich Sie von meinem Standpunkt und umgekehrt Sie mich von Ihrem Standpunkt überzeugen werden.
Deshalb möchte ich sechs relativ allgemeine Dinge versuchen zu formulieren, die Ihnen zeigen sollen, daß ich mich durchaus bemühe, an diese Probleme mit höchstem Verantwortungsbewußtsein heranzugehen.
Erstens. Ich weiß nicht, ob Sie die vorige Debatte verfolgt haben. Da ging es um einen Streit: Faust, Schiller, Goethe usw. Das hat mich natürlich dazu veranlaßt, den ersten Punkt etwas theatralisch auszudrücken.
- Da Sie nicht die Absicht haben, mich ausreden zu lassen, verpassen Sie den Genuß der feingeschliffenen Formulierung, die ich bringen wollte und die mir nun glatt entfallen ist.
Theatralisch ausgedrückt: Manipulation mit dem, was die Welt zusammenhält, dem Atom, seinen Zuständen, seinen Teilchen, seinen Potentialen, seinen Energien und anderen Äquivalenten, ist durchaus nicht ungefährlich, aber im Sinne von Fortschritt dennoch nicht allzu vermessen.
Zweitens. Wissen um die Gefahr erlaubt, Vorkehrungen gegen sie zu treffen.
Drittens. Es gibt zwei Arten von Gefahr: a) solche, die nicht oder zumindest derzeit nicht beherrschbar sind - ein Beispiel: der Aufprall eines Kometen auf der Erde könnte derzeit durch nichts verhindert werden -, b) solche, die mit angemessen hoher Sicherheit beherrschbar sind. Beispiel: Sie gehen täglich in
Dr. Rainer Ortleb
diesen Plenarsaal und glauben fest daran, daß er nicht einstürzt, obwohl das Risiko nicht null ist.
Viertens. Es ist in der Verantwortung von beauftragten Fachleuten, zu unterscheiden, ob die Gefahr zu beherrschen - Fall B - oder nicht zu beherrschen ist - Fall A.
Fünftens. Ist die Gefahr beherrschbar, muß geklärt werden, wie. Das haben Vorredner in der Diskussion durchaus mit den Zahlen und Fakten des konkreten Problems untermauert. Ich bin ja gar nicht dagegen.
Sechstens. Ich bin der Auffassung - das ist möglicherweise ein Streitpunkt -, daß man glaubhafte Darlegungen von Fachleuten auch als Politiker zu akzeptieren lernen muß.
Einige Nachträge zum Speziellen. Der Transport in einem B-Behälter soll ja nur dann stattfinden, wenn das Material eine gewisse Konsistenz aufweist, es eben nicht in Pulverform vorliegt.
Überdies: Der Unterschied zwischen 90 Meter pro Sekunde und 29 Meter pro Sekunde, der ja ebenfalls im Laufe der Debatte eine Rolle spielte, ist eigentlich, wenn man den freien Fall, Herr Catenhusen, voraussetzt, nur der Unterschied zwischen 800 und 1600 Metern. Man sieht also, daß diejenigen, die die strengeren Maßstäbe entworfen haben, durchaus davon ausgegangen sind, daß das nicht ein freier Fall ist. Das alles muß man einmal objektiv und richtig sehen.
Oder ein anderes Kriterium: 200 Meter Wassertiefe. Die Black boxes werden unter Umständen aus einer Tiefe von 10 000 Metern aus dem Ozean geborgen werden müssen. Wenn wirklich das unangenehm Schreckliche passieren würde, daß nämlich ein Behälter den Druck, der in einer größeren Tiefe als 200 Meter herrscht, nicht aushält, dann - darauf können Sie sich verlassen - ist das Weltmeer tief genug, daß uns die Folgen, die dann kommen könnten, nicht so schnell erreichen.
Das heißt also: Beschaffenheit und Konsistenz - all das muß im Zusammenhang gesehen werden.
Ich glaube deswegen insgesamt - ich möchte mich hier nicht in Details verlieren -, daß die Bundesregierung durchaus ihrer Verantwortung nachgekommen ist, einen angemessenen, den heutigen Möglichkeiten entsprechenden Sicherheitsstandard zu verwirklichen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Rolf Köhne, PDS.
Herr Präsident! Ich hoffe, daß ich heute mit meiner Kleidung den Ansprüchen Genüge tue.
Ich sehe den Fortschritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Ortleb! Es ist immer schön, wenn
Sie die atompolitischen Debatten auf den Punkt bringen, und zwar aus Ihrer Sicht. Es geht nämlich immer um die Frage, wie ein Risiko bewertet wird. Sicherlich ist das Risiko, daß dieses Gebäude einstürzt - sage ich einmal -, nicht null. Aber die Folgen sind natürlich relativ gering.
Momentan würden dabei möglicherweise ungefähr 12 Abgeordnete sterben.
Das wäre nicht sonderlich dramatisch.
Im Einzelfall, Herr Kollege, schon.
Ja, gut; ich wäre ja auch selber davon betroffen.
Aber die Folgen bei einem kerntechnischen Unfall sind weitaus größer. Das können wir ja immer noch am Fall von Tschernobyl nachvollziehen. Man muß sich einfach einmal vor Augen halten, daß da ganze Landstriche verseucht sind. Deswegen kann man diese Fragen auch nicht miteinander vergleichen.
Deshalb ist unsere Auffassung, daß Plutonium-transporte in Flugzeugen unter Verwendung von Behältern, die einen Absturz nicht unbeschadet überstehen können, nicht stattfinden dürfen.
Kollege Deittert - er ist bereits gegangen - hat gesagt, daß die USA zwar schärfere Vorschriften haben, daß aber die Vorschriften der IAEO nicht nur für Plutonium gelten und deshalb besser sind. Auch das kann man wiederum nicht vergleichen, weil Plutonium der giftigste und gefährlichste Stoff ist, den wir kennen. Deswegen ist es notwendig, gerade in bezug auf diesen Stoff hohe Anforderungen zu stellen.
Das sind letztendlich die Gründe, die dafür sprechen, daß wir das Anliegen der Grünen unterstützen und diesem Antrag zustimmen werden. Denn wir wollen nicht hinnehmen, daß die ökonomischen Interessen der Atomindustrie Vorrang vor unseren Sicherheitsinteressen haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/3670 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. Oktober 1996, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.