Rede von
Dr.
Guido
Westerwelle
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(F.D.P.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Deswegen freue ich mich immer über Fragen.
Vierte Bemerkung: Jeder Mensch hat das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Freiheit braucht eine materielle Grundlage. Wir wissen, daß auch bei wachsendem Bürgersinn und wachsender Verantwortung für den Nächsten eine staatliche Absicherung des Existenzminimums stets notwendig bleiben wird.
Wenn wir aber weiter an alle ein wenig vom sozialen Kuchen verteilen, dann wird für die wirklich Bedürftigen zuwenig übrigbleiben. Nicht derjenige gefährdet den Sozialstaat, der ihn reformieren will, sondern derjenige, der ihn weiter überfordert.
Wenn der Sozialstaat, der Bedürftigen helfen soll, zum Wohlfahrtsstaat mutiert, der allen etwas gibt, dann wird soziale Gerechtigkeit zu Grabe getragen. Die Überforderung des Sozialstaates geht zwangsläufig zuerst auf Kosten der Schwachen.
Nächstenliebe und Solidarität dürfen nicht zu einer staatlichen Dienstleistung werden. Wenn die Schere immer weiter auseinander klafft - immer mehr Freiheiten und Rechte beim Bürger, aber immer mehr Pflichten und Verantwortung beim Staat -, muß das zur Unfinanzierbarkeit unseres Gemeinwesens führen. Wir Liberale wollen mehr Freiheit für mehr Menschen und wissen, daß wir damit mehr Verantwortungsbereitschaft verlangen. Wir wollen Freiheit zur Verantwortung anstatt Freiheit von Verantwortung.
Freiheit ist nicht Egoismus, sondern das Vertrauen auf den Willen und die Fähigkeit des Menschen, zunächst in eigener Verantwortung zu entscheiden, zu handeln und zu helfen.
Die Trennung von Freiheit und Verantwortung macht aus Staatsbürgern Staatskunden. Die Verstaatlichung der Verantwortung kostet immer mehr persönliche Freiheit und menschliche Zuwendung. Die Absicht, persönliche Verantwortung durch staatliche Agenturen für alle Lebensrisiken zu ersetzen, führt zur Überforderung des Staates, verhindert wirkungsvolle Eigenvorsorge, macht ihn unfinanzierbar und riskiert ihn damit auf Kosten der Schwächsten.
Wir setzen der Verstaatlichung der Solidarität die Bürgergesellschaft entgegen, die die Übernahme von Verantwortung durch den einzelnen fordert und fördert. Verantwortung ist in einer liberalen Bürgergesellschaft nicht nur Eigenverantwortung, sondern ebenso die Bereitschaft, Mitverantwortung für an-
Dr. Guido Westerwelle
dere zu übernehmen, und zwar durch den einzelnen Bürger oder durch die Selbstorganisation von Bürgern. Das Prinzip „Freiheit durch Verantwortung" ist klassische Solidarität.
Wer den Sozialstaat für die Schwachen und Schwächsten erhalten will, muß seine ursprüngliche Zielrichtung im Auge behalten und die tragenden Säulen schützen. Verantwortungsgemeinschaften, Selbstorganisationen von Bürgern in Vereinen, Genossenschaften, Stiftungen, Bürgerinitiativen oder anderen Ehrenämtern müssen bei der Wahrnehmung gemeinnütziger Aufgaben künftig den Vorrang vor dem Staat haben. Erst da, wo die Bürger oder der freiwillige Zusammenschluß von Bürgern soziale Gerechtigkeit nicht gewährleisten kann, beginnt die Aufgabe des Staates.
Die Bürger werden aber nur bereit sein, Verantwortung für sich selbst und ihre Nächsten stärker zu übernehmen, wenn der Staat ihnen die finanziellen Freiheiten dazu läßt. Man kann Solidarität auch wegbesteuern.
Wenn einem von jeder verdienten Mark nicht einmal mehr die Hälfte übrigbleibt, entsolidarisiert sich die Gesellschaft und wird Nächstenliebe zur staatlichen Dienstleistung, weil sich das Bewußtsein durchsetzt: „Warum soll ich selbst noch etwas tun, ich habe doch dafür bezahlt?" Deswegen hat die Sozialdemokratisierung der Politik nicht nur zu einer Überforderung des Staates, sondern gerade auch zu der Entsolidarisierung in der Gesellschaft geführt, die sie beklagt, meine Damen und Herren.
Wir stimmen völlig überein: Die Sozialhilfe kann nicht mit Armut gleichgesetzt werden. Sozialhilfe ist übrigens auch nicht in dem absoluten Sinne des Wortes bekämpfte Armut, sondern es ist der Kampf gegen Armut. Das ist ein großer Unterschied.
Wir sollten den Bericht der Bundesregierung „Armut in der Bundesrepublik Deutschland", die man nicht leugnen kann und die auch niemand leugnen sollte, zum Anlaß nehmen, um uns perspektivisch mit der Zukunft des Sozialstaates auseinanderzusetzen. Wer nämlich krank ist, wer schwach ist, wer gebrechlich ist, wer arm ist in unserer Gesellschaft, der hat nicht nur unser Herz verdient, sondern vor allen Dingen auch unseren Verstand.
Vielen Dank.