Rede von
Ulf
Fink
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Abgeordneter Gilges, gerade diese Zahlen zeigen ja die riesenhaften Unterschiede in der Entwicklung zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland. In der Bundesrepublik Deutschland ist noch ein Maß an Ausgeglichenheit und sozialer Ausgewogenheit vorhanden, wie es in anderen Ländern überhaupt nicht mehr der Fall ist.
Das können Sie anhand einer weiteren Zahl sehen. Edward Wolfe, ein New Yorker Ökomom, hat einmal berechnet, wie die Vermögensentwicklung in den Vereinigten Staaten in den 80er Jahren gelaufen ist. Er stellt fest, daß das obere Fünftel der Gesellschaft am Vermögenszuwachs zu 98,8 Prozent profitiert hat, den Rest mußten sich die anderen teilen.
Konsequenterweise ist dann in den Vereinigten Staaten von Amerika mit den Stimmen der Republikaner und der Demokraten ein Gesetz verabschiedet worden, das den amerikanischen Armen nach zwei, höchstens fünf Jahren jeglichen Anspruch auf staatliche Unterstützung nimmt. Sehen Sie, diesen Weg können und wollen wir nicht gehen. Wir vertreten die Ansicht, daß jeder Mensch unabhängig von seiner Leistung und seinen Fehlern ein Recht auf die Führung eines menschenwürdigen Lebens hat.
Deshalb müssen wir uns daran erinnern, was der Grund für unsere Erfolge in den letzten Jahrzehnten gewesen ist. Es war - ich glaube, das ist unbestreitbar - die höchst geglückte Verbindung von Wirtschaftlichem und Sozialem. Wie groß diese Erfolge sind, wird deutlich, wenn man die Wertschöpfung pro Beschäftigten betrachtet. In Westdeutschland lag die Wertschöpfung pro Beschäftigten im Jahr 1995 bei 75 000 US-Dollar, die der Vereinigten Staaten bei 57 000 Dollar, also deutlich niedriger als bei uns. In Großbritannien lag sie meilenweit darunter: bei 43 000 Dollar pro Beschäftigten. Nach Jahren Thatcherscher Reformen ist der Abstand zwischen Westdeutschland und Großbritannien der höchste, den es je gegeben hat.
Deshalb kann man nur davor warnen, etwa abgeschlossene Tarifverträge leichtfertig aufs Spiel zu
Ulf Fink
setzen, zumal sich doch jeder vorstellen kann, was es für die Armutsproblematik bedeuten würde, wenn Tarifverträge durch Einzelvereinbarungen ersetzt würden.
Das gilt auch für die Diskussion um die Renten. Wer das Rentensystem kippen will, der muß sich bewußt sein, was er tut. Denn dieses System hat wie kaum ein anderes soziales Sicherungssystem in der Welt Altersarmut bekämpft. Der Anteil der über 60jährigen bei den Sozialhilfeempfängern hat sich von ehedem von über 30 Prozent auf jetzt 9 Prozent verringert.
Das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland muß umgebaut werden, das ist richtig. Aber zur ganzen Wahrheit gehört, daß es einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, daß die Bundesrepublik Deutschland, international gesehen, an der Spitze unter den Wirtschaftsländern der ganzen Welt steht.
Manch einer von Ihnen mag sich durch meine Analyse vielleicht bestätigt und ermuntert fühlen. Aber man darf es bei dieser Analyse nicht bewenden lassen. Es ist der Staat, der die Rahmendaten für die Wirtschaft setzt und für den sozialen Ausgleich sorgt. Wir stellen aber fest, daß diese nationalen Antworten zunehmend an Grenzen stoßen. Was nutzen nationale Schutzrechte, wenn Firmen ihre Produktion ins Ausland verlagern? Was nutzen nationale Maßnahmen zur Umverteilung der Arbeit, wenn die Arbeit selbst ausgelagert wird? Oder was nutzen nationale Steuergesetzgebungen, wenn die Kapitalanleger Deutschland meiden? Ich glaube, man kann auf soziale Verwerfungen und Armut heute nur mit supranationalen Regelungsmechanismen reagieren, das heißt, im Nahbereich mit einem starken Europa.
Im 19. Jahrhundert hat die christliche Soziallehre lange gebraucht, bis sie erkannt hat, daß auf die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts nicht mit karitativen Mitteln, sondern nur strukturell geantwortet werden konnte. Das war die Geburtsstunde der Sozialdemokratie. Heute, im ausgehenden 20. Jahrhundert, haben die Sozialdemokraten große Mühe, zu erkennen, daß es nichts nutzt, globale Probleme national lösen zu wollen. Die sozialen Probleme des 19. und 20. Jahrhunderts haben wir mit Hilfe eines ordnungspolitisch starken Staates beantwortet.
Die Frage ist: Wird uns das auch mit den sozialen Problemen des 20. und des 21. Jahrhunderts gelingen, vielleicht mit Hilfe eines starken Europas? Das steht im Mittelpunkt unserer Debatte. Ich würde mich freuen, wenn wir ernsthaft über solche Fragen debattierten.