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ID1312608700

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    Plenarprotokoll 13/126 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 126. Sitzung Bonn, Freitag, den 27. September 1996 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 11327 A Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (Drucksachen 13/4587, 13/4718, 13/ 5606, 13/5607) 11327B, 11331 A Manfred Grund CDU/CSU 11327 D Ulrike Mascher SPD . . 11328D, 11331B, 11336 C Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11331 C, 11337 A Manfred Grund CDU/CSU 11332 B Hans-Dirk Bierling CDU/CSU . . . 11332 C Uwe Lühr F.D.P 11333 A Petra Bläss PDS 11334 A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 11335 B Dr. Barbara Höll PDS (Erklärung nach § 31 GO) 11338 A Dr. Dagmar Enkelmann PDS (Erklärung nach § 31 G0) 11338 D Dr. Uwe-Jens Heuer PDS (Erklärung nach § 31 G0) 11339 A Heidemarie Lüth PDS (Erklärung nach § 31 GO) 11339 D Tagesordnungspunkt 16: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Europäische Betriebsräte (Europäische Betriebsräte) (Drucksachen 13/5021, 13/5608) . . 11341 C Peter Keller CDU/CSU 11341 D Leyla Onur SPD 11342 C Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11345 A Dr. Gisela Babel F.D.P 11346 A Hanns-Peter Hartmann PDS 11346 D Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 11347 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Sechsten Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze (Drucksachen 13/3993, 13/ 4069, 13/5098, 13/5325, 13/5642) . . . 11348 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren (Drucksachen 13/3996, 13/5100, 13/5326, 13/5643) . 11348 B Dr. Heribert Blens CDU/CSU 11348 B Otto Schily SPD 11348 D Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11349 B Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 11350 A Eva Bulling-Schröter PDS 11351 A Tagesordnungspunkt 17: Große Anfrage der Abgeordneten Konrad Gilges, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Armut in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen 13/1527, 13/3339) . 11352 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Gruppe der PDS: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Armut und Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland" (Druck sachen 13/583, 13/5617) 11352 B Wolfgang Spanier SPD 11352 B Peter Hintze CDU/CSU . . . . 11354 D, 11358 A Heidemarie Lüth PDS 11357 D Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11358 C Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . 11360 C, 11370 B Wolf-Michael Catenhusen SPD . . . 11360 D Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11362 A Petra Bläss PDS 11363 B Wolfgang Zöller CDU/CSU 11365 A Claudia Nolte, Bundesministerin BMFSFJ 11365 D Iris Follak SPD 11367 B Ulf Fink CDU/CSU 11368 C Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . . . 11368 D Konrad Gilges SPD 11369 B Ulrike Mascher SPD 11370 C Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 11372 A Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ursula Schönberger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Plutoniumtransporte in Flugzeugen (Drucksache 13/3670) . . . 11374 C Ursula Schönberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11374 D Hubert Deittert CDU/CSU 11375 C Wolfgang Behrendt SPD 11376 C Dr. Rainer Ortleb F.D.P. 11377 C Rolf Köhne PDS 11378 B Nächste Sitzung 11378 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 11379* A Anlage 2 Amtliche Mitteilung 11379* D 126. Sitzung Bonn, Freitag, den 27. September 1996 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete (r) entschuldigt bis einschließlich Andres, Gerd SPD 27. 9. 96 Antretter, Robert SPD 27. 9. 96 * Augustin, Anneliese CDU/CSU 27. 9. 96 Beck (Bremen), BÜNDNIS 27. 9. 96 Marieluise 90/DIE GRÜNEN Beer, Angelika BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Behrendt, Wolfgang SPD 27. 9. 96 * Berninger, Matthias BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Bindig, Rudolf SPD 27. 9. 96 * Dr. Blank, Joseph-Theodor CDU/CSU 27. 9. 96 Blunck, Lilo SPD 27. 9. 96 Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 27. 9. 96 Borchert, Jochen CDU/CSU 27. 9. 96 Bredehorn, Günther F.D.P. 27. 9. 96 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 27. 9. 96 * Carstens (Emstek), Manfred CDU/CSU 27. 9. 96 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 27. 9. 96 Herta 1 Dr. Feldmann, Olaf F.D.P. 27. 9. 96 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 27. 9. 96 * Geiger, Michaela CDU/CSU 27. 9. 96 Glos, Michael CDU/CSU 27. 9. 96 Haack (Extertal), SPD 27. 9. 96 * Karl Hermann Hirche, Walter F.D.P. 27. 9. 96 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Horn, Erwin SPD 27. 9. 96 * Hornung, Siegfried CDU/CSU 27. 9. 96 * Imhof, Barbara SPD 27. 9. 96 Dr. Jacob, Willibald PDS 27. 9. 96 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 27. 9. 96 * Dr. Kinkel, Klaus F.D.P. 27. 9. 96 Kossendey, Thomas CDU/CSU 27. 9. 96 Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 27. 9. 96 Lemke, Steffi BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Lenzer, Christian CDU/CSU 27. 9. 96 * Löwisch, Sigrun CDU/CSU 27. 9. 96 Michels, Meinolf CDU/CSU 27. 9. 96 * Neumann (Berlin), Kurt SPD 27. 9. 96 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 27. 9. 96 Purps, Rudolf SPD 27. 9. 96 Dr. Rappe (Hildesheim) SPD 27. 9. 96 Hermann Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Regenspurger, Otto CDU/CSU 27. 9. 96 Reuter, Bernd SPD 27. 9. 96 Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Schlee, Dietmar CDU/CSU 27. 9. 96 Schloten, Dieter SPD 27. 9. 96 * Schmidt (Aachen), Ulla SPD 27. 9. 96 Dr. Schmidt-Jortzig, F.D.P. 27. 9. 96 Edzard von Schmude, Michael CDU/CSU 27. 9. 96 Schütz (Oldenburg), SPD 27. 9. 96 Dietmar Terborg, Margitta SPD 27. 9. 96 * Thieser, Dietmar SPD 27. 9. 96 Titze-Stecher, Uta SPD 27. 9. 96 Tröger, Gottfried CDU/CSU 27. 9. 96 Türk, Jürgen F.D.P. 27. 9. 96 Vosen, Josef SPD 27. 9. 96 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 27. 9. 96 Gert Würzbach, Peter Kurt CDU/CSU 27. 9. 96 Zierer, Benno CDU/CSU 27. 9. 96 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Amtliche Mitteilung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Finanzausschuß Drucksache 13/5295 Nr. 1.12 Drucksache 13/5295 Nr. 1.14 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 13/4137 Nr. 2.61 Drucksache 13/4137 Nr. 2.87 Drucksache 13/4137 Nr. 2.90 Drucksache 13/4137 Nr. 2.92 Drucksache 13/4466 Nr. 2.18 Drucksache 13/4466 Nr. 2.20 Drucksache 13/4466 Nr. 2.22 Drucksache 13/4466 Nr. 2.54 Drucksache 13/4466 Nr. 2.61 Drucksache 13/4514 Nr. 2.19 Drucksache 13/4514 Nr. 2.42 Drucksache 13/4514 Nr. 2.46 Drucksache 13/4678 Nr. 2.11 Drucksache 13/4678 Nr. 2.17 Drucksache 13/4678 Nr. 2.19 Drucksache 13/4678 Nr. 2.25 Drucksache 13/4678 Nr. 2.28 Drucksache 13/5056 Nr. 2.2 Drucksache 13/5056 Nr. 2.7 Drucksache 13/5295 Nr. 1.1 Drucksache 13/5295 Nr. 1.2 Drucksache 13/5295 Nr. 1.4 Drucksache 13/5295 Nr. 1.5 Drucksache 13/5295 Nr. 1.10
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    Rede von Andrea Fischer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Damit war ja zu rechnen, daß wir uns jetzt über Armutsdefinitionen streiten. Zweifelsohne ist es mit das Schwierigste an der Armutspolitik, sich über die Armutsdefinition zu verständigen.
    Herr Kollege Hintze, was Sie da über relative Armutsgrenzen sagen: Sie wollen doch wohl nicht im Ernst als Alternative eine absolute Armutsgrenze einführen! Das ist doch wohl jenseits aller Debatten.
    Es ist doch vollkommen klar, wie auch immer Sie es definieren: Wir setzen jede Armutsgrenze relativ zu anderen Größen - von Einkommen, von Wohlstand - fest. Darum kommen wir nicht herum. Da haben wir es immer mit einem Spannungsfeld zu tun. Wir müssen sagen: Es gibt Prinzipien der Bedarfsdekkung.
    Gleichzeitig ist es immer auch politisch gesetzt. Da gehen die Gerechtigkeitsvorstellungen derjenigen ein, die dafür zu zahlen haben. Da gehen die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft darüber ein, was denn dieser Bedarf sein kann, wo er aufhört, wo es zuviel ist.
    Das ist eine hochkomplizierte Debatte, und was mich empört an der Art und Weise, wie Sie darüber gerade gesprochen haben, ist, daß dies zur Rechtfertigung Ihrer Politik instrumentalisiert wird. Die Antwort, die Sie auf die Große Anfrage gegeben haben, drückt das sehr, sehr deutlich aus: Sie haben ein ausgesprochen instrumentelles Verhältnis zum gegenwärtigen Stand der Armutsforschung, aber auch zur Definition von Armut, die sich in diesem schwierigen Spannungsfeld bewegt.
    Ich will das an der berüchtigten Frage des Lohnabstands festmachen. Sie stellen in der Antwort auf die Anfrage selbst fest, daß das Niveau der Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt im Verhältnis zu den unteren Lohngruppen bei Alleinstehenden ungefähr bei der Hälfte des verfügbaren Einkommens der unteren Lohngruppen liegt.
    Ausschließlich Bedarfsgemeinschaften mit drei und mehr Kindern in Ostdeutschland liegen nur um 5 bis 7 Prozent unter dem Einkommen der betreffenden Lohngruppen. Und aus diesem Umstand, den Sie selbst hier hineingeschrieben haben - das habe ich mir ja nicht ausgedacht -, ziehen Sie einen bemerkenswerten Schluß. Ich zitiere die Bundesregierung:
    Aus den erhobenen Lohnabständen kann nicht abgeleitet werden, daß das Abstandsgebot in allen Ländern, insbesondere in den neuen Ländern, für den jeweiligen Bereich eingehalten wird.
    Deshalb sei der Mindestabstand von 15 Prozent zu den unteren Lohngruppen, wie er in der BSHG-Reform vorgesehen ist, sachgerecht.
    Das halte ich für eine bemerkenswert freie Interpretation der von Ihnen selbst präsentierten Zahlen, und ich will darauf hinweisen: Wenn Sie gerade kritisiert haben, daß eine Armutsgrenze bei 50 Prozent des Durchschnittseinkommens sich permanent mit

    Andrea Fischer (Berlin)

    den Lohneinkommen bewegt und deswegen einem nicht aus der Armut herausgeholfen würde - aus dem Problem kommen Sie mit einem auf 15 Prozent festgeschriebenen Lohnabstand genausowenig heraus. Das ist dasselbe Problem.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)

    Wenn Sie mit diesen Zahlen argumentieren, dann verkehren Sie Ursache und Wirkung; denn nicht die Sozialhilfe ist zu hoch, sondern der Kinderlastenausgleich zu niedrig, was Sie bekanntermaßen im Sparpaket nicht ändern wollen.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)

    Außerdem gehen Sie damit auf eine sehr freie Art und Weise um. Die Zahlen passen nicht zu Ihrer Politik, also sagen Sie: Es gibt da noch eine Region in Ostdeutschland, es gibt da noch eine Branche, wo die Löhne so niedrig sind. Das reicht Ihnen dann als Rechtfertigung, die Sozialhilfeansprüche für alle zu kürzen.
    Deswegen beeindruckt es mich überhaupt nicht, wenn Sie noch einmal sagen sollten, daß Sie die Abkehr vom Bedarfsdeckungsprinzip nicht anstreben.
    Sie haben ja selbst schon darauf hingewiesen, wie stark die Zahl der Bezieherinnen und Bezieher von Sozialhilfe angestiegen ist. Der Verweis auf den Anteil von ausländischen Bezieherinnen und Beziehern entschärft das Problem nicht, denn der Rest ist immer noch aussagekräftig genug.
    Um sich der Dramatik dieses Problems zu entziehen, verweisen Sie in Ihrer Antwort darauf, daß ja ohnehin Armut nicht mit Sozialhilfebedürftigkeit gleichgesetzt werden kann, und Sie stellen apodiktisch fest: „Sozialhilfe bekämpft Armut, sie schafft sie nicht. Wer die ihm zustehenden Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nimmt, ist nicht mehr arm." Siehe da: Kein Problem mehr! Da könnten wir ja jetzt alle nach Hause gehen.
    Statt sich auf das weite Feld der Armutsdefinition zu begeben, hätten Sie sich vielleicht besser zwei anderen Fragen zugewandt. Die eine Frage ist, warum denn die Anzahl der Sozialhilfebezieher - auch jenseits der Asylbewerber - so stark gestiegen ist. Die zweite Frage ist, ob die Sozialhilfe eigentlich für die Anforderungen und Veränderungen, die wir da beobachten, ein geeignetes Mindestsicherungssystem ist.
    Sie haben sich der Mühe nicht unterzogen, sich diesen Fragen zu stellen, vermutlich auch deswegen, weil die Antwort darauf für Sie unbequem ist. Denn wenn man sich diesen Fragen stellt, erkennt man, was für ein erheblicher sozialer Reformbedarf besteht. Dem kann man sich nicht durch statistische Ablenkungsmanöver entziehen.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

    Die steigende Sozialhilfebedürftigkeit ist wie ein Seismograph, der die zunehmenden tektonischen Spannungen zwischen Gesellschaft und Sozialstaat anzeigt. Das System sozialer Sicherung und die Lebenswirklichkeit vieler Menschen passen nicht mehr zueinander. Während Arbeitslosigkeit und der Wandel der Familie das Normalarbeitsverhältnis und auch das Normaleheverhältnis an Allgemeinverbindlichkeit haben verlieren lassen, sind die sozialen Sicherungssysteme immer noch einseitig auf die lebenslange Kleinfamilie mit dem durchgehend erwerbstätigen Ehemann ausgerichtet, der eine Chance hat, mit seinem Lohn seine Familie ein Leben lang zu unterhalten.
    Doch genau diese Lebensweise erodiert zur Zeit. Sie wird zu einer Lebensweise unter vielen. Es wird durchaus üblich, als Alleinerziehende mit Kindern zusammenzuleben, in Teilzeit zu arbeiten, um noch Zeit für Haus-, Pflege- oder Erziehungstätigkeiten zu haben, zeitweilig oder auf Dauer arbeitslos zu sein usw. Die Lebenswirklichkeiten sind sehr verschieden geworden, doch der Sozialstaat ist noch immer auf eine Gesellschaft von gestern ausgerichtet. Deshalb fallen inzwischen so viele Menschen durch den Rost und landen in der Sozialhilfe. Armut ist kein Randgruppenproblem mehr. - Da befinde ich mich übrigens in Differenz zu dem sehr statischen Bild von Armutspopulation, das die SPD in ihrer Anfrage zeichnet. - Armut ist zu einem allgemeinen Lebensrisiko geworden und hat sich entgrenzt; sie reicht auch in andere Milieus hinein. Das macht die Sache nicht besser, Herr Kollege Westerwelle

    (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Völlig richtig!)

    - gut, daß wir uns darin einig sind -, das macht die Sache dramatischer.
    Während das Risiko, seinen Lebensunterhalt dauerhaft oder übergangsweise nicht mehr aus eigener Kraft bestreiten zu können, zu einem Bestandteil gesellschaftlicher Normalität geworden ist, wird dieses Lebensrisiko mit der Sozialhilfe immer noch als Ausnahmezustand behandelt. Es gibt zwischen dem Sozialhilfesystem und anderen sozialen Sicherungssystemen große Unterschiede in der Rechtssicherheit. Außerdem haben Sie seit Jahren die Sozialetats der Bundesregierung durch Leistungskürzungen entlastet, so daß die Kosten gesamtgesellschaftlicher Veränderungen und der Strukturdefizite der vorgelagerten Sicherungssysteme bruchlos an die Kommunen weitergegeben wurden.
    Auch wenn die Bundesregierung es ausdrücklich leugnet, kommen wir nicht daran vorbei: Diese Veränderung und Ausweitung des Armutsrisikos und die Überforderung der Sozialhilfe machen eine Sozialreform notwendig, die das letzte Netz der sozialen Sicherung „normalisiert", indem sie es an die Gewährungspraxis, sprich: die rechtlichen Standards, und die Rechtsgarantien der „gehobenen" Sicherungssysteme anpaßt. Die soziale Sicherung muß endlich „armutsfest" gemacht werden. Wir brauchen ein gelassenes System, das von der Tradition der Armenpolizei, aber auch von der Überfürsorglichkeit,

    Andrea Fischer (Berlin)

    von der dieses System ebenfalls geprägt ist, Abschied nimmt.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Es geht darum, Respekt vor den Personen zu haben, die unser soziales System in Anspruch nehmen. Gerade der Verweis darauf, daß es sich bei vielen um einen kurzzeitigen Bezug von Leistungen handelt, macht es um so dringender, das System so zu gestalten, daß sich die Menschen im Sozialamt nicht entblößen oder sich dort schlecht behandeln lassen müssen. Gerade das spricht für eine Reform hin zu einem gelassenen System der bedarfsorientierten Mindestsicherung.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich muß noch einmal auf das Problem zurückkommen, wie man mit Statistiken umgeht. Sie sagen erneut - das kennen wir von Ihnen -, der Armutsbericht sei nicht notwendig, von ihm sei „kein substantieller Zugewinn an Informationen zu erwarten". Dabei finde ich gerade Ihre Antwort auf die Große Anfrage einen Beleg dafür, daß wir ihn brauchen. Sie haben sich in Ihrer Antwort ausführlich auf die „Bremer Sozialhilfestudie" bezogen. Das Besondere an dieser Studie ist, daß sie uns zum erstenmal Auskunft über Tatbestände gegeben hat, über die wir auch wegen des Fehlens einer Armutsberichterstattung jahrelang nicht erfahren haben.
    Wenn Sie sich mit dieser Studie befassen, werden Sie sehen, daß sie hoch umstritten ist. Man kann nicht behaupten, daß mit ihr alle Erkenntnisse gewonnen wären. Über diese Studie hinaus gibt es eine Menge Fragen, die zu stellen wären: Stimmt das alte Vorurteil, daß sich Armut über Generationen vererbt? Gibt es eine räumliche Konzentration einer neuen Unterschicht? Welche Selbsthilfefähigkeiten gibt es? Und - das ist ganz wichtig, und vielleicht ist das einer der Gründe, warum Sie keinen Armutsbericht wollen -: Welche Auswirkungen hat die Sozialpolitik im Berichtszeitraum eines solchen Armutsberichts auf die Entwicklung von Verarmung, von Armutsrisiken oder auch von Chancen zur Überwindung der Armut gehabt? Das heißt, eine Armutsberichterstattung ist kein akademisches Vergnügen. Es geht vielmehr darum, wichtige Erkenntnisse über Politik zu gewinnen und damit ständig auf dem Stand der Dinge zu sein, wohin sich die Sozialpolitik entwikkelt.
    Wenn ich für diese Berichterstattung plädiere, dann plädiere ich nicht für Datenfriedhöfe, sondern dafür, Spannungen, die zwischen Sozialsystemen und veränderten Lebens- und Erwerbsmustern der Menschen bestehen, wirklich zu erkennen. Das heißt, daß dieser Sozialstaat auch über sich selber nachdenken muß. Eine Politik, die vor diesem großen Handlungsbedarf, vor den Spannungen, die wir damit produziert haben, sowie vor der wachsenden Unzufriedenheit und Unzulänglichkeit die Augen verschließt, wird nicht vorwärts weisen, sondern eher zu Erdbeben führen.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)



Rede von Hans Klein
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Kollege Dr. Guido Westerwelle, Sie haben das Wort.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Guido Westerwelle


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (F.D.P.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Armut in Deutschland ist ein Thema, das mehr verdient hat als oberflächliche Betroffenheitsrituale oder zufriedene Vergleiche mit anderen Wohlstandsländern. Die veröffentlichte Betroffenheit ersetzt nämlich nicht Konzept und Handeln der Politik. Die Tatsache, daß Deutschland zusammen mit Dänemark und Luxemburg in ganz Europa das Land mit den höchsten Leistungen für die Bedürftigen ist, taugt ebenfalls nicht zur Beruhigung.
    Die Politik wird sich mit diesen Ritualen nicht vor der entscheidenden Frage drücken können: Wie organisiert ein unfinanzierbar gewordener Staat, der im internationalen Wettbewerb steht, in Zukunft soziale Gerechtigkeit? Zu dieser Frage möchte ich vier Bemerkungen machen:
    Erste Bemerkung: Alles, was man verteilen möchte, muß man vorher erwirtschaften. Das ist ein Gesetz, das auch die Opposition nicht außer Kraft setzen kann.

    (Beifall bei der F.D.P. - Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Donnerwetter!)

    Es gibt einen zwingenden Zusammenhang zwischen Wachstum und Wohlstand. Die entscheidende Armutsfrage in Deutschland ist die Arbeitslosigkeit.

    (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Ach ja?)

    Wenn Sie sich die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage einmal genau ansehen, dann stellen Sie fest, daß die Hauptursache der Hilfegewährung vorherige Arbeitslosigkeit ist und daß nur 20 Prozent den Bezug der Hilfe zum Lebensunterhalt beenden, weil sie eine Arbeit aufnehmen konnten. Die Denkweise staatlicher Sozialpolitik am Ende des „sozialdemokratischen Jahrhunderts" - das meine ich nicht im parteipolitischen Sinne, sondern im Sinne von Professor Ralf Dahrendorf - könnte in Deutschland mit dem Titel „Wege in die Arbeitslosigkeit" überschrieben werden.
    Die künstliche Aufspaltung von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Vernunft ist eine der Ursachen der Misere. Die soziale Kompetenz eines Landes folgt der ökonomischen Kompetenz eines Landes.

    (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)