Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht in der heutigen Debatte nicht darum, ob man wirtschaftlich Schwachen helfen soll oder nicht. Es ist unsere Verpflichtung, denjenigen gegenüber solidarisch zu sein, die der Hilfe bedürfen. Wir helfen ihnen nicht dadurch, daß wir ein möglichst düsteres Szenario beschreiben. Deshalb ist natürlich auch der Vergleich mit anderen Ländern angezeigt und geboten. Ich denke, wir können darauf verweisen, daß wir auch im Vergleich mit
Bundesministerin Claudia Nolte
anderen Staaten Europas ein sehr hohes soziales Sicherungsniveau haben.
Deshalb, finde ich, sollten wir uns ein bißchen stärker kontrollieren und den Begriff „Armut" vorsichtiger und vor allem nicht mehr so inflationär benutzen, wie das hier passiert.
Wir sind in der Tat gefordert, unsere soziale Marktwirtschaft zu erneuern, damit sie den Sozialstaat auch auf Dauer sichern kann. Das heißt natürlich auch, daß wir Sozialleistungen daraufhin überprüfen müssen, ob sie angesichts veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse nicht ebenfalls verändert und angepaßt werden müssen. Denn es ist notwendig, daß wir die Mittel auf die konzentrieren, die sie wirklich benötigen.
Es gibt sicherlich Bevölkerungsgruppen, die unserer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Lassen Sie mich beispielhaft die Rentnerin nennen, die vier Kinder großgezogen hat, selber vielleicht nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt war und heute auf Sozialhilfe angewiesen ist.
Deshalb setze ich mich dafür ein, daß eine Lebensleistung, wie sie beispielsweise in der Kindererziehung zum Ausdruck kommt, bei der Berechnung der Rente stärker berücksichtigt wird.
Mir geht es genauso um die kinderreiche Familie, in der die Mutter für die Erziehung der Kinder zu Hause ist und das Einkommen des Vaters für alle ausreichen muß. Hier stehen wir in der Pflicht; deshalb haben wir das auch bei der Veränderung des Familienlastenausgleichs beachtet. Da das Pro-KopfEinkommen für Familien mit steigender Kinderzahl sinkt, sind gerade kinderreiche Familien auf eine stärkere gezielte Familienförderung angewiesen.
Ebenso brauchen Alleinerziehende gezielte Unterstützung, weil ihr Anteil unter den Sozialhilfebeziehern besonders groß ist.
Es ist deshalb unser Ziel, das Kindergeld so zu erhöhen, daß man wegen der Kindererziehung nicht Sozialhilfe in Anspruch nehmen muß.
Es gehört aber auch zur Wahrheit - wir müssen um Verständnis dafür werben -, daß wir die Erhöhung nicht so schnell erreichen können, wie wir es möchten. Auch das ist ein Teil unserer sozialpolitischen Verantwortung.
Ich halte es für absolut ungerechtfertigt, an einer Verschiebung der Kindergelderhöhung Armut, insbesondere etwa an Kinderarbeit festzumachen, wie es in der letzten Woche passiert ist. Wir werden 1997 für keine Familie weniger Familienleistungen durch den Familienlastenausgleich haben. Der neue Familienleistungsausgleich entlastet die Familien in diesem Jahr um 7 Milliarden DM. Genauso wird es in den Folgejahren sein.
Wir liegen in Europa auf der Kindergeldskala auf Platz 4 hinter Luxemburg, Belgien und Österreich. Deshalb ist diese Diskussion nicht so zu führen, wie Sie sie führen.
Die Daten des „Sozioökonomischen Panels" ergeben, daß der Anteil der Einkommensschwachen an der Bevölkerung Westdeutschlands, besonders bei deutschen Staatsbürgern und Kindern, im Jahre 1994 im Vergleich zu 1984 - diese Zahlen liegen uns vor - insgesamt zurückgegangen ist. Das haben wir auch in der Großen Anfrage deutlich beantwortet.
Wir haben mehr Sozialhilfebezieher - das ist wahr -, aber es bleibt genauso wahr - das wissen auch Sie -, daß Sozialhilfe dazu da ist, Armut zu verhindern. Wir dürfen den Sozialhilfeempfänger nicht als Maßstab für die Armut machen, weil jede Ausweitung - das wäre das Ergebnis - der Basis an Anspruchsberechtigung zu mehr Armut führen würde. Das kann es nicht sein, das ergäbe keinen Sinn.
Sie wissen, daß durch die Pflegeversicherung die Sozialhilfeabhängigkeit älterer Menschen, insbesondere bei stationärer Pflege drastisch verringert wird. Die Pflegeversicherung hat ganz klar bewiesen, daß wir auch in Zeiten enger Finanzspielräume unser Sozialversicherungssystem den Anforderungen anpassen.
Sie wissen auch, daß der Anteil der 65jährigen und älteren Sozialhilfebezieher, die außerhalb von Einrichtungen leben, deutlich zurückgegangen ist: von 20 Prozent im Jahre 1980 auf etwa 7,5 Prozent im Jahre 1993. Bezogen auf die neuen Bundesländer hat sich das Lebensniveau seit der deutschen Einheit für die Menschen wesentlich verbessert.
Allein die Kaufkraft der Haushalte stieg von 1991 bis 1995 um 19,3 Prozent.
Niemand bestreitet, daß es auch in Deutschland Menschen gibt, die über so geringe Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise der übrigen Gesellschaft ausgeschlossen werden. Diesen Menschen zu helfen ist unsere Aufgabe, egal, ob sie selbstverschuldet oder fremdverschuldet in diese Situation gekommen sind.
Die Möglichkeiten dazu haben wir geschaffen. Sie sind vielfältig. Die Sozialversicherung und speziell die Sozialhilfe zum Schutz gegen Not in besonderen Lebenslagen sind unsere wichtigsten Waffen gegen Armut, und sie sind unsere solidarische Pflicht.
Solidarität ist jedoch keine Einbahnstraße. Ich finde es vollkommen richtig, daß hier darauf hingewiesen wird: Es kann nicht nur uni die ständige Expansion von Sozialleistungen gehen. Wir müssen auch an die Steuer- und Beitragszahler, an die Fami-
Bundesministerin Claudia Nolte
lien denken, die mit ihren Beiträgen die Sozialleistungen bezahlen.
Deshalb ist es viel wichtiger, daß wir den Betroffenen einen Weg aufzeigen, selbst aus ihrer Situation herauszukommen.
- Ich denke, daß das Sicherungssystem sehr umfassend ist und daß wir mit solchen Hilfen wie Beratung bei Verschuldung des Haushalts, Betreuung von Nichtseßhaften und Obdachlosen einiges erreichen.
- Ich denke, daß sie ihrer Aufgabe hervorragend gerecht wird und daß dort sehr engagiert gearbeitet wird. Ich fand es vollkommen richtig, Herr Hintze, daß Sie auf die Arbeit dieser Leute hingewiesen haben und daß sie unseren Dank bekommen.
Ich glaube, zu dieser Diskussion gehört genauso, daß wir uns dafür einsetzen müssen, auch in ganz anderen Bereichen Armut zu bekämpfen; denn Sinnverlust, Orientierungslosigkeit, Bindungsangst und Egoismus stehen für eine Armut, die Sie mit finanziellen Mitteln nicht beheben können. Vielmehr ist das menschliche Klima in unserer Gesellschaft entscheidend. Das hängt von den Beziehungen untereinander ab. Das hängt von dem erlebten Gemeinsinn und der erfahrenen zwischenmenschlichen Solidarität ab.
Es gibt die Erfahrung von Geborgenheit und Angenommensein, die durch kein Sozialprogramm der Welt geschaffen werden kann. Auch dem sind wir verpflichtet.
Vielen Dank.