Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Damit war ja zu rechnen, daß wir uns jetzt über Armutsdefinitionen streiten. Zweifelsohne ist es mit das Schwierigste an der Armutspolitik, sich über die Armutsdefinition zu verständigen.
Herr Kollege Hintze, was Sie da über relative Armutsgrenzen sagen: Sie wollen doch wohl nicht im Ernst als Alternative eine absolute Armutsgrenze einführen! Das ist doch wohl jenseits aller Debatten.
Es ist doch vollkommen klar, wie auch immer Sie es definieren: Wir setzen jede Armutsgrenze relativ zu anderen Größen - von Einkommen, von Wohlstand - fest. Darum kommen wir nicht herum. Da haben wir es immer mit einem Spannungsfeld zu tun. Wir müssen sagen: Es gibt Prinzipien der Bedarfsdekkung.
Gleichzeitig ist es immer auch politisch gesetzt. Da gehen die Gerechtigkeitsvorstellungen derjenigen ein, die dafür zu zahlen haben. Da gehen die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft darüber ein, was denn dieser Bedarf sein kann, wo er aufhört, wo es zuviel ist.
Das ist eine hochkomplizierte Debatte, und was mich empört an der Art und Weise, wie Sie darüber gerade gesprochen haben, ist, daß dies zur Rechtfertigung Ihrer Politik instrumentalisiert wird. Die Antwort, die Sie auf die Große Anfrage gegeben haben, drückt das sehr, sehr deutlich aus: Sie haben ein ausgesprochen instrumentelles Verhältnis zum gegenwärtigen Stand der Armutsforschung, aber auch zur Definition von Armut, die sich in diesem schwierigen Spannungsfeld bewegt.
Ich will das an der berüchtigten Frage des Lohnabstands festmachen. Sie stellen in der Antwort auf die Anfrage selbst fest, daß das Niveau der Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt im Verhältnis zu den unteren Lohngruppen bei Alleinstehenden ungefähr bei der Hälfte des verfügbaren Einkommens der unteren Lohngruppen liegt.
Ausschließlich Bedarfsgemeinschaften mit drei und mehr Kindern in Ostdeutschland liegen nur um 5 bis 7 Prozent unter dem Einkommen der betreffenden Lohngruppen. Und aus diesem Umstand, den Sie selbst hier hineingeschrieben haben - das habe ich mir ja nicht ausgedacht -, ziehen Sie einen bemerkenswerten Schluß. Ich zitiere die Bundesregierung:
Aus den erhobenen Lohnabständen kann nicht abgeleitet werden, daß das Abstandsgebot in allen Ländern, insbesondere in den neuen Ländern, für den jeweiligen Bereich eingehalten wird.
Deshalb sei der Mindestabstand von 15 Prozent zu den unteren Lohngruppen, wie er in der BSHG-Reform vorgesehen ist, sachgerecht.
Das halte ich für eine bemerkenswert freie Interpretation der von Ihnen selbst präsentierten Zahlen, und ich will darauf hinweisen: Wenn Sie gerade kritisiert haben, daß eine Armutsgrenze bei 50 Prozent des Durchschnittseinkommens sich permanent mit
Andrea Fischer
den Lohneinkommen bewegt und deswegen einem nicht aus der Armut herausgeholfen würde - aus dem Problem kommen Sie mit einem auf 15 Prozent festgeschriebenen Lohnabstand genausowenig heraus. Das ist dasselbe Problem.
Wenn Sie mit diesen Zahlen argumentieren, dann verkehren Sie Ursache und Wirkung; denn nicht die Sozialhilfe ist zu hoch, sondern der Kinderlastenausgleich zu niedrig, was Sie bekanntermaßen im Sparpaket nicht ändern wollen.
Außerdem gehen Sie damit auf eine sehr freie Art und Weise um. Die Zahlen passen nicht zu Ihrer Politik, also sagen Sie: Es gibt da noch eine Region in Ostdeutschland, es gibt da noch eine Branche, wo die Löhne so niedrig sind. Das reicht Ihnen dann als Rechtfertigung, die Sozialhilfeansprüche für alle zu kürzen.
Deswegen beeindruckt es mich überhaupt nicht, wenn Sie noch einmal sagen sollten, daß Sie die Abkehr vom Bedarfsdeckungsprinzip nicht anstreben.
Sie haben ja selbst schon darauf hingewiesen, wie stark die Zahl der Bezieherinnen und Bezieher von Sozialhilfe angestiegen ist. Der Verweis auf den Anteil von ausländischen Bezieherinnen und Beziehern entschärft das Problem nicht, denn der Rest ist immer noch aussagekräftig genug.
Um sich der Dramatik dieses Problems zu entziehen, verweisen Sie in Ihrer Antwort darauf, daß ja ohnehin Armut nicht mit Sozialhilfebedürftigkeit gleichgesetzt werden kann, und Sie stellen apodiktisch fest: „Sozialhilfe bekämpft Armut, sie schafft sie nicht. Wer die ihm zustehenden Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nimmt, ist nicht mehr arm." Siehe da: Kein Problem mehr! Da könnten wir ja jetzt alle nach Hause gehen.
Statt sich auf das weite Feld der Armutsdefinition zu begeben, hätten Sie sich vielleicht besser zwei anderen Fragen zugewandt. Die eine Frage ist, warum denn die Anzahl der Sozialhilfebezieher - auch jenseits der Asylbewerber - so stark gestiegen ist. Die zweite Frage ist, ob die Sozialhilfe eigentlich für die Anforderungen und Veränderungen, die wir da beobachten, ein geeignetes Mindestsicherungssystem ist.
Sie haben sich der Mühe nicht unterzogen, sich diesen Fragen zu stellen, vermutlich auch deswegen, weil die Antwort darauf für Sie unbequem ist. Denn wenn man sich diesen Fragen stellt, erkennt man, was für ein erheblicher sozialer Reformbedarf besteht. Dem kann man sich nicht durch statistische Ablenkungsmanöver entziehen.
Die steigende Sozialhilfebedürftigkeit ist wie ein Seismograph, der die zunehmenden tektonischen Spannungen zwischen Gesellschaft und Sozialstaat anzeigt. Das System sozialer Sicherung und die Lebenswirklichkeit vieler Menschen passen nicht mehr zueinander. Während Arbeitslosigkeit und der Wandel der Familie das Normalarbeitsverhältnis und auch das Normaleheverhältnis an Allgemeinverbindlichkeit haben verlieren lassen, sind die sozialen Sicherungssysteme immer noch einseitig auf die lebenslange Kleinfamilie mit dem durchgehend erwerbstätigen Ehemann ausgerichtet, der eine Chance hat, mit seinem Lohn seine Familie ein Leben lang zu unterhalten.
Doch genau diese Lebensweise erodiert zur Zeit. Sie wird zu einer Lebensweise unter vielen. Es wird durchaus üblich, als Alleinerziehende mit Kindern zusammenzuleben, in Teilzeit zu arbeiten, um noch Zeit für Haus-, Pflege- oder Erziehungstätigkeiten zu haben, zeitweilig oder auf Dauer arbeitslos zu sein usw. Die Lebenswirklichkeiten sind sehr verschieden geworden, doch der Sozialstaat ist noch immer auf eine Gesellschaft von gestern ausgerichtet. Deshalb fallen inzwischen so viele Menschen durch den Rost und landen in der Sozialhilfe. Armut ist kein Randgruppenproblem mehr. - Da befinde ich mich übrigens in Differenz zu dem sehr statischen Bild von Armutspopulation, das die SPD in ihrer Anfrage zeichnet. - Armut ist zu einem allgemeinen Lebensrisiko geworden und hat sich entgrenzt; sie reicht auch in andere Milieus hinein. Das macht die Sache nicht besser, Herr Kollege Westerwelle
- gut, daß wir uns darin einig sind -, das macht die Sache dramatischer.
Während das Risiko, seinen Lebensunterhalt dauerhaft oder übergangsweise nicht mehr aus eigener Kraft bestreiten zu können, zu einem Bestandteil gesellschaftlicher Normalität geworden ist, wird dieses Lebensrisiko mit der Sozialhilfe immer noch als Ausnahmezustand behandelt. Es gibt zwischen dem Sozialhilfesystem und anderen sozialen Sicherungssystemen große Unterschiede in der Rechtssicherheit. Außerdem haben Sie seit Jahren die Sozialetats der Bundesregierung durch Leistungskürzungen entlastet, so daß die Kosten gesamtgesellschaftlicher Veränderungen und der Strukturdefizite der vorgelagerten Sicherungssysteme bruchlos an die Kommunen weitergegeben wurden.
Auch wenn die Bundesregierung es ausdrücklich leugnet, kommen wir nicht daran vorbei: Diese Veränderung und Ausweitung des Armutsrisikos und die Überforderung der Sozialhilfe machen eine Sozialreform notwendig, die das letzte Netz der sozialen Sicherung „normalisiert", indem sie es an die Gewährungspraxis, sprich: die rechtlichen Standards, und die Rechtsgarantien der „gehobenen" Sicherungssysteme anpaßt. Die soziale Sicherung muß endlich „armutsfest" gemacht werden. Wir brauchen ein gelassenes System, das von der Tradition der Armenpolizei, aber auch von der Überfürsorglichkeit,
Andrea Fischer
von der dieses System ebenfalls geprägt ist, Abschied nimmt.
Es geht darum, Respekt vor den Personen zu haben, die unser soziales System in Anspruch nehmen. Gerade der Verweis darauf, daß es sich bei vielen um einen kurzzeitigen Bezug von Leistungen handelt, macht es um so dringender, das System so zu gestalten, daß sich die Menschen im Sozialamt nicht entblößen oder sich dort schlecht behandeln lassen müssen. Gerade das spricht für eine Reform hin zu einem gelassenen System der bedarfsorientierten Mindestsicherung.
Ich muß noch einmal auf das Problem zurückkommen, wie man mit Statistiken umgeht. Sie sagen erneut - das kennen wir von Ihnen -, der Armutsbericht sei nicht notwendig, von ihm sei „kein substantieller Zugewinn an Informationen zu erwarten". Dabei finde ich gerade Ihre Antwort auf die Große Anfrage einen Beleg dafür, daß wir ihn brauchen. Sie haben sich in Ihrer Antwort ausführlich auf die „Bremer Sozialhilfestudie" bezogen. Das Besondere an dieser Studie ist, daß sie uns zum erstenmal Auskunft über Tatbestände gegeben hat, über die wir auch wegen des Fehlens einer Armutsberichterstattung jahrelang nicht erfahren haben.
Wenn Sie sich mit dieser Studie befassen, werden Sie sehen, daß sie hoch umstritten ist. Man kann nicht behaupten, daß mit ihr alle Erkenntnisse gewonnen wären. Über diese Studie hinaus gibt es eine Menge Fragen, die zu stellen wären: Stimmt das alte Vorurteil, daß sich Armut über Generationen vererbt? Gibt es eine räumliche Konzentration einer neuen Unterschicht? Welche Selbsthilfefähigkeiten gibt es? Und - das ist ganz wichtig, und vielleicht ist das einer der Gründe, warum Sie keinen Armutsbericht wollen -: Welche Auswirkungen hat die Sozialpolitik im Berichtszeitraum eines solchen Armutsberichts auf die Entwicklung von Verarmung, von Armutsrisiken oder auch von Chancen zur Überwindung der Armut gehabt? Das heißt, eine Armutsberichterstattung ist kein akademisches Vergnügen. Es geht vielmehr darum, wichtige Erkenntnisse über Politik zu gewinnen und damit ständig auf dem Stand der Dinge zu sein, wohin sich die Sozialpolitik entwikkelt.
Wenn ich für diese Berichterstattung plädiere, dann plädiere ich nicht für Datenfriedhöfe, sondern dafür, Spannungen, die zwischen Sozialsystemen und veränderten Lebens- und Erwerbsmustern der Menschen bestehen, wirklich zu erkennen. Das heißt, daß dieser Sozialstaat auch über sich selber nachdenken muß. Eine Politik, die vor diesem großen Handlungsbedarf, vor den Spannungen, die wir damit produziert haben, sowie vor der wachsenden Unzufriedenheit und Unzulänglichkeit die Augen verschließt, wird nicht vorwärts weisen, sondern eher zu Erdbeben führen.