Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Westerwelle, habe ich Sie richtig verstanden, daß auch Sie jetzt für einen „Nationalen Armutsbericht" sind? Sie sprachen ja eben vom Bericht der Bundesregierung. Vielleicht können Sie Ihrem Koalitionspartner ein paar Ideen geben.
Herr Kollege Hintze, Senegal liegt bekanntlich nicht in Europa. Armut hierzulande muß sich an dem Maßstab des gesellschaftlichen Reichtums in der Bundesrepublik Deutschland messen:
Es ist unzulässig, die deutschen Armen mit den Elenden in Kalkutta zu vergleichen; denn Obdachlose im U-Bahnschacht können sich an solcher Relativitätstheorie nicht wärmen.
Das habe ich eben in der „Frankfurter Rundschau" von heute gelesen. Das Zitat stammt von Heribert Prantl, dem Tucholsky-Preisträger von 1996.
„Die Zahl der Millionäre in Westdeutschland ist nach der Wende 1989 sprunghaft gestiegen. " „An der Tafel sitzen Arbeitslose - Bedürftige werden mit Lebensmitteln versorgt, die sonst auf dem Müll landen würden. " Das sind nur zwei Schlagzeilen der letzten Zeit, die deutlich machen, daß das soziale Gefüge hierzulande längst aus den Fugen geraten ist.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zur Armut in der Bundesrepublik ist absolut unbefriedigend. Sie enthält keinerlei substantiell neuen Erkenntnisse zum Thema Armut, und der Dimension der Problematik wird sie in keiner Weise gerecht.
Ich denke dabei daran, daß sich Armut in der Bundesrepublik dramatisch ausweitet und verschärft; daß Armut hierzulande kein Problem gesellschaftlicher Randgruppen ist; daß das Ausmaß verdeckter Armut und von „working poor" in erschreckendem Maße zunimmt; daß wir angesichts der zunehmenden Erosion des Normalarbeitsverhältnisses mit einer Pluralisierung von Lebenslagen und einer Flexibilisierung von Lebensläufen konfrontiert sind; daß die Dynamisierung von Unterversorgungslagen - wie Dauer und Kontinuität von Sozialhilfebezug - besonderer Beachtung bedarf - hier möchte ich einfügen, Herr Kollege Hintze: Die Bremer Studie kann bekanntlich so oder so interpretiert werden; ich finde es arg problematisch, sie so einseitig mißzuinterpretieren, wie Sie das getan haben, und sie als Legitimation für Leistungskürzungen zu nutzen -;
daß bei sämtlichen Analysen eine Differenzierung
nach Geschlecht und Altersgruppen unabdingbar ist.
So signalisiert die zunehmende Infantilisierung der Armut einen akuten gesellschaftlichen Handlungsbedarf. Laut Mannheimer Studie von 1994 leben 810 000 Kinder unter der Armutsschwelle. Jedes fünfte Kind in den Ostberliner Neubaustadtbezirken lebt bereits in einem Haushalt mit Sozialhilfebezug. -
Petra Bläss
Herr Kollege Hintze, das sind die Fakten; da nützt Ihre ganze Beweihräucherung überhaupt nichts.
Für die Bundesregierung ist bezeichnenderweise die ansteigende Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger „kein Hinweis auf wachsende Armut in unserer Gesellschaft". Die Sozialhilfestatistik nicht als Indiz von Armut, sondern von bekämpfter Armut zu betrachten, halte ich für gefährlich. Vor allem aber ist in der Antwort kein Ansatz erkennbar, der auf eine Verbesserung der Armutsberichterstattung hinausläuft.
Die Bundesregierung hat auf dem Weltsozialgipfel 1995 ein Aktionsprogramm gegen Armut und soziale Ausgrenzung unterzeichnet, dessen nationale Umsetzung noch immer aussteht. Damit hatte sich die Bundesregierung verpflichtet, bis November 1995 einen „Nationalen Armutsbericht" vorzulegen und auf dessen Grundlage bis 1996, dem Internationalen Jahr der Bekämpfung der Armut, einen nationalen Plan zur Bekämpfung der Armut zu entwickeln sowie halbjährlich über die Erfüllung dieses Plans zu berichten.
Nach wie vor weigert sich die Bundesregierung jedoch, den Tatbestand der Armut hierzulande überhaupt anzuerkennen. Sie lehnt eine institutionalisierte und regelmäßige Armutsberichterstattung ab. Wir sehen in einem verbesserten System der Sozialberichterstattung eine wichtige Grundlage für eine zielgerichtete und effektive Politik zur Verhinderung von Armut und Ausgrenzung. Gerade deshalb ist ein „Nationaler Armutsbericht" überfällig.
Um Armut in ihrer Komplexität und Vielfalt aufzuzeigen, ist es notwendig, von einem ganzheitlichen Armutsbegriff auszugehen, der die gesamte Lebenslage eines Menschen - von der materiellen Existenzsicherung bis zu gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten - berücksichtigt.
Wir verstehen Armut als eine komplexe Situation von Unterversorgung in verschiedenen Lebensbereichen. Dazu zählen neben dem Einkommen vor allem Arbeit, -