Rede:
ID1312607400

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 7
    1. Das: 1
    2. Wort: 1
    3. hat: 1
    4. der: 1
    5. Kollege: 1
    6. Peter: 1
    7. Hintze.\n: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 13/126 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 126. Sitzung Bonn, Freitag, den 27. September 1996 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 11327 A Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (Drucksachen 13/4587, 13/4718, 13/ 5606, 13/5607) 11327B, 11331 A Manfred Grund CDU/CSU 11327 D Ulrike Mascher SPD . . 11328D, 11331B, 11336 C Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11331 C, 11337 A Manfred Grund CDU/CSU 11332 B Hans-Dirk Bierling CDU/CSU . . . 11332 C Uwe Lühr F.D.P 11333 A Petra Bläss PDS 11334 A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 11335 B Dr. Barbara Höll PDS (Erklärung nach § 31 GO) 11338 A Dr. Dagmar Enkelmann PDS (Erklärung nach § 31 G0) 11338 D Dr. Uwe-Jens Heuer PDS (Erklärung nach § 31 G0) 11339 A Heidemarie Lüth PDS (Erklärung nach § 31 GO) 11339 D Tagesordnungspunkt 16: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Europäische Betriebsräte (Europäische Betriebsräte) (Drucksachen 13/5021, 13/5608) . . 11341 C Peter Keller CDU/CSU 11341 D Leyla Onur SPD 11342 C Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11345 A Dr. Gisela Babel F.D.P 11346 A Hanns-Peter Hartmann PDS 11346 D Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 11347 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Sechsten Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze (Drucksachen 13/3993, 13/ 4069, 13/5098, 13/5325, 13/5642) . . . 11348 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren (Drucksachen 13/3996, 13/5100, 13/5326, 13/5643) . 11348 B Dr. Heribert Blens CDU/CSU 11348 B Otto Schily SPD 11348 D Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11349 B Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 11350 A Eva Bulling-Schröter PDS 11351 A Tagesordnungspunkt 17: Große Anfrage der Abgeordneten Konrad Gilges, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Armut in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen 13/1527, 13/3339) . 11352 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Gruppe der PDS: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Armut und Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland" (Druck sachen 13/583, 13/5617) 11352 B Wolfgang Spanier SPD 11352 B Peter Hintze CDU/CSU . . . . 11354 D, 11358 A Heidemarie Lüth PDS 11357 D Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11358 C Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . 11360 C, 11370 B Wolf-Michael Catenhusen SPD . . . 11360 D Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11362 A Petra Bläss PDS 11363 B Wolfgang Zöller CDU/CSU 11365 A Claudia Nolte, Bundesministerin BMFSFJ 11365 D Iris Follak SPD 11367 B Ulf Fink CDU/CSU 11368 C Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . . . 11368 D Konrad Gilges SPD 11369 B Ulrike Mascher SPD 11370 C Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 11372 A Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ursula Schönberger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Plutoniumtransporte in Flugzeugen (Drucksache 13/3670) . . . 11374 C Ursula Schönberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11374 D Hubert Deittert CDU/CSU 11375 C Wolfgang Behrendt SPD 11376 C Dr. Rainer Ortleb F.D.P. 11377 C Rolf Köhne PDS 11378 B Nächste Sitzung 11378 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 11379* A Anlage 2 Amtliche Mitteilung 11379* D 126. Sitzung Bonn, Freitag, den 27. September 1996 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete (r) entschuldigt bis einschließlich Andres, Gerd SPD 27. 9. 96 Antretter, Robert SPD 27. 9. 96 * Augustin, Anneliese CDU/CSU 27. 9. 96 Beck (Bremen), BÜNDNIS 27. 9. 96 Marieluise 90/DIE GRÜNEN Beer, Angelika BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Behrendt, Wolfgang SPD 27. 9. 96 * Berninger, Matthias BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Bindig, Rudolf SPD 27. 9. 96 * Dr. Blank, Joseph-Theodor CDU/CSU 27. 9. 96 Blunck, Lilo SPD 27. 9. 96 Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 27. 9. 96 Borchert, Jochen CDU/CSU 27. 9. 96 Bredehorn, Günther F.D.P. 27. 9. 96 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 27. 9. 96 * Carstens (Emstek), Manfred CDU/CSU 27. 9. 96 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 27. 9. 96 Herta 1 Dr. Feldmann, Olaf F.D.P. 27. 9. 96 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 27. 9. 96 * Geiger, Michaela CDU/CSU 27. 9. 96 Glos, Michael CDU/CSU 27. 9. 96 Haack (Extertal), SPD 27. 9. 96 * Karl Hermann Hirche, Walter F.D.P. 27. 9. 96 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Horn, Erwin SPD 27. 9. 96 * Hornung, Siegfried CDU/CSU 27. 9. 96 * Imhof, Barbara SPD 27. 9. 96 Dr. Jacob, Willibald PDS 27. 9. 96 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 27. 9. 96 * Dr. Kinkel, Klaus F.D.P. 27. 9. 96 Kossendey, Thomas CDU/CSU 27. 9. 96 Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 27. 9. 96 Lemke, Steffi BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Lenzer, Christian CDU/CSU 27. 9. 96 * Löwisch, Sigrun CDU/CSU 27. 9. 96 Michels, Meinolf CDU/CSU 27. 9. 96 * Neumann (Berlin), Kurt SPD 27. 9. 96 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 27. 9. 96 Purps, Rudolf SPD 27. 9. 96 Dr. Rappe (Hildesheim) SPD 27. 9. 96 Hermann Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Regenspurger, Otto CDU/CSU 27. 9. 96 Reuter, Bernd SPD 27. 9. 96 Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 27. 9. 96 90/DIE GRÜNEN Schlee, Dietmar CDU/CSU 27. 9. 96 Schloten, Dieter SPD 27. 9. 96 * Schmidt (Aachen), Ulla SPD 27. 9. 96 Dr. Schmidt-Jortzig, F.D.P. 27. 9. 96 Edzard von Schmude, Michael CDU/CSU 27. 9. 96 Schütz (Oldenburg), SPD 27. 9. 96 Dietmar Terborg, Margitta SPD 27. 9. 96 * Thieser, Dietmar SPD 27. 9. 96 Titze-Stecher, Uta SPD 27. 9. 96 Tröger, Gottfried CDU/CSU 27. 9. 96 Türk, Jürgen F.D.P. 27. 9. 96 Vosen, Josef SPD 27. 9. 96 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 27. 9. 96 Gert Würzbach, Peter Kurt CDU/CSU 27. 9. 96 Zierer, Benno CDU/CSU 27. 9. 96 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Amtliche Mitteilung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Finanzausschuß Drucksache 13/5295 Nr. 1.12 Drucksache 13/5295 Nr. 1.14 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 13/4137 Nr. 2.61 Drucksache 13/4137 Nr. 2.87 Drucksache 13/4137 Nr. 2.90 Drucksache 13/4137 Nr. 2.92 Drucksache 13/4466 Nr. 2.18 Drucksache 13/4466 Nr. 2.20 Drucksache 13/4466 Nr. 2.22 Drucksache 13/4466 Nr. 2.54 Drucksache 13/4466 Nr. 2.61 Drucksache 13/4514 Nr. 2.19 Drucksache 13/4514 Nr. 2.42 Drucksache 13/4514 Nr. 2.46 Drucksache 13/4678 Nr. 2.11 Drucksache 13/4678 Nr. 2.17 Drucksache 13/4678 Nr. 2.19 Drucksache 13/4678 Nr. 2.25 Drucksache 13/4678 Nr. 2.28 Drucksache 13/5056 Nr. 2.2 Drucksache 13/5056 Nr. 2.7 Drucksache 13/5295 Nr. 1.1 Drucksache 13/5295 Nr. 1.2 Drucksache 13/5295 Nr. 1.4 Drucksache 13/5295 Nr. 1.5 Drucksache 13/5295 Nr. 1.10
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Wolfgang Spanier


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Armut ist stumm, tabuisiert, wehrlos. Das stellt der Armutsbericht des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes aus dem Jahre 1994 fest.
    Ziel der Großen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zur Armut in Deutschland und unser Ziel in der heutigen Debatte ist, der Armut im Bundestag eine Stimme zu geben, das Tabu zu brechen und zu helfen, die Wehrlosigkeit zu überwinden. Auf Grund der Erfahrungen der letzten Monate in diesem Parlament erwarte ich: Wer Armut aufdeckt, wird als linker Dramatisierer, als Miesmacher, der die Zukunftsangst der Menschen schürt, abgestempelt. So hat sich auch der Kanzler in seiner Haushaltsrede vor 14 Tagen geäußert, in der er uns vorwarf, wir hingen veralteten Verelendungstheorien an, in der er uns unterstellt hat, daß wir offensichtlich in zwei verschiedenen Ländern leben. Wer so weit von oben wie der Bundeskanzler, sozusagen umhüllt vom Mantel der Geschichte, die Dinge betrachtet, der nimmt sie offensichtlich nicht mehr richtig wahr.
    Es geht nicht um Theorien; es geht um die harte soziale Wirklichkeit, die Millionen Menschen, die in Armut oder mit Armutsrisiko leben müssen, Tag für Tag erfahren. Es geht darum, daß der Kanzler - ich spreche ihn ganz bewußt persönlich an - und mit ihm viele in der Koalition blind für die Schattenseite unserer Gesellschaft sind, ich glaube sogar, blind sein wollen für die zunehmende Armut mitten im Wohlstand. Dieses Thema soll heute im Mittelpunkt stehen.
    2,5 Millionen Menschen sind auf den Bezug von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen, und darunter - diese Zahl finde ich besonders erschreckend - sind nahezu 1 Million Kinder. Die Steigerungsraten in den letzten drei Jahren lagen jeweils bei 6 bis 7 Prozent. Das stranguliert die Finanzkraft der Kommunen. In meinem Wahlkreis, dem Kreis Herford, ist die Zahl zwischen 1993 und 1995 um 30 Prozent gestiegen, und das bei einer Arbeitslosenquote von deutlich unter 10 Prozent.
    Eine Reihe von Ihren Entscheidungen im Bundestag hat dazu beigetragen. Ein Beispiel: Die drastische Kürzung der Sprachkurse für Aussiedlerinnen und Aussiedler hat bei uns die Zahl der Sozialhilfebezieher schlagartig um 1 000 nach oben getrieben.
    Hinzu kommt die Dunkelziffer: Über 700 000 Menschen nehmen Sozialhilfe nicht in Anspruch, obwohl sie einen Anspruch darauf hätten.

    (Bundesminister Horst Seehofer: Woher wissen Sie das?)

    - Das ist eine sehr vorsichtige Schätzung, die auf Zahlen beruht, die in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zu finden sind. Das ist eine sehr, sehr vorsichtige Schätzung.
    Über 900 000 Menschen sind wohnungslos. Auch diese Zahl stammt von der Bundesregierung und ist im Nationalbericht zur Habitat zu finden. Von diesen 900 000 Menschen leben 200 000 auf der Straße; darunter sind 50 000 Straßenkinder; so die Schätzung der Bundesfamilienministerin. Sie hat dem Vernehmen nach allerdings - das will ich gerne einräumen - sofort energisch reagiert: mit einem Forschungsauftrag.
    Hinzu kommt eine Entwicklung, die in den neuen Bundesländern bereits zu beobachten ist, die aber auch in den alten Bundesländern stärker wird: Immer

    Wolfgang Spanier
    mehr Menschen geraten mit ihrem verfügbaren Einkommen unter das Existenzminimum des Sozialhilfesatzes, obwohl sie Arbeit haben. Die Zahl der unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsplätze steigt.
    Sie sagen: Wer arbeitet, soll mehr verdienen als derjenige, der nicht arbeitet. Richtig. Nur: Wer arbeitet, soll so viel verdienen, daß er seinen Lebensunterhalt allein bestreiten kann.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Wer den Lohn bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf 75 Prozent absenken will und wer Niedriglöhne fordert, der erhöht die Zahl der arbeitenden Armen.
    Die Bundesregierung kennt diese Fakten. Dennoch sagt sie: Armut ist kein Problem; die bewährten sozialen Sicherungssysteme sind ausreichend.

    (Otto Schily [SPD]: Das hat Geißler früher anders dargestellt!)

    Aber nicht nur die Caritas hat Sie darauf aufmerksam gemacht: Die der Sozialhilfe vorrangigen sozialen Sicherungssysteme sind eben nicht mehr armutsfest. Ihre 130 Einschnitte in das soziale Netz seit 1982 haben das im wesentlichen bewirkt.
    Die Entwicklung von Mieten und Wohngeld ist ein Beispiel. Die Kollegin Eichstädt-Bohlig hat hier gestern aufgezeigt, daß durch den deutlichen Anstieg der Mieten in den letzten Jahren bei einem Wohngeld, das seit 1990 nicht angepaßt worden ist, immer mehr Bezieher von kleinen Einkommen durch die hohen Mieten mit dem dann noch verfügbaren Einkommen unter das Existenzminimum der Sozialhilfe gedrückt werden.
    Die Bundesregierung kennt natürlich diese Fakten; sie verdrängt sie aber. In einem ganz entscheidenden Punkt wird das in der Antwort der Bundesregierung klar. Die Armut wird gleichsam wegdefiniert. Die Bundesregierung sagt: Armut gibt es bei uns nicht, wenigstens nicht in nennenswertem Umfang; denn es gibt die Sozialhilfe. Sie sagt: Sozialhilfe ist bekämpfte Armut. Schon bei der Großen Anfrage 1986 ist Ihnen dazu nicht viel mehr als diese Aussage eingefallen.
    Selbstverständlich kann man über die Armutsdefinition der Europäischen Union, die Armutschwelle liege bei 50 Prozent des durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommens, diskutieren. Letztlich ist natürlich jede Definition von Armut, gemessen am Einkommen, eine Frage der gesellschaftlichen Übereinkunft, eine normative Setzung. Damit ist sie aber noch lange nicht beliebig. Die Definition hängt vor allem davon ab, welchen Grad an Ungleichheit der Lebenschancen und Lebensbedingungen wir in dieser reichen Gesellschaft als gegeben hinzunehmen bereit sind, bis zu welchem Grad die Notlage anderer Menschen für diejenigen, die im Wohlstand leben - wir alle gehören dazu -, zumutbar erscheint.
    Es ist richtig: Bei uns handelt es sich um relative Armut, eben um Armut im Wohlstand. Das ist natürlich eine andere Armut als die in den Slums von Rio de Janeiro oder Kalkutta. Wenn die Bundesregierung sagt, Sozialhilfe ist bekämpfte Armut, dann heißt das, laufende Hilfe zum Lebensunterhalt sichert die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, sichert Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Das Existenzminium wird eben gerade gesichert.
    Hier liegt der Fehler. Wer sich die tatsächliche Lebenslage der Betroffenen genauer ansieht, stellt fest, daß diese Sicherung sehr oft nicht mehr ausreichend ist. Kinder, die in einkommensarmen Haushalten aufwachsen, sind in ihrer seelischen, gesundheitlichen und schulischen Entwicklung nachweislich benachteiligt. Verschärft wird die Situation dadurch, daß ein Leben am Rande des Existenzminimums - das heißt Sozialhilfe - nur allzuoft zu Verschuldung, zu Suchtabhängigkeit und zu Gewalt in Familien führt.
    Leben am Rande des materiellen Existenzminimums bedeutet Unterversorgung, zum Beispiel beim Wohnen. Wissen wir, was es bedeutet, in einem Container zu leben, in einer sogenannten Schlichtwohnung für obdachlose Familien in den Armutsgettos unserer Großstädte?
    Leben am Rande des materiellen Existenzminimums bedeutet auch gesundheitliche Unterversorgung. Was heißt das? Arbeitslose haben ein doppelt so hohes Sterberisiko wie Beschäftigte. Personen in der Altersgruppe zwischen 35 und 44 Jahren der untersten sozialen Schicht weisen bereits ebenso viele chronische Krankheiten und Einschränkungen auf wie die über 75jährigen in der obersten sozialen Schicht. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Armut und Lebenserwartung; so die Untersuchungsergebnisse der Medizinischen Hochschule Hannover.
    Zur Lebenslage der Menschen am Rande des materiellen Existenzminimums gehört auch die Erfahrung der sozialen Ausgrenzung. Ich nenne Ihnen nur zwei kleine Beispiele. Können wir uns wirklich vorstellen - ich sage ganz bewußt „wir" -, was es heißt, an Kindergeburtstagen nicht teilnehmen zu können, weil man das Geschenk nicht bezahlen und die Gegeneinladung nicht aussprechen kann, was es heißt, die persönlichen Ausgaben so radikal reduzieren zu müssen, daß man sich nicht einmal eine Kinokarte oder ein Eis leisten kann? Diese Fragen mag mancher hier im Raum für läppisch halten; aber sie treffen, glaube ich, in ihrer Anschaulichkeit ganz konkret die Situation der sozialen Ausgrenzung.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Die Bundesregierung leugnet diese Armut, die mit Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung mit einer Reihe von Nebenwirkungen einhergeht. Sie stellt sich selbst damit ein Armutszeugnis aus.
    Meine Damen und Herren, wer über Armut redet, darf über Reichtum nicht schweigen. Die Antwort der Bundesregierung blendet die wachsende Ungleichheit der Verteilung, die stärker werdende Polarisierung der Gesellschaft völlig aus. Reichtum in der Bundesrepublik ist nicht stumm, aber verschwiegen. Er ist tabuisiert. Er ist keineswegs wehrlos, sondern höchst einflußreich - bis in dieses Parlament hinein.

    Wolfgang Spanier
    Die Gesellschaft driftet zunehmend auseinander in eine Bevölkerungsmehrheit in der Wohlstandszone, zu der auch wir gehören, und eine große Minderheit in den Armutszonen. Ich kann das heute hier nur mit einigen Daten belegen. Die Konzentration des Geldvermögens von nahezu 5 Billionen DM in unserem Land beschleunigt sich. Die obersten 5 Prozent der Einkommensbezieher verfügen über 30 Prozent des Geldvermögens. Seit 1985 sind die Gewinne brutto um 70 Prozent, aber netto um rund 113 Prozent angewachsen. Ursache für diese Diskrepanz: Ihre Steuerpolitik. Der Rückgang der Gewinnbesteuerung, die vielen legalen Steuerschlupflöcher beschleunigen zusätzlich - offensichtlich ganz bewußt - diese ungleiche Verteilung.

    (Zuruf von der SPD: So ist es!)

    Es geht nicht darum, Reichtum zu verteufeln. Aber wir sind das Land der angedrohten Steuern. Der reale Einkommensteuersatz der Einkommensmillionäre mit 10 und mehr Millionen DM Einkommen im Jahr lag 1989 bei sage und schreibe nur 34 Prozent. Wir sind das Land der degressiven Steuern für Millionäre. Wenn nur diese höchste Einkommensgruppe den normalen Steuersatz tatsächlich gezahlt hätte, hätte das ein Einnahmeplus von 10 Milliarden DM gegeben - und das beim Stand von 1989. Neuere Zahlen liegen leider nicht vor.
    Sie sagen immer: Es kann nicht mehr verteilt werden, weil das Wachstum fehlt. Sie verteilen aber ständig.

    (Beifall bei der SPD)

    Von Ihnen gewollt, läuft eine gewaltige Umverteilung von unten nach oben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist völlig neu!)

    Die Verteilungsfrage, der gerechte Lastenausgleich, ist eine der zentralen politischen Aufgaben, wenn wir Armut wirksam bekämpfen und gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken wollen. Das hat Rudolf Scharping zu Recht immer wieder eingefordert. Der Markt reguliert das nicht.
    Mit Ihren ideologischen Kampfbegriffen vom Sozialmißbrauch einerseits und Sozialneid andererseits wollen Sie offensichtlich die Bereitschaft der Menschen in der Wohlstandszone zu einem fairen Lastenausgleich verhindern.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Ihre neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, vom Kürzungspaket bis zur Steuerpolitik - Vermögensteuer! -, vom Arbeitsförderungsdeformierungsgesetz - ich weiß gar nicht, warum Sie das Reformgesetz nennen - bis zur nächsten Kürzungsrunde im Gesundheitswesen, verschärft die soziale Schieflage. Einige von Ihnen geben das offen und öffentlich zu, zum Beispiel Herr Lambsdorff. Ich habe mehrfach von ihm gehört: Ja, unsere Vorschläge haben eine soziale Schieflage. - Sie wollen sie offensichtlich noch weiter verschärfen.
    Meine Damen und Herren, in unserer Entschließung fordern wir einen nationalen Armutsbericht. Sie wollen das nicht, obwohl die Antwort der Bundesregierung deutlich macht, wie unvollständig und ungenau die Daten sind. Unsere Entschließung greift Anträge auf, die wir in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Wir wollen aber auch darüber hinausgehen. Der Bundestag muß sich mit der Frage der sozialen Grundsicherung, die unabhängig von der Erwerbsarbeit das Armutsrisiko vermeidet, beschäftigen.
    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen mit einem Zitat des Erzbischofs von Berlin, Georg Kardinal Sterzinsky. Er schreibt im „Tagesspiegel" vom 11. April 1996:
    Über Ursachen von Armut und soziale Ausgrenzungsstrukturen besteht in unserer Gesellschaft kein Konsens. Deshalb ist eine Armutsdiskussion, die wegen wechselseitiger Zusammenhänge eine Reichtumsdiskussion einschließt, dringend geboten. Armut und aus ihr resultierende Gefahren für Demokratie, etwa in Form von politischer Radikalisierung, müssen analysiert werden, Konsequenzen müssen gezogen werden. Auch die Frage, inwieweit Eigentum sozial verpflichtet, darf kein Tabu bleiben. Gefragt sind Strategien wirksamer Armutsbekämpfung, deren effektive Kontrolle und entsprechende Sensibilisierung der Bevölkerung. Wichtiger erster Schritt wäre der seit langem geforderte nationale Armutsbericht.
    Diese Sensibilisierung ist bei uns allen in diesem Hause notwendig, vor allem auch beim Bundeskanzler, der in den letzten Wochen und Monaten kein Wort darüber verloren hat, was er den kleinen Leuten zumutet.

    (Beifall bei der SPD)

    Der Kanzler kennt die Sorgen der kleinen Leute offensichtlich nicht.

    (Horst Kubatschka [SPD]: Woher auch?)

    Ihre Gnaden lassen fernsehgerecht Leutseligkeit inszenieren, in Talkshows und bei Fußballeuropameisterschaften.

    (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Nur kein Neid!)

    Herzlichen Dank.

    (Beifall bei der SPD und der PDS sowie des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Rede von Hans Klein
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Kollege Peter Hintze.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das Wort zum Sonntag!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Peter Hintze


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist im Interesse der von Armut betroffenen Menschen, lieber Herr Kollege Spanier, daß wir in dieser Debatte nicht

    Peter Hintze
    Klischees verfestigen, sondern uns mit der tatsächlichen sozialen Situation in Deutschland beschäftigen.

    (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das hat er getan!)

    Lassen Sie mich eine kurze Bemerkung zu Ihrem Beitrag machen: Sie haben hier unseren Bundeskanzler angesprochen. Ich will Ihnen einmal sagen, worin ein wesentlicher Verdienst unseres Bundeskanzlers liegt: daß wir einen so starken Sozialstaat haben, wie er auf der Welt wohl einmalig ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Hintze, Sie sind doch aus dem Alter des Oberadministranten heraus!)

    Ich darf einmal an die Zeit erinnern, als der Bundeskanzler noch Helmut Schmidt hieß - jetzt wollen wir einmal zu unserem Thema kommen -: Von 1977 bis 1982 sind die Realwerte der Eckregelsätze permanent gesunken. Es war eine unserer Maßnahmen, eine Leistung von Helmut Kohl, daß dieser unwürdige Zustand beendet wurde und die Werte entsprechend gestiegen sind.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gloria in excelsis Helmut!)

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe in meiner eigenen Arbeit bedrückende Einzelschicksale kennengelernt, Menschen, die in Not geraten sind, Menschen, die Hilfe brauchen, materielle Hilfe und persönliche Zuwendung. Deswegen finde ich es richtig, daß wir in dieser Debatte auch denen danken, die sich Tag für Tag um solche Menschen kümmern, die Gegenstand unserer Überlegungen sind, solche, die materiell in Not geraten sind, solche, die in Wohnungsnot sind. Ich denke an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialämter, in den Kirchen und der Sozialverbände. Sie helfen in schwierigen und schwierigsten Situationen. Sie setzen sich Tag für Tag mit dem Problem, das wir heute diskutieren, auseinander.
    Sie sind aber gleichzeitig auch einem großen Druck ausgesetzt. Denn sie werden nicht nur mit materiellen, sondern auch mit menschlichen und seelischen Problemen konfrontiert, die ihre Möglichkeiten oft übersteigen. Manchmal ballen sie auch die Faust in der Tasche, weil ihr Gegenüber versucht, das System auszunutzen. Auf der anderen Seite fehlt ihnen oft die Zeit, um so zu beraten, wie es fachlich geboten wäre.

    (Zuruf der Abg. Ingrid Holzhüter [SPD])

    - Es ist einfach unehrlich, liebe Frau Kollegin, wenn wir uns beim Thema Sozialhilfe die Dinge nicht wirklich genau anschauen. Wir müssen einen Beitrag für die Menschen leisten, die wirklich Hilfe brauchen, und diesbezüglich für die entsprechende Verstärkung sorgen, aber wir müssen auf der anderen Seite
    auch darauf achten, daß kein Mißbrauch aufkommt. Das gleiche gilt auch im Steuerrecht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ingrid Holzhüter [SPD]: Überall müssen wir Mißbrauch bekämpfen, überall! Horst Kubatschka [SPD]: Bei der Steuerhinterziehung! Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das haben Sie doch wohl nicht nötig!)

    Der Grundgedanke des Bundessozialhilfegesetzes ist nicht nur, ein menschenwürdiges Leben zu garantieren. Der Grundgedanke ist, Menschen zu befähigen, Armutslagen aus eigener Kraft zu verlassen.
    Wenn wir uns einmal von den Klischees abwenden und uns den Fakten zuwenden, dann finde ich das Hochinteressante im Bericht der Bundesregierung: Es ist millionenfach gelungen, mit nur einer kurzfristigen Überbrückungshilfe den dauerhaften Rückstieg in die eigene Erwerbsfähigkeit und in die Selbstversorgung zu garantieren. Das finde ich eine beachtliche Leistung, und das muß in dieser Stunde auch angesprochen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
    Wer wie die SPD in ihrer Anfrage Sozialhilfe mit Armut gleichsetzt, der mißversteht den Sozialstaat. Außerdem - das zweite Problem - stigmatisiert er die Menschen, die auf diesen Rechtsanspruch angewiesen sind. Damit leistet er vielleicht unfreiwillig einen Beitrag dazu, daß sie diesen Rechtsanspruch für sich gar nicht realisieren.
    Es trifft zu, daß die Zahl der Sozialhilfeempfänger und die Summe der Aufwendungen für Sozialhilfe gestiegen sind. Das liegt aber nicht daran, daß Deutschland ärmer geworden wäre. Es liegt daran,

    (Horst Kubatschka [SPD]: Daß einige dicker geworden sind!)

    daß sich der Kreis der Anspruchsberechtigten stark verändert hat. Heute ist der Anteil der Ausländer unter den Sozialhilfeempfängern erheblich höher als noch vor zehn Jahren. Ohne diesen Anstieg gäbe es gegenwärtig rund 600 000 Sozialhilfeempfänger pro Jahr weniger. Bezogen auf die alten Bundesländer ist das immerhin ein Plus von 30 Prozent.
    Damit wird deutlich: Das, was die SPD in dieser Debatte als Armutsproblem darstellen will, hat in Wahrheit ganz maßgeblich mit der Übernahme humanitärer Aufgaben und mit unserem Asylrecht zu tun. Es relativiert das Problem nicht, stellt es aber in einen anderen Zusammenhang.
    Wir übernehmen in Deutschland in großem Maße humanitäre Aufgaben für Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Hunger flüchten. Dafür stehen wir, aber dafür lassen wir uns dann nicht von Ihnen vorhalten, wir hätten ein wachsendes Armutsproblem, meine Damen und Herren.
    Armut wird in Deutschland durch die Leistungen der Sozialhilfe wirksam verhindert. Gleichwohl gibt es tragische Lebensläufe, die zu schweren Notlagen führen können.

    (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Unter anderem Ihre Politik!)


    Peter Hintze
    Ich denke an Obdachlose, die ein Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen hat und die in ihrer Lebenssituation resignieren. Ich denke an drogenabhängige Jugendliche, die jeden Kontakt zu ihrer Familie verloren haben.
    Zu Ihrem Zwischenruf muß ich sagen: Es ist wirklich traurig und wird der Situation nicht gerecht. Ich war zu einer Zeit in einer Kirchengemeinde tätig, da waren Sie noch für die Politik verantwortlich. Ich habe dort das Problem der Obdachlosigkeit kennengelernt.

    (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Offensichtlich haben Sie ein schlechtes Gedächtnis!)

    Es ist einfach fahrlässig, so darüber zu reden, als ließe sich die Sache einer politischen Maßnahme zuordnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Menschen brauchen nicht derartige einseitige Zuordnungen. Diese Menschen brauchen Hilfe. Aber es gehört auch zu einer solchen Debatte, daß es uns bewußt ist, daß Politik hier immer wieder an Grenzen stößt und daß wir es wahrscheinlich nie schaffen werden, jedem Menschen in jeder persönlichen Problemlage gerecht zu werden.
    In der öffentlichen Diskussion wird zwischen relativer und absoluter Armut unterschieden. Sie, Herr Kollege Spanier, haben das eben auch getan. Absolute Armut als physische Existenzbedrohung kennen wir in der Dritten Welt. Viele hundert Millionen Menschen haben keinen Zugang zu unverseuchtem Wasser, leiden an Mangel- und Unterernährung und sind Krankheiten schutzlos ausgeliefert. Der Bericht der Weltbank, der gestern veröffentlicht wurde, spricht eine bedrückende Sprache.
    Es gibt auch Armutsdefinitionen, die nicht von einem absoluten Mangel ausgehen, sondern die Armut als Unterschreitung eines bestimmten Anteils am Durchschnittseinkommen verstehen. Diesen Armutsbegriff haben Sie eben angesprochen. Der Begriff führt aber in die Irre, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil Länder mit niedrigem Einkommensniveau und einer schlechten Einkommensverteilung viel weniger Armut leiden als Länder mit einem hohen Einkommensniveau und einer größeren Einkommensverteilung. Da lauern manche statistische Fallen.

    (Beifall des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])

    Was in diesem Haus passiert ist, daß nämlich die Situation in Deutschland mit der in Mexiko verglichen wurde, ist Ergebnis genau einer solchen relativen Betrachtungsweise, meine Damen und Herren. Relativ mag es beispielsweise den Menschen in Mexiko besser gehen als denen in den USA, aber die Menschen gehen von Mexiko in die USA und nicht von den USA nach Mexiko, weil sie nicht unsere relative Betrachtungsweise interessiert, sondern das, was sie wirklich an Möglichkeiten zum Leben haben. Deswegen führt eine solche relative Betrachtungsweise in die Irre.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ein zweiter Gedanke: Nehmen wir einmal an, das Einkommen aller Menschen in Deutschland würde sich verdrei-, vender- und verfünffachen, so würde sich nach Ihrem Armutsbegriff an der Armutssituation in Deutschland nichts ändern, weil das Verhältnis der verschiedenen Einkommen dann unverändert bestehen bliebe.

    (Zuruf von der SPD: Zahlenspielerei!)

    Die neuere Forschung in Deutschland ist sich darüber einig, daß Menschen im wesentlichen aus zwei Ursachen in eine Armutslage geraten können. Die erste Ursache wird als biographischer Bruch bezeichnet - Scheidung, Arbeitslosigkeit, Tod eines nahen Angehörigen, Überschuldung, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit.
    Die zweite Ursache ist die unzureichende Ausstattung mit einem immer wichtiger werdenden „Lebensmittel", mit Bildung. Das gilt für fehlende Schulabschlüsse, mangelhafte Berufsausbildung und die Unfähigkeit, mit veränderten Lebenssituationen umzugehen. Deshalb ist es ganz wichtig, daß wir dieses Thema nicht nur als ein sozialpolitisches Thema verstehen, sondern erkennen, daß es sich bei der Überwindung von Armutslagen und bei dem Bestreben von Menschen, aus Armutslagen herauszukommen, um eine bildungspolitische Aufforderung an alle, die damit zu tun haben - Bund, Länder und Gemeinden -, handelt.