Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fand den Beitrag des Kollegen Fink ganz interessant. Ich denke, er ist auch lohnenswert zu diskutieren, aber mit unserem Thema hat er sich nicht so ganz beschäftigt.
Es ist eine Erfahrung: In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zum Thema Armut in der Bundesrepublik wiederholt sich in beängstigender Weise eine immer wiederkehrende Reaktion der Bundesregierung. Ob nun die Caritas, der DPWV, die Arbeiterwohlfahrt oder die Nationale Armutskonferenz auf der Grundlage öffentlich zugänglicher Daten und auf der Grundlage eigener Untersuchungen Armutsberichte vorlegen, die Bundesregierung erklärt, die Zahlen seien nicht repräsentativ, sie seien nicht aussagekräftig, es handele sich um Horrorgemälde.
So wichtig, Herr Hintze, Dank und Anerkennung an die Mitarbeiter all dieser Organisationen sind, es wäre um ein Vielfaches wichtiger, wenn Sie diese Untersuchungen ernst nähmen und sich ehrlich mit den Mitarbeitern auseinandersetzten. Dann würden sich die Fäuste vielleicht an einer anderen Stelle ballen, als Sie das vermutet haben.
Dann wird immer wieder die Frage gestellt, wie Armut in der Bundesrepublik zu definieren sei; es werden immer alle bisher verwendeten Armutsdefinitionen als ungeeignet verworfen. Die Bundesregierung hat jetzt in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage eine neue Definition vorgelegt. Armut ist der „Mangel an Mitteln zur Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft". Aber weil sie weiß, daß das zu kurz greift, sagt sie darüber hinaus, Armut sei so komplex, daß eine Festlegung in einer Armutsdefinition nicht möglich sei.
Ulrike Mascher
So kann man sich an dem Problem natürlich auch vorbeimogeln.
Dann werden immer die erheblichen Kosten der Sozialhilfe dargestellt, und die SPD wird beschuldigt, nicht schnell genug die Rotstiftpolitik der Bundesregierung zu unterstützen oder nicht rasch genug dafür zu sorgen, daß Flüchtlinge wieder in ihr zerstörtes Heimatland zurückkehren. Deswegen sei die SPD auch an den hohen Sozialhilfekosten und der Armut mit schuld.
Ich finde diese selbstgerechte Politik der Bundesregierung schwer erträglich. Sehen Sie denn nicht die steigende Zahl der Langzeitarbeitslosen unter den Sozialhilfeempfängern, die steigende Zahl der überschuldeten Haushalte, die vielen Frauen mit Kindern, die von Sozialhilfe leben müssen, weil unsere sozialen Sicherungssysteme nicht „armutsfest" sind, wie die Caritas sagt, und weil sich die unterhaltsverpflichteten Väter zu 80 Prozent stillschweigend ihren Verpflichtungen entziehen?
Glauben Sie denn wirklich, mit spitzfindigen Debatten über Armutsdefinitionen und globale Horizonte ist den 20 Prozent alleinerziehenden Frauen geholfen, die dauerhaft oder vielleicht nur neun oder zehn Jahre von der Sozialhilfe leben müssen? Gott sei Dank kommen sie dann auch wieder heraus, aber das ist ja lange genug.
Können Sie sich denn überhaupt vorstellen, meine Herren, aber auch einige Damen, was es heißt, Kleider, Schuhe, Unterwäsche aus den städtischen Kleiderlagern zu bekommen oder mit Gutscheinen des Sozialamtes einkaufen zu müssen? Können Sie sich vorstellen, was es heißt, einem Kind alles das, was unsere bunte Reklamewelt täglich vorführt, immer wieder ablehnen zu müssen oder immer rechnen zu müssen, ob das Super-Magnum-Eis nun noch drin ist, ob es für ein Fahrrad reicht, was es heißt, Freizeitaktivitäten, einen Oktoberfestbesuch in München, ein Karnevalsfest, einen Kindergeburtstag - alles immer nicht finanzierbar - immer wieder neu beim Sozialamt zu erkämpfen? Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet? Die gleichberechtigte Teilhabe in unserer Gesellschaft ist da eine unerreichbare Fata Morgana.
Frau Bergmann-Pohl hat für ihre am 13. Juni nicht gehaltene Rede zu unserer Großen Anfrage formuliert:
Natürlich erlaubt Sozialhilfe keinen üppigen Lebensstil. Das soll sie auch nicht. Sozialhilfe soll Brücken für die Rückkehr in das Erwerbsleben schaffen.
Frau Bergmann-Pohl, wo sind denn die Arbeitsplätze für alleinerziehende Frauen? Wo sind die flächendeckenden Kinderbetreuungsangebote, die eine Erwerbsarbeit möglich machen? Ich weiß, es gibt in einigen Städten ausreichende Angebote, aber flächendeckend sind sie noch lange nicht vorhanden.
Wie können Alleinerziehende, die keinen beruflichen Abschluß haben, eine Berufsausbildung durchsetzen und realisieren? Kennen Sie den elenden
Kampf von Frauen bei ihrem Sozialamt, um eine Berufsausbildung durchzusetzen?
Welche Besitzstände sollen denn hier eigentlich auf den Prüfstand gestellt werden?
Selbst die Bundesregierung kann die Tatsache nicht ganz ausblenden, daß alte Frauen, obwohl sie einen Anspruch auf Sozialhilfe haben, aus Scham und aus Angst vor dem Rückgriff auf die Kinder nicht zur Fürsorge gehen. Sie leben oft in elenden Wohnverhältnissen mit einer unzureichenden Gesundheitsversorgung, fast unsichtbar in unserer Gesellschaft. „Verschämte Armut" heißt das dann offiziell.
Sichtbarer ist die steigende Zahl obdachloser Frauen. Findet es die Frauenministerin nicht alarmierend, daß Frauen, die obdachlos sind, häufig massiver Gewalt ausgesetzt sind, in sexuelle Abhängigkeiten geraten und chronisch krank sind? Ihre Staatssekretärin kennt offenbar die Probleme; ihre Antwort ist allerdings hilflos. Ich zitiere:
Das Leben in der Obdachlosigkeit ist in der Regel durch gewalttätige Beziehungen geprägt. Um auf der Straße überleben zu können, suchen Frauen oft ein vorübergehendes Unterkommen bei einem Mann oder den Schutz durch andere obdachlose Männer. Diese Abhängigkeit führt zur Gewalterfahrung.
Auch in den Obdachlosenheimen kommt es nach Angaben der zuständigen Hilfeeinrichtungen vielfach zu sexuellen Übergriffen, wenn Frauen und Männer dort gemeinsam ohne besondere Schutzräume untergebracht werden. Im Zuge unseres Modellvorhabens sollen deshalb unter anderem geschützte Wohnformen für obdachlose Frauen eingerichtet und erprobt werden.
Ich frage Sie: Welche Besitzstände sollen denn hier überprüft werden? Glauben Sie denn wirklich, daß diesen Frauen mit Modellprojekten geholfen ist?
Frauen brauchen solche Projekte vielleicht als Anstoß. Aber wir brauchen für alle Frauen Erwerbsarbeit. Wir brauchen eine soziale Absicherung und keine 590-DM-Jobs. Frauen brauchen eine bedarfsabhängige Mindestsicherung, um die verschämte Armut nach einem Leben voll schlechtbezahlter Erwerbsarbeit und/oder Kindererziehung, Familienarbeit und Pflege von Angehörigen endlich zu beenden, damit sie nicht mehr von der Oberfläche unserer Gesellschaft verschwinden müssen.
Alleinerziehende Frauen brauchen ein Betreuungsangebot für Kinder in allen Altersklassen, das Erwerbsarbeit möglich macht und keine dauernden organisatorischen Seiltänze erfordert. Frauen brauchen bezahlbaren Wohnraum und mehr Schutz und Hilfe vor gewalttätigen Partnern. Modellvorhaben sind vielleicht ein Anfang, aber sicher nicht ausreichend. In all diesen Bereichen, Herr Westerwelle, ist die Politik der Bundesregierung höchst unzureichend.
Ulrike Mascher
Ein Letztes schreibe ich Ihnen ins Stammbuch: Das vielfältige Netz sozialer Hilfen von Kirchen, von Wohlfahrtsverbänden, von Städten und Gemeinden und in steigendem Maß auch von Selbsthilfegruppen als „verstaatlichte Solidarität" abzuqualifizieren zeigt zwar demagogische Qualitäten, aber es zeigt weder Herz noch Verstand.