Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Armut ist stumm, tabuisiert, wehrlos. Das stellt der Armutsbericht des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes aus dem Jahre 1994 fest.
Ziel der Großen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zur Armut in Deutschland und unser Ziel in der heutigen Debatte ist, der Armut im Bundestag eine Stimme zu geben, das Tabu zu brechen und zu helfen, die Wehrlosigkeit zu überwinden. Auf Grund der Erfahrungen der letzten Monate in diesem Parlament erwarte ich: Wer Armut aufdeckt, wird als linker Dramatisierer, als Miesmacher, der die Zukunftsangst der Menschen schürt, abgestempelt. So hat sich auch der Kanzler in seiner Haushaltsrede vor 14 Tagen geäußert, in der er uns vorwarf, wir hingen veralteten Verelendungstheorien an, in der er uns unterstellt hat, daß wir offensichtlich in zwei verschiedenen Ländern leben. Wer so weit von oben wie der Bundeskanzler, sozusagen umhüllt vom Mantel der Geschichte, die Dinge betrachtet, der nimmt sie offensichtlich nicht mehr richtig wahr.
Es geht nicht um Theorien; es geht um die harte soziale Wirklichkeit, die Millionen Menschen, die in Armut oder mit Armutsrisiko leben müssen, Tag für Tag erfahren. Es geht darum, daß der Kanzler - ich spreche ihn ganz bewußt persönlich an - und mit ihm viele in der Koalition blind für die Schattenseite unserer Gesellschaft sind, ich glaube sogar, blind sein wollen für die zunehmende Armut mitten im Wohlstand. Dieses Thema soll heute im Mittelpunkt stehen.
2,5 Millionen Menschen sind auf den Bezug von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen, und darunter - diese Zahl finde ich besonders erschreckend - sind nahezu 1 Million Kinder. Die Steigerungsraten in den letzten drei Jahren lagen jeweils bei 6 bis 7 Prozent. Das stranguliert die Finanzkraft der Kommunen. In meinem Wahlkreis, dem Kreis Herford, ist die Zahl zwischen 1993 und 1995 um 30 Prozent gestiegen, und das bei einer Arbeitslosenquote von deutlich unter 10 Prozent.
Eine Reihe von Ihren Entscheidungen im Bundestag hat dazu beigetragen. Ein Beispiel: Die drastische Kürzung der Sprachkurse für Aussiedlerinnen und Aussiedler hat bei uns die Zahl der Sozialhilfebezieher schlagartig um 1 000 nach oben getrieben.
Hinzu kommt die Dunkelziffer: Über 700 000 Menschen nehmen Sozialhilfe nicht in Anspruch, obwohl sie einen Anspruch darauf hätten.
- Das ist eine sehr vorsichtige Schätzung, die auf Zahlen beruht, die in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zu finden sind. Das ist eine sehr, sehr vorsichtige Schätzung.
Über 900 000 Menschen sind wohnungslos. Auch diese Zahl stammt von der Bundesregierung und ist im Nationalbericht zur Habitat zu finden. Von diesen 900 000 Menschen leben 200 000 auf der Straße; darunter sind 50 000 Straßenkinder; so die Schätzung der Bundesfamilienministerin. Sie hat dem Vernehmen nach allerdings - das will ich gerne einräumen - sofort energisch reagiert: mit einem Forschungsauftrag.
Hinzu kommt eine Entwicklung, die in den neuen Bundesländern bereits zu beobachten ist, die aber auch in den alten Bundesländern stärker wird: Immer
Wolfgang Spanier
mehr Menschen geraten mit ihrem verfügbaren Einkommen unter das Existenzminimum des Sozialhilfesatzes, obwohl sie Arbeit haben. Die Zahl der unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsplätze steigt.
Sie sagen: Wer arbeitet, soll mehr verdienen als derjenige, der nicht arbeitet. Richtig. Nur: Wer arbeitet, soll so viel verdienen, daß er seinen Lebensunterhalt allein bestreiten kann.
Wer den Lohn bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf 75 Prozent absenken will und wer Niedriglöhne fordert, der erhöht die Zahl der arbeitenden Armen.
Die Bundesregierung kennt diese Fakten. Dennoch sagt sie: Armut ist kein Problem; die bewährten sozialen Sicherungssysteme sind ausreichend.
Aber nicht nur die Caritas hat Sie darauf aufmerksam gemacht: Die der Sozialhilfe vorrangigen sozialen Sicherungssysteme sind eben nicht mehr armutsfest. Ihre 130 Einschnitte in das soziale Netz seit 1982 haben das im wesentlichen bewirkt.
Die Entwicklung von Mieten und Wohngeld ist ein Beispiel. Die Kollegin Eichstädt-Bohlig hat hier gestern aufgezeigt, daß durch den deutlichen Anstieg der Mieten in den letzten Jahren bei einem Wohngeld, das seit 1990 nicht angepaßt worden ist, immer mehr Bezieher von kleinen Einkommen durch die hohen Mieten mit dem dann noch verfügbaren Einkommen unter das Existenzminimum der Sozialhilfe gedrückt werden.
Die Bundesregierung kennt natürlich diese Fakten; sie verdrängt sie aber. In einem ganz entscheidenden Punkt wird das in der Antwort der Bundesregierung klar. Die Armut wird gleichsam wegdefiniert. Die Bundesregierung sagt: Armut gibt es bei uns nicht, wenigstens nicht in nennenswertem Umfang; denn es gibt die Sozialhilfe. Sie sagt: Sozialhilfe ist bekämpfte Armut. Schon bei der Großen Anfrage 1986 ist Ihnen dazu nicht viel mehr als diese Aussage eingefallen.
Selbstverständlich kann man über die Armutsdefinition der Europäischen Union, die Armutschwelle liege bei 50 Prozent des durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommens, diskutieren. Letztlich ist natürlich jede Definition von Armut, gemessen am Einkommen, eine Frage der gesellschaftlichen Übereinkunft, eine normative Setzung. Damit ist sie aber noch lange nicht beliebig. Die Definition hängt vor allem davon ab, welchen Grad an Ungleichheit der Lebenschancen und Lebensbedingungen wir in dieser reichen Gesellschaft als gegeben hinzunehmen bereit sind, bis zu welchem Grad die Notlage anderer Menschen für diejenigen, die im Wohlstand leben - wir alle gehören dazu -, zumutbar erscheint.
Es ist richtig: Bei uns handelt es sich um relative Armut, eben um Armut im Wohlstand. Das ist natürlich eine andere Armut als die in den Slums von Rio de Janeiro oder Kalkutta. Wenn die Bundesregierung sagt, Sozialhilfe ist bekämpfte Armut, dann heißt das, laufende Hilfe zum Lebensunterhalt sichert die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, sichert Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Das Existenzminium wird eben gerade gesichert.
Hier liegt der Fehler. Wer sich die tatsächliche Lebenslage der Betroffenen genauer ansieht, stellt fest, daß diese Sicherung sehr oft nicht mehr ausreichend ist. Kinder, die in einkommensarmen Haushalten aufwachsen, sind in ihrer seelischen, gesundheitlichen und schulischen Entwicklung nachweislich benachteiligt. Verschärft wird die Situation dadurch, daß ein Leben am Rande des Existenzminimums - das heißt Sozialhilfe - nur allzuoft zu Verschuldung, zu Suchtabhängigkeit und zu Gewalt in Familien führt.
Leben am Rande des materiellen Existenzminimums bedeutet Unterversorgung, zum Beispiel beim Wohnen. Wissen wir, was es bedeutet, in einem Container zu leben, in einer sogenannten Schlichtwohnung für obdachlose Familien in den Armutsgettos unserer Großstädte?
Leben am Rande des materiellen Existenzminimums bedeutet auch gesundheitliche Unterversorgung. Was heißt das? Arbeitslose haben ein doppelt so hohes Sterberisiko wie Beschäftigte. Personen in der Altersgruppe zwischen 35 und 44 Jahren der untersten sozialen Schicht weisen bereits ebenso viele chronische Krankheiten und Einschränkungen auf wie die über 75jährigen in der obersten sozialen Schicht. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Armut und Lebenserwartung; so die Untersuchungsergebnisse der Medizinischen Hochschule Hannover.
Zur Lebenslage der Menschen am Rande des materiellen Existenzminimums gehört auch die Erfahrung der sozialen Ausgrenzung. Ich nenne Ihnen nur zwei kleine Beispiele. Können wir uns wirklich vorstellen - ich sage ganz bewußt „wir" -, was es heißt, an Kindergeburtstagen nicht teilnehmen zu können, weil man das Geschenk nicht bezahlen und die Gegeneinladung nicht aussprechen kann, was es heißt, die persönlichen Ausgaben so radikal reduzieren zu müssen, daß man sich nicht einmal eine Kinokarte oder ein Eis leisten kann? Diese Fragen mag mancher hier im Raum für läppisch halten; aber sie treffen, glaube ich, in ihrer Anschaulichkeit ganz konkret die Situation der sozialen Ausgrenzung.
Die Bundesregierung leugnet diese Armut, die mit Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung mit einer Reihe von Nebenwirkungen einhergeht. Sie stellt sich selbst damit ein Armutszeugnis aus.
Meine Damen und Herren, wer über Armut redet, darf über Reichtum nicht schweigen. Die Antwort der Bundesregierung blendet die wachsende Ungleichheit der Verteilung, die stärker werdende Polarisierung der Gesellschaft völlig aus. Reichtum in der Bundesrepublik ist nicht stumm, aber verschwiegen. Er ist tabuisiert. Er ist keineswegs wehrlos, sondern höchst einflußreich - bis in dieses Parlament hinein.
Wolfgang Spanier
Die Gesellschaft driftet zunehmend auseinander in eine Bevölkerungsmehrheit in der Wohlstandszone, zu der auch wir gehören, und eine große Minderheit in den Armutszonen. Ich kann das heute hier nur mit einigen Daten belegen. Die Konzentration des Geldvermögens von nahezu 5 Billionen DM in unserem Land beschleunigt sich. Die obersten 5 Prozent der Einkommensbezieher verfügen über 30 Prozent des Geldvermögens. Seit 1985 sind die Gewinne brutto um 70 Prozent, aber netto um rund 113 Prozent angewachsen. Ursache für diese Diskrepanz: Ihre Steuerpolitik. Der Rückgang der Gewinnbesteuerung, die vielen legalen Steuerschlupflöcher beschleunigen zusätzlich - offensichtlich ganz bewußt - diese ungleiche Verteilung.
Es geht nicht darum, Reichtum zu verteufeln. Aber wir sind das Land der angedrohten Steuern. Der reale Einkommensteuersatz der Einkommensmillionäre mit 10 und mehr Millionen DM Einkommen im Jahr lag 1989 bei sage und schreibe nur 34 Prozent. Wir sind das Land der degressiven Steuern für Millionäre. Wenn nur diese höchste Einkommensgruppe den normalen Steuersatz tatsächlich gezahlt hätte, hätte das ein Einnahmeplus von 10 Milliarden DM gegeben - und das beim Stand von 1989. Neuere Zahlen liegen leider nicht vor.
Sie sagen immer: Es kann nicht mehr verteilt werden, weil das Wachstum fehlt. Sie verteilen aber ständig.
Von Ihnen gewollt, läuft eine gewaltige Umverteilung von unten nach oben.
Die Verteilungsfrage, der gerechte Lastenausgleich, ist eine der zentralen politischen Aufgaben, wenn wir Armut wirksam bekämpfen und gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken wollen. Das hat Rudolf Scharping zu Recht immer wieder eingefordert. Der Markt reguliert das nicht.
Mit Ihren ideologischen Kampfbegriffen vom Sozialmißbrauch einerseits und Sozialneid andererseits wollen Sie offensichtlich die Bereitschaft der Menschen in der Wohlstandszone zu einem fairen Lastenausgleich verhindern.
Ihre neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, vom Kürzungspaket bis zur Steuerpolitik - Vermögensteuer! -, vom Arbeitsförderungsdeformierungsgesetz - ich weiß gar nicht, warum Sie das Reformgesetz nennen - bis zur nächsten Kürzungsrunde im Gesundheitswesen, verschärft die soziale Schieflage. Einige von Ihnen geben das offen und öffentlich zu, zum Beispiel Herr Lambsdorff. Ich habe mehrfach von ihm gehört: Ja, unsere Vorschläge haben eine soziale Schieflage. - Sie wollen sie offensichtlich noch weiter verschärfen.
Meine Damen und Herren, in unserer Entschließung fordern wir einen nationalen Armutsbericht. Sie wollen das nicht, obwohl die Antwort der Bundesregierung deutlich macht, wie unvollständig und ungenau die Daten sind. Unsere Entschließung greift Anträge auf, die wir in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Wir wollen aber auch darüber hinausgehen. Der Bundestag muß sich mit der Frage der sozialen Grundsicherung, die unabhängig von der Erwerbsarbeit das Armutsrisiko vermeidet, beschäftigen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen mit einem Zitat des Erzbischofs von Berlin, Georg Kardinal Sterzinsky. Er schreibt im „Tagesspiegel" vom 11. April 1996:
Über Ursachen von Armut und soziale Ausgrenzungsstrukturen besteht in unserer Gesellschaft kein Konsens. Deshalb ist eine Armutsdiskussion, die wegen wechselseitiger Zusammenhänge eine Reichtumsdiskussion einschließt, dringend geboten. Armut und aus ihr resultierende Gefahren für Demokratie, etwa in Form von politischer Radikalisierung, müssen analysiert werden, Konsequenzen müssen gezogen werden. Auch die Frage, inwieweit Eigentum sozial verpflichtet, darf kein Tabu bleiben. Gefragt sind Strategien wirksamer Armutsbekämpfung, deren effektive Kontrolle und entsprechende Sensibilisierung der Bevölkerung. Wichtiger erster Schritt wäre der seit langem geforderte nationale Armutsbericht.
Diese Sensibilisierung ist bei uns allen in diesem Hause notwendig, vor allem auch beim Bundeskanzler, der in den letzten Wochen und Monaten kein Wort darüber verloren hat, was er den kleinen Leuten zumutet.
Der Kanzler kennt die Sorgen der kleinen Leute offensichtlich nicht.
Ihre Gnaden lassen fernsehgerecht Leutseligkeit inszenieren, in Talkshows und bei Fußballeuropameisterschaften.
Herzlichen Dank.