Rede von
Iris
Follak
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihre Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, - so hätte Schiller den vorherigen Beitrag kommentiert.
Wir von der Opposition haben wirklich nicht die Aufgabe, Ihnen bei Ihren Schönwettermalereien auch noch den Farbtopf zu halten.
Unsere Armut ist freilich nicht derselben Natur wie die in den Entwicklungsländern. Sie hat auch nicht die Dimension der neuen Armutswelle in Osteuropa, wie beispielsweise in Bulgarien oder Rumänien.
Aber ich frage Sie allen Ernstes: Wollen und können wir bei unserem Bruttosozialprodukt etwa damit verglichen werden? Wenn Sie sich auf dieses Niveau begeben, beschädigen Sie den Sozialstaat Deutschland fundamental.
Dies werden wir Sozialdemokraten nicht zulassen. Dafür haben wir viel zuviel politische Substanz eingebracht.
Spüren Sie nicht, wie sich eine neue Subkultur armer Menschen bildet, die nur wenig Unterstützung von der Gesellschaft erhält, die von uns Politikern nichts mehr wissen will, die mit der Politik abgeschlossen hat, die nichts mehr von diesem Staat erwartet, weil ihr der Staat die Türen zum Ausstieg öffnet, aber offene Türen zum Einstieg fehlen?
Wer wie ich seit nunmehr zwei Jahren zahlreiche Zwangsräumungen miterlebt hat, in Gefängnisse geht, Obdachlosenhäuser, Sozial- und Arbeitsämter aufsucht, um den Menschen, die ich dort treffe, zuzuhören, der redet hier nicht wie der Blinde von der Farbenwelt, sondern der erlebt Armut Tag für Tag.
Mit welchen Menschen sprechen Sie eigentlich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie durch das Land gehen? Sicherlich nicht mit den Schwachen dieser Gesellschaft.
Armut ist eine Ansammlung verschiedenster Mißstände, bei denen Ursache und Wirkung klar zu unterscheiden sind. Es handelt sich nämlich häufig um einen Teufelskreis und fördert den sozialen Unfrieden.
Armut hat sich seit Anfang der 80er Jahre zu einem zentralen sozialpolitischen Problem entwickelt, das mit der Wiedervereinigung an zusätzlicher Brisanz gewonnen hat. Während die alten Bundesländer in einer Übergangsphase vom Vereinigungsprozeß wirtschaftlich erheblich profitiert haben, wurden die neuen Bundesländer mit einer tiefgreifenden sozialökonomischen Struktur- und Anpassungskrise konfrontiert, die, wie es immer augenscheinlicher wird, noch einen längeren Zeitraum andauern wird.
Für Ostdeutschland versprach der Herr Bundeskanzler zwar blühende Landschaften, aber es werden nach wie vor Weichen für den sozialen Abstieg vieler Menschen gestellt.
Wie wollen Sie eigentlich einem Jugendlichen Ihres Wahlkreises erklären, daß er keinen Beitrag für
Iris Follak
seinen Zahnersatz erhält und eine neue Brille ebenfalls nicht bezuschußt wird?
Aber vielleicht sagen Sie ihm, daß er sowieso keinen Durchblick und auch keinen Biß mehr braucht, da er mit seinem Leben nichts anzufangen weiß, weil es ohnehin keine Lehrstelle geben wird.
Wenn die Dinge des Lebens nicht mehr lebenswert und nicht mehr erreichbar sind, dann besteht der Alltag nur noch aus einem einzigen Überlebenskampf. Dieser Aspekt ist bei allen unschuldig verarmten Menschen gleich, egal, ob sie in den neuen oder alten Bundesländern leben. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß die Bürgerinnen und Bürger aus Ostdeutschland auf Grund verschiedenster Umstände schneller in die Armut geraten können.
Ich möchte in diesem Zusammenhang die denkwürdigen Worte unseres Herrn Bundeskanzler zitieren, die er nach der Wende sagte: Es wird keinem schlechter-, aber vielen bessergehen.
Tatsache ist, daß 1 135 000 Männer und Frauen in den neuen Bundesländern von Arbeitslosigkeit betroffen sind. 4,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger leben unterhalb der Grenze der Einkommensarmut, das heißt, sie müssen mit weniger als 623 DM im Monat auskommen. 288 000 Männer, Frauen und Kinder in den neuen Bundesländern sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Diese Zahlen zeigen doch wohl mehr als deutlich, daß dieser Satz, den viele Ostdeutsche geglaubt haben und glauben wollten, jeglichen Realitätsbezug verloren hat
und durch die Politik dieser Regierung als falsch entlarvt worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden zukünftig dafür arbeiten müssen, ein wenig Farbe durch Perspektiven, Hoffnung und Zuversicht in das graue Alltagsleben von armen Menschen zu bringen. Meine Partei wird dafür kämpfen, daß die Schere zwischen arm und reich nicht weiter auseinandergeht.
Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, fordere ich hiermit auf: Machen Sie endlich Schluß damit, dem kleinen Mann in die Tasche zu greifen!