Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich zunächst nachträglich Herrn Kollegen Rawe ganz herzlich gratulieren. Er feierte am 7. Februar seinen 60. Geburtstag. Ich spreche Ihnen in unser aller Namen nachträglich unsere herzlichsten Glückwünsche aus.
Aber er ist nicht anwesend.Aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes ist der Abgeordnete Wimmer als ordentliches Mitglied ausgeschieden. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Abgeordneten Wilz vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Damit ist der Abgeordnete Wilz als ordentliches Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses bestimmt.Aus dem Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank ist Herr Heinz Rapp vorzeitig ausgeschieden. Die Fraktion der SPD schlägt vor, für die Restdauer der Mitgliedschaft seines Vorgängers den Abgeordneten Pfuhl zu bestimmen. Sind Sie damit einverstanden? — Damit ist der Abgeordnete Pfuhl gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 des Ausgleichsbankgesetzes als Mitglied in den Verwaltungsrat entsandt.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuches — Eindämmung der Spielhallenflut und sonstiger städtebaulich nicht vertretbarer Nutzungen — Drucksache 11/3952 —2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Verhülsdonk, Dr.-Ing. Kansy, Dr. Hornhues, Sauer , Dr. Langner, Frau Dempwolf, Ruf, Fuchtel, Pesch, Frau Dr. Hellwig, Dr. Grünewald, Marschewski, Kroll-Schlüter, Frau Limbach, Funk (Gutenzell), Schulze (Berlin), Müller (Wadern), Müller (Wesseling), Graf von Waldburg-Zeil, Neumann (Bremen), Frau Dr. Wisniewski, Dr. Möller, Dr. Schroeder (Freiburg), von Schmude, Schwarz, Hinsken, Hauser (Esslingen), Dr. Friedrich und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Lüder, Dr. Hitschler, Dr. Solms, Dr. Feldmann und der Fraktion der FDP: Verhinderung von negativen städtebaulichen Auswirkungen von Spielhallen und Änderung der umsatzsteuerlichen Behandlung von Geldspielgeräten — Drucksache 11/3999 —3. Aktuelle Stunde: Die Situation in Afghanistan4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiss , Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN: Ausbau der Bundesbahnstrecke München—Mühldorf—Freilassing — Drucksache 11/3973 —5. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu einer möglichen Beteiligung deutscher Firmen an einer C-WaffenProduktion in Libyen6. Aktuelle Stunde: Aktuelle Probleme der Wohnungsbaupolitik der BundesregierungZugleich soll mit der Aufsetzung der Zusatzpunkte — soweit erforderlich — von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Auch das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 der Tagesordnung auf:3. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. April 1988 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Simbabwe zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen, vom Vermögen und von den Gewinnen aus der Veräußerung von Vermögen— Drucksache 11/3645 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeitb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes— Drucksache 11/3915 —
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9128 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Präsidentin Dr. SüssmuthÜberweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
Rechtsausschuß Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Bildung und Wissenschaftc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Straßenbaubericht 1987— Drucksache 11/3069 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Saibold und der Fraktion DIE GRÜNENVerbesserung des Produkthaftungsgesetzes— Drucksache 11/3718 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheite) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in Düsseldorf gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung— Drucksache 11/3797 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschußf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Daniels , Stratmann, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNENEnergiesparprogramm für den Wärmemarkt— Drucksache 11/2318 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
FinanzausschußAusschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauAusschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für Bildung und WissenschaftAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschußZP1 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuches — Eindämmungder Spielhallenflut und sonstiger städtebaulich nicht vertretbarer Nutzungen —— Drucksache 11/3952 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
InnenausschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und GesundheitZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Verhülsdonk, Dr.-Ing. Kansy, Dr. Hornhues, Sauer , Dr. Langner, Frau Dempwolf, Ruf, Fuchtel, Pesch, Frau Dr. Hellwig, Dr. Grünewald, Marschewski, Kroll-Schlüter, Frau Limbach, Funk (Gutenzell), Schulze (Berlin), Müller (Wadern), Müller (Wesseling), Graf von Waldburg-Zeil, Neumann (Bremen), Frau Dr. Wisniewski, Dr. Möller, Dr. Schroeder (Freiburg), von Schmude, Schwarz, Hinsken, Hauser (Esslingen), Dr. Friedrich und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Lüder, Dr. Hitschler, Dr. Solms, Dr. Feldmann und der Fraktion der FDPVerhinderung von negativen städtebaulichen Auswirkungen von Spielhallen und Änderung der umsatzsteuerlichen Behandlung von Geldspielgeräten— Drucksache 11/3999 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
InnenausschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und GesundheitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 3 a bis 3 d und 3 f sowie zu den Zusatztagesordnungspunkten 1 und 2 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 e. Es handelt sich um den Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in Düsseldorf, Drucksache 11/3797.Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Die Fraktion DIE GRÜNEN und die Fraktion der SPD haben beantragt, diesen Antrag über den Überweisungsvorschlag des Ältestenrats hinaus auch an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — zur Mitberatung — zu überweisen. Da es sich um eine Haushaltsvorlage handelt, die nur an den Haushaltsausschuß überwiesen werden kann, ist dazu eine Abweichung von der Geschäftsordnung erforderlich. Deswegen frage ich: Wer stimmt für die Abweichung von der Geschäftsordnung? — Wer
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9129
Präsidentin Dr. Süssmuthstimmt dagegen? — Wer stimmt gegen die Abweichung von der Geschäftsordnung? — Das ist die Minderheit.
— Es ist besser, zweimal nachzufragen. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland"— Drucksache 11/2583—Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Innenausschuß
Ausschuß für innerdeutsche BeziehungenAusschuß für Bildung und WissenschaftHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland begeht in diesem Jahr ihren 40. Geburtstag, den 40. Jahrestag ihrer Gründung. Dieses Datum gibt uns Anlaß, an die Anfänge unserer freiheitlichen Demokratie zu erinnern, Bilanz zu ziehen und darüber nachzudenken, was seit 1949 durch die Anstrengungen vieler Bürgerinnen und Bürger geschaffen wurde.Es fügt sich gut, daß wir in diesem Jahr des historischen Rückblicks auch darangehen, die gesetzlichen Grundlagen für den Aufbau des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen. Noch in diesem Jahr soll der Grundstein hier in Bonn gelegt werden.Ich bin überzeugt, daß gerade jetzt, nach vier Jahrzehnten, der Zeitpunkt günstig ist, um eine solche Stätte zu schaffen. Die Spanne von 40 Jahren bedeutet nach landläufiger Vorstellung den Wechsel von einer Generation zur nächsten, und insbesondere markiert sie das Hineinwachsen der nachfolgenden Generation in die Verantwortung. Die meisten Mitglieder des Deutschen Bundestages und viele, die heute in Staat und Gesellschaft, im wirtschaftlichen, im kulturellen Leben Verantwortung tragen, haben die Gründung unserer Republik erlebt, wenn auch zumeist als Jugendliche oder Kinder.Aber unter uns leben auch noch viele Zeitzeugen aus den Jahren des Neubeginns, die von Anfang an am Aufbau der Bundesrepublik Deutschland mitgewirkt haben.Inzwischen wächst aber eine junge Generation heran, die die Anfänge unserer Demokratie nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Für diejenigen, die historisches Wissen aus eigenem Erleben erworben haben, bedeutet das, wie ich denke, eine besondere Verantwortung. Wir müssen die Generationenunserer Kinder und Enkel mit den Wurzeln und mit der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland vertraut machen. Wir müssen ihnen z. B. erklären, von welchen Ideen die Männer und Frauen im Parlamentarischen Rat bei Gründung unserer Bundesrepublik geleitet wurden und worin sie, bei allem Streit und bei aller Diskussion, übereinstimmten. Zugleich müssen wir ihnen vermitteln, wie diese Ideen und wie diese Überzeugungen die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland formten und bis zum heutigen Tag prägen.Es geht bei alledem zunächst um die Weitergabe von Wissen und von Informationen. Doch ebenso wichtig ist es, der jungen Generation ein Gefühl dafür zu vermitteln, was die Gründergeneration unserer Bundesrepublik Deutschland bewegte. Hiermit ist, wie ich glaube, die vornehmste und wichtigste Aufgabe des Hauses der Geschichte angesprochen. Es soll vor allem auch für junge Leute attraktiv sein. Es soll ihnen Geschichte anschaulich und nachvollziehbar präsentieren. Es soll sich an Verstand und Herz zugleich wenden. Ich wünsche mir, daß für die Schulklassen, die erfreulicherweise in großer Zahl hierher nach Bonn, in die Bundeshauptstadt, kommen — und natürlich auch für die vielen anderen Gruppen —, ein Gang durch dieses Haus zu einem selbstverständlichen Programmpunkt wird.Aus zahlreichen Gesprächen mit jungen Menschen weiß ich, wie sehr gerade in den vergangenen Jahren das Interesse an Geschichte gewachsen ist. Dies schließt auch die Frage nach unserem historischen Standort in einem zusammenwachsenden Europa mit ein. Ich glaube, das ist eine erfreuliche Entwicklung, und wir sollten sie unterstützen. Denn erst durch die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte — das habe ich auch beim Gründungsakt für das Deutsche Historische Museum in Berlin in meiner Rede im Oktober 1987 hervorgehoben — werden wir fähig, Gegenwart zu begreifen und Zukunft verantwortungsvoll zu gestalten. Dabei müssen wir uns bewußt sein, meine Damen und Herren, daß es den distanzierten oder gar wertfreien Blick auf das Vergangene nicht geben kann: Gerade die Geschichte unseres Volkes fordert immer wieder zur Stellungnahme, zum Beziehen von Positionen heraus. Das Haus der Geschichte soll deshalb die Vielfalt historischer Betrachtungsweisen berücksichtigen. Es soll auch Streitiges streitig darstellen.
Zugleich muß dieses Haus — ich habe von Anfang an darauf hingewiesen — die Entwicklungen und ihre Ursachen so objektiv wie möglich nachzeichnen. Es muß nach den Maßstäben wissenschaftlicher Seriosität informieren. Es muß zu Fragen anregen und Antworten anbieten. Es muß die Aufklärung zu leisten versuchen, die für ein fundiertes Wissen und für ein kritisch-selbständiges Verstehen erforderlich ist. Aber, so glaube ich, es muß den Besuchern auch deutlich machen: Am Ende dieses Jahrhunderts, das so viel Leid über die Menschen brachte, gilt es, die Lehren der Geschichte zu beherzigen. Dazu gehört vor allem, daß wir die unbedingte und absolute Würde des einzelnen Menschen in allen Bereichen seines
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9130 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Bundeskanzler Dr. KohlLebens zu achten haben. Dazu gehört die Erkenntnis, daß es einen Mittelweg zwischen Demokratie und Diktatur nicht geben kann.Zugleich, meine Damen und Herren, müssen wir das Bewußtsein dafür schärfen, daß in Deutschland Patriotismus und Freiheitsliebe nie wieder getrennte Wege gehen dürfen. Wir wollen den jungen Menschen die Wertvorstellungen verdeutlichen, auf denen unsere freiheitliche Grundordnung beruht, und damit auch den demokratischen, antitotalitären Grundkonsens. Wir werden dies alles aber nicht verständlich machen können, ohne gleichzeitig einen Eindruck von den Erfahrungen zu vermitteln, die die Gründer unserer Republik bewegten.Meine Damen und Herren, im Mittelpunkt dieser Erfahrungen stand das Erlebnis der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit ihren schrecklichen Folgen. Wir erinnern uns in diesem Jahr ja nicht nur der Gründung der Bundesrepublik Deutschland vor vierzig Jahren, sondern wir erinnern uns auch an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor fünfzig Jahren. Bei dieser Gelegenheit wird — wie auch beim Gedenken an den 50. Jahrestag der November-Pogrome im vergangenen Jahr — einmal mehr sichtbar: Wir müssen — und wir werden — unsere Geschichte als Ganzes annehmen, mit den guten, aber auch mit den schrecklichen Seiten.Zu dem antitotalitären Grundkonsens, der die demokratischen Parteien vor vierzig Jahren verband und, wie ich hoffe, auch heute noch verbindet, gehört das feierliche Bekenntnis: Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur. Tragen wir Sorge dafür, daß diese Verpflichtung auch in Zukunft immer wieder erneuert — und auch verstanden — wird. Indem wir der jungen Generation ein Verständnis für die Bedeutung der im Grundgesetz verankerten Werte vermitteln, erhalten und festigen wir zugleich die Stabilität unserer freiheitlichen Ordnung. Denn die Demokratie lebt davon, daß den Bürgerinnen und Bürgern bewußt ist: Freiheit verpflichtet, Freiheit bedeutet immer auch: Verantwortung für das Ganze zu übernehmen.
Das Haus der Geschichte — das ist sein eigentlicher Sinn — soll zum Nachdenken anregen. Es wird den Besucher immer auch mit unbeantworteten Fragen konfrontieren. Das bedeutet insbesondere: mit der Teilung Deutschlands. Das habe ich bereits in meiner Regierungserklärung im Oktober 1982 betont. Denn so sehr wir uns aus gutem Grund über die Erfolgsgeschichte unserer Bundesrepublik Deutschland freuen können: Wir werden nie vergessen, daß diese Bundesrepublik eben nicht unser ganzes deutsches Vaterland ist. Indem wir dieses Bewußtsein schärfen, tragen wir zum Zusammenhalt der Nation bei. Wenn wir ein Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gründen, ist dies zugleich eine praktische Konsequenz aus dem Auftrag unseres Grundgesetzes, die nationale und staatliche Einheit zu wahren.
Diese Überzeugung wird noch unterstrichen durch die Errichtung eines Deutschen Historischen Museums in Berlin. Dieses Museum wird die gesamte deutsche Geschichte von ihren Anfängen bis zur Gegenwart zeigen. Es wird deutlich machen: Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist nur ein Teil der deutschen Geschichte.
Es wird bei den Deutschen in Ost und West das Bewußtsein der gemeinsamen Geschichte wachhalten, und deswegen gehört dieses Museum nach Berlin.Ebenso ist die Bundeshauptstadt der geeignete Standort für das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. So können die vielen Besucher Bonns etwas über unseren Staat im geteilten Deutschland, über unsere Verfassungsorgane und über unsere Gesellschaftsordnung erfahren. Hier in Bonn können sie sich über die Wurzeln und die Entstehung unserer freiheitlichen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg unterrichten.Wer die unserem Staat zugrundeliegenden Wertvorstellungen, wer die Geschichte unserer Republik kennt, der gewinnt auch einen geschärften Blick dafür, was unverzichtbare Voraussetzung dieser Freiheit ist: unsere Einbindung in die westliche Wertegemeinschaft. Erst die Westintegration unseres Gemeinwesens hat die demokratische Ordnung nach außen hin stabil gemacht, mehr noch: Sie ist die logische außenpolitische Entsprechung unserer Entscheidung für die Demokratie. Erst das Bekenntnis zur Westbindung machte die europäische Einigung — und in ihrem Rahmen die deutsch-französische Aussöhnung — möglich. Nur auf dieser festen Grundlage konnte eine Politik der Verständigung mit dem Osten eingeleitet werden.Schließlich ist die europäische Einigung auch nach wie vor die einzig wirklich sinnvolle Antwort auf die ungelöste deutsche Frage. Deshalb gibt es keinen Widerspruch zwischen dem Verfassungsauftrag zur Wiederherstellung der deutschen Einheit und dem der europäischen Einigung.
Aus gutem Grund verpflichtet die Präambel des Grundgesetzes zu beidem. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, wie die Kenntnis der Geschichte unserer jungen Generation helfen kann, Zukunft zu gestalten.Die Geschichte lehrt nicht zuletzt, daß Freiheit, Frieden und Wohlstand nicht so selbstverständlich sind, wie sie heute vielen, ja, zu vielen, nach 40 Jahren in Frieden und Freiheit scheinen mögen. Frieden und Freiheit gibt es nicht zum Nulltarif.Entspannung und Abrüstung setzen die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Verteidigung voraus.
Wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Sicherheit sind das Ergebnis harter Arbeit. Es gibt auch nach 40 Jahren keinen Grund, selbstzufrieden und selbstgefällig die Hände in den Schoß zu legen.Aber auf der anderen Seite haben wir auch nicht den geringsten Grund zur Verzagtheit. Die Deutschen im freien Teil unseres Vaterlandes haben nach den Schrecken des Krieges und der nationalsozialistischen Verbrechen eine bemerkenswerte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Wiederaufbauleistung
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9131
Bundeskanzler Dr. Kohlerbracht. Ich bin überzeugt: Auch heute verfügen wir über die Fähigkeiten, die vor mehr als 40 Jahren den Weg aus den Trümmern möglich machten — und wir werden diese Fähigkeiten in den Jahren, die vor uns liegen, ebenfalls noch brauchen.Es gibt große, weltweite Aufgaben — ich nenne z. B. die Überwindung des Nord-Süd-Konflikts oder den Kampf gegen globale Gefahren für die Umwelt —, die heute und morgen, in den vor uns liegenden Jahren, größte Kraftanstrengungen erfordern. Die Erfahrungen unserer Geschichte sollten uns Mut machen, diese Anstrengungen auf uns zu nehmen.Aus all diesen Gründen bin ich mehr denn je überzeugt: Wir brauchen immer wieder die Besinnung auf unsere eigene Geschichte. Deshalb brauchen wir auch dieses Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es versteht sich, daß dieses Haus allein einen verantwortlichen Umgang mit unserer Geschichte nicht gewährleisten kann. Es kann insbesondere einen qualifizierten Geschichtsunterricht in unseren Schulen und anderen Institutionen der politisch-geschichtlichen Bildung nicht ersetzen — allenfalls ergänzen.
Ein Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kann und darf auch nicht ein feststehendes, sozusagen offizielles oder offiziöses, ein gleichsam zementiertes Bild von der Geschichte unseres Staates vermitteln. Es muß, dem Selbstverständnis unserer Demokratie entsprechend, dem Besucher Gelegenheit zu einer eigenen, mündigen Auseinandersetzung mit unserer Geschichte geben.Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland soll ein Haus der Bürgerinnen und Bürger sein. Deshalb hat sich die Bundesregierung von Anfang an bemüht, möglichst weite Kreise und auch möglichst unterschiedliche Standpunkte in die Diskussion miteinzubeziehen. Wir haben den Aufbau des Hauses der Geschichte vor allem in die Hand von hochqualifizierten Sachverständigen gelegt. Wir haben vier unabhängige, anerkannte Wissenschaftler beauftragt, eine Konzeption zu entwerfen. Diese Konzeption ist einer breiten Öffentlichkeit vorgelegt worden und hat viele Stellungnahmen hervorgerufen.Wir haben einen Aufbaustab aus Wissenschaftlern eingerichtet, an dessen Spitze wiederum ein qualifizierter Wissenschaftler steht. Darüber hinaus hat die Bundesregierung den Aufbau des Hauses der Geschichte auf eine breite Grundlage gestellt. Sie hat die Beteiligung anderer nicht hinausgeschoben, bis das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen ist. Durch Erlaß hat sie vielmehr frühzeitig ein Kuratorium geschaffen, in dem nun bereits seit zwei Jahren Mitglieder des Deutschen Bundestages und Vertreter der Bundesländer an den Arbeiten beteiligt sind.Die Bundesregierung hat schließlich einen wissenschaftlichen Beirat aus 25 Sachverständigen unterschiedlicher Fachrichtungen und verschiedener Anschauungen ins Leben gerufen. Weiterhin haben wir einen Arbeitskreis gesellschaftlicher Kräfte gebildet, in dem beispielsweise die Kirchen, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die kommunalen Spitzenverbände und viele andere vertreten sind. Nach meinem Eindruck hat sich diese Verfahrensweise bewährt. Wenn es zu Anfang Mißtrauen und Vorbehalte gegenüber dem Haus der Geschichte gab, so sind sie inzwischen erfreulicherweise großenteils ausgeräumt worden.Die Bundesregierung — und das will ich heute noch einmal bekräftigen — hat stets ihren Willen zur Zusammenarbeit bekundet. Sie hat diese Bereitschaft durch die bisherige Aufbauarbeit nachdrücklich unterstrichen.Ebenso hat die Bundesregierung von Anfang an auf die umfassende Beteiligung des Parlaments großen Wert gelegt. Wiederholt hat sie das Parlament und seine Ausschüsse über ihre Planungen unterrichtet; sie wird es auch künftig tun. Zudem steht den Fraktionen im Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte" ein ständiges Forum für ihre Mitwirkung zur Verfügung.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren. „Jede große Reise beginnt mit einem ersten kleinen Schritt"— so lautet ein weises Wort. Das gilt auch für den gewiß nicht einfachen Weg zum Haus der Geschichte— einem Projekt, für das es kein Vorbild gibt.Die Bundesregierung hat den ersten wichtigen Schritt getan. Sie hat eine Konzeption entwickeln lassen und legt jetzt dem Deutschen Bundestag einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Es ist nun Sache des Parlaments, über diesen Gesetzentwurf zu entscheiden. Meine Bitte ist ganz einfach: Lassen Sie uns gemeinsam die Arbeit an diesem Werk weiterführen, und bekräftigen wir so unser gemeinsames Bekenntnis zu den geistigen, zu den geschichtlichen Wurzeln, zu den Wertvorstellungen unserer freiheitlichen Demokratie.40 Jahre nach Gründung unserer Bundesrepublik Deutschland ist ein solcher Schritt wichtig und bedeutsam.
Das Wort hat der Abgeordnete Duve.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer sehr bewegenden Passage hat unser Alterspräsident Willy Brandt vor kurzem ein Stück liebenswürdiger und souveräner Geschichtsbilanz angestellt:Wir haben— so hat er gesagt —seit 1949 nicht nur viel gestritten. Wir haben alles in allem einiges geleistet für die Bundesrepublik Deutschland. Wir haben eine ganze Menge zustande gebracht.Ich als Hamburger kann das nicht so sagen, wie es ein Lübecker kann. Er fügt hinzu:Ich möchte wünschen, daß die uns Nachfolgenden bei allem notwendigen Ringen der Meinungen auch immer wieder die Kraft aufbringen zur gemeinsamen Verantwortung, wo es auf diese ankommt, und daß sie ihr Menschsein weder in
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9132 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Duveden Geschäftsabläufen noch unter den Aktenbergen ersticken lassen.Wo einer so vorsichtig und so behutsam seinen Stolz über gemeinsam Geleistetes formuliert, haben wir vielleicht eine ganz eindrucksvolle Vorstellung davon, in welchem Geist man sich Häuser der geschichtlichen Erinnerung vorstellen könnte. Denn Willy Brandt ist für die Bundesrepublik Deutschland zu einer Symbolfigur auch dafür geworden, welche Fähigkeit er hat, für Verbrechen, die seine Landsleute begangen hatten, um Verzeihung zu bitten, und für seine Fähigkeit, eigene politische Fehler nicht nur einzugestehen, sondern aktiv zu korrigieren.Willy Brandt hat die oben zitierte Äußerung übrigens auf jener einmaligen Geburtstagsfeier getan, die Richard von Weizsäcker für ihn ausgerichtet hatte.Herr Bundeskanzler, wenn es uns gelänge, die Geschichte der Bundesrepublik so souverän auszurichten, wie es dem Bundespräsidenten gelungen ist, bei einem gemeinsamen Mittagessen die Geschichte des Lebens von Willy Brandt auszurichten, dann wäre mir für das Vorhaben der Bundesregierung sehr wohl. Denn es ist, Herr Bundeskanzler, das Vorhaben der Bundesregierung. Es ist nicht das Vorhaben des Parlaments geworden, zu dem wir es am Anfang gern mit gemacht hätten.
Sie haben es eben sehr deutlich gemacht: „Wir" haben die Wissenschaftler bestellt; „wir" haben dem Parlament eine Mitwirkungsmöglichkeit gelassen. Es ist das Vorhaben der Bundesregierung. Wir sind indirekt in sehr wirksamer Weise beteiligt gewesen — ich komme darauf noch zu sprechen.Schon bald, noch vor oder bei Einbringung dieses Gesetzes, könnte die Geschichte des Hauses der Geschichte geschrieben werden. Seit sechs Jahren nämlich wandert es durch unsere Akten, durch unsere Haushalte, aber jedenfalls selten durch unsere Debatten. 1983 gab es das Gutachten, nachdem der Bundeskanzler diesen Plan in der Regierungserklärung angekündigt hatte, 1984 die erste, von der SPD veranstaltete, Anhörung hier in Bonn, aber immer noch keine gesetzliche Grundlage. Dann wird irgendwann ein Erlaß vom Bauminister, dem inzwischen die Federführung übertragen worden war, gemacht, und es gibt eine parlamentarisch weder diskutierte noch abgesegnete Stiftung. Nun wird so getan, als gäbe es schon die Sache. Es entstehen Gremien, es wird ein Gründungsdirektor benannt; es wird Personal eingestellt; Ausstellungsobjekte werden gekauft; die ersten Ausstellungen werden organisiert. Endlich, nach sechs Jahren, wird ein Gesetz eingebracht, mit sehr großer Verspätung.Übrigens war schon in der 10. Wahlperiode der Versuch gemacht worden, ein Gesetz einzubringen — das will ich nicht verschweigen — . Es ist am Wahltermin gescheitert.Schon 1983 hatte in einer kleinen Runde im Kanzleramt Horst Ehmke, der für uns daran teilnahm, mit Nachdruck gefordert, die Vor-Geschichte, also auch die Nazi-Herrschaft, ohne die die Gründung der Bundesrepublik Deutschland gar nicht denkbar ist, müsse in diesem Haus ebenfalls vorkommen. Ich freue mich, daß jetzt auf unser Drängen hin in einer allerdings noch sehr unbestimmten Formulierung das Wort „Vorgeschichte" in den Gesetzentwurf aufgenommen worden ist; das war in einer früheren Fassung nicht der Fall.Erlauben Sie mir einen kleinen geschichtlichen Exkurs, zu dem jeder, der über die Geschichte der Bundesrepublik nachdenkt, natürlich ganz besonders durch die jüngsten Veränderungen der politischen Landschaft und auch durch die neonationalistischen Töne, die wir in den letzten Wochen gehört haben, provoziert wird. Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Mann wie Heinrich Lummer nach sechs Jahren Regierung Kohl und so vielen Bemühungen um Geschichtsbewußtsein in verschiedenen Interviews praktisch das Gedankengut der sogenannten Republikaner — die in Wahrheit Antirepublikaner sind — für die CDU reklamiert
und diese Gruppe um Herrn Schönhuber des Plagiats, also des Ideenklaus, bezichtigt? Was bedeutet es eigentlich, wenn nach sechs Jahren Regierung Kohl das Kernstück unserer demokratischen Existenz, nämlich der wache und kritische Umgang mit der diktatorischen und staatsterroristischen Vorgeschichte, in das harmlos klingende, aber gefährliche — weil es so niemand gefordert hatte — „Wir wollen nicht immer in Sack und Asche gehen" wegrutscht?Was bedeutet es eigentlich für das Bewußtsein von der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, wenn im 40. Jahr — nach einer Wahlüberraschung durch Rechtsradikale — führende Vertreter der größten Regierungspartei in einem abenteuerlichen Geschwindigkeitsrekord einen politischen Tagesopportunismus öffentlich zur Schau stellen, wie wir es seit der Berlin-Niederlage der Union Tag um Tag erleben?
Was bedeutet es eigentlich für die Diskussion über die Gründung eines Museums der Geschichte der Bundesrepublik, wenn wir sehen, wie rasch sich führende Politiker aus dem liberal-demokratischen Konsens sozusagen in null Komma nix verabschieden — und das bei einem Wahlergebnis und bei Themen, mit denen die Partei der Antirepublikaner Stimmengewinne gemacht hat, die zu einem ganz anderen und tieferen Nachdenken über unser Gemeinwesen, über die soziale und wirtschaftliche Lage Benachteiligter hätten führen müssen?Was bedeutet es eigentlich, wenn wir hier friedlich und freundlich ein „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" gründen sollen und zugleich, wie in der Nach-Berlin-Diskussion geschehen, die Fundamente des demokratischen Konsensus entweder opportunistisch oder zuweilen auch reaktionär angebohrt werden?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9133
DuveIch halte es deshalb für sinnvoll, Herr Bundeskanzler, wenn wir uns heute über einige Ungereimtheiten dieser Regierungszeit in den letzten sechs Jahren unterhalten.
In den sechs Jahren, seitdem Sie die Idee zu diesem „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" zum erstenmal vorgetragen haben und in den drei Jahren, nachdem Richard von Weiszäcker in seiner Rede vom 8. Mai sozusagen eine geistige Gründungscharta für das historische Bewußtsein der Bundesrepublik hier im Bundestag erläutert hat,
sind Ungereimtheiten zu konstatieren,
die das betreffen, was Sie einmal die geistig-moralische Wende genannt haben.Es gibt sehr viele Thesen für das seit Mitte der 70er Jahre zu beobachtende wachsende Interesse an geschichtlichen Vorgängen, wobei dies nicht immer wachsendes Interesse an der wirklichen Geschichte signalisiert hat, sondern eben häufig an historischen Bildern, an handhabbarer Geschichte. Wir haben aber in den 70er und den 80er Jahren zugleich eine geradezu geschichtsbesessene Bewegung von Menschen gehabt, die versuchten, in ihrer unmittelbaren Heimat, sozusagen im eigenen Haus und vor der eigenen Tür, die Spuren der Vergangenheit zu entdecken — eine Geschichtsbewegung, die, so könnte man sagen, die absurde, staatlich befohlene Ahnenpaßmanie der Nazizeit geradezu umgestülpt hat. Die Kinder und Enkelkinder wollten nicht mehr wissen, wie germanisch ihr Blut ist, sondern sie wollten wissen, was in ihren Häusern, in ihren Straßen und in ihrer Stadt geschehen war. Das war eine wichtige, aber vielleicht sehr späte Reaktion auf das große Verdrängen der 50er Jahre und ist Zeichen einer wirklich geschichtlichen Bewegung, die nicht versucht, Lokal- oder Familiengeschichte zu betreiben, sondern die große säkulare Geschichte der Deutschen am eigenen Ort aufzuspüren.
Richard von Weiszäcker hat auch deshalb so viel Beifall für seine Rede bekommen, weil sie der Hoffnung einer ganzen Generation entsprach, daß die so umstrittene Geschichte der Deutschen endlich ohne Verdrängung offengelegt werde.Ich persönlich habe mich immer gefragt, wie denn andere Völker nach Perioden solcher moralischen, sozialen, kulturellen und nationalen Zusammenbrüche damit umgehen. Ich muß sagen: Meine Zweifel haben sich in den letzten Jahren ganz und gar verflüchtigt. Ich denke, daß es einer der großen problematischen Fehler der Adenauer-Ära war, die selbstkritische Prüfung der Vergangenheit gar nicht zugelassen und die neue Ost-West-Konfrontation mit dazu benutzt zu haben, dieser eigenen Diskussion aus dem Wege zu gehen. — Jetzt wird übrigens die DDR von der Wahrheit der Geschichte des Stalinismus eingeholt, die sie ihrerseits zu verdrängen versucht.Wir sind seit einigen Jahren Zeugen sehr dramatischer Kämpfe um die geschichtliche Wahrheit, die uns Deutsche bestätigen und ermutigen können; denn es war von Anfang an unsere skeptische, an den Regierungsplan gerichtete Frage: Geschichte muß in der Demokratie anders behandelt, anders gesehen und anders diskutiert werden, als es in nichtdemokratisch verfaßten Gesellschaften der Fall ist, wo der Staat in der Regel eine sehr starke Interpretationsmacht für Geschichte hat.Ich denke, viele Bemerkungen, Herr Bundeskanzler, die Sie in den Jahren — auch in der zweiten Regierungserklärung — gemacht haben, zeigen, daß Sie diesem Wunsch und dieser Idee nachgekommen sind. Das war in der ersten Regierungserklärung 1983 noch nicht so deutlich wie in der zweiten. Wir nehmen das auch positiv zur Kenntnis.Wir meinen nicht, daß Geschichte, demokratisierbar sei. Wir meinen aber, daß Historiker, die von der Freiheit des öffentlichen Meinungsstreits ausgehen, in der Geschichte andere Verantwortung tragen als Historiker der Diktatur. Ich will das an der Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erläutern.Wir hatten von Anfang an gefordert, daß diese Vorgeschichte einbezogen wird. Mir hat der damals federführende Beauftragte des Innenministers 1984 geschrieben: Auf die Darstellung der NS-Gewaltherrschaft ist besonderer Wert zu legen; denn nur vor diesem Hintergrund können wichtige Aspekte der Geschichte der Bundesrepublik erfaßt und verständlich gemacht werden. — Nun ist es in die neue Vorlage in der verkürzten Form aufgenommen worden.Ich will kurz begründen, warum wir auf diesem Punkt so insistieren. Wir haben heute in vielen Teilen der Welt Zeugnisse dafür, daß der Lebensherzschlag der dem Terror abgerungenen Demokratie immer mit der Aufdeckung der historischen Wahrheit und mit der Entlarvung der ehemals verschwiegenen Geschichte einhergeht. Wer dies versäumt, verantwortet einen schweren Geburtsfehler schon bei der Geburtsstunde der neuen Demokratie. Ich denke, daß wir diesen Fehler in den 50er Jahren nicht vermieden haben und es uns darum bis heute so schwerfällt, das innere Gleichgewicht zwischen Versöhnung und Erinnerung zu finden, ohne die die Freiheit nirgends aufgebaut werden kann.Im alten Ägypten wurden die Schriftzeichen des nach seinem Tode verachteten Echnaton aus den Mauern herausgemeißelt. Die Nachfolger wollten Erinnerung auslöschen, ohne Diskussion.
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9134 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Duve— Und Gorbatschow ist die Antwort.Der argentinische Präsident Alfonsin hat mit einem mutigen Akt die Wahrheit über die Diktatur und ihrer Täter ganz am Anfang eingeklagt und zugleich versucht, die Hand zur Versöhnung auszustrecken. Ich weiß, das ist ein schmerzliches Beispiel, weil der Versuch noch am Anfang steht.In Ungarn erleben wir eine Form der Glasnost, die noch vor freien Wahlen die historische Frage stellt: Was war dieser Einmarsch, und was war diese Niederschlagung des ungarischen Aufstands? Eine Frage, die unausgesprochen 30 Jahre lang das ungarische Volk gespalten hat, wird nun in einer Weise diskutiert, die die Chance für neue Fundamente eines demokratischen Konsenses, einer demokratischen Form der Versöhnung bietet.In Moskau machen die Träger der Memorial-Bewegung darauf aufmerksam, daß ohne die schmerzliche und bittere Enthüllung der Stalinschen Verbrechen, aber auch die Entlarvung der Verbrecher die von Glasnost getragene Reformbewegung keine Chance auf Versöhnung haben konnte.Es ist also völlig falsch, zu glauben, man könne in der Demokratie den Ablauf historischer Diskussionen vorbestimmen. Haben Sie, Herr Bundeskanzler, geahnt, daß im Zusammenhang mit Ihrem Vorschlag, ein Haus der Geschichte zu machen, einmal Anstöße für einen Historikerstreit würden entstehen können, der sich dann mit den Thesen Noltes und anderer befassen mußte? Immerhin war es eine Anhörung zum Deutschen Historischen Museum in Berlin, die wir veranstaltet haben, auf der Jürgen Habermas seinen ersten zornigen Beitrag zur Lage der geschichtlichen Interpretation der 80er Jahre öffentlich vortrug.Aber es geht nicht nur um diese Grundfrage der Einbeziehung der nationalsozialistischen Vorgeschichte, sondern auch um das Kondensat des Gutachtens der Professoren. In jene Schautafeln, die zur Zeit ausgearbeitet und von einem Fachgremium beurteilt werden, schmuggeln sich zuweilen sehr problematische Verkürzungen ein.Ich will für die Frage unserer Mitwirkung nur ein Beispiel nehmen: Auf Tafel 2 werden unter dem Stichwort „Demokratiegründung in Westdeutschland" ausschließlich Verbände genannt, Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Kirchen. Die Reduktion auf die demokratische Erneuerung aus den Verbänden ist aber eine Verkürzung, die, wie wir meinen, nicht zulässig ist.Auf einer anderen Tafel wird unter dem Stichwort „Die Realverfassung" die parlamentarische Wirklichkeit auf die heutige Sicht verkürzt. Damals gab es nämlich nach diesem Schaubild nur die Regierung und die SPD-Opposition. Die ganze Vielfalt der unterschiedlichen Parteien und Strömungen jener Gründungszeit, die später von den großen Parteien aufgesogen wurde, wird gar nicht dargestellt. Sie war damals aber eine Realität und ist zum Verständnis wichtig.
In der Diskussion mit dem Gründungsdirektor haben nicht wenige Mitglieder des sogenannten Arbeitskreises gesellschaftlich relevanter Kräfte, die dort inhaltlich diskutieren sollen, oft den Eindruck, den auch wir manchmal haben: Alle Beteiligten, Herr Minister Schneider, sind überaus freundlich und freuen sich über unsere kritischen Anmerkungen, aber manches wird doch allenfalls kosmetisch benutzt, um den freundlichen Umgangston zu wahren. Wir erkennen noch nicht, was von der Kritik in der Substanz wirklich aufgenommen wird.
Dies ist eine Kritik, die vor allem aus dem Kreise der gesellschaftlich relevanten Gruppen vorgetragen worden ist.Wenn wir also faktisch nur recht geringe Mitwirkungsmöglichkeiten haben, dann bleibt nur Vertrauen, Zutrauen in das Personal, so offen und so pluralistisch an die Arbeit zu gehen, wie der demokratische Umgang mit Geschichte es verlangt.Die Bundesregierung rechtfertigt dieses Vertrauen bisher nur in eingeschränkter Form. Dafür will ich ein Beispiel aus der jüngsten Zeit nennen:Wenn das Innenministerium trotz entsprechender Mahnung nicht einmal in der Lage ist, ein Ereignis wie die „Spiegel"-Affäre in dem Faltblatt „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland" zu erwähnen, dann ist Skepsis angebracht; denn die Spiegel-Affäre markierte geistig das Ende einer Ära und eröffnete ein neues, kritischeres Verhältnis zum Staat.
Wenn die Bundesregierung das von Gustav Heinemann angeregte Museum, die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegung in der deutschen Geschichte in Rastatt, weiterhin so kränkend nachlässig wie in den letzten Jahren behandelt, was die Stellenbeschikkung anlangt, so ist dies ein weiterer Grund für die Skepsis. Nur, wir haben eben gelernt, daß Geschichtsbewußtsein so entsteht: Wer etwas verschwinden lassen möchte, wer etwas aus dem Gedächtnis des Volkes beiseiteschieben möchte, provoziert die Fragen danach um so drängender. Wer der Versuchung, Vergangenes geschönt darzustellen — was wir niemandem der Beteiligten unterstellen wollen — , nicht widersteht, provoziert die Erinnerung an das Häßliche. Wer unwahrhaftig und unfair mit dem ehemaligen Gegner umgehen wollte, ruft die Frage nach der Wahrheit um so stärker hervor. Das gilt auch für uns selbst. Der werbetechnisch perfekte Umgang mit Geschichte, wie man sie würde drehen und wenden wollen, funktioniert nie. Das haben wir in diesen Jahren der Diskussion nun wirklich gelernt, und das ist beruhigend.Meine Damen und Herren, wir können nicht sagen, daß die Unionsfraktion — das hat sich eben bei Ihren Unterhaltungen und Zwischenrufen ja auch gezeigt — an der Diskussion über das Haus der Geschichte wirklich sehr interessiert war. Ich werfe nicht der Regierung, ich werfe der CDU/CSU-Fraktion vor,
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Duvedaß sie sich mit dem Vorhaben ihres Bundeskanzlers als Fraktion kaum befaßt hat.
Ich werfe Ihnen vor, daß Sie die parlamentarischen Voraussetzungen für eine begleitende Diskussion eher blockiert haben.
— Ja, Sie müssen sich kritisieren lassen, Herr Dr. Dregger.Die uns und den Museumsleuten zugesagte Arbeitsgruppe „Kunst und Kultur" des Innenausschusses als ein begleitendes Gremium ist nicht wieder eingerichtet worden. Wir können solche Fragen und solche Vorhaben im Hauptausschuß nicht wirklich aufmerksam und kritisch diskutieren.Unser Versuch, die besondere Qualität solcher Einrichtungen durch die besondere Form parlamentarischer Beratung hervorzuheben, ist gescheitert. Die Unionsfraktion hat sich genauso verhalten, wie es diesem Gegenstand gegenüber unangemessen ist; nach dem Motto „Laßt die Regierung nur machen" haben Sie, Herr Dr. Dregger, hat Ihre Fraktion eine Chance vertan.Meine Damen und Herren, wir werden uns den jetzt eingebrachten Gesetzentwurf sehr genau ansehen. Einige unserer Forderungen sind übernommen worden, einige Punkte bleiben offen. Aber das Gesetz ist nicht die Sache. In der Sache könnte aus einer unglücklich gestarteten Idee vielleicht noch etwas Passables werden, wenn wir, die wirklichen Republikaner, alle gemeinsam, so offen und so beherzt mit unserer Geschichte umgehen wie Gustav Heinemann, Richard von Weizsäcker oder Willy Brandt und wenn wir mit der traurigen und schmerzenden Vorgeschichte unserer Republik auch weiterhin so selbstbewußt demokratisch umgehen, wie es viele Demokraten heute in Moskau, Leningrad und Budapest versuchen, wie es der argentinische Präsident sofort nach seiner Amtsübernahme 1984 begonnen hat; denn dann hätten auch die Anti-Republikaner, die so stolz darauf sind, dabeigewesen zu sein, keine Chance. Republikanisches Geschichtsbewußtsein heißt auch, den Verlockungen des populistischen Opportunismus zu widerstehen. Für Sie von der Union ist dies zur Zeit nicht leicht; wir können Ihnen dabei leider nicht helfen.Was wir Ihnen jedoch sagen können, ist dies: Der wahrhaftige Umgang mit unserer Geschichte ist für die Zukunft der Demokratie und für den gelassenen Stolz auf unsere Republik, wie ihn unser Alterspräsident Willy Brandt formuliert hatte, immer wieder die einzige Chance.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Neumann.
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Duve, ich war der Auffassung, Sie würden hier einen Beitrag zur Tagesordnung und zum Thema Haus der Geschichte, zu seiner Aufgabe und zu seiner Konzeption leisten. Das haben Sie nicht getan. Sie haben auch vorweg — deswegen will ich in einem Satz darauf eingehen — zur Berliner Wahl Stellung genommen. Hier muß ich sagen: Daß gerade Sie uns nun im Hinblick auf die Berliner Wahl belehren wollen, was den demokratischen Konsens angeht, obwohl es Ihre Partei in Berlin ist, die entgegen den Versprechungen vor der Wahl dabei ist, eine Regierung mit einer Gruppierung zu bilden, die wichtige Teile unserer Verfassung mißachtet, das ist nun wirklich absurd.
Lassen Sie mich zum Thema kommen. Meine Damen und Herren, in der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 heißt es:Unsere Republik, die Bundesrepublik Deutschland, entstand im Schatten der Katastrophe. Sie hat inzwischen ihre eigene Geschichte. Wir wollen darauf hinwirken, daß möglichst bald in der Bundeshauptstadt Bonn eine Sammlung zur Deutschen Geschichte seit 1945 entsteht, gewidmet der Geschichte unseres Staates und der geteilten Nation.Meine Damen und Herren, mit dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn soll kein Museum im herkömmlichen Sinne entstehen, sondern ein lebendiges Ausstellungs-, Dokumentationszentrum, das in anschaulicher Weise Kenntnisse über die jüngere Geschichte unseres Landes vor dem Hintergrund des geteilten Deutschlands vermittelt und zur Auseinandersetzung hiermit anregt. Es ist insbesondere ein Angebot an die jährlich fast 400 000 Bonn-Besucher, bei denen Interesse an historisch-politischen Informationen zur Bundesrepublik Deutschland vorausgesetzt werden kann. Die Zielsetzung des Vorhabens wird bisher von keiner anderen Institution innerhalb oder außerhalb Bonns erfüllt. Die ständigen Ausstellungen im Reichstag in Berlin zu „Fragen an die deutsche Geschichte" und in Rastatt zu den Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, das Deutsche Museum in München oder verwandte Einrichtungen haben andere thematische oder zeitliche Schwerpunkte.Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß bereits in der Bundesregierung unter Helmut Schmidt, wenn auch zurückhaltend, darüber nachgedacht wurde, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland darzustellen. Altbundespräsident Scheel hat 1978 bei einem Besuch im Bundesarchiv in Koblenz sogar eine dementsprechende Forderung erhoben. Aber wie in vielen anderen Bereichen hat die Regierung Helmut Kohl nicht nur gedacht und geredet, sondern auch gehandelt.
Deshalb hat wohl auch der Abgeordnete Conradi inder Bundestagsdebatte am 9. November 1984 für die
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SPD wörtlich erklärt: „Wir finden es gut, daß Sie dieses Haus der Geschichte planen".Selten hat es über die Entstehung eines Museums oder einer vergleichbaren Einrichtung eine so breite öffentliche und auch transparente Diskussion wie beim Haus der Geschichte gegeben. Sie war und ist gewollt, um eine breite Beteiligung der interessierten Öffentlichkeit sicherzustellen. Der Entwurf einer Grundkonzeption, der von einem unabhängigen Sachverständigengremium erarbeitet wurde, wurde an über 100 gesellschaftliche Gruppen, Institutionen und Einzelpersonen zur Stellungnahme übersandt. Viele der eingegangenen Anmerkungen und Ergänzungswünsche wie auch die Ergebnisse einer von der SPD-Fraktion im Mai 1984 durchgeführten Anhörung wurden in die endgültigen Vorstellungen einbezogen. Nicht alle, Herr Kollege Duve, aber einige, auch von Ihnen.Im Rahmen der damaligen Diskussion — auch der heutigen; bei Herrn Duve ist das, soweit ich ihn zum Thema verstehen konnte, angeklungen — gab es Kritik aus unterschiedlichen Richtungen. Beispiele : Die Beteiligung des Parlamentes sei mangelhaft, die Mitwirkungsmöglichkeiten der Stiftungsorgane seien nicht ausreichend, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland würde nur positiv dargestellt und auf die schreckliche Vorgeschichte verzichtet. Oder: Die Teilung Deutschlands werde durch eine solche Ausstellung wie der der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland öffentlich abgesegnet und gebilligt; es entstehe eine Regierungsstiftung mit regierungsamtlichem Geschichtsbild. Oder: Ein größtmöglicher Konsens werde ernsthaft nicht gesucht. Oder auch: Das Konzept sei altbacken und museal.Inzwischen gibt es ein Provisorium für das Haus der Geschichte, das Werkstattcharakter hat. Mehrere Ausstellungen sind erfolgt. Der Direktor wurde berufen. Die Organe der Stiftung tagen nach dem Erlaß für eine unselbständige Stiftung. Herr Kollege Duve, die bisherige Arbeit und ihre Ergebnisse machen deutlich, daß die damals und zum Teil von Ihnen jetzt wieder geäußerte Kritik in keinem Punkt der Realität entspricht.Hier spreche ich die Mitwirkung des Deutschen Bundestages an. Ich weiß gar nicht, Herr Duve, was Sie sich vorstellen, was der Deutsche Bundestag kann und was er nicht kann. Es kann doch wohl nicht die Aufgabe der Mitglieder dieses Hauses sein, die Arbeit der Museumspädagogen, der Historiker und der Politologen zu übernehmen.
Das kann nicht die Aufgabe sein. Mir ist es auch viel wohler, wenn Herr Mommsen, Herr Professor Gall, Herr Professor Löwenthal und andere an dieser Konzeption entscheidend mitwirken und nicht solche Kollegen wie Herr Duve. Das muß ich ganz ehrlich sagen.
Es kann doch nur darum gehen, daß das Parlament den Aufbau dieses zeitgeschichtlichen Museums begleitet und kontrolliert, daß es auf den ordentlichen und angemessenen Rahmen achtet, aber daß es nicht geschichtliche Inhalte vorschreibt, wie Sie es aus Ihrer Sicht gern wollen, Herr Kollege Duve.
— Auf Sie komme ich gleich, Frau Vollmer. Sparen Sie sich Ihre Zwischenrufe auf.Herr Kollege Duve, und was die Mitwirkung und die Kontrolle betrifft, da können Sie sich nun wirklich nicht beklagen. Ich beklage allerdings, daß die SPD-Fraktion ihren offiziellen Platz in dem Kuratorium, in dem entscheidenden Gremium, nicht einnimmt.
Aber wie ist es wirklich?
— Nein, Herr Kollege Duve, ich möchte aus Zeitgründen keine Zwischenfrage zulassen.
Herr Kollege Duve ist aber trotzdem dabei; das ist nämlich die Taktik. Herr Duve nimmt den Status des Beobachters im Kuratorium ein. Er redet mit, er diskutiert — er kann sich gar nicht darüber beschweren, daß seine Argumente nicht aufgenommen werden; das hat er eben bestätigt — nach dem Motto: mitmachen, aber nie dabeigewesen sein, sich aus der Verantwortung stehlen. Das ist nicht der ordentliche Bundestagsabgeordnete, den ich mir vorstelle.
In dem Kuratorium, dem entscheidenden Gremium, wirken zu einem Drittel Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit. Alle bisherigen Entscheidungen zur Planung und Konzeption sind auch von den SPD-regierten Ländern einstimmig mitbeschlossen worden. Nur, meine Damen und Herren von der SPD, damit Sie das wissen: Herr Duve weiß das, aber er verschweigt es.Es ist auch richtig, daß es bei einer solchen öffentlichen Einrichtung ein Gremium gibt, welches Weisungs- und Entscheidungskompetenz hat. Anders geht es gar nicht.Aber es ist auch richtig, Herr Kollege Duve, daß es zwei andere Organe gibt. Das eine ist der Arbeitskreis gesellschaftspolitisch relevanter Kräfte; der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen. Ihm gehören Repräsentanten der Kirchen, des Zentralrates der Juden, der Gewerkschaften, der Vertriebenen, des Deutschen Frauenrates, des Bundesjugendrings und anderer Institutionen an. In diesem Arbeitskreis werden die Planung und Durchführung begleitet und diskutiert. Ich habe noch nicht gehört — sonst hätten Sie zumindest schon dazu beigetragen, daß es in der Zeitung gestanden hätte, Herr Kollege Duve — , daß es dort über Gebühr große Kontroversen gegeben hat. Meine Damen und Herren, diese von mir genannten Repräsentanten wären schon in der Lage, bei einseitiger Aus-
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richtung des Hauses der Geschichte öffentlich und nichtöffentlich Wirkung zu erzeugen.Es gibt ein drittes Organ, meine Damen und Herren. Das ist der sogenannte Wissenschaftliche Beirat mit 21 hochkarätigen Staatsrechtlern, Museumsfachleuten und Politologen. Persönlichkeiten wie Professor Arnulf Baring, Helga Grebing, Richard Löwenthal und Hans Mommsen gehören dazu. Es kann doch keiner ernsthaft glauben, meine Damen und Herren, daß gerade die von mir genannten Mitglieder dieses Beirates eine regierungsamtliche Darstellung der Zeitgeschichte jemals akzeptieren würden.Deshalb fasse ich, was diesen Punkt betrifft, zusammen.Beim Aufbau des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wirken Politiker aller Parteien, Wissenschaftler und Fachleute unterschiedlicher Richtungen sowie Repräsentanten wichtiger gesellschaftlicher Gruppen mit, so daß die deutsche Geschichte so dargestellt werden wird, wie es Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag 1982 formulierte. Ich zitiere:... daß sich die Bürger darin wiedererkennen, offen für kontroverse Deutungen und Diskussionen, offen für die Vielfalt geschichtlicher Betrachtungsmöglichkeiten. In einer freien Gesellschaft— so Helmut Kohl —gibt es nach unserer Überzeugung kein geschlossenes und schon gar nicht ein amtlich verordnetes Geschichtsbild. Niemand, niemand hat das Recht, anderen seine Sicht und seine Deutung der Geschichte aufzudrängen.Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, einen breiten Konsens über die Bewertung geschichtlicher, ja, zeitgeschichtlicher Ereignisse herzustellen. Gibt es bei der Vorgeschichte und bei der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Konsensfähiges, auf das man zurückgreifen sollte? Professor Löwenthal bejaht dies; Professor Elfwein bestreitet es. Wenn aber schon bei Historikern darüber Uneinigkeit besteht, wird Einigkeit in diesem Hause schon gar nicht zu erreichen sein. Gerade deshalb gilt das soeben zitierte Wort des Kanzlers — ich wiederhole — :Das Haus der Geschichte muß offen sein für die Vielfalt geschichtlicher Betrachtungsmöglichkeiten.
Dennoch kann und soll die Konzeption des Hauses der Geschichte nicht völlig wertneutral sein; das ist etwas anderes.Es müssen — so finden wir — die Wertvorstellungen zugrunde gelegt werden, Frau Vollmer, auf denen unsere freiheitliche Grundordnung beruht und die in unserer Verfassung verankert sind. Wer diesen demokratischen Grundkonsens unserer Verfassung nicht akzeptiert, kann sich auch kaum mit der Konzeptiondes Hauses der Geschichte im Einvernehmen befinden.
Das trifft auf die Partei der GRÜNEN, die sich bewußt als Anti-System-Partei auffaßt, voll zu. Die GRÜNEN geben durch die Infragestellung des Mehrheitsprinzips — siehe Volkszählungsboykott — , die Propagierung eines Widerstandsrechts gegen legale Staatsentscheidungen sowie die mangelnde Distanzierung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung Grundpositionen auf, die allen demokratischen Parteien seit 1945 gemein waren.Meine Damen und Herren, wer diese Axiome unserer demokratischen Grundordnung nicht akzeptiert, ist zwangsläufig als Kritiker des Hauses der Geschichte disqualifiziert.
In diesem Zusammenhang, Herr Duve, was den Konsens und die Kriterien für einen Konsens angeht — ich wiederhole meine Eingangsbemerkung —
bestürzt mich einigermaßen, daß Ihre Partei mit dieser großen demokratischen Tradition mit einer derartigen politischen Gruppierung, die dies eben mißachtet, was von mir als Axiom dargestellt worden ist, sogar eine Regierung bilden will.
Meine Damen und Herren, der Vorwurf, mit der Einrichtung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland werde die deutsche Teilung abgesegnet und gebilligt, ist abwegig. Im Gegenteil, das Haus der Geschichte muß und wird dazu beitragen, mehr über die unerschiedlichen politischen Systeme in Deutschland zu informieren, Wissensdefizite über die Spaltung sowie den freien und den unfreien Teil unseres Vaterlandes gerade bei jungen Bürgern auszugleichen, die Problematik und Unnatürlichkeit der Teilung darzulegen, um damit dem Wiedervereinigungsgebot in der Präambel unseres Grundgesetzes zu entsprechen. Helmut Kohl hat vorhin gesagt: Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist nur ein Teil der deutschen Geschichte. Weil dies so ist, ist auch eine enge Verbindung zu dem in Berlin geplanten Deutschen Historischen Museum angestrebt, das die deutsche Geschichte insgesamt zum Gegenstand haben wird.
Beide Einrichtungen sollen und müssen sich gegenseitig ergänzen.
Herr Kollege Duve, das Haus der Geschichte wird sich, wie Sie wissen, nicht isoliert auf die Ereignisse nach 1945 beziehen, nach dem Motto: Den guten Teil der Geschichte verwaltet man in Bonn und den schlechten, vor 1945, in Berlin. Für die Zeit vor 1945 sind zwei ständige Ausstellungseinheiten vorgesehen — Sie nehmen ja für sich in Anspruch, daß Sie dazu beigetragen haben, daß dies so konzipiert ist; das ist ja auch der Sinn der parlamentarischen Mitwirkung,
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deswegen sollten Sie viel intensiver mitwirken — , und zwar zum einen zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und zum anderen zu den geschichtlichen Vorläufern unserer Demokratie — darauf haben Sie hingewiesen — , was sicherlich zurückgehen kann bis 1848 und möglicherweise bis in die Zeit davor.Deshalb ist der Vorwurf seitens der GRÜNEN, von Herrn Ströbele, dem Senator in spe in Berlin, Frau Vollmer, kürzlich und auch in der letzten Debatte hierzu geäußert, im Deutschen Historischen Museum und im Haus der Geschichte solle die Erinnerung an die Nazi-Barbarei getilgt werden, die deutsche Geschichte — so polemisieren Sie — solle entsorgt werden, abwegig, töricht und wahrheitswidrig.
Am besten, meine Damen und Herren, mißt man den Wahrheits- und Realitätsgehalt aller theoretischen Diskussionen und solcher Debatten an den praktischen Erfahrungen. Unter Verantwortung des inzwischen berufenen Direktors Dr. Hermann Schäfer hat das Noch-Provisorium des Hauses der Geschichte mit seinen beiden Ausstellungen „Notbehelfe der Nachkriegszeit" und „Medien vor 40 Jahren" positive Schlagzeilen in allen deutschen Tageszeitungen gemacht. Während z. B. bei dem ersten Thema die Abgeordneten der CDU/CSU 15, die Kollegen der SPD 13 Besuchergruppen in diese Ausstellung führten, war es bei der zweiten Ausstellung deutlich umgekehrt. Sogar eine Gruppe der Kollegen der GRÜNEN gehörte zu den Besuchern, was deutlich macht, meine Damen und Herren, daß die Arbeit des Hauses der Geschichte parteiübergreifend Anerkennung findet. Dieses waren keine Ausstellungen zur Geschichte des bundesrepublikanischen Establishments — so der Originalton früherer Kritik — , sondern lebensnahe, von vielen Bürgern zusammengetragene Exponate und Dokumente der Nachkriegszeit, in anschaulicher Form präsentiert, mit der Zielsetzung: erinnern und bewahren.Lassen Sie mich Ihnen zum Abschluß ein Zitat des selbsternannten Oberzensors Henri Nannen vortragen.
Herr Nannen formulierte in einem Schreiben zum SPD-Hearing des Jahres 1984 zur Planung des Hauses der Geschichte wie folgt — ich zitiere — : „Wenn der Besucher durch das Haus gegangen ist, muß er sehen, riechen, hören, schmecken, wie es in der Bundesrepublik zugeht. " Dann Nannen weiter: „Ich sage Ihnen voraus: Aus der Sache wird nichts."Meine Damen und Herren, Henri Nannen hat sich wieder einmal geirrt: Aus der Sache ist schon etwas geworden. Wer in den Ausstellungen war, konnte schmecken und riechen, wie es zu Beginn der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vor sich ging. Aus der Sache wird auch noch mehr. Die Aussage des Sozialdemokraten Professor Richard Löwenthal, es gebe weltweit kein größeres Land, in dem die Masse der Menschen so wenig Verhältnis zu ihrer Geschichte habe wie die Bundesrepublik Deutschland, ist eine Mahnung. Dies zu ändern ist auch unsere Aufgabe. Das Haus der Geschichte wird, da bin ich sicher, dazu einen Beitrag leisten.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Antje Vollmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lange, sehr lange hat es gedauert, bis das Parlament nun endlich über die Projekte und einen reellen Gesetzentwurf über den Plan, ein Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu bauen, um Debatte gebeten wird. In diesem späten Zeitpunkt steckt selbst ein Stückchen Geschichtsverständnis, ebenso wie in der Frage, die wir auch zu entscheiden haben, ob es hier nur um ein Gebäude geht und sich deswegen der Bauausschuß damit beschäftigen muß oder ob es mit diesem Haus der Geschichte um ein Stück Einfluß auf die Politik im Innern unseres Landes, um ein Stück Sinnstiftung geht, und dann gehört es natürlich in den Innenausschuß.Nachdem die Bundesrepublik viele Fakten gesetzt hat, sachverständige Gremien, Beiräte und nicht zuletzt ein Kuratorium eingesetzt hat, haben wir hier heute die Möglichkeit, die weitgehend fertigen Pläne und Konzepte noch einmal zur Kenntnis zu nehmen. Das ist konzeptionell fürsorgliche Belagerung von oben. Der staatlich und fachmännisch verordnete Sinn tröpfelt sozusagen von oben auf das Volk und auf das Parlament herab.Ich beginne mit einem Zitat:Unsere Aufgabe ist nicht einfach. Freilich, die Opposition hat die Wende immer unterschätzt. Das zeigt nur, daß sie noch nie verstanden hat, was man politisch mit Kultur machen kann. Und solange sie am Ruder war, hat sie dieses Gebiet ja auch brachliegen lassen. Nun haben unsere Vordenker sich da ein Projekt ausgedacht, das auf den ersten Blick einleuchtet. Sie sind nämlich wirklich ein Stück weitergekommen, weiter zurück. Sie sagen nicht mehr, wer über die Jugend, sondern wer über die Vergangenheit verfüge, habe die Zukunft. Wäre ja auch wirklich einfacher, wenn wir nicht mehr die gegenwärtigen Probleme lösen, sondern nur noch die Vergangenheit ändern müßten, um die Zukunft bestimmen zu können. Der Gedanke ist von altfränkischer Genialität. In unserem Fall ist das Problem nur, daß wir ja früher gesagt haben, wir sollten eher vorne Witterung zeigen, dann würden wir unseren nationalen Rattenschwanz schon los.— Das war sozusagen das Ethos der Wirtschaftswundergeneration und ihre Überlebensstrategie. —Wie kriegen wir ihn jetzt wieder dran? Und wie können wir ihn frisieren, damit er auch paßt?An sich war es ja auch eine schöne Geste, fast cäsarisch, als sich der Kanzler aus dem Reichstag lehnte, den Arm ausstreckte, wie einst Wilhelm II. den Daumen, und auf das Nichts deutete, wo einst die Kroll-Oper stand, und bedeutete, da
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Frau Dr. Vollmermüsse es hin, das neue Museum für Deutsche Geschichte. Endlich sollten wir auch eins kriegen, wie andere Nationen auch.— Sozusagen ein Centre Pompidou. —War natürlich Kohl, hat aber keiner gemerkt. Denn welche europäische Nation hat schon ein Museum, wo ihr ihre Geschichte erzählt wird? Die haben doch ihre Geschichte.— Und die erzählen sie sich nicht im Museum. —
Und die haben richtige Museen und Galerien, keine Legendenschreine wie im Osten.Dieses Zitat, diese Charakteristik des Museumsbaus verdanke ich dem Historiker Lutz Niethammer, von dem ich so viel gelernt habe, daß ich ihn ihm Lauf dieser Rede noch mehrfach zitieren möchte.Dabei ist der Gedanke vielleicht gar nicht so dumm, daß unser Mangel an Tradition, dieses merkwürdig Brüchige in unserer deutschen Identität uns eher mit denen verbindet, die sich eine solche Tradition erst fabrizieren müssen, und daß wir deswegen ein bißchen behutsamer und nicht ganz so plattfüßig durch die Weltgeschichte latschen.Unsere Vordenker haben die Diskussion über den postmateriellen Wertwandel genau angesehen:— sagt Lutz Niethammer —Mit kleiner Münze ist kein Staat mehr zu machen, es wird großer Sinn gesucht — ab geht die Post zu den Müttern. Das ist nicht nur beunruhigend, weil ja niemand weiß, wo die sind und wohin sie weisen.Das ist auch beunruhigend, weil es eigentlich ganz unnötig erscheint, auch im Sinne der Konservativen. Vielleicht, so sage ich mal, hätte man das Ganze auch lassen können, weil es ja eine Tatsache ist, daß die Bundesrepublik doch längst ihren verschwiegenen Sinn hatte. Wirwaren doch längst auf dem besten Weg, eine Nation zu werden, und zwar ganz ohne die alten Zöpfe von wegen Kulturnation oder Staatsnation: einfach so, weil es den Westdeutschen gut ging, und besser als den meisten anderen. Und weil sie Distanz von ihrer Geschichte gewonnen hatten.Man rührt also — Fluch der bösen Tat — an eine gefährliche Normalität bei dem, was Sie da tun, wenn das, zu dem eine solche Distanz schon besteht, nun mit staatlicher Autorität einer einheitlichen Deutung nahegebracht werden soll. So von nahem betrachtet fallen natürlich die Lücken ganz besonders auf, so vor allen Dingen diese garstig große Lücke, die nur mit zwei kleinen Sonderausstellungen ausgefüllt werden soll, die zwischen dem Berliner Museum, das im wesentlichen im Jahre 1933 endet, und dem Bonner Museum, das im Jahre 1949 beginnt, sozusagen im Niemandsland auf der grünen Wiese liegt.
Sie treten aus diesem Berliner Museum heraus und denken: Da war doch was. Wo ist das, was da gewesen ist, denn eigentlich hin? Wo ist ein Loch, das groß genug wäre, um diese Lücke verschwinden zu lassen?Geschichte als Ganzes sollte gedeutet werden, hatte der Bundeskanzler gesagt, und Sie haben auf diese zwei Sonderausstellungen hingewiesen. Ich glaube allerdings, daß dieses Riesenloch an Sinnlosigkeit mit solchen Floskeln nicht zu füllen ist. Diese Lücke gibt auch so ihren geheimen Sinn frei, vergleicht man sie nämlich mit den Konzepten, die für die anderen Teile vorgesehen sind. Sie folgen alle, insbesondere das Bonner Museum, dem geheimen Lehrplan, zu sagen: So wie es war, war es sehr gut, und gut war es eben deswegen, weil wir wieder wer sind.Das ist ein eigenartiges Verständnis von Geschichte. Dieses Verständnis von Geschichte ist letztlich glücksbesessen und deterministisch. Daß die Geschichte aus lauter Knotenpunkten besteht, wo historische Entscheidungen gefällt werden, die auch mit Schuld gegenüber den nicht ergriffenen Möglichkeiten zu tun haben, daß es historische Weggabelungen gibt, die wie verzweigte Flußarme aussehen, das alles wird zu einem breiten, sozusagen betonierten historischen Fluß begradigt: So wie es war, war es gut.Daß etwas hätte anders werden können, daß andere, ebenso spannende Entwicklungen möglich gewesen sind — bei anderen politischen Entscheidungen — , das darf nicht diskutiert werden. So zwingen einen auch die vorliegenden Pläne, nur in eine Richtung zu denken und zu gehen.
Ich erinnere hier nur an die deutschlandpolitisch hochbrisante Situation nach der Stalin-Note Anfang der 50er Jahre, als sehr wohl eine die folgenden Jahrzehnte bestimmende Grundentscheidung gegen die Wiedervereinigung in einem möglicherweise neutralen Deutschland zu gunsten der Westintegration gefällt wurde. Gilt es da nicht nachträglich etwas zu reflektieren?Ich erinnere auch an das andere Beispiel, das höchst problematische Beispiel aus den Museumsplänen, mit dem Sie die Geschichte der Studentenbewegung und der Aufbruchphase in den 60er und 70er Jahren mit brutaler Konsequenz im Terrorismus enden lassen wollen, als habe es als Ergebnis dieser Studentenbewegung keine Schulreform, keine Bildungsreform, keine ökologische Bewegung, keine Friedensbewegung, keine Frauenbewegung gegeben. Was soll ein solcher Aufriß sinnlich-rational vermitteln? Der Raum der Studentenbewegung soll also einer sein, den man mit Horror und Schrecken verläßt, um wieder in die Räume zu kommen, wo „man sich wohlfühlt", und zwar gemäß den Gesetzen einer affirmativen Ideologie.
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9140 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Frau Dr. VollmerNun hat zwar auch Herr Professor Schäfer verschiedentlich bescheiden darauf hingewiesen, daß in seiner Planung durchaus der Charakter des Notbehelfs, des Provisoriums vorgesehen sei. Mich persönlich hat gerade dieser provisorische Charakter überzeugt. Ich weiß nicht, ob Ihnen die kulturelle Bedeutung sogenannter Provisorien bewußt ist. Die spannendsten Theater-, Konzert- und Filmaufführungen nach dem Krieg fanden und finden teilweise immer noch in sogenannten Provisorien statt. Ich glaube, auch die spannendsten Parlamentsdebatten fanden eher in dem Provisorium des alten Bundestages statt.
Der Vergleich mit den Aufführungen in den nachfolgenden repräsentativen Neubauten fällt für die letztere so nicht unbedingt gut aus. Die berühmte Dialektik von Form und Inhalt läßt sich auch im geplanten Haus der Geschichte nicht einfach wegmogeln. Niethammer sagt:Irgendwie sitzt der ideologische Zuschnitt in unserem Fall nicht richtig. Der Verschub auf die nationale Ebene trifft nicht— bei den Deutschen jedenfalls nicht —auf Selbstverständlichkeit und Stolz. Die Westdeutschen — sagen unsere Demoskopen — sind das Schlußlicht in der internationalen Hitliste des Nationalstolzes .— Die das auch prächtig können. —Und ist man erst einmal auf der Ebene der Nation, dann gibt es noch ganz andere Tretminen .. . Immer haben sich zwei Fünftel der Westdeutschen zum Neutralismus bekannt, diese Drückeberger.Auch haben wir ja in der letzten Zeit diese fatale Erfahrung gemacht, daß der Rückbezug auf das Nationale, wobei ja jene Zeit, die in den beiden Museumsneubauten, wie gesagt, so wenig vorkommt, ja auch nicht ganz und gar zu vermeiden ist, immer eigenartige Querschläge erzeugt, in Bitburg z. B., neulich hier im Bundestag z. B.Wie soll man da in Ruhe eine neue nationale Tradition aufbauen ... Was wir brauchen, ist Ruhe an der Heimatfront. Jedenfalls, wenn ich eines gelernt habe, ... die nationale Ebene ist ein Minenfeld, da ist schlecht ackern.Was Herr Kohl versucht, „ist die Quadratur des Zirkels". Er hat sich folgendes als Aufgabe gestellt: Wir wollen die Wertprobleme des Westens auf die nationale Ebene herunterziehen und mit Rückenwind aus der Vergangenheit ideologisch kompensieren. Wie man es dreht und wendet, es gelingt sehr schlecht, ein Museum wächst eben nicht in der flachen Hand eines politischen Zauberlehrlings.Da bieten sich dann die Historiker als Sinnberater an. Es geht um die Kontinuitätskonstruktion, die Tradition aus der Retorte. Wenn die gerade Linie, wie wir gesehen haben, nicht so einfach zu ziehen ist, bietet sich ja das Baukastensystem an: So ist der Plan des Museums. Geschachtelt, wie die Pläne aussehen, fälltdann vielleicht nicht auf, wenn hier und da ein Baustein fehlt.Das hat nun aber doch die SPD gemerkt. An dieser Stelle fängt sie mit dem Diskurs an und sagt: Da muß doch mehr Arbeiterbewegung rein. Und die FDP sagt: Auch die großen Liberalen fehlen. — Aber gerne, machen wir, sagt das Bauministerium. Kriegen die noch ein paar Quadratmeter Flachware für die Gewerkschaften und die großen Einzelpersönlichkeiten. Auch für die GRÜNEN ist noch die eine oder andere Ecke zu besetzen. — Das scheint wie eine neue Unübersichtlichkeit. Es wird auch keiner vergrätzt. Aber das, was suggeriert werden soll, das, was gefunden werden soll, das gibt es eben nicht. Es ist dieses unaussprechliche Ding, das die Deutschen nun einfach nicht haben wollen.Gehen wir einmal kurz zurück nach Berlin, zu jener Stelle, wo wir Helmut Kohl, an einem Fenster des Reichstagsgebäudes sinnend lehnend verlassen haben. Er hat gemerkt: Das Reichstagsgebäude stand dort etwas einsam und leer, und er hat ihm die Gesellschaft eines anderen historischen Gebäudes gewünscht. Es haben auch schon andere empfunden, daß es da eine Leere gab. Da haben die Historiker auch etwas gefunden. Genau hier, dem vergangenen Reichstag vis-à-vis und neben der großdeutschen Halle des Volkes, genau hier an dieser Stelle zufällig sollte einst das deutsche Weltreich sein Zentrum haben. Dort sollte das Führer-Palais stehen. Dazu ist es nicht gekommen, und natürlich kann kein Platz der Welt etwas für die Phantasien, die über ihn ausgegossen werden.Helmut Kohl hat das wohl auch nicht wissen können. Es hat ihm wohl auch keiner gesagt. Ich zitiere noch einmal Lutz Niethammer:
Vielleicht war's ja nicht nur Nachkriegsarmut und Wiedervereinigungsanspruch, sondern auch ein Quentchen Einsicht und Trauer, daß die Zeitgenossen das für Hitlers Zentrum ausgehobene Riesenloch am Königsplatz nach dem Krieg einfach zuschütten und das Gebäude verkommen ließen. Will sagen: daß sie pathetisch diesen Ort unpathetischen Nutzungen überließen: dem Gesträuch, den Kindern, den Fußballspielern, nachdem die Gemüsefelder der Blockadezeit abgeräumt waren.Aber selbst das, dieser vielleicht einzig sinnstiftende Gebrauch eines Platzes, dessen GebäudePhantasien zum Glück und symbolisch nie fertig wurden, selbst der ist dann irgendwann vergessen worden in den letzten 40 Jahren. Warum wohl? Ich glaube, es ist uns eben so passiert . . .
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! In den vergangenen Jahren ist häufig über die Errichtung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nachgedacht und diskutiert worden. Ich glaube, es gibt nicht allzu oft Projekte, die mit derartiger Sorgfalt und Besonnenheit, aber auch leidenschaftlicher Auseinandersetzung in der Sache wie gerade dieses beispielhafte Vorhaben beraten werden.
Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich, daß mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf die Debatte aus der vergangenen Legislaturperiode aufgegriffen und die parlamentarische Verantwortung für die Vermittlung der Geschichte unserer Demokratie durch dieses Haus neuerlich augenfällig wird. Mir scheint, daß bereits der politische Meinungsaustausch zwischen den Abgeordneten, daß die fachliche Auseinandersetzung innerhalb der Historikerzunft als Hinweis für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges gelten können. Um so mehr gilt dies für das unverkennbare Interesse der Öffentlichkeit an dieser Debatte. Wir können feststellen, daß schon unser Ringen um ein zeitgeschichtliches Museum, in dem Zeugnisse unserer jüngsten Geschichte gesammelt und lebendig vermittelt werden, die Beschäftigung mit Werden und Entwicklung unserer parlamentarischen Demokratie befruchtet und beflügelt.Aus meiner Sicht sollte man es daher keineswegs negativ bewerten, daß seit der Ankündigung in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 13. Oktober 1982 reichlich viel Zeit vergangen ist, bis nunmehr auch die gesetzliche Fundierung der Stiftung für dieses Projekt, von den bisherigen haushaltspolitischen Entscheidungen des Parlaments einmal abgesehen, in Reichweite gelangt ist; denn diese Zeit — und das Kompliment gebührt allen Beteiligten — ist gut genutzt worden.
Die Vorarbeiten an der Konzeption schreiten zügig voran. Erste öffentlichkeitswirksame Aktivitäten wie etwa die bisherigen Ausstellungen stoßen auf eine erfreuliche Aufnahmebereitschaft. Der Kollege Neumann hat dies eben schon ausgeführt. Kuratorium, Wissenschaftlicher Beirat und Arbeitskreise gesellschaftlicher Gruppen versehen seit langem kompetent und diskussionsfreudig ihre Arbeit im Rahmen der noch unselbständigen Stiftung. Die Qualität dieser praktischen Bemühungen und Erfolge hat manchen voreilig geäußerten Bedenken bereits den Boden entzogen.Die seit 1982 geleistete Aufbauarbeit wie auch der Wunsch nach Kontinuität sprechen im übrigen auch dafür, an der bisherigen Federführung beim Bundesbauminister nichts zu ändern.
Ich möchte ihm ausdrücklich für sein persönliches Engagement in dieser Sache danken.
Meine Damen und Herren, wir können heute feststellen: Dieses Projekt Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat an Akzeptanz und anSelbstverständlichkeit gewonnen. Dabei soll aber auch nicht vergessen werden, wie sehr das Vorhaben der Bundesregierung gelegentlich mit heftiger Ablehnung, mit Mißtrauen überschüttet wurde, vor allem, aber nicht nur aus den Reihen der parlamentarischen Opposition. Jedoch der entscheidende Vorwurf, das geplante Haus der Geschichte könne etwa ein einseitiges, sozusagen national-konservatives Geschichtsbild regierungsamtlich ins Bild setzen, war von vornherein unbegründet,
aus der eigenen Geschichtsauffassung der Kritiker vielleicht verständlich, freilich doch unbegründet. Das muß hier festgestellt werden.
Von Anfang an haben die Freien Demokraten deutlich gemacht, Herr Kollege Duve, an welchen Orientierungspunkten sich die Arbeit der Stiftung ausrichten muß, um ihrem Zweck gerecht zu werden, nämlich die Entstehung und Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland einschließlich ihrer Voraussetzungen auf wissenschaftlicher Grundlage repräsentativ darzustellen und einer breiten Öffentlichkeit durch Sammlung, Dokumentation, ständige Ausstellung, Sonderausstellungen und Informationen zu veranschaulichen.Diese Grundpfeiler sahen und sehen aus liberalem Verständnis wie folgt aus: Erstens größtmögliche Objektivität und Repräsentativität in der Darstellung historischer Fakten, zweitens Pluralität und überfachliche Zusammenarbeit der wissenschaftlichen Ansätze, Methoden und Richtungen, drittens Offenheit des Geschichtsbildes für breite, auch kontroverse Diskussion und Meinungsbildung und — nicht zuletzt — viertens eine Stiftungsstruktur mit flexiblen und sorgfältigen Beratungsabläufen einerseits, auf der anderen Seite aber auch klaren und durchschaubaren Entscheidungskompetenzen.Meine Damen und Herren, ich glaube, der vorliegende Gesetzentwurf trägt diesen Gesichtspunkten ausgewogen und überlegt Rechnung. Überparteilichkeit der Gremienzusammensetzung sowie der fachwissenschaftliche Ruf von Gutachtern, Gründungsdirektorium, Sachverständigen und heutigem Direktor sind — lassen Sie mich das ohne Einschränkung konstatieren — über jeden vernünftigen Zweifel erhaben. Selbst der interessierte historische Laie vermag unschwer zu erkennen, daß die namhaften Wissenschaftler, die zur Mitwirkung gewonnen wurden, ein breites Spektrum unterschiedlicher Auffassungen repräsentieren und zu den Spitzenvertretern ihres jeweiligen Faches zählen. Selbst ausgesprochene Kritiker einer sogenannten Nationalgeschichtsschreibung haben — übrigens vom Start weg — ihr Wissen und Können an ausschlaggebender Stelle eingebracht und dies dankenswerterweise auch für die zukünftige Arbeit zugesagt. Das müßte, wie ich meine, manchen Skeptiker zur Überprüfung seiner Haltung anregen.
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9142 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
BeckmannDie Schaffung organisatorischer Voraussetzungen und deren personelle Umsetzung haben dafür gesorgt, daß in der praktischen Arbeit die Forderung meiner Fraktion nicht außer acht bleibt, wie ich sie bereits im Dezember 1986 vor diesem Hause vertreten habe, nämlich kein verbindliches Geschichtsbild zu vermitteln. So entbehren denn auch Spekulationen über eine amtlich verordnete Geschichtsauffassung, durch die anderen die eigene Sicht und Deutung unserer Zeitgeschichte aufgedrängt würde, schlicht der Realität. Niemand sollte heute noch leichtfertig diesem hinfälligen und bei dem derzeitigen Stand der Diskussion und Erkenntnismöglichkeit vielleicht auch böswilligen Verdacht anhängen, sofern er nicht selber, Frau Kollegin Vollmer, die Besorgnis nähren möchte, seinerseits das eigene, vorgefertigte Urteil über unseren geschichtlichen Weg verabsolutieren zu wollen.
Meine Damen und Herren, wir sehen allenthalben, wie das Interesse an der Geschichte, an einer Aufarbeitung unserer jüngsten Geschichte zunimmt. Das wissen wir nicht erst seit dem Historikerstreit, der zeitlich mit den Erörterungen um das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zusammenfiel und der ja nicht zufällig unter lebhaftester Anteilnahme der Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Ich finde, es ist gut, daß es überhaupt zu einer solchen Kontroverse kommen konnte.
Es ist auch gut, daß die zunächst extremen Positionen dieses Disputs, der sich zeitweilig in wechselseitigen Anschuldigungen apologetischer Sinnstiftung bzw. ideologiefixierter Vergangenheitsbewältigung zuspitzte und zu verrennen drohte, mittlerweile in eine fruchtbare und vorausweisende Debatte eingemündet sind, aus der wir alle Nutzen und Einsicht ziehen können.
Dabei, meine Damen und Herren, mangelt es uns auch nicht an der Erkenntnis, mit welcher großen Verantwortung wir Politiker, wir politisch denkende und handelnde Menschen mit eigener Meinung zu den Geschehnissen unserer Zeit an die heiklen Aufgaben heran müssen, den Verlust der Geschichte, wie Alfred Heuß es treffend charakterisiert hat, den Verlust unserer jüngsten Geschichte überwinden zu helfen. Wir stehen in der Pflicht, besonders den jungen Menschen Möglichkeiten zu schaffen, ihren Blick auf die zurückliegenden Jahrzehnte zu schärfen, die ihrem eigenen Erleben entzogen waren, und sich gegebenenfalls erstmals einen Begriff von der historischen Wende unserer nächsten Vergangenheit — ich meine die Zerschlagung der Diktatur und Begründung der freiheitlichen Demokratie — zu machen. Uns ist heute bewußt, daß die zeitweilige Vernachlässigung der Vermittlung historischen Wissens in den schulischen Lehrplänen ein Irrweg war.
Der Nachholbedarf ist beträchtlich. Wir müssen unsdies nicht zuletzt durch die nach wie vor virulenteVerführungskraft nationalistischer, extremistischer und demokratiefeindlicher Parolen schmerzhaft vor Augen führen lassen.Mit der Entstehung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wollen wir als Gesetzgeber einen wirksamen Schritt tun, unserer Verpflichtung als Demokraten nachzukommen, auch unsere Zeitgeschichte vor allem der Jugend, aber natürlich auch den jährlich über 400 000 Besuchern der Bundeshauptstadt, viele darunter aus dem Ausland, in der ungeschmälerten Pluralität zu veranschaulichen, die der Offenheit und Freiheitlichkeit unseres Staatswesens entspricht.Meine Damen und Herren, wir wären schöne Parlamentarier und Demokraten,
wenn wir es törichterweise der DDR überließen, sich allein und mit gehörigem Aufwand um die Pflege unserer deutschen Vergangenheit zu bemühen und ihrer marxistischen Geschichtsauffassung einen Monopolanspruch zu verschaffen. Die Demokratie darf sich ihrer Selbstvergewisserung und historischen Selbstdarstellung nicht entziehen. Mit dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wollen wir auch dazu beitragen, dem Geschichtsverständnis und der Festigung von Freiheit und Demokratie in Deutschland einen Orientierungspunkt zu geben.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Odendahl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte als Bildungspolitikerin in dieser Debatte über die Errichtung einer Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" das Wort ergreifen, aber zuerst mein Bedauern darüber ausdrücken, daß sich die Bundesregierung so lange Zeit gelassen hat, bis wir uns hier im Parlament in der Sache auseinandersetzen können.Mein Kollege Duve ist ausführlich auf die Geschichte der Geschichte eingegangen
und hat deutlich gemacht, daß die Bundesregierung in dem nun vorliegenden Gesetzentwurf aus unserer Sicht nachgebessert hat. Es wäre verheerend gewesen, die Geschichtsdarstellung mit dem Jahr 1945 beginnen zu lassen.
Wie hätten wir den jungen Menschen, die die Zeit vorher nicht erlebt haben, erklären können, warum die Bundesrepublik Deutschland und warum die Deutsche Demokratische Republik in den heutigen Staatsformen entstanden sind?Es ist gut, daß wir nun wenigstens unsere Forderung nach einem Bericht des Direktors des Hauses der Geschichte durchsetzen konnten, damit die öffentli-
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Frau Odendahlche Diskussion darüber wachgehalten wird und auch stattfinden kann, wenn auch der vorgesehene zweijährige Turnus den aktuellen Bezug einschränken wird.Ich hoffe sehr, daß die lange Vorgeschichte dieses Hauses der Geschichte mit zur Klärung beigetragen hat, daß sich eine demokratische Gesellschaft kein Geschichtsbild verordnen läßt, und sei der Rahmen eines solchen Bildes auch noch so prachtvoll.Seine Geschichte kann man sich in der Tat nicht auswählen oder gar schönen. Sie ist auch nicht nur Stoff für Wissenschaftler und Historiker; denn sie wurde gelebt und erlebt, gerade von denen, die das Haus besuchen werden.Zu unserer Geschichte gehören die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Ausrottung der deutschen Juden und des europäischen Judentums genauso wie die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg. Sie ist Teil unserer Identität, und wir können uns nicht vorbeimogeln.40 Jahre Bundesrepublik Deutschland sind Anlaß zu Feiern, für die die Bundesregierung ein umfangreiches Programm entwickelt hat. Sie sind aber auch Anlaß zu der Erkenntnis, daß sich die Bundesrepublik Deutschland bei der Aufarbeitung ihrer Geschiche 40 Jahre Verspätung geleistet hat. Wie denn sonst hätten Rechtsradikalismus, Neonazismus und Fremdenhaß in dem heutigen Umfang wieder aufleben können, ganz abgesehen von der Ermutigung, die diese ewig Gestrigen immer wieder durch führende Politiker und Rechtsintellektuelle erfahren dürfen?Natürlich trägt auch der Bildungsbereich für das Geschichtsbild ein hohes Maß an Verantwortung. Wie steht es denn damit, wenn verantwortliche Kultusminister — wie dies Herr Mayer-Vorfelder in BadenWürttemberg tat — die erste Strophe des Deutschlandlieds wieder zum Unterrichtsstoff machen? Das ist ein Auswendiglernen eines Liedverses ohne Bewußtsein dafür, welche Verbrechen von 1933 bis 1945 mit dem Anspruch „von der Maas bis an die Memel" begangen wurden.Wo bleibt denn die Erziehung zu mündigen Bürgern, ohne die ein demokratischer Staat nicht leben kann, wenn die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte eingeengt wird?Kann es sich unsere Gesellschaft noch länger leisten, Naturwissenschaft und Technik gegen die Geisteswissenschaften auszuspielen,
unter dem Motto: Das erstere ist die Zukunft, das letztere die Vergangenheit? Können wir es uns leisten, sie dadurch auf Dauer zu trennen? Wie steht es denn mit der Freiheit der Wissenschaft, wenn Gesamtzusammenhänge schon beim Einstieg in ein Wissensgebiet gar nicht mehr vermittelt werden?Ich will das an einem ganz einfachen Beispiel abfragen: Muß nicht ein Forscher mit der Gentechnologie anders umgehen, wenn er über die Menschenversuche in deutschen Konzentrationslagern umfassend Bescheid weiß? Wäre es nicht undenkbar, daß deutsche Mediziner heute mit Skeletteilen ermordeter Juden und politischer Häftlinge an deutschen Universitäten unterrichten, wenn sie auch nur einmal gefordert gewesen wären, aus der Geschichte zu lernen?
In der Bildungspolitik sind die Ansätze für eine kritische Auseinandersetzung eher zurückgegangen. Man streitet sich über Quantitätsprobleme. Man meint, Wichtigeres zu tun zu haben. Ich gehe hier deshalb ausführlich auf diese Zusammenhänge ein, weil ich damit aus meiner Sicht auf die wichtigste Aufgabe eines Hauses der Geschichte und auch auf die Defizite hinweisen will, die endlich aufgearbeitet werden müssen.Ich habe eingangs kritisch vermerkt, daß sich die Bundesregierung viel Zeit gelassen hat, um einen gesetzlichen Rahmen für diese Stiftung vorzulegen. Der Antrag wurde am 24. Juni des vergangenen Jahres eingebracht. Meine Damen und Herren, wäre die Debatte in diesem Hause darüber früher erfolgt, hätte vielleicht die Gedenkveranstaltung zur 50jährigen Wiederkehr der Reichspogromnacht eine andere Gestaltung erfahren und nicht einen so beklemmenden Verlauf genommen.Ich bin davon überzeugt, daß bei der Aufgabe, aus der Geschichte zu lernen, Politiker eine Vorbildfunktion einnehmen müssen. Deshalb kann es nicht darum gehen, daß wir dieses Haus der Geschichte als ein Museum einrichten, in dem schöne interessante Dinge ausgestellt sind, sondern wir müssen damit auch ein Haus schaffen, in dem sich die Bürger unserer Republik mit unserer Geschichte auseinandersetzen können.Ich begrüße es, daß mit dem heute zur Debatte stehenden Gesetzentwurf die viel zu lange währende gesetzlose Zeit für die Stiftung des Hauses der Geschichte ein Ende findet. Wenn auch aus unserer Sicht mit diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht alle Bedenken ausgeräumt sind, werden wir dennoch nach der Verabschiedung im Kuratorium mitarbeiten. Denn auch schon bisher hat unsere Kritik dazu beigetragen, daß nachgebessert wurde.
Wir müssen mitarbeiten mit dem Anspruch, daß aus diesem Haus kein Museum im traditionellen Sinne wird, sondern unsere Geschichte mit ihren ganzen Widersprüchlichkeiten dargestellt werden muß. Dieses Haus bietet eine Chance, die über 40 Jahre aufgeschobene, vernachlässigte Auseinandersetzung mit unserer jüngsten Geschichte, die zum Entstehen der Bundesrepublik Deutschland geführt hat, endlich zu führen und die Öffentlichkeit dazu aufzufordern.Ein berühmter Mensch hat einmal gesagt: Wer nicht bereit ist, aus der Geschichte zu lernen, ist dazu verurteilt, sie noch einmal zu erleben.Wir müssen dazu beitragen, daß das Lernen aus der Geschichte in diesem Hause möglich wird. Kein Historikerstreit kann uns von der Aufgabe entbinden, die öffentliche Auseinandersetzung in allen Kreisen unserer Bevölkerung über unser Geschichtsbild zu führen. Wenn das Haus der Geschichte dafür nicht geeignet ist, hätte es wenig Sinn, mit einer Stiftung dafür Geld zu investieren.
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9144 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Frau OdendahlMeine Damen und Herren, wir brauchen sicher keine Bonner Walhalla, sondern ein offenes Haus, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger unserer Republik mit unserer Geschichte auseinandersetzen können. Wenn die Debatte heute dazu auch einen Anstoß gegeben hat, dann war sie sehr wichtig.
— In der Walhalla wird nicht diskutiert. Ich war dort. Ich habe mich sehr erhaben gefühlt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kansy.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler und mein Kollege Bernd Neumann haben bereits ausführlich zum Ziel und zur Konzeption des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Stellung genommen. Diese Fragen stehen natürlich, Frau Vollmer, heute und auch künftig zu Recht im Mittelpunkt unserer Auseinandersetzungen im Deutschen Bundestag. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß nicht auch die Kolleginnen und Kollegen im Städtebauausschuß mit dem gleichen Herzblut dieses Projekt begleiten und nicht alle Betonköpfe sind, was ich etwas zwischen Ihren Worten herausgehört habe.
Wenn wir aber Ziel und Konzeption als Mittelpunkt nehmen, möchte ich diese Minuten doch dazu nutzen, zu einem anderen Gesichtspunkt etwas zu sagen. Die Idee und die inhaltliche Herausforderung finden bereits unser parlamentarisches Interesse. Doch am Ende steht auch ein Bauwerk. Standort und Gestaltung sagen auf ihre Art und Weise etwas darüber aus, wie wir dieses Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sehen. Mit dem Ausdruck „sehen" meine ich durchaus das Sehen im wahrsten Sinne des Wortes.
Zunächst noch einmal zum Standort. Natürlich ist er Bonn. Aber ist das wirklich so natürlich? Bonn ist die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und als Bundeshauptstadt untrennbar mit ihrer Geschichte verbunden. Dennoch — das ist bereits in den Ausführungen meines Kollegen Neumann zum Ausdruck gekommen — wollen wir mit diesem Haus den unzähligen Besuchern Bonns aus dem Inland und auch aus dem Ausland, die in zunehmendem Maß nur die Bundesrepublik Deutschland kennen, nicht den Eindruck vermitteln, die Bundesrepublik Deutschland sei Deutschland und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Nationalmuseum.Der Bundeskanzler hat bereits in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1982, in der er die Errichtung des Hauses der Geschichte ankündigte, dargelegt, daß dieses Haus, das in vielfältiger Weise Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland darstellen wird, im erkennbaren Bewußtsein errichtet wird, daß die Geschichte unseres Staates, auf die wir stolz sein können, auch die Geschichte einer geteilten Nation ist.Deswegen, Frau Vollmer, wird parallel zu diesem Bauvorhaben in Berlin das Deutsche Historische Museum entstehen, ein Geschenk des Bundes an die deutsche Hauptstadt Berlin.
— Das war nicht für jeden hörbar. Der Zwischenruf der GRÜNEN zu diesem Thema lautete: „Blödsinn!". Vielleicht hört das auch der eine oder andere in Berlin.In diesem Museum wird die gesamte deutsche Geschichte von ihren Anfängen bis zur Gegenwart dargestellt. Der Platz, den wir dafür gewählt haben, Frau Kollegin Vollmer, im Spreebogen im Zentrum Berlins,
ist primär nicht das Loch, an dem sich Herr Speer als Hitlers Baumeister versucht hat. Es ist eine Stelle, die über ein ganzes Jahrhundert mit der jüngeren deutschen Geschichte unmittelbar verbunden ist, wo der erste Reichstag gestanden hat, wo die erste Republik ausgerufen wurde, wo die Nationalsozialisten das Symbol dieser Republik verbrannten. Und Sie stellen sich hin und reduzieren die Bedeutung des ganzen Platzes auf Herrn Speer und würden dort am liebsten Kaninchen und Kraut sehen! Wenn das Ihre Konzeption für Berlin ist, dann sagen Sie das den Berlinern, am besten, bevor dort gewählt wird!
Zurück zum Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der Standort ist natürlich Bonn. Aber wo in Bonn? Die Bundeshauptstadt ist als Provisorium entstanden. Viele Verfassungsorgane waren deswegen ebenfalls provisorisch und meist unzulänglich untergebracht, selbst dann noch, als man Zeit und Geld gehabt hätte, dies zu ändern. Dennoch hat sich die Bundesrepublik Deutschland in der ersten Zeit ihres Bestehens als Bauherr verständlicherweise schwergetan. Man wollte — dies ist verständlich — angesichts der Teilung des deutschen Vaterlandes den provisorischen Charakter Bonns auch in baulicher und städtebaulicher Hinsicht unterstreichen. Am 10. Mai dieses Jahres wird Bonn 40 Jahre Bundeshauptstadt sein. Herr Oberbürgermeister, im Gegensatz zu anderen Jubiläumsdaten ist dies auch völlig unumstritten.
Ohne daß wir den Anspruch aufgeben, die Einheit und Freiheit ganz Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu erreichen, wie wir es in der Präambel unseres Grundgesetzes verankert haben, wissen wir heute deutlicher als am Beginn dieser Republik und am Beginn Bonns als Bundeshauptstadt, daß wir dies als Teil des freien Europas nur durch Überwindung der Spaltung ganz Europas erreichen müssen.
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Dr.-Ing. KansyDer Deutsche Bundestag, die Bundesregierung und die Bundeshauptstadt Bonn haben vor diesem Hintergrund eine Konzeption entwickelt, die auch in städtebaulicher Hinsicht — nicht monumental, aber mit der gebotenen Würde vor den Verfassungsorganen dieser Republik und in Verantwortung für unsere Bundeshauptstadt, Herr Oberbürgermeister — Zeichen setzt. Und ohne die kulturelle Vielfalt unseres föderativ verfaßten Staates zu verleugnen — ich würde sagen: im Gegenteil, sie eher unterstreichend — sollen die inländischen und ausländischen Besucher in der Bundeshauptstadt, hier in Bonn, etwas von dem geistigen und kulturellen Reichtum der ganzen Bundesrepublik Deutschland spüren können.Als Bauplatz — wir wissen es, aber vielleicht nicht alle, die uns zuhören — für das Haus der Geschichte wurde ein Grundstück an der Adenauerallee ausgewählt, direkt gegenüber der sogenannten künftigen Parlamentsvorzone, von unserem Bundestagspräsidenten zwischenzeitlich als „Volksgarten der Demokratie" bezeichnet. Um diesen Freiraum zwischen der heutigen Görresstraße und der Adenauerallee werden dann der Deutsche Bundestag mit seinen Nebengebäuden, der Bundesrat, das Bundeskanzleramt und das Haus der Geschichte liegen, in sehr engen räumlichen Zusammenhängen auch zur Kunst- und Ausstellungshalle, die ebenfalls vom Bund errichtet wird, und zu dem Städtischen Kunstmuseum, das, mit Unterstützung des Bundes und des Landes NordrheinWestfalen, von der Stadt Bonn errichtet wird.
Wir bekennen und bekunden als Deutscher Bundestag damit auch unsere Verantwortung für die besonderen Aufgaben und Belastungen der Stadt Bonn als Bundeshauptstadt, die wir nicht nur den Bürgern dieser Stadt aufbürden wollen. Ich bin sicher, Herr Oberbürgermeister, das wird sich auch in der Verlängerung der sogenannten Bonn-Vereinbarung ausdrücken, die ja dieses Jahr ansteht.Der Deutsche Bundestag selber hat ebenfalls fast ein Vierteljahrhundert gezögert, sein Provisorium in Frage zu stellen, und, wie wir wissen, 15 schmerzhafte Jahre gebraucht, seine Baulichkeiten neu zu gestalten. Wie auch das neue Kanzleramt sind die Bauten unserer Verfassungsorgane keine Prunkbauten. Dennoch haben wir uns vernünftigerweise dazu durchgerungen, sie nicht ausschließlich als Zweckbauten zu betrachten. Hier, in dieser Region, ist das Herz der Republik. Und da Bauen auch ein Ausdruck des Selbstverständnisses des Bauherrn ist, also hier, Herr Kollege Conradi,
ein Teil des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland, schaffen wir mit diesem Konzept auch einen städtebaulichen Raum, damit die Bürger dieses Landes, die Bonn besuchen, nicht nur durch entsprechende Anleitung merken, daß sie tatsächlich im Mittelpunkt der Bundesrepublik sind.Meine Damen und Herren, dieser Mittelpunkt wäre ohne eine kulturelle Komponente kaum erlebbar. Wir wollen dabei nicht mit Berlin oder anderen Hauptstädten konkurrieren, die gleichzeitig große Kulturmetropolen sind. Aber am Sitz von Parlament und Regierung muß einfach erkennbar sein, daß die Bundesrepublik Deutschland mehr ist als ein wirtschaftlicher und politischer Machtfaktor in Europa,
eben auch eine Kulturnation. Deswegen im Herzen der Republik auch das Haus der Geschichte, auch die Kunst- und Ausstellungshalle, auch das Kunstmuseum!Das Haus der Geschichte selber — man soll sie hier nennen: nach dem Entwurf der Architekten Ingeborg und Hartmut Rüdiger in Zusammenarbeit mit der Bundesbaudirektion — soll nach Auffassung der Planer das, was hier vorhin als geistige Pluralität dieses Museums diskutiert wurde, auch als Bauwerk ausdrücken, eine Identifizierung des Besuchers, des Beschauers mit der demokratischen Geschichte dieses Staates ermöglichen, einen offenen Umgang auch in der baulichen Gestalt anregen und vor allen Dingen— dies gibt der Entwurf her — jede Feierlichkeit und irgendwelche monumentalen Ansprüche vermeiden.
— Vielen Dank, Herr Kollege Conradi, Mitglied des Städtebauausschusses, trotzdem qualifiziert, zu den Fragen Stellung zu nehmen.
Meine Damen und Herren, die Öffnung dieses Gebäudes in den neuen Freiraum der Parlamentsvorzone lädt die zwischenzeitlich jährlich über eine halbe Million Besucher Bonns dazu ein, Vergangenheit und Gegenwart sozusagen ineinandergewoben zu erleben. Ohne unsere historische Aufgabe für ganz Deutschland, ohne die deutsche Hauptstadt Berlin zu vergessen, sagen wir mit der Neugestaltung dieses Parlaments und Regierungsviertels und mit diesem Bau des Hauses der deutschen Geschichte auch städtebaulich ein bewußtes Ja zu unserem Staat Bundesrepublik Deutschland und seiner Hauptstadt Bonn und gestalten Bonn auch ein wenig als Visitenkarte dieses Staates.Das Haus der Geschichte, mit dessen Bau wir dieses Jahr beginnen und das 1993, so hoffe ich, fertiggestellt sein wird, ist ein Teil dieses Selbstverständnisses. Es wurde schon gesagt, daß es den jüngeren Menschen— aber um Gottes willen nicht nur denen — , die die Anfänge der Republik nicht bewußt erlebt haben, ermöglicht, die Geschichte dieses Staates zu verstehen, zu begreifen, nachzuvollziehen und auch in der Aktualität mitzuerleben. Es wird auch in der baulichen Gestaltung ein lebendiges Ausstellungs- und Informationszentrum werden, getragen von der Stiftung des öffentlichen Rechts, die wir heute debattieren. So wie das Kuratorium der Stiftung aus Vertretern des Deutschen Bundestages, der Bundesländer und der Bundesregierung besteht, zeigt auch die städtebauliche Nachbarschaft dieses Bauwerkes mit Bundestag, Bundesrat und Kanzleramt die angestrebte vertrau-
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Dr.-Ing. Kansyensvolle innige Zusammenarbeit bei dem Bau des Museums.Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt nicht nur die Initiative des Bundeskanzlers 1982 zu diesem Vorhaben und dem Gesetzentwurf, denen sie zustimmen wird, sondern sie möchte an dieser Stelle auch allen, die an diesem Projekt bisher gearbeitet haben, herzlichen Dank sagen.
Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jedes Jahr kommt etwa eine halbe Million Besucher nach Bonn; sie wollen sehen, wo das Parlament, wo die Regierung arbeitet, sie wollen ein bißchen von der Atmosphäre mitbekommen, die hier ist, sie wollen etwas mehr verstehen, was hier stattfindet. Aber von den kulturellen, von den sozialen, von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zuständen in der Republik erfahren diese Besucher relativ wenig.Bonn ist zwar Hauptstadt, aber Bonn ist keine Metropole und wird es auch in den nächsten 1999 Jahren nicht werden. Was der Besucher in Rom, in London, in Paris über das jeweilige Land erfahren kann, kann der Besucher Bonns über die Bundesrepublik hier in der Regel nicht erfahren. Deswegen wollen wir hier — darüber ist kein Streit — einige Einrichtungen schaffen, in denen die Menschen, die zu uns kommen, etwas mehr von unserem Land, von seiner Kultur, von seiner Gesellschaft, von seinen sozialen Problemen und von seiner Geschichte erfahren. Das Haus der Geschichte gehört ebenso wie die Kunsthalle zu den Institutionen, die das vermitteln sollen.Ich weiß allerdings nicht, ob wir uns alle ganz darüber klar sind, welche Probleme mit diesem Haus der Geschichte verbunden sind. Bei einem Kunstmuseum, bei einem Museum der Technik oder bei einem Heimatmuseum gibt es in der Regel fast keinen Streit, weil über das, was da ausgestellt wird, weithin Konsens besteht, und je weiter das in die Vergangenheit zurückreicht, um so größer ist der Konsens. Die Ausstellung über die Staufer hat wenig Streit ausgelöst, die Ausstellung über die Preußen war schon etwas strittiger. Eine Ausstellung über die Architektur des Barocks finden wir alle schön, eine Ausstellung über die Architektur der Postmoderne würde Diskussionen auslösen. Eine Ausstellung über alte Dampflokomotiven findet jeder herrlich, eine Ausstellung über Atomkraftwerke würde wahrscheinlich umstritten sein.Bei der Geschichte ist das noch viel stärker so, denn wer da glaubt, mit einem Geschichtsmuseum ließe sich ein breiter Konsens schaffen, nationale Identität, gar Sinn stiften, der irrt. Es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bestehe Konsens, und wenn man das gut ausstelle, werde das eine einigende, verbindende Wirkung zeitigen. Diesen Konsens gibt es in vielen Fragen nicht, weil diese Geschichte nicht irgendwo weit zurückliegt, unsere Vorväter betrifft, sondern unser Leben, unsere Konflikte, auch unser Versagen und unsere Irrtümer einschließt. Wir solltenuns nichts vormachen: So, wie es in unserem Volk über viele Fragen unserer jüngsten Geschichte keinen Konsens gibt, ja, sogar bitteren Streit, so gibt es auch unter uns hier, in der Volksvertretung, im Parlament, diesen Konsens in vielen Fragen nicht.Die Reaktionen einiger Unionsabgeordneter auf die große Rede des Bundespräsidenten vom 8. Mai 1985 zeigen, daß es diesen Konsens in der Frage der Bewertung der Nazizeit und des Zweiten Weltkrieges nicht gibt. Das zeigt auch Ihre Weigerung, die Worte des Bundespräsidenten zur Grundlage der weiteren Arbeit an einem Mahnmal für die Opfer des Krieges und der Naziverbrechen zu machen.
— Herr Bundeskanzler, ich war bei der Verhandlung dabei, und wir haben hier darüber diskutiert. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion hat erklärt: Die Worte des Bundespräsidenten in der Rede vom 8. Mai werden nicht die Grundlage der Arbeit an einem Mahnmal. Damit ist dieses Projekt damals gestorben.
Es gibt bei uns auch keinen Konsens über die Bewertung des Widerstandes gegen die Nazis. Franz Josef Strauß hat versucht, die Menschen, die Deutschland unter den Nazis verließen oder verlassen mußten, als schlechte Patrioten darzustellen. Es gibt bei uns — das hat der Konflikt über die Äußerungen einiger Vertriebenenfunktionäre gezeigt — auch keinen Konsens über die Ursachen und die Folgen der Vertreibung.Über vieles gibt es Konsens, und einiges haben Sie, Herr Bundeskanzler, hier genannt.
— Ich mit Ihnen, Herr Bötsch, auch nicht. Deswegen bin ich hier; deswegen bin ich gewählt worden. Über das, worüber Konsens besteht, wird in den Festreden dieses Jahres bis zur Erschöpfung geredet werden; deswegen lasse ich das hier weg.Selbst über unsere Verfassung haben wir ja nicht in allen Punkten Konsens, etwa über die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Das zeigen die Reaktionen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Eigenbedarfskündigung. Da gibt es wesentliche Unterschiede zwischen uns, so wie wir über die Rechte der Kriegsdienstverweigerer oder der Grundrechte von Ausländern nicht einer Meinung sind.Ich finde das alles nicht schlimm. So ist das in einer Demokratie. Das haben Sie, Herr Bötsch, ja gerade deutlich zu erkennen gegeben.
Ich will nur die Erwartung einiger Stifter stören, dieses Projekt werde zu einem Haus der großen gemeinsamen Sinnstiftung. Dies wird ein Haus der Auseinandersetzung, auch ein Haus des Konflikts, und ich bin
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9147
Conradifroh darüber, daß die Architektur dieses Hauses das ermöglicht.Nun sind Geschichtsmuseen etwas problematisch, weil Geschichte Gesprochenes, Geschriebenes, Überlieferung von und Auseinandersetzung mit Vergangenheit ist und weil geschichtliche Gegenstände zwar Anschauung, aber nicht unbedingt Erläuterung und Verständnis geben. Wenn da vier 10-DM-Scheine liegen und signalisieren „Wir alle haben 1948 bei der Währungsreform 40 DM gekriegt" und wenn nicht dabei steht, daß damit das Sparvermögen der kleinen Leute für den Hitler-Krieg kaputtgemacht wurde, während die Aktien- und Grundbesitzer ihr Vermögen herüberretten konnten, dann sind diese vier 10-DM-Scheine eine Täuschung, dann erläutern sie nicht die Wirklichkeit, sondern verschleiern sie.
Wir leben in einer Welt, in der die Bilder mehr Macht haben als die Worte, und deswegen werden wir sorgfältig darauf achten müssen, daß die Gegenstände, die Bilder in dem geplanten Museum nicht die historische Wirklichkeit verstellen, so wie manche schön herausgeputzte Innenstadt eine historische Idylle vortäuscht, die es nie gegeben hat.Ich hätte lieber — das will ich zum Schluß sagen — ein „Haus der Republik" gehabt. Ich meine übrigens, wir sollten uns den Begriff der Republik, der Gesellschaft der Freien, der Gleichen und der Brüderlichen,
nicht von einigen Strolchen wegnehmen lassen,
die diesen Begriff in schamloser Weise für sich beanspruchen, obwohl sie alle Werte, alle Moral, alle Ideale, die mit dem Begriff „Republik" zusammenhängen, in Wirklichkeit gar nicht wollen. Diesen falschen Republikanern sollten wir die Republik nicht überlassen, nicht einmal den Begriff der Republik.
— Vielleicht haben wir darüber Konsens.Ich hätte mir gewünscht, daß wir ein Haus der Republik schaffen, das die Kultur, das gesellschaftliche Leben, die geistigen Strömungen dieses Landes wiedergibt in der Vergangenheit, in der Gegenwart, auch für die Zukunft. Denn so notwendig die Auseinandersetzung, der Konflikt über die Vergangenheit ist — darüber sind wir nicht im Streit — , wichtiger ist die Auseinandersetzung über Gegenwart und Zukunft. Manchmal habe ich den Eindruck, Herr Bundeskanzler, als sei dieser Bundesregierung die Geschichte so wichtig, weil sie die Zukunft fürchtet, weil sie kein Konzept für die Zukunft hat.
— Wer nicht weiß, woher er kommt, der weiß nicht, wohin er geht. Das ist wohl richtig. Aber unsere Gesellschaft ist zur Zeit zu sehr damit beschäftigt, zu fragen, woher sie kommt, und sie streitet zuwenig darüber, wohin sie geht. Deswegen sollten wir uns überlegen, ob wir dieses Haus nur der Geschichte der Republik widmen, ob es nicht sehr viel stärker auch unsere Gegenwart und die Probleme unserer Zukunft einbeziehen soll.
Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will am Ende der Debatte nicht der Versuchung erliegen, noch einmal zu wiederholen, was hier an Vielfältigem gesagt ist. Ich möchte nur ein paar Gedanken zu der Debatte hinzufügen.Erstens. Ich finde es gut und richtig, daß wir die Debatte heute führen; heute wird auch die Ausstellung „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland" eröffnet werden. Ich möchte uns alle ermuntern, diese Ausstellung kritisch anzusehen und zu begleiten, weil wir hier gewissermaßen im Modellbaukasten sehen können, wie man darstellen kann, was Geschichte der Bundesrepublik ist, und vielleicht aus dem Modellbaukasten noch die eine oder andere Lehre für das ziehen können, was hier mit dem „Haus der Geschichte" gestaltet werden soll.Zweitens. Ich sage dies bewußt als Berliner: Dieses Haus steht in Bonn, und ich finde, daß der Ort dafür richtig ist. Auch wenn einmal unser Wunsch nach Überwindung der Teilung Deutschlands in Erfüllung gehen wird, können wir die 40 Jahre, die wir bisher verbracht haben, und die Jahre oder gar Jahrzehnte, die vor uns liegen, nicht aus der Geschichte wegwischen. Ich glaube, es ist mehr als Symbolik, daß der alte Plenarsaal des Deutschen Bundestages drüben genausolange funktionsfähig war und dem deutschen Parlament diente wie der Plenarsaal des alten Reichstages, fast auf den Monat genau. Das ist ein Anlaß, über Geschichte nachzudenken.Drittens. Das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" hier in Bonn wird in einem Spannungsverhältnis zum Deutschen Historischen Museum in Berlin stehen. Ich finde es übrigens richtig, in Anbetracht und angesichts des Reichstages das Haus des Museums für die deutsche Geschichte in Berlin zu errichten. Ich gucke nicht sosehr auf Speer, ich gucke auf die Geschichte davor, und dann ist es richtig.
Wenn auch das große Museum in Berlin weiter in die Geschichte Deutschlands zurückgreifen wird als das bedeutende Haus hier in Bonn, über dessen Stiftung wir heute beraten, werden doch an beiden Orten deutsche Geschichte nach 1949 und die ihr vorausgehenden Entwicklungen dargestellt, bearbeitet, verarbeitet und gewürdigt werden müssen. Der Bundeskanzler hat dazu das Notwendige gesagt. Aber ich finde, daß beide Häuser dieses im fruchtbaren Spannungsverhältnis zueinander tun müssen, und dies ist eine große Chance, die wahrzunehmen eine Heraus-
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9148 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Lüderforderung ist, die von beiden Seiten, von Berlin und Bonn, aufgenommen werden muß.Viertens. Vielfalt — ich greife einen Begriff auf, den der Herr Bundeskanzler heute gebraucht hat — zeichnet die Bundesrepublik in Geschichte und Gegenwart aus, Vielfalt der Meinungen, Vielfalt der Lebensformen, Vielfalt der Religionen, auch Vielfalt der Kulturen. Wir waren und sind eine multikulturelle Gesellschaft. Sie werden einem Berliner gestatten zu erklären, daß er kein Verständnis dafür hat, wieso ausgerechnet aus Bayern bisweilen die multikulturelle Vielfalt unseres Landes bestritten wird. Man muß nur einmal in die Verfassung Bayerns gucken.Fünftens. Wir gründen nicht etwa ein Haus für die Geschichte der Deutschen, sondern für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zu dieser Geschichte unserer Republik gehören auch die ausländischen Bürger, die wir als Arbeitskräfte angeworben haben und die wir als Mitbürger hierließen. Zu ihr gehören die Kinder und Enkelkinder, die hier geboren sind.
Sechstens. Professor Stölzel hat einmal gesagt — ich zitiere — : „Es gibt im Grundgesetz kein Recht auf Erinnerung. " Das ist zutreffend. Aber ich ergänze: Uns ist die Pflicht aufgetragen, Erinnerung zu ermöglichen. Dem soll und muß dieses Haus ebenso wie das geplante Historische Museum in Berlin dienen. Erinnern heißt, Vergangenheit in der ganzen Breite aufzunehmen. Erinnern heißt, Anstöße zu geben zum Nachdenken über das Heute und über den Weg, der hierher führte, damit wir als Nutzer des „Hauses der Geschichte" auch Nutzen aus der Geschichte ziehen.Vielleicht können wir dann, wenn wir nach fünf Jahren einmal Bilanz ziehen über das, was erreicht worden ist, sehen, daß es richtig war, dieses Haus hier zu errichten in Vielfalt der Darstellungsweise sowie in Parallelität und Bezugsweise zu dem, was in Berlin als Deutsches Historisches Museum errichtet wird. Beides brauchen wir, damit wir nach vorn sehen können.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie die Fraktion der SPD wünschen, daß der Gesetzentwurf auf Drucksache 11/2583 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen wird. Die Fraktion DIE GRÜNEN beantragt dagegen die Überweisung des Gesetzentwurfs zur federführenden Beratung an den Innenausschuß. Wer stimmt für die Überweisung zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Damit erübrigt sich eine Abstimmung über den Überweisungsvorschlag der Fraktion DIE GRÜNEN.
Wir stimmen dann noch darüber ab, ob der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Mitberatung an die übrigen in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden soll. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungJahreswirtschaftsbericht 1989 der Bundesregierung— Drucksache 11/3917 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschußb) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungJahresgutachten 1988/89 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung— Drucksache 11/3478 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschußc) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes nach Artikel 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes an die Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Freie Hansestadt Bremen, Freie und Hansestadt Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Saarland
— Drucksache 11/1551 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 11/3647 — Berichterstatter: Abgeordneter Hinskenb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/3848 —Berichterstatter:Abgeordnete Rossmanith Dr. Weng Wieczorek (Duisburg) Frau Vennegerts
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Vizepräsident Cronenbergd) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung über den jährlichen Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat über die wirtschaftliche Lage in der Gemeinschaft und die Festlegung der wirtschaftspolitischen Leitlinien für 1989 „mehr Wachstum und Beschäftigung auf dem Weg zum Binnenmarkt"— Drucksache 11/3757 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuße) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPDSofortprogramm „Arbeit, Umwelt und Investitionen"— Drucksachen 11/1552, 11/3262 —Berichterstatter:Abgeordneter Dr. Lippold
Im Ältestenrat ist eine Vereinbarung getroffen worden, daß hierüber drei Stunden diskutiert werden soll. Ich möchte mir die Zustimmung des Hauses dafür einholen. — Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft Helmut Haussmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beraten heute den Jahreswirtschaftsbericht. Ich möchte mich zu Beginn der Beratung über den Jahreswirtschaftsbericht für 25 Jahre Sachverständigenberatung herzlich bedanken. In Kürze wird Gelegenheit sein, dies noch ausführlich in würdiger Form zu tun.Ich möchte aber in der deutschen Öffentlichkeit darauf hinweisen, daß dieser Jahreswirtschaftsbericht für das Jahr 1989 wichtige Informationen und wirtschaftliche Perspektiven insbesondere für die jungen Menschen in der Bundesrepublik bietet.Meine Damen und Herren, wir können im Jahre 1989 damit rechnen, daß sich das stabile Wachstum mit gut 2,5 % fortsetzt; wir können damit rechnen, daß gut 150 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich finde es besonders erfreulich, daß diese Schaffung von neuen Arbeitsplätzen dazu führen wird, meine Damen und Herren von der Opposition, daß die Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik von ihrem Höhepunkt von fast 10 % im Jahre 1982 auf 5 % halbiert wird. Damit hat die Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Europäischen Gemeinschaft mit Abstand die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit. Auch dies verbirgt sich hinter diesen so globalen Zahlen der Nürnberger Arbeitslosenstatistik. Dies vollzieht sich bei relativ stabilen Preisen und bei einer sehr positiven Außenhandelsbilanz.Trotzdem — das gebe ich zu — haben wir auch in den Jahren 1988 und 1989 das politisch wichtigste Zieldes Stabilitätsgesetzes eindeutig verfehlt; wir haben in der Bundesrepublik keine Vollbeschäftigung, und zwar trotz der einen Million neuer Arbeitsplätze, die wir im Laufe des Jahres 1989 gegenüber dem Beschäftigungstief 1982 erreicht haben werden.Wer aber, Herr Roth, wie die Opposition ständig die statistisch starre Arbeitslosigkeit beklagt, der sollte auch einmal zugeben: Diese neugeschaffenen Arbeitsplätze in der Bundesrepublik kommen überwiegend Jugendlichen, überwiegend jungen Ausländern, ins Berufsleben zurückkehrenden Frauen und Aussiedlern zugute, meine Damen und Herren.
Das heißt umgekehrt: Ohne die zweite Generation ausländischer Arbeitnehmer, ohne rückkehrwillige Frauen und ohne Aussiedler hätten wir die 2-Millionen-Grenze längst unterschritten.
Ich warne deshalb die Opposition vor einer zu pauschalen Kritik an der Arbeitslosigkeit; denn nationalistische Einstellungen müssen wir gemeinsam bekämpfen: die Sozialdemokraten, die Union und die Freien Demokraten. Deshalb erwarte ich, daß die Opposition zumindest die Arbeitslosenziffern und die Bewegung der Beschäftigung hinter diesen Arbeitslosenziffern in Zukunft differenzierter sieht.
Ich möchte mich deshalb heute auch als deutscher Wirtschaftsminister ausdrücklich für die Leistung unserer ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik bedanken, meine Damen und Herren.
Ohne diese ausländischen Arbeitnehmer sähe die wirtschaftliche Bilanz in der Bundesrepublik eindeutig schlechter aus.Generell gilt in dieser aufgeregten Debatte: Ein Land wie die Bundesrepublik erzeugt mit Millionen ausländischen Arbeitnehmern einen riesigen Außenhandelsüberschuß zu Lasten anderer Länder, und ein Land in dieser Konstitution darf sich auch aus ökonomischen Gründen keine dumpfe Fremdenfeindlichkeit leisten, meine Damen und Herren.
Ich kann deshalb nur hoffen, daß der sich vollendende Binnenmarkt unsere Gesellschaft wieder öffnet und uns gegenüber Ausländern liberaler und toleranter macht, weil wir sonst diese hervorragende ökonomische Bilanz mit vielen Millionen ausländischen Arbeitnehmern und mit einem gewaltigen Außenhandelsüberschuß auch in der internationalen Diskussion auf Dauer nicht halten können.
— Ich bedanke mich ausdrücklich für diese Zustimmung von der Opposition.Ich will jetzt aber zu einem Punkt zurückkommen, bei dem, wie ich glaube, die Zustimmung nicht so groß
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Bundesminister Dr. Haussmannist. Ich will die Opposition darauf hinweisen, daß diese Erfolge der Koalition mit einem Mehr an Marktwirtschaft erreicht wurden.
Deshalb will ich heute anläßlich dieses Jahreswirtschaftsberichts zum Grundsätzlichen folgendes sagen.Marktwirtschaftliche Politik ist kein untätiges Hoffen auf bessere Zeiten. Ich kann nur davor warnen, die Kräfte des Marktes zu unterschätzen. Es ist meines Erachtens zuwenig, wenn sich in einer Grundsatzkommission der sozialdemokratischen Partei 13 Präsidiumsmitglieder für eine stärkere marktwirtschaftliche Ausrichtung aussprechen, sich aber elf dagegen aussprechen oder sich der Stimme enthalten.
Das ist eine zentrale Frage für unsere Position hinsichtlich unserer Wettbewerbschancen im zukünftigen Europa.
Deshalb sage ich: Auch das Amt des Wirtschaftsministers kann nicht bedeuten, lediglich weltwirtschaftliche Zwänge zu vollstrecken. Schon gar nicht kann ein Wirtschaftsminister bereit sein, sich dem Druck von noch so mächtigen Interessenverbänden zu beugen. Es kommt darauf an, daß sich die Wirtschaftspolitik am Gemeinwohl orientiert und daß wir zu Gruppensonderwünschen nein sagen.Deshalb kommt es auf dem Weg nach Europa darauf an, unsere Ordnungspolitik wieder neu zu beleben. Wir sind mit der Sozialen Marktwirtschaft bislang hervorragend gefahren. Es gibt überhaupt keinen Grund, diesem bewährten Kurs mit Blick auf Europa zu mißtrauen, ganz im Gegenteil. Es gibt ja innerhalb der Europäischen Gemeinschaft einen Wettbewerb. Diejenigen Länder, die — zum Teil mit sozialistischen Regierungen — mehr Marktwirtschaft betreiben, sind die Gewinner. Diejenigen Länder in Europa, die sich mehr Staatswirtschaft leisten, werden die Verlierer in Europa sein.
Zweitens. Wir müssen eine bessere Partnerschaft zwischen großen, mittleren und kleinen Unternehmen in der Bundesrepublik anstreben. Meine Damen und Herren, eine moderne Volkswirtschaft auf ihrem Weg in die Weltmärkte braucht sowohl forschungs- als auch kapitalintensive Großunternehmen, die aus eigener Kraft den Wettbewerb mit japanischen und amerikanischen Unternehmen aufnehmen können. Sie braucht aber auch genauso wendige mittelständische Betriebe, die als Spezialisten oder Zulieferer den Standort Bundesrepublik verteidigen oder verbessern.Europa '92 kann deshalb nicht zu einer Veranstaltung für Großkonzerne werden. Es ist daher eine meiner vordringlichsten Aufgaben der nächsten Jahre, die mittelständischen Betriebe für den Binnenmarkt fitzumachen.
Drittens. Wir haben in der Bundesrepublik nach wie vor einen Nachholbedarf, was soziale Innovation angeht. Wir sind zwar Exportweltmeister, doch die Konkurrenz schläft nicht. Starre Besitzstände wird es ab 1992 im weltweiten Wettbewerb nicht mehr geben. Tarif- und Arbeitsrecht müssen endlich Antworten auf die Herausforderungen dieses Wettbewerbs geben.
Vordringlich ist mehr Flexibilität, damit Wachstum in Zukunft zu mehr Beschäftigung führt. Wir haben sieben Jahre Wirtschaftswachstum und eine gewisse Stagnation, was die strukturelle Arbeitslosigkeit angeht.Was nun die Ordnungspolitik der Zukunft angeht, so kommt es darauf an, offene und verkappte Widerstände, die es auch in unserer Gesellschaft gibt, zu brechen. Je näher der Binnenmarkt 1992 kommt, desto stärker werden wir es in der deutschen Gesellschaft mit Widerständen von Interessengruppen zu tun haben.
Deshalb kommt es darauf an, daß sich die Politik in der Ordnungspolitik die Freiheit bewahrt, nein sagen zu können, nein zu Erhaltungssubventionen, nein aber auch zu Hilfen für vermeintliche Hoffnungsträger am ökonomischen Horizont. Es gibt ja manchmal eine große Koalition von Industriepolitikern, die glauben, sie seien klüger als die Marktforscher in den Unternehmen und sie wüßten heute schon, was morgen marktfähig ist.Diese Freiheit ginge unweigerlich verloren, wenn sich Staat und Wirtschaft, wie manchmal auch von einzelnen deutsch en Unternehmern gefordert, gemeinsam an einen Tisch setzen würden, um einen sogenannten nationalen Konsens über künftige industrielle Prioritäten auszugucken. Den Befürwortern einer so verstandenen koordinierten Industriepolitik geht es aus meiner Sicht letztlich um Risikovermeidung nach dem Motto: mitgefangen, mitgehangen. Als Gesellschaft mit beschränkter Haftung hat der Produktionsstandort Bundesrepublik keine echte Zukunftschance.
Der frische Wind eines verstärkten europäischen Wettbewerbs wird hoffentlich so manche Erstarrung, so manche Marktabschottung und auch so manche staatlich garantierte Monopolstellung ohne großes politisches Zutun einfach als unbrauchbar und überflüssig wegblasen, ohne daß sich Brüssel oder nationale Politik darum kümmern müssen.
Das ist die große Chance im gemeinsamen Europa.Die zweite Hauptaufgabe neben der Ordnungspolitik ist aus meiner Sicht die Verbesserung der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit für unsere Unternehmen.
Internationaler Wettbewerb um die besten Standortefür Industrie und Dienstleistung und damit um dieArbeitsplätze von morgen ist längst zu einem Wettbe-
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Bundesminister Dr. Haussmannwerb der staatlichen Rahmenbedingungen geworden. Nirgends ist der Wettbewerbsdruck von außen auf die staatlichen Rahmenbedingungen schon jetzt so deutlich wie in der Steuerpolitik. Schon heute sind Unterschiede in der Unternehmensbesteuerung von standortentscheidender Wichtigkeit. Deshalb hat die Bundesregierung zu Recht für die nächste Legislaturperiode die Verbesserung der steuerlichen Wettbewerbsbedingungen auf die Tagesordnung gesetzt.Eindeutiger Schwerpunkt muß die Entlastung der Unternehmen von solchen Steuern sein, die den Produktions- und Dienstleistungsstandort Bundesrepublik in besonderem Maße belasten. Egal, meine Damen und Herren, wie die Gewerbesteuerreform aussehen wird, sie muß für die Gemeinden einen angemessenen Ausgleich vorsehen. Die kommunale Finanzautonomie muß erhalten bleiben.
Das Interesse der Gemeinden an der Wirtschaftsansiedlung und an der Schaffung neuer Arbeitsplätze muß auch in Zukunft honoriert werden.
Eine sogenannte Revitalisierung der Gewerbesteuer, wie sie in einer unheiligen Allianz von Teilen des Deutschen Städtetages und der Sozialdemokratie gefordert wird, kommt nicht in Frage.
Wir müssen die Unternehmen entlasten, wir müssen Arbeitsplätze produktiv machen. Wir können deshalb keine neue Selbständigensteuer in der Bundesrepublik einführen.
Dritte Hauptaufgabe: Wir müssen den Mittelstand für den Binnenmarkt fitmachen. Ich messe der Mittelstandspolitik zentrale Bedeutung zu. Mittelstand steht politisch für Unabhängigkeit und Liberalität in unserer Gesellschaft. Der Mittelstand wirkt Vermachtungstendenzen entgegen und stärkt so die Freiheit des einzelnen auch gegenüber anonymen Großorganisationen, seien es Großkonzerne, seien es große Gewerkschaften.Wir dürfen uns aber nichts vormachen: Der Binnenmarkt 1992 wird überall tiefe Spuren hinterlassen, und das nicht erst in vier Jahren. Die Wissenslücken insbesondere im Mittelstand über das, was auf ihn zukommt, müssen geschlossen werden. Es geht darum, den Mittelstand auf seinem Weg nach Europa zu ermutigen und nicht zu entmutigen. Unsere Exportindustrie, besonders die Großindustrie, ist darauf besser vorbereitet als kleine und mittlere Betriebe.Ich werde deshalb im März zu einer Europa-Konferenz des Mittelstandes im Ruhrgebiet einladen, um den Dialog mit der mittelständischen Wirtschaft über die fortschreitende europäische Integration und insbesondere den Binnenmarkt zu intensivieren. Dazu gehört auch, daß ich die mittelständische Wirtschaft ermuntere, die Wachstumschancen des Binnenmarktes offensiv zu nutzen und sich auf diese neuen Herausforderungen mit unserer Unterstützung intensiv vorzubereiten.Ich wiederhole: Der Binnenmarkt darf nicht zu einer Exklusivveranstaltung der Großkonzerne werden; der Mittelstand muß sich darauf verlassen können. Es geht nicht an, daß Binnenmarkt so buchstabiert wird: Die Chancen für die Großen und die Risiken für die Kleinen.
Wir müssen dafür sorgen, daß gute Mittelstandspolitik im Hinblick auf Europa nicht neue Subventionsprogramme für die Großen bedeutet, sondern bessere Informationen und mehr Kooperationshilfen für die Kleinen und Mittleren. Der Mittelstand braucht keine mildtätigen Almosen, sondern er braucht Chancengleichheit und faire Bedingungen.
Vierte Hauptaufgabe: Mehr soziale Phantasie bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist notwendig. Ich bin davon überzeugt, daß die Arbeitslosigkeit deutlich gedrückt werden könnte, wenn sich die Tarifpartner flexibler verhalten würden. Es gibt genügend Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland. Wir leiden jedoch unter zu starren arbeitsrechtlichen und tariflichen Rahmenbedingungen.Ich plädiere für mehr soziale Phantasie. Es gibt vorbildliche Tarifverträge. Ich erinnere an die IG-Chemie und an den Tarifvertrag im Chemiebereich, der mehr Teilzeitarbeit ermöglicht. Ich kann nur wünschen, daß andere Einzelgewerkschaften dies nachmachen. Ich plädiere für einen Tarifvertrag ausgerichtet am Beispiel der Chemie. Dort gibt es auch einen besonderen Tariftatbestand für ausländische Mitarbeiter. Auch dies bedarf der Nachahmung.Ich plädiere insgesamt dafür, daß auch die Arbeitgeber endlich spüren, daß ihr Beitrag nicht ausreicht. Auch sie müssen deutlich mehr qualifizierte Teilzeitarbeit in der Bundesrepublik Deutschland realisieren.
Die Arbeitgeber haben im Hinblick auf den Binnenmarkt die große Aufgabe, endlich die Lohnzusatzkosten stärker zu dämpfen. Meine Damen und Herren, der Staat hat nur die Zuständigkeit für knapp die Hälfte der Lohnzusatzkosten. Die andere Hälfte wird durch Tarifverträge, durch Betriebsvereinbarungen verursacht. Wenn wir heute in der deutschen Automobilindustrie Lohnzusatzkosten von über 100 % haben, bedeutet das, daß mittelfristig Arbeitsplätze in Japan, in Korea, in den USA entstehen und nicht in München, Stuttgart oder in Bochum.
Deshalb haben auch die deutschen Arbeitgeber ihre Hausaufgaben für den Binnenmarkt 1992 noch nicht vollständig erledigt. Es ist ihre zentrale Aufgabe, im Bereich der Lohnzusatzkosten durch mehr Mitverantwortung für wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu sorgen.
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Bundesminister Dr. HaussmannDazu gehört auch, daß wir uns weltweit nicht weiter zum Vorreiter bei Arbeitszeitverkürzungen machen können, meine Damen und Herren. Vor allem können wir es uns nicht länger leisten, qualifizierte Arbeit zwangsweise stillzulegen. Wenn es in einzelnen deutschen Automobilwerken zu lange dauert, bis neue Modelle auf den Markt kommen, wenn einzelne Entwicklungsingenieure bereit wären, abends und am Wochenende zu arbeiten, dies aber nach deutschem Tarifrecht nicht möglich ist, dann werden wir langfristig im Wettbewerb gegenüber den USA und Japan unterliegen. Das ist die Wahrheit.
Deshalb plädiere ich dafür, daß auch die Opposition darüber nachdenkt, wie bei der Arbeitszeitverkürzung zumindest differenziert nach verschiedenen Qualifikationen Regelungen gefunden werden können.Ich möchte zum Schluß meiner Rede noch etwas Grundsätzliches zum Verhältnis zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik sagen. Es kann nicht das Ziel in einer Sozialen Marktwirtschaft sein, Wohlstand durch Sozialabbau abzusichern. Dies ist nicht das Grundverständnis unserer Vorstellung von Sozialer Marktwirtschaft. Deshalb braucht auch und gerade der Europäische Binnenmarkt eine soziale Dimension. Dies wird von uns nicht bestritten, aber man sollte sich auch keine Illusionen machen. Nicht jede soziale Wohltat in der Bundesrepublik wird sich im Binnenmarkt behaupten oder gar in die EG-Partnerländer exportieren lassen. Der EG-Binnenmarkt intensiviert den Wettbewerb der Systeme auch im sozialen Bereich.Unsere Antwort darauf muß sein, noch leistungsstärker, noch produktiver und noch kreativer zu werden, um uns weiterhin das dichteste soziale Netz in Europa und den besten Umweltschutz auf wichtigen Gebieten in Europa zu leisten. Dies wollen wir verteidigen, aber dies erfordert, daß wir in der Arbeitszeit, daß wir in der Entwicklungszeit, daß wir in der Tarifpolitik kreativer und innovativer werden.
Soziale Sicherheit und mehr Flexibilität sind aus meiner Sicht keine Gegensätze, sondern sie bedingen einander. Ohne sozialen Schutz im Rücken ist den Arbeitnehmern mehr Mobilität und Anpassungsbereitschaft nicht zuzumuten. Aber ohne Mobilität und Anpassungsbereitschaft ist auch der soziale Schutz nicht zu finanzieren.Europa 1992 bietet aus meiner Sicht die einmalige Chance, langjährigen politischen Stillstand und eine schleichende Auszehrung der europäischen Idee zu überwinden. Ich bin davon überzeugt, daß unsere Wirtschaft hervorragende Voraussetzungen für den Binnenmarkt 1992 bietet.Dazu trägt auch bei, daß gerade in den nächsten Jahren geburtenstarke Jahrgänge ins Arbeitsleben eintreten, die dank des Einsatzes unserer Wirtschaft hervorragend ausgebildet sind. Sie sind übrigens für moderne Technik und innovative Ideen sehr aufgeschlossen. Europa braucht diesen jugendlichen Elan, Europa braucht aber auch mehr Unbekümmertheit, damit wir uns nicht hinter überkommenen und gesellschaftlichen Schutzzäunen verschanzen. Die 90erJahre werden von einem weltweiten Wettbewerb um Arbeitsplätze der Zukunft geprägt sein. Deshalb müssen wir mit unserer marktwirtschaftlichen Politik die Ausgangsbedingungen der jungen Europäer im Kampf um Arbeitsplätze gegenüber japanischen und amerikanischen Wettbewerbern verbessern.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeswirtschaftsminister, bei Ihrem Amtsantritt hatten Sie gewissermaßen Glück: Die wirtschaftliche Lage war günstiger als im Vorjahr.
Gerade jetzt, meine Damen und Herren, hätte ich mehr Nachdenklichkeit dahin gehend erwartet, warum trotz eines relativ hohen Wirtschaftswachstums von 3,4 % die zugrunde liegenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht gelöst werden.
Wir haben ein Wirtschaftswachstum von 3,4 %, aber bei der Bundesanstalt für Arbeit ist kein Arbeitsloser weniger registriert.
Weiterhin gibt es in der Bundesrepublik Deutschland über eine Million nicht registrierter Arbeitsloser. Wir haben 3 Millionen Arbeitslose in einer Phase, in der Sie sagen: Wir schreiben das sechste Jahr des Wirtschaftsaufschwungs.Es wäre doch Nachdenklichkeit im Hinblick auf die Frage notwendig, warum beschäftigungsmäßig so wenig geschieht. Hierzu gab es keinerlei Antwort, sondern Verharmlosung.
Jetzt wird z. B. der verharmlosende Hinweis gegeben, die Jugendarbeitslosigkeit sei etwas zurückgegangen. Meine Damen und Herren, wir alle haben uns angestrengt, daß zusätzliche berufsbildende Maßnahmen und allgemeine Bildungsmaßnahmen in der Bundesrepublik ergriffen werden.
Das ist ein Ausdruck dieser Tatsache. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir die jungen Leute zum Glück nicht so oft auf der Straße, wie das in manchen Nachbarländern der Fall ist, sondern sie sind länger in Qualifizierungsmaßnahmen.
Darüber gibt es einen Konsens. Aber dann darf man doch nicht sagen, das Problem der Arbeitslosigkeit werde gelöst, denn das kommt nach der Lehre und nach der Ausbildungszeit.Meine Damen und Herren, ich stehe mit diesem Urteil ja nicht allein. Ich will Ihnen ein Zitat entgegenhalten, das von der OECD stammt. Ich zitiere aus dem
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Rothletzten Bericht der OECD zur Bundesrepublik Deutschland:Obwohl sich die Wirtschaft — die der Bundesrepublik —seit über fünf Jahren in einer konjunkturellen Aufschwungphase befindet, konnte weder die hohe Arbeitslosigkeit abgebaut werden noch das Entstehen untragbar hoher Leistungsbilanzüberschüsse verhindert werden. Ein stärkeres, von der Inlandsnachfrage getragenes Wirtschaftswachstum, das von einer Verlagerung der Produktionsstruktur zugunsten nicht exportierter Güter und Dienstleistungen flankiert wäre, würde die gleichzeitige Rückbildung weiterer Ungleichgewichte ermöglichen.Das exakt ist die Argumentation der SPD seit einigen Jahren in diesem Bundestag.
Meine Damen und Herren, im letzten Jahresgutachten des Sachverständigenrates — es steht ja heute auch zur Debatte — wird Ihnen entgegengehalten, Wachstum allein reiche nicht, um bei den großen unerledigten Aufgaben voranzukommen. Das ist exakt unsere Position, die Sie nicht akzeptieren.Meine Damen und Herren, gerade weil Sie mit großen Wachstumsziffern derzeit protzen, sollten wir uns ansehen, warum es in diesem Jahr dazu gekommen ist. Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle in der Tat die wirtschaftliche Entwicklung als sehr gefährdet empfunden und so bezeichnet. Diese kritische Prognose
war übrigens begleitet von allen Wirtschaftsinstituten und der Bundesregierung selbst.
Meine Damen und Herren, ich bin froh, daß wir uns am Anfang des letzten Jahres so kritisch mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Warum? Sowohl die deutsche Notenbank wie alle anderen westlichen Notenbanken haben im letzten Jahr die Liquidität der Wirtschaft erhöht. Die Geldmenge ist sehr ausgeweitet worden. Selbst Sie als Bundesregierung haben, wenn auch nur in einem kleinen Teil, zum erstenmal eine Idee der Sozialdemokratie übernommen, nämlich verstärkt Umweltinvestitionen zu finanzieren — das Programm bei der KfW. Insofern sind Sie auf unsere kritischen Einwände zu einem gewissen Teil, leider nicht ausreichend, eingegangen. Ich möchte also die Frage formulieren: Was wäre passiert, wenn Sie stur beim „Weiter so!" geblieben wären? Insofern bin ich froh, daß das geschehen ist. Um so weniger verstehe ich den Kurswechsel jetzt im Jahre 1989.
Die Verbrauchsteuererhöhung der Bundesregierung hat alle Chancen, als d i e wirtschaftspolitische Fehlleistung des Jahres 1989 in die Geschichte einzugehen;
denn damit werden die Rahmenbedingungen — das ist jetzt schon sichtbar — für die Konjunktur außerordentlich verschlechtert. Schon im Januar haben die Preise das Laufen gelernt, laut Statistischem Bundesamt vor allem wegen Ihrer Verbrauchsteuererhöhung. Der Anstieg war in diesem einen Monat so hoch wie im gesamten Jahr 1988. Zu der im Jahreswirtschaftsbericht gegebenen Prognose von 2,5 % Preissteigerungsrate steuert die Bundesregierung selbst in Höhe von 1 % bei. Sie ist also der Preistreiber des Jahres, wenn Sie so wollen.
Andererseits stellt sich der Bundeswirtschaftsminister vor einigen Wochen hin, beklagt Preissteigerungen und verspricht ihre Bekämpfung. Es ist doch in hohem Maße unseriös,
ohne jede Not Verbrauchsteuererhöhungen durchzusetzen und anschließend zu sagen: Es tut uns leid, jetzt haben wir mehr Inflation.Aber es geht ja weiter. Ich sehe die Gefahr — vielleicht geschieht es heute in einer weiteren Stufe im Zentralbankrat wieder, wir wissen es noch nicht —, daß die Bundesbank auf diese Situation mit einer Restriktion in der Geldpolitik reagiert — und das in einer Phase mit 2,5 Millionen Arbeitslosen. Das heißt, durch Ihre verfehlte steuerpolitische Entscheidung haben Sie Inflationsgefahren geweckt, die Bundesbank reagiert darauf in gewohnter Weise — wir kennen ja Herrn Schlesinger, der an der Ecke der Führende ist — , und anschließend bricht die Konjunktur eventuell auf Grund dieser administrativen Maßnahmen zusammen.
Das ist die Gefahr des Jahres 1989, die Sie riskiert haben — und das ohne jede Not.
Meine Damen und Herren, Sie betreiben eine klassische Stop-and-go-Politik. Sie sind es, die die Belastungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft jetzt testen. Was sagen Sie eigentlich, Herr Wirtschaftsminister, zu dieser Finanzpolitik der Wechselbäder?
Ein weiterer Geniestreich des Herrn Stoltenberg war übrigens die Quellensteuer.
— „Geniestreich", bitte. Graf Lambsdorff, zum jetzigen Zeitpunkt von „Chemiestreichen" zu reden ist vielleicht nicht das richtige Thema, jedenfalls nicht für die Regierung bei ihrer Lässigkeit dabei.
Quellensteuer: Gestern sind die Zahlen für das Jahr 1988 herausgekommen, was die Kapitalflucht anbetrifft. Auf Grund der Quellensteuer sind sage und
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Rothschreibe im letzten Jahr 120 Milliarden DM ins Ausland gegangen.
Das ist die größte Bewegung jemals.
Selbst Töchter staatlicher Banken werden derzeit im Ausland, in Luxemburg, gegründet, um Kapitalfluchtgeld an sich zu ziehen, aus Wettbewerbsgründen. Gerade die — bisher noch — bundeseigene DSL-Bank hat eine Luxemburg-Tochter gegründet, damit sie Kapitalflucht an ihre Tochter in Luxemburg bindet. Ein schönes Ergebnis dieser Finanzpolitik!
Herr Abgeordneter Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck?
Bitte schön, ja. Vizepräsident Cronenberg: Bitte schön.
Herr Kollege Roth, wie würden Sie die Auswirkungen beurteilen, wenn einträte, was die finanzpolitische Sprecherin Ihrer Fraktion in der „Augsburger Allgemeinen" sagt: sie sei gegen die Quellensteuer, aber für die Pflicht zur Meldung aller Spar- und Kapitaleinlagen?
Das ist die Transparenz bei der Besteuerung, die man gerechterweise fordern muß
und die auch notwendig ist. Sie wissen ganz genau, daß die Vereinigten Staaten von Amerika exakt diese Methode haben.
Meine Damen und Herren, der Gipfel des Widersinns ist, daß die Regierung permanent Deregulierung und Entbürokratisierung fordert und mit dem Quellensteuergesetz und der entsprechenden neuen Bürokratie die stärkste Bürokratieentscheidung getroffen hat, die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren in der Politik überhaupt getroffen wurde. Sie merken in jedem Betrieb, in jeder Bank, was da an Bürokratie aufläuft.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung leistet auch keinen Beitrag zum Abbau der Ungleichgewichte. Sie verschärft damit protektionistische Tendenzen in den USA und gefährdet letztlich den EG-Binnenmarkt. Ich persönlich glaube nicht, daß wir mit diesen Überschüssen gegenüber unseren Nachbarländern den Integrationsprozeß schnell genug vorantreiben können.
Das reicht schon, um das internationale Ansehen der Bundesrepublik zu schädigen. Mehr noch wird es durch die Versäumnisse bei der Bekämpfung der Kriminalität beim Rüstungsexport geschädigt. Sie versuchen jetzt, das Thema auf den einen Fall zu konzentrieren. Ich möchte hier deutlich machen, daß wir in den letzten paar Jahren im Wirtschaftsausschuß, im Parlament schlechthin immer wieder aktiv geworden sind mit restriktiveren Vorschlägen zur Bekämpfung der Kriminalität beim Rüstungsexport. Sie haben das damals immer abgelehnt. Jetzt ist der Rufschaden für die Bundesrepublik eingetreten. Das Kabinett hat gestern Entscheidungen getroffen. Wir werden sie morgen im Detail würdigen. Ich will hier allerdings eines zugunsten der Entscheidungen von gestern sagen: Wir sind bei der Ablehnung der Entliberalisierung des Außenwirtschaftsrechts an Ihrer Seite.
Wir sind nicht der Meinung, daß wir auf Grund der Kriminalität einzelner die gesamte Wirtschaft mit Regularien überziehen können, die dem Export der Bundesrepublik schaden. Da geht es auch um Arbeitskräfte.
Das dürfen wir nicht durch Kriminelle in ein paar Unternehmen gefährden lassen.
Meine Damen und Herren, ein anderes Gebiet der Wirtschaftspolitik, bei dem ich Ihnen Versäumnisse vorwerfen muß, ist die Diskussion über den Industriestandort Bundesrepublik. Ich gebe zu: Sie haben diese Diskussion nicht angezettelt. Es waren vor allem die Chefs der Auslandstöchter großer internationaler Konzerne wie beispielsweise der Chef von IBM oder der Chef von Philips. Das Ziel war, Stimmung für Steuersenkungen zu machen. Leider hat sich der BDI dieser Stimmungsmache angeschlossen. Das hat zu einer internationalen Diskussion über den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland geführt, die an den Realitäten der Bundesrepublik Deutschland völlig vorbeigegangen ist und uns wirklich geschadet hat. Ich konnte in den letzten zehn Tagen bei einer Japanreise feststellen, wie viele japanische Manager im Hinblick auf die Qualität des Wirtschaftsstandorts Bundesrepublik Deutschland inzwischen völlige Fehlurteile haben. Ich vermute auch, daß beispielsweise die Entscheidung von Toyota, nach England zu gehen und nicht in die Bundesrepublik, mit diesem Klima zu tun hat.
Dabei ist der Industriestandort Bundesrepublik Deutschland gut, Graf Lambsdorff. Gerade hat die konservative Bayerische Vereinsbank eine Studie herausgegeben,
die zeigt, daß die Bundesrepublik Deutschland bei der Besteuerung und bei den Lohnnebenkosten im Mittelfeld in der Welt liegt und daß es überhaupt nicht wahr ist, von zu hohen Kostenbelastungen auf dieser Seite in der Bundesrepublik zu sprechen.
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RothDiese Studie zeigt auch: Die Industriestruktur in der Bundesrepublik ist im Vergleich zur EG optimal.
Herr Abgeordneter Roth, zwei Abgeordnete möchten eine Zwischenfrage stellen. — Vorab: Ich rechne Ihnen die Zeit nicht an.
Graf Lambsdorff, Sie haben das Wort.
Herr Roth, können Sie mir helfen und mich einmal darüber informieren, was der Unterschied zwischen einer konservativen und einer z. B. sozialistischen oder liberalen Geschäftsbank ist?
Also, Graf Lambsdorff, ich habe den Eindruck, daß bayerische größere Banken noch ein bißchen stärker vom konservativen Geist, der den Bankensektor überhaupt auszeichnet, durchdrungen sind. Deshalb habe ich hier zusätzlich den Begriff „konservativ" gewählt. Ich hätte auch sagen können, Graf Lambsdorff: die konservativ konservative Bayerische Vereinsbank.
Dies veranlaßt den bayerischen Abgeordneten Hinsken zu einer Frage.
Meine Frage geht in eine andere Richtung: Herr Kollege Roth, Sie müssen mir doch bestätigen, daß die Lohnzusatzkosten von 1972 bis 1987 um fast das Doppelte gegenüber den Realeinkommen der einzelnen Mitarbeiter gestiegen sind. Finden Sie eine solche Entwicklung richtig, und meinen Sie nicht auch, daß dieses gerade die Herausforderung für den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland ist?
Ihre Frage gibt mir Gelegenheit, ein Lambsdorff-Märchen, das ein paar Jahre alt ist, aufzuhellen: Als Sie damals aus Japan zurückkamen, Graf Lambsdorff, erklärten Sie, daß die deutschen Lohnzusatzkosten so ungeheuer hoch seien und daß wir nicht mehr wettbewerbsfähig seien. Ich habe in Gesprächen mit den Managern deutscher Unternehmenstöchter in Japan festgestellt, daß die japanischen Lohnzusatzkosten höher als die in der Bundesrepublik Deutschland sind. Das ist die Wahrheit. Alle Vertreter der dortigen Firmen haben mir zugegeben, daß sie höher sind. Das ist die Wahrheit.
Das heißt, wir sind wettbewerbsfähig.
In diesem Zusammenhang bitte ich doch einmal die Logik zu bemühen: Kann ein Land in seinen Kosten überteuert sein, das Jahr für Jahr Milliarden an Überschüssen durch den Export hat? Geht das eigentlich?
Sicherlich haben wir Probleme: So wurde in einigen Jahren zu wenig investiert. Im Zusammenhang mit
dieser Frage haben wir oft über das falsche Steuersystem gesprochen.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie, Herr Hinsken, und ein paar Kollegen loben. Sie haben im Dezember einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Investitionstätigkeit der Unternehmen, steuerpolitische Maßnahmen, eingebracht. Ich möchte Sie jetzt in Ihrer Begründung zitieren; dann merken Sie, wie sehr wir uns in der Frage einig sind. Der Gesetzentwurf sagt
— das wird ganz genau gemacht — :
Der Aufbau der Wirtschaft ist daher in der gegenwärtigen Konjunktur zwar einer der längsten, aber zugleich auch einer der — —— Jetzt fehlt mir ein Blatt.
Mein Mitarbeiter, der das zusammengestellt hat, hat es so verabscheut, daß ich die CDU positiv zitiere, daß er dieses Blatt weggenommen hat.
Jedenfalls kann ich Ihnen frei wiedergeben, was Sie sagen. Sie sagen, daß die ganzen Jahre über viel zuwenig investiert worden ist — zutreffend. Sie sagen, daß das steuerliche Gründe habe — zutreffend. Sie gehen in Ihrem Gesetzentwurf darauf ein, die Investitionstätigkeit in Beschäftigungen in den Betrieben ausdrücklich gesetzlich zu fördern — zutreffend. Ich beglückwünsche Sie zu diesem Gesetzentwurf. Ich bin nur gespannt, ob wir ihn dann gemeinsam durch das Parlament bringen. Da bekommen Sie unsere Unterstützung. — Ist das nicht etwas, Herr Pinger und Herr Hinsken?
Lassen Sie mich, weil der Bundeswirtschaftsminister dazu etwas gesagt hat, ein paar Bemerkungen zur Wettbewerbspolitik machen: Für uns ist Wettbewerb die massivste Triebkraft für wirtschaftliche und technologische Leistung. Marktwirtschaft ist Wettbewerbswirtschaft. Deshalb müssen wir die Wettbewerbsregelung in einem funktionierenden Wettbewerb auf Dauer sichern. Die von Ihnen im Bundeskabinett vor kurzem verabschiedete Kartellgesetznovelle reformiert das Kartellgesetz jedoch nicht. Das ist Schau ohne jegliche Substanz. Es geht auch an den Realitäten von Europa vorbei. Welchen Sinn macht es, jetzt eine kleine Reparatur an unserem nationalen Wettbewerbsrecht zu machen, wenn wir noch nicht einmal die Abklärung des europäischen Wettbewerbsrechts durch die Diskussion der zwölf Staaten untereinander haben. Das macht doch politisch überhaupt keinen Sinn.
Das veranlaßt den Abgeordneten Wissmann zu einer Zwischenfrage.
Meine Damen und Herren, das ist eine reine Schauaktion, die nicht weiterhilft. Sie steht im übrigen auch im völligen Widerspruch zum praktischen Verhalten in der Wettbewerbspolitik dieser Bundesregierung. Der Zusammenschluß MBB-Daim-
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9156 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Rothler, der immer noch über uns schwebt, ist die übelste, wettbewerbsfeindlichste Aktion, die in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat.
In Vorbereitung dieser Rede mußte ich bis zum Zusammenschluß der IG-Farben zurückgehen, um diese Machart von wettbewerbsfeindlichen Strategien in der Wirtschaftsgeschichte festzustellen.Meine Damen und Herren, es wird alles über Bankenmacht organisiert. Zu diesem Thema Bankenmacht werden natürlich keinerlei konkrete Vorstellungen geäußert. Daß die Großbanken nahezu jedes Großunternehmen kontrollieren und Informationen aus jedem Unternehmen haben, zeigt doch, daß sie faktisch bei der Investitionslenkung in der Bundesrepublik Deutschland führend sind. Das ist wettbewerbsfeindlich, meine Damen und Herren.
Herr Abgeordneter, möchten Sie grundsätzlich keine Zwischenfragen mehr zulassen?
Nein, Herr Wissmann darf jetzt.
Herr Kollege Roth, Sie haben sich gerade gegen eine Novellierung des Kartellrechts ausgesprochen. Darf ich Sie nur fragen, ob Sie damit frühere Äußerungen, die Sie selbst mehrfach gemacht haben, korrigieren wollen, in denen Sie ausdrücklich eine Novellierung des Kartellrechts mit Wirkungen auf den Konzentrationsprozeß im Handel begrüßt haben?
Meine Damen und Herren, das Problem ist — und das haben wir alle erst in den letzten drei Monaten in der Schärfe feststellen können — , daß die EG Wettbewerbsentwürfe in Vorbereitung hat, die das Wettbewerbsrecht der Bundesrepublik Deutschland grundlegend verändern.
— Aushebeln, das ist völlig zutreffend.
Ich bin der Meinung, wenn das droht, und wenn wir den europäischen Rahmen nicht genau absehen können, dann kann man nicht mit kleinen Basteleien in dieser Legislaturperiode in das Wettbewerbsrecht gehen, sondern dann muß man sich eine große Kartellgesetznovelle nach der Wahl 1990 für die nächsten Jahre vornehmen. Deshalb halte ich die Entscheidung, die wir damals getroffen haben, heute nicht mehr für zutreffend. Ich habe auch nicht geahnt, wie prinzipiell die industriepolitischen Strategen der EG unter dem Einfluß von Frankreich wettbewerbspolitische Instrumente, die wir beispielsweise haben, aushöhlen wollen. Ich finde, es ist besser, sich zu korrigieren, als stur an einer Fehlentscheidung festzuhalten. Es war eine falsche Entscheidung. Aber Sie und ich und alle anderen Beteiligten wußten es damals nicht.Deshalb glaube ich, daß eine kleine Kartellgesetznovelle nicht mehr in die wirtschaftspolitische Landschaft paßt. Die SPD hat sich in den letzten Wochen entschieden, das Thema der Beeinflussung der europäischen Wettbewerbsordnung zum Hauptthema der gesamten Kartellgesetzdiskussion der nächsten Jahre zu machen.
Das halte ich für richtig, notwendig und auch für überfällig.
Meine Damen und Herren, ich hätte erwartet, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß Sie, nachdem der Herr Bangemann das immer vergessen hat, eine neue Perspektive oder eine neue Dimension in der Wirtschaftspolitik heute entwickelt hätten, nämlich die Frage der Verschmelzung von ökonomischem und ökologischem Denken. Wie können wir es schaffen, daß wir nicht permanent reparieren, wenn Investitionsentscheidungen in der Wirtschaft falsch gelaufen sind, was die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen anbetrifft. Der gesamte Jahreswirtschaftsbericht, den Sie zu verantworten haben, gibt diesem Thema Umweltschutz gerade vier Textziffern von 81. Dort werden nur vage Ankündigungen und Philosophien verbreitet. Ich bin der Meinung: Eine Wirtschaftspolitik mit Perspektive hätte das Thema „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie" in den Mittelpunkt stellen müssen.
— Im Gegensatz zu dem Zwischenrufer von den GRÜNEN sage ich: Diese Versöhnung gibt es. Es gibt in vielen Unternehmen Ideen und Innovationskräfte, ökologischere Produkte und ökologischere Produktionsverfahren durchzusetzen. Aber sie rechnen sich nicht, weil die Rahmengesetze nicht ausreichen und weil wir nicht in die richtige Richtung lenken, was die ökologische Erneuerung unserer Volkswirtschaft betrifft. Hier handelt es sich um nichts anderes als eine Lenkungsaufgabe. Der Markt ist bei der Realisierung der neuen Produkte und Produktionsverfahren höchst leistungsfähig. Ich kämpfe für die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien auch bei diesem Thema. Aber wir brauchen einen starken, handfesten Staat, der die Rahmen setzt. Daß beispielsweise die FCKW nicht verboten werden, ist eine falsche Rahmensetzung und nicht Schuld des Marktes.
Man kann viele solcher Fälle nennen. Wir brauchen ein Grunddenken: Der Staat muß bereit sein, diesen Rahmen zu setzen, und er darf bei der Umweltfrage nicht aufs neue ein Nachtwächterstaat sein.Ich hätte erwartet, daß der neue Wirtschaftsminister, der ja auch mit einem gewissen Anspruch angetreten ist, Neues zu bieten, an dieser Stelle den Durchbruch schafft, damit dieses Nebeneinander von Umweltpolitik und Wirtschaftspolitik endlich aufhört.Wir jedenfalls werden dies in den Mittelpunkt unserer wirtschaftspolitischen Anstrengungen der nächsten Jahre stellen. Ich glaube, hier wird eine neue Tür aufgemacht, die unsere Industriegesellschaft erneuert und die verhindert, daß immer mehr Menschen meinen, man müsse aus dieser Industriegesellschaft flüchten.
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RothDiese Aufgabe haben Sie nicht angepackt. Das wird Gegenstand der Diskussion der nächsten beiden Jahre werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns jetzt im siebenten Jahr eines lang anhaltenden Konjunkturaufschwungs.
Die Rahmendaten stimmen. Auch für 1989 sagen alle Sachverständigen eine stabile Wachstumsentwicklung voraus.Der Kollege Roth hat aufs neue eine skeptische Prognose wegen der Verbrauchsteuererhöhungen für 1989 abgegeben. Dazu erinnere ich dieses Haus daran, daß der Kollege Roth seit sechs Jahren Jahr für Jahr bei jeder Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht entweder den nahen Abbruch der Konjunkturentwicklung prophezeit oder eine außerordentlich skeptische Wachstumsprognose zum besten gibt. 1988 noch sprach er bei einer Schätzung der Bundesregierung von 1,5 bis 2 % realem Wachstum von halsbrecherischem Optimismus. Die Überzeugungskraft Ihrer Prognosen, Herr Roth, ist verbraucht.
Sie beschreiben die Konjunkturentwicklung erneut sozusagen mit Skepsis; aber Sie haben jedes Mal unrecht gehabt.Für uns kommt es — ich sage es klar — nicht auf den Wachstumspunkt hinter dem Komma an, sondern darauf, daß es uns gelingt, beispielsweise im Bereich der Beschäftigung, bei den Problemen der Teilzeitbeschäftigung, bei dem verkrusteten Tarifvertragssystem, bei der Möglichkeit der Entwicklung für die Langzeitarbeitslosen die Strukturen so aufzubrechen, daß dort in die Arbeitsmarktlandschaft noch mehr Bewegung als bisher kommt. Uns kommt es nicht auf ein starres Wachstumssystem an, das gelegentlich in der öffentlichen Diskussion der ausschließliche Gegenstand der Betrachtung war.Deswegen sollten wir uns — ich sage das auch in Richtung Wirtschaftsministerium — überlegen, wie wir die kommenden Jahreswirtschaftsberichte gestalten. Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein seit mehr als 20 Jahren im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 festgelegtes Ritual. Damals herrschte noch der Glaube an die beinahe grenzenlose Beherrschbarkeit von Konjunktur und Wirtschaft. Jedoch bereits in den 70er Jahren hätte man erkennen können, daß ein Wirtschaftssystem nicht wie eine Maschine zu steuern ist. Die heutigen wirtschaftspolitischen Probleme lassen sich mit kurzfristigen Programmen ebensowenig lösen, wie dies in den 70er Jahren fälschlich angenommen wurde. Statt dessen brauchen wir Problemlösungen, die festgefahrene Strukturen verändern und die Unternehmen in der Bundesrepublik auf die Herausforderungen der 90er Jahre wirksam vorbereiten. Meines Erachtens ist die Konzeption des Jahreswirtschaftsberichts immer noch zu stark vom Glauben andie Globalsteuerung der Konjunktur geprägt. Wie problematisch aber die bloße Fortschreibung bestehender Entwicklungstendenzen ist — ich habe darauf vorhin schon kurz hingewiesen — , haben wir bei diesen ohnehin fragwürdigen Wachstumsprognosen in der Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht immer wieder erlebt.Meine Damen und Herren, dabei ist etwa für das Jahr 1989 übersehen worden, welche positiven Wirkungen die Steuerreform an Leistungs- und Konsumanreizen entfaltet. Es ist nach mehr als 20 Jahren Erfahrung mit dem Jahreswirtschaftsbericht meines Erachtens an der Zeit, einmal über die zugrunde liegende Konzeption nachzudenken.
Es ist auch, meine ich, an der Zeit, über den Termin der Vorlage eines künftigen Jahreswirtschaftsberichts nachzudenken. Denn bei einer Vorlage Mitte Januar sind Schlußfolgerungen für den Bundeshaushalt, für die Gesamtwirtschaftspolitik desselben Jahres sehr viel schwieriger als beispielsweise dann, wenn das Sachverständigengutachten im September und der Jahreswirtschaftsbericht im Oktober vorgelegt würden. Ich rege nur an, dies einmal ernsthaft zu überlegen. Denn ich meine, wir müssen sowohl die Arbeit der Sachverständigen für unsere finanz- und wirtschaftspolitische Arbeit besser nutzen als auch die Konzeption des Jahreswirtschaftsberichts, ihre Entwicklung und Diskussion, stärker als bisher in einen wirtschaftspolitischen Ordnungsrahmen bringen, der unsere Arbeit befruchtet und der nicht — als Ritual — nach kurzer Diskussion erledigt werden darf.Meine Damen und Herren, die entscheidenden Zukunftsaufgaben für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den 90er Jahren möchte ich hier an drei Bereichen beschreiben: der Reform der Unternehmensbesteuerung, der Arbeitsmarktpolitik und der Energiepolitik.In allen drei Bereichen erfordern der europäische Binnenmarkt und die zunehmende weltweite Verflechtung unserer Volkswirtschaften neue Orientierungen. Die Unternehmen werden in den 90er Jahren noch mobiler sein als heute. Schon heute gibt es einen intensiven Wettbewerb um Standorte für Neuansiedlungen und Erweiterungen. Die Besteuerung ist ein wichtiges Entscheidungskriterium — das zeigen Umfragen bei Führungskräften der Wirtschaft für die künftige Standort- und damit auch für die künftige Arbeitsplatzentscheidung.Die Bundesrepublik konkurriert vorwiegend mit Ländern, die die Unternehmensbesteuerung bereits reformiert haben oder dies für die absehbare Zeit planen: In Großbritannien wurde der Körperschaftsteuersatz auf 35 % , in den USA von 46 % auf 34 % gesenkt. In den USA war die Absenkung des Steuersatzes noch mit einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage einhergegangen. Wir sollten uns — auch in der Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht, da ja im Jahreswirtschaftsbericht die Reform der Unternehmensbesteuerung für die 90er Jahre angekündigt wurde — Gedanken über die Grundlinien einer Unternehmensbesteuerung in der Zukunft machen.
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WissmannIch will versuchen, dies in fünf kurzen Punkten zusammenzufassen.Erstens. Eine Senkung der Steuersätze ist nach meiner Auffassung der Einführung von Sonderabschreibungen oder Sonderregelungen vorzuziehen. Nur der Verzicht auf Sonderregelungen schafft den finanziellen Spielraum für eine spürbare Senkung der Steuersätze.Zweitens. Die Belastung der Unternehmen mit ertragsunabhängigen Steuern sollte reduziert werden. Wir haben mit ertragsunabhängigen Steuern eine Besonderheit, die im Ausland weitgehend unbekannt ist.
Drittens. Die Unternehmensbesteuerung sollte rechtsformneutral sein. Beispielsweise ist bei uns die GmbH & Co. KG auch deswegen so beliebt, weil dadurch die gewerbesteuerlichen Vorteile der Kapitalgesellschaft genutzt werden können, ohne deren vermögensteuerliche Nachteile voll in Kauf nehmen zu müssen.Viertens — dies ist ein entscheidender Punkt für viele kleine und mittlere Unternehmen — : Die Besteuerung sollte das vom Unternehmen eingesetzte Kapital möglichst gleichmäßig belasten. Die steuerliche Benachteiligung des Eigenkapitals muß beseitigt oder zumindest vermindert werden.
Bei einer Eigenkapitalquote von unter 20 % meine ich, liegt auf diesem Punkt eine besondere Bedeutung, und hier müssen auch Entscheidungen früherer Jahre korrigiert werden. Wir müssen dafür sorgen, meine Damen und Herren, daß es wieder höhere Eigenkapitalquoten geben kann, gerade in kleinen und mittleren Betrieben, um sie — aber nicht nur sie — weniger krisenanfällig zu machen.
Herr Abgeordneter Wissmann, Sie gestatten eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
Ja.
Bitte schön, Frau Matthäus-Maier.
Sie beklagen die steuerliche Benachteiligung des Eigenkapitals. Sie haben recht. Wissen Sie denn nicht, daß Sie das dadurch eingeführt haben, daß Sie die Zurechnung bei der Gewerbesteuer eingeschränkt haben? Das muß doch zur Benachteiligung des Eigenkapitals führen.
Ich darf nur darauf hinweisen, daß wir eine größere Zahl von Maßnahmen im Rahmen der Steuerreform unternommen haben — beispielsweise die Senkung des Körperschaftsteuersatzes — , die bewußt dazu dienen sollen, die Fähigkeit der Unternehmen, Eigenkapital anzusammeln, zu stärken.
Daß weitere Maßnahmen notwendig sind, darauf hatder Bundesfinanzminister immer hingewiesen. Darauf weisen wir als CDU/CSU-Fraktion ebenfalls hin.
[SPD]: Geben Sie einmal eine Antwort!)Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen fünften Punkt ansprechen. Wir müssen dafür sorgen — dies hat der Bundesfinanzminister verschiedentlich gesagt — , daß die Kapitalverkehrsteuern, die Gesellschaft- und Börsenumsatzsteuer, nicht auf Dauer bestehen bleiben, denn auch die Gesellschaftsteuer belastet die Aufnahme von Eigenkapital, ebenso wie die Börsenumsatzsteuer die Fähigkeit des Finanzplatzes Deutschland, sich im Wettbewerb mit internationalen Finanzplätzen zu behaupten, belastet. Auch dies ist eine Aufgabe der 90er Jahre. Ich spreche sie hier an, weil wir über die Gestaltung der Zukunft reden, weil wir in einem vollständigen europäischen Binnenmarkt ein neues System der Unternehmensbesteuerung brauchen, das es nicht nur unseren großen, sondern auch unseren kleinen und mittleren Betrieben erlaubt, sich im Wettbewerb mit anderen zu behaupten und damit auch Arbeitsplätze neu zu schaffen und nicht Standorte an andere Teile der Europäischen Gemeinschaft zu verlieren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich den Punkt Arbeitsmarkt hier ansprechen. Dazu ist zum einen zu sagen, da der Herr Kollege Roth die Beschäftigungsentwicklung vorhin nur negativ beschrieben hat: Herr Kollege Roth, von 1980 bis 1983 lag der Rückgang der Erwerbstätigenzahl bei rund einer Million, der Anstieg der Arbeitslosenzahl bei rund 1,3 Millionen. Seit 1984 werden wir bis zum Ende dieses Jahres, 1989, 1,2 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze haben. Meine Damen und Herren, damit lehnen wir uns nicht zurück und sagen: das ist genug. Wir sagen nur: Es ist unwahr zu behaupten, es habe auf dem Arbeitsmarkt keine Bewegung gegeben.
Wir wissen nur, daß durch die größere Zahl jüngerer Menschen, die nach Arbeitsplätzen nachgefragt haben, durch die größere Zahl von Frauen, die an Beschäftigung interessiert waren, und durch die größere Zahl von Aussiedlern, die zu uns gekommen sind, der Zuwachs der Beschäftigung weitgehend durch Nachfrage am Arbeitsmarkt aufgefangen wurde und sich nicht in einer entsprechenden Senkung der Arbeitslosenzahlen ausgewirkt hat. Das darf für Sie kein Grund sein, wie ich finde, hier eine nur düstere Prognose aufzuzeigen, und das darf für uns kein Grund sein, uns satt zurückzulehnen, sondern wir müssen ein gemeinsames Interesse haben, noch mehr Bewegung in den Arbeitsmarkt zu bringen.Wir unterstützen den Bundeswirtschaftsminister, wenn er sich das Thema Teilzeitarbeit auf die Fahnen schreibt. Herr Bundeswirtschaftsminister, das ist ein Thema, bei dem im öffentlichen Dienst noch Dämme
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Wissmannmanchen Vorurteils gebrochen werden müssen, das ist aber auch ein Thema, wo bei Arbeitgebern und Gewerkschaften noch wesentlich mehr als bisher getan werden kann.
— Deswegen, Frau Kollegin Matthäus-Maier — da Sie von geringfügiger Beschäftigung sprechen —, meinen wir, daß es keinen Sinn hat, die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zu verketzern, sondern daß wir uns überlegen müssen, wie wir uns gegen den Mißbrauch geringfügiger Beschäftigung wirksamer als bisher wehren können.
Deswegen überlegen wir in der Koalition, ob wir mittels eines Sozialversicherungsausweises des Mißbrauchs besser Herr werden können, aber nicht die geringfügige Beschäftigung zu Lasten von vielen Teilzeitarbeitsplätzen in Frage stellen.
Bitte schön!
Herr Wissmann, begrüßen Sie denn die rollierenden Beschäftigungsverhältnisse u. a. in Gebäudereinigungsfirmen oder auch in Kaufhäusern, die mehrere Beschäftigungsverhältnisse geringfügiger Art miteinander kombinieren und auf diese Art und Weise eine Arbeitskraft in untertariffähige Bezahlungsverhältnisse hineintreiben?
Herr Kollege Sellin, es gibt eine sehr fundierte Studie des Bundesarbeitsministeriums zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen,
die darauf hinweist, daß bei der weit überwiegenden Zahl kein Mißbrauch vorliegt. Sie weist übrigens auch darauf hin, daß dies bei der weit überwiegenden Zahl sozusagen ein Zusatzeinkommen zum allgemeinen Familieneinkommen ist. Ich finde, wir müßten gemeinsam ein Interesse daran haben, den wirklichen Mißbrauch zu bekämpfen, aber wir sollten kein Interesse daran haben, Teilzeitarbeitsverhältnisse, an denen nicht nur Frauen interessiert sind, praktisch generell zu diskreditieren.
Zu diesem Thema „Aufbruch verkrusteter Strukturen" gehört auch die Frage, was sich in der Tarifvertragslandschaft bewegt, gehört auch die Frage, ob es in Zukunft die Möglichkeit gibt, beispielsweise mit Einstiegstarifen für Arbeitslose am Arbeitsmarkt mehr Chancen für Arbeitslose zu entwickeln. Wir dürfen nicht den Eindruck zulassen, als sei ausschließlich der Staat für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich, sondern müssen die gemeinsame Verantwortung der Tarifvertragsparteien stärker ins Bewußtsein rufen.
Ich wünschte mir beispielsweise, daß ein so vorbildlicher Abschluß über die Qualifikation von Mitarbeitern und von Arbeitslosen, wie der Gesamtmetallverband und die IG Metall ihn in Nordwürttemberg vereinbart haben, überall in der Bundesrepublik möglich würde, daß also Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht nur über Lohn und über Arbeitszeit, sondern in Zukunft auch mehr über Qualifikationsanstrengungen verhandeln; denn wir wissen doch, daß mehr als die Hälfte der Arbeitslosen vor allem deswegen arbeitslos sind, weil sie nicht genügend Qualifikation haben.
Ich meine, hier liegt eine gemeinsame Aufgabe nicht nur des Staates, sondern auch der Tarifparteien.
Meine Damen und Herren, ich wünschte mir, daß so vorbildliche Beispiele unkonventioneller Vermittlungsinitiativen, wie sie in Süddeutschland durchgeführt wurden, etwa mit der Aktion Job Contact in Mannheim — jetzt auch bald in Ulm — , häufiger üblich würden, damit wir nicht allein auf das starre Vermittlungssystem der Bundesanstalt für Arbeit angewiesen sind, sondern damit private und gemeinnützige Initiativen bei der Vermittlung und bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze mehr Spielraum bekommen.
Wir müssen bei der Vorbereitung auf den europäischen Binnenmarkt auch in der Energiepolitik neue Weichen stellen. Wir alle wissen, daß auch hier leider der Konsens zerbröckelt ist, der zwischen den großen Parteien in den 70er Jahren noch bestanden hat. Die SPD, jetzt in Berlin vielleicht bald im Bündnis mit den Alternativen, hat sich in Sachen Kernkraft zur Ausstiegspartei entwickelt.
Wir brauchen aber dringend eine Rückkehr aller großen Parteien zu einem Konsens, der besagt: Kernkraft für einen absehbaren Zeitraum — ja, mit größtmöglicher Sicherheit, Entwicklung der alternativen Energiequellen im Rahmen der Möglichkeiten — auch stärkere Förderung —, aber eben auch Nutzung der fossilen Energieträger.
Nur wenn die SPD zu dem Konsens über Kohle, Kernkraft und alternative Energiequellen zurückkehrt, werden wir auf Dauer in der Lage sein, den revierfernen Ländern die Belastungen zuzumuten, die beispielsweise durch die Förderung der Steinkohle heute und morgen noch entstehen werden.
Herr Abgeordneter, wenn Sie das gestatten, möchte ich zwei Zwischenfragen zulassen. — Bitte schön.
Herr Kollege Wissmann, da Sie hier süffisant die Verhandlungen der SPD mit der AL in
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VahlbergBerlin kommentieren: Wie bewerten Sie denn die Tatsache, daß z. B. in München die CSU mit den GRÜNEN gemeinsam die sogenannte Gestaltungsmehrheit stellt?
Die Frage ist sehr leicht zu beantworten, Herr Kollege: In Berlin geht es um die Vorbereitung einer gemeinsamen Regierung von SPD und Alternativen, und in München hat die CSU vom ersten Augenblick an immer klargemacht, daß es keine gemeinsame Koalition oder Politik mit den GRÜNEN geben kann.
Bitte verwischen Sie nicht die Verantwortlichkeiten, meine Damen und Herren!
Jetzt füge ich noch eines hinzu. In Berlin steht die SPD knapp davor, ein Wort, das ihr Spitzenkandidat vor der Wahl gegeben hat, nämlich keine Koalition mit den Alternativen, jetzt im Zuge der Koalitionsverhandlungen zu brechen und damit die Chancen der Stadt für Industrie- und Arbeitsplatzentwicklung zentral zu gefährden.
Nun hat der Herr Abgeordnete Stratmann die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Herr Wissmann, Sie sagten soeben für die CDU, daß es darauf ankomme, auch die Alternativenergie im Rahmen des Möglichen zu fördern. Können Sie mir erklären, warum dann gerade in der letzten Woche — so entnehme ich es zumindest den Zeitungen — die CDU/CSU-Fraktion eine politische Initiative von SPD, GRÜNEN und FDP zur Förderung von Windkraftanlagen abgelehnt hat, obwohl es auch in Ihrer Fraktion einen Kreis von ungefähr 80 Abgeordneten gibt, die die Förderung von Alternativenergien, inklusive Windenergieanlagen, geradezu fordern?
Herr Kollege Stratmann, ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß der Bundesforschungsminister die Mittel für die regenerativen Energieträger, also auch für Wind- und Sonnenenergie, deutlich erhöht hat, und ob Ihnen bekannt ist, daß die beiden Koalitionsfraktionen im Rahmen marktwirtschaftlicher Möglichkeiten die Anstrengungen für Wind- und Sonnenenergie massiv verstärken wollen. Nur eines, Herr Kollege Stratmann, machen wir nicht: Wir lassen nicht den Eindruck zu — das wäre unehrlich gegenüber unseren Mitbürgern —, daß es bei einem Anteil regenerativer Energieträger an der Energieerzeugung von 2 bis 3 % möglich wäre, bis zum Ende dieses Jahrtausends durch regenerative Energieträger Kohle oder Kernkraft völlig zu ersetzen. Wer den Bürgern das vormacht, sagt ihnen nicht die Wahrheit über die realen energiepolitischen Grundlagen unseres Landes.
— Das machen beispielsweise die GRÜNEN,
wenn Sie sagen, sofortiger Ausstieg aus der Kernkraft, und das machen die GRÜNEN beispielsweise auch dann, wenn sie im Revier für die Steinkohle plädieren, um außerhalb des Reviers ständig auf die Umweltfolgen der Steinkohlenutzung in unserer Energiewirtschaft hinzuweisen. Diese Politik doppelter Zungen ist unglaubwürdig, unredlich und richtet sich von selbst.
Meine Damen und Herren, wir, die Union, meinen, daß wir in dieser Situation die deutsche Steinkohle nicht ins Bergfreie fallenlassen. Wir müssen angesichts der hohen Belastung für die deutschen Stromverbraucher und die öffentlichen Haushalte allerdings darüber nachdenken, ob sich die Konstruktion der bisherigen Vertragssysteme im Steinkohlebereich, im Kohlebereich überhaupt weiter aufrechterhalten läßt. Wir müssen angesichts der Kosten auch die Frage der zu fördernden Mengen diskutieren und überlegen, in welchem Rahmen die geplanten Anpassungsprozesse jetzt nach den neuen Erkenntnissen vollzogen werden. Eines bleibt aber klar: Ein bruchartiger Ausstieg aus der Kohle wird mit der Union nicht stattfinden.
Meine Bitte ist: Kommen Sie zurück aus Ihrer Position des Ausstiegs aus der Kernkraft und lassen Sie uns dann — so wie es bei der Rentenpolitik ja möglich war: CDU, CSU, FDP und SPD — überlegen, wie wir gemeinsam an den energiepolitischen Grundlagen der 90er Jahre arbeiten können. Das sinnlose Gegeneinander in der Energiepolitik schadet den betroffenen Menschen im Revier, verhindert Innovation und gefährdet auf Dauer die Grundlagen der Bundesrepublik als Industrienation. Dieser Punkt Energiepolitik, Neubestimmung und Konsens, gehört genauso zu den gemeinsamen Herausforderungen wie eine bessere Unternehmensbesteuerung und eine innovativere Arbeitsmarktpolitik. Ich finde, der Jahreswirtschaftsbericht ist Anlaß, über diese zukünftigen Herausforderungen miteinander zu streiten und nicht die Gefechte von gestern und vorgestern zu führen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger! Herr Wissmann, Ihr Beitrag hat sich dadurch ausgezeichnet, daß Sie auf kritische Zwischenfragen z. B. von der SPD-Fraktion entweder gar nicht geantwortet haben oder bei der Frage nach der Mehrheitsbildung im CSU-geführten Stadtrat in München geschwommen sind.
Oder Sie haben sich in völlig haltlose Behauptungen hineingeflüchtet, was die Energiepolitik der GRÜNEN anbetrifft. Ich wette mit Ihnen um einen Kasten Alkohol oder Selterswasser Ihrer Wahl, daß Sie mir keinen Grünen aufzeigen, der die These aufstellt, daß bis zum Ende dieses Jahrhunderts — Sie haben das
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Stratmannbehauptet — der Anteil, der heute durch heimische Steinkohle und Atomenergie an der Energieversorgung geleistet wird, durch alternative Energien ersetzt werden könne. Ich wette mit Ihnen um einen Kasten Alkohol oder Selterswasser Ihrer Wahl, egal was es kostet. Sie haben es alle gehört.Ich möchte mit einem Kapitel des Jahreswirtschaftsberichtes beginnen, das sich seit Jahr und Tag dadurch auszeichnet, daß es systematisch leere Seiten aufweist. Genau vor einem Jahr, in der Debatte um den Jahreswirtschaftsbericht 1988, haben wir GRÜNEN einen Antrag eingebracht, in Zukunft mit jedem Jahreswirtschaftsbericht einen Jahresbericht über die ökologischen und sozialen Kosten des Wachstums vorzulegen. Die Debatte über diesen Antrag im Wirtschaftsausschuß hat dazu geführt, daß wir im Konsens aller Fraktionen im Mai dieses Jahres ein öffentliches Hearing zu der Frage durchführen werden, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen in Zukunft Wirtschaftswachstum noch sinnvoll ist oder nicht.Die Debatte im Wirtschaftsausschuß scheint an Ihnen, Herr Minister Haussmann, spurlos vorübergegangen zu sein; denn sowohl im Jahreswirtschaftsbericht 1989 als auch in Ihrem Debattenbeitrag eben hier gehen Sie mit keinem einzigen Wort auf die ökologische und soziale Problematik des vehement geforderten Wirtschaftswachstums ein.
Im Kapitel „Ökologische und soziale Kosten des Wachstums " müßte im Jahreswirtschaftsbericht 1989 meines Erachtens folgendes stehen: Das Bruttosozialprodukt 1988 betrug 2 131 Milliarden DM. Davon können ca. 10 % als ökologische und soziale Kosten des Wirtschaftswachstums veranschlagt werden; sogenannte defensive oder kompensatorische Kosten des Wachstums. Das macht in absoluten Zahlen ca. 213 Milliarden DM im Jahre 1988. Das heißt, im Jahr 1988 wurden über 200 Milliarden DM faktisch ausgegeben, um ökologische und soziale Folgeschäden zu beseitigen oder durch entsprechende Reparatureinrichtungen in Zukunft zu verhindern; insbesondere im Umweltbereich — Bodenverschmutzung, Wasserverschmutzung, Luftverschmutzung — , im Verkehrsbereich und Gesundheitsbereich.Ich beziehe mich mit diesen Zahlen auf eine Studie von Christian Leipert vom Wissenschaftszentrum in Berlin, der im letzten Jahr die Ergebnisse einer dreijährigen Untersuchung zu „Folgekosten des Wirtschaftsprozesses und volkswirtschaftliche Gesamtrechnung" vorgelegt hat.
Seine Methode war, daß er über den Dreijahreszeitraum die tatsächlich ausgegebenen Kosten für Reparaturmaßnahmen, die sogenannten kompensatorischen Kosten errechnet hat, und zwar in sehr zurückhaltender Weise. Er kommt beim Vergleich der Jahre 1970 bis 1985 zu dem Ergebnis, daß der Anteil der kompensatorischen Kosten am Bruttosozialproduktvon 5 % im Jahr 1970 auf 10 % im Jahr 1985 angestiegen ist. Das ist eine steigende Tendenz. Das heißt, das Wachstum der defensiven Kosten des Wirtschaftswachstums ist dreimal so hoch oder dreimal so schnell wie das allgemeine Wirtschaftswachstum selbst.Dabei muß man methodisch berücksichtigen, daß die tatsächlichen ökologischen Kosten des Wachstums — also nicht nur die zur Reparatur oder Verhinderung aufgebrachten Gelder, sondern die tatsächlichen und in der Wirtschaftspolitik nicht zum Tragen kommenden Kosten des Wachstums — ungefähr doppelt so hoch sind, wie von Christian Leipert berechnet. Als Beleg dafür gibt es die Studie von Schulz/Wicke — Wicke ist Direktor im Umweltbundesamt —
über die Kosten des Lärms , die alleine, was die Umweltschutzkosten anbetrifft, zu einer doppelt so hohen Berechnung wie Christian Leipert kommen. Das heißt, wir müssen davon ausgehen, daß die ökologischen und sozialen Kosten des Wachstums Jahr für Jahr ca. 20 % des Bruttosozialprodukts — mit steigender Tendenz — betragen.Die steigende Tendenz kommt darin zum Ausdruck, daß die Lösung des Problems der Altlastensanierung erst noch vor uns liegt. Herr Kühlwein, Chef des TÜV Rheinland, schätzt, daß die Altlastensanierung in den nächsten Jahren die Volkswirtschaft ca. 20 bis 50 Milliarden DM kosten wird. Über die unausweichlich auf uns zukommenden Kosten des Treibhauseffektes, die heute schon gar nicht mehr vermeidbar sind, kann man heute noch keine rechnerischen Betrachtungen anstellen. Sie werden aber in die zig Milliarden gehen.Ich möchte etwas differenzierter auf die gesamtwirtschaftlichen Folgekosten des Kfz-Verkehrs eingehen. Im Zuge des EG-Binnenmarktes 1992, für den der Cecchini-Bericht EG-weit ein fünfprozentiges Wachstum erwartet, wird auch der Güterverkehr insbesondere auf den Straßen dramatisch ansteigen. Es wird vermutet, daß allein der Schwerlastverkehr um 50 bis 100 % ansteigen wird.Es liegt vom Umwelt- und Prognoseinstitut Heidelberg vom April 1988 eine Studie über die Kostenbilanz des Kfz-Verkehrs im Jahre 1986 vor. Danach betragen die quantifizierbaren Kosten des Kfz-Verkehrs — Ausgaben für Straßenwesen, ungedeckte, also durch die Kraftfahrzeugversicherung nicht gedeckte, Unfallkosten, Luftverschmutzung und Lärm — im Jahre 1986 ca. 110 Milliarden DM und die Steuereinnahmen aus der Kfz- und Mineralölsteuer ca. 31 Milliarden DM. Das heißt, wir haben im Kfz-Verkehr ein volkswirtschaftliches Defizit von 79 Milliarden DM, das nicht durch Kfz-spezifische Staatseinnahmen gedeckt ist. Das würde umgerechnet bedeuten, daß jeder Bundesbürger, vom Säugling bis zur Rentnerin, den Kfz-Verkehr jährlich mit 1 400 DM bezuschußt.Das steht in schreiendem Gegensatz zu den Bemerkungen und zu den politischen Vorhaben, die wir im Jahreswirtschaftsbericht lesen, daß nämlich ab 1990 die Kfz-Steuer noch gesenkt werden soll.
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9162 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
StratmannDie dramatische Zunahme des Lkw-Verkehrs im Zuge des EG-Binnenmarkts 1992 wird ebenfalls zu einem dramatischen Anstieg der Stickoxidemissionen führen. Es wird mit einer Zunahme von 480 000 Tonnen NOX im Jahre 1986 auf 800 000 Tonnen im Jahre 2000 gerechnet, mit den entsprechenden Folgen für das Waldsterben, weil ja jeder weiß, daß die Stickoxide eine ganz wesentliche Ursache für das Waldsterben sind.Gleichzeitig findet derzeit die politische Auseinandersetzung um einen zusätzlichen Alpentunnel statt, weil natürlich auch im Nord-Süd-Verkehr in Europa der Güterverkehr von Norden nach Süden und umgekehrt erheblich ansteigen wird. Mit der Verkehrslawine, die in Zukunft noch verstärkt auf die Alpen zurollen wird, wird nicht nur die Luftbelastung in den Alpentälern zunehmen, sondern es wird auch das passieren, was wir vor zwei Jahren im Stubaital und anderswo erlebt haben: Wir werden ein dramatisches Abrutschen von Hängen und Zurutschen von Tälern mit den gesamten menschlichen und auch gesamtwirtschaftlichen Folgen erleben.Aus diesem Beispiel des Kfz-Verkehrs und seinem ökonomischen Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum insbesondere im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt 1992 ergibt sich unsere erste Folgerung: Die Folgekosten des Wirtschaftswachstums müssen als Anteil des Bruttosozialprodukts dargestellt werden, und zwar als Teil des Jahreswirtschaftsberichts selbst; denn dort gehören sie hinein.Die zweite Folgerung: Angesichts der zunehmenden Defensivkosten des Wachstums zeigt sich, daß das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz in Wirklichkeit ein Gesetz zur Förderung des Wachstums und der ökologischen Instabilität ist. Unsere Folgerung daraus: Dieses Gesetz muß abgeschafft werden. Insofern, Herr Wissmann, stimme ich Ihnen völlig zu: Die politischen Grundlagen, die 1967 zu diesem Gesetz geführt haben, sind — allerdings aus unserer Sicht aus ganz anderen Gründen — völlig überholt. Wir müssen eine ganz neue konzeptionelle und gesetzliche Grundlage für die Wirtschaftspolitik schaffen.
Aus diesem Grunde fordern wir GRÜNEN — ich hoffe, daß wir das in dieser Legislaturperiode auch noch schaffen können; das ist natürlich eine große Aufgabe — ein Gesetz zur Förderung einer ökologisch und sozial verträglichen Wirtschaftsweise. Aus dem sogenannten magischen Viereck muß unseres Erachtens ein magisches Fünfeck werden, wobei wir wissen, daß die verschiedenen Ziele miteinander in Spannung, wenn nicht in Konflikt treten können.Zu dem magischen Fünfeck gehört erstens das ökologische Gleichgewicht als ganz herausragende Prämisse der Wirtschaftspolitik, Herr Haussmann, zweitens Arbeit für alle, bisher Vollbeschäftigung genannt, drittens Wohlfahrt, was in der Volkseinkommenskomponente des Wachstumsziels steckt, viertens Preisstabilität und fünftens außenwirtschaftliches Gleichgewicht.Unsere dritte Folgerung: Um eine solche ökologische und soziale Wirtschaftsweise durchzusetzen, brauchen wir den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft. Ich möchte mich hier auf einen zentralen Baustein des ökologischen Umbaus konzentrieren, nicht auf den einzigen, aber auf einen zentralen. Das ist die ökologische Steuerreform. Herr Roth, wir haben in dieser Frage sicherlich einen Konsens. Man muß zu einer Okologisierung der Wirtschaftspolitik zweifellos mit direkten staatlichen Mitteln eingreifen, mit Geboten, Verboten und Grenzwertbestimmungen; das ist eine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus braucht man aber auch marktwirtschaftlich wirkende Instrumente.
Wir brauchen eine intelligente Kombination von Markt und Plan.
— Das haben wir GRÜNE von Anfang an gesagt. Das ist schon in unserem Gründungsprogramm nachlesbar.
— Dann sage ich es Ihnen noch einmal deutlich. Wir brauchen als Ökosozialisten eine intelligente Kombination von Sozialismus und Marktwirtschaft, sprich: eine sozialistische Marktwirtschaft.
Damit spreche ich nicht für alle GRÜNEN, aber für meine Standortbestimmung innerhalb der GRÜNEN, damit Sie auch dort klar sehen.
Wesentliche Elemente einer solchen ökologischen Steuerreform sind: Erstens. Die defensiven Kosten des Wachstums müssen internalisiert werden, sie müssen für die einzelnen Unternehmensführungen spürbar werden.Zweitens. Damit wird das Verursacherprinzip zu einem integralen Bestandteil der Unternehmenspolitik gemacht.Drittens. Das gesamte Steuersystem muß umgebaut werden, und zwar zunächst in der Bundesrepublik, dann durch Harmonisierung in der EG. Wir müssen ein erhebliches Ausmaß an Ökosteuern und Ökoabgaben einführen, deren Mittelaufkommen zweckgebunden ist, um den ökologischen Umbau auch durchzusetzen.
Wir brauchen einen drastischen Anstieg der Ökosteuern am gesamten Steueraufkommen, während die Steueränderungen insgesamt aufkommensneutral sein sollen.Konkret haben wir in der Vergangenheit politisch gefordert und auch schon mit Initiativen im Bundestag eingebracht: gegen die Folgekosten im Verkehrsbereich eine Lkw-Abgabe und eine drastische Erhöhung der Mineralölsteuer; wir brauchen eine Abgabe auf Chlorchemie, eine Stickstoffabgabe in der Landwirt-
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Stratmannschaft gegen die weitere Chemisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft und die Vergiftung der Böden; wir brauchen eine Grundwasserabgabe für die Industrie, eine Erhöhung der Abwasserabgabe, eine Schadstoffabgabe und gegen das steigende Müllaufkommen eine Verpackungsabgabe.Das sind marktwirtschaftlich wirkende Instrumente, deren Aufkommen von ca. 20 Milliarden DM pro Jahr zweckgebunden eingesetzt werden kann. Wir brauchen neben einer drastischen Mineralölsteuererhöhung auch eine Primärenergiesteuer. Einen entsprechenden Antrag haben wir im Zusammenhang mit der Debatte über den Kohlepfennig hier im Bundestag schon eingebracht. Nach unseren Schätzungen könnte eine solche Primärenergiesteuer ca. 50 Milliarden DM pro Jahr ausmachen. Das ist die Größenordnung, die wir durch den Ölpreisverfall seit 1985 volkswirtschaftlich eingespart haben. Es kann also überhaupt keiner kommen und sagen, eine Primärenergiesteuer mit einem Jahresaufkommen von 50 Milliarden DM sei volkswirtschaftlich nicht verkraftbar.
Allein die Maßnahmen, die wir bisher gefordert haben, machen ein ökologisches Steueraufkommen von ungefähr 100 Milliarden DM im Jahr aus. Das sind ca. 20 % des Gesamtsteueraufkommens, das 1988 488 Milliarden DM betrug.Wir müssen prüfen, ob wir nicht wesentlich schärfer zur Sache gehen müssen. Wenn es stimmt, daß die defensiven Kosten pro Jahr schon über 200 Milliarden DM betragen, dann ist der Vorschlag des Umwelt- und Prognoseinstituts Heidelberg zu prüfen, das — exakt berechnet — 35 detaillierte und verschiedene Ökosteuern auch auf einzelne Produkte vorschlägt. Das würde ein ökologisches Steueraufkommen von 205 Milliarden DM pro Jahr ausmachen.
Die Folge eines solchen ökologisch orientierten Steueraufkommens wäre, daß wir zu einem globalen Umbau des gesamten Steuersystems und Steueraufkommens kämen. Das Steueraufkommen kann insgesamt neutral bleiben, aber die Lohnsteuer und die Einkommensteuer beispielsweise könnten erheblich sinken.
Dadurch könnte auch die soziale Verträglichkeit eines solchen ökologischen Steuerreformkonzepts gewährleistet sein, indem wir nämlich zu einem erheblichen Absinken der Lohn- und Einkommensteuer bei den unteren und mittleren Einkommensbeziehern kommen.
Eine Mehrbelastung der Unternehmen wäre durch diese ökologische Steuerreform nicht nur geboten,sondern auch aus einem ganz anderen Ziel heraus notwendig.
Damit komme ich zu dem zweiten Problem, das ich ansprechen möchte, nämlich das außenwirtschaftliche Gleichgewicht bzw. Ungleichgewicht.Es fällt ins Auge, daß wir trotz des Ziels eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz in der Bundesrepublik seit 15 bis 20 Jahren strukturell ein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht haben. Es wird von der Bundesregierung unter der Hand ausdrücklich befürwortet. Eine Politik in dieser Richtung wurde gemacht und wird weiter gemacht, auch wenn einige vorsichtige und kritische Bemerkungen im Jahreswirtschaftsbericht gegen diese Außenhandelsüberschüsse und Leistungsbilanzüberschüsse stehen.Wir hatten 1988 einen Außenhandelsüberschuß von 128 Milliarden DM und einen Leistungsbilanzüberschuß von 85 Milliarden DM. Von diesem Überschuß gehen alleine zwei Drittel in die EG. Es gab 1980 einen Handelsüberschuß der Bundesrepublik im EG-Handel von 13 Milliarden DM, 1985 von 32 Milliarden DM, 1987 von 62 Milliarden DM und 1988 von 80 Milliarden DM. Aus diesem Handelsübergewicht der Bundesrepublik erklärt sich natürlich, warum sowohl die Bundesregierung als auch die bundesrepublikanischen Wirtschaftsunternehmen auf den EG-Binnenmarkt 1992 scharf sind.
Ich stimme völlig der Analyse der Empirika-Studie zu, die von der SPD vorgestern vorgelegt worden ist, die sich auf die sektoralen und auf die regionalen Verwerfungen des EG-Binnenmarkts 1992 konzentriert und zu dem Ergebnis kommt, daß die Bundesrepublik sozusagen der „Kriegsgewinnler" — ich zitiere Herrn Roth, so haben Sie das vor ein paar Jahren einmal genannt — des EG-Binnenmarkts 1992 sein wird und daß der ökonomische „Kriegsgewinn" der Bundesrepublik auf Kosten ökonomisch schwacher Regionen insbesondere in Südeuropa ausgetragen wird.
— Das ist exakt so.
Das heißt, Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik wird durch die Einführung des EG-Binnenmarkts in die ökonomisch schwächeren Regionen exportiert werden.
Eine Konsequenz daraus heißt, daß wir wirtschaftspolitische Instrumente entwickeln müssen, um über einen mittelfristigen Zeitraum tatsächlich zum außenwirtschaftlichen Gleichgewicht zu kommen. Ich konzentriere mich aus Zeitgründen auf zwei Aspekte.
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StratmannErstens. Wir brauchen innerhalb der EG, aber nicht nur innerhalb der EG, eine Wechselkursanpassung der Deutschen Mark durch Aufwertung und eine politische Initiative der Bundesregierung in diese Richtung. Das wäre ein wesentlicher Beitrag zur Absenkung der Außenhandelsüberschüsse.Zweitens. Wir brauchen eine Bemessung der Beiträge der EG-Partnerländer für den EG-Haushalt nach den Außenhandelsüberschüssen. Das heißt, wir müssen einen ökonomischen Negativsanktionsmechanismus einbauen, daß eine solche Überschußökonomie wie die der Bundesrepublik einen erheblichen Anteil ihres volkswirtschaftlichen Überschusses in der Form an die EG abführt, daß daraus der EG-Regionalfonds gespeist wird und die regionalen Opfer der Exportoffensiven in Südeuropa Hilfe für ihren regionalen Wirtschaftsaufbau bekommen.
Ich möchte mit einem dritten Problemaspekt schließen, nämlich mit dem Zusammenhang von dauerhafter Massenarbeitslosigkeit und dem Anstieg des Rechtsradikalismus. Herr Haussmann, Sie haben vor 14 Tagen mittwochs hier in der Befragung des Bundeskabinetts erklärt, mittlerweile wiederholt erklärt, daß die von Ihnen vorgeschlagene Flexibilisierung der Arbeitszeit und vermehrte Teilzeitarbeit mittelfristig in der Lage seien, die Arbeitslosigkeit unter 2 Millionen Arbeitslose zu drücken. Allein, daß Sie sich mittelfristig an einer Massenerwerbslosigkeit von 2 Millionen Arbeitslosen orientieren, halte ich schon für einen Skandal.Die Erfahrungen in Berlin zeigen — bei dem Aspekt, den ich ansprechen will, haben wir GRÜNEN überhaupt keinen Anlaß zu triumphieren, im Gegenteil — , daß die anhaltende Dauerarbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit, und die damit verbundene Zunahme der Sozialhilfeempfänger — mittlerweile ein Anstieg von ca. 700 000 Sozialhilfeempfängern in der Bundesrepublik seit 1982 — ein Klima der Angst vor Arbeitsplatzverlust und sozialer Degradierung schafft.Ich zitiere aus einer Wahlanalyse der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen zum Wahlerfolg der Republikaner:Die Sorge um den Arbeitsplatz — 51 % der Berliner fürchten um ihren Arbeitsplatz — kumulierte verhängnisvoll mit der Unzufriedenheit über die Ausländersituation in der Stadt.Das heißt, Herr Haussmann, Ihre mittelfristige Orientierung an ca. 2 Millionen Erwerbslosen begünstigt das Erstarken des Rechtsradikalismus und ist objektiv der politische Nährboden des Rechtsradikalismus — ich unterstelle Ihnen das nicht als Absicht — , an dessen Folgen wir alle zusammen — da schließe ich uns GRÜNE ausdrücklich ein — politisch zu leiden haben.
Aus diesem Grunde fordern wir die Bekämpfung der Erwerbslosigkeit neben dem ökologischen Gleichgewicht als ein zentrales Ziel der Wirtschaftspolitik. Wenn Sie, Herr Haussmann, mehr Teilzeitarbeit fordern, sagen wir GRÜNEN ja dazu; das fordern auch wir. Ich hoffe auch, daß wir dazu noch einen Gesetzentwurf in dieser Periode einbringen können. Allerdings ist die Bedingung für unsere Zustimmung dazu: mehr Teilzeitarbeit bei unbefristeten und bei gesicherten und geschützten Arbeitsverhältnissen.Wir fordern nicht nur im öffentlichen Dienst einen drastischen Abbau der Überstunden. Wir fordern im öffentlichen Dienst, daß sich Arbeitszeitverkürzung nachweisbar in Neueinstellungen niederschlägt, und wir fordern, Herr Haussmann — da haben wir punktuell auch eine Übereinstimmung mit FDP und CDU —, mehr Zeitsouveränität für die einzelnen abhängig Beschäftigten, allerdings in völlig anderer Richtung, als Sie es mit Ihrer Flexibilisierungsoffensive vorschlagen.Wir haben einen Gesetzentwurf für eine neue Arbeitszeitordnung eingebracht, in der sich die Zeitsouveränität so ausdrückt, daß beispielsweise jedem Erwerbstätigen, Männern und Frauen — ich komme zum Schluß — , ein Hausarbeitstag pro Monat zur freien Verfügung steht. Das hat es in einigen Bundesländern gegeben, z. B. in Nordrhein-Westfalen.Wir fordern mehr freie Zeit für Erziehung und Pflege und eine finanzielle Absicherung dafür. Und, Herr Haussmann, gegen die von Ihnen und auch von Lafontaine vorgeschlagene Flexibilisierung der Arbeitszeit auch an den Wochenenden — —
Herr Abgeordneter Stratmann, ich glaube Ihnen, daß Sie zum Schluß kommen wollen. Ihre Absicht verkenne ich nicht, aber es wäre nett, wenn Sie sie in die Realität umsetzen würden.
Deswegen sage ich jetzt meinen letzten Satz.
Gegen diese Ausweitung der Wochenarbeit à la Haussmann und Lafontaine sind wir mit der IG-Druck und Papier solidarisch,
die gegen den Erpressungsdruck des Bundesverbandes Druck möglicherweise streiken wird. Um sie streikstark zu machen, brauchen wir das gesetzliche Verbot der Aussperrung. Dazu werden wir demnächst auch wieder unseren Gesetzentwurf zum gesetzlichen Verbot der Aussperrung in den Bundestag einbringen.
Ich danke Ihnen.
Nun hat der Abgeordnete Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nachdem ich dem eben zugehört habe, könnte mir Herr Momper beinahe leid tun, wenn er sich damit auseinanderset-
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Dr. Graf Lambsdorffzen muß. Dann auch noch das Berlin-Förderungsgesetz abschaffen, um das alles überhaupt nicht finanzieren zu können. Das ist ja fabelhaft.
Herr Roth, als Ihnen vorhin Ihr Mißgeschick passierte, haben Sie ja doch noch etwas Glück gehabt: als die Seite 7 fehlte, stand ja dann wieder was auf der Seite 8.Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte von dem Minister kennen, der sich immer seine Reden vorbereiten ließ, der sie aber niemals hielt und niemals das vorbereitete Manuskript brauchte, bis er eines Abends,
als er müde war und seine Rede vorlesen wollte, erlebte, daß auf Seite 3 stand: Du hast das vorbereitete Manuskript nie benutzt. Jetzt hilf dir mal selbst.
Sie haben Glück gehabt, da bei Ihnen auf der nächsten Seite noch etwas stand.Meine Damen und Herren, Wachstumsprozesse im siebenten Jahr — 3,4 % reales Wachstum 1988 —, hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, geringe Preissteigerungsraten, 4 % reale Einkommensverbesserung der privaten Haushalte, optimistische Grundhaltung in der Wirtschaft: Das ist die Schlußbilanz 1988 und die Eröffnungsbilanz 1989. Aussichten für eine Fortsetzung dieser positiven Entwicklung sind gut, und das wird uns auch ins Jahr 1990 begleiten.Das seit 1982 verfolgte marktwirtschaftliche Konzept der Koalition hat zu dieser stetigen Aufwärtsentwicklung geführt. Sie, Herr Roth, Ihre Kollegen, Ihre Partei, die Opposition suchen immer noch nach einem eigenen Rezept, aber bisher erfolglos. Verzagen Sie aber nicht, meine Damen und Herren; es steht geschrieben: Suchet, so werdet ihr finden. Sie sollten nur endlich einmal in der richtigen Richtung suchen.Zwei Probleme, meine Damen und Herren, bleiben: die zu hohe Arbeitslosigkeit und anziehende Preissteigerungsraten. Der Wachstumsprozeß stößt an die Grenzen der Fertigungskapazitäten. Damit das Produktionspotential Schritt hält, sind zusätzliche Investitionen notwendig. Mit zunehmender Kapazitätsauslastung sind die Preisüberwälzungsspielräume größer geworden. In der Bauwirtschaft ist das deutlich sichtbar. Denken wir daran, wenn wir über neue Wohnungsbauaktivitäten diskutieren.Weltweit ist der inflationäre Druck stärker geworden. Weltweit gehen deshalb die Notenbanken auf Abwehrkurs. Die schärfere Gangart von Bundesbank und Federal Reserve, von Herrn Roth eben kritisiert, ist notwendig und richtig.
Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich will diesen Gedanken noch zu Ende führen.
Bitte sehr.
Jedenfalls haben mich meine Gespräche in Washington davon überzeugt, daß sich die amerikanische Notenbank auch durch politischen Druck nicht von dem eingeschlagenen Weg zur rechtzeitigen Inflationsbekämpfung abbringen lassen wird. Die Inflationsbekämpfung in der ersten Hälfte der 80er Jahre war zu schmerzlich, um diese Entwicklung noch einmal zu riskieren. Wir haben jahrelang davor gewarnt, daß die Interventionen in den Devisenmärkten zu einer Vermehrung der Geldmenge führen müßten, die ein Inflationspotential aufbauen mußte; jetzt ist es vorhanden.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Roth.
Darf ich bei dieser zutreffenden Schilderung der internationalen Wirtschaftslage und der deutschen Wirtschaftslage davon ausgehen, daß Sie bei Ihrer Meinung bleiben, daß die Verbrauchsteuererhöhungen ein grober Fehler der Wirtschafts- und Finanzpolitik waren?
Nein, das waren sie nicht. Sie waren zu einem gewissen Teil auch aus Haushalts- und Konsolidierungsgründen notwendig. Über die Höhe in jedem einzelnen Punkte kann man streiten. DaB die Verbrauchsteuererhöhungen eine Erhöhung der Preissteigerungsrate um 0,5 % mit bewirkt haben, wissen wir.
— 0,5 %. — Das war uns auch von vornherein klar.
Meine Damen und Herren, die Weltwirtschaft wird weiter durch hohe Ungleichgewichte belastet. Der reale Anpassungsprozeß ist zum Stillstand gekommen. Die deutschen und japanischen Überschüsse wachsen wieder. Ein Handelsbilanzüberschuß von 128 Milliarden DM 1988 für die Bundesrepublik spricht eine deutliche Sprache. Bei einem solchen Handelsbilanz- und Leistungsbilanzüberschuß ist es doch völlig selbstverständlich, daß wir nicht nur hohe Kapitalexporte haben, sondern hohe Kapitalexporte haben müssen. Das ist notwendig.
Anders kann es gar nicht sein. Das weitverbreitete Geheul über zu hohe Kapitalexporte — das ja nicht nur von Ihnen angestimmt wird, sondern das auch sonst in der Öffentlichkeit zu vernehmen ist — ist völlig überflüssig und nach meiner Meinung falsch.Unser Land bleibt auf Exporte angewiesen. Eine Abkehr von der liberalen Außenhandelspolitik ist nicht möglich. Herr Roth, ich unterstreiche, was Sie gesagt haben. Aber dann machen Sie bitte auch einen Unterschied, und sortieren Sie korrekt. Unterscheiden Sie legale, genehmigte Rüstungsexporte von den ille-
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Dr. Graf Lambsdorffgalen. Das gilt im Bereich der Chemiewaffen ja erst recht.
— Diese Unterscheidung kam aber soeben nicht, Herr Vogel. Deswegen lege ich Wert darauf, daß wir das hier festhalten.
Angelpunkt der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte bleiben die Zwillingsdefizite der USA. Es ist ungewiß, ob das Sanierungsprogramm des amerikanischen Präsidenten gelingen wird. Die Finanzmärkte haben auf seine Etatrede sehr zurückhaltend, eher negativ reagiert. Ich halte es allerdings für denkbar, daß in den Vereinigten Staaten im nächsten Jahr nicht nur Ausgabenkürzungen, sondern auch Steuererhöhungen möglich sein werden.Diese weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte verstärken den gefährlichen Trend zum Protektionismus. Die FDP hat die amerikanische Handelsgesetzgebung von Anfang an kritisiert. Jetzt zeigt sich, daß ein tausend Seiten starkes protektionistisches Handelsgesetz seine Eigendynamik entwickelt. Der Kongreß drängt die amerikanische Regierung, die protektionistischen Instrumente dieses Gesetzes anzuwenden. Jüngste Äußerungen des Senators Bentsen, eines Mitverfassers dieses Gesetzes, bestätigen nur meine in Washington gewonnenen Eindrücke. Die Bundesregierung sollte die Gesprächschance nutzen, meine Herren Mitglieder der Bundesregierung, die sich hier bietet, wenn Senator Bentsen demnächst die Bundesrepublik besucht. Ich glaube, es war nicht sehr geschickt, den Abgeordneten Rostenkowski im vorigen Jahr bei uns auf mittlerer Ebene abzufrühstücken.
Meine Damen und Herren, Präsident Bush ist in keiner einfachen Lage. Er ist ein Freihändler, aber er sieht sich dem protektionistischen Druck des Kongresses ausgesetzt. Er hat selber, z. B. im Falle der völlig überflüssigen Verlängerung der Selbstbeschränkungsabkommen für die Stahlimporte, Wahlversprechen abgegeben, an die er sich jetzt gebunden sieht.Das Thema Europa 1992, von Herrn Roth angesprochen, die Furcht vor einer sogenannten „Festung Europa" verstärkt die handelspolitische Unruhe in der Welt. Ist die Unruhe völlig unberechtigt? Stahlsubventionen für Finsider, Anträge, nationale Automobilimportquoten auf Gemeinschaftsniveau anzuheben, und Ursprungszeugnisse für Mikrochips sind keine Ausweise liberaler Handelspolitik in Europa. Die FDP erwartet von der Bundesregierung, daß sie solchem Festungsdenken entgegenwirkt. Auch deswegen ist es dringend erforderlich, daß die GATT-Verhandlungen in Genf im April zu einem Erfolg führen. Es müssen Kompromisse in der Agrarpolitik gefunden werden.
Insgesamt wird in den nächsten Jahren ein härterer Ton in den handels- und wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen zu vernehmen sein. Bei aller Bedeutung der sicherheitspolitischen Diskussion innerhalb des Bündnisses: Wirtschafts- und Handelspolitik werden nach meiner Einschätzung ein größeres Konfliktfeld zwischen den USA und der EG in den kommenden Jahren darstellen. Um so wichtiger ist es, daß wir mit unseren amerikanischen Freunden ständig im Gespräch bleiben. Wir hier im Bundestag dürfen es nach meiner Meinung nicht nur bei Regierungskontakten belassen. Wir sollten uns intensiver um den amerikanischen Kongreß kümmern.
Meine Damen und Herren, Wirtschaftswachstum ist die notwendige Voraussetzung, damit die Wirtschaftspolitik überhaupt handlungsfähig bleibt. Die meisten Propheten des Nullwachstums haben das inzwischen gelernt, aber nicht alle. Es sind gerade grüne und rote Wachstumskritiker, die ihrerseits die höchsten Ansprüche an das Bruttosozialprodukt stellen,
in der Sozialpolitik, der Familienpolitik, der Umweltpolitik, der Entwicklungspolitik usw. Zu keiner Zeit sind soziale Leistungen so ausgebaut worden wie in den Jahren nach 1982.Die FDP bleibt dabei: Auch in Zukunft muß erst verdient werden, was verteilt werden soll.
Wir sind nicht grundsätzlich gegen neue Leistungsgesetze, aber wir sind gegen ihre Finanzierung durch mehr Schulden oder höhere Steuern.Die demographische Entwicklung in der Bundesrepulik führt schon zu einer höheren Rentenlast. Das darf nicht durch zusätzliche staatliche Schulden noch verstärkt werden. Solide Haushaltspolitik bleibt das Gütesiegel dieser Koalition.
— Frau Matthäus-Maier, wenn Sie dabei wenigstens lachten. Aber das tun Sie nicht.
Die wirtschaftliche Entwicklung bleibt durch die Situation am Arbeitsmarkt belastet. Der Beschäftigungszuwachs war in dieser Aufschwungperiode größer als in früheren Aufschwungphasen. Das gilt jedenfall dann, wenn man auf die Erwerbstätigen insgesamt abstellt. Warum dann immer noch die hohe Arbeitslosigkeit? Meine Damen und Herren, weil die Kosten für immer mehr Arbeitskräfte so hoch sind, daß ihre Beschäftigung nicht rentabel ist. Das trifft insbesondere die Langzeitarbeitslosen. Langzeitarbeitslose sind heute ohne Beschäftigung, weil es für private Unternehmen zu hohe Lohnkosten verursacht, sie einzustellen. Ihre Produktivität liegt niedriger, möglicherweise deutlich niedriger als der Lohn, der für ihre Arbeitskraft bezahlt werden muß — einschließlich der Lohnzusatzkosten und der antizipierten Kosten künftiger Entlassung.
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Dr. Graf LambsdorffWenn die Tarifvertragsparteien am sogenannten Begünstigungsprinzip festhalten und damit einen Wiedereinstiegstarif für die Langzeitarbeitslosen unmöglich machen, wird keine Wirtschafts- oder Arbeitsmarktpolitik der Welt dieses Problem lösen können.
Die Verantwortung für die Arbeitskosten liegt bei den Tarifvertragsparteien. Sie entscheiden durch Festlegung der Lohnhöhe über Rentabilität von Arbeitsplätzen in Regionen und Sektoren. Je stärker differenziert, desto größer sind die Chancen, daß regionale und sektorale Unterschiede ausgeglichen werden.Beschäftigungsprogramme im Stil der Opposition würden dieses Problem verschärfen. Vorübergehend höhere Nachfrage nach Arbeitskräften würde das Kostenniveau, insbesondere das Lohnkostenniveau, tendenziell ansteigen lassen; eine spätere Anpassung nach unten würde durch unser Tarifvertragssystem verhindert. Höhere Arbeitslosigkeit wäre die Folge.
Graf Lambsdorff, vom Abgeordneten Sellin wird um eine weitere Zwischenfrage gebeten.
Wenn Sie mir die Zeit nicht anrechnen, Herr Präsident, gerne.
Dann werde ich das nicht tun. Ich erteile dem Abgeordneten das Wort.
Das ist nett. — Ich habe mir im Sachverständigengutachten, das heute hier mit zur Debatte steht, die Tabelle über die Lohnstückkostenentwicklung verschiedener westlicher Industrieländer angeguckt. Festzustellen ist sowohl auf Dollarbasis als auch auf der Grundlage der realen Werte der verschiedenen Währungen, daß die Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Lohnstückkosten überhaupt kein Problem hat. In dem Zusammenhang möchte ich die Frage stellen, ob Ihre Aussage, die Sie hier zum wiederholten Male herbeten, überhaupt noch zutreffend ist. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist meines Erachtens sehr stark auf Nichtqualifikation, auf Nichtausbildung durch die Industrie- und Dienstleistungsbetriebe zurückzuführen. Diese Thematik wird von Ihnen nicht gesucht, sondern es wird noch immer das alte Gebet wiederholt: Lohnzusatzkosten.
Ich habe gar nicht von Lohnzusatzkosten gesprochen, sondern ich habe von Tarifverträgen einschließlich Lohnzusatzkosten gesprochen. In einem Punkt haben Sie recht: Das Deprimierende an dieser Entwicklung ist gerade bei Langzeitarbeitslosen die Demotivierung dieser Personen und die damit einhergehende höhere Belastung für das Unternehmen, das sie einstellen soll, das von ihnen nicht das an Produktivität erwartet, wofür sie bezahlt werden sollen. Dieser Zirkel ist in der Tat außerordentlich unerfreulich.
Das sind, meine Damen und Herren, unerfreuliche Erkenntnisse. Aber sie sind nicht aus der Welt zu diskutieren und werden heutzutage auch von Anhängern Ihrer Denkrichtung, meine Damen und Herren von der SPD, kaum noch bestritten. Sie sind auch nicht durch noch so schöne Programmentwürfe aus der Welt zu bringen — wobei ich das Wort „schön" im Zusammenhang mit dem SPD-Programm nicht ernst gemeint habe.
Weder ist der Inhalt schön, noch ist es die schreckliche Behandlung, die Sie unserer Muttersprache in diesem Entwurf angedeihen lassen.
Aber Walter Jens ist schon herbeigerufen worden. Vielleicht kann er das aufpolieren.
— Herr Vogel, Sie sind doch sonst für hohe Maßstäbe und edle Beispiele. Warum dann in diesem Fall eines, das Sie gar nicht schätzen?
— Ich habe keine Beurteilung durch meine Person vorgenommen. So schnell bringen Sie mich nicht auf diese glitschige Planke.
Meine Damen und Herren, ganz abgesehen davon, daß die tiefgreifenden Gegensätze — Herr Haussmann hat davon gesprochen: knappe Mehrheiten — in Ihren Reihen durch Worthülsen verkleistert werden: Herr Gorbatschow scheint von Marktwirtschaft mehr begriffen zu haben als mancher Mitverfasser Ihres Entwurfs.
Ich habe mich an den Diskussionen über den Standort Bundesrepublik Deutschland nicht beteiligt, Herr Roth, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß ich behauptet hätte — auch die FDP hat es nicht getan — , die Bundesrepublik Deutschland sei ein schlechter Standort. Was ich allerdings immer wieder sage und worauf ich immer wieder hinweise, ist die Tatsache, daß andere sich anstrengen, uns einzuholen und zu überholen. Wir sind nicht schlechter geworden. Aber andere sind besser geworden und bemühen sich, besser zu werden. Darum geht es. Nun nehme ich mit großem Respekt von den Ergebnissen Ihres zehntägigen Japanbesuchs Kenntnis. Ich habe mir die Papiere eines japanischen Unternehmens, mit dem ich befreundet bin, eben kommen lassen. Wenn Sie von Lohnzusatzkosten sprechen: Krankenstand im Jahre 1987 0,84 %, in Anspruch genommener Urlaub 32,7 % von den 100 %, die genommen werden dürfen. Ich sage nicht, daß das nachahmenswert sei. Aber das sind die Wettbewerbsparameter, in denen wir uns zu bewegen haben. Und darauf kommt es einzig und allein an. Hier muß man in Japan schon ein bißchen tiefer bohren, wenn man sich über diese Fragen äußert.
Herr Abgeordneter Roth möchte hier nachhaken.
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Wenn Ihre großzügige Regelung — —
Sie verbleibt noch. — Herr Abgeordneter Roth.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich verstehe nicht, warum Sie ihn immer fragen. Sie kennen ihn doch schon so lange.
Meine Frage lautet: Würden Sie bestreiten, daß in einer Diskussion mit 80 deutschen Managern, die in Japan Tochtergesellschaften aus der Bundesrepublik führen, auf meine Frage keiner widersprochen hat, ob es so sei, daß in Japan die Lohnnebenkosten höher sind als in der jeweiligen deutschen Mutterfirma? Würden Sie das bestreiten — obgleich Sie ja nicht da waren?
Ich war nicht dabei und kann schlecht etwas aus Unterhaltungen bestreiten, von denen Sie selber sagen, daß ich nicht das Vergnügen hatte, dagewesen zu sein. Nur, Herr Roth, müssen Sie sich die gesamte japanische Volkswirtschaft ansehen. Sie müssen sich ansehen, wie die großen Unternehmen — dazu gehören die internationalen Unternehmen — bezahlen, wie groß der Anteil der freiwilligen Leistung über die gesetzlich vorgeschriebene hinaus ist
und wie in den kleinen und mittleren Unternehmen, in den Handwerksbetrieben, eine ganz andere soziale und tarifpolitische Situation gegeben ist. Japan ist nicht einfach eine Einheit, zu der man — entschuldigen Sie — einmal hinfährt und nach zehn Tagen Bescheid weiß.
Aber einer Ihrer früheren Kollegen hat nach vierzehn Tagen schon ein Buch geschrieben.
Meine Damen und Herren, die Steuerpolitik stellt zunehmend ein Kriterium für die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft dar. Die Steuerreform mit einer Gesamtentlastung von 40 Milliarden DM netto mindert die Kostenbelastung deutlich. Die Opposition, die sich gegen Steuersenkungen wendet, verhindert Investitionen und Arbeitsplätze. Was die GRÜNEN nach dem Strickmuster des Herrn Stratmann anrichten würden, braucht man hier gar nicht auszumalen. 1990 wird der Wähler nicht zuletzt zwischen dem Koalitionsprogramm für Steuersenkungen, für mehr Wachstum und Beschäftigung und dem Oppositionskatalog für mehr Steuern und staatliche Ausgaben zu entscheiden haben.
— Das ginge ja noch. Es ist aber nicht wahr, sondern es sind unglaublich viel mehr Steuern, Herr Sellin. Das haben Sie eben gehört.
— Nein. Was Herr Stratmann hier erzählt hat, ist ausschließlich eine Erhöhung der Steuern und Abgaben.Rationale Steuerpolitik darf jetzt keine neue Verteilungsdiskussion entfachen. Sie muß nach größtmöglichen Wachstumsimpulsen suchen. Im liberalen Steuerkonzept wird weiter die Senkung der Ertragsbesteuerung im Mittelpunkt stehen, weil dies für die internationale Wettbewerbsfähigkeit entscheidend ist. Damit Arbeitsplätze von morgen gesichert werden, müssen die steuerlichen Lasten auf ein international vergleichbares Niveau gesenkt werden.Der gemeinsame Binnenmarkt erfordert neue Dynamik und mehr Flexibilität. Davon ist kein Bereich ausgenommen, erst recht nicht der Arbeitsmarkt. Viele Unternehmen werden überprüfen, ob sie die bisher bei uns übliche Fertigungstiefe ihrer Produktionen im Hinblick auf die unterschiedlichen Arbeitskosten innerhalb der Europäischen Gemeinschaft beibehalten können. — In deutschen Automobilfabriken ist die Fertigungstiefe teilweise bis zu 90 %. — Sie werden zu dem Ergebnis kommen, daß sie es nicht können. Sie werden deshalb Arbeitsplätze in die südlichen Länder der Gemeinschaft verlagern. — Was Herr Stratmann aus der Studie vorgetragen hat, hat er falsch verstanden; genau das Gegenteil ist richtig.„Eurofit" — wie Sie, Herr Roth, das so schön nennen — wird man nicht durch mehr staatliche Intervention, sondern durch Wettbewerb und Leistungsfähigkeit.
Da, sage ich Ihnen, traut die FDP den deutschen Unternehmen und gerade auch den mittelständischen Unternehmen mehr zu, als es die Opposition tut.Der gemeinsame Binnenmarkt ist ein Investitionsprogramm, ein Deregulierungsprogramm, ein Programm, das allein auf mehr Wettbewerb beruht und nicht auf mehr Schulden und mehr Intervention des Staates. Er ist nicht auf einheitliche Regelung um jeden Preis angewiesen; wir werden sie auch nicht bekommen. Im Bereich der Steuerpolitik, der Währungspolitik, der Sozialpolitik wird es auch weiterhin Unterschiede geben.Wichtig ist, daß trennende Grenzen wegfallen. In diesem Wettbewerb der Systeme, den wir dann erleben werden, müssen sich die verschiedenen Produktionsstandorte behaupten. Das ist nach meiner Meinung der Kern einer auf die Zukunft gerichteten Standortdiskussion in der Bundesrepublik, und das ist die Herausforderung für Unternehmen und für Wirtschaftspolitik.Die Bundesrepublik bringt gute Voraussetzungen dafür mit. Wir können dieser Entwicklung mit Zuversicht entgegengehen. Das Jahr 1988, das Jahr 1989 und aller Voraussicht nach auch das Jahr 1990 werden uns das erleichtern.
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Dr. Graf LambsdorffDeshalb unterstützen die FDP-Fraktion und die Freie Demokratische Partei die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung und dieses Bundeswirtschaftsministers.
Meine Damen und Herren, wir können nunmehr in die Mittagspause eintreten. Die Sitzung wird bis 14 Uhr unterbrochen. Dann werden die laufenden Tagesordnungspunkte weiter behandelt. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Mittagspause.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung erneut.
Wir fahren in der Debatte über Tagesordnungspunkt 5 — Jahreswirtschaftsbericht usw. — fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Jens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben es natürlich erwartet, daß die Bundesregierung die wirtschaftliche Lage in den schönsten Tönen feiern wird. Aber es ist ein alter römischer Rechtsgrundsatz: Man höre immer auch den anderen Teil. Es läßt sich einfach nicht leugnen — so sind nun einmal die gesamtwirtschaftlichen Daten — : Die Massenarbeitslosigkeit verharrt auch im Jahre 1989 mit 2,2 Millionen registrierten Arbeitslosen auf höchstem Niveau. Das ist eine erschrekkende Bilanz.Die Verteilung hat sich in den letzten Jahren eklatant verschlechtert. Die Nettorealgewinne stiegen von 1982 bis 1988 um 92 %. Die Nettoreallöhne stiegen im gleichen Zeitraum, von 1982 bis 1988, um 10 %.
Wir sagen nur: Dies hat mit sozialer Symmetrie, für die wir Sozialdemokraten stehen, wirklich überhaupt nichts mehr zu tun.
Wir verzeichnen wieder eine recht kräftige Preissteigerung. Diese geht nach den Worten der Regierung zu Lasten der schwachen Einkommensschichten, zu Lasten der Sozialhilfeempfänger und zu Lasten der Arbeitslosen. Auch dies ist eine erschreckende Situation.Für die Zukunft — wenn ich bei der Globalpolitik noch einmal bleiben darf — habe ich drei Befürchtungen.Erstens. Die steigenden Preise — das zeichnet sich jetzt schon deutlich ab — führen dazu, daß es so etwas wie eine Gewinn-Preis-Lohn-Spirale gibt, die wir alle nicht haben wollen.Zweitens. Seit geraumer Zeit steigen die Zinsen in unserem Land wieder. Dies führt dazu, daß die Arbeitslosigkeit stabilisiert wird und daß der Investitionsmotor wieder ins Stottern geraten muß.Drittens. Wir haben leider ein eklatantes Ungleichgewicht in den Leistungsbilanzen der verschiedenen Länder. Auch dies ist eine sehr unangenehme Erscheinung. Sie ist leider in Ihrer Zeit, auch in den letzten Jahren, nicht besser geworden.Ich möchte in meinen wenigen Ausführungen aber einmal die verschiedenen Konzepte ein wenig beleuchten. Die Dinge betreffend Bundesbank und Preissteigerung lasse ich dabei weg; darauf ist mein Kollege Wolfgang Roth schon ausführlich eingegangen. Ich glaube, Karl Schiller hat recht — er ist ja ein guter Ökonom — wenn er vor etwa einem halben Jahr im „Handelsblatt" geschrieben hat, „nicht mitreißende und zündende Wirtschaftskonzepte beherrschten die Szene".
Das Konzept der CDU/CSU und leider auch der FDP — ich sehe manchmal Annäherungen zwischen Herrn Haussmann und den Sozialdemokraten —,
also das Konzept der Konservativen ist mit den Schlagworten zu umschreiben: Privatisierung, Deregulierung und Subventionsabbau. Der Staat muß sich aus der Wirtschaft zurückziehen.Das sind die Schlagworte der konservativen Wirtschaftspolitik. Privatisierung heißt nach den Erfahrungen, die wir gemacht haben: Verkauf von staatlichem Vermögen, möglichst schnell, zu niedrigsten Preisen, um Haushaltslöcher zu stopfen. Nicht einmal bei Privaten werden neue Vermögenswerte durch diese Politik geschaffen. Dies ist nicht die Politik eines guten, sondern die Politik eines schlechten Hausvaters.
Deregulierung? Ich will nicht ausführlich auf die Kartellgesetz-Novelle eingehen, die Sie vorgelegt haben. Darüber werden wir noch zu sprechen haben. Nur, wenn Sie sich den § 102 angucken,
dann stellen Sie fest: Er sollte zunächst entfallen. Was dort hineingeschrieben worden ist, ist keine Verbesserung, sondern eine Verschlimmbesserung. Das ist nicht weniger an Regulierung, sondern mehr an Regulierung. So etwas sollten Sie sich noch einmal durchsehen, Graf Lambsdorff. Aber ich weiß ja, Sie haben natürlich gute Beziehungen zur Versicherungswirtschaft und auch zum Kreditwesen. Möglicherweise geht diese Formulierung darauf zurück.Subventionsabbau haben Sie sich auf die Fahnen geschrieben. Dazu muß ich sagen: Sie haben neue Rekorde aufgestellt, wenn es um Subventionen ging. Es waren 1988 32,4 Milliarden DM an Steuerermäßigungen und Finanzhilfen.
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9170 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Dr. Jens1989 steigen diese Subventionen auf 33,4 Milliarden DM.
Ich rufe Ihnen nur etwas zu, was schon mein Freund Wolfgang Roth gesagt hat: Wenn Sie glauben — auch das steht im Jahreswirtschaftsbericht —, durch die Fusion zwischen Daimler-Benz und MesserschmittBölkow-Blohm würden Subventionen verringert, und zwar ab 2000 etwa für den Airbus,
dann sind Sie aus meiner Sicht ganz schön naiv. Mittlerweile sollten Sie doch erkannt haben, daß Großunternehmen immer einen Weg finden, um dem Staat in die Tasche zu greifen. Auch dieser Mammutkonzern, der größte in Europa, wird natürlich dem Staat in die Tasche greifen, und Sie werden die Subventionen an einer anderen Stelle zu zahlen haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Uldall? Ich stoppe die Uhr.
Bitte.
Herr Kollege, würden Sie in diesem Zusammenhang auch erwähnen, daß im Rahmen der Steuerreform das größte Subventionsabbauprogramm in Höhe von 18 Milliarden DM vorgenommen wurde, und könnten Sie angeben, bei welcher dieser Subventionsabbaumaßnahmen die SPD zugestimmt hat?
Ich weiß noch: Beim Subventionsabbauprogramm der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten im Jahr 1980 sind wirklich zum erstenmal Subventionen echt gestrichen worden.
Da ich nicht dem Finanzausschuß, sondern dem Wirtschaftsausschuß angehöre, kann ich dieses Paket überhaupt nicht im Detail beurteilen.
Ich stelle ja nur global fest: Die Subventionen sind in den letzten Jahren fortwährend von Jahr zu Jahr gestiegen, und sie steigen ausweislich des Finanzberichts auch noch im nächsten Jahr.
Das ist schlimm genug.
Dieses Konzept — Deregulierung, Privatisierung, Subventionsabbau — trägt also überhaupt nicht dazu bei, die wirtschaftspolitischen Probleme unserer Zeit zu lösen. Die Arbeitslosigkeit bleibt, und das ist schlimm, sehr schlimm.
Ich habe Karl Schiller zitiert. Ich glaube, wir können nicht mehr alles von ihm übernehmen.
Aber ich glaube, manches war sehr vernünftig.
Erlauben Sie mir, die vier Eckpunkte unserer sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik darzulegen.Erstens. Was wir jetzt brauchen, um das Problem der Massenarbeitslosigkeit und der Preissteigerung — früher haben Sie so etwas als Stagflation bezeichnet — zu verringern, ist der runde Tisch — wie Karl Schiller immer sagte — der kollektiven Vernunft.
Wir müssen alle an einen Tisch holen: Tarifvertragsparteien, Unternehmer, Gewerkschaften, Bundesregierung, Bundesbank usw., also alle Träger der Wirtschaftspolitik.
Wir müssen diese brennenden Probleme anpacken. Ich sage überhaupt nicht, daß wir dort ideologisch irgendwie vorgeformt sind. Wichtige Themen wären in einer Art Konzertierter Aktion: flexiblere Arbeitszeiten — nicht am Sonntag; das kommt für mich überhaupt nicht in Frage —,
aber auch Arbeitszeitverkürzung; Qualifizierung der Arbeitnehmer; staatliche Verantwortung und unternehmerische Verantwortung; Abbau von Hilfen — wie Sie es im Arbeitsförderungsgesetz gemacht haben, ist das eine schlimme Fehlentwicklung —.Schließlich geht es um die Realisierung von tragbaren Konzepten für die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Auch dies hielte ich für ein Thema, das in einer derartigen Konzertierten Aktion dringend besprochen werden müßte.
Zweitens. Meine Damen und Herren, wir sind überhaupt nicht gegen Teilzeitarbeitsplätze — diesen Eindruck wollen wir auch gar nicht erwecken —, sondern wir fordern nur, wenn es Teilzeitarbeit gibt, daß diese Arbeit
sozial vergleichbar, genauso abgesichert ist wie die Ganztagsbeschäftigung.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9171
Dr. JensDas ist eine unabdingbare Voraussetzung. Und wenn das so ist, dann könnte der Kollege Haussmann eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen. An seinem Hause liegt es und nicht an den Tarifvertragsparteien, daß wir dort nicht Teilzeitarbeit haben.
Dort könnte er vielleicht einmal gucken, welcher Beamte noch auf Halbtagsbeschäftigung gesetzt
und welcher dann zusätzlich hereingenommen werden kann.
Wir wissen natürlich alle: Wenn wir Teilzeitarbeit in Zukunft ausweiten, manipulieren wir die Statistik; das ist völlig klar. Aber ich behaupte, Helmut Haussmann: Zwei neue Halbtagskräfte im Wirtschaftsministerium tragen unwahrscheinlich dazu bei, daß die Produktivität in diesem Hause steigt — wesentlich stärker als bei einer neuen Ganztagskraft.
Wir würden — drittens — , meine sehr verehrten Damen und Herren, darauf pochen, daß der Staat zwar nicht die alleinige, aber eben auch Verantwortung für die Verringerung der Arbeitslosigkeit hat. Auch er hat hier Verantwortung! Deshalb ist es falsch, daß die öffentlichen Investitionen reduziert worden sind, so wie Sie das gemacht haben. Die öffentlichen Investitionen müssen verstetigt sein. Wir haben unser Programm „Arbeit und Umwelt" auf den Tisch gelegt.
Und Sie können in einem jüngst erschienenen Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung noch einmal nachlesen: Die wichtigsten zukunftsträchtigen Felder, die der Staat bearbeiten muß, sind Umweltschutz, Wohnungs- und Städtebau, Verkehr, Energieversorgung.
Gestern habe ich eine Rede von Herrn Waigel vor dem DIHT gehört.
Da hat er das Programm zur Stadt- und Dorferneuerung mit Stolz gepriesen. Also, wenn es ein Programm der Schwarzen ist, dann ist es offenbar gut, aber wenn es ein Programm der Roten ist, dann ist es schlecht, nicht?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Karl Schiller konnte 1972 nicht erkennen, daß das Thema Umweltschutz in naher Zukunft einmal eine derartwichtige Rolle spielen würde, wie es heute der Fall ist.
Wir müssen alles tun, um die externen Kosten, die durch die Produktion entstehen, in die betriebswirtschaftliche Rechnung mit einzubeziehen.
Sie müssen internalisiert werden. Ein Mittel, um dieses Ziel verstärkt zu erreichen — ich verlange ja nicht, daß das überall von heute auf morgen passiert —, wäre eine Umweltsteuer oder Umweltabgabe.
Wir müssen an verschiedenen Ecken anfangen, um das hinzubekommen, möglichst morgen. Fangen Sie damit an! Sie haben unsere Unterstützung.Professor von Weizsäcker — nicht Carl-Friedrich, sondern Ernst — hat in der „Wirtschaftswoche" vor kurzem geschrieben: Die Wirtschaft kann sich kaum etwas Besseres wünschen als eine realistische Vision einer umweltverträglichen Zukunft. — Ich glaube wirklich, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß das auch im Interesse der Wirtschaft liegt. Denn Umweltschutz — auch das müssen Sie erkennen — ist ein ganz wichtiger Produktionsfaktor. E i n Unternehmen allein kann das in unserer marktwirtschaftlichen dezentralen Ordnung überhaupt nicht verwirklichen, sondern hier bedarf es staatlicher Rahmensetzung. Ich glaube, die Wirtschaft wird demnächst führend sein, die schon jetzt anfängt, dieses wichtige Kriterium verstärkt zu erfüllen. Umweltschutz erschließt neue Märkte, schafft Innovation und bringt die Wirtschaft insgesamt voran.
Unsere Wirtschaftspolitik ist also durch den Begriff „Mehr Kooperation statt Konfrontation" gekennzeichnet.— „Auch der Staat hat nach sozialdemokratischer Auffassung Verantwortung für die Wirtschaftsentwicklung." Es geht hier um eine — „Neuorientierung der Wirtschaft an ökologischen Notwendigkeiten." Diese Wirtschaftsordnung der Zukunft bleibt selbstverständlich eine dezentrale, aber auch sozial und ökologisch orientierte Marktwirtschaft.Schönen Dank.
Zum Thema Teilzeitarbeit im Wirtschaftsministerium fiel mir die Frage ein, ob es heißen muß: „Das kann man schlecht machen" oder: „Das kann man bei Schlecht nicht machen".
Jetzt hat der Bundesminister der Finanzen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Verabschiedung des Jahreswirtschaftsberichts gibt es einige weitere wichtige Daten über die Situation unse-
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9172 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Bundesminister Dr. Stoltenbergrer Volkswirtschaft zum Jahreswechsel. Vor wenigen Tagen konnten wir lesen, daß die Auftragseingänge im verarbeitenden Gewerbe im Dezember 1988 um 12,6 % höher als im Vorjahresmonat lagen. Das unterstreicht schon: Unsere Wirtschaft befindet sich in einem dynamischen Start in das Jahr 1989. Das begründet zuversichtliche Erwartungen. Aber es ist natürlich gar nicht so, Herr Kollege Jens — die Rede von Herrn Haussmann hat das klar gezeigt — , daß wir Risiken und Problemfelder etwa übersehen und verschweigen.Interessant an diesen letzten Zahlen ist noch, daß die Dynamik, die anhält, von einer sehr hohen Binnennachfrage getragen wird; hier gewinnen aus Gründen, die Kollege Graf Lambsdorff genannt hat — die fast völlige Auslastung der Kapazitäten —, Investitionen, vor allem Erweiterungsinvestitionen eine immer größere Bedeutung. Die Dynamik ist aber auch von einem stark steigenden Export getragen. Das führt zu dem Thema der Ungleichgewichte, auf das ich kurz noch eingehen möchte.Die Ursachen für diese, gemessen an den pessimistischen Diskussionen und Vorhersagen vor 15 Monaten, wobei Sie, meine Damen und Herren von der SPD, alle an Pessimismus übertroffen haben,
überraschend positive Entwicklung 1988 sind vielfältiger Art. Die Finanzpolitik hat einen wichtigen Beitrag geleistet. Ich zitiere einmal aus dem Jahresgutachten 1988/89 des Sachverständigenrates, weil das die Kontroverse ein bißchen objektiviert. Dort heißt es in Ziffer 140:Die Finanzpolitik gab der Wirtschaft 1988 einen kräftigen konjunkturellen Impuls.Der Sachverständigenrat urteilt auch ganz anders als Sie heute morgen, Herr Kollege Roth, über die zu erwartenden Wirkungen des Jahres 1989, die Sie in düsteren Farben gezeichnet haben.
— Ich habe hier meine Stichworte. Entschuldigung, ich habe im Gegensatz zu vielen von Ihnen die Gewohnheit, an Hand von Stichworten zu reden. Deswegen komme ich auch nicht in das Problem, eine Seite meines Manuskripts zu vergessen.
— Ja, ich wollte es nur sagen. Also gut.Im Sachverständigengutachten heißt es zur konjunkturellen Wirkung der Finanzpolitik im Jahre 1989:Das Verhalten des Staates ist also in etwa konjunkturneutral.In der Tat, wir können nicht — auch das ist ein Dissens, Herr Kollege Roth — in jedem Jahr eine betont expansive Finanz- und Notenbankpolitik erwarten. Wir haben im letzten Jahr bewußt ein höheres Defizit in Kauf genommen als im Grunde vertretbar, weil wir zwar nicht so pessimistisch waren wie Sie, aber auch schwierigere Probleme und etwas ungünstigere Daten sahen, als sie dann im Jahresverlauf sichtbar wurden. Man kann dies aber nicht aus dem Verhalten eines Jahres einfach fortschreiben.Das gilt übrigens auch für die Bundesbank. Ich teile die Meinung des Kollegen Graf Lambsdorff, daß es notwendig war, zu gewissen Korrekturen in der Politik der westlichen Notenbanken zu kommen. Das ist erforderlich, weil zu den Risiken, über die wir auch reden, ein gewisser Anstieg der Inflationserwartungen gehört. Großbritannien rechnet mit einer Inflation von 7 % — das ist die Aussage der Regierung — , die Vereinigten Staaten eher mit 6 % als 5 % — das ist die Einschätzung der Notenbank — , Italien bewegt sich kräftig in Richtung auf 6 %. Das sind drei große Industrieländer. Natürlich ist es auch bei uns zu beachten und muß vernünftig diskutiert werden, wenn wir jetzt auf 2,5 % gehen. Ich bin allerdings ein bißchen überrascht, das von Ihnen so zu hören, denn 2,5 % wären in Ihrer Regierungszeit eine fabelhafte Stabilitätsmarke gewesen, meine Damen und Herren der SPD; um das hier einmal zu sagen.
Wir müssen das ernst nehmen.Nun besteht kein Grund, in Verbindung damit die Veränderungen im Steuersystem zu attackieren, wie Sie es kurz getan haben. Die Veränderungen im Steuersystem waren notwendig. In der deutschen Finanzwissenschaft und auch in nahmhaften sozialdemokratischen Äußerungen ist doch seit langer Zeit unbestritten, daß wir eine Korrektur brauchen. Wir können nicht hinnehmen, daß ein immer größerer Teil unserer Staatseinnahmen einseitig aus der Besteuerung von Arbeit und unternehmerischer Tätigkeit kommt,
während der verbrauchsbezogene Anteil ständig drastisch zurückgeht. Deswegen war diese Korrektur erforderlich. Wir haben sie ein Jahr später gemacht als ursprünglich geplant, also wegen der kritischen Diskussionen über 1988 zeitversetzt. Sie ist im Kern notwendig — das wissen Sie auch — , und im Ergebnis werden wir 1990 die niedrigste Steuerquote seit 1960 und die niedrigste Staatsquote seit 1975 haben. Das halten wir für richtig, nicht weil wir, wie Sie fälschlicherweise behaupten, die Verantwortung des Staates in der Wirtschaftspolitik oder die soziale Verantwortung des Staates bezweifelten — es ist unsinnig, dies zu unterstellen — , sondern aus einem ganz anderen Grunde: Wir sind der Überzeugung, daß diese Entwicklung Voraussetzung für mehr private Investitionen, für mehr Wettbewerbsfähigkeit und für mehr Beschäftigung ist, und diese drei Bereiche gehören zusammen. Wir müssen die Einheit der Wirtschafts-, der Finanz-, der Arbeitsmarkt- und damit der Sozialpolitik wieder viel stärker in das öffentliche Bewußtsein rücken,
als es in letzter Zeit — vielleicht auch in der einen oder anderen Äußerung aus dem Regierungslager — der Fall war.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9173
Bundesminister Dr. StoltenbergSonst können wir die Zukunftsprobleme nicht meistern, zu denen viel zu sagen jetzt aus Zeitgründen nicht möglich ist.Herr Kollege Jens, es ist doch einfach falsch, wenn Sie nach den verschiedenen finanzpolitischen Debatten hier weiter behaupten, wir hätten die öffentlichen Investitionen absinken lassen. Wir haben einen kontinuierlichen Anstieg der öffentlichen Investitionen, gemessen am Jahr 1982/83.
— Frau Kollegin, wir können ja die Unterlagen noch einmal ausbreiten. Wir haben das schon einmal getan, und wir tun es wieder, aber heute reicht die Zeit ja nicht. Ich sage Ihnen noch einmal: Im Gegensatz zu Ihren falschen Behauptungen haben wir einen bedeutenden Anstieg der Sachinvestitionen vor allem der Kommunen auch im letzten Jahr gehabt, im vierten Jahr nacheinander!
— Angefangen haben sie auf dem Tiefstand, den Sie uns 1983 hinterlassen haben, Herr Kollege. Das ist der Punkt.
Natürlich ist der Aufstieg nur schrittweise möglich, nachdem wir Anfang der 80er Jahre diesen schrecklichen Einbruch hatten, mit dem wir uns auseinandersetzen mußten. Über die Gründe will ich jetzt gar nicht im einzelnen reden;
da könnten Sie natürlich auch einiges begründend anführen.Ich möchte hier aber noch auf einen anderen Punkt kommen. Herr Jens, die Zahlen über die Verteilungswirkung waren zumindest irreführend. Es ist doch nicht zu bestreiten, daß wir in den letzten zwei Jahren einen Anstieg der real verfügbaren Einkommen der breiten Schichten unserer Bevölkerung von 6 % hatten.
So etwas haben wir in Ihrer Regierungszeit in einer längeren Zeitspanne wegen der hohen Inflation überhaupt nicht erlebt. Auch das ist festzuhalten, wenn wir über die sozialen Wirkungen der Politik reden.
— Sie müssen die Ausgangsbasis sehen. Es ist doch nicht zu bestreiten, daß die Investitionslücke, auf die Herr Roth zu Recht hingewiesen hat, auch damit zusammenhängt, daß wir in bestimmten Jahren eine Kompression der Unternehmenserträge und eine Zunahme der Zahl der Konkurs- und der Vergleichsverfahren gehabt haben, die unserer Volkswirtschaft und auch den arbeitenden Menschen in ihrer Beschäftigungssituation überhaupt nicht bekommen sind.
Meine Damen und Herren, ich glaube, man muß auch dem pauschalen Satz, die Massenarbeitslosigkeit sei unverändert, widersprechen. Man muß in einer Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht schon sehr genau formulieren. Die Arbeitslosenquote betrug im Januar dieses Jahres 9 %, vor einem Jahr 9,9 %. Das ist ein Rückgang um etwa 10 %. In absoluten Zahlen sind das fast 200 000 Arbeitslose weniger. Noch wichtiger ist die Zunahme der Beschäftigung, die hier bereits geschildert wurde.
Wir haben — ich sage das ohne überzogenen Optimismus, Herr Kollege — , wenn wir den Trend der letzten Monate sehen, die Chance, neben der weiter steigenden Beschäftigung — und sie steigt seit 1984 — erstmals auch einen gewissen Rückgang der Arbeitslosigkeit zu erreichen, und zwar — gemessen vor allem natürlich an den steigenden Zahlen der Erwerbstätigen — sehr eindeutig. Nun sollten wir einmal darüber diskutieren — aber das können wir heute nicht mehr sehr lange — , was für eine Politik wir betreiben sollten, um diesen Prozeß zu fördern, und was vor allem auch die Tarifpartner tun müssen.Meine Damen und Herren, 1990 werden wir durch die Beschlüsse der Regierungsparteien, der Mehrheit des Gesetzgebers, zur Steuerreform einen drastischen Rückgang der Subventionen haben. Mir gefällt dies auch nicht, wie sich manches in den letzten Jahren entwickelt hat. Das ist eines der schwierigsten Themen, was sich bei den Finanzhilfen zeigt. Die Widersprüche zwischen Reden und Handeln, Herr Jens, was die SPD betrifft,
habe ich hier schon mehrfach dargelegt; ich brauche das heute nicht zu wiederholen. Entscheidend ist wohl der Punkt, daß wir 1990 einen drastischen Rückgang der Subventionen, hier der Steuersubventionen, mittlerweile beschlossen haben, und insofern ist das entschieden.Meine Damen und Herren, zum Schluß noch wenige Sätze zu den außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten. Das ist auch eines der Problemfelder, über das wir reden müssen. Es ist schon richtig, wenn gesagt wurde, die deutschen Überschüsse wachsen. Es ist aber interessant, daß die Entwicklung in den verschiedenen Regionen, bei verschiedenen Partnern vollkommen unterschiedlich ist. Positiv für die weltwirtschaftliche Diskussion ist, daß wir im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika — deren Handelsdefizit ist ja das schwerste Problem hier — einen Rückgang unserer Überschüsse in einem Jahr um 32 % erreicht haben. Hier hat der Anpassungsprozeß funktioniert. Der europäische Anteil am Defizit der USA im Handel beträgt mittlerweile weniger als 10 %. Positiv ist auch, daß unser Außenhandel im Verhältnis zu den Entwicklungsländern einen höheren Fehlbetrag hat als im Jahr vorher; denn wir müssen unsere Märkte stärker für die Entwicklungsländer öffnen, ihre Absatzmöglichkeiten verbessern. Auch hier hat der Trend im vergangenen Jahr gestimmt.Aber wir haben in der Tat ein Ansteigen des globalen Überschusses und zwar ausschließlich durch die Handelsbeziehungen innerhalb Westeuropas, der Eu-
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9174 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Bundesminister Dr. Stoltenbergropäischen Gemeinschaft, und darüber müßte man ausführlicher reden, als ich es kann, was das bedeutet.Einige — das klang auch heute an — schlagen nun Wechselkursveränderungen im Europäischen Währungssystem als Konsequenz vor. Ich will Sie nur darauf aufmerksam machen, daß das unsere Partner im Augenblick nicht wollen. Natürlich ist das vorstellbar und möglich nach den Mechanismen des EWS, aber für viele ist es erstaunlich, daß unsere Partner das ablehnen, die Defizitländer. Denn die Aufwertung des einen ist die Abwertung des anderen, und einige unserer Partner sind zu der Auffassung gekommen, daß der Vorrang ihrer Politik für Preisstabilität durch Abwertungen gefährdet werden kann. Insofern ist das eine nicht ganz einfache Debatte.Als Letztes will ich sagen: Die Defizite im Bundeshaushalt, im öffentlichen Gesamthaushalt haben sich nicht so ungünstig entwickelt, wie Sie unterstellt haben. Wir haben einschließlich der Sozialversicherung — das zeigt auch die Anlage zum Jahreswirtschaftsbericht — 1988 ein Defizit der öffentlichen Haushalte von 2 %, bei Bund, Ländern und Gemeinden von 2,5 % , weit weniger, als zunächst erwartet. Wir werden in diesem Jahr, wenn keine besonderen Überrar schungen kommen und der Verlauf etwa so ist, wie erwartet, dieses Defizit bei Bund, Ländern und Gemeinden auf knapp 2 % verringern können. Das wird der niedrigste Wert seit Anfang der 70er Jahre. Aber das ist absolut notwendig, denn im nächsten Jahr verzichten wir auf 19 Milliarden DM Steuereinnahmen, und deswegen muß der Kurs der konsequenten Ausgabenbegrenzung fortgesetzt werden.
Das ist ein absolutes Erfordernis, auch in den bevorstehenden finanzpolitischen Debatten, in denen auch einige aus dem Regierungslager mir zu viele neue Forderungen auf den Tisch reden. Darüber reden wir. Aber zu den Zukunftsaufgaben gehört in der Tat auch eine Reform, eine Senkung der Unternehmensteuern. Wir müssen unser Land noch besser zurüsten auf die Herausforderungen und Chancen des europäischen Marktes und eines weltweiten Wettbewerbs.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Stoltenberg, nur die Zahlen zu der Investitionsquote des Bundeshaushalts, also dem Anteil der Investitionen am Bundeshaushalt: 1983 12,7 %, 1986 12,5 %, 1988 12,4 % und nach der mittelfristigen Finanzplanung 1992 11,5 %. Dann hat doch wohl der Herr Jens recht, wenn er sagt: Die Investitionsquote des Bundeshaushalts geht dauernd zurück.
Die Bundesregierung macht in der Steuer- und Finanzpolitik unserer Ansicht nach sieben entscheidende Fehler. Es könnten noch mehr sein, aber ich möchte mich auf die wichtigsten konzentrieren.Fehler Nr. 1: Der Steuer- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung fehlt die notwendige Stetigkeit, Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit. Die Bundesregierung verfolgt einen Zickzackkurs: Versprochen hat sie die größte Steuersenkung aller Zeiten, und herausgekommen ist die größte Steuererhöhungsaktion in der Geschichte der Republik jetzt zum 1. Januar 1989.
Fast 13 Milliarden DM höhere Steuern auf Erdgas, Heizöl, Benzin, Versicherungsverträge; Kraftfahrzeugsteuer und die neue Quellensteuer. 1988 wurden die Steuern gesenkt, und 1989 wird das alles wieder einkassiert. Sie erwähnen die bevorstehende Senkung 1990. Das ist richtig. Aber gleichzeitig denkt die Regierung laut über die Anhebung der Mehrwertsteuer in der Zeit danach nach. Das ist nicht Stetigkeit in der Finanzpolitik, sondern eine steuerpolitische Springprozession.
Fehler Nr. 2: Die Bundesregierung verunsichert Sparer und Wirtschaft mit ihrer unseligen Quellensteuer. Diese ist ungerecht, bürokratisch, kompliziert und soll nun, kaum eingeführt, von 10 auf 15 % angehoben werden. Die Kritik der Bundesregierung an den Vorschlägen der Europäischen Kommission, die 15 % vorschlägt, ist unglaubwürdig. Die Regierung mußte wissen, daß man angesichts der höheren Quellensteuersätze im EG-Ausland auf jeden Fall bei einem höheren Satz landen würde, wenn man mit 10 % anfängt. Die Frage drängt sich auf, ob nicht einige im Regierungslager bereits auf diese höheren Steuermehreinnahmen spekuliert haben. In jedem Fall aber tragen die Bundesregierung und der Bundesfinanzminister selbst die volle Verantwortung, wenn demnächst die deutschen Sparer 15 % Quellensteuer zahlen müssen.
Unsere Alternative: Es gibt einen ganz sicheren Weg, das zu vermeiden, indem Sie nämlich die Alternative ergreifen, die die Europäische Kommission aufgezeigt hat und die wir seit langem favorisieren: das Mitteilungsverfahren. Wir fordern Sie auf: Schaffen Sie
endlich diese unselige Quellensteuer ab! Erhöhen Sie endlich kräftig die Sparerfreibeträge, damit die Millionen Normalsparer aus der Zinsbesteuerung herauskommen! Und schließlich: Führen Sie endlich ein Mitteilungsverfahren ein, damit den großen Steuerhinterziehern das Handwerk gelegt wird!
Fehler Nr. 3: Mitglieder der Bundesregierung lassen zu, daß der Standort Bundesrepublik Deutschland heruntergeredet wird. Es ist bemerkenswert, daß die Bundesrepublik als Produktionsstandort für Un-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9175
Frau Matthäus-Maierternehmen in einer Zeit ins Gerede gekommen ist, in der Union und FDP die Regierung stellen. Daß daran Verbände der Wirtschaft beteiligt sind, die nach dem Sprichwort „Klagen ist der Gruß der Kaufleute" möglichst viele Steuersenkungen herausholen wollen, ist zu kritisieren, aber verständlich. Die werden dafür bezahlt. Rufmord der Verbände hat ein deutsches Wirtschaftsmagazin das genannt. Daß sich an solchem Gerede aber auch Mitglieder der Bundesregierung beteiligen, ist unverantwortlich. Der Standort Bundesrepublik wird schlechtgemacht, um den eigenen ungerechten Umverteilungskurs zu rechtfertigen.
Der Schaden, den z. B. Bundeswirtschaftsminister Haussmann dem Standort Bundesrepublik zufügt, indem er den Eindruck zu erwecken versucht, als ob die deutschen Unternehmen wegen angeblich hoher Steuerbelastung praktisch an der Schwelle zur Sozialhilfe stünden, ist groß.
— Ja sicher. Wenn Steuersenkungsmodelle in Höhe von 30 Milliarden DM vorgeschlagen werden, wie er es getan hat, wie ist das denn anders zu verstehen?Warum geschieht das? Dieser Standort wird madig gemacht, um möglichst viel an Steuersenkungen für Spitzenverdiener herauszuholen. Diese Strategie ist schlimm.
Wir fordern Sie auf: Hören Sie damit auf! Nennen Sie ausdrücklich und klarer die Standortvorteile dieses Landes, etwa bestausgebildete und leistungsmotivierte Arbeitnehmer, gute Infrastruktur, größtmögliche Stabilität, leistungsfähige Verwaltung! Das ist unser Vorteil gegenüber anderen Ländern.
— Ein Lob z. B. für verantwortungsbewußte Gewerkschaften, Herr Kittelmann,
die Sie immer wohlweislich vergessen. — Wenn wir darüber einig sind, dann kann man auch gemeinsam über Probleme diskutieren, die es gibt — wie z. B. zu hohe Lohnnebenkosten — , und darüber, wie man diese Probleme lösen kann.
Unsere Alternative: Es geht auch ohne Wehklagen und Madigmachen. Das zeigt die Ruhrgebietsinitiative, die wir gestern im Fernsehen gesehen haben, wo mit Phantasie, Kreativität und natürlich auch dem nötigen Geld von Unternehmern, Bankern, Kirchenvertretern die Standortvorteile des Ruhrgebiets herausgestrichen werden. Diese Leute jammern nicht, sie spucken in die Hände, und sie packen es an. Sie verbreiten Aufbruchstimmung. Das steckt an.
Wir Sozialdemokraten sind dafür dankbar.Ich muß Ihnen sagen: Als ich das gestern abend im Fernsehen sah und diese Dankbarkeit empfand, da erinnerte ich mich voll Bitterkeit an das Wort von Arbeitsminister Blüm, der im Landtagswahlkampf 1984/1985 vom Ruhrgebiet als dem Schrotthaufen der Nation gesprochen hat. Man sieht, es geht auch anders. Herr Blüm soll mal in NRW kandidieren. Dann kriegt er für solche Äußerungen und für die Gesundheitsreform schon eine Quittung.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Uldall?
Bitte, Herr Uldall.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, da Sie sich so darüber beklagen, daß andere angeblich jammern: Was halten Sie denn von dem Gejammere der SPD-Fraktion, die in ihrem Antrag vom 18. Dezember 1987 gejammert hatte: „Die Weltwirtschaft steht am Rande einer Rezession"? Wie beurteilen Sie dieses Gejammere ein Jahr später?
Herr Uldall, das haben wir doch x-mal festgestellt. Wir haben uns in der Prognose geirrt, aber Sie doch auch und die Sachverständigen ebenfalls. Wir sind doch froh darüber, daß es anders gekommen ist. Aber Sie wissen doch genauso, daß die Risiken nicht vom Tisch sind. Otto Graf Lambsdorff hat doch vom Zwillingsdefizit in den USA und von der Weltschuldenkrise gesprochen. Lassen Sie uns froh sein, wenn wir so über die Runden kommen. Aber lügen wir uns nicht in die eigene Tasche, als sei die Welt rosa!
Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Bitte.
Frau Matthäus-Maier, als jemand, der im Ruhrgebiet großgeworden ist und dort lebt, bin ich etwas verwundert über Ihre Begeisterung gegenüber der Initiative von Herrn Herrhausen, von Herrn Bennigsen-Foerder und anderen gestern. Deswegen frage ich Sie: Können Sie die Begeisterung aufrechterhalten, wenn Sie die Rolle beispielsweise von Herrn Bennigsen-Foerder beim Kaputtmachen der heimischen Steinkohle und beim gleichzeitigen Ausbau der Atomenergie in seinem Konzern berücksichtigen und andererseits die Rolle von Herrn Herrhausen von der Hausbank des Konzerns Thyssen, der ebenfalls massenhaft Arbeitsplätze im Ruhrgebiet vernichtet?
Herr Stratmann, das ist doch nicht mein Thema. Wie ich zur Kernenergie stehe und daß wir da möglichst schnell heraussollen, ist doch unbestritten. Aber es ist doch positiv, daß hier entgegen dem Wehklagen mancher Interessenvertreter solche Leute hingehen, Mut verbreiten und sagen:
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Frau Matthäus-MaierWir gehen ins Ruhrgebiet; die Stimmung ist gut, und das ist einer der besten Standorte der Welt.
— Das liegt auch an dieser Landesregierung — da können Sie mal sicher sein — , und diese bleibt auch.Fehler Nr. 4:
Die Bundesregierung verspricht pauschale Steuerentlastungen für Unternehmen, obwohl es dafür keinen Bedarf gibt. Dafür soll die Mehrwertsteuer angehoben werden. Gerade in dieser Debatte muß man mit dieser Legende aufräumen, als sei die Unternehmensbesteuerung bei uns pauschal zu hoch. Wir kennen die 70-%-Rechnung, die natürlich rein rechnerisch stimmt. Aber sie sagt nichts über die tatsächliche Besteuerung, weil nicht dazugesagt wird, was denn eigentlich besteuert wird; d. h. die sogenannte Bemessungsgrundlage, die bei uns mit vielen Schlupflöchern und Ausnahmen durchlöchert ist, wird nicht angegeben. Herr Bundesfinanzminister, ich weiß, daß wir uns in der Bewertung der 70-%-Rechnung einig sind. Dann wünschte ich mir allerdings, Sie würden öfter auf die Fragwürdigkeit dieser Rechnung hinweisen.Wer eine pauschale Senkung der Unternehmensteuern fordert, muß zur Kenntnis nehmen, daß sich der Anteil der Steuern am Gesamtaufwand der Unternehmen in den letzten 20 Jahren von 14 auf 7 % halbiert hat, daß umgekehrt der Anteil der Unternehmensteuern am gesamten Steueraufkommen von 30 auf 20 % zurückgegangen ist und daß z. B. eine Unternehmensteuersenkung von 10 Milliarden DM einmal gerade so viel ausmachen würde wie die Anhebung der Zinsen. Daran sieht man, wie vergleichsweise gering die Möglichkeiten der Einflußnahme sind.Die zweite Legende ist die vom internationalen Steuersenkungswettlauf. Es wird dann auf Österreich, die Niederlande und Großbritannien verwiesen. Dort gibt es Unternehmensteuerreformen. Diese sind aber alle aufkommensneutral. Das heißt, die Unternehmen zahlen nachher genausoviel Steuern wie vorher; nur die Sätze wurden gesenkt und dafür die Schlupflöcher geschlossen. In den USA zahlen die Unternehmen sogar deutlich mehr Steuern als vorher.
— 120 Milliarden DM in fünf Jahren, Graf Lambsdorff.
— Wenn das unwahr ist, kommen Sie hierher und sagen, was unwahr ist und wie die Wahrheit ist; das möchte ich doch noch mal gerne hören. Ich war doch beim DIHT dabei, wo die Unternehmen gesagt haben: Seid vorsichtig, in den USA ist das gar nicht so toll; sie verbreitern nämlich die Bemessungsgrundlage.Legende Nr. 3: Der Bundeswirtschaftsminister tut so, als müsse im Zuge der europäischen Steuerharmonisierung die Mehrwertsteuer angehoben werden.
— Er verbrät sie doch gleich. Das hat er doch kurz vor und nach Weihnachten gemacht. — Dies ist nicht der Fall. Der Vorschlag der Kommission läßt uns sehr wohl die Möglichkeit, bei 14 % zu bleiben. Herr Haussmann, wir meinen, es ist nicht gut, durch ein solches Herumgerede über eine Anhebung der Mehrwertsteuer unseren ausländischen Partnern das Alibi zu bieten, sich für eine solche Anhebung einzusetzen. Sie müßten statt dessen kräftig dafür sorgen, daß es bei dieser Möglichkeit bleibt, in Deutschland die Mehrwertsteuer bei 14 % zu belassen; denn eine Senkung der Unternehmensteuern, finanziert durch eine Anhebung der Mehrwertsteuer, wäre wirklich höchst ungerecht, ökonomisch unvernünftig und im übrigen sehr mittelstandsfeindlich. Es ist kein Zufall, daß Präsident Stihl und Präsident Späth dieses ablehnen.Unsere Alternative: Wir diskutieren offen und pragmatisch die Frage, ob unser Steuersystem investitions- und beschäftigungsfreundlicher gemacht werden kann, ohne ideologische Scheuklappen. Das unterscheidet uns von Ihnen, die unbedingt senken wollen, auch ohne Bedarf.
Wir prüfen alle Möglichkeiten, von der Verbesserung der steuerlichen Abschreibung, z. B. für Umweltschutz und Energieeinsparen, über die Frage, ob wir Steuersätze senken und die Bemessungsgrundlage verbreitern, bis hin zu der Überlegung, ob man Unternehmen möglicherweise anders besteuert als Unternehmer.
— Sie kennen das Stichwort Betriebsteuer. Ihr Kollege Faltlhauser, den ich im Moment nicht sehe, hat eine Option für Körperschaftsteuersätze ins Gespräch gebracht. Es ist eine ganze Menge in der Diskussion. Sie sehen, daß wir das diskutieren und nicht von vornherein sagen: senken, senken, senken! Das ist ja geistlos.Fehler Nummer 5: die Bundesregierung geht bewußt den Weg in den Lohnsteuerstaat. Von Jahr zu Jahr ist deutlich zu sehen: Das Lohnsteueraufkommen platzt aus allen Nähten. Bei der Lohnsteuer liegt der eigentliche Handlungsbedarf.Unsere Alternative: Es darf nicht sein, daß auf Erwerbseinkommen unter oder auf Sozialhilfeniveau Lohnsteuer gezahlt wird. Das ist ungerecht. Das ist leistungsfeindlich und ökonomisch unsinnig. Deswegen brauchen wir eine kräftige Verbesserung des steuerlichen Freibetrags. Wir denken an 8 000 DM für Ledige und 16 000 DM für Verheiratete.
Fehler Nummer 6: Die Bundesregierung wehrt leider immer noch die von der SPD geforderte stärkere ökologische Ausrichtung des Steuersystems ab. Wie könnte sie aussehen? Wir sind der Ansicht: Der Energieverbrauch muß zurückgedrängt werden. Da bietet
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Frau Matthäus-Maieres sich an, die Energiesteuer zu erhöhen, um Anreize zum Energiesparen zu geben. Auf der anderen Seite brauchen wir mehr Arbeitsplätze. Dann bietet es sich an, den Faktor Arbeit zu verbilligen, indem man die Lohnsteuer senkt. Man kann die Anhebung der Energiesteuer mit der Senkung der Lohnsteuer koppeln. Was haben Sie eigentlich dagegen?
Herr Stoltenberg, ich habe heute morgen in der Zeitung gelesen, daß Herr Töpfer sagt, er wolle eine Naturschutzabgabe. Ich konnte noch nicht genau feststellen, was das ist. Jedenfalls geht Herr Töpfer in diese Richtung. Sie sollten sich für die Zukunft überlegen, ob Sie sich endlich den Vorstellungen der SPD annähern oder ob Sie in Zukunft auch Herrn Töpfer kritisieren wollen.
Fehler Nummer 7: Die Bundesregierung versagt bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Noch schlimmer: Sie zementiert die Arbeitslosigkeit dauerhaft. Mit der Verbrauchsteuererhöhung wird die Konjunktur geschwächt und zusätzliche Arbeitslosigkeit geschaffen. Über die niedrige Investitionsquote sprachen wir schon. Dies ist nicht nur menschlich unerträglich, sondern gefährdet auch die finanziellen Grundlagen unseres Staates. Die Arbeitslosigkeit kostet im Moment nämlich pro Jahr über 60 Milliarden DM. Das ist Jahr für Jahr so, und diese Mittel haben wir nicht für andere Zwecke zur Verfügung.Unsere Alternative: Wir brauchen eine breit angelegte Investitionsoffensive im privaten wie im öffentlichen Bereich, besonders auf dem Gebiet des Umweltschutzes und der Modernisierung unserer Wirtschaft. Wir brauchen eine Steuerpolitik, die nicht die Spitzenverdiener entlastet, sondern kleine und mittlere Einkommen, und damit die Binnennachfrage stärkt.Ich fasse unsere Forderungen zusammen: Schaffen Sie endlich die unselige Quellensteuer ab, und befreien Sie die Millionen Normalsparer von der Zinsbesteuerung!
Hören Sie auf, den Standort Bundesrepublik Deutschland mies zu machen!
Lassen Sie Ihre Pläne zur Anhebung der Mehrwertsteuer fallen! Versuchen Sie gemeinsam mit uns, wie wir mit unserem Steuersystem und auch unserem Unternehmensteuersystem mehr Investitionen und mehr Beschäftigung schaffen können! Pauschale Steuergeschenke für Unternehmer brauchen wir nicht. Stoppen Sie den Marsch in den Lohnsteuerstaat durch kräftige Verbesserungen der steuerlichen Grundfreibeträge!
Verschließen Sie sich nicht länger einer ökologischen Weiterentwicklung des Steuersystems, Herr Kollege, und bekämpfen Sie endlich aktiv die Massenarbeitslosigkeit! Unsere Alternativen liegen auf dem Tisch. Greifen Sie sie endlich auf!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hinsken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Matthäus-Maier hat von sieben Fehlern gesprochen. Ich meine, einen achten hat sie vergessen, nämlich den, den wir machen. Wir müßten die Öffentlichkeit viel, viel mehr dahin gehend aufklären, mit welcher Unehrlichkeit und mit welch demagogischen Worten Sie die einzelnen Mitbürger zu verunsichern versuchen, was jeder Grundlage entbehrt. Das ist unser großer Fehler.
Ich meine, auch darauf hinweisen zu dürfen, daß gerade unser Finanzminister Dr. Stoltenberg mit seiner Finanz- und Haushaltspolitik in den letzten Jahren überhaupt die Grundlage dafür gelegt hat, daß wir einen wirtschaftlichen Aufschwung verzeichnen können, wie er jahrelang nicht mehr zu verzeichnen war.
Meine Damen und Herren, es ist ja schon interessant, was heute vormittag Herr Roth und Herr Jens und jetzt Frau Matthäus-Maier von sich geben. Da wird gesagt, daß z. B. die Quellensteuer nicht hätte eingeführt werden sollen. Da wird des weiteren angeprangert, daß der Spitzensteuersatz gesenkt worden ist. Ich bin ja neugierig, was Kollege Vahlberg hernach sagt.Ich habe ein Zitat von ihm. Da heißt es: Im Gegensatz zu weiten Teilen der SPD könne er — Vahlberg — sich sogar eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes vorstellen — usw. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Einmal wird so geredet, und das andere Mal wird so geredet.
— Ich kann Ihnen das geben; ja, ich bin gerne bereit, dies weiterzugeben.
Wissen Sie, warum, Frau Matthäus-Maier? Die Zeitschrift „Der Selbständige" für die SPD-Selbständigen wurde nämlich bundesweit verbreitet. Es war für mich interessant festzustellen: Da spricht der Kollege Dr. Jens gegen die Banken, und der Oberfinanzier dieser Zeitschrift ist die Bank für Gemeinwirtschaft — auf der ersten Seite. Dann wird von Herrn Roth die Fusion von Daimler-Benz mit MBB angeprangert, und
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Hinskender Großfinanzier auf der letzten Seite ist Daimler-Benz.
Meine lieben Zuhörer, ich kann mir das sehr, sehr lebhaft vorstellen: Wenn die Fusionierung durchgeführt ist, wird es in Zukunft nicht mehr eine Seite sein, sondern es werden eventuell zwei Seiten sein, die an Annoncen aufgegeben werden, damit Sie von der SPD Ihren Unsinn weiterhin verbreiten können. So weit sind wir schon.
— Nein, das sind Tatsachen. Das kann nicht von der Hand gewiesen werden. Ich weiß, daß Sie sich hier entschieden dagegen wehren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn sie nicht auf meine Redezeit angerechnet wird, ja.
Bitte schön, Frau Matthäus-Maier.
Herr Hinsken, Sie haben mir vorgeworfen, daß ich unehrlich argumentiert hätte. Könnten Sie mir sagen, wo ich unehrlich war?
Vom ersten bis zum siebten Punkt.
Das Lachen kann ich natürlich nicht zu Ihren Gunsten verrechnen, überhaupt zu niemandes Gunsten, sondern zu unser aller Gunsten: Es geht von Ihrer Zeit ab.
Herr Präsident, ich bitte, mir dies bei der Redezeit nicht anzurechnen, damit ich das ausführen kann, was ich alles sagen wollte, damit Sie die heutige Sitzung etwas bereichert verlassen können.
Ich meine, wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind doch das Erfolgsland Nummero eins in ganz Europa. Das sagen keine Unbedeutenderen als die Sozialisten, z. B. Spaniens. Felipe Gonzalez sagt, die Bundesrepublik Deutschland sei ein Paradeland. In Italien spricht man vom Musterland Bundesrepublik Deutschland. Sie erkennen, was los ist. Hier sind Sozialisten mit in der Regierung. Und die drei französischen Präsidentschaftskandidaten haben doch vor einem halben Jahr, unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl, als sie gefragt worden sind, welche Politik sie denn machen wollen, gesagt, sie würden die Politik eines Helmut Kohl in der Bundesrepublik Deutschland machen, um eben auch Frankreich weiterzubringen.
Meine verehrten Kollegen, es ist doch unbestritten: Wir haben die höchsten Löhne, wir haben die höchsten Sozialleistungen, wir haben mit die niedrigste Inflationsrate, wir haben mit die höchsten Spareinlagen, wir haben mit die kürzeste Arbeitszeit, und wir haben mit den längsten Urlaub in der ganzen Welt.
Wir werden vor allen Dingen eine Grundlage dafür schaffen, daß hier die bundesweite Wirtschaft weiterhin im Rahmen eines europäischen Gemeinsamen Marktes leistungsfähig bleibt. Deshalb auch die einzelnen Reformen, die bereits umgesetzt wurden und die noch in den nächsten Monaten umgesetzt werden, um uns für die Herausforderungen fit zu machen, die uns Europa abverlangen wird.
Meine Damen und Herren, alles was Europa braucht, fehlt der SPD und fehlt auch Ihnen von den GRÜNEN. Europa muß den Binnenmarkt und seine Wachstumskräfte nutzen. Die SPD ist aber die Partei der Wachstumsbremsen. Europas Forschungs- und Technologiepolitik muß für zukünftige Entwicklungen offen sein. Die SPD und die GRÜNEN blockieren aber den technischen Fortschritt.
Wir brauchen auch im europäischen Markt künftig mehr Handwerk und weniger Mundwerk. Weiterhin brauchen wir eine bessere Ausbildung statt Einbildung, die sich leider Gottes breitmacht.Meine lieben Zuhörer, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
vergessen wir doch eines nicht: Wir sind doch leider Gottes in der Lage, daß das nicht mehr anerkannt wird, was sich alles an positiven Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 getan hat. Wenn man daran denkt:
Der Stundenlohn betrug 1950 1,45 DM, der Bruttostundenlohn des Jahres 1987 20,20 DM. Es kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, daß die Grundlage dafür unsere Soziale Marktwirtschaft war. Jeder bei uns in der Bundesrepublik Deutschland hat sein Einkommen und sein Auskommen. Die meisten haben ein Auto. 25 Millionen Deutsche flogen im vergangenen Jahr in Urlaub in andere Länder, z. B. in die Türkei, nach Ägypten, nach Tunesien. Warum denn? Weil sie es sich leisten können und weil alle wissen, daß sie nach der Urlaubszeit wieder zurückkönnen,
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Hinskenmeine lieben Zuhörer. Auch das muß einmal gesagt werden. Wir setzen doch alle darauf — gerade die demokratischen Parteien —,
daß man wieder mehr Zufriedenheit Platz greifen läßt, daß man mit dem, was man hat, auch einigermaßen über die Runden kommen kann. Versprechen wir doch gegenseitig nicht das Blaue vom Himmel oder paradiesische Zustände, die hier niemand schaffen kann!Meine lieben Kollegen, es muß auch darauf verwiesen werden, daß es — da greife ich noch einmal auf, was Sie, Herr Roth, heute vormittag gesagt haben —, was den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland anbelangt, nicht darauf ankommt, was an Löhnen bezahlt wird. Da sind wir allein nicht Spitze. Wir sind nur leider Gottes bei den Lohnzusatzkosten Spitze. Hier muß darauf verwiesen werden, daß z. B. von 1972 bis 1987 das direkte Entgelt um 129 % gestiegen ist, die Lohnnebenkosten aber um 228 %. Das ist eine Herausforderung für die Wirtschaft, die so ohne weiteres nicht bewältigt werden kann.
Deshalb müssen wir ansetzen, damit hier Grundlagen geschaffen und Maßnahmen ergriffen werden, um die Lohnzusatzkosten nicht ins Unermeßliche treiben zu lassen.Meine lieben Zuhörer, meine Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, wenn ich hier dieses Programm der SPD unter die Lupe nehme, das Wirtschaftsprogramm von 80 Seiten, und sich in diesen 80 Seiten nicht ein einziges Mal das Wort „Selbständiger" oder „Unternehmer" findet, dann spricht das von sich aus Bände.
Ich meine, auch darauf verweisen zu müssen, daß gerade in unserer Volkspartei sowohl die Arbeitnehmer als auch die Arbeitgeber ihren Platz haben, daß man das notwendige Verständnis für sie ein- und aufbringt, daß wir vor allen Dingen auch Grundlagen dafür in steuerlicher Hinsicht schaffen, daß wir darüber hinaus das Existenzgründungsprogramm erneut aufgelegt haben, das einen großen Zuspruch erfährt, daß das Eigenkapitalhilfeprogramm fortgeführt wird, daß die Kürzungen im Bereich des Mittelstandes nicht umgesetzt und vorgenommen werden konnten, weil wir dagegen waren, denn wir wissen, was gerade der Mittelstand insgesamt gesehen für uns bedeutet.
— Herr Stahl, eines sage ich Ihnen: Wenn man weiß, daß die Schaffung eines neuen Arbeitsplatzes insgesamt 160 000 DM kostet, dann hat man auch das notwendige Verständnis dafür, daß der Staat hier subsidiär mithelfen muß, damit neue Arbeitsplätze geschaffen werden können und damit die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland weiterhin anhält.
Lassen Sie mich abschließend noch auf ein mich und viele Freunde bewegendes großes Problem eingehen, nämlich auf die Neuabgrenzung von Fördergebieten innerhalb der EG. Hier ist einiges zu befürchten. Neun verschiedene Arbeitsmarktregionen sollen aus der Förderkulisse herausfallen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei Bundesfinanzminister Dr. Stoltenberg und Bundeswirtschaftsminister Dr. Haussmann herzlich für das Verständnis und auch für die Zusage bedanken, Maßnahmen zu ergreifen und Einfluß darauf zu nehmen, daß dieses Herausschmeißen von Förderregionen — dabei handelt es sich vor allen Dingen um Regionen, die in strukturschwachen Gebieten liegen — nicht vorgenommen wird.
— Nein, sie sind drin.
— Nein, sie sind drin, und sie müssen auch drinbleiben, um dort weiterhin Arbeitsplätze vorhalten und schaffen zu können, die gerade in solchen Gebieten dringend benötigt werden.Wenn hier vorhin vom Ruhrgebiet die Rede war, dann, so meine ich, können wir uns gerade aus europäischer Sicht gesehen doch glücklich und zufrieden schätzen, denn das Ruhrgebiet und auch das Saarland, wo wir momentan große sektorale Probleme haben, befinden sich im Herzen Europas. Die Probleme als solche können auf Grund der Standortvorteile leichter gelöst werden als z. B. im strukturfernen ostbayerischen Bereich, meiner Heimat.Wir müssen dort an der Grenze zum Eisernen Vorhang leben. Es ist nicht leicht, den einen oder anderen Betrieb dort hinzubekommen.Deshalb ist es richtig, wenn diese Bundesregierung weiterhin regionalpolitische Maßnahmen ergreift, damit diese Bereiche, diese Gebiete auch weiterhin so aufholen können, wie das in der Vergangenheit auf der Grundlage der großartigen Politik dieser Bundesregierung unter Helmut Kohl der Fall war.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die weltwirtschaftliche Entwicklung ist auch im Jahre 1989 weiter auf Expansionskurs. Wir können gemeinsam erfreut feststellen, daß auch die Bundesrepublik Deutschland durch ihre Wirtschaftspolitik einen großen Anteil daran hat.Wenn der Jahreswirtschaftsbericht eindrucksvoll belegt, daß die Entwicklung im Jahre 1989 noch posi-
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Kittelmanntiver verlaufen wird, als es ursprünglich von Instituten und nach dem Börsenkrach von vielen erwartet worden ist, so kann uns dies nur erfreuen. Vor allen Dingen die Sozialdemokraten sollten vorsichtiger mit Prognosen sein. Die Entwicklung, die hier verlaufen ist, ist klassisch: Vor einem oder zwei Jahren haben Sie versucht, die Stimmung in der Bevölkerung mies zu machen. Sie haben Chaosstimmung verbreitet, Sie hab en Weltuntergangsstimmung verbreitet. Sie haben nicht recht gehabt, und Frau Matthäus-Maier sagt hier: Man kann sich doch auch einmal irren.
Meine Damen und Herren, wer sich mehrfach hintereinander irrt, wer falsche Daten prognostiziert und in der Bevölkerung Besorgnisse hervorruft, die nicht berechtigt sind, verliert den Anspruch auf Seriosität. In Ihrer Wirtschaftspolitik haben Sie diesen Anspruch sowieso seit langem verloren.
Es ist erfreulich festzustellen, daß das weltwirtschaftliche Wachstum mit sich bringt, wie die OECD belegt, daß wir in diesem Jahr eine Steigerungsrate von 7,5 % verzeichnen können. Die OECD prognostiziert für 1990 wiederum 7 %. Wie schon mehrfach dargelegt und wie von uns täglich optimistisch und mit Freude zur Kenntnis genommen wird, befindet sich auch die deutsche Wirtschaft zu Beginn des Jahres 1989 wieder in einem kräftigen Aufwärtsschwung. Dies sollten wir doch gemeinsam begrüßen.Es kann daher nicht häufig genug wiederholt werden — ich gebe zu, die CDU/CSU und die Koaltion haben darin ein bißchen Nachholbedarf — : Wie befinden uns seit sieben Jahren
in einem bemerkenswerten Aufschwung.
Das ist die Folge einer positiven Wirtschaftspolitik. Diese gute Stimmung läßt sich auch an Aufträgen in der Wirtschaft, im verarbeitenden Gewerbe, nachweisen. Obwohl von Ihnen seit Jahren vorhergesagt wird, daß das nicht funktionieren werde, ist die Stütze des Wachstums die Binnenmarktnachfrage. Darüber hinaus ist erfreulicherweise festzustellen, daß auch der Export daran seinen Anteil hat.Den Grundstein für diese erfolgreiche Politik hat die Bundesregierung durch die Schaffung solider Rahmenbedingungen gelegt. Die Bundesregierung hat ihr Versprechen gehalten, obwohl Sie immer daran gezweifelt haben, daß das sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber durchhaltbar sein würde. Wir haben gesagt: Leistung muß sich wieder lohnen. — Wir haben gemeinsam bewiesen, daß wir dieses politische Rezept auch erfolgreich umsetzen konnten.
Meine Damen und Herren, eine weitere Voraussetzung für unsere wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit sind nicht nur hohe Qualität der Produkte, Lieferpünktlichkeit, Service, politische Rahmenbedingungen, sondern auch die Möglichkeit, daß wir die Technologie der Zukunft wesentlich mitbestimmen können.
Jede Form von arroganter Technologiefeindlichkeit gefährdet Arbeitsplätze. Wir müssen in der Weltwirtschaft Märkte der Zukunft mitbestimmen. Wir dürfen nicht negativ von Kapitalflucht sprechen. Eine solche findet nicht statt. Wir müssen uns vielmehr durch Investitionen auf Märkten der Zukunft beteiligen, nicht nur in den USA, sondern in Südamerika und vor allen Dingen im ASEAN-Bereich.Voraussetzung im Hinblick auf liberalen Welthandel ist, daß die Bundesregierung weiterhin gegen jede Beschränkung der offenen Märkte auftritt. Diese Grundsätze müssen vor allen Dingen auch für die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes gelten. Der Europäische Binnenmarkt wird uns eine Vielfalt von Chancen bieten. Die Uhr läuft, meine Damen und Herren. Das Datum 1. Januar 1993 ist nicht mehr weit.In immer stärkerem Maße sehen unsere Unternehmen, vor allen Dingen auch mittelständische Unternehmen, ihre Chancen im Binnenmarkt.Die Bundesregierung muß vor allen Dingen — und dies müssen wir ernster nehmen, als es sehr häufig geschieht — dem Schlagwort von der „Festung Europa" nicht nur eine klare Absage erteilen, sondern dieses ohne Wenn und Aber auch international immer wieder klarmachen, vor allen Dingen gegenüber den USA und Japan.
Es kann nicht häufig genug wiederholt werden: Der Binnenmarkt wird Vorteile für uns bringen, viele Vorteile.
Aber zunächst gibt es nur eine Option auf diese Vorteile. Ob wir sie dann, wenn der Binnenmarkt da sein wird, auch realisieren können, wenn wir gemeinsam wollen — und ich hoffe, daß die Sozialdemokraten zumindest darin noch mit uns übereinstimmen —, wird sich herausstellen. Aber ich möchte auch hier, damit kein Zweifel aufkommt, sagen: Die CDU/CSU wünscht einen Binnenmarkt ohne Herabstufung des erreichten sozialen Standards.Übrigens, meine Damen und Herren von der SPD, kann man dieser Regierung an sich kein größeres Kompliment für gute Wirtschafts- und Sozialpolitik machen, als immer wieder unsere Spitzenstellung in Europa als Herausforderung zu betonen. Deshalb kann unsere Politik der letzten Jahre so schlecht nicht gewesen sein.
Die Bundesregierung darf in ihrem Bemühen, den internationalen Protektionismus einzudämmen, nicht nachlassen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die
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KittelmannPrinzipien der Marktwirtschaft sehr häufig verletzt werden, in Europa genauso wie in den USA und Japan. Es liegt an uns, etwas dagegen zu tun.Eine Äußerung der neuen amerikanischen Handelsbeauftragten Clara Hill vor wenigen Tagen gegenüber Senatoren ist für uns trotz dieses protektionistischen Handelsgesetzes eine Ermutigung. Sie sagte: „Sie sollen in mir eine Handelsbeauftragte sehen, mit der wir die Märkte aufbrechen und aufhalten. " Dieses sind andere Töne, als wir sie im Zusammenhang mit protektionistischen Gesetzgebungsvorhaben aus dem Kongreß hören.Meine Damen und Herren, wir müssen jede Reglementierung, jedes Anzeichen von Protektionismus im Inland, in der EG und in den Drittmärkten bekämpfen; denn nur dann sind wir glaubwürdig.Darüber hinaus möchte ich auch noch darauf eingehen, daß uns die laufende GATT-Runde eine große Verantwortung auferlegt. Der Versuch, in Montreal Erfolge zu erzielen, ist gescheitert. Es ist nur zu hoffen, daß der Schock von Montreal mit dazu beitragen wird, daß man GATT ernster nimmt und auch mit dafür sorgt, daß ein vernünftiges GATT-System ein Ersatz dafür sein kann, daß in vielen Bereichen sowohl in der EG als auch in den Vereinigten Staaten als auch in Japan falsche Politik gemacht wird.
Meine Damen und Herren, wir müssen für handelspolitische Ausgewogenheit sorgen und so die notwendigen Grundlagen für weiteren liberalen Handel legen. Unsere Wirtschaft ist wie keine andere auf die Durchführung und Durchsetzung einer liberalen Handelspolitik angewiesen. Es muß immer wieder in Erinnerung gebracht werden: Jeder dritte Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland lebt vom Export. Jeder dritte Arbeitsplatz!
— Richtig. Aber vieles, was hier gesagt worden ist, birgt unter Umständen die Gefahr, daß es immer weniger werden. Vieles, was hier gesagt worden ist, bedeutet keine Arbeitsplatzsicherung. — Unsere Wirtschaft ist, wie gesagt, wie keine andere auf eine liberale Handelspolitik angewiesen. Die CDU/CSU erwartet — sie ist sich sicher, daß sie in dem neuen Wirtschaftsminister darin voll unterstützt wird — eine Durchsetzung und eine Erweiterung dieser liberalen Handelspolitik.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Vahlberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hätte den Jahreswirtschaftsbericht als eine Chance nutzen können, auf dem für unsere Gesellschaft so wichtigen wirtschaftspolitischen Feld ihre Ideen, ihre Konzepte zur Lösung von Problemen vorzustellen. Die Bundesregierung— das kann man als Fazit sagen — hat diese Chance nicht genutzt.
Sie beschränkt sich auf langatmige, unpräzise Problembeschreibungen, um dann schließlich jeweils zu dem Schluß zu kommen, man werde prüfen, man werde untersuchen, man werde überlegen.
Dort, wo man als Schlußfolgerung aus der Problembeschreibung einen Lösungsansatz erwartet hätte, steht jeweils nur eine Platitüde.Der Mangel an Ideen wird in diesem Bericht durch den Mangel an Dynamik bei der Umsetzung der fehlenden Ideen voll ausgeglichen.Schwammig, nichtssagend sind die Feststellungen des Berichts zur Unternehmensbesteuerung. Offensichtlich ist Minister Haussmann nach seinen forschen Amtsantrittsankündigungen zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, der Börsenumsatzsteuer und zur weiteren Senkung der Vermögensteuer von Stoltenberg zurückgepfiffen worden. Das wäre in diesem Fall auch nicht so unvernünftig. Denn eine allgemeine und milliardenschwere Erleichterung für die Unternehmen paßt nicht in die politische Landschaft. Was gefragt ist, sind intelligente — Herr Hinsken — , aufkommensneutrale Strukturreformen, die den Produktionsfaktor Arbeit entlasten, die Investitionskraft der Firmen stärken und sie in stärkerem Maße als bisher anregen, in Sachkapital zu investieren.
Wenn Sie mich aus der Zeitung „Selbständig" zitieren — ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie sie bekanntmachen —,
dann will ich Ihnen sagen: Das ist richtig. Ich habe dort ausgeführt: Man muß nicht zum alten Spitzensteuersatz zurückkehren. Das bedeutet aber nicht, daß ich generell die steuerliche Belastung der Unternehmen senken will. Sie wissen sehr wohl, daß es nicht nur auf den Steuersatz ankommt, sondern auch auf die Bemessungsgrundlage. Hier haben deutsche Unternehmen einen großen Gestaltungsspielraum, wenn es darum geht, die Gewinne zu ermitteln, die Gewinne auszuweisen, jedenfalls einen größeren als die Unternehmen in den Vereinigten Staaten. So kommt es, daß in den Vereinigten Staaten zwar der Spitzensteuersatz auf 35 To gesenkt worden ist, die Unternehmen dort insgesamt aber heute mehr Steuern zahlen als vorher. Es kommt darauf an, wie meine Kollegin Matthäus ausgeführt hat, die Schlupflöcher zu stopfen, eine andere Bemessungsgrundlage zu realisieren.
— Das liest sich genauso.Wolkig, fahrig und konzeptionslos ist auch das, was in diesem Bericht zur Arbeitslosigkeit gesagt wird. Meine Kollegen sind darauf schon eingegangen. Seit
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Vahlbergzwei Jahren nimmt diese Bundesregierung rund 2 Millionen Arbeitslose — das ist jedenfalls die offizielle Statistik — hin. Die stille Reserve macht noch einmal 1,2 Millionen Menschen aus. 60 Milliarden DM jährlich kostet diese Arbeitslosigkeit. Damit muß sie finanziert werden. Dieses Geld müßte man in arbeitsplatzschaffende kommunale, soziale, ökologische Investitionen stecken. Das wäre jedenfalls viel sinnvoller.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Uldall?
Ja.
Bitte schön, Herr Uldall.
Herr Kollege, obwohl die Ausführungen, auf die ich mich beziehen wollte, schon dreieinhalb Minuten zurückliegen, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß Sie mit der Forderung, die Senkung des Spitzensteuersatzes nicht wieder zurückzunehmen, in der SPD nicht alleine stehen, sondern daß auch der Kollege Spöri in einem Artikel in der „Welt" am 13. Dezember vergangenen Jahres gefordert hatte, bei einem sicherlich nicht eintretenden, aber doch immer theoretisch diskutierten Wahlsieg der SPD auf keinen Fall den Spitzensteuersatz wieder zurückzunehmen?
Herr Kollege, mir ist bekannt, was Spöri zu diesem Thema gesagt hat. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß die Wirtschafts- und Finanzpolitische Kommission beim Parteivorstand der SPD über diese Frage berät. Da gehen die Meinungen im Moment auseinander: Es gibt jene, die meinen, man müsse zum alten Spitzensteuersatz zurückkehren,
und es gibt andere, die beim Spitzensteuersatz eine neue Lösung wollen.Allerdings sind wir alle uns darin einig — ich jedenfalls kenne keine andere Stimme —, daß es nicht darum geht, generell die Unternehmensteuern zu senken und die Unternehmen zu entlasten. Vielmehr geht es — wie ich eben gesagt habe — darum, daß man den Produktionsfaktor Arbeit entlastet, daß man eine stärkere Anregung zur Investition mit einer Unternehmensteuerform bewerkstelligt. Das sind die Ziele, die jedenfalls wir verfolgen.Absolut unerträglich, Herr Minister Haussmann, ist das, was Sie zur Mittelstandspolitik sagen. Von den Mittelstandsarien haben die Handwerker, die Selbständigen und die Kleinunternehmer überhaupt nichts. „An den Taten sollt ihr sie erkennen! " heißt es. Wenn man sich die Taten dieser Bundesregierung vergegenwärtigt — nämlich, Herr Hinsken, in der mittelfristigen Finanzplanung die Kürzung dessen, was in den Programmen für den Mittelstand ausgewiesen ist: von 1,1 Milliarden DM im Jahre 1987 auf 485 Millionen DM im Jahre 1992 —, dann können Sie ehrlicherweise doch nicht davon sprechen, daß Sie eine Mittelstandspolitik machen.
Sie bauen diejenigen Programme, die die SPD geschaffen hat, zur Zeit ab. Schauen Sie sich das Personalkostenzuschußgesetz an, das Sie bereits abgeschafft haben. Schauen Sie sich das Personalzuwachsprogramm an. Da geht es um Technologietransfer, um etwas ganz Wichtiges im Vorfeld des europäischen Binnenmarktes und im Zusammenhang mit dem Industriestandort Bundesrepublik, den Sie so häufig beschwören. Oder schauen Sie sich das Eigenkapitalförderprogramm an, das Sie abbauen und 1992 schließlich auslaufen lassen wollen. Das ist doch ein Angriff auf die Mittelstandspolitik, wie wir sie gemacht haben.Sie wissen genau, daß eine Existenzgründung im Durchschnitt fünf Arbeitsplätze schafft. Es ist also auch eine arbeitnehmerfeindliche, eine arbeitsplatzfeindliche Politik, die Sie hier betreiben. Etwa eine viertel Million Arbeitsplätze sind, seitdem es dieses Programm gibt, über das Eigenkapitalhilfeprogramm geschaffen worden.
— Sie haben es jetzt auf Druck und eingeschränkt weiterlaufen lassen, und Sie wollen es 1992 auslaufen lassen. Im Jahreswirtschaftsbericht steht: Sie prüfen. Wir warten das Ergebnis ab. Wir fordern Sie auf, heute schon zu sagen: Wir wollen dieses sehr erfolgreiche, sinnvolle Eigenkapitalhilfeprogramm weiterlaufen lassen.Ich würde gerne auf den Punkt Wohnungspolitik im Jahreswirtschaftsbericht eingehen. Ich kann mich damit jetzt nicht ausführlich beschäftigen — wir werden morgen in der Aktuellen Stunde Gelegenheit haben, uns darüber auseinanderzusetzen — , aber es muß für Familien mit Kindern und für Alleinstehende, die nicht mehr als 2 000 DM netto verdienen, wie Hohn klingen, wenn Sie im Jahreswirtschaftsbericht sagen: Der Wohnungsbestand in der Bundesrepublik ist umfangreicher und besser geworden; die Wohnungspolitik der Bundesregierung hat sich bewährt. Das ist Zynismus, vor allen Dingen angesichts der Situation in den Ballungsgebieten dieses Landes. Da findet für diese Familien und für die nicht ganz so betuchten Einkommensbezieher eine Vertreibungsaktion statt.Ich würde mich auch gern mit dem auseinandersetzen, was Sie zur Energiepolitik und zur Behandlung der Schlüsseltechnologien in dem Programm sagen. Sie führen zwar die Energiepolitik an, aber ohne wirklich konkret zu werden. 1982 ist das letzte Energieforschungsprogramm ausgelaufen. Seit dieser Zeit lassen Sie die Energiepolitik konzeptionslos treiben. Dies wird ja auch inzwischen von der Industrie beklagt. Ausdrücklich weigern Sie sich im Jahreswirtschaftsbericht, den Einsatz der erneuerbaren Energien durch Markteinführungpsrogramme zu unterstützen. Sie begründen dies mit dem Preisgefälle zwischen diesen und den konventionellen Energien.Herr Stratmann und andere sind darauf eingegangen, daß Sie sich in die Tasche lügen, wenn Sie das
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VahlbergWirtschaftswachstum, das wir haben, so bejubeln. Sie müssen aus dem Wirtschaftswachstum selbstverständlich die Umweltschäden — die Zerstörung der Natur — herausrechnen. 20 % des Wirtschaftswachstums entfallen darauf im Zeitraum von 1970 bis 1985. Das ist ausgerechnet worden. Ohne Korrekturfaktor wird die klassische volkswirtschaftliche Gesamtrechnung inzwischen unhaltbar. Hier wird ganz einfach der Raubbau an der Natur mitgemessen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist überschritten.
Herr Präsident, gestatten Sie einen Schlußsatz.
Was Sie zu den Schlüsseltechnologien, zum angekündigten Zukunftskonzept „Informationstechnik", sagen, ist wirklich erbärmlich. Seit anderthalb Jahren wird dieses Konzept angekündigt. Diese Schlüsseltechnologien werden wichtig, auch in bezug auf den Industriestandort Bundesrepublik. Das, was Sie dazu bisher vorlegen, reicht nicht.
Das Wort hat der Abgeordnete Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ich kurz auf die Diskussion eingehe, muß ich feststellen, daß Herr Roth heute vormittag gesagt hat, es geschehe zuwenig bei der Beschäftigung. Herr Roth, ist Ihnen entgangen, daß in den letzten sieben Jahren eine Million Arbeitsplätze zusätzlich besetzt worden sind? In dem Jahrzehnt, in dem Sie die Mehrheit in diesem Hause hatten, geschah dies lediglich durch die Einstellung in den Öffentlichen Dienst. Wir haben dies durch die Ankurbelung der Wirtschaft geschafft.
— Frau Matthäus-Maier, ich komme doch schon zu Ihnen. Sie haben hier zur Quellensteuer gesprochen, als ob Sie die Steuerunehrlichen, die Steuerhinterzieher, in dieser Republik schützen wollten. Was haben Sie denn eigentlich gegen die Quellensteuer? Keiner, der steuerehrlich ist, zahlt nur einen einzigen Pfennig mehr. Nur diejenigen sollen erfaßt werden, die Steuern bislang hinterzogen haben. Sie aber tun hier so, als würden die kleinen Sparer getroffen.Frau Matthäus-Maier, was bei Ihnen so bedauerlich ist, ist, daß Sie den Eindruck erwecken, die kleinen Sparer würden getroffen, obgleich Sie es besser wissen. Denn diejenigen, die Sparbücher mit gesetzlicher Kündigungsfrist haben, werden nicht erfaßt. Sie wissen dies. Sie behaupten trotzdem etwas anderes.Herr Vahlberg hat hier davon gesprochen, daß der Bundesfinanzminister konzeptionslos sei. Herr Vahlberg, Sie können sicherlich vieles behaupten, aber das ausgerechnet dieses zuträfe, ist mit Sicherheit nicht der Fall. Bei Amtsantritt hat der Finanzminister gesagt, daß er eine Politik stetigen Wirtschaftswachstums anstrebt, daß er Politik verstetigen will, daß erWirtschaft berechenbar machen will. Alle Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, Sie können das über die letzten sieben Jahre hinweg verfolgen. Wir verfolgen einen Pfad stetigen Wirtschaftswachstums. Er ist bestätigt.Sie haben gesagt: Es kann keine Politik der Steuererleichterung im Unternehmensbereich gemacht werden. Wir stehen gemeinsam dazu, daß es, wenn der EG-Binnenmarkt kommt, kein Sozialdumping gibt, daß es kein Umweltschutzdumping gibt, sondern daß wir das Niveau, das wir unter dieser Bundesregierung erreicht haben, dann auch durchhalten wollen.Nur, irgendwo spielen Standortfaktoren eine Rolle. Dann muß auch die Unternehmensbesteuerung in die Überlegungen einbezogen werden.
Wenn wir heute über den Jahreswirtschaftsbericht sprechen, müssen wir sehen, daß es um mehr als nur eine wirtschaftliche Dimension geht. Ich glaube, das stetige Wachstum, das wir über die letzten sieben Jahre hinweg erreicht haben, war die Grundlage dafür, daß wir Renten gesichert haben, daß soziale Gerechtigkeit verbessert werden konnte, daß soziale Sicherheit garantiert werden konnte und daß vor allem Umweltschutz durch Innovation, neue Anlagen und neue Produktionsstätten im Rahmen dieses Wirtschaftswachstums betrieben werden konnten.Ich sage das, weil heute in Ihren Ausführungen zu Arbeit und Umwelt eigentlich überhaupt nichts mehr gesagt wurde. Schon das allein ist bezeichnend.
Das Programm, das Sie vor zwei Jahren mit großem Aplomb gebracht haben, wird bei Ihnen heute überhaupt nicht mehr erwähnt. Das ist auch richtig. Denn es ist seinerzeit aus einer totalen Fehleinschätzung sowohl der wirtschaftlichen Entwicklung weltweit als auch der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik geboren worden. In der Einleitung steht: vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Rezession weltweit und der bundesrepublikanischen Krise. — All das ist nicht eingetreten. Sie haben sich geirrt. Die einzige, die heute morgen die Größe hatte, das zuzugeben, war Frau Matthäus-Maier. Sie hat das allerdings sogleich relativiert. Sie war die einzige, die das zugegeben hat. Herr Roth hat darum herumgeredet, und Herr Jens hat darum herumgeredet. Sie haben sich geirrt.
— Ich gebe übrigens zu, daß auch wir uns gelegentlich irren.
— Nur, das Entscheidende ist: die Trefferquote ist bei uns wesentlich höher als bei Ihnen. Es kommt darauf an, wie oft man sich irrt. Und das ist bei Ihnen bei dem,was Sie machen, ziemlich verläßlich.
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9184 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Dr. Lippold
Ich sage ganz deutlich: Ihr Investitionsprogramm „Arbeit und Umwelt" ist
in der Sache falsch angelegt.
Es fördert nicht das Verursacherprinzip, sondern das Gemeinlastprinzip. Das haben sogar die GRÜNEN erkannt und Ihnen vorgehalten. Es stimmt doch: Das ist ein gigantisch angelegter Reparaturbetrieb. Es ist kein Programm, das auf Innovationen, auf neue Anlagen, auf Vermeidung von Schäden zielt.
Es zielt darauf, eingetretene Schäden zu reparieren.Unser Konzept ist ein Konzept der Vermeidung von Umweltschäden
und der Vorsorge und dem Ziel nicht nur des Umweltschutzes, sondern auch des Gesundheitsschutzes. Ich glaube, das ist der entscheidende Unterschied.
Wir haben erreicht, daß Verbesserungen erzielt worden sind, weil investiert worden ist: 7 % im vergangenen Jahr, 7 % werden es in diesem Jahr sein. Neue Anlagen bedeuten mehr Umweltschutz und mehr Energieeinsparung. Auch hier haben wir die klareren Vorstellungen.Herr Vahlberg ist vorhin auf die Energiepolitik zu sprechen gekommen. Da müssen Sie sich an Ihre eigene Fraktion wenden. Da sehe ich auf der einen Seite Herrn Stahl; er fordert den verstärkten Kohleeinsatz. Da sehe ich auf der anderen Seite Ihren Herrn Müller; der möchte am liebsten den Ausstieg aus der Kohle, weil er die Klima-Problematik begriffen hat. Da fordern die einen bei Ihnen den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie und die anderen den Ausstieg in 20 Jahren.
Sie sind sich in keiner einzigen energiepolitischen Frage einig. Sie sollten in diesem Punkt in Ihre eigene Diskussion mehr Ehrlichkeit und mehr Konzeption bringen. Denn was wir für die Zukunft brauchen, ist eben, daß eine überzeugend getragene Energiepolitik dazu beiträgt, daß der in den letzten Runden viel zitierte Standort Bundesrepublik interessant und attraktiv bleibt. Das bedeutet Diskussion über Steuererleichterungen, Diskussion über den weiteren Energiepfad und mit Sicherheit auch, daß wir uns gemeinsam Gedanken darüber machen müssen, wie wir einen Bildungsstandard hier erhalten, Ausbildungszeiten verkürzen — nicht 13 Jahre bis zum Abitur, sondern zwölf, keine acht Jahre Studium, sondern fünf. Wir werden dann feststellen, daß wir in der Berufsmitte — mit 45 Jahren — vielleicht zusätzlich ein Bildungsjahr einschalten, damit wir alle an der weiteren Entwicklung von Bildung in diesem Land teilhabenlassen, damit wir diesen Faktor, der sehr wesentlich ist, erhalten können.Ich glaube, wir werden mit der Union sicherstellen, daß wir sowohl die wirtschaftliche Entwicklung als auch die ökologische Entwicklung in einen sinnvollen Zusammenhang miteinander bringen, dies sinnvoll konzipieren
und dafür sorgen,
daß sowohl Umweltschutz wie Garantie der Arbeitsplätze gewährleistet werden können.Ich bedanke mich bei Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Uldall.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren ja nicht nur über den Jahreswirtschaftsbericht, sondern auch über den SPD-Antrag auf der Drucksache 11/1552. Dieser Antrag beginnt — ich zitierte es vorhin ja schon — : „Die Weltwirtschaft steht am Rande einer Rezession." Frau Matthäus-Maier, Herr Roth,
die Ehrlichkeit hätte es erfordert, daß Sie hier zunächst einmal klargestellt hätten, wie schief Sie mit Ihrer Prognose gelegen haben. Sie hätten ein Loblied auf diese erfolgreiche Bundesregierung singen müssen, die es erreicht hat, daß Ihre Prognose nicht eingetreten ist.
Meine Damen und Herren, trotz aller Nörgelei: Wir können auf das Jahr 1988 als auf das Jahr mit der kräftigsten Wirtschaftswachstumssteigerung seit zehn Jahren zurückblicken. Eine wesentliche Grundlage dieser erfreulichen Entwicklung ist unsere solide Finanzpolitik gewesen. Ihre Grundkonzeption besteht darin, daß wir den Freiraum für den Bürger erweitern. Als wesentliche Bestandteile dieser Konzeption möchte ich nennen: eine sparsame Haushaltsführung, eine erfolgreiche Steuersenkungspolitik
und eine konsequente Privatisierungspolitik.Im Durchschnitt der Jahre 1983 bis 1988 betrug der Ausgabenanstieg im Haushalt lediglich 2 %. Dies ist eine Zahl, die sich von den Spitzensätzen, die die Sozialdemokraten mit zweistelligen prozentualen Aus-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9185
Uldallgabensteigerungen in ihrer Regierungszeit erreicht haben, wohltuend abhebt.Unsere sparsame Haushaltsführung hat dann wesentlich dazu beigetragen, daß wir heute eine Preisstabilität haben wie seit den 50er Jahren nicht mehr;
daß wir heute einen Nominalzins von 6 To statt von 10 % wie zu der Zeit haben, als Sie uns die Regierung überließen; daß wir die Steuern in großem Umfange senken konnten. Wir werden das auch weiterhin tun können.Meine Damen und Herren, unsere erfolgreiche Konsolidierungspolitik
ist allerdings durch die Schulden getrübt, die Sie uns hinterlassen haben.
Wenn man eine Berechnung anstellt, bei der die Schulden und die Verzinsung für diese Schulden, die Sie uns hinterlassen haben, herausgenommen werden, dann hätten wir im Jahre 1989 nicht ein Haushaltsdefizit, sondern würden einen Überschuß von 5 Milliarden DM erwirtschaften.
Meine Damen und Herren, die Steuersenkungspolitik werden wir mit Konsequenz weiterführen. Als Beleg dafür, wie gut und wie richtig wir gelegen haben,
möchte ich aus einem Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zitieren, eines Instituts, das ja nun nicht unbedingt unserem Einflußbereich zuzurechnen ist. Im Bericht vom 1. Dezember 1988 heißt es:Die überraschend günstige Konjunkturentwicklung wird von der Finanzpolitik gestärkt. Die Entwicklung im Jahre 1988 zeigt lehrbuchmäßig die enge Wechselwirkung zwischen Gesamtwirtschaft und staatlichem Sektor. Die zweite Stufe der Steuerentlastung — schon lange geplant — trat konjunkturell zum richtigen Zeitpunkt in Kraft.
Denn das Konjunkturklima hatte sich infolge des Börsenkrachs, der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte und der Unsicherheit der Wechselkurse spürbar verschlechtert.So weit das Institut in Berlin, meine Damen und Herren, dessen Leiter zwischenzeitlich SPD-Finanzsenator in Hamburg geworden ist.
Ich glaube, einen besseren Zeugen und ein größeres Lob für unsere Politik können wir uns überhaupt nicht vorstellen.
Meine Damen und Herren, der dritte Punkt, den wir als Ursache für unsere Erfolge ansehen, ist die konsequente Privatisierungspolitik.
Wir haben VW privatisiert, wir sind bei der VIAG vorangekommen, ebenso bei der VEBA, der Deutschen Pfandbriefanstalt. Die Bundesregierung kündigt die Privatisierung der Lufthansa, der DIAG an. Ich fordere die Bundesregierung und auch die Bundesländer und die Gemeinden ausdrücklich auf, auf dem Weg der Privatisierung noch konsequenter und noch nachhaltiger voranzugehen.Meine Damen und Herren, unsere Erfolge zeigen: Die solide Finanzpolitik ist die richtige Basis für eine günstige Wirtschafts- und eine positive Beschäftigungspolitik. Wir werden diese Politik gegen alle Nörgelei, gegen Neidargumentation und gegen Vorschläge zu kurzfristigem und hektischem Aktionismus durchsetzen, fortführen, und zwar zum Wohle aller Menschen bei uns in der Bundesrepublik.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft.
Meine sehr verehrten Kollegen! Lieber Herr Präsident! Ich will diese Debatte mit wenigen persönlichen Bemerkungen abschließen.
Erstens. Herr Stratmann, wir kennen uns lange aus dem Wirtschaftsausschuß. Mich hat sehr getroffen, daß Sie gesagt haben, ich hätte mit meiner Bemerkung, wie man unter 2 Millionen Arbeitslose kommen kann, Rechtsradikalen Vorschub geleistet.
Ich habe hier vor dem Deutschen Bundestag ein eindeutiges Votum für unsere ausländischen Mitarbeiter abgelegt. Gehen Sie davon aus, daß das meine persönliche Überzeugung ist!
Zweitens. Ökologie und Ökonomie: Hierzu liegt ein ausführlicher Fragenkatalog vor. Eine Diskussion im Wirtschaftsausschuß steht bevor, an der ich mich beteiligen werde.
Drittens. Frau Matthäus-Maier, ich bin jederzeit gern bereit, mit Ihnen gemeinsam in öffentlichen Veranstaltungen für den Standort Bundesrepublik Deutschland zu werben.
Herr Minister, gestatten Sie zwischendurch eine Frage des Abgeordneten Stratmann?
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Bitte schön.
Herr Haussmann, damit wir uns in dieser Frage nicht mißverstehen: Ihre subjektive Redlichkeit in dieser Frage steht für mich außer jedem Zweifel. Allerdings habe ich gesagt — dabei bleibe ich —, daß objektiv die Verfolgung Ihrer Wirtschaftspolitik den Nährboden für das Erstarken des Rechtsradikalismus schafft.
Herr Abgeordneter, Sie müssen eine Frage stellen.
Ich halte das für eine unglaubliche Feststellung. Wir werden das im Wirtschaftsausschuß fortsetzen. Ich bin auf Grund unserer bisherigen persönlichen Zusammenarbeit sehr enttäuscht. Sie kennen mich und meine Überzeugungen in der Wirtschaftspolitik gut genug.
Viertens. Frau Matthäus-Maier, wir werden über Steuerpolitik noch ausführlicher reden. Zwei Dinge will ich Ihnen nur sagen. Erstens. Ich werde nicht zulassen, daß eine erneute Verbesserung des Standortes Bundesrepublik Deutschland in einer Neiddiskussion hängenbleibt. Zweitens. Die Vorschläge für eine neue Ökologiebesteuerung, meine Damen und Herren, klingen ja ganz toll, aber so, wie die finanzwirtschaftlichen Vorstellungen der Sozialdemokraten und der GRÜNEN aussehen, zahlt der Verbraucher am Schluß dann die doppelte Zeche:
bisherige Verbrauchsteuern und neue Ökologiesteuern. Das muß man sehen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zu den Tagesordnungspunkten 5 a, 5 b und 5 d. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/3917, 11/3478 und 11/3757 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Meinungen? — Das ist nicht der Fall. Dann sind Sie mit den Überweisungen einverstanden, und sie sind so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD über Finanzhilfen des Bundes nach Artikel 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes auf Drucksache 11/1551. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3647 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD. Nach der ständigen Praxis ist bei Gesetzentwürfen in diesem Fall über die Ursprungsvorlage abzustimmen. Ich lasse also über den Gesetzentwurf abstimmen.
Ich rufe die §§ 1 bis 10 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften entgegen der Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit Mehrheit abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/3262. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1552 — Sofortprogramm „Arbeit, Umwelt und Investitionen " — abzulehnen. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit Mehrheit bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Nun rufe ich Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
Die Situation in Afghanistan
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zum genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt Momente, da scheint es, als halte die Geschichte den Atem an, und wir alle blicken angstvoll auf das, was da nun kommen mag.Gestern überschritt als letzter der Interventionstruppe General Gromow die Brücke in Amu-Darja, und er tat, wie er vor einem halben Jahr verkündet hatte: Er warf keinen Blick zurück. Zurück blieb ein verwüstetes Land, ein vermintes Land, dessen Bevölkerung über die Grenzen oder in die relative Sicherheit der Hauptstadt Kabul geflohen ist.Jetzt kommt die letzte Drohung des Krieges, das blutige Gemetzel, endgültig auf diese Bevölkerung zu. Jetzt hat sich der Ring der Belagerer geschlossen. In der Stadt, in der in Friedenszeiten eine Million Menschen lebten, sind jetzt 2,2 Millionen eingeschlossen. Die Waffen- und Munitionsarsenale sind wohlgefüllt von den Sowjets zurückgelassen worden; die Getreidevorräte dagegen sind, so wird berichtet, erschreckend geschrumpft, aus welchen Gründen auch immer. Von den zum Überleben eines afghanischen Winters unverzichtbaren Heiz- und Treibstoffvorräten hat die Sowjetarmee für ihren Abzug selber nehmen müssen. Zeitungsberichten nach irren 30 000 dem Verhungern nahe elternlose Kinder durch die Stadt. Die Krankenhäuser und Hospitäler sind überfüllt von halbverhungerten Kindern; der Andrang weiterer muß abgewiesen werden.Von den umfangreichen Stipulationen des Genfer Vertrages ist außer den den Abzug regelnden Vereinbarungen nur die eine voll erfüllt worden, die sogenannte positive Symmetrie. Das heißt, beide Seiten dürfen weiter liefern, und sie liefern weiter; Präsident Bush hat es gerade noch einmal bekräftigt.Najibullah hat außer den ihm um den Preis des Überlebens voll verpflichteten Truppen des Geheimdienstes und der Eliteeinheiten jetzt den Volkssturm aufgeboten. Fotos zeigen Frauenbataillone, die ihm
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Dr. Lippelt
auch deshalb treu bleiben werden, weil sie wissen, was sie erwartet, mindestens der Schleier und die Unterdrückung in einer fundamentalistisch-patriarchalen Gesellschaft und Schlimmeres darüber hinaus.Die Mudjaheddin haben kein einheitliches Konzept, das einen einigermaßen die Gefahren eingrenzenden Machtwechsel erlaubte. Die einen wollen die Stadt aushungern, die anderen wollen den Sturm auf Kabul.Herr Präsident, meine Damen und Herren, gerade in solch einem Moment, in einem Moment der Stille vor solch einem Sturm, schien es meiner Fraktion dringend geraten, nun hier im Bundestag darüber zu sprechen, was wir tun können, und darüber zu sprechen, was wir von unserer Regierung erwarten, daß sie tut.Beide Großmächte haben sich diskreditiert, auch die amerikanische, die jetzt ihre Botschaft geschlossen hat, obwohl sie doch offensichtlich auf der Seite derer stand, die möglicherweise die Stadt erobern. Beide Großmächte haben sich diskreditiert, und da bleibt die Frage, ob sich nicht gerade Westeuropa, ob sich nicht gerade die Bundesrepublik im Rahmen der EPZ in diesem Moment zu einer außerordentlichen Anstrengung veranlaßt sehen müßte. Diese könnte nach unseren Vorstellungen etwa so aussehen, daß in einem dringenden Appell beide Großmächte aufgefordert werden, sofort den Strom von Waffen und Munition einzustellen. Durch massive Unterstützung des Flüchtlingskommissars der UNO und des Roten Kreuzes müßten nicht deren Leute herausgeholt, sondern sofort Leute hineingebracht werden. Das Bemühen um eine UNO-Friedenstruppe ist bisher gescheitert, aber es muß natürlich fortgesetzt werden. Warum sollte nicht von Westeuropa aus und über die UNO versucht werden, die dringende Forderung aufzustellen, daß sämtliche Hospitäler und Krankenhäuser sofort dem Internationalen Roten Kreuz unterstellt werden? Warum sollte nicht ebenso dringend die Forderung unterstützt werden, daß der Flüchtlingskommissar die Flüchtlingslager am Rande der Stadt übernimmt? Warum sollte nicht versucht werden, unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit Sanktuarien, d. h. von UNO und Rotem Kreuz geschützte Zufluchtsstätten für die Zivilbevölkerung, innerhalb der Stadt zu schaffen? Es kann nicht so sein, daß jetzt die Rolläden in den Botschaften heruntergehen und das Land sich selbst und dem mörderischen Bürgerkrieg überlassen wird.Herr Präsident, ich sehe, meine Zeit ist abgelaufen. Ich werde mich dann noch einmal für zwei Minuten melden.
Das Wort hat der Abgeordnete Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zuerst dem afghanischen Volk zum Abzug der sowjetischen Invasionstruppen meinen herzlichen Glückwunschaussprechen. Für mich und viele andere ist der heutige Tag, der erste Tag ohne sowjetische Besatzungstruppen in Afghanistan, einer der glücklichsten Tage der letzten zehn Jahre.
Leider setzt das Najibullah-Regime, unterstützt durch massive sowjetische Waffenlieferungen, den Krieg fort und nimmt das Sterben des afghanischen Volkes weiter in Kauf. Den afghanischen Vasallen Moskaus scheint es nicht zu genügen, daß bis heute über 1 Million Afghanen getötet worden sind, 5 Millionen aus ihrer Heimat fliehen mußten und Afghanistan zu einer Trümmerlandschaft zusammengebombt wurde.Das Leiden dieses kleinen afghanischen Volkes muß jetzt schnell beendet werden.
Nach dem zehnjährigen sowjetisch-afghanischen Krieg hat das ausgeblutete afghanische Volk ein Recht auf wirklichen Frieden, auf wirkliche Freiheit und auf wirklich freie Wahlen.
Frieden in Afghanistan wird es aber nur geben, wenn das kommunistische Regime in Kabul, das in der Bevölkerung keinerlei Rückhalt hat, verschwunden ist. Ich fordere deshalb das Kabuler Regime im Namen der Menschlichkeit auf, sofort seine Bereitschaft zur bedingungslosen Kapitulation zu erklären. Nur so kann ein völlig sinnloses weiteres Blutvergießen vermieden werden.Die Allianz der afghanischen Befreiungsbewegungen fordere ich auf, als Gegenleistung für eine bedingungslose Kapitulation den wenigen verbliebenen Anhängern des Kommunismus in Afghanistan einen freien und ungehinderten Abzug zu gewährleisten. Wenn Michail Gorbatschow Afghanistan wirklich einen Dienst leisten will, sollte er schleunigst Transportflugzeuge nach Kabul schicken, um Najibullah und seine Anhänger auszufliegen. Die Sowjets müssen endlich erkennen, daß ihre Forderung nach einer Beteiligung der Kommunisten an einer afghanischen Regierung völlig unannehmbar ist. Kein Volk der Welt will sich von denen regieren lassen, die für den tausendfachen Tod seiner Frauen und Kinder verantwortlich sind.
Die Versorgungslage ist nicht nur in Kabul katastrophal, sondern seit vielen Jahren auch schon in allen Teilen Afghanistans, und wir sollten deshalb für die Zeit nach dem Fall des Najibullah-Regimes — das ist meines Erachtens nur eine Frage von wenigen Wochen — erstens umfangreiche Soforthilfe in die Wege leiten und zweitens einen umfassenden Marshallplan zum Wiederaufbau des zerstörten Landes vorbereiten.Generalsekretär Gorbatschow hat in anerkennenswerter Offenheit eingeräumt, daß der Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan eine „Sünde" war. Das macht die Taten der Roten Armee in Afghanistan nicht unvergessen, es macht sie auch nicht wieder gut. Afghanistan hat — das ist wirklich das Mindeste — gegenüber der Sowjetunion einen Anspruch auf umfas-
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Dr. Todenhöfersende Reparationsleistungen, und es ist unsere Pflicht, auch in Zeiten Gorbatschows mit allem Nachdruck die Sowjetunion auf diese Pflicht hinzuweisen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Sowjetunion hat es nach wie vor in der Hand, dem weiteren Blutvergießen in Afghanistan ein schnelles Ende zu setzen. Sie hat mit dem Abzug ihrer Truppen hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet. In Zeiten von Glasnost, Perestroika und des sogenannten neuen Denkens in der Außenpolitik sollte der Sowjetunion ein letzter Schritt nicht schwerfallen, nämlich die afghanischen Kommunisten davon zu überzeugen, daß ihre Tage gezählt sind und daß sie im Interesse des afghanischen Volkes abtreten müssen.Ich wünsche gemeinsam mit meiner Fraktion dem afghanischen Volk Frieden, Freiheit und vor allem Einigkeit.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Holtz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt, daß die Sowjetunion den Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan zu Ende geführt hat. Unser aller Dank sollte insbesondere auch den Vereinten Nationen gelten, die am Zustandekommen dieses Vertrages maßgeblich mitgewirkt haben.
Es ist selten genug, daß sich die Sowjetunion aus okkupierten Ländern oder Territorien zurückzieht. Das ist in der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg bislang nur dreimal passiert: 1946 aus dem Iran, 1955 aus Österreich und in demselben Jahr auch von der Marinebasis Porkkala in Finnland.
Der Abzug der Soldaten aus Afghanistan bedeutet, daß zum erstenmal eine entschlossene Opposition und Résistance — in diesem Fall vor allem von den USA militärisch unterstützt — die Sowjets zum Rückzug gezwungen hat. Von großer Bedeutung war sicherlich auch die Verurteilung der sowjetischen Okkupation durch eine breite Weltöffentlichkeit. Die internationale Kritik von der UNO über die Interparlamentarische Union, das Europäische Parlament, die nationalen Parlamente bis hin zum Bundestag, aber insbesondere auch durch die Dritte Welt selbst hat zu einem enormen Reputationsverlust der sowjetischen Supermacht und zu einem großen Druck auf sie geführt. Hinzu gekommen sind sicher noch interne politische und wirtschaftliche Probleme, die dann Gorbatschow den Rückzug anordnen ließen.
Der Dezember 1979, also die völkerrechtswidrige Invasion der Sowjetunion in Afghanistan, bedeutete für die USA die Beendigung der Détentepolitik mit der Sowjetunion. Der Februar 1989, der endgültige Abzug der Truppen aus Afghanistan, könnte jetzt als Meilenstein in die Geschichte verständnisvollerer Beziehungen zwischen den Supermächten eingehen.
Für die Sowjetunion geht ein unglückliches außenpolitisches Abenteuer, ja, ich meine, eine imperialistische Fehlinvestition zu Ende. Es war ein völlig unnützer, unsinniger, äußerst opferreicher Krieg. Es ist zu hoffen, daß dieser Krieg keine Verlängerung in einem Bürgerkrieg findet. Man kann den Afghanen, den Stämmen und unterschiedlichen Strömungen eigentlich nur zurufen: Vereinigt euch, macht Frieden.
Ich hoffe, daß wir einen Beitrag dazu leisten können. Jetzt müssen die Versöhnung und der Wiederaufbau das Wort haben. Großzügige ausländische Unterstützung und Wiederaufbauhilfe sind nötig von der Bundesrepublik, von der Europäischen Gemeinschaft, dem UNO-System, von den USA und selbstverständlich auch von der Sowjetunion.
Die USA hatten ihr Vietnam. Den US-Soldaten wurde gesagt, sie kämpften gegen Kommunismus und für die Freiheit. Die Sowjetunion hat jetzt ihr Afghanistan. Den Sowjetsoldaten wurde gesagt, sie kämpften gegen Imperialismus und für Sozialismus. So wie die Vietnam-Erfahrung für die demokratische Supermacht USA eine innen- und außenpolitische Wendemarke bedeutete, so markiert der Rückzug aus Afghanistan für die sowjetische Supermacht eine Wasserscheide in ihrer globalen Politik. Beide Supermächte mußten bzw. müssen erkennen, daß es ein Kampf war, der militärisch nicht zu gewinnen war. Mit militärischer Macht läßt sich das sozialistische Lager nicht mehr ausweiten. Die Sowjetunion hat nicht nur eine militärische, sondern auch eine politische Niederlage erlitten.
Für beide Supermächte gilt: Sie sollten sich nicht länger als die Herren der Welt aufspielen. Prag und Budapest, Santo Domingo, wo 1965 US-Marines eine demokratisch gewählte Regierung hinwegfegten, dürfen nicht mehr möglich sein. Die Völker der Dritten Welt reklamieren das Recht auf eine eigenständige Entwicklung.
So zerstritten die verschiedenen Gruppen in einem Land wie Afghanistan auch sein mögen: Was Afghanistan jetzt braucht, ist Frieden. Die beiden Supermächte, alle Staaten sollten nicht mehr Öl ins Feuer gießen und auf jede Art direkter oder indirekter militärischer Einmischung in Afghanistan verzichten.
Wir wollen hoffen — und im Bundestag mit dafür sorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen — , daß die Bedürfnisse dieses geschundenen Landes nicht vergessen werden, auch wenn Afghanistan nicht mehr ganz oben auf der internationalen Tagesordnung steht.
Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute haben wir einmal im klassischen Sinne eine Aktuelle Stunde; denn mit dem Abzug des letzten sowjetischen Soldaten, General Gromow, über die Grenzbrücke am Amu Darja gestern, am 15. Februar 1989, ist nach Vietnam der längste, grausamste und sinnloseste Krieg seit 1945 zu
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9189
Frau Dr. Hamm-BrücherEnde gegangen. Das ist für uns alle Anlaß genug — daher kann man die Initiative der GRÜNEN begrüßen — , dieses Ereignis in einer Aktuellen Stunde zu würdigen.In den neun Jahren seit der sowjetischen Invasion hat der Deutsche Bundestag ungezählte Male über die Lage in Afghanistan, über die Not der Flüchtlinge und der Zivilbevölkerung debattiert. Ich habe das noch einmal nachgelesen und möchte das große Engagement von Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen noch einmal ausdrücklich würdigen. Ich denke, daß auch dieses Engagement dazu beigetragen hat, daß in unserer deutschen Öffentlichkeit dieses Problem nie aus dem Gesichtsfeld herausgekommen ist.Aber, meine Damen und Herren, ich glaube, man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, daß trotz des einigermaßen erfreulichen Anlasses der Beendigung der Invasion heute dies auch nicht die letzte Debatte über die Lage in Afghanistan sein wird und daß eher zu befürchten ist, daß eine neue Epoche neuer Besorgnisse und offenkundiger Ausweglosigkeiten auf uns zukommen könnte.Nach allem, was ich gelesen und mir in den letzten Tagen noch einmal überlegt habe, glaube ich, daß die Besorgnisse um die Zukunft dieses schwer zerstörten, ausgebluteten und politisch zerstrittenen Landes nicht beendet sein werden. Ich bin da nicht ganz so optimistisch wie Sie, Herr Kollege Todenhöfer, daß es nur darauf ankommt, das Regime Najibullah zu beenden und die maßgeblichen Politiker mit einem Flugzeug in ein anderes Land zu befördern. Es besteht doch nach dem, was wir nun täglich über die Medien hören, die große Gefahr, daß keine Einigung in der Schura möglich sein wird und daß womöglich ein nicht minder blutiger Bürgerkrieg, d. h. eine Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Widerstandsgruppen, ausbrechen wird. Meine Damen und Herren, nur der Kampf gegen die sowjetische Invasion hat ja diesen tiefsitzenden Konflikt überhaupt überdeckt. Was jetzt aufbrechen wird, das wage ich mir, offen gesagt, noch gar nicht vorzustellen.
Ich meine also, wir sollten jetzt widerstehen und nicht nur sagen: Ab heute sind die Probleme geschafft. Ich fürchte, die Zeichen stehen noch alles andere als gut für die Zukunft Afghanistans.Deshalb muß eine verantwortungsbewußte Weltöffentlichkeit dazu beitragen, daß, falls dieser schwelende Bruderkrieg nicht verhindert werden kann, diesem doch ein baldiges Ende bereitet werden kann. Das kann nur dadurch geschehen, daß ab sofort alle Waffenexporte in dieses Land beendet werden, meine Damen und Herren,
daß die westliche Welt, Europa und die Bundesrepublik alles in ihren Kräften Stehende tun, um einen Dialog der Aussöhnung und vor allem der Vernunft zwischen den widerstreitenden Gruppen in Gang zusetzen, und daß wir alles tun, um zur Linderung der schrecklichen Not der wie immer in Kriegen am meisten betroffenen Zivilbevölkerung beizutragen. Es ist sehr zu begrüßen, daß das Internationale Rote Kreuz schon heute ein Hilfsprogramm hat anlaufen lassen.
— Herr Kollege, ich wollte dazu noch einen Satz sagen, und ich bitte auch den Herrn Präsidenten, mich ihn noch sagen zu lassen.Man muß ja erschrecken, wenn man hört, daß arabische Soldaten in einigen afghanischen Dörfern und Städten schon das Heft in die Hand genommen haben und daß Leute, die zur Mäßigung und Aussöhnung mahnen, aus den Dörfern getrieben werden. Ich glaube eben, daß hier die neuen Gefährdungen dieses leidgeprüften Landes liegen und daß wir vor diesen Gefährdungen auch in dieser im großen und ganzen erfreulichen Stunde nicht die Augen verschließen dürfen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Todenhöfer, dies ist eine Niederlage der Sowjetunion; aber es ist noch kein Sieg des afghanischen Volkes, der afghanischen Kultur und der Menschen dort. Sie haben hier eine fast kriegerische Endzeitrede gehalten, die ich bedaure.
Wer wie Uwe Holtz und ich etwa seit Dezember 1979 in dieser Frage engagiert ist und sich sehr häufig mit Afghanen getroffen hat — ich habe auch an einer Konferenz der afghanischen Widerstandsgruppen in Stockholm teilgenommen — , der hat jetzt auch nur Angst vor dem, was da zur Zeit passiert.Die Schuldfrage — hier ist sie von verschiedenen beantwortet worden — ist nicht das einzige, was wir jetzt zu diskutieren haben. Ich habe in meinem Leben jetzt zum drittenmal das Doppelgefühl der Mitverantwortung und der Hilflosigkeit. Ich habe es zum einen in meinem Engagement in Vietnam und zum anderen in meinem Engagement gegen den Schah und dem, was dann jeweils kam, gehabt.Als handelnder Politiker muß ich mich fragen: Was tue ich in der Situation, an deren Herbeiführung ich ja durch mein Engagement beteiligt war? Es wäre schön, wenn Sie, Herr Todenhöfer, und andere, die sich so aktiv — zum Teil materiell, zum Teil auch durch ihr eigenes Dabeisein — an diesem bisher allenfalls Pyrrhussieg — ich glaube nicht, daß es ein Sieg ist — beteiligt haben, mit uns gemeinsam zu einer Lösung kämen, wie wir in dieser Lage helfen können.Wie sieht die Lage aus? Wenn ich es richtig sehe, haben wir zur Zeit nur die Wahl zwischen dem Bürgerkrieg und dem raschen Sieg entweder der Traditionalisten oder der Fundamentalisten. Den Sowjets
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Duveund den Amerikanern, die die Afghanen bewaffnet haben, ist es gelungen, die Keime westlicher Modernität eines Bürgertums und einer Arbeiterschaft, die sich auf Westeuropa hin orientiert hatten, kaputtzumachen. Die gibt es nicht mehr, denn der Westen hat ganz andere Leute bewaffnet.Das heißt, wir haben jetzt im Grunde genommen für das, was man in den 60er, 70er Jahren in Afghanistan wollte, keine Gesprächspartner mehr. Deshalb kann ich heute nicht jubeln. Was ist noch möglich nach einer bitteren Niedermetzelung auch der engagierten Anhänger einer modernen Form des Sozialismus? Wir haben schon Berichte über Niedermetzeleien in einigen Städten und einigen Dörfern. Wie ist die Lage, wenn es einen Bürgerkrieg zwischen Traditionalisten, also stammesorientierten Leuten, und Fundamentalisten, die sich nach Teheran orientieren, gibt? Das ist alles, was an Machtträgerschaft übrigbleiben könnte.Wie sollen wir damit umgehen? Wie sollen wir Appelle an Menschen richten, die etwa jenem Geist anhängen, wie er vorgestern in den Äußerungen von Khomeini zum Ausdruck kam, der den westlichen geistigen und literarischen Freiheiten den Krieg erklärte, indem er einen Autor zum Mordobjekt erklärte? Der Fundamentalismus ist im Vormarsch.
Es gibt eine Kampfsituation zwischen Sunniten und Schiiten. Ich kann das nicht beurteilen. Wir werden das sehen.
— Ich hoffe nur, daß es dort so einflußreichen Menschen wie Ihnen und anderen gelingen wird, den Zustand westlich orientierter Rationalität und Gesprächsfähigkeit in Gang zu bringen. Sie spielen da wahrscheinlich eine größere Rolle als viele andere. Sonst haben die Familien in Afghanistan überhaupt keine Chance, weil es andere Gesprächspartner nicht mehr geben könnte.Das ist meine Sorge. Wir Sozialdemokraten sind sehr bereit, daran mitzuwirken; denn wir haben diese Verantwortung auch übernommen. Ich bitte nur sehr herzlich, sich jetzt nicht in eine Siegesvorstellung hineinzureden: Wenn die Russen jetzt da hinausgehen, dann ist die Sache schnell in Ordnung. Es dürfen nicht vorher noch Hunderte und vielleicht auch Tausende der Anhänger niedergemacht werden. Es gibt die Konfliktsituation mit den Fundamentalisten, die mit den modernsten Waffen des 20. Jahrhunderts ausgerüstet sind und diese Waffen nicht sofort abgeben werden. Wem sollen sie die Waffen auch geben? Werden die Amerikaner sagen: Gebt uns die Waffen zurück?Das ist die reale Situation. Vielleicht können wir hier im Bundestag, da wir ja in der Afghanistan-Frage immer schon einen Konsens hatten, einen neuen Konsens herstellen. Das wird aber auch ein bißchen Umdenken bei Ihnen, Herr Kollege Todenhöfer, bedeuten.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Höffkes.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der UNO-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Cordovez, sieht die beste Lösung für die politische Zukunft Afghanistans in einer Rückbesinnung auf die traditionellen, von den Stämmen bestimmten Strukturen. Dies bedeutet eine Dezentralisierung der politischen Macht mit einer Regierung, die nur als Symbol der Einheit dient. Ob, meine Damen und Herren, sich dieser Gedanke durchsetzt, wird wohl die nächste Zukunft erweisen.Wer, wie ich, viele Afghanen seit langen Jahren kennt, kann sich gewisser Skepsis nicht erwehren.
Werden sich die moslemischen Fundamentalisten oder die Gemäßigten durchsetzen, und welche Chancen — und damit neue Opfer — gibt man der kommunistischen Regierung Najibullah? Fragen, die, so glaube ich, wir nicht beantworten und wohl auch kaum beeinflussen können.Was können wir aber tun, um dem leidgeprüften Volk der Afghanen, insbesondere den Frauen und Kindern und den zahllosen Kriegsverstümmelten, human zu helfen? Hier möchte ich daran erinnern, daß der Deutsche Bundestag die einschlägigen notwendigen Beschlüsse am 10. November vergangenen Jahres gefaßt hat. Der damalige Antrag aller Fraktionen mit Ausnahme der GRÜNEN wurde bei Zustimmung aller Fraktionen und einer Gegenstimme der GRÜNEN angenommen.Die Bundesregierung ist mit diesen Beschlüssen aufgefordert — das sollte man noch einmal ins Bewußtsein rufen — : erstens die Bemühungen der Vereinten Nationen um Repatriierung der mehr als 5 Millionen Flüchtlinge nach Kräften zu unterstützen in Abstimmung mit der Europäischen Gemeinschaft und im Rahmen der politischen Zusammenarbeit mit den übrigen EG-Mitgliedstaaten; zweitens durch großzügige humanitäre Hilfe im Zusammenhang mit dem sowjetischen Truppenabzug — der ja jetzt erfolgt ist — die akute Notlage der afghanischen Bevölkerung zu lindern und die schlimmsten Folgen des fast neun Jahre dauernden Krieges, der über eine Million Tote und Verletzte forderte, zu beheben. Drittens und als letztes ist beschlossen worden, im Zuge der innenpolitischen Normalisierung Afghanistans wirkungsvoll Entwicklungshilfe zu leisten, sobald die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind.Die internationale Gebergemeinschaft und auch die Bundesrepublik Deutschland werden, so meine ich, Afghanistan auf dem Weg zum Frieden und zur Demokratie mit allen Kräften unterstützen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9191
HöffkesViele Organisationen haben in der Vergangenheit Vorbildliches geleistet, so z. B. die Gruppierung HELP, Hilfe zur Selbsthilfe und der Verein für Afghanische Flüchtlingshilfe. Das Afghanistan-Komitee, dem Politiker aller Bundestagsfraktionen angehören, will den Bau von Krankenhäusern und Schulen unterstützen sowie berufliche Ausbildung, Milchversorgung und vieles andere.Die Vereinten Nationen haben die „Operation Salam" für den Wiederaufbau Afghanistans in Gang gesetzt. Die Bundesrepublik Deutschland ist daran mit 27 Millionen US-Dollar, also rund 50 Millionen DM, beteiligt. Zur Deckung der dringendsten Bedürfnisse ist eine Summe von 572 Millionen Dollar notwendig; für anderthalb Jahre werden insgesamt über eine Milliarde Dollar als Mindestsumme benötigt. Dieser Berechnung des Koordinators der humanitären Hilfe für Afghanistan, Prinz Sadruddin Aga Khan, liegt die Annahme zugrunde, daß die rund 6 Millionen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren.Es ist für mich, meine Damen und Herren, eine moralische Selbstverständlichkeit, daß sich auch die UdSSR an diesem Aufbauprogramm beteiligt und, wie bisher zugesagt, 600 Millionen Dollar leistet. Wiedergutmachung, soweit überhaupt möglich, ist hier von der UdSSR gefordert.Die Bundesrepublik Deutschland, so meine ich, setzt sich mit allem Nachdruck und in Zusammenarbeit aller Parteien in diesem Hause für den Wiederaufbau Afghanistans ein. Unsere Hilfe wird jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn sich einzelne Gruppierungen in Afghanistan nicht untereinander bekämpfen, sondern einen gemeinsamen friedlichen Weg suchen und finden.Lassen sie mich zum Abschluß einen Ausspruch von Reinhold Schneider zitieren:Es gibt keine Feindschaft, keinen Gegensatz, keine Spaltung, die nicht die Liebe überwinden könnte und müßte.Dies erhoffe ich für das afghanische Volk.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Luuk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle sind glücklich darüber, daß sich nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan ein Silberstreifen am Horizont abzeichnet. Es besteht auch Einmütigkeit darüber, daß sich das Ende der Invasion für die vielen Opfer des Afghanistan-Konfliktes auszahlen muß.Doch für diese Menschen hat sich noch wenig geändert. Es ist zu befürchten — wie hier bereits ausgeführt wurde — , daß wir am Übergang zu einer neuen Phase des afghanischen Bürgerkrieges stehen. Trotzdem machen sich viele afghanische Flüchtlinge in der Welt — und das sind mehr als 6 Millionen — , Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimat und auf den Aufbau des zerstörten Landes.3,5 Millionen Flüchtlinge leben in Pakistan, 2,4 Millionen im Iran, und eine große Zahl hat in anderenRegionen der Welt Asyl gefunden. In der Bundesrepublik leben ca. 20 000 Afghanen.Die Hoffnung all dieser Flüchtlinge auf eine sofortige Rückkehr wird sich vorerst nicht erfüllen. Wir sind jedoch gefordert mitzuhelfen, das Flüchtlingselend in der Region zu beenden. Wie sieht es dort aus?Erstens. Afghanistan ist zerstört. Internationale Hilfsprogramme sind im Anmarsch. Viel Geld und guter Wille werden mobilisiert, und an der pakistanischen Grenze zu Afghanistan häufen sich Hilfsgüter und Experten. Doch keiner weiß so recht, was in Afghanistan anzufangen ist. Noch gibt es eine ansprechbare Regierung in Kabul, noch gibt es Führer der Oppositionsgruppen als Kooperationspartner, doch jeder weiß, daß die Repräsentanten von heute in wenigen Monaten wahrscheinlich nicht mehr in der Verantwortung stehen.Zweitens. Im Iran leben hauptsächlich schiitische Flüchtlinge, Hazara. Die meisten leben im Grenzgebiet zu Afghanistan, und nur wenige von ihnen, etwa 3 %, leben in Lagern. Die Flüchtlinge waren in den letzten Jahren weitgehend auf sich selbst gestellt. Das heißt aber auch: Sie hatten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu öffentlichen Dienstleistungen wie Schulen. Fast alle diese Flüchtlinge warten auf die Rückkehr nach Afghanistan. Trotzdem werden viele Hazara im Iran bleiben und hier siedeln. Der UNHCR hat begonnen, Flüchtlingsintegrationsprogramme durchzuführen und entsprechende Maßnahmen im Iran zu entwickeln.Drittens. Der Flüchtlingsstrom nach Pakistan hat sich seit 1984 beruhigt, aber aus den Lagern sind für die Flüchtlinge dauerhafte Siedlungen geworden. Flüchtlingshilfe und entwicklungsbezogene Maßnahmen haben dazu geführt, daß alle Regionen, in denen afghanische Flüchtlinge leben, grundlegend umgestaltet wurden. Auch wenn sich eine Befriedung Afghanistans abzeichnen sollte, werden sicherlich viele Flüchtlinge in der Region bleiben. Davon muß jede Konzeption zur Flüchtlings- und Entwicklungshilfe ausgehen.In allen Flüchtlingszentren haben sich das Leben und die politische Organisation der ethnischen und regionalen Gruppen Afghanistans geändert. Die Flüchtlinge sind nicht mehr die Menschen, die vor Jahren aus ihren Dörfern geflohen sind, und ihre politischen Vertretungen entstanden unter neuen sozialen Bedingungen. Mehr als 70 % der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Die neue Flüchtlingselite entstammt nicht mehr dem traditionellen Dorfverband.Die Menschen in den afghanischen Dörfern werden strukturelle, genau ansetzende Maßnahmen benötigen, um ihr Land wieder bebauen und sich selbst ernähren zu können. Hierbei wird die Entwicklung von Hilfskonzepten erforderlich sein, die über eine bloße Not- und Hungerhilfe hinausgehen: Infrastrukturmaßnahmen, Straßen, Brücken und Anbaumittel.Ich möchte zum Schluß drei Probleme anschneiden:Erstens. Jedes Programm zur Repatriierung der Flüchtlinge muß besondere Hilfsmaßnahmen für Frauen und Kinder entwickeln.
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9192 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Frau LuukZweitens. Jedes Programm zur Flüchtlingshilfe muß vorsichtig umgesetzt werden, um das komplizierte Netz von Mittelsmännern und die Strukturen der Selbsthilfe nutzen zu können.Drittens. Flüchtlingshilfe müssen wir als Programme der Entwicklungspolitik definieren. Das gilt sowohl in Afghanistan wie für Iran und Pakistan.Wir reden seit Jahren von einer Regionalisierung in der Flüchtlings- und Asylpolitik. Mit der neuen Situation um Afghanistan haben wir eine Möglichkeit, etwas Konkretes zu tun. Wir haben am 27. Januar beschlossen, Entwicklungspolitik und Flüchtlingspolitik stärker aneinander zu koppeln. Nutzen wir diese Erkenntnis, und beginnen wir mit diesem Ansatz!
Das Wort hat die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Frau Dr. AdamSchwaetzer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entwicklung in Afghanistan ist in eine für den Frieden in diesem Land entscheidende Phase getreten. Gestern hat nach allen hier vorliegenden Informationen die Sowjetunion ihre letzten Soldaten aus Afghanistan abgezogen. Sie hat damit die wichtigste Verpflichtung aus dem Genfer Afghanistan-Abkommen vom 14. April 1988 zeitgerecht erfüllt.Der Abzug ist die Bestätigung dafür, daß nun auch die Sowjetunion das Selbstbestimmungsrecht Afghanistans anerkennt. Auch ein kleines, blockfreies Land wie Afghanistan muß sein Schicksal, seine Zukunft, seine Innenpolitik und seine Außenpolitik selbst festlegen und gestalten.Die neugewonnene Unabhängigkeit ist ein eindrucksvoller Erfolg des unbeugsamen Freiheitswillens der Afghanen. Aber sie haben einen hohen Preis dafür gezahlt: Hunderttausende Tote, etwa 5,5 Millionen Flüchtlinge, unzählige kriegsverletzte Männer, Frauen und Kinder, zerstörte Städte und Dörfer, der Zusammenbruch des Bildungssystems, der Zusammenbruch des Gesundheitssystems, vernachlässigte Felder mit schlimmen Auswirkungen auf die Versorgungslage der Bevölkerung. Der Konflikt in und um Afghanistan hat die größte Flüchtlingsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Unser Mitgefühl gilt allen von diesem Krieg Betroffenen.
Hohe Anerkennung verdienen der Generalsekretär der Vereinten Nationen und sein persönlicher Beauftragter, Diego Cordovez. Sie haben sich mit Beharrlichkeit und Geschick um einen friedlichen Ausgleich bemüht.Aber die Aufgabe der Vereinten Nationen in diesem Land ist damit nicht beendet. Der Friede muß erst noch hergestellt werden. Der Wiederaufbau des Landes verlangt größte Anstrengungen. Bei beidem sind die Vereinten Nationen und ihr Generalsekretär jetzt und zukünftig gefordert.
Pakistan und Iran haben seit Jahren Millionen von afghanischen Flüchtlingen Aufenthalt gewährt und haben damit schwere Lasten auf sich genommen. Es muß ja wohl ihr unmittelbares Interesse sein, darauf hinzuwirken, daß der Frieden in Afghanistan nun auch rasch einkehrt und daß die Situation nicht noch durch weitere Komplikationen, durch eigene Vorstellungen und Ansprüche erschwert wird.Vor allem aber hat die sowjetische Führung unter Generalsekretär Gorbatschow jetzt eingesehen, daß nicht Gewalt und Krieg ihre Beziehungen zum Nachbarland bestimmen dürfen. Die Bundesregierung begrüßt das.Gerade jetzt aber besteht die Gefahr, daß Afghanistan noch für eine lange Zeit eine blutende Wunde bleibt, wenn die Afghanen selbst nicht Frieden unter sich stiften und entschlossen den Wiederaufbau ihres Landes in Angriff nehmen. Der Verlauf der Schura, also der Volksversammlung der Afghanen, in Rawalpindi in Pakistan läßt allerdings alle Freunde des afghanischen Volkes mehr bangen als hoffen.Die Gelegenheit darf nicht vertan werden. Verständigungsbereitschaft ist das Gebot der Stunde. Es darf nicht sein, daß der Krieg jetzt unter den Afghanen fortgesetzt wird.Die Bundesregierung sieht daher mit Sorge, daß das Regime in Kabul seinen Machtanspruch mit Waffengewalt verteidigen will. Dies schließt eine friedliche Entwicklung aus. Wer den Frieden will, muß auf den Einsatz von Waffen verzichten. Wer die Macht hat und sie mit Waffengewalt sichern will, kann nicht zum Frieden beitragen.
Mit ebenso großer Sorge sieht die Bundesregierung die Uneinigkeit unter den Gruppen des Widerstandes, unter den in Peschawar angesiedelten Parteien, den kämpfenden Kriegern in Afghanistan, die Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Glaubensrichtungen des Islam, die Anwesenheit arabischer fundamentalistischer Freiwilliger in Afghanistan
und ihre Auswirkungen auf den inneren Zusammenhalt, aber auch das Ausbluten und die Abwanderung der Intellektuellen in den vergangenen 10 bis 15 Jahren
in andere, westeuropäische Länder.
Die gesamte internationale Gemeinschaft ist jetzt aufgefordert, ihrerseits alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Friedensprozeß in Afghanistan einzuleiten und zu fördern. Wir unterstützen den Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er hat in den vergangenen Monaten bei der Lösung von Regionalkonflikten bereits viel geleistet, und er wird hier weiter gefordert sein.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9193
Staatsminister Frau Dr. Adam-SchwaetzerDie Afghanen müssen wissen, daß sie auf die Solidarität der internationalen Gemeinschaft zählen können. Die Rückkehr der afghanischen Flüchtlinge und der Wiederaufbau des Landes sind die vorrangigen Aufgaben. Die internationale Gemeinschaft hat sich mit Hilfe der Vereinten Nationen zu diesen Aufgaben bekannt. Unter Leitung ihres Generalsekretärs und des Koordinators für humanitäre und wirtschaftliche Hilfsprogramme für Afghanistan haben die Vereinten Nationen ein umfangreiches humanitäres Hilfs- und Wiederaufbauprogramm erarbeitet. Auf einer Konferenz in New York am 12. Oktober 1988 haben zahlreiche Länder ihre Hilfe zugesagt.Die Bundesregierung hat bisher schon ca. 390 Millionen DM für die Versorgung der Flüchtlinge außerhalb Afghanistans aufgebracht. Sie hat darüber hinaus für die Jahre 1988/89 zusätzliche 50 Millionen DM für humanitäre Sofortmaßnahmen im Zusammenhang mit der Rückkehr der Flüchtlinge bereitgestellt. Sie ist auch bereit, zusammen mit unseren Partnern in Europa zum Wiederaufbau Afghanistans substantiell beizutragen, sobald die Verhältnisse in Afghanistan eine geordnete Durchführung von Wiederaufbauprogrammen zulassen, was derzeit noch nicht der Fall ist. Aus früheren Verpflichtungen der Bundesregierung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan stehen darüber hinaus 106 Millionen DM für Wiederaufbauzwecke zur Verfügung.Meine Damen und Herren, alle internationale Hilfe aber muß scheitern, wenn die Afghanen nicht selbst dazu beitragen, eine menschenwürdige Zukunft ihres Landes zu sichern.
Unser Appell geht daher an alle verantwortlichen Afghanen, ihre jetzt wiedererrungene Freiheit zum Wohle ihres Landes zu nutzen. Wir hoffen und wünschen, daß dieser Appell eines Freundes des afghanischen Volkes gehört wird. Wir wollen das, was in unseren Kräften steht, an Hilfe dazu leisten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Lippelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Todenhöfer, ich glaube nicht, daß das Regime Najibullah, so sehr ich es ihm wünsche, in wenigen Wochen zusammenbricht.
Das Zahlenverhältnis zwischen den Mujahedin in den Bergen und der auf ihn eingeschworenen, zum letzten Kampf Entschlossenen, spricht eine ganz andere Sprache.
— Ja.
Zweitens. Ich respektiere den Widerstand, den eine traditionelle Gesellschaft in Form der Mujahedin geleistet hat. Aber ich verschließe meine Augen nicht vor den Menschenrechtsverletzungen, vor den Grausamkeiten, vor dem Gemetzel, das auch von Mujahedin gekommen ist.
Ich habe große Angst, wenn ich daran denke, wie es in Kundnz zugegangen ist. Wir haben das erste Beispiel einer von Mujahedin eroberten Stadt. Das erfüllt mich wirklich sehr mit Angst und Schrecken.
Drittens. Deshalb spreche ich nicht darüber, was durch Programme der UNO geschehen kann und wie man sich, wie es unsere Staatsministerin eben aufgeführt hat, auf den Wegen normaler Diplomatie für die Zeit danach vorbereitet. Ich spreche von dem Moment, der jetzt da ist. Ich sage: Es geht nicht, daß man das ruhig ansieht. — Ich stelle fest, daß das IRK von seinen 60 Leuten 20 zurückgeholt hat, weil es sie gefährdet sieht. Ich stelle fest, daß das Programm Salam jetzt nicht so weit angewandt werden kann, daß der UNO-Flüchtlingskommissar Lebensmittel in die verhungernde Stadt reinkriegt. Das stelle ich fest, und dann frage ich, Frau Staatsministerin — alles schön und gut, was Sie hier gesagt haben — : wie nimmt die Intensität der Beratungen in der EPZ unter Ihrem Anstoß zu, um in diesem Moment hier mit internationalem Druck einzugreifen? Ich habe beispielsweise angeregt: Versuchen Sie so viel Druck zu machen, daß die Hospitäler, die großen Flüchtlingslager sofort unter den Schutz des IRK kommen. Versuchen Sie an europäischen Beobachtern reinzubringen, was immer nur geht.
Ich möchte noch eines sagen: Stellen Sie im Rahmen der EPZ von allen Ländern Westeuropas demonstrativ sofort entsprechende Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen zur Verfügung. Holen Sie Kinder heraus, die dort im Moment verhungern. Das sind die konkreten Fragen, die anstehen, und nicht unsere schöne Bereitschaft, die wir für den Moment, wenn alles vorbei ist und wiederaufgebaut wird, über Geld zur Verfügung stellen. Das ist das Normale. Das reicht in diesem Moment nicht.
Machen Sie irgend etwas, mit dem Sie demonstrativ darstellen, daß die Zivilbevölkerung nicht nur juristisch unter dem Schutz der Genfer Konvention steht, sondern daß die Genfer Konvention auf die Bevölkerung angewandt werden muß. Das kann man nur durch Intervention. Ich bitte herzlich darum, die Intensität des Nachdenkens im Amt und in der Regierung zu erhöhen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Glotz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einer Situation, wie sie der Kollege Lippelt eindrucksvoll geschildert hat, kann man gelegentlich froh sein, daß die Bundesrepublik keine Großmacht ist. Die Versuchung, uns einzumischen und unsere Fehler zu machen, ist uns erspart geblieben. Jetzt sollten wir uns noch den Luxus ersparen, uns aufs hohe Pferd der politischen Moral zu schwingen und von dort aus selbstgerechte Aburteilungen zu exerzieren.
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9194 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Dr. GlotzHerr Kollege Todenhöfer, Sie haben die bedingungslose Kapitulation einer dort beteiligten Gruppe verlangt. Sie sollten nicht Eisenhower oder Montgomery in einem Krieg spielen, in dem andere Menschen gestorben sind und für den andere Menschen gelitten haben.
Ich glaube, Hilfe ist gefragt, wie es hier dargestellt worden ist, und nicht moralisierende Rechthaberei.Die Supermächte hatten sich — ich denke, ein Kollege hat das heute schon gesagt — in der letzten Phase auf symmetrische Waffenlieferungen an die kämpfenden Parteien verständigt. Die „Süddeutsche Zeitung" hat heute dazu geschrieben — das ist an sich ein abgewogenes Blatt — :Sie überantworteten das Land zynisch einer Selbstbestimmung der Selbstauslöschung, indem sie ihre jeweilige Klientel mit soviel Kriegsmaterial ausstatteten, daß diese sich damit noch jahrelang umbringen könnten. Und wer die Afghanen kennt, der muß befürchten, daß gerade dies auch geschehen wird.Man kann nur hoffen, daß der Olaf Ihlau, der das geschrieben hat, Unrecht hat. Aber in jedem Fall ist die beste Symmetrie diejenige, bei der symmetrisch überhaupt keine Waffen geliefert werden, meine Damen und Herren.
Es war jahrzehntelang ein Prinzip des internationalistisch redenden Kommunismus, überall dort nationalistische Aufstände zu unterstützen, wo sie einem westlichen Regime schaden konnten. Umgekehrt neigt man im Westen dazu, nationalistische, ethnische oder religiöse Widerstände gegen Kommunisten zu unterstützen, gleichgültig, was die Beweggründe dieser Kämpfe sind.
— Ich möchte diesen Vergleich gar nicht wählen, Herr Kollege Duve.
Wir können nur hoffen, daß sich der Westen durch die Unterstützung von islamischen Führern wie Hekmatyar und Rabbani — so unterschiedlich sie sein mögen — nicht mitschuldig macht an Exzessen, die bei der Errichtung eines Nationalstaates sozial-revolutionär islamischen Zuschnitts jetzt und bei Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten, sunnitischen Islamisten und schiitischen Gruppen nun wirklich entstehen können, meine Damen und Herren. Ich habe manchmal allerdings den Eindruck, daß, wenn wir, Herr Kollege Todenhöfer — das sage ich jetzt nicht polemisch — , die Worte Freiheit oder Einheit oder Frieden gebrauchen und gar einer der Kollegen ganz ernsthaft — ich gestehe ihm die Ernsthaftigkeit zu — Reinhold Schneider zitiert, diese Begriffe in unsererWelt etwas völlig anderes bedeuten, als sie in dieser Welt bedeuten.
Die Frau Staatsminister plädiert für Einigkeit. Ichstelle mir vor, was nach dem Spanischen Bürgerkrieg— er hat nur drei Jahre gedauert — passiert wäre, wenn wir der Linken und der frankistischen Rechten gesagt hätten: Nun einigt euch einmal. Das wäre ganz unrealistisch gewesen. Der Bürgerkrieg in Afghanistan dauert schon elf Jahre. Wir dürfen auf die nicht einreden wie in der Sonntagsschule, sondern wir müssen in der Tat praktische politische Maßnahmen ergreifen, so wie sie Herr Lippelt und auch Frau HammBrücher gefordert haben.
Ein Letztes: Die Bundesrepublik muß, glaube ich, auch an die Rückwirkungen dieses Konflikts auf die Politik der Supermächte und insbesondere auch auf die Politik in der Sowjetunion achten. Ein rascher Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Kabul und die Errichtung einer radikal-islamischen Diktatur unter Blutvergießen und Racheakten würde den nationalistisch-orthodoxen Kräften, die gegen die Perestroika, die gegen Gorbatschow kämpfen, erheblichen Auftrieb geben. Nun können wir das von uns aus nicht beliebig beeinflussen, aber ich sage zur Bundesregierung hin, Frau Staatsminister: Die Bundesrepublik muß an der Fortführung der Gorbatschowschen Abrüstungspolitik ein vitales Interesse haben. Deshalb liegt es in unserem eigenen Interesse, einige der Maßnahmen zu betreiben, die Herr Lippelt hier im einzelnen aufgezählt hat.Wir können hier nur eines sinnvoll tun — damit will ich abschließen — : wenig moralisieren und viel helfen. Wir sollten uns in der Absicht aller Fraktionen des Deutschen Bundestages einig sein, einem Afghanistan, das nicht mehr Spielball der Weltmächte ist, die Schulden zu erlassen und dem geschundenen Land mit einer langfristig angelegten Entwicklungshilfe— das ist sicher nicht heute, aber dann morgen notwendig — so gut zu helfen, wie das irgendwie möglich ist. Das liegt auch im Interesse Europas.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Herr Vogel .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Hier ist schon darauf hingewiesen worden, daß sich der Deutsche Bundestag in zahlreichen Debatten mit den Fragen Afghanistans befaßt hat. Er tut es heute aus einem aktuellen Grund, ich würde sagen, aus einem insgesamt erfreulichen Anlaß.Die wesentliche Grundlage unseres Engagements ist nicht zuletzt eine traditionelle Freundschaft— dies sollten wir auch heute betonen — zwischen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9195
Vogel
dem deutschen und dem afghanischen Volk, gewesen.
Wir haben uns in einer Entschließung, die hier einmütig am 10. November des vorigen Jahres gefaßt worden ist, mit dem befaßt, was wir tun können. Wir haben gesagt, wozu wir bereit sind, und das ist auch das, was wir können. Wir sollten nicht mehr tun wollen, als wir tatsächlich tun können; auch dies ist wichtig.Wir haben damals gesagt, dieses Genfer Abkommen vom 14. April 1988 hilft, eine Voraussetzung für den weiteren Prozeß und für die Beilegung des Konflikts in Afghanistan zu leisten. Wir sollten durchaus anerkennen, daß die Sowjetunion ihrer Verpflichtung aus dem Abkommen vom April 1988 nachgekommen ist und fristgerecht am 15. Februar 1989 ihren Truppenabzug beendet hat. Die Invasion ist beendet, die Folgen der Invasion aber dauern an. Damit dauert auch die Verantwortung der Sowjetunion für diese Folgen an.
Die eigentlichen Aufgaben — das wissen wir sehr wohl — kommen erst jetzt. Hier sind wir in der Tat mit unseren Möglichkeiten gefordert.Das, was der Bundestag gefordert hat, was er beschlossen hat, ist inzwischen im Bundeshaushalt vollzogen; dies sollten wir nicht vergessen. Wir haben uns dazu bekannt, daß wir die Bemühungen der Vereinten Nationen um Repatriierung der mehr als 5 Millionen Flüchtlinge tatkräftig unterstützen. Der Beauftragte der Vereinten Nationen, Prinz Sadruddin Aga Khan, wird in Kürze in Bonn sein, und es wird mit ihm darüber gesprochen werden können, wie wir dies wirkungsvoll leisten können.Wir haben unsere Bereitschaft zu großzügiger humanitärer Hilfe, zur Linderung der akuten Notlage, zur Behebung der schlimmsten Folgen dieses Krieges erklärt. Wir wissen, daß das Internationale Kommitee des Roten Kreuzes hier inzwischen initiativ, aktiv geworden ist. Selbstverständlich werden wir diese Aktivitäten und diese Initiativen mit allen Möglichkeiten, die wir haben, unterstützen.Die wichtigste Aufgabe kommt erst dann, nämlich der Wiederaufbau dieses weitgehend zerstörten Landes. Auch hier hat sich der Bundestag festgelegt: Er hat seine Bereitschaft zu wirkungsvoller Entwicklungshilfe im Zuge der innenpolitischen Normalisierung erklärt. Hier kann ich nur das wiederholen, was Sie, Herr Kollege Holtz, in der Debatte am 10. November 1988 dazu gesagt haben. Sie sagten:Nach Abzug der sowjetischen Truppen und nach Einstellung der Kampfhandlungen sowie nach Schaffung der inneren Voraussetzungen wie der Bildung einer demokratischen Regierung sollte die Bundesregierung die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Afghanistan wieder aufnehmen.Dabei sehen wir genau, was nicht nur unsere Aufgabe, sondern was auch die Aufgabe der Völkergemeinschaft insgesamt ist. Der Krieg in Afghanistanmuß beendet werden. Er ist mit dem Abzug der sowjetischen Truppen nicht beendet.Ich würde es so sagen: Das kommunistische Regime Najibullah darf der inneren Normalisierung in Afghanistan nicht im Wege stehen. Allerdings würde ich auch sagen: Der afghanische Widerstand sollte von uns aufgerufen werden, nun auch seinen Beitrag zur inneren Befriedung zu leisten. Was wir hier in letzter Zeit gehört haben, kann uns, kann mich jedenfalls insgesamt nicht allzu sehr beruhigen. Hier muß sehr viel mehr, auch von denen, geleistet werden.Was den Widerstand angeht: So einfach, Herr Kollege Duve, wie Sie es hier dargestellt haben, verlaufen die Fronten nicht. Es ist viel komplizierter. Aber das macht ja die Sache insgesamt so schwierig. Wenn wir Entwicklungshilfe leisten wollen, brauchen wir dazu, das wissen wir, einen verläßlichen staatlichen Partner. Um den müssen wir uns bemühen. Hier sollte auch die Gemeinschaft der Vereinten Nationen ihren Beitrag zur Lösung der jetzt anstehenden Probleme weiter leisten.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte nur noch auf einige wenige Aspekte hinweisen. Von den Vorrednern ist die hervorragende Arbeit der verschiedenen Organisationen dargestellt worden, die für Afghanistan zur Linderung des dortigen Leids erfolgreich gewirkt haben. In diesem Zusammenhang möchte ich jetzt einfach mitteilen, daß von dem Moment an, wo die Rede vom Beginn des Auszugs der Sowjetrussen aus Afghanistan war, das Spendenaufkommen in der deutschen Bevölkerung ganz drastisch zurückgegangen ist und daß verschiedene Projekte und Hilfsmaßnahmen inzwischen schon eingestellt werden mußten und daß Krankenhäuser geschlossen werden mußten.Ich möchte einfach die Gelegenheit hier wahrnehmen, die deutsche Bevölkerung, die sich schon so spendenfreudig in allen anderen Bereichen gezeigt hat, dazu aufzurufen, jetzt doch bitte — gerade jetzt, wo es darum geht, in Afghanistan, wenn es irgendwie möglich ist, stabile Verhältnisse zu schaffen oder sogar eine Demokratie zu ermöglichen — weiter zu spenden, damit die vorhandenen Kliniken in Pakistan an der Grenze zu Afghanistan weiterarbeiten können und damit vor allen Dingen Projekte, die uns am Herzen liegen, wie die Ausbildung von gynäkologischen Assistentinnen, die im Gesundheitswesen tätig werden können, und von Sanitätern oder die Unterrichtung von Kindern weitergeführt werden können.
Herr Dr. Lippelt hat gesagt: Laßt uns die Kinder herausholen, die hungern. Auch dort habe ich eine Idee: Wäre es denn nicht möglich, daß wir uns zusammentun und ein Komitee gründen, um tatsächlich Patenschaften in der Bevölkerung anzuregen, um Kinder
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9196 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Frau Würfelhierherzubringen und sie in unser Bildungswesen einzugliedern, vielleicht über Jahre, denn wir wissen, daß Moskau das schon über Jahre tut und das Zehntausende von Kindern dort unterrichtet worden sind, um nachher nach Afghanistan zurückzugehen. Für mich gehören Demokratie und Bildung einfach zusammen. Da müssen wir einwirken. Wir müssen unsere Vorstellungen und unsere Normen von Demokratie übermitteln. Das können wir nur beim Nachwuchs tun. Vielleicht können wir uns einmal zusammensetzen und überlegen, ob wir nicht etwas von dieser Seite her in Gang bringen können.Danke.
Meine Damen und Herren, mit diesem eindringlichen Appell ist die Aktuelle Stunde beendet.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte ohne Aussprache auf, über die wir abstimmen müssen, und zwar zunächst den Tagesordnungspunkt 6:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 26. November 1976 zum Abkommen vom 22. November 1950 über die Einfuhr von Gegenständen erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters— Drucksache 11/2277 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 11/3922 —Berichterstatter:Abgeordnete Frau Dr. Martiny
Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN ist das Gesetz angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf.Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Einhundertfünfte Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz —— Drucksachen 11/3323, 11/3936 —Berichterstatter: Abgeordneter StratmannWer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung des Beschlusses vom 24. Juni 1988 über das System der eigenen Mittel der Gemeinschaften— Drucksachen 11/3200 Nr. 2.3, 11/3868 —Berichterstatter:Abgeordnete Esters Dr. PfennigWer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 bis 12 auf:9. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 32 08 Titel 870 01 — Inanspruchnahme aus Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen —— Drucksachen 11/3565, 11/3636 Nr. 1.5, 11/3869 —Berichterstatter:Abgeordnete Frau VennegertsRoth
Wieczorek
Dr. Weng
10. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1988 bei Kapitel 10 02 Titel 656 51 — Altershilfe für Landwirte —— Drucksachen 11/3481, 11/3636 Nr. 1.3, 11/3870 —Berichterstatter:Abgeordnete Schmitz DillerFrau Vennegerts11. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 656 03 — Zuschuß des Bundes an die knappschaftliche Rentenversicherung —— Drucksachen 11/3470, 11/3636 Nr. 1.2, 11/3871 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler StrubeZywietzFrau Vennegerts12. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13Titel 646 06 — Leistungen des Bundes für Auf-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9197
Vizepräsidentin Rengerwendungen aus der Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung —— Drucksachen 11/3564, 11/3636 Nr. 1.4, 11/3872 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler StrubeZywietzFrau VennegertsIch gehe davon aus, daß wir über diese Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen können. — Kein Widerspruch. Wir handeln so.Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses auf den Drucksachen 11/3869, 11/3870, 11/3871 und 11/3872? — Gegenprobe! — Enthaltung? — Einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 97 zu Petitionen — Drucksache 11/3914 —Wer stimmt für die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/3914? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der GRÜNEN angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der medizinischen Versorgung für Gefangene— Drucksache 11/3243 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und GesundheitIm Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema, mit dem wir uns heute beschäftigen, ist die medizinische Versorgung von Strafgefangenen im Vollzug. Der ganze Vollzugsbereich steht sowieso nicht im öffentlichen Rampenlicht. Da stehen immer ganz andere Themen im Vordergrund. Aber gerade dieser Bereich, über den wir heute debattieren, ist einer der am wenigsten bekannten und am wenigsten durchsichtigen Bereiche des Strafvollzugs. In diesem Bereich liegt sehr viel im argen. Und deshalb muß hier sehr viel getan werden.Vorweg sage ich Ihnen: Die Position, die wir erarbeitet haben und die Ihnen in unserem Gesetzentwurf vorliegt, haben wir nicht am grünen Tisch ausgeknobelt. Vielmehr ist der Entwurf das Ergebnis intensiver Arbeit seit 1983. Wir korrespondieren mit etwa 200 Gefangenen jeden Monat. Wir haben zahlreiche Besuche in Krankenabteilungen von Justizvollzugsanstalten gemacht, und wir haben Anhörungen dazu durchgeführt. Von diesen Erfahrungen ausgehend legen wir heute unsere Vorschläge zur Verbesserung der medizinischen Versorgung von Gefangenen vor. Unser Entwurf soll dabei aber nicht nur die Stellung der Gefangenen, sondern auch die des medizinischen Personals, das uns genauso wichtig ist, schwerpunktmäßig in vier Bereichen verbessern:Erstens. Der oder die Gefangene soll freie Arztwahl im Umkreis der jeweiligen Justizvollzugsanstalt haben; sie sollen berechtigt sein, dort ihren Arzt nach freiem Ermessen zu wählen. Das, was für Nichtinhaftierte üblich ist, muß in diesem Bereich für Gefangene ebenfalls möglich sein.Zweitens. Im Zusammenhang damit muß ermöglicht werden, daß die Strafgefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen werden. Diese Forderung ist übrigens schon 1977 im Strafvollzugsgesetz festgeschrieben, aber aus Kostengründen von den Ländern bis heute nicht umgesetzt worden. Morgen haben wir hier über den Entwurf des Bundesrats zum Strafvollzugsgesetz zu debattieren. Die fortschrittlichen Elemente im Strafvollzugsgesetz von 1977 sind zwar bis heute nicht umgesetzt worden; aber die Länder wollen das jetzt nicht etwa einlösen, sondern im Gegenteil Rückschritte zu Lasten der Gefangenen machen. Wir dagegen wollen mit unserem Entwurf heute eben das einlösen, was den Gefangenen seit 1977 versprochen worden ist.Drittens. Wir sind der Meinung, daß der medizinische Dienst in den Vollzugsanstalten aus der Aufsicht und der Verwaltung der Justizbehörden der Länder ausgegliedert werden muß. Die sind für den Vollzug der Strafe zuständig, sollten es aber nicht für die Gesundheitsvorsorge sein. Für die Gesundheitsvorsorge und für die Aufsicht über diesen Bereich müssen vielmehr die Landesgesundheitsbehörden zuständig sein.Viertens. Wir wollen, daß bei Eintritt schwerster Erkrankungen, vor allen Dingen bei Krebs-Erkrankungen oder AIDS-Erkrankungen, was ein neues sehr belastendes Problem auch im Strafvollzug ist, die Möglichkeiten erweitert werden, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aufzuschieben oder zu unterbrechen.Das sind die wichtigsten Punkte, und wir haben jede Menge Gründe, an diesen Punkten wenigstens etwas zu tun.Denn es ist so, daß die 50 000 Gefangenen in der Bundesrepublik zwar zur Haftstrafe verurteilt worden sind, aber eben nicht dazu, auch noch ein Stück ihrer Gesundheit zu opfern. Im Gegenteil: Das Strafvollzugsgesetz sagt ausdrücklich, daß den schädlichen Folgen der Haftstrafe so weit wie möglich vorgebeugt werden muß, damit solche nach Möglichkeit erst gar nicht eintreten. Wir wollen, daß hier entsprechend was getan wird.Die Praxis sieht derzeitig leider ganz anders aus. Die medizinische Versorgung in vielen Gefängnissen der Bundesrepublik ist von folgenden Merkmalen — ich kann hier nur einige nennen — gekennzeichnet:Erstens. Es ist so, daß wir in den Anstalten sehr oft überforderte oder unterqualifizierte Ärzte hab en, die
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9198 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Frau Nickelsvon zwar gutwilligen „Saus", wie man so salopp sagt, unterstützt werden, welche sich aber meist aus dem Anstaltspersonal rekrutieren, die in der Regel eben keine abgeschlossene Ausbildung als Krankenschwester oder Krankenpfleger haben, sondern oft zum Beamtenstab gehören, die oft nur ganz kurze Fortbildungslehrgänge absolviert haben und die die Macht haben, darüber zu entscheiden, wer von den Strafgefangenen wann Zugang zum Anstaltsarzt oder zur Anstaltsärztin kriegt. Das ist sehr übel und führt auch dazu, daß sehr viel gegen die Interessen der Gesundheit der Gefangenen passiert.Der zweite Punkt, der zu kritisieren ist, ist der großzügige Einsatz von verschiedensten Psychopharmaka in Strafvollzugsanstalten, oft auch ohne Wissen oder gegen den Willen der Gefangenen. Und ich weiß, wovon ich rede. Ich sagte Ihnen schon vorab, daß wir uns mit dem Problem seit Jahren, seit 1983, intensivst beschäftigen, und wir können das auch belegen. Oft ist es so, daß dahinter die Absicht steckt, Sicherheit und Ordnung in der Anstalt zu erhalten. Manchmal steckt allerdings auch die Absicht dahinter, für die Pharmaindustrie Großversuche an Menschen durchzuführen, die sich kaum wehren und nicht weglaufen können. Ich verweise hier auf die Versuche des Anstaltsmediziners Dr. Last in der JVA Straubing Anfang der 70er Jahre.Drittens. An der Tagesordnung ist oft eine falsche Diagnose bei den Gefangenen unter dem Vorwurf des Simulantentums; die Gefangenen werden sehr oft nicht ernst genommen. Manchmal führt das auch zum Tode von Gefangenen noch im Gefängnis oder kurz nach der Entlassung. Die Sterberate — wir haben die einmal herausgesucht — ist ziemlich hoch: 1977 starben bundesweit 123 Gefangene, zwischen 1973 und 1981 allein in Bayern mehr als 200 Strafgefangene.Der vierte Punkt ist die Tatsache, daß Haftstrafen auch an schwerkranken Gefangenen unbarmherzig vollstreckt werden, manchmal bis zum Tod, ohne daß sich die Staatsanwaltschaften zu einer Haftunterbrechung durchringen können. Das ist unserer Meinung nach massiv zu kritisieren.Der fünfte Punkt ist der — ich will das einmal ganz vornehm ausdrücken — , daß die Praxis eines überaus durchlässigen Umgangs mit Informationen über die Krankheit und Behandlung von Gefangenen vorherrscht, teilweise gefördert durch Anweisung von seiten der Aufsichtsbehörden, und das vor allen Dingen — das wissen wir aus der jüngsten Zeit — im Zusammenhang mit HIV-Erkrankungen.Ein Großteil der hier nur kurz skizzierten Probleme wird von den führenden Politikern bzw. Politikerinnen von Bund und Ländern nur leider selten anerkannt. Anders ist das in aller Regel bei den Praktikerinnen und Praktikern in den Anstalten, die versuchen, die zwangsläufig eintretenden Gesundheitsschäden bei Gefangenen einigermaßen in Grenzen zu halten.Als Gründe für die Gesundheitsschäden hat der Chefarzt im Vollzugskrankenhaus Hohenasperg, Dr. Becker, im „Kassenwart" vom Februar/März 1984 vorwiegend systembedingte genannt, „weil die gültige Gesetzgebung die ... uneingeschränkte freieArztwahl nicht zuläßt" . Wir sind der Meinung, daß die freie Arztwahl gegeben sein muß, allerdings mit einer räumlichen Beschränkung. Wir verlangen nicht, daß jemand in der ganzen Bundesrepublik freie Arztwahl haben muß. Es ist schon einsehbar — weil damit sonst große Umstände verbunden sind — , daß das in der Umgebung sein muß. Aber das eben wollen wir, weil damit nicht nur einige der eklatanten Mißstände bei der Behandlung kranker Gefangener beseitigt werden könnten, sondern weil dies auch dem medizinischen Personal dienen würde. Denn dieses könnte aus einer unseligen Rolle herauskommen, die heute darin besteht, daß es zwar einerseits vorsorgen und heilen soll, aber andererseits immer noch Helfer bei der Durchsetzung von Sicherheit und Ordnung im Gefängnis sein muß. Darunter leiden auch die Ärzte und Ärztinnen sowie das Pflegepersonal.Damit verbunden ist notwendig die Einbeziehung der Gefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung. Hier wird oft gesagt: Das ist zu teuer. Es werden 75 Millionen DM an Mehrkosten genannt. Ich kann dagegenhalten: Wenn man keine Krankenversicherung und keine freie Arztwahl hat, dann muß man, wie das heute ist, im großen Maßstab Krankenabteilungen und Strafvollzugskrankenhäuser bauen und unterhalten, die sehr teuer sind und die trotzdem nicht an den Standard der Spezialisierung der freien Krankenhäuser herankommen können. Da kann man also auch eine Gegenrechnung aufmachen. Ich glaube, das Argument zieht nicht.Ein weiterer Teil unseres Gesetzentwurfs, auf den ich noch ein bißchen konkreter eingehen will, betrifft die zunehmende Problematik der Behandlung HIV-infizierter Gefangener. Die Justizminister und -senatoren haben im September 1986 einstimmig festgelegt, daß HIV-Infizierte frühestens dann überhaupt entlassen werden können, wenn — ich zitiere — „die Infektion zu einem irreversiblen Krankheitsstadium geführt hat" . Das entspricht ungefähr der Regelung, die wir in unserem Gesetzentwurf vorgelegt haben. Allerdings wollen wir erreichen, daß diese Leitlinien endlich konkretisiert werden und die Praxis daran gebunden wird.Zur Zeit sieht das völlig anders aus. Ich kann ein paar Beispiele nennen. Zum Beispiel ist im Gefängniskrankenhaus Fröndenberg im Juni 1988 ein 32 Jahre alter Gefangener an AIDS gestorben, weil es der Staatsanwaltschaft offensichtlich nicht möglich war, die weitere Vollstreckung zu unterbrechen, damit der Gefangene in der Uniklinik behandelt werden konnte. Es gibt zahlreiche Beispiele, die alle von der Deutschen Aidshilfe dokumentiert sind. Ich will keine weiteren darstellen, weil ich nicht mehr so viel Redezeit habe.Was ich aber sehr bedenklich finde und hier noch ansprechen will, ist, daß sich in der Bundesrepublik die Tendenz offensichtlich dahin gehend ausweitet, der HIV-Problematik noch weitgehender als bisher im Gefängnis Herr werden zu wollen. So wurden z. B. im Haushaltsplan in Berlin für das Jahr 1989 Gelder zum Ankauf von ATZ und für die Durchführung von Computertomographien eingestellt. Anscheinend will man noch mehr, als es heute schon zum Schaden der Gefangenen passiert, im fortgeschrittenen Stadium
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9199
Frau Nickelsvon schweren Erkrankungen an den Patienten im Gefängnis herumdoktern, anstatt sie vorübergehend haftunfähig zu entlassen oder zumindest in spezialisierte Krankenhäuser zu entlassen.Auch die bei einer derart schwerwiegenden Krankheit notwendige psychosoziale Behandlung ist haarsträubend. Da ist z. B. folgender Fall passiert — ich will nur noch dieses eine Beispiel nennen und damit schließen —, daß am 2. Februar ein manifest AIDS-erkrankter Patient, der aus Verzweiflung im Gefängnis einen Selbstmordversuch gemacht hat, nicht etwa als haftunfähig entlassen wurde, sondern ihm 751,90 DM für den notwendigen Krankentransport nach seinem Selbsttötungsversuch in Rechnung gestellt wurden.Diese paar Beispiele sind die Spitze eines Eisbergs und verdeutlichen, daß wirklich Handlungsbedarf besteht. Ich hoffe auf vernünftige Beratungen im Rechtsausschuß.Danke schön.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Geis.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Morgen werden wir über die Gesetzesinitiative des Bundesrates zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 1. Januar 1977 beraten. Eines der wichtigsten Ziele dieses Gesetzgebungsvorhabens ist es, neben die zwei jetzt schon festgelegten Ziele der Vollstreckung, nämlich der Resozialisation und der Sicherung der Allgemeinheit vor neuen Straftaten, den Gedanken der Täter/Opfer-Beziehung treten zu lassen. Eine weitere Grundlinie unserer Strafvollstreckung stellt aber auch der Gedanke des Schuldausgleichs dar, der Gedanke der Sühne für verübtes Unrecht und der Gedanke der Verteidigung der Rechtsordnung.
Diese Grundlinien unseres Strafvollzuges müssen natürlich auch bei der ärztlichen oder medizinischen Versorgung der Kranken gewahrt bleiben. Die GRÜNEN scheinen aber dieses Prinzip bei ihrer Gesetzesvorlage übersehen zu haben. Jedenfalls kann man den Eindruck gewinnen, als ginge es nur darum — dieser Gedanke wurde hier auch von Frau Nickels dargelegt — , kranke Gefangene am besten zu entlassen, sie dem Strafvollzug zu entziehen. Es klingt natürlich auch die Behauptung mit, als würden die kranken Gefangenen in unseren Strafvollzugsanstalten nicht richtig behandelt; das ist hier expressis verbis so behauptet worden.
Natürlich wird nicht übersehen — darauf weist auch die Gesetzesinitiative der GRÜNEN hin — , daß die hohen Gefängnismauern, das Gitter vor den Fenstern, die abgeschlossenen Zellen, das oft sehr reglementierte Zusammenleben im Gefängnis, kurz: daß der Entzug der Freiheit durchaus psychische Belastungen mit sich bringt und auch körperliche Belastungen verursachen kann. Dies wird nicht übersehen, aber man darf nicht so tun, als wäre für eine gute Regelung der
ärztlichen bzw. medizinischen Versorgung in unseren Vollzugsanstalten nicht längst gesorgt.
Frau Nickels, wenn man Ihren Gesetzesvorschlag liest, kann man den Eindruck gewinnen, als käme es Ihnen darauf an, all die Gefangenen, die erkrankt sind, am besten, weil sie erkrankt sind, in die Freiheit zu entlassen, so nach dem Motto: Nimm dein Bett und geh. Aber ein kranker Gewaltverbrecher bleibt eben ein Verbrecher, und das darf nicht vergessen werden. Er hat nicht schon deshalb seine Strafe verbüßt, er ist nicht schon deshalb resozialisiert, und er kann nicht schon deshalb in die Freiheit entlassen werden, weil er krank ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Herr Geis, erstens möchte ich Sie fragen, wie oft Sie schon in Strafvollzugsanstalten waren und sich speziell zu diesem Bereich sachkundig gemacht haben, und zweitens möchte ich Sie bitten, doch zur Kenntnis zu nehmen, daß wir uns eng an die Strafprozeßordnung anlehnen und in den Entwurf selbstverständlich hineingeschrieben haben, daß bei einer so schweren Erkrankung die Strafe ausgesetzt werden oder der Betreffende entlassen werden kann, wenn das Täterprofil dies zuläßt — wir weiten also nur die jetzigen Bestimmungen etwas aus, auch aus aktuellen Gründen — , wenn also nicht der Verdacht besteht, daß weitere schwere Gewaltverbrechen begangen werden. Ich bitte Sie, mir doch die Frage zu beantworten, ob Sie das genau gelesen haben oder woher Sie die andere Auffassung holen, die Sie gerade vertreten haben.
Frau Nickels, erstens war ich auf Grund meines Berufs schon sehr oft in Gefängnissen und habe sehr oft mit Gefangenen zu tun. Zum zweiten ist der Umstand, daß ein Gefangener durch Krankheit haftunfähig ist, natürlich geregelt. Ein Haftunfähiger ist, weil er haftunfähig ist, aus der Haft zu entlassen.
Dazu brauchen wir aber keine neue gesetzliche Regelung. Haftunfähigkeit führt natürlich zur Entlassung, zu nichts anderem.
Wenn aber der Kranke im Krankenhaus versorgt werden kann, liegt keine Haftunfähigkeit vor, und dann muß er weiter im Gefängnis bleiben. — Das war die Antwort auf Ihre Frage.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich nun in dem Gedankengang fortfahren. Ich will es wiederholen: Ein kranker Gewaltverbrecher bleibt ein Gewaltverbrecher. Das Geiseldrama vom letzten Sommer hat ja zur Genüge gezeigt, daß solche Gewaltverbrecher sehr oft nur die Gelegenheit nutzen wollen, um im Freigang, im offenen Vollzug, wiederum eine Gewalttat begehen zu können. Deswegen
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9200 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Geisist natürlich höchste Vorsicht angezeigt, wenn es um Ihre Forderung geht, Gefangene, die krank sind, aus dem Strafvollzug — wenn auch nur vorübergehend — zu entlassen.Sie fordern die freie Arztwahl. Die freie Arztwahl ist ein hohes Gut, und die Anstrengungen der Krankenversicherungsreform vom Dezember letzten Jahres haben ja auch und vor allem dahin gezielt, die freie Arztwahl auch für die Zukunft zu garantieren. Aber die freie Arztwahl im Gefängnis ist ein großes Problem. Man muß sich einmal den Umstand vorstellen: Ein Gefangener, ein Gewaltverbrecher, muß, wenn er erkrankt ist, wenn er die Grippe hat — —
— Es geht nur um die, die im geschlossenen Vollzug sind. Diejenigen, die im offenen Vollzug sind, haben ja die freie Arztwahl. Sie müssen zwar selber bezahlen, aber sie haben die freie Arztwahl. Diejenigen, die im geschlossenen Vollzug sind, haben aus gutem Grund nicht die freie Arztwahl. Man muß sich wirklich den Umstand vorstellen: Ein Gewaltverbrecher, der nun einmal im geschlossenen Vollzug ist und auch bleiben muß, muß also mit größter Bewachung zum Arzt seiner Wahl gebracht und wieder zurückgebracht werden. Man stelle sich diesen Umstand vor! Ich meine, das ist nicht zu verantworten, vor allen Dingen deshalb nicht, weil man nicht so tun sollte, als würde die ärztliche Versorgung in unseren Justizvollzugsanstalten versagen. Dem ist nicht so! Wir haben eine gute ärztliche Versorgung in den Justizvollzugsanstalten. Sie ist seit dem Strafvollzugsgesetz 1977 im Standard an die ärztliche Versorgung unserer Krankenkassenpatienten außerhalb des Vollzugs angepaßt.Ein Wort noch zur Krankenversicherung. Ich stimme Ihnen zu, Frau Nickels: Die Krankenversicherung für die Gefängnisinsassen ist ein Gedanke, der verfolgt werden sollte, aber nicht sosehr für die Gefangenen selbst, sondern als Sicherung für dessen Verwandte, die draußen unter Umständen keine entsprechende ärztliche Versorgung in Anspruch nehmen können, weil sie nicht krankenversichert sind oder auf die Sozialhilfe angewiesen sind. Insoweit, meine ich, kann ich Ihrer Gesetzesinitiative einen positiven Aspekt abgewinnen. Aber Sie müssen dabei immerhin bedenken, daß es in der Hauptsache Ländersache ist und daß dies eigentlich an die Adresse der Länder zu richten ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Ja, bitte.
Herr Geis, stimmen Sie mit mir darin überein, daß man zumindest auch von Ihrer Seite bei den Ländern darauf dringen müßte, einen Beschluß der 58. Justizministerkonferenz im Juni 1987 in Timmendorfer Strand umzusetzen, wo damals beschlossen worden war, daß man alles tun müsse, damit zumindest die Freigänger, die sowieso krankenversichert sind, die freie Arztwahl haben. Das ist nicht die Regel.
Frau Nickels, ein Freigänger, der frei, ohne Bewachung zu seinem Arbeitsplatz gehen kann, hat natürlich freie Arztwahl.
— Das ist die Regel. Es gibt höchstens Ausnahmen von der Regel, aber ich bin informiert, daß das die Regel ist. Der kann ja statt zu seinem Arbeitgeber theoretisch zum nächsten Arzt gehen. Daran wird ihn niemand hindern. Er hat freie Arztwahl.
— Doch, das ist so. Der Freigänger hat freie Arztwahl. Nur der, der im geschlossenen Vollzug ist, hat keine freie Arztwahl; für den ist der Anstaltsarzt zuständig. Natürlich gilt auch für den Freigänger, daß der Anstaltsarzt grundsätzlich zuständig ist, aber er hat auf jeden Fall freie Arztwahl. Nur wird diese Leistung nicht bezahlt, wie die Leistung für den Gefangenen bezahlt oder gewährt wird, der im Gefängnis ist und der im geschlossenen Vollzug keine freie Arztwahl hat.Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anführen. Das ist das Problem, wie wir mit AIDS-, mit HIV-infizierten Gefangenen umgehen. Das ist sicherlich angesichts dieser tödlichen Seuche ein großes Problem, insbesondere in diesem geschlossenen Bereich eines Gefängnisses. Das darf nicht übersehen werden. Aber ich meine, diejenigen würden es sich zu leicht machen, die verordnen, daß gleich bei Eintritt in das Gefängnis dem Gefangenen ein entsprechendes Sortiment von Kondomen zur Verfügung zu stellen ist und Einwegspritzen zu verabreichen sind. Das ist genau die Forderung, die draußen erhoben wird — so ist es —, und damit haben wir uns auch herumzuschlagen. Das ist nicht weit hergeholt, sondern das ist die Forderung. Diese Forderung geht aber, meine ich, an dem Vollzug vorbei. Denn das Ziel des Vollzuges ist die Resozialisierung, und die Resozialisierung birgt es nun einmal in sich, daß Gefangene, die aus Risikogruppen kommen, Homosexuelle, im geschlossenen Vollzug auf gleichgeschlechtlichen Kontakt verzichten müssen, genauso wie Drogenabhängige im geschlossenen und natürlich auch im offenen Vollzug auf die Verabreichung von Drogen verzichten müssen.
Das gehört zum Ziel des Strafvollzugs, und an diesem Ziel müssen wir festhalten. Wollten wir das aufgeben, dann würden wir das Ziel der Resozialisierung aufgeben, und das wäre wohl auch nicht in Ihrem Sinne.Ich meine, wir müßten zunächst beginnen, auf jeden Fall alle Gefangenen aufzuklären. Sie müssen genau wissen, wie tödlich die Infektion ist und wie die Infektionswege sind. Wir müssen beginnen, alle Verhaltensweisen, die zu einer Infektion führen, zu unterbinden und auch scharf zu bestrafen. Wir müssen zum dritten beginnen — das scheint mir ganz entscheidend zu sein — , für den Test zu werben. Die Polemik, die gerade von den GRÜNEN gegen den Test, besonders in den Strafvollzugsanstalten, veranstaltet, getrieben wird, ist verantwortungslos. Wir müssen allen zum freiwilligen Test raten, und wir müssen all die,
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Geisdie aus Risikogruppen kommen, wenn sie sich nicht freiwillig testen lassen wollen, zum Test zwingen, und zwar nach § 101 des Strafvollzugsgesetzes. Wenn dann festgestellt wird, daß ein Strafgefangener, ein Gefängnisinsasse HIV-positiv ist, also infiziert ist, dann ist er zu betreuen, dann ist er zu beraten, und dann ist auch dafür zu sorgen, daß er nicht besonderen, über den normalen Vollzug hinausgehenden Streßsituationen, körperlichen Belastungen ausgesetzt werden darf, weil solche Belastungen — das wissen wir — zum Vollbild oder zum früheren Ausbruch der Krankheit führen. AIDS-Kranke, bei denen es bereits zum Ausbruch dieser Krankheit gekommen ist, müssen natürlich beste ärztliche Betreuung haben. Darüber besteht überhaupt kein Zweifel. Es besteht heute schon die Möglichkeit, gerade diesen Kranken viel zu helfen, ihre Lebenserwartung erheblich zu verlängern, weil die im einzelnen auftretenden Krankheiten inzwischen gut behandelt werden können. Diese Behandlung muß auf jeden Fall in den Strafvollzugsanstalten sichergestellt werden.Aber die Infizierten — wir müssen den Mut dazu haben — müssen auch in Einzelhaft kommen, weil das Risiko einer Infektion — ich will es Ihnen noch einmal sagen — tödlich ist. Es ist ein tödliches Risiko. Natürlich haben die Strafvollzugsanstalten die Pflicht, alles zu tun, um zu verhindern, daß sich diese Infektion ausbreitet. Das ist höchste Pflicht im Strafvollzug. Diese Pflicht gilt gegenüber den Infizierten selbst, aber vor allen Dingen gegenüber denen, die nicht infiziert sind. Deshalb meine ich, daß wir insbesondere auf dieses Problem der AIDS-Erkrankung innerhalb des Strafvollzuges achten müssen.Eine Schlußbemerkung. Der Strafvollzug ist kein Erholungsurlaub. Das heißt allerdings nicht, daß der Staat nicht verpflichtet wäre, alles zu tun, daß ein Gefangener, wenn er im Gefängnis krank geworden ist, auch die beste Hilfe erhält. Das ist ebenso Verpflichtung des Staates. Insofern stimme ich mit Ihnen, Frau Nickels, voll überein. Nur, ich sage Ihnen eines: Diese gute ärztliche Versorgung haben wir in unseren Strafvollzugsanstalten gewährleistet. Daran kann man, glaube ich, nicht deuteln. Man sollte nicht propagieren, als wäre das jetzt so nicht der Fall.Die ärztliche Versorgung ist gewährleistet. Deshalb ist, wie ich meine, Ihr Gesetzgebungsvorhaben nicht angezeigt.Danke schön.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. de With.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Geschichte des Strafvollzuges seit Mitte des letzten Jahrhunderts spiegelt — ich sage das sehr dezidiert — den wechselvollen und auch mühseligen Weg wider — mit Ausnahme jener zwölf Jahre — , die Durchführung des Strafvollzuges rechtssicher und human zu gestalten. Ein großer Fortschritt auf diesem Weg war das vor mehr als zehn Jahren in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz. Das sollten wir wirklich nicht unterbewerten.Erst seitdem gibt es überhaupt eine gesetzliche Regelung. Seitdem gibt es die Resozialisierung als Behandlungsziel. Seitdem gibt es eine gesetzliche Regelung für eine medizinische Behandlung. Seitdem gibt es auch eine gesetzliche Regelung für die sogenannte Zwangsernährung; ich komme darauf noch zurück. Seitdem gibt es die Eingebundenheit des Gefangenen in die Arbeitslosenversicherung und — leider nur — die gesetzliche Forderung nach der Eingebundenheit auch des Gefangenen in die Kranken- und Rentenversicherung. Ein Manko. Seitdem gibt es auch zum erstenmal ein festgelegtes Mindestentgelt für die Arbeit des Gefangenen.Freilich, vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an gab es auch Diskussionen über die Zwangsernährung. Von Anfang an hat uns die Frage begleitet, wann denn nun endlich die Gefangenen — von uns zuletzt 1987 gefordert — in die Kranken- und die Rentenversicherung eingebunden werden. Jeder weiß: Dahinter steht die Frage des Geldes.Mit dem vorliegenden Entwurf machen DIE GRÜNEN nun erneut den Versuch, im medizinischen Bereich Änderungen zu erreichen; Änderungswünsche freilich, Frau Nickels, die es schon in früherer Zeit gegeben hat und die zum Teil abgelehnt wurden. Immerhin, wir haben darüber ernsthaft zu diskutieren. Wir Sozialdemokraten werden das auch tun.Sie nennen vier Schwerpunkte. Erstens. Der Gefangene soll im Umkreis der Justizvollzugsanstalt einen frei praktizierenden Arzt aufsuchen oder wählen können. Zweitens. Der Gefangene wird endlich in die gesetzliche Krankenversicherung eingebunden. Drittens. Der medizinische Dienst wird aus der Verwaltung der Justiz aus- und in ein anderes Ressort eingegliedert. Viertens. Bei Eintritt schwerster Erkrankungen, z. B. einer Krebs- oder — Sie sprachen länger davon — einer AIDS-Erkrankung, soll die Möglichkeit erweitert werden, die Vollsteckung der Freiheitsstrafe zu unterbrechen oder gar endlich auszusetzen.Einen weiteren wichtigen Punkt haben Sie allerdings zu erwähnen vergessen, obwohl es vielleicht der gewichtigste ist, bis 1985 auf jeden Fall der umstrittenste war: Eine irgendwie geartete Zwangsernährung soll es nicht mehr geben. Lassen Sie mich ein Zitat gebrauchen, das Sie sicher alle kennen: „Stein gewordene Riesenirrtümer" hat man die Vollzugsanstalten genannt. Wir wissen aus leidvoller Erfahrung von den negativen Auswirkungen dieses Strafvollzuges; leider müssen wir sagen: auch heute noch. Wir alle kennen die hohen Rückfallquoten.Deswegen war und ist es stets das Bestreben der SPD gewesen, die Freiheitsstrafe generell zurückzudrängen. Zuletzt haben wir das bei den Debatten über die Strafaussetzung zur Bewährung versucht. Die Regierungsfraktionen sind uns dabei leider nicht in vollem Umfang gefolgt.Um so mehr — das sage ich mit Nachdruck — müssen wir darauf bedacht sein, im Strafvollzug die Resozialisierung wirklich in den Mittelpunkt zu stellen und all diese beeinträchtigenden Maßnahmen zurückzudrängen.
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9202 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Dr. de WithIm offenen Vollzug — das ist schon gesagt worden — hat der Gefangene ohnehin, zumindest, Herr Geis, in den meisten Ländern — nicht überall; es ist etwas unterschiedlich — , die Möglichkeit, seinen Arzt praktisch frei wählen zu können. Im geschlossenen Vollzug hat er diese Möglichkeit bisher nicht.Nun gebietet § 3 des Strafvollzugsgesetzes, daß das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich angepaßt werden soll. Dem entspricht das Recht auf freie Arztwahl sicherlich. Außerdem kann dies der Resozialisierung förderlich sein.Es wird deshalb im Rechtsausschuß Gelegenheit sein, den Hintergrund der bisherigen Regelung noch einmal genau zu überdenken und auf die bisherigen Erfahrungen, die wir seit mehr als zehn Jahren haben, zurückzukommen.Allerdings darf darauf verwiesen werden, daß die Frage der freien Arztwahl schon bei den Debatten über das Strafvollzugsgesetz des langen und breiten erörtert wurde. Man hat damals aus Argumenten heraus, die man nachvollziehen kann, nein gesagt. Ich sage dennoch: Wir sind offen und prüfen den neuerlichen Vorschlag unvoreingenommen.Zweifelhaft erscheint mir, ob es wirklich sinnvoll ist, den Anstaltsarzt aus dem Ressort der Justiz auszugliedern. Das kann zu schwierigem Kompetenzgerangel führen und unter Umständen das Gegenteil von dem bewirken, was Sie wollen. Aber das ist keine Haupt- und Staatsaktion.Daß wir Sozialdemokraten für die Eingliederung des Gefangenen auch in die Krankenversicherung sind, bedarf keiner Frage. Ich habe gerade erwähnt, wir haben das mehrfach, zuletzt in unserer Kleinen Anfrage 1987, gefordert. Wir fordern es jetzt um so mehr, als die Kosten ja gar nicht so hoch sind, wie viele glauben. Sie belaufen sich im Jahr für alle Länder nur auf 70 bis 80 Millionen DM. Auf jedes Land entfällt damit ein relativ kleiner Betrag.Allerdings weiß ich aus leidvoller Erfahrung auch, Herr Minister, daß die Finanzminister und Finanzsenatoren nicht selten der Justiz in diesem Fall die Feder führen und den Rotstift ansetzen. Ich hoffe, wir haben uns da richtig verstanden.Hier wird weiter vorgeschlagen, die Vorschrift der Strafprozeßordnung über die Möglichkeit der Gewährung eines Strafaufschubs oder einer Strafunterbrechung dahin gehend zu ergänzen, daß diese Gewährung erfolgen müsse, wenn der Gefangene an einer chronisch progressiven Krankheit mit sehr wahrscheinlich tödlichem Ausgang leidet. Gedacht ist hier an AIDS-Fälle und an andere Fälle, vornehmlich wahrscheinlich an unheilbare Krebserkrankungen. Ich sage: Jedermann, auch dem Normalbürger auf der Straße, ist einsichtig, daß Fälle vorkommen, wo man, buchstäblich gesagt, Gnade vor Recht ergehen lassen muß.Nur, ich habe mich bei vielen Stellen umgehört. Dieses Problem ist mit dem gegenwärtigen Gesetzesinstrumentarium und auch mit dem Gnadenrecht der Länder bisher befriedigend erledigt worden. Die Länder leiten in solchen Fällen, wie Sie sie jetzt im Auge haben, von sich aus, von Amts wegen, also ohne Anstoß von dritter Seite ein Begnadigungsverfahren ein
und gewähren den Betroffenen die Möglichkeit, wenn sie es wünschen, draußen weiterzuleben.Nicht zustimmen, Frau Nickels, können wir Ihrem Vorschlag, die Zwangsernährung ersatzlos zu streichen. Wir haben darüber bis 1985 eine große zweite Debatte geführt und sind damals nach Anhörungen, zuletzt in Berlin, zu einer Änderung gekommen. Seitdem ist darüber die Diskussion im Kern abgeflaut, weil wir ein vernünftiges Instrumentarium geschaffen haben, das allen Seiten einigermaßen gerecht wird. Es wird wohl keine Bestimmung geben, die jedem entsprechen kann.Die seinerzeitige Novellierung hatte eine Erfahrungsbasis, die wir, als das Gesetz selbst konzipiert wurde, in dieser Form noch nicht hatten. Ausgeschlossen ist jetzt, daß gegen den freien Willen des Gefangenen eine Zwangsernährung erfolgt. Damit ist sichergestellt, daß eine zwangsweise durchgeführte Ernährung weder in unwürdiger noch in unmündiger Weise durchgeführt wird, vielmehr nur dann angewendet werden kann, wenn der Gefangene keine freie Willensbestimmung mehr hat. Dann aber muß sie nach meinem Dafürhalten und nach unserer Meinung durchgeführt werden, schon aus haftungsrechtlichen Gründen, aber ganz sicher auch aus dem Recht und der Verpflichtung der staatlichen Fürsorge heraus.Wir können auch darüber noch einmal die Erfahrung austauschen. Nur meine ich, es hat sich seitdem im Grunde wenig geändert.Wir werden morgen einen Bundesratsentwurf zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes zu beraten haben. Ich gehe davon aus, meine Damen und Herren, daß wir beide Entwürfe zur Beratung verbinden. Wir alle wissen, daß die Träger der Justizvollzugsanstalten bei uns allein die Länder sind. Deswegen ist ein intensiver Meinungsaustausch mit den Ländern schon bei den Beratungen im Rechtsausschuß erforderlich. Ich bitte die Länder deshalb — leider ist hier niemand von den Ländern anwesend — , uns ihre Erfahrungen und ihr Wissen bereits in diesem Stadium zugänglich zu machen.Wir Sozialdemokraten jedenfalls werden unvoreingenommen, ohne auf gewisse Strömungen zu schielen, die bisher von uns eingeschlagene Politik im Strafvollzugswesen fortentwickeln,
die da heißt: weitere Anpassung an die allgemeinen Lebensverhältnisse im Sinne der Resozialisierung, soweit die Sicherheitsbedürfnisse dies erlauben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzenwurf der GRÜNEN zur Verbes-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9203
Funkeserung der medizinischen Versorgung für Gefangene berührt zweifellos eine wichtige Aufgabenstellung auch des Parlaments. Nicht immer — da stimmen wir völlig überein, Frau Nickels — ist die medizinische Versorgung der Strafgefangenen optimal. Sie ist da, sie ist sicherlich in vielen Bereichen auch gut, aber sie ist eben nicht optimal. Ob jedoch eine Verbesserung durch Gesetze erreicht werden kann, das kann man wohl auch bezweifeln.Viel wichtiger ist die Verbesserung der tatsächlichen Verhältnisse. Hierzu reichen die bisherigen Rechtsvorschriften weitestgehend aus, wenn ich Ihnen auch zustimme, daß einiges geändert werden muß.Ich habe jedoch den Eindruck, daß es Ihnen von den GRÜNEN nicht nur um die bessere medizinische Versorgung der Gefangenen geht, sondern auch um eine Änderung der Rechtsstellung der Gefangenen. Die medizinische Versorgung wird von Ihnen lediglich als Vehikel benutzt, um Strafvollzugsbestimmungen einseitig zugunsten der Gefangenen ohne Rücksicht auf die derzeitigen Realitäten des Strafvollzugs zu verbessern.Ich möchte aber nicht mißverstanden werden. Wir sind für einen humanen Strafvollzug und für möglichst individuelle Regelungen, die Rücksicht auf die besonderen Belange des Strafgefangenen nehmen. Wir müssen aber auch auf die Realitäten des Strafvollzugs Rücksicht nehmen, und zwar auf die nach wie vor nicht immer befriedigenden räumlichen Verhältnisse. Viele Strafanstalten sind von ihren baulichen Verhältnissen her für einen modernen Strafvollzug nach wie vor nicht geeignet. Die Länder haben aber bei der derzeitigen Haushaltslage wenig Spielraum für zweckdienliche Neubauten.Wir müssen bei der Abfassung von Strafvollzugsgesetzen auch auf die personelle Situation in den Strafvollzugsanstalten Rücksicht nehmen, sowohl was die Krankenpflege als auch was das Bewachungspersonal angeht. Auch hier gibt es bei den Ländern enge Haushaltsvorgaben.Dann möchte ich noch ganz kurz auf die einzelnen Vorschläge eingehen, die Sie von den GRÜNEN unterbreitet haben. Natürlich wäre es gut, wenn die freie Arztwahl stärker ermöglicht werden könnte. Auf der anderen Seite muß aber auch berücksichtigt werden, daß sich der Strafgefangene in einem besonderen Gewaltverhältnis befindet und auf die besonderen Sicherheitsbedürfnisse Rücksicht genommen werden muß.In diesem Zusammenhang ist an die Notwendigkeit der Personalbegleitung zum Arzt zu denken, aber auch daran, daß der Rechtsanspruch auf freie Arztwahl auch von Gewaltverbrechern und Strafgefangenen mit besonderer krimineller Energie zu Fluchtversuchen genutzt werden könnte.Unter diesen Umständen erscheint mir eine individuelle Regelung der Arztwahl im Einvernehmen mit der jeweiligen Anstaltsleitung zweckdienlich zu sein. Dies wird bereits heute durchaus praktiziert.Die Erweiterung des Mindestaufenthalts im Freien ist sicherlich in einzelnen Bereichen zweckmäßig, aber auch da kann man — und man muß es wohl auch — auf die besonderen Bedürfnisse der Anstalt Rücksicht nehmen. Deswegen ist hier lediglich von einem Mindestaufenthalt die Rede. Ein weiterer Aufenthalt im Freien ist ja durchaus möglich.Mit Entschiedenheit wird von uns jedoch abgelehnt, daß durch den privaten Arzt die Verlegung in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges angeordnet werden kann. Dies möchten wir nach wie vor den Vollzugsbehörden überlassen. Schließlich haben sie gegenüber der Öffentlichkeit die Verantwortung für den ordnungsgemäßen Vollzug der Haftstrafe.Von uns wird auch die Nr. 10 Ihres Entwurfs abgelehnt, wonach die Möglichkeit, zwangsweise medizinische Untersuchungen, Behandlung und Ernährung durchzuführen, gestrichen werden soll. Da kann ich mich an das anschließen, was Herr Dr. de With schon gesagt hat, daß wir durchaus die Möglichkeit haben müssen, zwangsweise Ernährung vorzunehmen, auch im wohlverstandenen Interesse des betroffenen Strafgefangenen, der sich allzuoft in Situationen befindet, die seine freie Willensentscheidung zumindest beeinträchtigen.Wir sind auch nicht damit einverstanden, daß der medizinische Dienst der Justizvollzugsanstalten unter die Aufsicht der Gesundheitsbehörden gestellt wird, weil dann die besonderen Belange der Strafjustizverwaltung nicht mehr berücksichtigt werden können.Das gleiche gilt für die Streichung der Möglichkeit, die Pflege der Gefangenen durch Justizbedienstete ausüben zu lassen, die keine Erlaubnis nach dem Krankenpflegegesetz besitzen. Wir meinen, daß auch dort die Flexibilität im Vollzugsdienst gewahrt sein muß.Die Erweiterung und die zwingende Ausgestaltung der Vorschriften der Strafprozeßordnung über Strafaufschub und Strafunterbrechung gemäß Art. 2 des Gesetzentwurfes der GRÜNEN ist meines Erachtens nicht notwendig; denn — auch darauf hat Herr Dr. de With schon hingewiesen — § 455 ff. der Strafprozeßordnung und die Gnadenregelung der Länder geben genügend Möglichkeiten, auf die individuellen Verhältnisse der Strafgefangenen einzugehen. Im übrigen sind mir da überhaupt keine Fälle bekannt, wo es zu Härten gekommen ist.
Die Einbeziehung der Strafgefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung ist wünschenswert. Genauso, wie dies eine alte Forderung der SPD ist, ist es auch eine alte Forderung der FDP. Dies ist leider an den leeren Kassen der Länder gescheitert. Wir werden aber dort nachhaken müssen und versuchen müssen, hier noch Verbesserungen herbeizuführen.
— So einfach ist es ja nicht. Sie müßten einmal in die Länder gehen und einen Haushalt aufstellen. Nur in Kraft setzen, das ist wirklich zu einfach.Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir werden uns in den anschließenden Beratungen im Rechtsausschuß mit dem Gesetzentwurf der GRÜNEN intensiv auseinandersetzen. Eine Reihe von Anregungen und
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9204 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
FunkeBedenken der GRÜNEN sind sicherlich zu berücksichtigen. Dabei müssen Wunsch und Realität des Strafvollzugs miteinander abgewogen werden. Wir müssen die individuellen Rechte des Strafgefangenen auch gegenüber dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung abwägen. Schließlich können leider auch finanzielle Gesichtspunkte nicht ganz außer acht gelassen werden.Wir werden uns bei diesem Abwägungsprozeß — das sage ich Ihnen zu, Frau Nickels — intensiv beteiligen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Herr Engelhard.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wo Menschen in ihrer Freiheit beschränkt und dem Strafvollzug unterworfen sind, ist die Sorge um diese Menschen und ihre Gesundheit für den Staat ein oberstes Gebot. Das Strafvollzugsgesetz enthält deshalb ganz besonders ausführliche Regelungen über die Gesundheitsfürsorge für Gefangene.Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes im Jahre 1977 sind diese Vorschriften fortentwickelt worden. Sie nehmen Rücksicht sowohl auf die Eigenart der ärztlichen Berufsausübung als auch auf die Bedürfnisse eines wirkungsvollen Strafvollzugs. Die Leistungen zur Gesundheitsfürsorge in den Justizvollzugsanstalten sind denen der gesetzlichen Krankenversicherung angeglichen und zuletzt — dies sollte nicht vergessen werden — durch das Gesundheitsreformgesetz vom 1. Januar dieses Jahres auch verbessert worden. Vorsorgeleistungen wurden damit auf Herz-, Kreislauf-, Nieren- und auch Zahnerkrankungen erstreckt. Gefangene, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis arbeiten, wurden in die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen, und der ärztliche Notdienst wurde auch auf die Justizvollzugsanstalten erstreckt.Die in dem Entwurf der GRÜNEN vorgeschlagenen weiteren Änderungen sind zum Teil rechtlich problematisch, zum Teil sind sie zur Zeit nicht realisierbar. Jedem einzelnen Gefangenen die an sich wünschenswerte und von uns voll bejahte freie Arztwahl als Recht einzuräumen verbietet sich ganz einfach aus Gründen eines ordnungsgemäßen Vollzugs und aus Gründen organisatorischer Art.Aber auch die von den GRÜNEN gewünschte Gleichbehandlung ist gleichfalls ein Grund, der Derartiges verbietet. Auch die Frage der personellen Ausstattung der Vollzugsanstalten steht dem entgegen.Meine Damen und Herren, das Gesundheitsreformgesetz hat deshalb nur Gefangenen, die etwa zur Vorbereitung ihrer Entlassung außerhalb der Anstalt in einem normalen Arbeitsverhältnis arbeiten, das Recht der freien Arztwahl und deren praktische Ausübung eingeräumt.Im übrigen wurde die ärztliche Betreuung in den Vollzugsanstalten in den vergangenen Jahren durchEinstellung qualifizierter Ärzte und von Pflegepersonal ständig verbessert. Damit ist eine ausreichende ärztliche Versorgung der Gefangenen auch innerhalb der Vollzugsanstalten gewährleistet.Die Einbeziehung der Gefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung ist — und ich unterstreiche dies noch einmal sehr nachdrücklich — von der Bundesregierung immer und immer wieder angestrebt worden. Die Bundesregierung hat hierzu mehrere Gesetzesinitiativen eingebracht, die aus finanziellen Gründen aber immer wieder gescheitert sind.Als Bundesminister der Justiz werde ich mich — wie auch in der Vergangenheit — weiterhin nachdrücklich für diese Einbeziehung einsetzen.Meine Damen und Herren, soweit die GRÜNEN fordern, die gesetzlichen Regelungen über Aufschub und Unterbrechung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zu erweitern, insbesondere die Vollstreckung etwa bei einer AIDS-Erkrankung des Verurteilten zwingend zu verbieten, werfen sie rechtliche Probleme ganz beträchtlicher Art auf. Ich erinnere: Gemäß § 2 Abs. 1 der Strafvollstreckungsordnung ist die richterliche Entscheidung im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege mit Nachdruck und Beschleunigung zu vollstrecken. Gegen diesen Grundsatz sind die Vorschläge der Grünen abzuwägen.Das geltende Recht enthält in den §§ 455 ff. der Strafprozeßordnung eine sehr differenzierte und ausgewogene Regelung der Fälle, in denen die Vollstrekkung einer Freiheitsstrafe aufzuschieben ist, und auch eine Regelung für die Fälle, in denen sie aufgeschoben oder unterbrochen werden kann. Diese Vorschriften, die zum Teil noch nicht einmal drei Jahre alt sind, tragen den Interessen und Bedürfnissen der Betroffenen in sehr hohem Maße Rechnung.Würde, wie der Entwurf vorschlägt, die gesetzliche Regelung etwa dahin ergänzt, daß bei einer AIDS-Erkrankung eine Freiheitsstrafe in keinem Falle vollstreckt werden dürfte, ja, vielleicht auch bei einem AIDS-Infizierten, bei dem die Krankheit noch gar nicht ausgebrochen ist, die Vollstreckung regelmäßig ausgeschlossen wäre, dann könnte dies ganz zwangsläufig als ein strafrechtlicher Freibrief für die Betroffenen mißverstanden werden. Eine strafgerichtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ginge bei solchen Tätern weitgehend ins Leere, und das Wort und der Spruch der Gerichte hätten quasi nur noch eine symbolische Bedeutung. Daß dies, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, so nicht richtig sein kann, ja, nicht im wohlverstandenen Interesse der Strafrechtspflege, auch des Schutzes der Öffentlichkeit zumindest vor einem gewissen Kreis von Tätern liegen kann, liegt meines Erachtens auf der Hand.Das an sich erstrebenswerte Ziel des Gesetzentwurfs, die Gesundheitsfürsorge bei Gefangenen zu verbessern, werden wir durch Änderungen gesetzlicher Vorschriften kaum erreichen können. Ich meine, die Länder haben gezeigt, daß die Sorge um eine bestmögliche ärztliche Betreuung der Gefangenen für sie eine Selbstverständlichkeit bei der Durchführung des Strafvollzugs ist. Es wird deshalb vor allem darauf ankommen, die Länder in ihren Bemühungen um eine bessere Gesundheitsfürsorge für die Gefangenen, wo
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9205
Bundesminister Engelhardimmer uns dies möglich ist, nachhaltig zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, damit schließe ich die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3243 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung „Sport und Umwelt"
— Drucksache 11/2134 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Sportausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Auch damit ist das Haus einverstanden. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Nelle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren den Bericht der Bundesregierung „Sport und Umwelt" zu einem Zeitpunkt, da die deutsche Sportöffentlichkeit — aber nicht nur diese — überaus erschrocken über den Tenor des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Januar 1989 zur Sportanlage Tegelsbarg in Hamburg ist, demzufolge an Werktagen nach 19 Uhr und an Sonn- und Feiertagen überhaupt kein Sport mehr betrieben werden darf.Mit diesem Urteil, meine Damen und Herren — ich darf dies kurz in Erinnerung rufen — , obsiegte die Anwohnerin einer Bezirkssportanlage mit ihrem Begehren nach Ruhe über die Anliegen von nach Tausenden zu zählenden Männern und Frauen, Kindern und Jugendlichen,
sich in ihrer Freizeit sportlich zu betätigen.
Ohne hier Urteilsschelte betreiben zu wollen — der genaue Wortlaut des Urteils muß erst noch geprüft werden — , läßt sich dennoch feststellen, daß mit dem Tenor dieses Urteils, sollte es weiter Schule machen, wesentliche Bereiche unserer Gesellschaftspolitik in Frage gestellt werden. Ich denke hierbei an die Sozialarbeit, die im Sportverein betrieben wird, an die Jugendarbeit, an die Seniorenbetreuung, an die Pflege des Gemeinschaftslebens und nicht zuletzt an die Förderung des Leistungsgedankens. Wer sich heute überdieses Urteil freut, darf sich morgen nicht wundern, wenn neue Lasten auf staatliche Institutionen zukommen. Wer dem Sport seine Grundlage nimmt, seine sozialen Funktionen wahrzunehmen, setzt Ursachen für neue Probleme.Dieses Urteil beweist — wenn auch auf Grund der spezifischen Situation in Hamburg-Tegelsbarg, wo zunächst die Wohnbebauung da war und dann die Bezirkssportanlage errichtet wurde — , daß die Hoffnung der Bundesregierung, der Länderumweltminister- sowie der Ländersportministerkonferenz offensichtlich nicht aufgeht, daß die zwischen den Emissionsschutzbehörden der Länder und den für den Sport Verantwortlichen gefundene Lösung über die Bewertung der von Sportanlagen ausgehenden Geräusche zur Entschärfung der Konfliktsituation beitragen würde. Offensichtlich sind entweder diese Empfehlungen noch nicht bis zu den Gerichten durchgedrungen, oder aber die Gerichte haben sie nicht entsprechend zur Kenntnis genommen, weil es sich eben nur um Empfehlungen und nicht um rechtlich verbindliche Normen handelt.
Sollte letzteres der Fall sein — die Urteilsauswertung wird dies zeigen müssen — , werden wir nicht umhinkommen, diese Empfehlungen rechtlich verbindlich umzugestalten.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den Bericht der Bundesregierung „Sport und Umwelt". Der Bericht macht deutlich, daß es möglich ist, zu einem Interessenausgleich zwischen den Bedürfnissen des Sports und den Belangen des Umweltschutzes zu kommen, wenn man will.
Lange hatte es nicht den Anschein, als wären alle Betroffenen guten Willens. Allzusehr bestand jede Seite auf der Richtigkeit ihrer Argumente. Wenn ich mich an eine entsprechende Anhörung vor dem Sportausschuß des Deutschen Bundestages erinnere, kann ich nicht umhin, festzustellen, daß es die Vertreter des organisierten Umweltschutzes waren, die glaubten, auf Zusammenarbeit verzichten zu können.Vor diesem Hintergrund ist es um so erfreulicher, daß der Deutsche Sportbund und der Naturschutzring in einer gemeinsamen Erklärung die obengenannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts kritisiert haben.
Sie stellen in ihrer Erklärung fest, daß die Alternative zu Sportstandorten in Wohngebieten nur eine Inanspruchnahme des ökologisch wertvollen Stadtrandes sei. Den Hardlinern, die es auf beiden Seiten noch gibt, wird diese gemeinsame Erklärung sicherlich unangenehm aufgestoßen sein.Die inzwischen vorliegenden Urteile gegen Sportanlagen in Wohngebieten machen deutlich — ich verweise auf Hamburg, wo mittlerweile 62 der 350 Sportanlagen mit Beschwerden belegt sind —, daß es nicht
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9206 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Nelleprimär der Sport ist, der auf der Anklagebank sitzt, sondern die Städteplaner, die versäumt haben, das Wohn- und Freizeitverhalten der Bevölkerung städtebaulich so zu realisieren, wie es die Soziologen schon lange prognostizieren.
Herr Kollege, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Nelle, Sie sind nebenamtlich noch Präsident des Niedersächsischen Fußballverbandes. Sie kennen die Szene also ziemlich genau. Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie trotz der inzwischen über 80 gegen den Sport laufenden Entscheidungen Ihre Überlegungen, ob eine Gesetzesinitiative nötig sei oder nicht, von der Auslegung einer einzigen Entscheidung, wenn auch des Bundesverwaltungsgerichts, abhängig machen?
Nein, Ihre Auffassung ist falsch.
Ich habe betont: Es ist eine Einzelentscheidung. Dennoch wissen wir zu dieser Stunde, daß vor dem obersten Verwaltungsgericht in Berlin die Richter durchaus darüber gesprochen haben, ob etwa die LAI-Hinweise, ob vor allen Dingen die Übereinkunft der Umweltminister- und der Sportministerkonferenz bindende Norm sind. Sie haben dies abgelehnt. Darum, habe ich gesagt, werden wir, wenn sich dies bestätigt — das Urteil liegt uns nicht vor, die Begründung erst recht nicht —, zusammen, so meine ich, darauf dringen müssen, daß wir zu verbindlichen Normen kommen.
Gestatten Sie noch eine Frage?
Bitte schön.
Herr Nelle, ich glaube, ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt. Wollen Sie eine Gesetzesinitiative Ihrerseits von der Auslegung einer einzigen Entscheidung abhängig machen, wo es doch inzwischen schon 70 bis 80 gleichgeartete Entscheidungen gegen den Sport gibt?
Nein, wir machen das nicht von einer Einzelentscheidung abhängig, sondern wir haben bereits eine Reihe von Maßnahmen innerhalb der Koalition auf den Weg gebracht — so sage ich einmal —, um sicherzustellen, aber auch um zunächst sehr vorsichtig abzufragen, ob wir zu einheitlichen Normen kommen können.
Es sind also Planungsfehler, die Richter heute veranlassen, Sportanlagen stillzulegen. Sie berufen sich dabei mehrheitlich auf Hinweise des Länderausschusses Imissionsschutz — kurz LAI genannt —, in denen die mit der Ausübung des Sports verbundenen Geräusche als lästiger hingestellt werden denn der Verkehrslärm, der Industrielärm oder der Fluglärm.Die Bedeutung des Sports und seiner Ausübung für unser Gemeinwesen wurde bei der Berufung auf diese LAI-Hinweise völlig außer acht gelassen. Eine Sozialadäquanz des Sports wurde förmlich negiert. Sport wurde statt dessen mit Maluszuschlägen belastet. Diese LAI-Hinweise geistern noch heute durch die Gerichtssäle und sind bisher offensichtlich in den Köpfen sich gestört fühlender Anlieger oder aber auch bei den Richtern nicht durch die gemeinsame Empfehlung von Sportminister- und Umweltministerkonferenz ersetzt.Insgesamt haben wir es mit folgendem Problem zu tun: Wir müssen einerseits bestehende Anlagen in Wohngebieten schützen und für die Zukunft die Errichtung neuer Anlagen ermöglichen. Der Sport verliert seine Fähigkeit, zur Kommunikation der Bürger beizutragen, wenn man, um ihn auszuüben, erst öffentliche oder private Verkehrsmittel bewegen muß. Was wir brauchen, ist der Sportplatz „um die Ecke". Wir brauchen in unserer Gesellschaft ein Gefühl dafür, daß unsere Gesellschaft ärmer wäre, würden sich unsere Kinder und Jugendlichen, unsere Männer und Frauen jeden Alters nicht mehr auf dem Sportplatz, in der Sporthalle oder im Schwimmbad treffen.Die Zahl derer, die versuchen — meistens mit Erfolg —, durch Sport zu mehr Lebensqualität zu kommen, wird ständig größer. Die Quote der im Deutschen Sportbund Organisierten hat die 30-%-Grenze der Bevölkerung schon überschritten. Nimmt man diejenigen hinzu, die Sport unorganisiert zu einem Teil ihrer Lebensgestaltung gemacht haben, so ist es nicht vermessen, zu sagen: Es ist mehr als die Hälfte der Bundesbürger.Wir sind derzeit noch weit davon entfernt, dem Rechnung zu tragen, was der Bericht des Bundestagsausschusses für Bauwesen, Raumordnung und Städtebau zur Bedeutung des Sports aussagt: „Sport ist ein Teil der kommunalen Kultur" . Wir müssen ihr nur planerisch den Raum geben, damit sie gestalterisch wirksam werden kann.Daher ist es notwendig, bei der anstehenden Novellierung der Baunutzungsverordnung die Empfehlungen des Bundestagssportausschusses zu verwirklichen. Der Sportausschuß setzt sich dafür ein, die wohnnahe Sportanlage auch in reinen Wohngebieten zu ermöglichen.Die Nähe gemeindlicher Sport- und Freizeitanlagen zu reinem Wohngebiet hat der Verwaltungsgerichtshof München mit Urteil vorn 2. Dezember 1986 bereits bestätigt. Er hat festgestellt, daß die Auswirkungen des Lärms nicht nur von der physikalischen Lärmintensität, sondern auch von der sozialen Verträglichkeit her zu sehen sind. Deshalb dürfe der Aspekt, daß der Sport zum Wohnumfeld im weiteren Sinne gehört, nicht außer Betracht bleiben. Sportgeräusche seien wegen ihrer Nähe zum Wohnumfeld sozialverträglicher und damit in höherem Maße zumutbar. —Es bleiben also die Sozialadäquanz des Sports und die Ortsüblichkeit der Sportanlagen zu klären.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9207
NelleSchon seit vielen Jahren wirbt der Deutsche Sportbund mit dem Slogan, daß ein gesunder Sport nur in einer gesunden Umwelt möglich sei. Er fordert zwar seine Mitglieder auf, die Natur zum Sport zu gebrauchen, aber er warnt davor, sie zu mißbrauchen. Entsprechende Regeln vor allem der Wassersportverbände haben dazu geführt, das Umweltbeschädigungen durch den sogenannten organisierten Sport kaum noch zu verzeichnen sind.In der undifferenzierten Diskussion hilft das — ich weiß das — allerdings weniger, wenn man gleichzeitig feststellen muß, daß immer mehr Freizeitsportler die Natur nach eigenem Gusto benutzen. Hier kommt es darauf an, daß noch mehr Bewußtseinspflege dazu beiträgt, daß sich auch bei dem letzten Hobbysportler die Erkenntnis durchsetzt, daß er durch sein Tun Mitverantwortung trägt, damit nachfolgende Generationen ebenfalls noch in einer gesunden Umwelt einen gesunden Sport betreiben können.
Wer die derzeit stattfindende Diskussion um die Gefahrensregelung für das Wattenmeer verfolgt, hat den Eindruck, als würde hier einmal mehr das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Kein Wassersportler hat Verständnis dafür, daß ihm bewußte Umweltschädigung unterstellt wird, wenn gleichzeitig gewerbsmäßige Nutzung des Wattenmeers zulässig sein soll.
— Auch ich glaube, daß das milde ausgedrückt ist, Herr Kollege Schmidt. — Ich warne davor, in dieser Diskussion zu glauben, die Sportler seien hier das schwächste Glied, das man getrost treffen könne.Es ist sicherlich richtig, wenn die Wissenschaftler feststellen, daß die Umwelt durch Sport belastet werden kann. Gerade in den Alpen haben wir dies tagtäglich vor Augen. Unter dem Stichwort „Sport und Tourismus" wurde hier in den vergangenen Jahrzehnten systematisch die Umwelt ausgebeutet und belastet. Bei allem Verständnis für die wirtschaftlichen Notwendigkeiten der Alpenregion sollten wir erkennen, daß dieses Gebiet an der Grenze seiner Belastbarkeit angekommen ist.Der Vorschlag des CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler vor dem Europäischen Alpinistengipfel in Chamonix 1988, einen internationen Pakt zum Schutz der Alpen zu schließen, verdient nicht nur Beachtung, sondern tatkräftige Unterstützung.
Aus formalrechtlichen Gründen war es bisher nicht möglich, die Sportorganisationen als Träger öffentlicher Belange anzuerkennen und ihre Mitwirkungen bei den verschiedenen Planverfahren verbindlich zu regeln. Sport- und Bauausschuß des Bundestages haben aber gemeinsam in ihrer Stellungnahme zum neuen Baugesetzbuch die Formel geprägt: Die Sportorganisationen sollen wie Träger öffentlicher Belange behandelt werden. Dies gibt den Planungsbehörden die Möglichkeit, frühzeitig zu einem Interessenausgleich zwischen Sport und Umwelt zu kommen. Durchentsprechende Erlasse auf Länderebene ist es möglich, im Rahmen dieser Gesamtvorgabe die Sportorganisationen je nach Zuständigkeit in die verschiedenen Planverfahren einzubinden.Einige Länder praktizieren dies bereits. Mir sind keine negativen Folgen bekannt. Im Gegenteil!Ich kann also die Länder nur ermutigen, hier über den Schatten des Formalismus zu springen und einen konstruktiven Beitrag zur Koexistenz von Sport und Umwelt zu leisten.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir stimmen dem Überweisungsvorschlag zu. Unsere Erwartungen gehen dahin, im Zuge der Ausschußberatung dieses Berichts genügend Erfahrung zu sammeln, um verbindlich klären zu können, was noch getan werden muß, um Konfliktpotential zwischen Sport und Umwelt zu beseitigen. Dazu bedarf es der Einsicht aller Beteiligten und aller Betroffenen. Erste Schritte sind gemacht. Ich bin zuversichtlich, daß weitere Schritte folgen werden und wir am Ende dieser Debatte dann feststellen können: In unserem Land kann man einen gesunden Sport in einer gesunden Umwelt betreiben.
Das Wort hat der Abgeordnete Lambinus.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt den Bericht „Sport und Umwelt" der Bundesregierung. Dieser geht auf eine Initiative meiner Fraktion zurück. Wichtig ist, daß in diesem Bericht die Übereinstimmung zwischen den Umwelt- und den Sportministern der Länder für einen dauerhaften Interessenausgleich zwischen Sport und Umwelt festgestellt wird. Dies ist die eine Seite. Die Kehrseite der Medaille darf allerdings nicht übersehen werden, denn Maßnahmen werden immer dringlicher. Leider wurde, als die Kompetenz für den Umweltschutz beim Bundesinnen- und -sportminister Zimmermann lag, wertvolle Zeit vertan.
Die Problematik wurde in den zurückliegenden Jahren offenkundig unterschätzt. Partnerschaftliche Zusammenarbeit und wirksame Hilfen für die Sport- und Umweltschutzorganisationen blieb en im wesentlichen aus. Um so dringender sind jetzt die Beratungen, der Erfahrungsaustausch mit den Sachverständigen und Entscheidungen über notwendige Gesetzesänderungen; also die inhaltliche und rechtliche Gestaltung eines Miteinanders von Sport und Umwelt.Vor dem Hintergrund zahlreicher Urteile, die allesamt Spiel- und Sportmöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene rigoros einschränken, möchte ich mich einigen grundlegenden Aspekten zuwenden, die sich insbesondere mit dem sogenannten Lärmschutz befassen.
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9208 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
LambinusMein Kollege Axel Wernitz wird sich ergänzend den Bereichen widmen, die für das Verhältnis Sport und Naturschutz von großer Wichtigkeit sind.
— Herr Bötsch, seien Sie ruhig.Das bereits angesprochene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin vom Januar dieses Jahrs im Rechtsstreit um den Betrieb der Sportanlage Hamburg-Tegelsbarg hat endgültig klargemacht, daß der Bestand und die künftige Errichtung von orts- und wohnnahen Spiel- und Sportanlagen ohne Gesetzesänderungen künftig offensichtlich nicht mehr möglich ist.
Mehr als 80 Urteile bestätigen: Es geht um die Kernfrage, ob etwa das öffentliche und private Nachbarrecht, die Baunutzungsverordnung oder das BundesImmissionsschutzgesetz weiterhin Einzelinteressen mit Vorrang vor dem Gemeinwohl ausstatten. Löst die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Kettenreaktion aus, wird künftig in vielen Wohnbereichen der Städte und Gemeinden kein aktives Leben, sondern Friedhofsruhe herrschen.
Wir verkennen keineswegs, daß beispielsweise durch heranrückende Bebauung oder ähnliche Situationen Lärmschutzmaßnahmen zwischen Spiel- und Sportanlagen und den Wohngebieten unumgänglich sind. Hier soll aber nicht durch Gerichtsurteile für die Ganz- oder Teilsperrung, sondern mit öffentlicher Unterstützung durch Schutzmaßnahmen für Abhilfe gesorgt werden.Wir können es nicht hinnehmen, daß natürliche, menschliche Spiel- und Sportgeräusche mit Straßen- und Flugverkehr, dem Krach von Preßlufthämmern oder Fabriklärm gleichgesetzt werden.
Wer Spiel und Sport von Kindern nicht ertragen kann, soll nicht nach dem Ordnungsamt oder den Gerichten rufen, sondern soll sein eigenes Verhalten überprüfen.
Wir Sozialdemokraten halten es für unverzichtbar, daß der Sport- und Spielplatz an der Ecke zum selbstverständlichen Bestandteil einer menschlichen Städteplanung gehört.
Orts- und wohnnahe Sport- und Freizeitanlagen müssen im Interesse der Kinder und Jugendlichen und der älteren und behinderten Mitbürger in jedem Wohngebiet vorhanden sein. Doch diese sozialen und sportpolitischen Zielsetzungen sind durch die geltende Rechtsprechung nicht mehr gewährleistet, in vielen Fällen sogar gefährdet. Die meisten Gerichte berücksichtigen offenkundig die Empfehlung der Umwelt- und der Sportminister der Bundesländernicht, sondern sprechen — was verständlich ist — Recht nach den geltenden Gesetzen und Verordnungen.Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, ohne weiteren Verzug zu den bevorstehenden Ausschußberatungen Vorschläge zu unterbreiten, welche Gesetzesänderungen sie für notwendig hält, um den Bestand und die künftige Errichtung von Spiel- und Sportanlagen in den Wohngebieten der Städte und Gemeinden dauerhaft zu sichern.Auch der Präsident des Deutschen Sportbundes hat in diesen Tagen in einem Schreiben an den Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten gefordert, endlich gesetzgeberisch aktiv zu werden.
— Herr Baum, Sie wissen, was geändert werden muß. Ich bin auf das gespannt, was Sie dann sagen werden.Wenn die Reaktionen der Fraktionen dieses Hauses auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin vom Januar dieses Jahres nicht nur Lippenbekenntnisse waren, scheinen interfraktionelle Beratungsergebnisse durchaus erreichbar zu sein. Wir Sozialdemokraten würden dies begrüßen.
Die in den letzten Jahren verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Sportorganisationen sowie den Umwelt- und Naturschutzverbänden hat deutlich gemacht, daß sich die Sport- und Jugendorganisationen in der zurückliegenden Zeit dem Schutz unserer Natur und Umwelt intensiver gewidmet haben, als es in der breiten Öffentlichkeit bekanntgeworden ist.
Die Deutsche Sportjugend ebenso wie die Wassersport- und Wintersportverbände, die Naturfreundejugend oder der Allgemeine Deutsche Hochschulsportverband haben hier, wie ich meine, gute Arbeit geleistet.
Es ist deshalb einfach nicht redlich, wenn alle Sportaktivitäten und daraus resultierende Belastungen pauschal den Sportorganisationen zugeschrieben werden. Mehr als 20 Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind in den rund 65 000 Sportvereinen organisiert. Aber weitere 10 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger treiben außerhalb der Organisationen und Vereine Sport. Wintersport und Surfen sind dafür beispielhaft.Dort, wo Beschränkungen erfolgen müssen, können nur gleiche Gebote oder Verbote für alle gelten. Es geht aber nicht an, daß im schutzbedürftigen Wattenmeer Wasserwanderer ausgesperrt, Wirtschaftsinteressen oder militärische Nutzung dagegen gestattet werden.
Das gleiche gilt für Flüsse und Seen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9209
Lambinus— Lachen Sie nicht! Es ist so!
Den immer noch vorhandenen Einleitungsgenehmigungen für Abwässer der Gemeinden und Industriebetriebe, die die Ökologie massiv belasten, stehen an gleicher Stelle Verbote für Ruderer und Paddler gegenüber. Dies kann nicht so bleiben.Vor dem Hintergrund der zu erwartenden Haltung der GRÜNEN möchte ich diese um eine kritische Selbstüberprüfung bitten, bevor der Berg der Forderungen und Schuldzuweisungen durch die GRÜNEN noch höher wird.Ein Beispiel: Es ist wenig glaubwürdig, wenn die GRÜNEN die rigorose Eindämmung des Skisports fordern, Mitglieder der GRÜNEN sich aber beim Helikopter-Skiing in Kanada tummeln.
Die SPD widersetzt sich einer Politik, die unsere Bevölkerung spaltet, nämlich in Umweltschützer und Umweltnützer.Deshalb werden wir dazu beitragen, daß die Beratungen des vorliegenden Berichts der Bundesregierung zügig geführt und mit Beschlüssen für einen dauerhaften Interessenausgleich zwischen Sport und Umweltschutz beendet werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wir begrüßen den Bericht der Bundesregierung. Er ist eine gute Grundlage für unsere weiteren Beratungen.Auch wir sind der Meinung, daß der Sport Beachtung verdient. Immer mehr Menschen treiben Sport. Sport für alle muß in der Natur möglich sein, aber nicht nur in der Natur, sondern auch im Wohnumfeld. Eine sportfeindliche Haltung lehnen wir ab.Auch wir haben Sorgen, die sich auf die Rechtsprechung beziehen. Es gibt sportfeindliche Tendenzen in der Rechtsprechung.Sport findet nicht mehr nur in klassischen Sportstätten statt, sondern auch in der Natur, und nicht mehr nur in den Sportorganisationen, sondern wird von vielen Menschen unabhängig von Organisationen betrieben. Sport dient der Lebensqualität und der Gesundheit. Der Staat — wir alle — wendet erhebliche Steuermittel dafür auf, daß Sport getrieben werden kann.Wie schon bei früherer Gelegenheit möchte ich sagen, daß Sportlärm nicht ohne weiteres mit anderen Lärmquellen gleichzusetzen ist. Es gibt hier ein Gutachten, das im Umweltbundesamt vorbereitet wird, über den Vergleich von Sport- und Gewerbelärm, das ich mit Interesse erwarte.Also, wir sagen dem Sport immer dann unsere Hilfe zu, wenn er ungerechtfertigterweise eingeschränkt werden soll. Es muß auch eine Rolle spielen, meine Damen und Herren, ob es sich hier um Einzelinteressen auf der einen Seite und Allgemeininteressen auf der anderen Seite handelt, d. h. das muß in die Waagschale geworfen werden.Ich bin auch der Meinung, daß der Sport an der Planung in den Ländern künftig mitwirken muß, wie ein Träger der öffentlichen Belange behandelt werden muß.
Ich bin also der Meinung, daß wir uns als Deutscher Bundestag, als Mitglieder des Sportausschusses um die Belange des Sportes intensiv kümmern müssen.Nun gibt es aber auch Interessen der Umwelt.
Es gibt Interessen der Umwelt im innerörtlichen Bereich und im außerörtlichen Bereich, im Bereich der Natur und Landschaft. Ich kann das zwar im einzelnen nicht ausführen, meine Damen und Herren, aber im Umweltgutachten der Sachverständigen 1987 sind die ganzen Bereiche aufgeführt, wo es zu Konflikten kommt.Ich erkenne dankbar an, daß in den letzten Jahren sehr viel geschehen ist, um diese Konflikte abzumildern, insbesondere von einer ganzen Reihe von Sportorganisationen. Aber es kommt dennoch zu einer ganzen Reihe von Konflikten durch Betätigungen, die wir alle vornehmen: durch Wandern beispielsweise;
durch Wandern über Dünen, sagt der Sachverständigenrat. Dünen sind gefährdet, wenn sie nicht geschützt werden; Moore können gefährdet werden; der Flugsport hat Umweltauswirkungen, der Wassersport, der Motorsport.
Es gibt also eine ganze Reihe von Belastungen der Natur, vom Skisport ganz zu schweigen. Der alpine Skisport hat bereits zu Zerstörungen der Landschaft geführt; das ist überhaupt nicht zu bestreiten. Der Sachverständigenrat sagt: Selbst der — von mir als umweltfreundlich eingeschätzte — Langlaufsport hat bereits gewisse Folgen für die Umwelt gehabt. Es gibt dazu auch wissenschaftliche Ausarbeitungen.Das heißt: Wir müssen, meine Kollegen, zu einem Ausgleich dieser Konflikte kommen. Mir gibt Hoffnung, daß es sich bei Sporttreibenden und Naturschützern eigentlich um eine Kategorie von Menschen handelt, die sich der Lebensqualität verpflichtet haben. Im Grunde sind wir ja in vielen Fällen umweltorientiert und sportinteressiert. Wir müssen also diesen Ausgleich aus einer Grundeinstellung heraus finden, die beide Interessenseiten respektiert.Ich appelliere in erster Linie an unsere Mitbürger und an die Organisationen, diese Konflikte im gegenseitigen Einverständnis zu lösen
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9210 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Baumund erst dann, wenn es nicht mehr geht, nach Gesetzen zu rufen und den Rechtsweg zu beschreiten.
Zu der notwendigen Konfliktlösung hat der Bundestag bereits Beschlüsse gefaßt. Die Sport- und Umweltministerkonferenz hat sich geäußert.Ich bin der Meinung — um jetzt einmal eine konkrete Maßnahme anzusprechen —: Wir müssen in der Novellierung der Baunutzungsverordnung dafür sorgen, daß für künftig auszuweisende Gebiete Kriterien festgelegt werden, die den Sport auch in allgemeinen Wohngebieten möglich machen müssen .. .
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
..., nicht in reinen Wohngebieten, aber in diesen allgemeinen Wohngebieten nach der Baunutzungsverordnung. Aber das — Sekunde, Herr Kollege Penner — kann alles nur für künftige Anlagen gelten, nicht für Altanlagen, auf die ich jetzt komme. — Ja, bitte.
Das ist ja ein Stichwort, Herr Kollege Baum. Also, die Änderung der Baunutzungsverordnung hilft überhaupt nicht, wenn ich an den Bestand denke, und das ist der Kern dessen, worum es geht.
Ich frage Sie: Sind Sie bereit, auch Wege gesetzgeberischer Initiativen mitzugehen, die den Bestand an wohnungsnahen Sportanlagen sichern helfen?
Herr Kollege, das betrifft die Ausführungen, die ich jetzt machen möchte. Ich habe zunächst über den Bereich der künftig auszuweisenden Gebiete gesprochen. Jetzt komme ich zu den Altanlagen.
Die Altanlagen — hier ist das Urteil zu Hamburg mehrfach zitiert worden — bieten große Probleme. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu Hamburg bitte ich nicht überzuinterpretieren. Wir müssen erst einmal die Begründung sehen. Wir müssen uns z. B. ansehen, Herr Kollege Nelle, ob die Richtlinien der Ministerkonferenzen in der ersten Instanz schon verabschiedet waren, ob also eine Revisionsinstanz sie berücksichtigen konnte.
Herr Kollege Baum, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt?
Wenn mir meine Redezeit nicht dahinschwindet.
Nein, die verschwindet nicht.
Herr Kollege Baum, würden Sie mir zustimmen, daß Ihre Verharmlosung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts dann wohl doch nicht mehr ganz stimmt, wenn Sie allein das Interview des Bundesverwaltungsgerichtspräsidenten im „Spiegel" dazu lesen, ohne die Urteilsbegründung zu kennen?
Herr Kollege, ich habe mir als Teil einer Staatsgewalt, nämlich des Parlaments, angewöhnt, eine andere Staatsgewalt — die Judikative — nur dann zu kritisieren, wenn ich sie wirklich genau verstanden habe, und dazu brauche ich die Begründung des Urteils. Ich warne uns im Sportinteresse davor, dieses Urteil aus der Situation, die wir kennen, überzuinterpretieren, mehr daraus abzuleiten, als möglicherweise drin ist. Ich warne Sie dringend davor, sonst binden wir uns selber unnötigerweise.
Es ist in Hamburg nach allem, was ich in vorläufiger Beurteilung weiß, so gewesen, daß es eine Fehlplanung war. Dort ist ein Sportplatz an ein Wohngebiet herangerückt worden, das seit Jahrzehnten bestanden hat, und es sind erhebliche Lärmbelästigungen gewesen, bis 100 Dezibel. Das muß man also sehen.
Wir brauchen für Altanlagen, Herr Kollege Penner, zunächst einmal ein Sanierungsprogramm. Wir müssen sehen, daß das miteinander erträglicher gemacht wird. Wir müssen uns fragen — wir haben uns vorgenommen, die TA Lärm zu überarbeiten, die Regierung hat das angekündigt — , ob wir nicht die TA Lärm in einem Teil auch als eine TA Freizeit und Lärm ausgestalten. Das wäre dann eine Rechtsgrundlage. Ich bin ganz offen, zu prüfen — wir werden in dieser Legislaturperiode auch über das Bundes-Immissionsgesetz beraten — , ob wir dort eine Regelung finden, die die Konfliktlösung erleichtert. Sie werden mir als Jurist zugeben, daß wir eine vollständige Konfliktlösung als Gesetzgeber nicht erreichen. Ich bin für solche gesetzlichen Überlegungen also offen. Ich meine, daß wir uns im Ausschuß mit diesen Regelungen sehr schnell befassen müssen, damit uns die Gesetze, die wir in diesem Parlament ohnehin noch beraten, nicht entschwinden und wir sie nicht mehr verändern können.
Zum Wattenmeer bekenne ich hier, daß ich eine abschließende Meinung nicht habe. Am 1. Februar 1989 hat eine Anhörung in Hamburg stattgefunden; das Protokoll liegt noch nicht vor. Hier gibt es Konflikte. Mir scheint es richtig zu sein, daß man dem Sport nicht verwehren kann, was andere dort tun; aber das möchte ich noch einmal ausloten. Wir werden uns auch mit dieser Verordnung des Verkehrsministers im Ausschuß sehr schnell befassen müssen.Im innerörtlichen Bereich müssen wir also vor allen Dingen die Konflikte in Sachen Lärm lösen. Im außer-
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Baumörtlichen Bereich Natur und Landschaft müssen wir auch noch eine weitere Bewußtseinsänderung bei unseren Bürgern und weitere Aufklärung herbeiführen, damit wir die Natur schonen. Mit einem Zauberstreich, meine Damen und Herren, des Gesetzgebers oder mit einer Entscheidung des Deutschen Bundestages sind die Probleme nicht zu lösen. Es werden immer schwierige Abwägungsentscheidungen im Einzelfall bleiben. Auch wenn wir ein weiteres Gesetz ändern, wird das so sein. Deshalb, meine ich, müssen wir — da komme ich auf eine Äußerung zurück, die Sie hier kritisiert haben — darauf dringen, daß unsere Bürger möglichst selber dazu beitragen, daß diese Konflikte gemindert werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büchner ?
Ich lasse das gerne zu.
Bitte schön.
Herr Kollege Baum, Ihren Appell in allen Ehren: Sind Sie denn bereit, sich unserer Aufforderung an die Bundesregierung anzuschließen, einmal Vorschläge zu machen, welche Gesetze denn geändert werden müßten, um der Flut von Urteilen gegen den Sport Einhalt zu gebieten?
Herr Kollege, ich möchte das auch. Ich möchte also geprüft wissen, ob man hier durch Gesetzesänderungen der Problemlösung näher kommt. Ich sage Ihnen aber frank und frei: Ich habe kein Patentrezept. Ich könnte Ihnen heute keine Vorschrift des Bundes-Immissionsschutzgesetzes auf den Tisch legen, mit der dieses Problem zu lösen wäre.
Ich habe mit Interesse festgestellt, daß auf meinen Zwischenruf hin auch Herr Kollege Lambinus nicht gesagt hat, was zu machen ist. Er hat nur gesagt, man sollte es einmal prüfen. Ich halte eine solche Prüfung für notwendig. Genannt habe ich Ihnen die Baunutzungsverordnung, die TA Lärm, das Bundes-Immissionsschutzgesetz. Das alles werden wir uns anschauen, und dann werden wir hoffentlich gemeinsam zu einer Lösung kommen, die dann das fast Unmögliche schafft: Umwelt- und Sportinteressen auch im harten Konfliktfall zueinander zu führen.
Das Wort hat der Abgeordnete Brauer.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Der uns vorliegende Bericht „Sport und Umwelt" geht auf einen Antrag des Sportausschusses zurück, in dem es wörtlich heißt:Die stete Zunahme des Freizeit- und Breitensports, die erhöhte Nachfrage nach Freizeiteinrichtungen und Sportstätten sowie die immer intensivere Nutzung der bestehenden Sportanlagen einerseits und ein gestiegenes Umwelt- und Naturschutzbewußtsein andererseits hab en vorallem in Gebieten mit dichter Bebauung zu Interessenkonflikten von Sport und Umwelt geführt.Diese Beschreibung ist echt falsch. Es wird so getan, als ob das gestiegene Umweltbewußtsein schuld an dem Konflikt zwischen Sport und Umwelt sei. Nein, es sind doch die knallharten Tatsachen wie Biotopzerstörung und Artensterben, Alpen- und Nordseekatastrophen, die Belastung der Gewässer, die ökologische Entwertung der Landschaft, der zunehmende Flächenverbrauch usw., die zu einem anderen Verhältnis zu Umwelt und Natur ganz einfach zwingen.Bisher hatte der Sport — immerhin gibt es ca. 20 Millionen Vereinsmitgliedschaften in 62 000 Vereinen mit einer ganz starken Interessenvertretung — den uneingeschränkten Zugriff auf Natur und Landschaft. Wenn nun Beschränkungen auf die Sportler zukommen, so werden sie oft als Bedrohung aufgefaßt. Selbstverständlich sind die Gefährdungen und Belastungen durch Industrie, Verkehr und Landwirtschaft erheblich, aber auch der Sport hat seinen ganz deutlichen Anteil sowohl hinsichtlich seiner anlagenungebundenen Aktivitäten im Außenbereich als auch bezüglich der bebauten Gebiete. Sport stellt eine typische Belastung von Natur und Landschaft dar.
Die Unruhe und die Stör- und Streßwirkungen des Sports und der Freizeitaktivitäten haben, wie wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, eine viel höhere Bedeutung, als bisher von den Sportlern behauptet wird. Gerade die eimpfindlichen Arten, die noch in naturnahen Landschaften vorkommen, werden zunehmend gestört, weil die Störwirkung immer mehr flächendeckende Dimensionen annimmt und das Ausweichen in störungsfreie Gebiete kaum mehr möglich ist. Häufig wird übersehen, daß vor allem die sogenannten alternativen oder Natursportarten, die selbst mit mäßiger Frequenz ausgeübt werden, sehr erhebliche ökologische Wirkungen haben können.Wenn hier öfter gesagt wurde, Sport und Naturschutz würden gleiche Ziele verfolgen, so sind das nichts als Floskeln. Sport und Naturschutz stehen in Zielkonkurrenz zueinander. Ich möchte das an drei Beispielen verdeutlichen.Kaum ist ein Kiesloch ausgebaggert, schon wird die Angel reingehalten, das Bügelbrett zu Wasser gelassen und die Badehose ausgepackt. Die Bedürfnisse der Erholungssuchenden sind mir verständlich, aber Sie, meine Damen und Herren, wissen aus Ihrer kommunalpolitischen Praxis, wie schwer es ist, wenigstens eine einzige Kiesgrube in einem Landkreis einmal nur der Natur zu überlassen.
In dem Konflikt um die Befahrensregelung in den Nationalparks Wattenmeer ist das Informationsdefizit auf seiten des Sports bezüglich ökologischer Belange mit ein Grund für die beispiellose Verdummungskampagne, mit der die Sportverbände versucht
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9212 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Brauerhaben, Stimmung gegen einen maßvollen Schutz unserer Küste zu machen.
— Die Sportverbände mußten doch sogar zugeben, daß 90 % der Wattflächen weiterhin regellos befahren werden können. Herr Büchner, es geht um die restlichen 10 %, über die man sich streitet.
Den 1 Million Skifahrerinnen, die pro Stunde in den Alpen geliftet werden, und den 3 000 Schneekanonen, die in den Alpen bereitstehen, stehen zwischen 25 und 80 % Ertragsausfälle durch Schneeverdichtung, Bodenabtrag, Bildung von Lawinenrinnen, Muren und Hochwassergefährdung gegenüber.
Alle wissen, daß der alpine Raum durch Sport und Freizeit akut gefährdet ist und schon irreversible Schäden eingetreten sind. Trotzdem nimmt die Zahl der Sportler, die ihr Freizeitvergnügen dort befriedigen, weiter zu. Neue Sportkreationen, wie Mountainbiking, Skating, Snowboarding — es gibt eine ganze Latte —, steigern den Naturkonsum.Liegt es an dem Informationsdefizit der Sportler, oder hat der Sport mit der dahinter stehenden Industrie nicht nur ein einziges Interesse: Natur nur so weit zu schützen, daß sie für sportliche Aktivitäten nutzbar bleibt? Trotz häufig vorhandenen Wissens über die Störwirkungen durch Wassersport auf Seen und dem Wattenmeer sowie durch hochalpinen Skisport verzichten weder der organisierte Sport noch die Aktiven auf ihr Freizeitvergnügen. Unter diesen Voraussetzungen ist der hier häufig genannte Interessenausgleich zwischen Sport und Umwelt nicht möglich. Die Kompromisse, die der Sport bisher anbietet, gehen letztlich zu Lasten der Natur.Nur durch planerische Maßnahmen und ordnungsrechtliche Regelungen wird es möglich sein, ein Minimum an Realisierung von Naturschutzzielen zu erreichen. Dies wird dringlicher angesichts der sich massiv abzeichnenden Zunahme der Sport-, Freizeit- und Tourismusansprüche. Im Jahr 2000 soll dieser Bereich der größte Wirtschaftsbereich sein und damit den Konflikt weiter verschärfen.Sie wissen, nicht alles, was reizvoll und machbar ist, werden wir uns in Zukunft noch leisten können, und wenn, dann nur auf Kosten der völligen Zerstörung naturnaher Ökosysteme und der Veränderung der Landschaft zu einer Freizeitlandschaft, die von den dazugehörigen Accessoires bestimmt ist: Hier ein Angelteich, dort eine Rampe für die Drachenflieger usw., Landschaft in der Form von Sport- und Freizeitparks.Meine Damen und Herren, Sie werden festgestellt haben, daß ich im Unterschied zu meinen Kollegennicht auf die Frage der Lärmimmission durch Sportanlagen im bebauten Bereich eingegangen bin.
Da geht es in erster Linie um soziale Probleme, um Nachbarschaftsprobleme. Diese Lärmdiskussion ist geeignet, vom eigentlichen Konflikt „Sport und Umwelt" abzulenken oder den Konflikt auf diese Frage zu reduzieren.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Herr Dr. Waffenschmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung will ihren Anteil dazu leisten, daß der Sport Rahmenbedingungen vorfindet, um Sport für alle zu ermöglichen. Ich habe die Voten — mit Ausnahme dessen, was wir gerade von den GRÜNEN gehört haben — so verstanden, daß das die Zielvorstellung ist, daß wir Sport für alle ermöglichen wollen, daß wir dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Es muß ein Ausgleich mit den Interessen von Anwohnern sowie den Interessen des Umwelt-, Natur- und Landschaftsschutzes gefunden werden. Wir alle, die wir „Sport für alle" sagen, wissen natürlich, daß in einem dicht besiedelten Staat wie der Bundesrepublik Deutschland die Probleme größer sind als in anderen Staaten. Das berechtigte Anliegen einer wohnnahen Sportausübung ist eben in Gebieten wie etwa im Ruhrgebiet, in Berlin oder Hamburg schwieriger zu verwirklichen als woanders. Das sind die Ausgangspunkte, vor denen wir stehen.Es muß aber gewährleistet werden, daß es in Einzelfällen zu einem angemessenen Interessenausgleich kommt. Ich sehe, wie die Kollegen hier schon vorgetragen haben, auch die Möglichkeit dazu. In diesem Zusammenhang muß einmal deutlich gemacht werden, daß wir nicht Sportler haben, die sich rücksichtslos über die Interessen des Bürgers und des Umweltschutzes hinwegsetzen — so ist es ja nicht, meine Damen und Herren —,
sondern wir haben Sportler, die auch selbst daran interessiert sind, daß wir Sport unter Rahmenbedingungen betreiben können, die auch den Umweltschutz berücksichtigen.
Ich möchte jetzt für die Bundesregierung gern ein paar Eckwerte festsetzen. Ich will zunächst einmal sehr deutlich sagen: Anwohner von Sportanlagen sind ja in großer Zahl auch Mitglieder von Sportvereinen und Sporttreibende, die die Sportorganisationen mit vertreten. Hier wurde darauf hingewiesen, daß diese Interessenverbindung bei Millionen Mitbürgern besteht.Ich will auch ausdrücklich feststellen: Der Sport hat bewiesen, daß er selbst ein vitales Interesse an einem
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Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidtwirksamen Umweltschutz hat. Dafür hat er selbst Initiativen ergriffen; mehrere Sportverbände haben das getan. Ziel seiner Bemühungen ist es, den Sport in einer intakten Umwelt zu ermöglichen. Sportverbände haben z. B. Umweltbeauftragte ernannt. Sie haben selbstbeschränkende Leitlinien für den Umweltschutz verabschiedet. Sie halten sich daran.In der Diskussion über eine sogenannte Wattenmeerbefahrensverordnung hat sich gezeigt, daß der Sport Einschränkungen der Sportausübung akzeptiert, sich also dem Notwendigen nicht verschließt. Es ist nur noch offen, wie weit die Verbote im einzelnen reichen sollen.Ich will an dieser Stelle, wo es wirklich um ein schwieriges Gebiet geht — das weiß ich auch noch aus der Zeit, wo wir in unserem Haus unter einem Dach für beide Bereiche zuständig waren — , auch einmal ein herzliches Wort des Dankes an alle diejenigen richten, die Verantwortung im Sport tragen und sich schon mit wirksamen Initiativen um die Koordination von Sport und Umwelt bemüht haben. Dafür danken wir denen, die das getan haben.
Im Kern geht es aber um die wohnnahe Sportanlage. Herr Kollege Penner hat mit Recht schon darauf hingewiesen, daß wir trennen müssen zwischen der Sportanlage, die jetzt und in Zukunft kommt, und der, die besteht und wo sich die Friktionen jetzt am häufigsten ergeben. Ich will für die Bundesregierung zu diesen zwei Abteilungen gerne noch einmal sagen: Im Hinblick auf die neu zu errichtenden Anlagen sehe ich — wie Kollegen von CDU/CSU und FDP auch schon ausgeführt haben — drei wichtige Eckwerte. Nach einem Kompromiß zwischen der Umweltministerkonferenz und der Sportministerkonferenz sind die sogenannten LAI-Hinweise des Länderausschusses Immissionsschutz geändert worden. Sie sehen für die Geräusche von Sportanlagen eine günstigere Richtwertberechnung durch Änderung des Meßverfahrens vor.Ich sage noch einmal sehr deutlich, auch an die Adresse all derer, die im Bereich der Justiz zu Abwägungen aufgerufen sind: Wir müssen überall klarmachen und Folgerungen aus der Tatsache durchsetzen, daß Geräusche, die vom Sporttreiben ausgehen, ganz andere Geräusche sind als die, die etwa von lärmenden Industrieanlagen ausgehen, die besonders viel Emissionen verursachen. Hier muß man klare Unterschiede machen.
— Ich kann nur sagen: Wir haben das schon in großer Einmütigkeit mit den Umweltministern der Länder besprochen, die hier ja auch ein Wort mitzureden haben. Ich glaube, daß man das sicherlich auch für den Umweltminister sagen kann; denn wir haben das ja lange Zeit mit Blick auf den Umweltschutz der Bundesregierung auch so vertreten.
Zweitens. Es ist gewährleistet — ein wichtiges Anliegen — , daß im Bauplanungsrecht die Sportorganisationen frühzeitig beteiligt werden und so ihre Position einbringen und verdeutlichen können.Das dritte, was mir sehr am Herzen liegt — ich habe noch vor einigen Tagen mit dem Bauminister Oscar Schneider darüber gesprochen — :
Die Baunutzungsverordnung soll noch in diesem Jahr novelliert werden. Dabei soll der Sportplatz in Wohnnähe ermöglicht werden. Das ist wichtig. Ob Sportanlagen auch in reinen Wohngebieten zulässig sein sollen, wird noch im einzelnen mit den Bundesländern, die ja die Bebauungspläne und dergleichen genehmigen müssen, im einzelnen geprüft und untersucht. Aber der Sportplatz in Wohnnähe ist unsere Leitlinie.Jetzt kommen wir zum Bestand. Weitaus schwieriger ist ja die Frage des Bestandschutzes von Altanlagen. Hier hat das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Januar 1989 zu der schon mehrfach erwähnten Bezirkssportanlage in Hamburg die Sache mit Recht in den Vordergrund gebracht. Eine endgültige Stellungnahme zu dem Urteil ist sicherlich erst dann möglich, wenn die Urteilsgründe vorliegen.Ich will für die Bundesregierung heute dies sagen: Wir werden das nicht nur sorgfältig auswerten, sondern es wird dann zu entscheiden sein, welche konkreten Maßnahmen wir ergreifen. Ich begrüße in dem Zusammenhang, daß der Sportausschuß einen Bericht angefordert hat, in dem die Bundesregierung darlegen soll, welche einzelnen Möglichkeiten unter Einschluß auch verschiedener Gesetzesänderungen gesehen werden. Darüber muß man offen reden; das kann nicht ein Tabu sein. Wenn ich Beispiele nennen soll, will ich auch als langjähriger Kommunalpolitiker ganz offen sagen: Hier muß man natürlich über rechtliche Regelungen im Immissionsschutzbereich, also über das Immissionsschutzgesetz reden; hier muß man vielleicht auch über rechtliche Regelungen im Zusammenhang mit dem Nachbarschaftsrecht sprechen.
Das ist ein sehr schwieriger Komplex. Wahrscheinlich ist es im Immissionsschutzrecht einfacher; so will ich auch einmal aus der Erfahrung als Rechtsanwalt sagen.Ich möchte eigentlich noch eine Orientierungshilfe, die man überlegen sollte, in den Vordergrund stellen. Ich nehme hier etwas auf, was der Kollege Baum gesagt hat: Das Idealste wäre natürlich, wir kämen ohne weitreichende Gesetzesänderungen aus, wir könnten auch eine Rechtsprechung motivieren, die Orientierungspunkte gäbe. Allerdings halte ich hier meinen Optimismus in Grenzen, weil wir nämlich erlebt haben, daß gerade auch Urteile in eine ganz andere Richtung kamen, die zu Lasten des Sports gingen. Deshalb bin ich der Auffassung, daß das getan werden muß, was jetzt notwendig ist. Sobald die Urteilsgründe vorliegen, gehen wir in unserem Hause an die Auswertung. Wir werden Ihnen, meine Damen und Herren im Sportausschuß, Modelle vorschlagen.
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9214 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Parl. Staatssekretär Dr. WaffenschmidtWas kann man in bezug auf Gesetzesänderungen machen? Was kann man in Verbindung mit den Ländern machen? Was kann man in Verbindung mit Verordnungen machen? Was kann man auf den verschiedensten Wegen machen?Leitlinie für uns ist, daß der Sport wissen muß, daß der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung Verbündete in dem Ziel sind, daß Sport für alle auch künftig sein kann und sein soll und daß wir auch einen Interessenausgleich finden können.Meine Damen und Herren, wir haben jahrelang beklagt — ich denke hier an manches Gespräch, das auch Sie vielleicht noch mit dem früheren Präsidenten des Deutschen Sportbundes, Willi Weyer, in dieser Frage geführt haben; Präsident Hansen hat es jetzt ebenfalls wieder aufgenommen — , daß sich hier zuwenig bewegt hat. Übrigens, keiner sollte hier Schwarze Peter verteilen. Auch als die Bundesregierung von der SPD geführt wurde, waren die Probleme schon sichtbar und genauso schwierig zu regeln wie heute. Aber wir gelangen schrittweise mit den Ländern, mit den kommunalen Spitzenverbänden und mit den Sportverbänden zu Regelungen, die uns auch beim Altbestand helfen, Sport für alle zu verwirklichen.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns doch die heutige Debatte so nehmen, daß wir uns eine große Gemeinschaftsaktion vornehmen, daß wir nach der Auswertung der Gründe im Sportausschuß Regelungen auf den Weg bringen und daß wir das Signal aussenden, daß hier der ernste Wille und die Absicht bestehen und die Initiativen vorbereitet werden, um insoweit Sport auch künftig für Millionen unserer Mitbürger zu gewährleisten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wernitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zehn Monate nach Vorlage des Berichts „Sport und Umwelt" ist es hoch an der Zeit, die notwendige umfassende parlamentarisch-politische Aufarbeitung seitens der beteiligten Fachausschüsse durch diese Plenardebatte anzustoßen und voranzubringen.Der vorliegende Bericht, den der Bundesumweltminister vorgelegt hat, enthält eine begrüßenswerte Darstellung der Sachstandsdiskussion mit Appellen und Empfehlungen an die Organisationen, Verbände und Bundesländer, sich gemeinsam um einen Interessenausgleich zwischen Sport und Umwelt zu bemühen.Die Darlegungen und Arbeitsergebnisse dieses Berichts und des hier auch schon erwähnten gemeinsamen Berichts der Umwelt- und Sportministerkonferenz dokumentieren eine Entwicklung, die anfangs durch den Geist der Konfrontation geprägt war. Diese kontroverse Diskussion war deshalb hilfreich und nützlich, weil durch sie ein Lern- und Sensibilisierungsprozeß bei allen Beteiligten ausgelöst wurde,der, ohne Zielkonflikte und das vorgegebene Spannungsverhältnis zu verschleiern, zu mehr Verständnis für die jeweils anderen Interessen geführt hat.Für die auf dem Gebiet Sport und Umwelt in Zukunft noch zu lösenden Aufgaben und Probleme können Einsicht und Verständnis bei allen Beteiligten gar nicht groß genug sein. Denn der Bericht der Bundesregierung, meine Damen und Herren, zeigt auch, daß zwar manches erreicht und in Angriff genommen wurde; die vom Bundestag geforderte Konzeption zur Lösung der Interessenkonflikte zwischen Sport und Umwelt ist von der Bundesregierung jedenfalls mit diesem Bericht noch nicht vorgelegt worden.
Wenn man die Dinge also nüchtern und realistisch sieht, besteht keineswegs Anlaß zu Euphorie. Der weitaus größere Teil der Arbeit an einem ausgewogenen und im konkreten Einzelfall praktikablen Interessenausgleich zwischen Sport und Umwelt liegt für alle Verantwortlichen und Beteiligten immer noch vor uns.
Meine Damen und Herren, der Bericht enthält Appelle und Empfehlungen an die Länder, Kommunen und auch an die Verbände. Insbesondere läßt die Bundesregierung für sich außer bei Modellvorhaben und Forschungsprojekten anscheinend keinen weiteren Handlungsbedarf erkennen; ich betone: soweit es den Bericht angeht. Heute haben wir hier ansatzweise etwas andere Töne gehört. Wenn es so bliebe, wäre das weder für die Bundesregierung noch für das Parlament eine akzeptable politische Position.Das erst kürzlich ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Thema Sport, Lärm, Umwelt und der z. B. seit längerem geplante, aber immer noch umstrittene Verordnungsentwurf zur Befahrensregelung für das Wattenmeer, d. h. also Neuregelungen für das Verhältnis von Natur und Umwelt zu Jagd und Wassersport, sind hochaktuelle Beispiele für die nicht gelösten, vielfältigen, brisanten Interessenkonflikte. Es hat überhaupt keinen Zweck, wenn wir diese Realitäten, diese Konflikte verdrängen. Wir müssen darüber reden; und wir müssen versuchen, sie auszutragen und tragbare Kompromisse, also Lösungen zu erreichen.
Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht selbst darauf hingewiesen, daß sie den Schwerpunkt ihrer Darlegungen auf Maßnahmen und Lösungsansätze für einen dauerhaften Interessenausgleich zwischen Sport und Umwelt im innerörtlichen Bereich gelegt hat. Hierzu hat Uwe Lambinus für die SPD-Fraktion schon Wesentliches gesagt. Ich kann mir das ersparen. Der Zielkonflikt ist auf den kurzen Nenner zu bringen: Sportplatz um die oder an der Ecke kontra Wohnruhe der Anwohner.Meine Damen und Herren, es ist zu begrüßen, daß die vom Länderausschuß für Immissionsschutz vorgelegten und überarbeiteten Hinweise zur Beurteilung der durch Freizeitanlagen verursachten Geräusche von der Umwelt- und Sportministerkonferenz der
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Dr. WernitzLänder gebilligt wurden. Aber eines ist sicher auch richtig: Für den von allen Seiten propagierten dauerhaften Interessenausgleich bleibt auch unter diesem Aspekt eine Menge zu tun.Ich weise hier auch auf ein Forschungsprojekt des Umweltbundesamtes zur Störwirkung von Sportgeräuschen im Vergleich zur Störwirkung von Gewerbegeräuschen hin. Hinweise und Forschungsergebnisse sollen — so steht es im Bericht — in eine VDI-Richtlinie zur Beurteilung der von Freizeiteinrichtungen ausgehenden Geräusche einmünden. Die VDI-Richtlinie soll allerdings frühestens 1990 umgesetzt werden. Deshalb ist es bitter notwendig, auch vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts, daß dies schnellstens umgesetzt wird. Nicht Worte, sondern Taten zählen auf diesem Gebiet.
Meine Damen und Herren, der Abschnitt „Sport in Natur und Landschaft" fällt im Bericht vergleichsweise eher knapp aus.
Die Tatsache des Defizits und Aufarbeitungsdrucks für alle Beteiligten auf diesem Gebiet ist offenkundig. Dabei kann man sich in Verbindung mit dem Bericht „Sport und Umwelt" auf eine Reihe fundierter Arbeitsgrundlagen und Materialien stützen. Der Bericht der Umwelt- und Sportministerkonferenz ist hier genannt worden. Ich erwähne auch noch einmal, wovon auch der Kollege Baum gesprochen hat, das Umweltgutachten 1987 mit dem Kapitel „Umwelt, Freizeit und Fremdenverkehr" und was dort im einzelnen enthalten ist.Das bisher weitgehend ungelöste Problem liegt etwa für den Sachverständigenrat in der Feststellung der Belastbarkeit von Natur und Landschaft und dem Defizit an umfassenden Studien mit entsprechenden Wertungen. Die im Bericht der Bundesregierung hierzu enthaltenen Vorschläge weisen sicher in die richtige Richtung. Im Rahmen der noch zu erarbeitenden Konzeption „Sport und Umwelt" sind als konkrete Maßnahmen bundeseinheitliche Rahmenvorschläge für den Natur-, Landschafts- und Gewässerschutz im Hinblick auf klare und gestufte Einschränkungen von Sport- und Freizeitaktivitäten festzulegen. Die dazu notwendigen Kriterien, z. B. für die Festlegung von Tabuzonen für schutzbedürftige Lebensräume, für eingeschränkt nutzbare Landschaftsbereiche und für Sport und Freizeit freigegebene Bereiche, sind in Zukunft mit großem Nachdruck in Zusammenarbeit mit dem Naturschutz- und den Sportverbänden zu erarbeiten. Die in einem vom Umweltbundesamt in Auftrag gegebenen Gutachten „Umweltverträgliche Freizeitanlagen" vorgeschlagenen Differenzierungen in Landschaftszonen nach ihrer ökologischen Belastbarkeit bieten hier eine entsprechende Lösungsperspektive.Meine Damen und Herren, auch dieser vom Bundestag initiierte Bericht hat zur Schärfung des Problembewußtseins gewiß seinen Beitrag geleistet. In Zukunft kommt es weiterhin darauf an, die Initiativen der Naturschutz- und der Sportverbände zur Aufklärung und zur Bewußtseinsbildung der Bevölkerung und der Mitglieder für notwendige Maßnahmen desNatur- und Lebensraumschutzes wirkungsvoll zu unterstützen.Wir werden während der Beratungen des Berichts „Sport und Umwelt" in den Ausschüssen auch mit den Umwelt- und den Sportverbänden engen Kontakt halten. In jedem Falle sollte vor einer abschließenden Beschlußempfehlung an das Plenum mit Organisationen und Institutionen aus Sport und Umwelt ein geeigneter Dialog geführt werden.Am Ende der parlamentarischen Beratungen muß ein Ergebnis stehen, das uns dem Ziel entsprechend dem Berichtsauftrag vom 4. Dezember 1986 näherbringt, nämlich eine Konzeption zu entwickeln, die wirkungsvoll zu einem dauerhaften Interessenausgleich zwischen Sport und Umwelt beiträgt.
Wir haben eine Menge Arbeit vor uns, und beide Bereiche sollten dabei aufeinander zugehen. Durch Worte alleine werden wir nicht vorankommen. Hier sind Taten auf allen Ebenen gefordert. Gehen wir also an die Arbeit!Die SPD-Fraktion stimmt dem Überweisungsvorschlag zu.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 11/2134 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Meinungen? — Sie sind einverstanden; dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDPMaßnahmen zur Verhinderung weiterer Umweltzerstörung und zum Schutz der Meeresschildkröte Caretta caretta in der Türkei im Rahmen deutscher Entwicklungszusammenarbeit— Drucksache 11/2657 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschußb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schanz, Bindig, Blunck, Brück, Großmann, Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Dr. Holtz, Luuk, Dr. Niehuis, Dr. Osswald, Schluckebier,Schmidt , Toetemeyer, Würtz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
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9216 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Vizepräsident WestphalEinrichtung eines Nationalparks und ökologisch verträgliche Entwicklung im DalyanDelta— Drucksache 11/3452 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschußc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brauer, Frau Eid, Frau Hensel, Frau Saibold und der Fraktion DIE GRÜNENÖkologisch verträgliche Tourismusentwicklung u. a. im Dalyan-Delta und Einrichtung eines Nationalparks— Drucksache 11/3454 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschußd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Brauer, Frau Hensel, Frau Saibold und der Fraktion DIE GRÜNENFinanzielle Beteiligung des Bundes an dem naturzerstörenden Hotelbauprojekt im Dalyan-Delta
Im Ältestenrat, meine Damen und Herren, sind eine gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunktes und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Pohlmeier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen vom Juli 1988 fordern wir Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Umweltzerstörung und zum Schutz der Meeresschildkröte Caretta caretta in der Dalyan-Bucht im Südwesten der Türkei. Nachdem die DEG im Juni vorigen Jahres aus dem Hotelprojekt Kaunos-Beach ausgestiegen ist, kann nur in direkten Verhandlungen mit der türkischen Regierung dieses wichtige Umweltziel erreicht werden.Die beiden Oppositionsfraktionen folgten dann mit gleichgerichteten Anträgen im November des letzten Jahres. In dem Handlungsteil stehen sich die Anträge ziemlich nahe. Die SPD und die Fraktion DIE GRÜNEN betten diese konkreten Forderungen allerdings in allgemeine Darlegungen über die Tourismusförderung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit ein.Ich bin der Meinung, daß wir über das, was in der Dalyan-Bucht konkret geschehen sollte, verhältnismäßig schnell Einigkeit erzielen können. Wir sollten diese Forderung, meine Damen und Herren, an die türkische Regierung allerdings nicht mit einem umfassenderen Tourismuskonzept verbinden. Das Projekt Kaunos-Beach ist in seinem ganzen Ablauf kein Ruhmesblatt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit,
und zwar gilt das für die Betreiber des Projektes einerseits — meine Damen und Herren, das wissen Sie; das haben wir auch immer so gesagt — , es gilt aber auch für die Kritiker und für die weltweite Kampagne, die im vergangenen Jahr gegen Kaunos-Beach geführt wurde.Mit dem Verzicht auf das Hotel sind jetzt auch die geforderten Schutzmaßnahmen für die Schildkröten zunächst entfallen. Merkwürdigerweise verlieren die Umweltorganisationen darüber allerdings kein Wort mehr.Der wilde Tourismus mit Camping- und Bootsverleih im Dalyan-Delta geht offensichtlich ungehemmt weiter.
Ich habe mir zwar sagen lassen, daß die Ortsbehörden in bestimmten Nächten ein Betretungsverbot für den Strand erlassen haben, ob das aber unter diesen Verhältnissen dort eine ausreichende und wirksame Schutzmaßnahme darstellt, das ist doch wohl ganz erheblich zu bezweifeln.
Ich möchte aber auch heute noch einmal ausdrücklich festhalten, daß die verbindlichen Zusagen und die vertraglichen Abmachungen der türkischen Seite, ein maßvoll gestaltetes Tourismusprojekt auf der einen Seite und konsequente Schutzmaßnahmen für den Rest des Gebietes auf der anderen Seite, eine durchaus brauchbare Lösung zur Rettung der Meeresschildkröten gewesen wären.Vielleicht sollten diejenigen, die die Dalyan-Kampagne damals angezündet haben, jetzt ein wenig nachdenklicher werden. Durch medienverstärkte Kampagnen kann man heute vieles verhindern, bei manchen Menschen vielleicht auch ein gutes Gewissen erzeugen. Eine reale Veränderung der Verhältnisse und die Abwehr von Bedrohungen sind wesentlich schwieriger.Meine Damen und Herren, uns geht es heute allerdings nicht darum, Versäumnisse und Fehlentwicklungen der Vergangenheit anzuprangern. Wir sollten jetzt gemeinsam versuchen, etwas Wirksames für die Erhaltung dieser einzigartigen Naturlandschaft zu tun.In den letzten Monaten hat sich gezeigt, daß die türkische Regierung in den Fragen des Naturschutzes und der Erhaltung ursprünglicher Landschaften sehr viel aufgeschlossener geworden ist. Mit dem Tourismus-Ministerium und dem Planungsamt in Ankara sollte deshalb in konkreten Verhandlungen möglichst bald durch die Bundesregierung geklärt werden, wie man die Dalyan-Bucht wirksam schützen kann.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9217
Dr. PohlmeierIn unserem Antrag fordern wir daher, daß sich die Bundesregierung mit der türkischen Regierung für einen Nationalpark in dieser Region einsetzt. Der türkischen Regierung sollte dafür eine Finanzierungsbeteiligung aus den Mitteln der finanziellen Zusammenarbeit und fachkundige Beratung im Rahmen der technischen Zusammenarbeit angeboten werden.In der Vorbereitung eines solchen Projektes muß geprüft werden, welche besonderen Schutzzonen zum Schutz der Meeresschildkröten dort ausgewiesen werden können. Wir bieten der türkischen Seite aber auch unsere Mithilfe bei der Umgestaltung und der Weiterentwicklung ihres Tourismus-Masterplanes an.Die türkischen Mittelmeerküsten waren in den letzten Jahren bei westeuropäischen Reiseunternehmern der Tourismusrenner überhaupt. Die Türkei hat bis heute gerade das noch zu bieten, was an der Costa del Sol oder der Costa Brava und anderen Mittelmeerbuchten und -stränden unwiederbringlich verloren gegangen ist. Hier gibt es noch weitgehend die Ursprünglichkeit der Natur, die Einsamkeit der Strände, grandiose Bergkulissen und ursprüngliches menschliches Leben. Vor den hereinbrechenden Touristenscharen einerseits das Land zu schützen, andererseits aber Millionen Menschen den Genuß dieser Landschaftserlebnisse zukommen zu lassen, das ist gewiß eine schwierige Aufgabe.
Der Türkei können wir das Recht gewiß nicht bestreiten, den Tourismus als einen sehr wichtigen Faktor in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung weiter auszubauen.Ich bin erfreut darüber, und wir sollten es alle begrüßen, daß die verantwortlichen Stellen in der Türkei mehr und mehr erkennen, daß sie die Sünden anderer europäischer Länder nicht wiederholen dürfen. Nun ist in einem Land wie der Türkei der Weg von dieser allgemeinen Erkenntnis zu ihrer Verwirklichung noch sehr viel weiter als bei uns. Konkret muß man in der Dalyan-Region die Menschen dort davon überzeugen, daß sie mit der Duldung und Ausbeutung eines wilden Tourismus mit Campingbetrieb auf zahllosen Küstenflächen unter Umständen schnelles Geld verdienen können, daß sie sich aber auf die Dauer damit die Grundlage für eine qualifizierte Entwicklung entzieht. Hier sehe ich die besonderen Probleme für die Verwirklichung unserer Absichten in der DalyanBucht.Meine Damen und Herren, was nun die Finanzierung unserer Vorschläge angeht, so haben wir die symbolische Summe von 10,7 Millionen DM eingesetzt. Das ist die Summe, mit der sich die DEG an dem Hotel-Projekt beteiligen wollte. Ein einfaches „Umtopfen" dieses Betrages von der DEG in die bilaterale Zusammenarbeit, wie Sie, die GRÜNEN, es fordern, ist natürlich nicht möglich.
Wir müssen dieses Projekt ordnungsgemäß in die Rahmenplanung einbringen. Da die Türkei ihre Prioritäten in der bilateralen Zusammenarbeit aber festgelegt hat und wohl kaum zu einer Umprogrammierungfest vereinbarter Projekte bereit sein dürfte, müssen wir die Beträge für die Dalyan-Bucht wohl zusätzlich zusagen. Ich bitte die Bundesregierung, dies ernsthaft zu prüfen.Meine Damen und Herren, ich sagte vorhin, daß die Zielrichtung der Oppositionsanträge mit der der Koalition übereinstimmt. Unterschiede gibt es in dem Rahmenwerk. Damit die Verhandlungen mit der Türkei aber möglichst umgehend aufgenommen werden können, bin ich der Meinung, daß wir auf eine Überweisung der drei Anträge an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und andere zu beteiligende Ausschüsse verzichten sollten, um heute in der Sache zu entscheiden. Der vierte Tagesordnungspunkt in diesem Bereich, die Beschlußempfehlung und der Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, hat sich in der Sache und mit der Annahme eines der neuen Anträge dann auch formal erledigt.Ich bitte die Oppositionsfraktionen deshalb, sich dem Koalitionsantrag anzuschließen. Wegen der sehr umfassenden unausgegorenen Ausführungen zu einer Tourismuspolitik in der Dritten Welt können wir den Anträgen von SPD und GRÜNEN leider nicht zustimmen.Ich bedanke mich sehr.
Das Wort hat der Kollege Schanz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Pohlmeier, schade, schade.
Wir glaubten und hofften, etwas Gemeinsames machen zu können.
Nun verwenden Sie einen Trick, um Ihren Antrag für alle sichtbar durchzubringen und unseren Antrag, über den Sie schon am 18. Juni mit uns hätten beschließen können, wegzudrücken.Meine Damen und Herren, die Schildkrötenart Caretta caretta, vom baldigen Aussterben bedroht, steht heute im Mittelpunkt unserer Debatte. Es geht um Arterhaltung und insofern um unsere Verantwortung dafür. Nun habe ich aber — auch entgegen der Meinung vieler meiner Fraktionskolleginnen und -kollegen und wie viele andere auch — so ein Tierchen noch nie gesehen.Aber wir Abgeordneten, Politiker reden ja oft genug über Dinge und Themen, die wir nicht kennen. Andererseits zwingt uns unser Auftrag, uns mit der Thematik zu befassen und auseinanderzusetzen.
— Auch der Protest meiner Freunde kann mich in dieser Frage nicht irremachen.Wir müssen uns also damit befassen und nach Lösungen suchen, so sie denn möglich sind. Manchmal ist ja auch der distanzierte Blickwinkel sehr nützlich und hilfreich.
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SchanzIn diesem Falle — bezogen auf unser heutiges Thema — habe ich im Gegensatz zu vielen anderen allerdings das Glück, sagen zu können, die schöne Dalyan-Bucht, in der Region Köycegiz gelegen, zu kennen. Insofern weiß ich heute sehr viel genauer, worüber ich rede und was es zu schützen und zu erhalten gilt.Im übrigen werde ich mich bemühen weder besserwisserisch noch paternalistisch zu reden. Die Folgen unserer begründeten Forderungen — dies geht ja aus allen vorliegenden Anträgen hervor — hat ein Land, hat ein Volk zu tragen, welches schließlich nicht so reich ist wie wir, ja, welches zu den ärmeren gerechnet werden muß.Wenn wir also etwas zustande bringen wollen, dann am besten gemeinsam und am Interesse der dort lebenden Menschen orientiert und vor allen Dingen mit Wissen und verzahnter Unterstützung der in der Türkei politisch verantwortlichen Frauen und Männer.Wer hier und heute vor dem Hintergrund eigener Überzeugungen nur sein Gewissen beruhigen will, sollte sich überlegen, ob er damit auch wiederum nur zur Politikverdrossenheit vieler an Umwelt und Naturschutz interessierter Menschen beiträgt.
Letztlich kann ja der Umstand, daß die Bundesregierung selbst das Hotelprojekt in der Dalyan-Bucht gestoppt hat, dazu beitragen, schnell zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Ich bin deshalb froh, daß die Interventionen meiner Fraktion im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Sommer 1988 zu diesem Teilergebnis geführt haben. Wenn wir nun heute beschließen wollten — so war es ja verabredet — , gemeinsam etwas zu tun, dann schließt das doch ein, daß die Bundesregierung jetzt schon partnerschaftlich mit der türkischen Regierung an die Arbeit gehen könnte, um schnell die Voraussetzungen für die Arterhaltung der Caretta caretta, aber auch des Schutzes der herrlichen Dalyan-Bucht für nach uns kommende Generationen zu organisieren.Zunächst aber zu den Fakten: Bereits im Februar des letzten Jahres debattierte der Deutsche Bundestag über das an der türkischen Küste gelegene Delta des Dalyan-Flusses und der Region Köycegiz in der Türkei. Damals ging es noch um das Vorhaben der DEG, der Deutschen Finanzierungsgesellschaft für Beteiligungen in Entwicklungsländern, dort mit 10,7 Millionen DM Steuergeldern den Bau des Touristikhotels Kaunos Beach zu unterstützen.Dieses Vorhaben rief zu Recht zahlreiche Umwelt-und Artenschutzverbände in der Bundesrepublik auf den Plan; denn bei der Dalyan-Bucht handelt es sich um ein in ökologischer Hinsicht einmaliges, noch weitgehend intaktes Feuchtgebiet. Es bietet vielen hochbedrohten Tier- und Pflanzenarten, darunter 155 Vogelarten, Lebensraum und Raststätte und ist zudem einer der letzten Brutplätze der im Mittelmeer noch vorkommenden Meeresschildkröte Caretta caretta.Sogar ein von der Bundesregierung selbst in Auftrag gegebenes Gutachten kam im Herbst 1987 zu dem Ergebnis, daß im Dalyan-Gebiet keinerlei Hotels gebaut werden sollten. Im Interesse der Erhaltung dernatürlichen Ressourcen und der besonderen ökologischen und landschaftlichen Gegebenheiten sei dies für die Zukunft der Türkei wichtiger als die kurzfristigen Vorteile von touristischen Großinvestitionen.Auch der Ständige Ausschuß des Europarates hat sich am 11. Dezember 1987 gegen jegliche touristische Erschließung des Dalyan-Gebietes ausgesprochen und der Türkei Hilfe zur Errichtung des Nationalparks angeboten.Dennoch beharrten damals CDU/CSU und FDP auf der deutschen Finanzbeteiligung am Hotelbau. Mit dem Einstieg in den kommerziellen Tourismus hätten sie den ökologischen Tod des Dalyan-Gebietes riskiert. Ich möchte hier nur noch einmal darauf hinweisen, daß die damalige Haltung der Regierung und der CDU/CSU- wie der FDP-Fraktion ein grober Verstoß gegen die von der Bundesrepublik unterzeichnete Berner Konvention zur Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen- und Tierarten war.Doch zum Glück können wir darüber nun in der Vergangenheitsform reden. Mittlerweile sind die DEG, die Bundesregierung wie auch schließlich die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP voll auf die Linie der Opposition eingeschwenkt. Sie lautete damals schon, die Mittel für den Hotelbau zurückzuziehen und in gleicher Höhe für die Ausweisung besonderer Schutzgebiete und für die Einrichtung eines Nationalparks im Dalyan-Delta zur Verfügung zu stellen.Zwar lehnte der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit in einer Sitzung am 18. Mai noch den entsprechenden SPD-Antrag mit dem denkbar knappen Ergebnis von 10 : 10 Stimmen ab, in dem der sofortige Stopp des Hotelbaus und eine ökologisch verträgliche Entwicklung der Region gefordert wurden; doch trugen immer stärkere Proteste von Umweltverbänden in der Bundesrepublik, der Türkei und anderen Ländern sowie eine geänderte Haltung der türkischen Regierung dazu bei, das BMZ zu veranlassen, sich aus der Finanzierung zurückzuziehen.Ich begrüße diese Lernfähigkeit und Lernbereitschaft der Koalitionsfraktionen. Ich bin weit davon entfernt, besserwisserisch hier an dieser Stelle zu behaupten, es habe eine einfache Entscheidung gegeben. Wer vor Ort gewesen ist, Frau Kollegin, der weiß, daß man abzuwägen hatte. Ich bin auch nicht derjenige, der sagt, daß die DEG, als sie die Zustimmung zur Finanzierung gab, wußte, um welches Projekt es sich handelte. Das ist eindeutig aus den Unterlagen erkennbar. Insofern bin ich auch weit davon entfernt, die Bundesregierung zu beschimpfen oder zu behaupten, sie habe gewußt, daß in dieser Bucht die Caretta caretta zur Eiablage an Land kommt. Nur, meine Damen und Herren, es war zu entscheiden, ob wir mit unseren Finanzmitteln entgegen dem Willen der dort lebenden Menschen ein Großbauprojekt unterstützen wollten oder nicht. Sicher, Frau Kollegin, ein Großhotel, verbunden mit einem Nationalpark und ausgewiesenen Schutzzonen, hätte, wenn die Menschen es so gewollt hätten, auch eine Chance für sofortiges Handeln sein können. Aber als sich dann herausstellte — im Rahmen unseres Besuchs haben wir es erfahren; danach ist es verstärkt worden — , daß sich die dort lebenden Menschen massiv gegen ein solches Groß-
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Schanzprojekt ausgesprochen haben, mußte dies doch wohl bei allen zu Sensibilität und dann zu der Entscheidung führen, dieses Projekt zu stoppen.Ich bin insofern also froh, daß wir wenigstens so weit gekommen sind, daß das Hotelprojekt nicht realisiert wird. Ich würde es begrüßen, wenn unabhängig von haushaltsrechtlichen Problemen, die Herr Dr. Pohlmeier angesprochen hat, die Mittel bereitgestellt werden können, damit diese Region, dieses Feuchtgebiet, dieses Biotop im Interesse aller dort lebenden Menschen oder nach uns kommenden Generationen, aber insbesondere zur Arterhaltung der Caretta caretta gerettet werden können. Es wäre fatal, wenn es uns nicht gelänge, die Interessen der dort lebenden Menschen, ihren Wunsch nach Entwicklung, ihre berechtigten Forderungen nach Wohlstand und Entwicklung unter einen Hut zu bekommen und dazu beizutragen, daß sich auch in diesem Fall eine Möglichkeit, eine Chance ergibt, Ökonomie und Ökologie zu versöhnen.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Folz-Steinacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die weltweite Umweltgefährdung und die Umweltzerstörung stellen eine große Herausforderung dar, der wir uns alle stellen müssen. Wir Freien Demokraten bekennen uns nachdrücklich zu einem umfassenden Umwelt- und Naturschutz,
denn dies ist und bleibt ein Schwerpunkt unserer liberalen Politik. Hierzu gehört unsere seit langem erhobene Forderung, der Ökologie in der Entwicklungspolitik eine stärkere Gewichtung zukommen zu lassen.
Damit touristische Vorhaben nicht zur Schädigung von Natur und Umwelt führen, muß vor ihrer Verwirklichung grundsätzlich eine Umweltverträglichkeitsprüfung gemacht werden.
— Das wäre gut. — Wir erwarten daher von der Bundesregierung, daß sie eine eingehende Überprüfung aller Entwicklungsprojekte auf ihre ökologischen Folgewirkungen hin veranlaßt, und begrüßen, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung ab 1. Januar 1988 ein neues Verfahren der Umweltverträglichkeitsprüfung in Kraft gesetzt hat, das dieser Forderung Rechnung trägt. Vielen Dank.
Das muß selbstverständlich natürlich auch für die Projekte der DEG gelten.Das Thema „Umweltschutz im Dalyan-Delta in der Türkei" war bereits am 25. Februar 1988 auf Grund der von den Fraktionen der SPD und der GRÜNEN eingebrachten Anträge Gegenstand einer Debatte dieses Hohen Hauses. Bei diesen Anträgen ging es vor allem darum, die Durchführung eines mit finanzieller Beteiligung der DEG geplanten Hotelprojektes am Strand von Dalyan zu verhindern. Durch die Verhinderung dieses Hotelprojekts sollte ein als voll intakt bezeichnetes Ökosystem im Mittelmeerraum angeblich geschützt werden. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Nicht nur national, sondern auch international hat für die Freien Demokraten der Umweltschutz die oberste Priorität. Dazu stehen wir.
Vom 4. bis 7. April 1988 haben der Kollege Schanz — er hat es gerade erwähnt — von der SPD und ich als Berichterstatter des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Türkei dieses Projektgebiet besichtigt und Gespräche mit den zuständigen türkischen Stellen geführt. Wesentliche Ergebnisse dieser Reise waren folgende Feststellungen.Oberbegriff : Die Situation im Dalyan-Delta ist unter Umweltgesichtspunkten untragbar.Ich möchte hier nur ein paar Punkte nennen. Eine Gesamtschau dauerte sehr lange, und meine Redezeit würde dadurch überschritten.
Da waren der wilde Tourismus, die ungeregelte Strandbenutzung — Ihre Kollegin wird es Ihnen bestätigen können; auch sie war ja da — , starker Bootsverkehr, starke Gewässerverschmutzung im Flußdelta sowie die Erhöhung der Bettenkapazität durch den ungezügelten Ausbau von Hotelpensionen ohne Abwasserklärung. Das war interessant: Früher gab es dort 50 Betten, und in den nächsten fünf, sechs Jahren soll eine Bettenkapazität von über 1 000 Betten vorhanden sein.Das war die Situation im April 1988. Doch die von mir aufgezeigten Gefahren für Natur und Umwelt im Gebiet von Köycegiz bestehen fort — die neuesten Informationen bestätigen das — , auch wenn inzwischen von der Projektgesellschaft beschlossen wurde, das Kaunos-Beach-Hotel nicht am Strand — ich sage ausdrücklich: nicht am Strand! — der Dalyan-Bucht zu errichten. Ich will nicht weiter darauf eingehen. Damit waren zwar die Gründe für die Anträge von der SPD und den GRÜNEN entfallen, aber der Beschluß der Projektgesellschaft bedeutete auch, daß die türkische Regierung nicht mehr an ihre Erklärung zur Durchführung notwendiger Umweltschutzmaßnahmen im Gebiet von Köycegiz gebunden ist.Angesichts dieser Situation und der weiterhin bestehenden Gefahren für Natur und Umwelt in dem genannten Gebiet haben die Koalitionsfraktionen sofort die parlamentarische Initiative ergriffen und einen gemeinsamen Antrag eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, sich dafür einzusetzen, daß
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Frau Folz-Steinackerdie türkische Regierung erstens einen Nationalpark im Becken von Köycegiz einrichtet
— Sie sind häufiger als ich dort; gestatten Sie mir, das so auszusprechen, wie ich es gerne möchte —, zweitens besondere Schutzzonen ausweist, die sowohl dem Schutz der Meeresschildkröte Caretta caretta als auch des sonstigen ökologischen Reichtums der Region dienen, und drittens Maßnahmen zum Schutz der Caretta caretta auch außerhalb der Region ergreift. Ich denke, das ist ein sehr, sehr wichtiger Gesichtspunkt.
Hierfür sollen der türkischen Regierung im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit 10,7 Millionen DM bereitgestellt werden. Wir haben diese Summe von 10,7 Millionen DM — wie mein Kollege eben sagte — symbolisch mit eingesetzt, weil diese Summe bekannt war. Darüber hinaus ist, hoffe ich, keine Grenze gesetzt.Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, die türkische Regierung im Rahmen der bilateralen technischen Zusammenarbeit bei der Einrichtung eines Nationalparks mit Sonderschutzzonen und bei der Revision des vorgesehenen Masterplans zu unterstützen.Die von der türkischen Regierung inzwischen getroffenen Entscheidungen im Bereich der Umweltpolitik begrüßen wir ganz ausdrücklich.Ich hoffe, unsere Befürchtungen bestätigen sich nicht, daß die insbesondere von den GRÜNEN massiv unterstützten Protestaktionen — so war es ja wohl — gegen das Hotelbauprojekt zum Bumerang für einen umfassenden Natur- und Umweltschutz im Becken von Dalyan werden.Mit diesen möglicherweise aus ideologischen und parteitaktischen Gründen — ich kann es nicht genau definieren, vielleicht klären Sie mich einmal auf — unterstützten Protestaktionen wurde dem Umwelt- und, wie ich denke, auch dem Naturschutz letztlich ein Bärendienst erwiesen. Angesichts dieser Situation sollte endlich ein jeder begreifen, daß Natur- und Umweltschutz nie die Angelegenheit einer bestimmten Partei sein darf, sondern immer als Aufgabe der gesamten Gesellschaft verstanden werden muß.
Wir alle würden es sehr begrüßen, wenn diese Einsicht künftig auch bei unterschiedlicher Beurteilung in der Sache zu einem fairen Umgang miteinander führen würde.
Lassen Sie mich nunmehr noch kurz auf die ebenfalls vorliegenden Anträge der Fraktionen von SPD und GRÜNEN eingehen. Es hat mich zunächst erstaunt, daß beide Parteien nach Einstellung des Hotelbauprojektes die Dringlichkeit einer eigenen parlamentarischen Initiative zur Realisierung der notwendigen Umweltschutzmaßnahmen in der Türkei offensichtlich nicht besonders hoch eingestuft haben. Dabei denke ich daran, daß beide Anträge erst am 22. November eingingen und relativ identisch waren.Noch mehr hat mich allerdings die Tatsache erstaunt — ich habe es gerade anklingen lassen — , daß die Fraktionen ihre fast wörtlich übereinstimmenden Anträge nicht in Form eines gemeinsamen Antrages eingebracht haben.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu akzeptieren?
Aber ja. Vizepräsident Westphal: Bitte schön, Herr Schanz.
Frau Kollegin, wären Sie bereit, zuzugeben, daß ein fast Bleichlautender Antrag, wie er heute dem Plenum vorliegt, von meiner Fraktion im Mai 1988 dem Ausschuß vorgelegen hat und daß dieser mit 10 : 10 Stimmen keinen Erfolg haben konnte? Folglich ist es doch logisch, daß die Oppositionsfraktion dann ihr Bemühen fortsetzt, bei diesem Abstimmungsergebnis doch noch zum Erfolg zu kommen, bzw. daß danach wohl schon erkennbar aus den Worten des Staatssekretärs am Tage der Ausschußsitzung nicht nur das Nachdenken der Regierung eingesetzt hat, sondern auch eine konkrete Entscheidung getroffen worden ist. Insofern reden Sie nach meiner Überzeugung am Thema vorbei.
Herr Kollege, es müßte jetzt eigentlich ein Fragezeichen kommen.
Ich füge das Fragezeichen hinzu.
Herr Kollege, wenn Sie schon keine Frage gestellt haben, sondern sich nur geäußert haben, kann ich das sehr gut verstehen. Wir haben die Reise zusammen gemacht.Aber, Herr Kollege, würden Sie zugeben, daß, als die Ausschußsitzung beendet war, Ihre Kollegen gesagt haben, sie würden einen gemeinsamen Antrag mit uns formulieren, und zwar mit den bekannten Bedingungen? Das ist leider nicht passiert. Ich muß sagen: Ich bin darüber sehr enttäuscht gewesen.
— Vielleicht darf ich meinen Vortrag fortführen.Auch wenn diese Anträge in ihren Forderungen nach Umweltschutzmaßnahmen sinngemäß dem Koalitionsantrag entsprechen, enthalten sie Elemente, die wir in dieser Form nicht mittragen können. Dies gilt für die Überlegungen zur Wirtschaftsstruktur, nach denen der Staat planerisch in die touristische Wirtschaft eingreifen sollte. Leider war das darin enthalten. Insbesondere halten wir jedoch die Bereitstellung weiterer Mittel für eine Tourismusförderung, ob „sanft" oder nicht, im Dalyan-Delta aus ökologischen und entwicklungspolitischen Gründen einfach nicht für vertretbar.
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Frau Folz-SteinackerLiebe Kollegen, ich weiß bis heute noch nicht, was Sie unter „sanftem" Tourismus verstehen.
— Vielleicht klären Sie mich einmal auf.
Ich bitte daher im Namen der FDP-Fraktion, die vorliegenden Anträge der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN aus den vorgenannten Gründen abzulehnen und gleichzeitig unserem Antrag, dem Antrag der Koalition, zuzustimmen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hensel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie zunächst einige Erläuterungen zu Beginn meiner Ausführungen. An Ihre Adresse würde ich gerne nur sagen: In unserem neuen Antrag auf Drucksache 11/3454 bitte ich Sie nachzulesen, was wir schreiben, nämlich daß die notwendigen finanziellen Mittel aus dem Einzelplan 23 bereitzustellen sind. Ich bitte Sie, so etwas erst einmal zu lesen, bevor man etwas behauptet.Frau Folz-Steinacker würde ich gern fragen, ob ihr entgangen ist, daß wir bereits im Januar 1988, also vor einem Jahr, mit der ersten Initiative in diesen Bundestag gegangen sind. Sie haben selbst in den Ausschußberatungen keinen Antrag vorliegen gehabt.
Lassen Sie mich bitte — weil das meine Vorredner auch getan haben — kurz auf die geschichtliche Entwicklung der heute hier zur Beratung anstehenden Anträge eingehen.Die Deutsche Finanzierungsgesellschaft für Beteiligungen in Entwicklungsländern GmbH — kurz DEG — war mit 10,7 Millionen DM an den Planungen für ein 620-Betten-Hotel an der türkischen Mittelmeerküste beteiligt.Eine Umweltverträglichkeitsprüfung für dieses Vorhaben wurde nicht durchgeführt. Die Grundsteinlegung erfolgte im April 1987 am Strand von Dalyan/ Türkei.Durch Zufall erhielt die Öffentlichkeit davon Kenntnis, und so wurde die DEG durch ein WWF-Telegramm darauf hingewiesen, daß dieses Hotel in eines der letzten Brutgebiete der Meeresschildkröte Caretta caretta des Mittelmeerraumes gebaut werden soll. Daraufhin brach eine Woge der Entrüstung national und international aus.So ist es zu erklären, daß die Bundesregierung zwei Gutachter in das Projektgebiet entsandte, die im Juni/ Juli 1987 eine Umweltverträglichkeitsprüfung mit Bezug auf dieses Gebiet und das geplante Projekt vornahmen.In diesem Gutachten wurden vier Szenarien beschrieben, die eine Empfehlung sowohl für die Bundesregierung als auch für GRÜNE und Umweltschützer enthalten. Ich zitiere aus diesem Gutachten, weil Sie es offensichtlich noch nicht kennen, Frau FolzSteinacker:Das Becken von Köycegiz mit Dalyan und Iztuzu ist in ökologischer Hinsicht ein einmaliges Gebiet, indem hier auf engem Raum fast alle Habitate bzw. ökologischen Subsysteme des küstennahen Bereiches der West- und westlichen Südtürkei in noch weitgehend ungestörtem Zustand vorhanden sind. Hinzu treten landschaftliche Schönheit, archäologische und historische Stätten sowie eine zwar bescheidene, jedoch ausgewogene und für die Türkei überdurchschnittlich günstige ökonomische Situation der Bevölkerung.In den Schlußfolgerungen wird geschrieben:Die speziellen landschaftlichen Angebote bieten der Region Köycegiz, besonders in der Umgebung von Dalyan, nicht nur kurzfristige oder mittelfristige, sondern besonders langfristige Entwicklungsmöglichkeiten für den Tourismus .. .Die Region Köycegiz sollte ihre Infrastrukturplanung und Entwicklungspolitik nicht auf eine kurzfristige Entwicklung von Massentourismus, sondern auf langfristige Entwicklung unter Zielrichtung auf einen naturorientierten, kultivierten Gästetyp ausrichten.Im Gutachten wird weiter benannt, wie sich die Planungen seitens der türkischen Regierung entwickelten, die schon seit den 70er Jahren über die Einrichtung eines Nationalparks in dieser Region nachdenkt. Die Gutachter schreiben dazu:Ein Nationalpark bedeutet, daß sich Nutzungsansprüche des Menschen in das Ökosystem einfügen oder im Konfliktfalle dem Schutzziel der Erhaltung von Naturqualitäten unterordnen. In einem so verstandenen Nationalpark sind in erster Linie „sanfte" angepaßte Formen des Tourismus zu fördern. Die Einrichtung touristischer Großprojekte untergräbt die Idee des Nationalparks.Der letzte Satz dieses Zitats lautet:Ein Großprojekt stört nicht allein die Schutzziele eines Nationalparks, sondern widerspricht auch der vorstehend ausgeführten Strategie eines angepaßten Tourismus.Diese von mir zitierten Aussagen der Gutachter wurden der Bundesregierung als Szenario A vorgeschlagen.Für uns GRÜNE fand seit diesem Zeitpunkt die konsequente Einforderung dessen statt, was die Umweltgutachter der TH Darmstadt unter ökologischen Gesichtspunkten forderten.Vor fast genau einem fahr haben wir und die SPD die Bundesregierung, die 100 %ige Gesellschafterin der DEG ist, aufgefordert, diese anzuweisen, die 10,7 Millionen DM aus dem Hotelprojekt abzuziehen.Wir haben es damals so formuliert: Mit bundesdeutschen Steuergeldern wird der Bau eines Hotelkomplexes am Strand von Dalyan — und damit die Ausrottung der vom Aussterben bedrohten Meeresschildkröten — finanziert.Wir haben heute über Anträge zu beraten, die in der Tat in ungewöhnlichem Zusammenhang stehen, und zwar aus zwei Gründen.
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Frau HenselErstens. Natürlich ist es für uns eine große Genugtuung, daß sich der wesentliche Teil der alten Anträge von GRÜNEN und SPD bereits erledigt hat, denn der geplante Hotelkomplex am Strand von Dalyan wird, wie wir alle wissen, nicht realisiert.
Unter dem Druck von Umweltverbänden und GRÜNEN — besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle das Engagement der Aktionsgemeinschaft Artenschutz — haben sich die türkischen und die deutschen Verantwortlichen, besorgt um ihren guten Ruf, aus dem Projekt verabschiedet.Wir begrüßen dies ausdrücklich und werten den Verzicht auf das Hotel als Sieg der Vernunft bei den Verantwortlichen zum einen und als Sieg der Beharrlichkeit bei den Umweltverbänden zum anderen.Damit hat sich gezeigt, daß nationaler und internationaler Druck zusammen in der Lage sind, ökologische Fehlentwicklungen aufzuhalten und zu korrigieren.Das alles gibt uns Mut und Hoffnung für unsere Arbeit.
Hat sich also der erste Teil der Anträge von GRÜNEN und SPD gewissermaßen von allein erledigt, steht der zweite Teil, nämlich das Angebot an die türkische Regierung, sie im Rahmen der bilateralen technischen Zusammenarbeit zu beraten und zu unterstützen, mit der Ausschußempfehlung „Ablehnung" zur Abstimmung.Ungewöhnlich an dieser Situation ist, daß sich gleichzeitig neben der ablehnenden Ausschußempfehlung die Regierungsparteien durch einen neuen Antrag entschieden haben, genau das wieder zu fordern, was die Ausschüsse zuvor abgelehnt haben.Wir GRÜNE begrüßen diesen Sinneswandel natürlich, bedauern aber außerordentlich, daß unser Vorschlag, einen parteiübergreifenden gemeinsamen Antrag zu formulieren, von der FDP rüde zurückgewiesen wurde.
So sehen wir uns heute in die Situation versetzt, daß vier Fraktionen im Bundestag die Bundesregierung auffordern, die Einrichtung eines Naturschutzgebietes an der türkischen Mittelmeerküste finanziell und personell zu unterstützen.Zweitens. Während sich die Regierungsparteien in ihrer Antragsbegründung schon in den Ausschußsitzungen darauf konzentrierten — ich zitiere —, „daß wirksame Umweltschutzmaßnahmen im Dalyan-Gebiet nur mit deutscher Unterstützung möglich seien", lassen sie hierbei jedoch das tatsächliche Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Umweltschutz außer Betracht.Wir dagegen bewerten die Debatte in diesem Parlament über ein Naturschutzgebiet in der Türkei als das Bekenntnis zur Mitverantwortung für die letzten intakten Naturräume dieser Welt.Ich erinnere in diesem Zusammenhang gerne an den 20. Januar, als wir uns im Bundestag mit dem Schutz der Regenwälder befaßt und unsere Mitverantwortung für Umweltzerstörungen rund um den Globus anerkannt haben.In gleichem Maße muß auch unsere Mitverantwortung für die Revitalisierungsräume unserer Industriegesellschaft — das gilt für die Zentren des Massentourismus ebenso wie für die letzten noch intakten Naturräume — gelten.Während die sogenannten Tourismus-Import-Länder in der Zweiten und Dritten Welt Erholungsfaktoren wie Klima, Vegetation und fremde Kulturen bieten, stellen wir den durch unsere Form des Wirtschaftens und Arbeitens ausgelaugten Touristen. Die Reaktionen dieser Tourismusländer sind uns allen nur zu gut bekannt: Touristenghettos, verbaute und verschmutzte Strände, Verlust von Ursprünglichkeit. Auf den Verlust der qualitativen Urlaubsvorstellungen reagieren Devisenbringer und Tourismusindustrie ungehalten. Häufig folgen die ökonomischen Rückentwicklungen der Urlaubsländer; denn die Karawane schnürt ihr Bündel und zieht weiter, auf der Suche nach neuen und unverdorbenen Flecken dieser Erde.Aus diesen Überlegungen heraus ist es mir wichtig, festzustellen, daß wir an der Zerstörung der Lebens- und Naturräume in Tourismusländern mit Schuld tragen und daß sich unsere Mitverantwortung für den Erhalt der unzerstörten Naturgebiete u. a. daraus ableitet.
Unsere weitere Forderung nach wirtschaftlicher Hilfe bei der Realisierung einer sanften Tourismusentwicklung in dieser Region ergibt sich genau aus diesem Zusammenhang: Einrichtung eines Nationalparks mit besonderen Schutzzonen und damit einhergehende materielle Unterstützung einer sanften Tourismusentwicklung, die im Einklang mit den ökologischen Erfordernissen dieser Region stehen muß.Letzter Satz: Wir fordern die Bundesregierung auf, die DEG zu beauftragen, Wirtschaftshilfe für diese Region unter umweltverträglichen Gesichtspunkten zu leisten und durch eindeutige Vorgaben ein privatwirtschaftlich profitorientiertes Vorgehen der DEG zu unterbinden.Danke sehr.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Dr. Köhler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Niemand kann behaupten, daß der Gesamtverlauf des Projektes Kaunos Beach als gut bewertet werden kann. Aber genauso kann niemand, der der Wahrheit verpflichtet ist, bestreiten, daß der Umweltschutz bei allen Maßnahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit besonders hohe Priorität genießt. Wir haben die schon seit Jahren laufenden Umweltverträglichkeits-
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Parl. Staatssekretär Dr. Köhlerprüfungen mit Beginn dieses Jahres wesentlich verschärft und bemühen uns damit nach allen Kräften, sicherzustellen, daß keine umweltschädigenden Projekte gefördert werden. Dies gilt selbstverständlich auch für den Bereich der Tourismusförderung, und dies gilt nun auch für die DEG.Was das Ministerium und die Bundesregierung angeht, zeigt auch, so glaube ich, die Vorgeschichte der hier zur Entscheidung stehenden Anträge, daß wir dieses Thema ernst nehmen. Ursprünglich war ja an eine Beteiligung der DEG in Höhe von 10,7 Millionen DM am Bau des Kaunos-Beach-Hotels im DalyanDelta im Südwesten der Türkei gedacht. Die Gesamtkosten des Projektes wurden damals auf rund 30 Millionen DM geschätzt.Im Herbst 1987 wurden der Bundesregierung dann die ersten Umweltprobleme bekannt, insbesondere die Gefährdung der vom Aussterben bedrohten unechten Karett-Schildkröte.
— Verzeihung, Frau Kollegin, die türkische Seite hat genausowenig wie irgend jemand anders die Bundesregierung darüber informiert. Die Bundesregierung wurde durch die entsprechenden Verbände in Kenntnis gesetzt. — Daraufhin haben wir in Abstimmung mit dem Worldwide Fund for Nature über die GTZ sofort eine Gutachtergruppe hingeschickt — Sie haben es selbst erwähnt —, um uns selbst ein klares Bild über die Umweltauswirkungen zu verschaffen. Das Ergebnis der Gutachter war immerhin — man kann aus dem Gutachten vieles zitieren, aber dann muß man auch eine Schlußfolgerung zitieren, die deutlich darin stand — , daß ein eingeschränkter Tourismus in der Region unbedenklich sei, vorausgesetzt, strikte Auflagen zum Schutz der Schildkröten und des übrigen ökologischen Reichtums der Region würden eingehalten.Es war einmal, meine verehrten Damen und Herren, für diese Gegend ein Aufbau einer Kapazität von 10 000 Betten diskutiert und geplant. Und es war in den Diskussionen keine Selbstverständlichkeit, die türkische Regierung dazu zu bewegen, nur noch auf das Kaunos-Beach-Hotel mit 620 Betten abzustellen, dessen Bau zu wünschen und das anliegende Gebiet zum Naturpark zu bestimmen. Dies erreichten wir gerade dadurch, daß wir dieses Projekt nicht Knall auf Fall fallen ließen.Trotzdem hielt die öffentliche Kampagne gegen den Hotelbau an. Die Türkei verzichtete aus Sorge um ihr Ansehen als Tourismusland schließlich Mitte 1988 völlig auf die Verwirklichung des Hotelbauprojekts im Dalyan-Delta. Ob, meine Damen und Herren, dies als ein Erfolg für den Umwelt- und Naturschutz gefeiert werden kann, wird sich erst noch zeigen müssen. Ich habe im Moment große Zweifel. Ganz sicher ist, daß der Zustand in dieser Bucht nicht mehr dem entspricht, den die Gutachter dort ursprünglich einmal vorgefunden haben. Wir müssen befürchten, daß der Eifer der Umweltschützer der Flora und Fauna in dieser Region mit der Durchsetzung der Maximalforderung unter Umständen sogar einen schlechten Dienst erwiesen hat, denn anstelle einer ökologisch verträglichen und planvollen Tourismusentwicklung ist nundem „wilden" Tourismus und den wenig umweltbewußten Aktivitäten von Teilen der einheimischen Bevölkerung Tür und Tor geöffnet.
Wir wollen hier bitte auch nicht so tun, als ob die Gegnerschaft von Teilen der Bevölkerung in diesem Raum gegen das Hotelprojekt aus reiner Umweltliebe geboren war,
sondern zum Teil aus dem Wunsch, selbst das Geschäft dort zu machen und es nicht anderen zu überlassen.
Der Reisebericht der Delegation des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit vom April 1988 hat diese traurigen Erkenntnisse durchaus bestätigt.Was ist nun mit dem Blick auf die Zukunft zu sagen, nachdem dies alles so gelaufen ist? Wir haben der türkischen Seite bereits im Rahmen der Regierungsverhandlungen über finanzielle und technische Zusammenarbeit Ende 1987 Unterstützung bei der Revision des bestehenden Masterplans zur touristischen Erschließung dieser Region und der Errichtung eines Nationalparks zugesagt. Dazu bedurfte es keiner Anträge. Die türkische Seite hat auf dieses Angebot zunächst allerdings nur sehr zurückhaltend reagiert. Ein offizieller Antrag der Türkei auf Langzeitberatung steht trotz mehrfacher Sondierungsgespräche nach wie vor aus. Bei den Regierungsverhandlungen im Dezember 1988 hat die deutsche Delegation erneut eine konkrete Zusammenarbeit im Bereich Umwelt- und Naturschutz vorgeschlagen. Die maßgeblichen türkischen Stellen räumen mittlerweile — das wurde hier auch gesagt — dem Umwelt- und Naturschutz tatsächlich einen höheren Stellenwert ein. Die in den hier zur Entscheidung anstehenden Anträgen der Fraktionen vorgeschlagenen Maßnahmen zum Umwelt- und Naturschutz in der Region stimmen auch weitgehend mit entsprechenden türkischen Vorstellungen überein.Aber, meine Damen und Herren, die türkische Seite hat ganz deutlich gemacht, daß sie für diesen Sektor der Zusammenarbeit zusätzliche Mittel erwartet. Das ist auch verständlich, denn die Mittel sind generell knapp, besonders im Bereich der technischen Zusammenarbeit sind sie knapp und für wichtige bereits vereinbarte Sektoren wie Berufsausbildung, Förderung der Klein- und Mittelindustrie, Prüf- und Normwesen festgelegt.Der ursprünglich vorgesehene Betrag von 10,7 Millionen DM aus DEG-Eigenmitteln sowie aus Mitteln des Niederlassungsprogramms steht hierfür nicht mehr zur Verfügung; er war an das Projekt „KaunosBeach-Hotel" gebunden. DEG-Eigenmittel sind ausschließlich für Privatinvestitionen bestimmt und können nicht einfach, wie Herr Kollege Pohlmeier sagte, „umgetopft" werden.
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9224 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Parl. Staatssekretär Dr. KöhlerMeine Damen und Herren, wir haben deshalb beschlossen, der Türkei im laufenden Haushaltsjahr
— ich mache Ihnen gerade eine Freude, Frau Hensel— auf Antrag zusätzliche Mittel zur Verwendung für Umwelt- und Naturschutzvorhaben bereitzustellen. Bei den nächsten Regierungsverhandlungen im kommenden Juni können wir — und wir sind dazu bereit — der Türkei bis zu 5 Millionen DM finanzielle Hilfe und 3 Millionen DM technische Hilfe für Umweltinvestitionen anbieten, wie sie in den vorliegenden Anträgen vorgesehen sind, also etwa für den Bau von Kläranlagen oder die Reinigung von Industrieabwässern, für die Einrichtung von Naturparks, für die Kartierung von schutzwürdigen Gebieten oder für den Bereich der Umweltverträglichkeitsprüfung.
Im übrigen gilt — darauf mache ich ausdrücklich aufmerksam — auch für die Türkei in Zukunft die Regelung, daß wir bereit sind, für Vorhaben des Umweltschutzes finanzielle Hilfe als Zuschuß, nicht als verzinslichen Kredit, zu geben. Die GTZ ist, wenn die türkische Seite dies wünscht, auf eine kurzfristige Ausreise von Fachleuten vorbereitet.Meine Damen und Herren, das bedeutet, daß wir bereits seit geraumer Zeit im Sinne der Anträge, die hier vorliegen, handeln, daß wir versuchen, das türkische Zögern zu überwinden und die Dinge voranzutreiben. Da dies so ist und da wir in einer Verhandlungslage sind, die sich selbstverständlich von Tag zu Tag verändern kann, wäre meine Bitte, daß Sie von einer zu engen Festlegung der Bundesregierung in den Einzelfragen absehen. Wir sind auf dem Wege.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Ausprache.
Interfraktionell ist vereinbart worden, daß über die Anträge unter den Tagesordnungspunkten 16 a bis c, anders als es in der Tagesordnung vorgesehen war, sofort abgestimmt werden soll.
Wer für den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/2657 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit angenommen.
Wer für den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3452 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3454. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit derselben Mehrheit abgelehnt worden.
Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 16 d, und zwar zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Drucksache 11/2352. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe a
der Beschlußempfehlung, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1666 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Punkt a der Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt unter Punkt b der Beschlußempfehlung, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1872 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit angenommen worden, und wir sind am Ende der Beratung dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 18. Oktober 1969 zur Errichtung der Karibischen Entwicklungsbank
— Drucksache 11/3140 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit
— Drucksache 11/3953 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Hedrich Dr. Holtz
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/3954 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Esters Borchert
Frau Seiler-Albring Frau Vennegerts
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schreiber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke und hoffe, daß wir jetzt einen Punkt haben, den wir relativ unstreitig erledigen können.
Augenblick, Herr Kollege. Darf ich die Kollegen bitten, das Gespräch draußen weiterzuführen, wenn es nicht zu unserem Tagesordnungspunkt gehört?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9225
Ich bedanke mich.Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung in seiner Beschlußempfehlung vom Dezember 1984 — die Debatte hatten wir bekanntlich am 17. Januar 1985 — aufgefordert, der Karibischen Entwicklungsbank beizutreten, wenn diese die Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Diese Beschlußempfehlung steht in einer engen Beziehung zum Antrag der Koalitionsfraktionen bezüglich eines Entwicklungsprogramms für die Karibik und Zentralamerika, und diesen Antrag hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erstmals schon aus der Opposition heraus am 1. Februar 1982 eingebracht.
— Sie erinnern sich vielleicht daran, Herr Kollege Holtz, daß es in der damaligen Regierungsfraktion der SPD durchaus auch kritische Stimmen gab. Sie gipfelten in der Feststellung, man könne ebensogut auch für andere Regionen Sonderprogramme fordern, und sie schlugen sich natürlich auch darin nieder, daß man uns unterstellte, nur die politischen Beziehungen der Christdemokraten zu dieser Region hätten unser Interesse geweckt. So kann man danebenliegen, aber in der Demokratie kann man und muß man dazulernen. Ich stelle fest und freue mich, daß die SPD dazugelernt hat und daß wir hier zu einer breiten Einigung kommen. Ich stelle auch fest — Herr Kollege Holtz, ich sage das ganz bewußt an Ihre Adresse — , daß wir in den vergangenen Jahren auch bei entsprechenden Reisen diesen Karibik-Antrag offensiv vertreten haben.
Meine Damen und Herren, ich glaube, die weitere Entwicklung in Mittelamerika hat unsere Befürchtungen leider bestätigt und den Antrag Jahr für Jahr neu gerechtfertigt. Die karibischen Inselstaaten, um die es heute geht, sollten aus ihrem Schattendasein herausgeholt werden, und es ist offenbar längst vergessen, daß sich an einer karibischen Insel die größte Bedrohung des Weltfriedens seit Ende des Weltkrieges festmachte. Ich denke, dazu gehört auch, zu bemerken, wie wenig Kenntnisse über die kleineren karibischen Inseln bei uns vorliegen. Das beweist auch die damalige Diskussion um die Intervention der USA in Grenada, sicher eine umstrittene Intervention. Daß der damalige SPD-Vorsitzende diese Intervention mit der sowjetischen Intervention in Afghanistan verglichen hat, dann ist das ein Stück weit auch dadurch begründet — und das ist auch zu kritisieren — , daß zu wenig über die tatsächliche Situation der Karibik und der kleineren Karibikinseln sichtbar wird. Ich denke, mit einer derartigen Exotik werden wir den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen dieser Region nicht gerecht.Was wollen wir mit unserem Engagement bei der Karibischen Entwicklungsbank erreichen?Erstens. Die Inselstaaten sind teilweise so klein, daß sie aus dem groben Netz der Instrumente unserer bilateralen Zusammenarbeit herausfallen. Ich bedauere das, denn dies ist auch ein Eingeständnis dafür, daß staatliche Hilfe zwingend groß sein muß, so groß, daß sie die Absorptionsfähigkeit der kleineren Länder übersteigt. Das ist sicher ein Thema, das wir an anderer Stelle, weil es eben auch eine Frage der Methodik ist, noch einmal diskutieren müssen.Zweitens. Die Maßnahmen der Bank unterstützen das Bestreben um die regionale Zusammenarbeit. Der karibische gemeinsame Markt CARICOM ist ein wichtiges Instrument, um die Nachteile begrenzter Ressourcen und kleiner nationaler Märkte zu überwinden. Gerade bei diesen Inseln zeigt sich, daß Binnenmarktentwicklung zwingend mit Verbesserungen in der Exportwirtschaft einhergehen muß — Tourismus zählt sicher auch zu diesen Exporten — , und es geht nicht darum, Binnenmarktorientierung gegenüber Exportorientierung auszuspielen, sondern beide Bereiche stärker miteinander zu verflechten, und hier besteht in der Karibik ein großer Nachholbedarf.Drittens. Eine besondere Bedeutung werden bei der Bank sicher die günstigen Kredite aus dem Sonderfonds erhalten, schon allein deshalb, weil diese Region in höchstem Maße katastrophengefährdet ist. Die Hurrikane der vergangenen Jahre dürften nicht die Verschuldung der heimgesuchten Inseln bis in alle Ewigkeit besiegeln, sondern ich glaube, auch hier muß deutlich werden, daß sich eine solche Region, die in einem besonderen Maße auch unter Naturereignissen zu leiden hat, trotz dieser nicht vorhersehbaren Naturkatastrophen auch wirtschaftlich weiterentwikkeln kann.Viertens. Ich hoffe, daß die Bankpolitik bereits folgende Aspekte berücksichtigt: eine bestehende und aktive Umweltabteilung der Bank. Ich denke, das ist ein Thema, das uns ja in allen Bereichen der Entwicklungspolitik in den letzten Monaten und Jahren begleitet hat. Auch das muß man ein Stück weit reklamieren. Eine solche Umweltabteilung der Bank muß bei den natürlichen Gegebenheiten der Mitgliedsländer schon in der Planungsphase aktiv werden und nicht erst nach eingetretenen Umweltschäden.Des weiteren ist eine verstärkte Einbeziehung von privaten Selbsthilfeorganisationen, die in der Region angesiedelt sind, durch die Bank erforderlich. Wir hatten ja im letzten Jahr die Gelegenheit, mit einer Delegation des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Karibik zu besuchen. Wir haben festgestellt, daß durchaus schon eine ganze Reihe von Projekten in der Karibik staatenübergreifend auf den Weg gebracht worden sind. Das sind sicher gute Beispiele, die durch eine solche Entwicklungsbank natürlich unterstützt werden können. Vielleicht können sogar neue Projekte auf den Weg gebracht werden.Wir konnten in einem Gespräch mit Vertretern der Karibischen Entwicklungsbank auch feststellen, daß ein sehr großes Interesse an dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland besteht. Daß wir das heute nachvollziehen können, daß wir dazu heute in der Lage sind, ist, finde ich, eine gute und richtige Entscheidung, auch wenn es etwas lange gedauert hat. Wenn man sich die Überschrift des Gesetzentwurfes ansieht, weiß man, daß das bereits seit vielen Jahren auf der Tagesordnung steht. Ich finde es gut, daß das jetzt möglich ist.Diese Region ist eine Region, die, wenn man Kuba einmal außer acht läßt — auch außenpolitisch —, nicht in diesem Maße unsere Aufmerksamkeit hat.
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9226 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
SchreiberWenn man Länder dieser Region besucht, stellt man immer wieder fest, daß die Staaten dieser Region, die ja, wie ich eben sagte, zum Teil Kleinststaaten und Kleinstaaten sind, es sehr bedauern, daß die große Politik sozusagen an ihnen vorbeigeht und die Kontakte zu den großen Industriestaaten relativ spärlich sind.Ich denke, wir sind auf einem richtigen Weg, wenn wir dieser Entwicklungsbank beitreten. Ich hoffe, daß wir der Entwicklung dieser wichtigen Region vor den Pforten des Festlandes von Südamerika dadurch weitere Impulse geben können.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Holtz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 17. Januar 1985 hat der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit die Bundesregierung aufgefordert, der Karibischen Entwicklungsbank beizutreten. Übrigens: In keinem Antrag vorher war dieser Schritt gefordert worden. Es ist ein sinnvoller Schritt, von dessen Wichtigkeit ich mich bereits auf einer Reise in die Region im März 1984 überzeugen konnte, auch in einem Gespräch mit dem damaligen Vizepräsidenten der Bank. Jetzt ist er Präsident. Dementsprechend bin ich damals auch aktiv geworden. Schade, daß es vier ganze Jahre dauern mußte. Trotzdem begrüßt die SPD selbstverständlich den Beitritt.
In der Tat ist die Zusammenarbeit mit jedem einzelnen der karibischen Staaten auf bilateralem Wege zu aufwendig und vermutlich auch nicht so effektiv. Die Beteiligung an der Karibischen Entwicklungsbank bietet die Möglichkeit, auf die spezifischen Bedürfnisse der karibischen Mitgliedstaaten einzugehen, die sich alle in einer besonderen Lage befinden: Sie sind Entwicklungsländer. Hinzu kommt eine weitere koloniale Hypothek: Sie sind ethnisch, kulturell und sprachlich stark zergliedert.
Sie sind größtenteils Miniaturstaaten. Dominica hat z. B. noch nicht einmal 100 000 Einwohner. Die Turks- und Caicosinseln haben gerade 7 000 Einwohner. Sie sind mit entsprechenden Problemen wie der extremen Abhängigkeit von Auslandsmärkten und einem schwachen Binnenmarkt konfrontiert. Sie sind schließlich bis auf Guyana und Belize Inselstaaten, was sowohl die Kommuniaktion untereinander als auch die mit der übrigen Welt erschwert.
Gegründet wurde die Karibische Entwicklungsbank 1969 in der Region selbst von den demals 16 karibischen Staaten und Territorien, dazu noch von Großbritannien und Kanada. Da Herr Kollege Schreiber vom Schattendasein gesprochen hat, möchte ich diese Inselstaaten einmal aus dem Schattendasein herausholen und im Bundestag aufzählen. Ich schätze, einige werden zum erstenmal hier genannt: die Bahamas, Dominica, Montserrat, Antigua und Barbuda, St. Kitts und Nevis, Die Britischen Jungferninseln, die Turks- und Caicosinseln, St. Lucia, Barbados, St. Vincent und Grenadinen, Grenada, Trinidad und Tobago, Guyana, Belize, die Kaimaninseln und Jamaika. Jamaika ist mit 2,4 Millionen Einwohnern fast ein Großstaat in der Region.
Herr Abgeordneter, darf ich Sie unterbrechen?
Bitte.
Sie müssen aber noch sagen, ob sie über dem Wind oder unter dem Wind liegen.
Beides, unter dem Wind und über dem Wind. Sie kennen sich sehr gut aus, Herr Vizepräsident.
1982 kam Anguilla dazu. Wenn diese Karibikinsel nicht gerade von einem Taifun überzogen wird, lohnt es sich, dort wirklich einmal eigene Erfahrungen zu sammeln, möglichst auf eigene Kosten.Schon in den siebziger Jahren waren die Karibikanrainer Venezuela, Kolumbien und Mexiko der Bank als nicht kreditnehmende regionale Mitglieder beigetreten. Inzwischen sind auch Frankreich und Italien Mitglieder, die USA nicht.Die SPD hat die Bundesregierung wiederholt aufgefordert, ein eigenes Konzept für ihre Politik gegenüber Mittelamerika und der Karibik vorzulegen, das nicht allein darin besteht, flankierend zu den USA tätig zu werden. Wir haben betont, daß die Region nicht durch die Brille des Ost-West-Konflikts gesehen werden darf.Der Linkstrend, den die westliche Welt beinahe hysterisch nach der Revolution auf Grenada 1979, nach Manleys Versuch eines demokratischen Sozialismus auf Jamaika und einem kurzen revolutionären Zwischenspiel auf Dominica konstatierte, fand nicht statt. Stattdessen schlug auf Grenada der „big stick" zu. Am 25. Oktober 1983 marschierten US-Truppen in Grenada ein. Sie blieben bis zum Juni 1985. Das war doch wohl ebenfalls eine völkerrechtswidrige Invasion oder nicht, lieber Kollege Schreiber? Das war doch eine völkerrechtswidrige Invasion.Ungeheuerlich war es damals, daß der seinerzeitige Entwicklungshilfeminister Warnke, jetzt auf die Bahn geschoben, auf Grenada verwies, an dessen Beipiel — so Warnke damals — gelernt werden könne, daß man nicht ungestraft seine Souveränität mißbrauchen dürfe. Diese Warnke-Doktrin einer beschränkten Souveränität für Entwicklungsländer verdeutlichte das totale Einschwenken auf die interventionistische Linie der US-Politik, wenigstens damals. Eine solche Doktrin muß — da sind wir uns hoffentlich alle einig — heute ad acta gelegt sein.Wer gar von einer Kubanisierung der Karibik sprach, der verkannte, daß die Ursachen für Aufruhr und Unruhe in Armut, Arbeitslosigkeit und sozialen Gegensätzen lagen und daß es sich auch um ein Ver-
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Dr. Holtzteilungsproblem und nicht um ein kommunistisch infiltriertes Dominospringen handelte.Die Entwicklung der Region entscheidet sich hauptsächlich auf drei Feldern: Es muß den Kariben gelingen, die Integration wirklich voranzutreiben, ihr natürliches Entwicklungspotential produktiv zu nutzen und die strukturellen Hypotheken der über 400jährigen Kolonialgeschichte zu überwinden. Denn Monokulturen, ungerechte Landverteilung, extreme Weltmarktabhängigkeit und großes soziales Gefälle, bei dem oft noch Rasse und Klasse miteinander korrelieren, sind häufig Folgen der alten kolonialen Plantagenwirtschaft und der Rollenverteilung zwischen der Karibik als Produktionsstätte, Afrika als Arbeitskräftelieferant und Europa als Steuerzentrale und Nutznießer dieser Arbeitsteilung.Viele karibische Staaten verfügen über eine lange Tradition der parlamentarischen Demokratie. Das unterscheidet diese Region insgesamt z. B. von Afrika und vielen asiatischen Staaten. Sie haben eine gut entwickelte politische Infrastruktur. Das Pro-KopfEinkommen ist gemessen an anderen Entwicklungsländern relativ hoch, ebenso die Indikatoren Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate.Die Probleme der Karibikinseln liegen woanders. Die Arbeitslosigkeit beträgt in fast allen Staaten 20 % und mehr. Insbesondere den Kleinbauern geht es schlecht, weil große Nutzflächen brachliegen. Viele von ihnen flüchten in die Städte, um die sich bereits Slumgürtel bilden.Hier ist anzusetzen. Das Entwicklungspotential der Fischer, der Kleinbauern, der Handwerker und der Frauen muß viel besser genutzt werden.Die Karibische Entwicklungsbank, die ihre Arbeit 1970 aufnahm, spielt eine besondere Rolle, was die Bereitstellung von Finanzkapital und technischer Hilfe angeht. Sie besitzt eine Leitfunktion für die Wirtschaftspolitik ihrer karibischen Mitglieder und für die regionale Kooperation und Integration. Sie wird häufig zu Recht als finanzielle und ökonomische Datenbank und handelnde Bank der Karibik bezeichnet.Im Gegensatz etwa zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank, wo sich die Entwicklungsländer bei den gewogenen Stimmrechtsanteilen in der Minderheit befinden, haben hier die karibischen Mitgliedstaaten eine eindeutige Mehrheit. Ich muß sagen, daß das besonders partnerschaftlich angelegt ist, auch wenn jetzt die Bundesrepublik Deutschland dazutritt. Wir werden auf die Bundesrepublik rund 6 % der Stimmrechtsanteile vereinigen. Bei den anderen Staaten ist das ähnlich. Aber es bleibt dabei, daß die karibischen Staaten dort die Mehrheit haben.Die Karibische Entwicklungsbank hat bislang spezifische Projekte auf nationaler, subregionaler oder regionaler Ebene finanziert, und zwar auf verschiedenen Feldern wie Landwirtschaft, Fischerei, Aufforstung, Handwerk, Tourismus, Marketing, Transportwesen, Hausbau für kleine und mittlere Einkommensschichten, Infrastruktur und Dienstleistungsmaßnahmen und Stipendien für Studenten.Zwischen 1970 und 1986 wurden rund 600 Millionen US-Dollar an zinsgünstigen Krediten und Zuschössen zugesagt. Es ist gut, daß die Bundesrepublik jetzt 26 Millionen Dollar für den Sonderfonds, für den Spezialfonds einsetzen will, die besonders bedürftigen Ländern und Bevölkerungsgruppen zugute kommen. Die Bundesregierung, die in der Karibischen Entwicklungssbank mit einem eigenen Gouverneur und einem Exekutivdirektor vertreten sein wird, sollte insbesondere darauf achten, daß die Mittel diesen Bevölkerungsgruppen zugute kommen und für die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen eingesetzt werden.Auch auf die Nachsorge von Projekten muß geachtet werden. Abgeordnete des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, u. a. der Kollege Schreiber, die Kollegin Folz-Steinacker, waren jetzt in der Region. Sie haben sich in Barbados davon überzeugen können, daß die EG den Bau eines Kühlhauses finanziert hatte, das die Fischer unabhängig machen sollte, den Fang sofort verkaufen zu müssen. Das Kühlhaus funktionierte auch eine Zeitlang, aber dann nicht mehr richtig, weil die Regierung die Mittel zur Erhaltung nicht zur Verfügung stellte.Zum Abschluß, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Bundesregierung sollte deshalb ihre Stimmen gezielt dafür einsetzen, daß in den einzelnen Ländern eine auf Dauer tragfähige, ökologisch und sozial verträgliche Entwicklung gefördert und insbesondere die Möglichkeit geschaffen wird, die Ernährungsbasis der Bevölkerung zu sichern; daß produktive Investitionen getätigt werden, die Arbeitsplätze schaffen; daß soziale Maßnahmen gefördert werden, die mithelfen, die relative Armut auf dem Land und in den Städten zu beseitigen und daß auch eine anständige Nachsorge bei den Projekten durchgeführt wird.Besten Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Folz-Steinacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat wiederholt auf die Notwendigkeit einer Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Ländern Zentralamerikas und der Karibik hingewiesen. Ich nenne hier vor allem den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 17. Januar 1985, in dem u. a. auch ein Beitritt zur Karibischen Entwicklungsbank gefordert wurde. Sie sehen, der Beschluß ist nicht mehr so ganz taufrisch.Wir begrüßen den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung, mit dem jetzt die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für einen Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Karibischen Entwicklungsbank geschaffen werden sollen. Diese Entwicklungsbank, die 1969 von 16 karibischen Staaten sowie von Großbritannien und Kanada gegründet wurde — ich hatte mir natürlich die Namen alle herausgesucht; aber da Sie mittlerweile schon 20 Namen kennen, werde ich mir die 16 sparen —, verfolgt den Zweck, durch Kreditvergabe und Gewährung technischer Hilfe zur harmonischen wirtschaftlichen Entwicklung ihrer karibischen Mitgliedstaaten beizutragen sowie
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Frau Folz-Steinackerdie wirtschaftliche Zusammenarbeit und Integration unter ihnen zu fördern.Ihr Sonderfonds gewährt dabei konzessionäre Kredite besonders an die ärmeren und kleineren Mitgliedstaaten, wie mein Kollege das eben schon vermerkt hat.Eine weitere wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche wirtschaftliche und soziale Entwicklung dieser Region ist die Fortführung und Vollendung des Friedensprozesses sowie die Schaffung dauerhafter demokratischer Strukturen in allen Staaten Zentralamerikas. Dieser Friedensprozeß muß und soll durch finanzielle Hilfe und durch unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit unterstützt werden.Diese Mitgliedschaft wird, denke ich, unser entwicklungspolitisches Engagement in der Karibik ganz deutlich verstärken; aber, meine Damen und Herren, nicht nur dies. Die Bundesrepublik Deutschland wird den durch den Friedensgipfel in El Salvador intensivierten Demokratisierungsprozeß verstärkt unterstützen können. Das finde ich sehr, sehr wichtig. Ich begrüße an dieser Stelle ganz ausdrücklich die Beschlüsse von El Salvador und hoffe, daß Nicaragua den Weg zur Demokratie findet.Unser Beitritt zur Karibischen Entwicklungsbank unterstreicht unser ganz besonderes Interesse an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung dieser Region. Außerdem verstärkt der Beitritt unsere wirtschaftlichen und, denke ich, auch die politischen Beziehungen zu diesen Mitgliedstaaten und fördert gleichzeitig die regionale Integration. Diese Ziele stehen in völligem Einklang mit den Bemühungen der Europäischen Gemeinschaft — vorhin hörte ich „Binnenmarkt".Neben einer Mitwirkung im Rahmen der Interamerikanischen Entwicklungsbank, der Interamerikanischen Investitionsgesellschaft und der multilateralen Investitionsgarantieagentur stellt der Beitritt zur Karibischen Entwicklungsbank ein weiteres wesentliches Element dar.Im Namen der FDP-Bundestagsfraktion bitte ich, dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen.Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ganz so eindeutig sehen wir die Dinge nicht.
Wir glauben nicht, daß man da vorbehaltlos zustimmen kann. Es sind ja auch einige skeptische Töne in den Beiträgen vorher angeklungen; die möchte ich ein wenig verstärken.Wir sehen selbstverständlich die positiven Anteile des Beitritts zu dieser Bank. Wir selber vertreten ja die Konzeption, daß die Entwicklungsfinanzierung erstens multilateral abgewickelt werden soll, sich dann zweitens aber nicht völlig zentralistisch darstellen soll,sondern dezentralisiert werden soll. Wir halten sehr viel von dem Konzept der Regionalförderung. Dies scheint uns der Fortschritt bei der Stärkung dieses Instruments zu sein.Gleichzeitig befürchten wir aber, daß, da dies eine Bank und kein Fonds ist, der Arbeit dieses Instruments bestimmte Kriterien zugrunde gelegt werden, die durchaus geeignet sind, den Entwicklungserfolg in Frage zu stellen; dieser wäre gegeben, wenn die Arbeit wirklich auf die interne Entwicklung zur Versorgung der armen Bevölkerungsschichten mit Grundbedarfsmitteln abzielte. Wir müssen aber befürchten, daß die Bank, vor allen Dingen unter dem Einfluß der entwicklungspolitischen Philosophie der großen multilateralen Zentralbanken wie der Weltbank, auch darauf ausgerichtet sein wird, die Volkswirtschaften dort stärker auf den Export umzustellen.
— Sicher.Diese generelle Ausrichtung sehen wir zunächst einmal skeptisch. Es könnte ja durchaus denkbar sein, daß ganz bestimmte Formen von sogenannter Entwicklung gefördert werden, also etwa die Entwicklung reiner Finanzplätze, wie es sie auf den CaymanInseln gibt, oder freier Produktionszonen, wie es sie zwar noch nicht in der Karibik gibt, aber zumindest im benachbarten Panama. Wir haben die Befürchtung, daß dort Industrialisierungsmodelle oder Modelle von Finanzplätzen eingeführt werden, wie sie etwa in Südostasien schon vorherrschen. Deshalb halten wir es für erforderlich, die Konzeption zumindest noch zu hinterfragen.Wir zweifeln auch ein wenig die Motivation der Bundesregierung an, dieser Bank beizutreten; denn bisher galt die Karibik immer als der Vorgarten der Vereinigten Staaten. Die Interventionen in Grenada, in der Dominikanischen Republik usw. wurden erwähnt. Ich denke, daß, wenn die Bundesregierung nun der Bank beitritt, sie dies vor dem Hintergrund einer Analyse von Kissinger tut, die er 1984 erstellt hat: der Kissinger-Report zur Karibik und zu Zentralamerika. Er war Grundlage von Reagans Karibik-Politik.In diesem Kissinger-Bericht ist festgehalten, daß sich die Interessen Europas in der Karibik eindeutig aus den Interessen der Vereinigten Staaten abzuleiten hätten. Er hält fest, daß die USA ihren Verpflichtungen gegenüber der Allianz nur nachkommen können, wenn die Sicherheiten der karibischen Küsten gewährleistet seien, weil im Konfliktfall von dort aus der Nachschub für Europa organisiert werden müßte. Kissinger stellt fest, daß einige europäische Regierungen zu große Sympathien für die Sandinisten und für die Rebellion in Salvador hätten, und fordert von daher, daß die USA die diplomatische Unterstützung Europas suchen sollen, aber dort, wo sie diese nicht bekämen, zumindest auf Zurückhaltung der Europäer drängen sollen. Wörtlich sagt Kissinger: Wir sollten sie — die Europäer — stark entmutigen, dem sandinistischen Regime zu helfen, so lange es nicht grundlegend seinen Kurs ändert. Wir sollten ihr wirtschaftliches Interesse in der Region ermutigen, um politische,
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Volmerwirtschaftliche und soziale Reformen bilateral und durch multilaterale Institutionen zu fördern.Nun fördert die Bundesregierung durch multilaterale Institutionen, einige Jahre, nachdem Kissinger dies als Parole herausgegeben hat, während sie sich genauso, wie Kissinger es fordert, in Nicaragua desengagiert, sich zurückhält, was die Unterstützung der demokratischen Oppositionskräfte in Salvador angeht, und vor allen Dingen auch geschwiegen hat zu dem völkerrechtswidrigen Überfall der Amerikaner auf Grenada.Wir befürchten, daß die Bundesregierung diesen Schritt eher als weitere Assimilation ihrer Außenpolitik im Interesse der Vereinigten Staaten begreift. Dies gibt uns zumindest Anlaß, das Gesamtprojekt soweit in Zweifel zu ziehen, daß wir ihm nicht vorbehaltlos zustimmen können. Wir werden uns der Stimme enthalten.
Das Wort hat der Parlamentarische Statssekretär Dr. Köhler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich würde ja so gerne in den allgemeinen Jubel über die Entdeckung der karibischen Inselwelt, den ich hier vorhin hörte, einstimmen; nur fällt es mir ein bißchen schwer. Mir fiel nämlich auf, als Herr Holtz uns eben einmal die Namen nannte, damit wir sie auch alle mal hören, daß der überwiegende Teil dieser Inselstaaten seit vielen Jahren Mitglied der Lomé-Konvention ist und damit an einer Zusammenarbeit Anteil hat, die von der Bundesrepublik Deutschland mit 27 % im Rahmen des europäischen Entwicklungsfonds finanziert wird.
So ganz neu ist die Gegend für uns wohl auch nicht.Lieber Herr Kollege Holtz, Sie sagten mit einem leichten Seitenhieb, es habe fast vier Jahre gedauert seit dem Beschluß des Bundestages vom Januar 1985, der für mich ein außerordentlich wichtiger Beschluß ist, für den ich bis heute extrem dankbar bin und der in vielfältiger Hinsicht Leitschnur unseres Handelns für Mittelamerika und die Karibik ist. Aber wenn Sie daran erinnern, dann erlaube ich mir doch den Hinweis, daß 1981/82 die Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion unter den Namen Karl Lamers und Volkmar Köhler diesen Antrag eingebracht hat, dessen Verabschiedung dann über drei Jahre im Parlament gedauert hat.
— Das ist richtig, Herr Holtz, aber es war im allgemeinen Duktus der Angelegenheit enthalten, und die Empfehlung, die 1985 gegeben wurde, haben wir absolut ernst genommen.Wir hatten dabei ein Problem; denn in der deutschen Entwicklungspolitik galt es seit eh und je als ausgemachte Sache und es war ein Grundsatz, daßman subregionalen Entwicklungsbanken nicht beitreten sollte, da in vielen Fällen die Bonität und auch die entwicklungspolitische Bedeutung solcher Banken in Zweifel gezogen werden muß. Die gilt — und davon haben wir uns sorgfältig überzeugt — nicht für die Karibische Entwicklungsbank. Sie ist in der Region eine angesehene und eine finanziell solide Bank, und sie leistet einen wertvollen Beitrag gerade zur Regionalentwicklung.Der Beitritt ist deswegen für uns sinnvoll, weil wir gerade diese regionale Entwicklung wollen. Wir haben, lieber Herr Kollege Holtz, deswegen auch z. B. 1984 mit Kanada, das als eines der Gründungsmitglieder der Bank, in dieser Region sehr wichtig ist, Konsultationen zur Vorbereitung unseres Beitritts aufgenommen, also schon Monate, bevor die formelle Beschlußfassung hier erfolgte, an deren Ausgang wir allerdings auch keinerlei Zweifel hatten.Wir mußten aber nicht erst bis heute warten, um mit der Bank zusammenzuarbeiten und in dem Raum etwas zu tun, sondern wir haben bisher insgesamt 31,5 Millionen DM finanzielle Zusammenarbeit für eine Vielzahl kleinerer Maßnahmen, die die Bank in ihren Mitgliedsländern durchführt, zur Verfügung gestellt.
— Ja, ganz recht. — Eine solche Kreditvergabe räumt uns allerdings keinen Einfluß auf die allgemeine Geschäftspolitik der Bank ein. Das ist der Grund, weshalb wir Mitglied der Bank werden wollen.Übrigens, allein von den Zeitabläufen her, die ich hier schildere, mutet es geradezu als humoristischer Beitrag an, wenn der Kollege Volmer hier vermutet, wir hätten das alles erst bei Herrn Kissinger vor vier Jahren nachlesen müssen, ganz davon abgesehen, daß es auch für denjenigen, der die Gegend kennt, sehr signifikante Unterschiede zwischen dem zentralamerikanischen Isthmus und der karibischen Inselwelt gibt.Am 11. Mai 1988 hat die Karibische Entwicklungsbank durch einen Beschluß ihres Gouverneursrates dem Beitrittsantrag der Bundesrepublik Deutschland zugestimmt und die Beitrittsbedingungen spezifiziert. Danach können wir 6,26 % der Kapitalanteile im Wert von 37,6 Millionen Dollar erwerben. Auf den Betrag sind 8,6 Millionen Dollar einzuzahlen. Der Rest ist Haftungskapital. Der Stimmrechtsanteil wird für uns 6,19 % betragen, d. h. wir liegen in der Größenordnung von Italien und Frankreich, die als nicht regionale Mitglieder dabei sind.Wir sind auch Mitglied des Sonderfonds. Herr Volmer, der Fonds, den Sie hier qualifiziert haben, ist eben Bank und Fonds zugleich. Unser Fondsbeitrag beläuft sich auf 26 Millionen Dollar. Das entspricht ebenfalls den mit Frankreich und Italien vereinbarten Leistungen. Wir haben für die Kapitalanteile und den Sonderfonds in diesem Haushaltsjahr 5,3 Millionen DM aufzubringen. Das ist im Haushalt berücksichtigt.Es ist also eine relativ kleine Bank. Aber sie hat in den letzten Jahren durchschnittlich Mittel in Höhe von etwa 40 Millionen Dollar zusagen und auch aus-
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Parl. Staatssekretär Dr. Köhlerzahlen können. Das ist für die Region zu wenig. Wenn sie auch nur 10 % der im öffentlichen Sektor erforderlichen Investitionen finanzieren will, muß sie die Ausleihungen beträchtlich erhöhen. Dazu wird eine Kapitalerhöhung vorbereitet. Wenn sie, wie es sich im Moment abzeichnet, kommt, müßten wir weitere 2,8 Millionen Dollar — voraussichtlich in 10 Jahresraten — einzahlen. Das bedeutete eine jährliche Belastung des Bundeshaushalts ab dem Haushaltsjahr 1990 um rund weitere 500 000 DM. Dieser Vorschlag ist erst vor wenigen Wochen an uns herangetragen worden und konnte noch nicht abschließend geprüft werden. Ich berichte das hier trotzdem, weil es ja in der Logik des Beitritts läge, sich an dieser Kapitalerhöhung zu beteiligen.
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß Sie mit Ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf eine Einrichtung fördern, die wirklich einen wirksamen Beitrag zur Entwicklung der karibischen Kleinstaaten leisten kann und unser Interesse an einer harmonischen wirtschaftlichen Entwicklung und an der Sicherung des Friedens in dieser Region deutlich dokumentieren kann.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist das Gesetz mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten
— Drucksache 11/3919 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung und Technologie
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dörflinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten in nationales Recht gehört für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu den wichtigsten umweltpolitischen Gesetzgebungsvorhaben in der 11. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, geht es doch darum, auf nationaler Ebene in der Umweltpolitik das Prinzip der Vorsorge fest zu institutionalisieren und auf internationaler Ebene die umweltpolitische Pilotfunktion der Bundesrepublik Deutschland weiter auszubauen und zu festigen.Meine Damen und Herren, wer an dieser Pilotfunktion zweifelt, der möge sich einer einheitlichen Sprachregelung bedienen. Es geht nämlich nicht, einerseits von nationalem Versagen zu reden und auf der anderen Seite unsere europäischen Partner dazu aufzufordern, sich unserem Standard anzuschließen, oder von der Basis unseres Standards her nationale Alleingänge zu fordern.Wer den Zeitpunkt der Vorlage des Gesetzentwurfs kritisiert, sollte sich vergegenwärtigen — das ist auch gestern in der Befragung der Bundesregierung deutlich geworden —, welches umweltpolitische Pensum sich die Regierungskoalition für die 11. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages vorgenommen hat. Die Bundesregierung wäre schlecht beraten gewesen, ein Gesetz wie das UVP-Gesetz, das von derart weitreichender Bedeutung ist, mit der heißen Nadel zu stricken. Meine Damen und Herren, manche derer — das sage ich auch an die Adresse der Opposition —, die die Bundesregierung wegen ihres Tempos bei einer dynamischen Weiterentwicklung des umweltpolitischen Instrumentariums kritisieren, sollten sich gelegentlich einmal selbstkritisch fragen, ob sie nicht einen nicht unbeträchtlichen Teil der Arbeitskapazität des zuständigen Ministeriums auf dem Altar eines vordergründigen politischen Aktionismus opfern.
Die öffentliche Diskussion über den Gesetzentwurf der Bundesregierung, den wir heute in erster Lesung beraten, ist von einer auffälligen Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Der Vorwurf, der Gesetzentwurf bleibe erheblich hinter den objektiven Notwendigkeiten und den Erwartungen engagierter Umweltschützer zurück,
steht unmittelbar neben dem Vorwurf, das Konzept der Bundesregierung sei eine Investitionsbremse und gefährde, da andere Länder bei weitem nicht so konsequent vorgingen, den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland. Wie so oft liegt die Wahrheit in der Mitte; denn im internationalen Vergleich haben wir zu sehen, daß das Umsetzen der UVP-Richtlinie in der Bundesrepublik Deutschland auf einen bereits hohen umweltpolitischen Standard trifft.
Das sage ich auch angesichts der Kritik, der Katalog an Vorhaben sei nicht umfangreich genug oder wir hätten den Spielraum, den uns die EG gegeben habe, nicht genutzt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9231
DörflingerUnter nationalen Gesichtspunkten ist zu sehen, daß Umweltverträglichkeitsprüfungen bereits seit geraumer Zeit selbstverständlicher Bestandteil von Planungs- und Entscheidungsprozessen sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das am 1. Juli 1987 in Kraft getretene Baugesetzbuch,bei dem es das Anliegen aller Fraktionen war, Verfahrensabläufe festzuschreiben, die die Umweltverträglichkeitsprüfung zur selbstverständlichen Pflicht machen. Und es waren die kommunalen Spitzenverbände, die am Ende der Beratungen dieses Baugesetzbuches beispielsweise festgestellt haben, daß die Bestimmungen so ausgefallen seien, daß sie einem Umsetzen der UVP-Richtlinie gleichkämen.Ich erinnere an das Bundes-Immissionsschutzgesetz, an das Bundesfernstraßengesetz, an das Abfallgesetz,
wo überall der Zwang zur Umweltverträglichkeitsprüfung gegeben ist. Ich erinnere auch daran, daß parallel zu diesem Gesetzentwurf die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Änderung des Raumordnungsgesetzes vorgelegt hat, in dem sich das Umsetzen der UVP-Richtlinie findet.Von daher kann es also nicht um neue Verfahren oder gar neue Behörden gehen, sondern um die Integration der materiellen und formellen Elemente einer Umweltverträglichkeitsprüfung in bestehende Entscheidungsverfahren und um die daraus resultierende Ausgestaltung der entsprechenden Fachgesetze.Mehr Bürokratie bedeutet noch nicht mehr Umweltschutz.
Diesem Grundsatz wird der Gesetzentwurf der Bundesregierung ebenso gerecht wie den Erwartungen, die ich bereits in der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 21. April 1988 — damals unterhielten wir uns über Anträge der SPD und der GRÜNEN — für meine Fraktion zum Ausdruck bringen konnte, nämlich die Beteiligung der Öffentlichkeit generell zu gewährleisten, die UVP medien- und fachübergreifend anzulegen, die Verfahrens- und Entscheidungstransparenz zu verbessern, die UVP als Beitrag zur Rechtsharmonisierung einzusetzen sowie effektiver ausgestaltete Zulassungsverfahren anzustreben.Dabei sollten wir allerdings auch ernst nehmen, daß die Zulassungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren immer zeitraubender geworden sind, bereits bei der Erweiterung bestehender Anlagen. Auch hier nimmt, wie Untersuchungen zeigen, die Bundesrepublik Deutschland international gesehen eine — allerdings problematische — Spitzenposition ein.
Meine Damen und Herren, die konsequent gehandhabte Umweltverträglichkeitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland darf nicht mit internationalen Wettbewerbsnachteilen für die deutsche Wirtschaft einhergehen. Das gilt insbesondere für die Anlaufphase. Dieses Gesetz wird eine Anlaufphase zum Umsetzen brauchen. Im Blick auf die Dynamik, die der EG-Binnenmarkt entwickelt, haben wir schon darauf zu sehen, daß durch nationale Bestimmungen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht beeinträchtigt wird. Allerdings gehe ich davon aus, daß wir mittelfristig gesehen ein gleiches umweltpolitisches Bewußtsein in EG-Europa haben, daß wir eine gleiche Sensibilität der Bevölkerung zu konstatieren haben. Andererseits darf man auch die Wirtschaft, die gegenüber dieser Umweltverträglichkeitsprüfung Bedenken äußert, ausdrücklich ermuntern, dieses Instrument offensiv und positiv zu nutzen, zumal ich davon ausgehe, daß Umweltverhalten bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung schon bald ein Argument sein wird, das ökonomisch zu nutzen sein wird.Meine Damen und Herren, den Gesetzentwurf der Bundesregierung in seinem methodischen Ansatz, in seinem Aufbau und in seiner Zielsetzung zu begrüßen heißt für unsere Fraktion natürlich noch nicht, ihn unbesehen übernehmen zu wollen. Das wäre eine Verkennung der eigenständigen Aufgabe, die das Parlament hat.
Die Unionsfraktion lädt ausdrücklich zum Wettbewerb der Argumente ein, den wir uns von dem Dialog mit der Öffentlichkeit, von der Anhörung der Sachverständigen und natürlich auch von den Detailberatungen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages versprechen. Der Anregung des Bundesrates, die Praktikabilität des Gesetzes in der Praxis durch ein Planspiel zu erproben, stehen wir nicht ablehnend gegenüber. Doch sollten auf der anderen Seite auch die Notwendigkeiten gesehen werden, die Beratungen einigermaßen zügig abzuschließen und das Gesetz so schnell wie möglich in Kraft zu setzen.Ebenfalls vom Bundesrat stammt der Hinweis darauf, daß ohne die Präzisierung der in § 20 des Gesetzentwurfes angekündigten Verwaltungsvorschriften das UVP-Gesetz schwer vollziehbar sei. Die Unionsfraktion nimmt diesen Hinweis sehr ernst, weil von der Klarheit dieser Verwaltungsvorschriften und von der frühzeitigen Abstimmung des Bundes mit den Bundesländern, die die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrats allerdings auch ausdrücklich zugesagt hat, ein schnelles Wirksamwerden des Gesetzes ebenso abhängt wie der Erfolg des Bemühens um Rechtsklarheit.Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund kann man freimütig eingestehen, daß das Umsetzen dieser Richtlinie in den Verwaltungen sicher auch auf manche Unsicherheit trifft: Unsicherheit im Umgang mit dieser Richtlinie, Unsicherheit aber auch angesichts der Tatsache, daß sich Politik und Verwaltung in den letzten Jahren in einem relativ schnellen Tempo auf neue gesetzliche Vorschriften und Verordnungen einzustellen hatten. Wir haben deswegen darauf zu achten, daß sich solche Unsicherheiten im Umsetzen der UVP-Richtlinie nicht einstellen.Meine Damen und Herren, als Abgeordneter — Sie gestatten mir diese persönliche Bemerkung — , der
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Dörflingeraus der südbadischen Dreiländerecke kommt, habe ich eine besondere Sympathie zu der vom Bundesrat betonten Notwendigkeit grenzüberschreitender Behördenbeteiligung bei Nachbarstaaten, die nicht Mitglied der EG sind. Denn in der Tat darf die Umweltverträglichkeitsprüfung schon deswegen an Ländergrenzen nicht halt machen, weil wirkungsvoller Umweltschutz — das ist sicher unsere gemeinsame Überzeugung — auf Dauer nur auf internationaler Ebene erreicht werden kann.
Die Bereitschaft der Unionsfraktion zur fachlichen und sachlichen Kooperation wird ganz gewiß dort ihre Grenzen finden, wo, wie es der Vertreter der Fraktion der GRÜNEN in der Sitzung des Plenums vom 21. April 1988 in aller Offenheit angesprochen hat, die Umweltverträglichkeitsprüfung als höchst willkommener Hebel angesehen wird, um investitionspolitische Nullösungen in Dauerserie zu produzieren, wo man also die Umweltverträglichkeitsprüfung quasi zum Instrument einer einseitigen Ideologie umfunktionieren will. Das kann nicht Ausdruck einer Politik sein, die darauf angelegt ist, unseren Wohlstand zu erhalten, ohne ihn mit irreparablen Umweltschäden zu erkaufen. Mit anderen Worten: Die Buchstaben UVP müssen das Kürzel für Umweltverträglichkeitsprüfung bleiben und dürfen nicht zum Kürzel für das Unmöglichmachen vernünftiger Projekte werden.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Unsere Fraktion sieht die Umweltverträglichkeitsprüfung als Instrument einer Umweltpolitik, die sich am Prinzip der Vorsorge orientiert. Wir sehen in dieser UVP ein institutionalisiertes Mittel zur gleichgewichtigen Balance zwischen Ökonomie und Ökologie. Die UVP darf nicht blockieren, sie muß harmonisieren. Sie darf nicht mehr Bürokratie bringen, sondern sollte Politik und Verwaltungen durch klare Vorgaben instand setzen, umweltpolitische Gesichtspunkte von Anfang an in notwendigem Maße zu gewichten.Meine Damen und Herren, von diesen Prinzipien und von dieser ersten Beurteilung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung her laden wir Sie ein, mit uns in den Wettstreit in den vertiefenden Beratungen der Ausschüsse des Deutschen Bundestages zu treten.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Nichtbeachtung ökologischer Folgen des wirtschaftlichen Handelns kommt uns heute teuer zu stehen: Die Schäden der menschlichen Gesundheit steigen, die Sozialkosten wachsen und ganze Ökosysteme wie beispielsweise die Nordsee oder die tropischen Regenwälder drohen unwiderruflich zerstört zu werden. Wir müssen umsteuern, um eine dauerhafte, tragfähige wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung auch für kommende Generationen zu gewährleisten. Das ist für alle Beteiligten eine große Herausforderung, aber auch eine Chance.Wir benötigen für die notwendige Verwirklichung des Vorsorgeprinzips ein Frühwarnsystem, damit der in der Vergangenheit weitgehend bedenkenlose Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen aufhört. Dabei kommt einer anspruchsvollen Umweltverträglichkeitsprüfung, ein zentrales Instrument einer Umweltvorsorgepolitik, entscheidende Bedeutung zu.Bei der Umweltverträglichkeitsprüfung müssen wir vor der Illusion warnen, daß diejenigen Projekte und Verfahren, die eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchlaufen haben, auch umweltverträglich seien. Es kommt nach unseren Vorstellungen bei einer Umweltverträglichkeitsprüfung darauf an, bei Planungen und Vorhaben mit umwelterheblicher Bedeutung die Auswirkungen — soweit man sie erkennen kann — zu definieren, mögliche Risikoanalysen, Kosten-Nutzen-Analysen vorzunehmen und dann zu entscheiden, ob möglicherweise der ökonomische Nutzen auch unter ökologischen Gesichtspunkten so ist, daß es zu rechtfertigen ist, das Vorhaben, den Plan umzusetzen, oder ob uns unsere ökologische Vernunft gebietet, gegebenenfalls auch Planungen, weil sie ökologisch zu negativ zu Buche schlagen, zu verhindern. Das ist die zentrale Aufgabe einer Umweltverträglichkeitsprüfung.
Wir Sozialdemokraten haben, wie Sie wissen, unser Konzept im Februar 1988 hier im Deutschen Bundestag eingebracht. Wir haben die Eckpunkte gesetzt. Wir haben eine UVP-Vorstellung entwickelt, die Rechtssicherheit, Bürgerfreundlichkeit, Praktikabilität und Wirksamkeit gleichermaßen gestaltet.Wir hören immer wieder Klagen — auch eben wieder — , Umweltverträglichkeitsprüfungen würden zu unmöglichem bürokratischen Aufwand führen, würden Entscheidungsabläufe verhindern, würden sinnvolle, vernünftige Entscheidungsabläufe sogar blokkieren.
— Das war eben ein Argument von meinem Vorredner. Wir sagen, die UVP — und wir bitten darum, daß auch die Unternehmen und die Öffentliche Hand diese Chance begreifen — kann ein Instrument sein, Genehmigungsverfahren rationaler, ökologisch vernünftiger und damit letztlich auch schneller zu gestalten, weil die Akzeptanz der Bürger dann wächst, wenn die Bürger sicher sein können, daß alle Gesichtspunkte einer Planung mit in den Entscheidungsprozessen, Genehmigungsprozessen, einbezogen werden und nicht nur ökonomische oder betriebswirtschaftliche Überlegungen.
Im übrigen, meine Damen und Herren, werden in einigen Kommunen, wie wir alle wissen, bereits Umweltverträglichkeitsprüfungen — sehr anspruchsvolle sogar — erfolgreich praktiziert. Die uns vorliegenden Ergebnisse zeigen, daß insgesamt auch der Beschleunigungseffekt, den man sich versprechen kann, in vielen Fällen eingetreten ist.
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Schäfer
Meine Damen und Herren, daß Kooperationen zwischen Umweltverbänden und Industrien und einzelnen Firmen durchaus auch mit Erfolg praktiziert werden können, wenn es darum geht, anspruchsvolle große Vorhaben in die Wege zu leiten, zeigt das Verfahren z. B. der Ansiedlung eines Werkes von Daimler-Benz in Rastatt. Da haben sich freiwillig Firmenvertreter und Bundesumweltverbände an einen Tisch gesetzt und versucht, in dem Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie einen Weg zu finden.Meine Damen und Herren, wir haben auch in einigen Staaten außerhalb Europas, z. B. in den USA und in Kanada, langjährige Erfahrungen mit entsprechenden Umweltverträglichkeitsprüfungen. Dies sind Erfahrungen, die zeigen, daß die Chance und die Notwendigkeit einer umfassenden Umweltauswirkungsprüfung bei weitem mögliche Nachteile übertreffen.Was hat nun die Bundesregierung übernommen? Zunächst einmal hat sie lange ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Bis zum 2. Juli 1988 hätte die EG-Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Heute schreiben wir Februar 1989. Von der so viel gerühmten Vorreiterrolle in Sachen Umweltschutz, das ist nur ein Beispiel von vielen, kann nicht die Rede sein.
Ich will das im einzelnen nicht zitieren, aber der Gesetzentwurf hat auch schwere inhaltliche und formale Mängel. Aus dem von Ihnen, Herr Töpfer, vollmundig angekündigten „Königsweg einer vorsorgenden Umweltpolitik" ist ein mühsamer Kriechgang geworden.
Herr Kollege, gestatten Sie ein Zwischenfrage?
Ja, aber gewiß doch.
Herr Kollege Lippold, bitte.
Herr Kollege Schäfer, sind Sie in Verfolg Ihrer Ausführungen, die ja eindeutig auf eine Beschleunigung der Einführung der UVP abzielen, bereit, auch dafür zu sorgen, daß innerhalb Ihrer Fraktion die notwendigen Vorbereitungen geschaffen werden, daß wir dieses Gesetzgebungsvorhaben unverzüglich angehen können?
Lieber Kollege Lippold, es gibt Zwischenfragen, die sich zu reinen Eigentoren entwickeln. Wir sind bereit, gründlich und so schnell wie möglich auch in öffentlichen Anhörungen dieses Verfahren parlamentarisch zu begleiten und dafür Sorge zu tragen, daß die UVP in wirklich besserer Form ins Gesetzgebungsblatt geschrieben werden kann. Aber eines werden wir nicht mitmachen, nämlich den Zeitverzug, den die Bundesregierung nun zu verantworten hat, durch einen Schweinsgalopp bei den parlamentarischen Beratungen wettzumachen.Das kann eine seriöse parlamentarische Beratung nicht zum Inhalt haben.
Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal: Der Gesetzentwurf weist sowohl formale als auch inhaltliche Lücken auf. Darauf hat im übrigen der Kollege Dörflinger schon hingewiesen. Der Gehalt des Gesetzes, was den Untersuchungsrahmen angeht, was die einzelnen Parameter und Kriterien angeht, die in welchen Schritten untersucht werden müssen, kann vom Deutschen Bundestag erst angemessen geprüft werden, wenn die Bundesregierung hier ihre Aufgaben erfüllt hat — anders gesagt — , wenn die inhaltlich-methodische Füllung durch den Erlaß von Verwaltungsvorschriften erfolgt.Wir werden die Bundesregierung sehr bitten, noch vor der Beratung zumindest den groben Inhalt der Verwaltungsvorschriften vorzulegen, damit der Bundestag und auch die Regierungskoalition wissen, worüber sie materiell inhaltlich abstimmen.Meine Damen und Herren, es ist nicht erkennbar — es ist ein schwerer Mangel des von Ihnen vorgelegten UVP-Gesetzes —, wie die UVP in welche Fachplanungen integriert werden soll. Ich befürchte, daß wegen dieser formalen Mängel der Entwurf, wenn er so bleibt, für die Praxis ein heilloses Chaos programmiert und daß alle jene recht bekommen, die die UVP nicht wollen, weil sie angeblich zum Überbürokratismus führt. Dieser Gesetzentwurf programmiert Bürokratie und Überbürokratismus. Das ist einer der zentralen Mängel.
Ich belege das auch inhaltlich. Herr Kollege Baum, da sind wir derselben Meinung. In § 2 — Begriffsbestimmungen — heißt es: „Die Umweltverträglichkeitsprüfung ist ein unselbständiger Teil verwaltungsbehördlicher Verfahren ." Das ist einer der gravierendsten Mängel des Gesetzentwurfs. Wenn die Umweltverträglichkeitsprüfung ernsthaft gemeint ist und dem Genehmigungsverfahren unvoreingenommen vorgelagert sein soll — darüber sind sich zumindest alle Fachleute einig — , dann brauchen wir eine eigenständige Stelle,
die die Prüfung und Bewertung der Umweltverträglichkeit vornimmt.Die Integration, die Sie nach dem Gesetzentwurf vornehmen wollen, führt zu einem Interessenkonflikt bei der Genehmigungsbehörde, die ja zugleich über die Umweltauswirkungen zu befinden hat. Dieser Interessenkonflikt geht zu Lasten der Umwelt und einer gründlichen Prüfung möglicher Auswirkungen auf die Umwelt und muß letztlich zum Verlust von Akzeptanz bei den Bürgern führen. Von einer seriösen, selbständigen, unvoreingenommenen UVP, wie sie in Ihrem Gesetzentwurf angelegt ist, kann nicht die Rede sein.
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Schäfer
Im übrigen begrüßen wir ausdrücklich, daß der Bundesrat eine ganze Menge von Verbesserungsvorschlägen gemacht hat.
— Vielen Dank! Das sind zwei mehr, als Ihre Koalitionsvereinbarungen an Punkten umfaßt; und von denen haben Sie, wie Sie wissen, bisher 15 mehr schlecht als recht durch das Parlament gebracht.Zurück. Wir begrüßen es ausdrücklich, daß das nicht verständliche Vorhaben des Gesetzentwurfs und von Ihnen, Herr Töpfer, daß Anlagen der Landesverteidigung keiner UVP unterzogen werden sollen, vom Bundesrat mit großer Mehrheit abgelehnt wird.
Ich freue mich, daß die Bundesregierung bereit ist, wenigstens dies zu übernehmen. Wir hoffen, Herr Baum, daß wir mit Ihrer Hilfe notfalls gegen den Widerstand der CDU/CSU durchsetzen können, daß auch militärische Anlagen einer UVP unterliegen.
— Es ist mir viel zu Ernst, Herr Kollege Schmidbauer. Es ist ein Trauerspiel, wie diese Bundesregierung mit einem wichtigen Instrument der Umweltvorsorgepolitik umgeht.
— Das ist kein Grund für Scherze, Herr Kollege Schmidbauer.
Ich komme zum Schluß. Im Prinzip und in Reden— und wer kann schöner reden als Herr Töpfer —
sind wir uns einig, daß nur eine anspruchsvolle Umweltverträglichkeitsprüfung eine notwendige Frühwarnfunktion für die Umwelt erfüllen kann. Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf wird ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht. Die Bundesregierung ist offensichtlich nicht bereit, für unsere gemeinsame Zukunft, für die Zukunft unserer Kinder heute ihre Politik zu ändern. Die UVP in der vorgelegten Fassung ist dafür leider ein weiteres Beispiel.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schäfer, gerade Ihre nüchternen Eingangsbemerkungen über die Funktion der UVP lassen mich nicht verstehen, daß Sie diesen Gesetzentwurf dann so kritisieren. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Nach einer Beratung hier im vorigen Jahr habe auch ich mir Gedanken gemacht, ob man nicht eine selbständige Stelle einrichten soll.
— Eine eigenständige Stelle. Das klingt alles sehr gut. Aber gerade das wäre ein ziemlich unpraktikables Verfahrenselement. Wenn wir Abwägungskriterien und eine größere Transparenz vor der Entscheidung brauchen — das Ziel ist ja, daß wir über die Auswirkung einer Entscheidung mehr wissen —, kann das auch auf diesem Weg geschehen. Wie wollen Sie denn eigenständige Stellen einrichten? Wer soll die besetzen? Wie sollen die mit den anderen Stellen kooperieren?
Wenn Sie — und ich gebe Ihnen ja recht — sagen, mit diesem Instrument wollen wir etwas für den Umweltschutz erreichen, aber nicht in der Weise, daß wir die Verfahren bürokratisch überlasten, dann müssen wir doch gemeinsam prüfen, ob nicht gerade ein solcher Vorschlag das Gegenteil dessen bewirkt, was Sie mit diesem Prinzip wollen.
Also, ich fand Ihre Eingangsbemerkungen sehr einleuchtend. Und ich möchte auch all denen entgegentreten, die nun von diesem neuen Rechtsinstrument erwarten, daß Entscheidungen, die die Umwelt beeinträchtigen, nicht mehr getroffen werden, was Sie ja offenbar erwarten. Das ist mit diesem Projekt, mit diesem Gesetzesvorhaben nicht verbunden. Und es ist ja— Sie haben es mit Recht gesagt, Herr Kollege Dörflinger — keineswegs so, daß wir uns auf gesetzgeberischem Neuland bewegen. Wir haben bei jeder Umweltgesetzgebung von Anfang an immer Umweltverträglichkeitsprüfungen in irgendeiner Form vorgenommen.
Das ist der Sinn aller Umweltentscheidungen gewesen. Nun wird es in einer besonders systematischen Form gemacht, und das begrüßen wir.
Der Gesetzentwurf, Herr Bundesminister, ist eine gute Grundlage. Wir begrüßen ihn und werden auf dieser Basis beraten.
Wir haben den Katalog des Bundesrates mit Interesse gesehen. Es gibt auch Stellungnahmen von einer Vielzahl von Organisationen; wir werden hier mit Stellungnahmen ja geradezu zugeschüttet. Die Wirtschaft — hier stimme ich auch dem Vorredner zu — sollte auch die Chance sehen, die darin liegt, möglicherweise, Herr Kollege Schäfer, sogar eine Chance zur Verbesserung der Verfahren. Diese abwehrende Haltung von Teilen der Wirtschaft in Sachen Umweltschutz habe ich nie verstanden. Sie sieht ihre Chancen dort nicht — und das, obwohl sie daran mitwirken
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Baumkann, dieses Instrument wirkungsvoll auch zu ihren eigenen Gunsten zu gestalten. Ich möchte das tun.Wir werden uns in den Ausschußberatungen — ich jedenfalls möchte das tun — damit befassen, wie die anderen EG-Staaten die Richtlinie umsetzen und daraus möglicherweise auch Konsequenzen ziehen. Wir haben eine EG-Richtlinie umzusetzen. Wir haben aber nicht nur das zu tun, sondern wir müssen hier auch die fach- und medienübergreifenden Ansätze in unserem Recht berücksichtigen. Überschneidungen und Unklarheiten bei der Rechtsanwendung wollen wir ausschließen. Meine Partei entwickelt seit Jahren Kriterien zu diesem Bereich.Ich möchte einige nennen: Erstens. Umweltverträglichkeitsprüfung heißt, daß die Umweltauswirkungen nicht nur frühzeitig geprüft und angemessen berücksichtigt werden, sondern daß auch eine Umweltpolitik erreicht wird, die Umweltbelastungen eben vermeidet, weil man sie von vornherein besser kennt, als man das heute tut.Zweitens. Die Ergebnisse der Umweltverträglichkeitsprüfung sollen nun gleichgewichtig mit anderen Belangen bei der Entscheidung berücksichtigt werden.Drittens. Die UVP muß sich auf wirklich umweltrelevante Vorhaben konzentrieren. Nach unserer Auffassung müssen mindestens die Vorhaben in das Gesetz aufgenommen werden, die auch der Bundesrat für regelungsbedürftig hält. Das betrifft etwa militärische Anlagen. — Wir werden uns darüber unterhalten. Mit wechselnden Mehrheiten wird hier nicht abgestimmt. Das bessere Argument, hoffe ich, siegt hier.
— Ich hoffe das, und meine Hoffnung ist oft in Erfüllung gegangen.Von militärischen Anlagen können erhebliche Wirkungen ausgehen. Gleichermaßen einzubeziehen sind nach unserer Auffassung Anzeigen nach dem Energiewirtschaftsgesetz. Gleiches gilt für große Bauten im Außenbereich. Bedeutende Infrastrukturprojekte, Städtebauprojekte usw. gehören dazu.Viertens. Mit dem Bundesrat sind wir der Auffassung, daß die Länder zur Einschaltung externer Sachverständiger ermächtigt werden sollten. Das bedeutet nicht, daß hoheitliche Entscheidungen auf Externe abgeschoben werden. Vielmehr sehen wir hier eine Erleichterung der Verfahren.Weiterer Punkt: Die finanziellen Auswirkungen des Gesetzentwurfs für Bund, Länder und Kommunen müssen, im groben jedenfalls, dargestellt werden. Wir müssen wissen, was wir mit diesem Gesetz in finanzieller Hinsicht bewirken.Nächster Punkt — das ist schon mehrfach angeklungen — : Für meine Partei ist entscheidend: Die UVP darf nicht zu neuen Bürokratien und Behörden und zu einer weiteren Verfahrenserschwerung führen. Am besten wäre es, wir erreichten eine Vereinfachung. Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir die vorgeschlagenen Regeln und auch die Bundesratsvorschläge prüfen.Seitens der Investoren wird zu Recht darauf hingewiesen, daß die Genehmigungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland außerordentlich lang sind. Ich möchte gerade bei der Einführung moderner Umwelttechniken nicht das Argument hören, daß wir durch unsere eigene Gesetzgebung etwa den Bau von Kläranlagen verzögern durch Umweltverträglichkeitsprüfungen und andere behördliche Erschwernisse, die das zur Folge haben.
Der Vollzug muß praxisorientiert und umweltorientiert durchdacht sein, meine Kollegen. Was nützt ein perfektes Bundesgesetz, das neue Vollzugsdefizite verursacht? Hüten wir uns doch vor weiteren Selbsttäuschungen, als genüge es, irgendeine — angeblich perfekte — Regelung in das Bundesgesetzblatt zu geben. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Beispielen von Gesetzen nennen, auf die wir sehr stolz waren und sind, deren Vollzug in den Ländern und wo auch immer Not leidet.
Ich möchte nicht ein neues Gesetz, das diese Konsequenzen hat. Wir müssen hier lernen, praxisbezogene Gesetze zu machen.Nächster Punkt. Wir brauchen Muster-UVPs, an denen sich die künftige Umweltverträglichkeitsprüfung orientieren kann, sowie Checklisten; das ist hier schon gesagt worden, der Vorschlag des Städtetages sollte überlegt werden.Nächster Punkt. Mit dem Bundesrat stimmen wir darin überein — das ist von den Vorrednern, Herr Dörflinger, auch von Ihnen, und der SPD gesagt worden — , daß zügig und parallel zu den Gesetzesberatungen die in § 20 angesprochenen Verwaltungsvorschriften jedenfalls im Entwurf vorzulegen sind. Wir müssen wissen, nach welchen Kriterien und Maßstäben hier vorgegangen wird, weil das Gesetz sonst nicht abschließend zu beurteilen ist. Es gehört, meine ich, auch zum Selbstbewußtsein des Gesetzgebers, daß er diese entscheidenden Fragen nicht allein dem Verordnungsgeber überläßt. Wenn er es tut, muß er es jedenfalls wissen, bevor das Gesetz verabschiedet wird. Der Bundesrat hat das ja auch gefordert. Es wird für die Bundesregierung nicht einfach sein, das weiß ich, aber wir müssen darauf bestehen, daß dies geschieht. Ich habe das schon einmal zu einem anderen Gesetz gesagt, nämlich zum Abfallgesetz im Hinblick auf die TA Abfall. Die TA Abfall ist bis heute nicht da. Wir haben das Gesetz 1986 dennoch verabschiedet. Nun gut, ich hoffe, daß uns das hier nicht so geht.
— Das wäre eine große neue Diskussion, Frau Garbe: der Müllberg.Den Auftrag einer optimalen Umsetzung der Richtlinie nehmen wir ernst. Wir werden uns sehr aktiv und schnell in die Beratung begeben. Wir wollen sehr schnell eine Anhörung machen und fordern Sie auf und bitten Sie, daran auch konstruktiv mitzuwirken.
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BaumWir sind offen für jede vernünftige Anregung und Verbesserung des Gesetzes, das uns heute vorliegt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Brauer.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Vor beinahe einem Jahr haben wir über den Gesetzentwurf der GRÜNEN zur Umweltverträglichkeitsprüfung debattiert. Heute bringt nun endlich die Bundesregierung ihren Entwurf ein und versucht damit, EG-Recht zur UVP in nationales Recht umzusetzen. Nach den Vorgaben der EG hätte das UVP-Gesetz schon am 2. Juli 1988 in Kraft getreten sein müssen. Der Bundesregierung ist es also nicht gelungen, diese Pflichtaufgabe fristgerecht zu erfüllen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn der Zeitfaktor in der Umweltpolitik nicht von so großer Bedeutung wäre.
Angesichts der sich zuspitzenden ökologischen Krise allgegenwärtiger Umweltvergiftung, Biotop- und Artensterbens, Landschaftverbrauchs und, und, und ist die Zeit die knappste Ressource. Zeitverschwendung ist Umweltverschwendung. Nun mußten wir annehmen, daß die Bundesregierung diese wertvolle Zeit nutzt, um eine anspruchsvolle UVP-Regelung zu verwirklichen. Herausgekommen ist eine minimalistische Umsetzung, substantiell so dürftig, daß sie nicht als entscheidungsreif angesehen werden kann. Es hätte die Möglichkeit bestanden, ein wirklich vorsorgendes und demokratisches Regelungsinstrument zu schaffen, ein Instrument der ökologischen Aufklärung zur umweltbewußten Entscheidungsfindung. Es müßte ein Verfahren institutionalisiert werden, das es allen gesellschaftlichen Gruppen ermöglicht, an umweltpolitischen Entscheidungen teilzuhaben und Einfluß zu nehmen.Wenn sich wirklich etwas ändern soll, dann dürfte die Entscheidung über umweltschädigende Tätigkeit nicht weiterhin zwischen Behörden und Interessenvertretern ausgemauschelt werden. Dann müssen engagierte Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, ihr Wissen, ihre Argumente und ihre Bedenken geltend machen zu können, und zwar nicht zu einem Zeitpunkt, ab dem die Entscheidung bereits feststeht und damit die Beteiligungsrechte zu einer Alibifunktion verkommen.Die Kürze der Zeit erlaubt es mir nicht, auf die vielen Kritikpunkte einzugehen. Um zu verdeutlichen, warum der vorliegende Gesetzentwurf von seinem Ansatz her falsch ist und keine Hoffnung auf eine Neuorientierung der Umweltpolitik zuläßt, beschränke ich mich auf wenige Punkte.Anliegen der UVP sollte es sein, bei allen Planungs- und Entscheidungsprozessen die Auswirkungen auf die Umwelt so früh wie möglich zu erkennen und zu analysieren. Damit sollten den Genehmigungsbehörden Informationen darüber gegeben werden, ob die geplante Tätigkeit ausschließlich unter ökologischenGesichtspunkten modifiziert werden oder gänzlich unterbleiben muß; das ist die sogenannte Null-Variante. Legt man diese Zielsetzung zugrunde, darf die UVP nicht, wie der Gesetzentwurf der Bundesregierung es vorsieht, als unselbständiger Teil der bereits bestehenden Verwaltungsverfahren verstanden werden; vielmehr muß die UVP in einem unabhängigen Verfahren durchgeführt werden.Durch die Ankoppelung der UVP an die jetzt schon bestehenden Verfahren wird sich an der bisherigen Praxis — von wenigen Ausnahmen wie z. B. dem Linienbestimmungsverfahren nach dem Bundesfernstraßengesetz abgesehen — überhaupt nichts ändern.
Bei den immissionsschutzrechtlichen Verfahren tritt sogar eine Verschlechterung ein: Die Frist für die Auslegung der oft meterlangen Antragsunterlagen wird von zwei Monaten auf einen Monat verkürzt.Nach Vorstellungen der GRÜNEN und der Umweltschutzverbände bedarf es eines unabhängigen, dem Genehmigungsverfahren vorgelagerten Verfahrens dahin gehend, daß zunächst in einem sogenannten Scoping-Prozeß an Hand der erbrachten und angeforderten Informationen der Untersuchungsrahmen für die konkrete UVP festgelegt wird. Über diesen Untersuchungsrahmen muß bereits ein Anhörungsverfahren stattfinden. Es dient dazu, schon möglichst früh die Öffentlichkeit zu beteiligen und sachdienliche Informationen einzuholen. Gerade an dieser Stelle ist Transparenz zwischen den Behörden und den Antragstellern zu fordern und sind nicht, wie die Bundesregierung es will, die „informalen Abstimmungsgespräche" — zu deutsch: die Mauscheleien — zu wahren.Der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung kommt nach unseren Vorstellungen eine grundlegende Bedeutung zu, erstens im Blick auf die Verbesserung der Informationsbasis der entscheidenden Behörde und zweitens in bezug auf die Erhöhung der Akzeptanz der behördlichen Entscheidung. Hier geht es um eine auschließlich unter ökologischen Gesichtspunkten erfolgende frühzeitige Erfassung und Beurteilung geplanter umwelterheblicher Tätigkeiten. Dagegen geht es im Genehmigungsverfahren bereits um die Abwägung ökologischer Belange mit anderen, konkurrierenden Belangen.Um eine gewisse Neutralität und eine von anderen Interessen unabhängige UVP zu gewährleisten, darf die UVP nach unseren Vorstellungen auch nicht von der jeweiligen Genehmigungsbehörde, sondern muß von einem unabhängigen UVP-Amt durchgeführt werden.
Die Verfahrensrechte nützen nichts, wenn die Bürger/innen nicht die wichtigen Informationen über geplante Anlagen erhalten. Deshalb hätte mit einem UVP-Gesetz zugleich ein allgemeines Akteneinsichtsrecht statuiert werden müssen.
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BrauerEbenso hätte mit dem UVP-Gesetz ein Verbandsklagerecht für die Naturschutzverbände festgeschrieben werden müssen,
damit Verstöße gegen dieses Gesetz auch gerichtlich zu ahnden sind.Erst diese drei Verfahrensrechte — ein UVP-Verfahren, an dem die Öffentlichkeit früh beteiligt wird, das Akteneinsichtsrecht und das Verbandsklagerecht — garantieren Partizipation und Transparenz umweltpolitischer Entscheidungen und sind Grundsätze für mögliche gesellschaftliche Veränderungen im Umgang mit der Natur.
Meine Kritik an diesem Gesetz will ich aber nicht auf die verfahrensrechtlchen Gesichtspunkte beschränken, denn die materiell-inhaltlichen Anforderungen an eine UVP sind mindestens gleichbedeutend, und hier sieht der Gesetzentwurf ganz düster aus. In der bei der Erstellung einer UVP alles entscheidenden Frage, wann eine Umweltauswirkung vorliegt, schweigt nämlich das Gesetz. Vielmehr wird auf Verwaltungsvorschriften verwiesen, die es noch gar nicht gibt.Ähnlich sieht es für die inhaltlichen Kriterien bei der Festlegung des Untersuchungsrahmens aus. Wie, bitte schön, soll nach Ihrer Ansicht ein Gesetz beraten werden, wenn jegliche inhaltlichen Kriterien fehlen?Der Versuch der Bundesregierung, ein UVP-Gesetz vorzulegen, das diesen Namen auch verdient, muß als gescheitert angesehen werden.
Es ist substantiell allzu dürftig. Damit werden viele Hoffnungen enttäuscht. Wir GRÜNE halten diese UVP-Vorschläge für nicht entscheidungsreif und fordern die Bundesregierung eindeutig auf, sie grundlegend zu überarbeiten.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt für mich keinen Zweifel, dieser Gesetzentwurf ist für die Umweltpolitik in der Bundesrepublik von sehr großer Bedeutung.
Ich bleibe dabei, ich halte die Umweltverträglichkeitsprüfung und dieses Gesetz für einen Königsweg der Umweltpolitik. Ich bleibe dabei und unterstreiche es noch einmal sehr nachhaltig. Über dieses Gesetz werden nämlich umwelterhebliche öffentliche und private Vorhaben vor ihrer Verwirklichung umfassend auf die Auswirkungen überprüft werden, die davon auf die verschiedenen Umweltmedien ausgehen. Die Umweltverträglichkeitsprüfung ist also wirklich die Zusammenfassung der Auswirkungen auf die Umwelt.
Ich möchte ausdrücklich das aufgreifen, was der Abgeordnete Baum hier gesagt hat: Es ist aus der Tradition des deutschen Umweltrechts heraus richtig, daß wir die in den einzelnen Umweltgesetzen verankerten Zulassungsverfahren immer durchgeführt haben, um die Umweltauswirkungen zu ermitteln. Es ist, Herr Abgeordneter Schäfer, eine generelle Kritik an der bisher auch in sozialliberaler Zeit von der SPD mitgetragenen Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, wenn man meint, wir würden jetzt zum erstenmal in Zulassungsverfahren die Umweltverträglichkeit von Vorhaben überprüfen. Dies kann doch von Ihnen nicht ernstlich so gesagt werden.
Gegenwärtig ist es notwendig, daß wir diese Verfahren um einen medienübergreifenden Bezug ergänzen. Aber dann ist es doch ganz selbstverständlich, daß wir aus der Tradition deutschen Umweltrechts heraus fragen: Wo sind Zulassungsverfahren jetzt schon vorhanden, die Umweltwirkungen ermitteln, und wie können wir sie so anreichern, daß sie auch die medienübergreifenden Wirkungen erfassen und berücksichtigen?
Es sind für mich drei wesentliche Aspekte, die die Bedeutung dieses Gesetzes ausmachen.
Erstens ist es die europapolitische Bedeutung. Hier wird eine europäische Richtlinie umgesetzt, die nicht nur fachliche Detailfragen betrifft. Vielmehr handelt es sich um eine querschnittsbezogene Richtlinie, die in das allgemeine Umweltrecht der Mitgliedstaaten eingreift und die Verbesserung des Umweltschutzes sowie den Abbau von Wettbewerbsverzerrungen in der Europäischen Gemeinschaft zum Ziel hat.
Herr Bundesminister, bevor Sie zu zweitens kommen, möchte ich Sie gern fragen, ob Sie gestatten, daß eine Zwischenfrage gestellt wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Da ich gerade zu zweitens kommen wollte, bin ich gern bereit, die Frage zuzulassen.
Ich wollte mich auf das beziehen, was Sie vorher gesagt haben. Deswegen ist die Zwischenfrage jetzt vielleicht angebracht.Herr Bundesminister, Sie sind selber auch mit Ihrer Fraktion zu der Erkenntnis gekommen, daß wirksame Umweltpolitik in der Vergangenheit dadurch behindert wurde, daß es ein Umweltministerium gar nicht gegeben hat. Man hat eine Abhilfe geschaffen, indem extra ein neues Ministerium für diesen Bereich eingerichtet wurde. Das haben wir auch begrüßt. Wenn man das jetzt überträgt und sagt, wir wollen ein wirksames Instrument im Bereich der Umweltverträglichkeitsprüfung, dann ist es doch logischerweise sinnvoll, das mit einer neuen Institution zu verbinden, die unabhängig und in der Lage ist, auch diese interdisziplinären Fragen tatsächlich zu bewerten und damit
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9238 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Dr. Daniels
der Umweltverträglichkeitsprüfung in der Realität ein Stück näherzukommen.
— Stimmen Sie dem zu?
Ich wollte gerade sagen: Das Fragezeichen vergessen Sie nicht ganz, Herr Abgeordneter!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Daniels, wenn Sie noch etwas Geduld gehabt hätten, dann hätten Sie gehört, daß Ihre Frage bei meinen folgenden Punkten bereits beantwortet worden wäre; denn ich werde natürlich auf die Frage zurückkommen, warum wir nicht zu einer eigenständigen UVP-Behörde ja sagen wollen. Dies steht nebenbei in klarer Kontinuität mit dem was dieses Hohe Haus 1983 beschlossen hat: Es soll gerade nicht zu eigenständigen Verfahren und nicht zu einer eigenständigen Behörde kommen. Ich sage noch einmal, was eben bereits deutlich gemacht wurde: Nicht durch ein Mehr an Bürokratie und damit an einem Vollzugsdefizit werden wir Umweltpolitik vorantreiben, sondern in einer Nutzung der gewachsenen Strukturen und deren weiterer Qualifizierung. Ich glaube, das ist der richtige Weg.Ich möchte abschließend zu dem Punkt 1 noch erwähnen, daß es gerade unter diesem wichtigen europapolitischen Aspekt mehr als verständlich ist, daß die EG-Kommission sehr daran interessiert ist, die Umsetzung mit zu verfolgen. Es ist kein Zufall, daß die mehrmals angemahnte Notwendigkeit der Umsetzung nicht zu einer Klage der Europäischen Gemeinschaft geführt hat. Denn man sieht genau, daß wir uns bei dieser schwierigen Materie ernsthaft die Mühe machen, die Richtlinie umzusetzen.Zweitens: die umweltpolitische Bedeutung. Seit Beginn der Umweltpolitik ist dies der erste wesentliche gesetzgeberische Schritt dazu, die überwiegend auf die einzelnen Umweltmedien und sektoral ausgerichteten, also auf die Bereiche Luft, Wasser und Boden bezogene Umweltgesetze nach einheitlichen Grundsätzen zu übergreifenden Entscheidungsinstrumenten fortzuentwickeln. Im Sinne der Umweltvorsorge wird damit der verbreiteten Tendenz entgegengewirkt, Umweltprobleme von einem Bereich in einen anderen Umweltbereich zu verschieben. Wir haben dies gerade mit Blick auf Abfall, auf Wasser- und Luftreinhaltung immer wieder gesehen. Das unterstreicht sicherlich die Nachdrücklichkeit des bereichsübergreifenden Denkens.Drittens hat dieser Entwurf auch eine innenpolitische Bedeutung. Die UVP verklammert unterschiedliche Zulassungsverfahren als ihr unselbständiger Bestandteil. Sie setzt damit ein Signal für die Rechtsvereinheitlichung im Verwaltungsverfahrensrecht und ist damit ein erster Schritt zu einem Umweltgesetzbuch.Ich unterstreiche an dieser Stelle noch einmal, daß ich die verbreitete Kritik in der Wirtschaft nicht teile, daß wir hiermit zu einer Verzögerung von Zulassungsverfahren kommen. Ich bin der Überzeugung, daß es zu einer Straffung und zu einer Übersichtlichkeit von Zulassungsverfahren kommt. Ich unterstreiche das, was gerade von Herrn Abgeordneten Baum gesagt worden ist: Wir sollten uns nicht den Vorwurf einhandeln, durch umweltbezogene Verfahrensverlängerungen umweltentlastende Einrichtungen erst später nutzen zu können. Vielmehr ist es erforderlich, die Zulassungsverfahren durch eine übersichtliche, der Bevölkerung durchschaubare Straffung zu beschleunigen. Deswegen bin ich nicht der Meinung, daß der Vorwurf zu Recht besteht, durch diese Umweltverträglichkeitsprüfung gebe es so etwas wie eine Gefährdung des Industriestandorts Bundesrepublik Deutschland.Ich wiederhole: Der Deutsche Bundestag hat bereits 1983 eine optimale Umsetzung der EG-Richtlinie über die UVP gefordert und verlangt,, daß keine zusätzlichen Verfahren eingeführt und neue Behörden geschaffen werden. Der Gesetzentwurf wird dieser Forderung des Deutschen Bundestages gerecht.
Die Richtlinie bedarf einer gesetzlichen Umsetzung. Das hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen deutlich gesagt.Mit diesem UVP-Gesetz sind zwei weitere Gesetzentwürfe inhaltlich verknüpft: einmal der Entwurf eines Änderungsgesetzes zum Raumordnungsgesetz. Auch dieser Entwurf sieht die Einführung der UVP bereits für das Stadium der bundesweit einzuführenden Raumordnungsverfahren vor, also gerade in einem sehr frühen Stadium. Auch das haben wir nachhaltig unterstützt und begrüßt. Zweitens handelt es sich um den Entwurf eines Änderungsgesetzes zum Bundesberggesetz. Auch dieser Entwurf sieht die UVP im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens für bergrechtliche Vorhaben vor.Die Umsetzung wird den EG-rechtlichen Anforderungen gerecht. Dies tut sie nicht im Rahmen eines Minimalprogramms. So haben wir z. B. die wesentlichen Änderungen mit erfaßt. Das ist eigentlich der Kern der umweltpolitischen Bedeutung für die Praxis. Man hat mir gesagt, daß die Umsetzung der UVP-Richtlinie in den Niederlanden — ich bitte Herrn Abgeordneten Schäfer, genau zuzuhören — pro Jahr etwa 10 bis 12 UVP-Verfahren umfaßt, weil dort die wesentlichen Änderungen gerade nicht im Vordergrund stehen. Das ist natürlich ein ganz bedeutsamer Aspekt, den Sie nicht erwähnt haben, aber den ich anmerken möchte, um deutlich zu machen, wie offen wir an die Umsetzung herangegangen sind.Wir haben weiter in § 5 die Möglichkeit geschaffen, auch den Antragsteller möglichst frühzeitig auf den voraussichtlichen Informationsbedarf hinzuweisen. Damit wird das sogenannte ,,scoping" eingebracht. Auch das geht über die EG-Richtlinie hinaus. Die Frage der Verteidigungsanlagen haben Sie selbst angesprochen.Ich meine, daß die Bundesregierung darüber hinaus keinen Grund sehen kann, in bewährte Strukturen des Umweltrechts einzugreifen. Es kann nicht darum gehen, perfektionistische Regelungsmodelle zu konstruieren.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9239
Bundesminister Dr. TöpferMan muß sich auf den Grundgedanken der UVP rückbesinnen. Die UVP soll insbesondere durch rechtzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung zu einer möglichst fundierten und umfassenden Information der Entscheidungsbehörden und damit zu besseren Entscheidungen beitragen. Ich habe darauf bereits anläßlich der Beratung des UVP-Gesetzentwurfs der GRÜNEN im April letzten Jahres hingewiesen. Die UVP soll bessere Entscheidungen erbringen. Sie ist nicht darauf ausgerichtet, nur Entscheidungen zu verhindern.Aus diesem Grund bauen wir auf den bestehenden umweltrechtlichen Zulassungsverfahren auf, um die uns manche Länder auch in Europa beneiden.Die materiellen und formellen UVP-Elemente werden in diese bestehenden Zulassungsverfahren eingefügt. Vorkehrungen für eine Koordinierung paralleler Entscheidungen werden geschaffen. Auf neue UVP-Behörden wird verzichtet, damit nicht neue Vollzugsdefizite begründet werden.Ich sehe den Gesetzentwurf daher als den notwendigen Kompromiß zwischen dem europarechtlich und umweltpolitisch Erforderlichen einerseits und dem Gebot einer praktikablen Umsetzung andererseits an. Das mag zwar weniger spektakulär sein. Diese Lösung ist aber wirksam, weil sie die gewachsenen Entscheidungsstrukturen nutzt und damit auch wirklich durchsetzbar und durchführbar ist.Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme die grundsätzliche Konzeption des Gesetzentwurfs bestätigt.Ich nenne zusammenfassend die wesentlichen Elemente: erstens die Gliederung des Gesetzes in ein Stammgesetz in Art. 1 und in die Anpassung zahlreicher Umwelt- und Fachgesetze in Art. 2 ff., zweitens die abgestimmte Einfügung der UVP-Elemente in die bestehenden Zulassungsverfahren, drittens die Koordinierung der für einzelne Umweltmedien bislang unabhängig voneinander bestehenden Zulassungsverfahren, viertens den Vorrang zugunsten inhaltsgleicher oder weitgehender Umwelt- und Fachgesetze und fünftens die Orientierung am Verwaltungsverfahrensgesetz, auch soweit es um die Durchführung der Öffentlichkeitsbeteiligung geht.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und ich persönlich gehen mit großer Hoffnung auf eine sachliche und konstruktive Diskussion in die Beratungen des Ausschusses. Wir sollten alle daran interessiert sein, daß diese Arbeit gut zu Ende geführt wird, damit — ich sage es noch einmal — der Königsweg für die Umweltpolitik mit Erfolg beschritten werden kann.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Qualität oder die Nicht-Qualität eines Gesetzentwurfs läßt sich sicher nicht an der wohldosierten Darstellung der Bundesregierung ermessen. Dies ist Ihnen sicher gelungen, Herr Minister.Aber ich meine, man muß die Qualität daran messen, ob der Gesetzentwurf dem gerecht wird, was mit der EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung eigentlich gewollt ist. Gewollt ist die Schaffung eines Instruments, mit dem es möglich würde, das aus den Fugen geratene Verhältnis von ökonomischen Eingriffen in die Natur und unseren ökologischen Lebensbedingungen wieder einigermaßen ins Lot zu bringen. Diesem Anspruch wird der Gesetzentwurf aber nicht gerecht; dafür ist die Struktur zu schwach.
Sie haben selber, Herr Minister, nun mehrfach die UVP als Königsweg der Umweltpolitik gepriesen. Das klingt immer sehr hoffnungsvoll. Um so bedauerlicher ist es aber nach meiner Auffassung, daß Sie mit dem Gesetzentwurf diesen Königsweg eben nicht beschritten haben.Die Frage muß gestellt werden, warum Sie die Chance nicht kräftiger nutzen, die darin besteht, hier erstmals eine Meßlatte in die Hand zu bekommen, mit der jedes Projekt und jedes Programm von einer bestimmten Größenordnung an wirklich konsequent durchgeprüft werden könnte. An dieser Meßlatte muß man exakt ablesen können, wieviel freie Flächen in Anspruch genommen werden, wieviel Tiere und welche Tier- und Pflanzenarten ihren Lebensraum verlieren werden, welche Mengen und welche Arten von Abfall entstehen, welche Schadstoffe in Luft, Wasser und Boden gelangen usw., wenn diese jeweilige Planung realisiert würde. Dies muß umfassend und öffentlich dargestellt werden, bevor eine Genehmigung erteilt wird.Für den Fall, daß sich dieses Ökoregister zu einem veritablen ökologischen Sündenregister entwickeln sollte, muß die Meßlatte auch zur Waffe werden können, die ein Haltesignal setzt: Bis hierher und nicht weiter.
Deshalb haben wir im Antrag der SPD-Fraktion, der die Eckdaten für ein UVP-Gesetz enthält, vorgesehen, daß der für die Genehmigung zuständigen Behörde ein Versagensermessen einzuräumen ist. Bei Ihnen herrscht hier Fehlanzeige.Um nicht mißverstanden zu werden, Herr Minister, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die UVP ist kein Verhinderungs- oder Verbotsinstrument. Keineswegs! Das wäre mißinterpretiert. Aber sie ist ein Instrument, das zu einem heilsamen Abwägungsprozeß zwingt
und das, richtig ausgestaltet, auch dazu zwingen müßte, ernsthaft nach Alternativlösungen zu suchen, z. B. nach Bauweisen, die raumsparender sind, oder nach Produktionsabläufen, die keine giftigen Abwässer erzeugen.Auch hier herrscht praktisch Fehlanzeige in Ihrem Gesetzentwurf. In § 6 wird die Forderung nach Alternativen zu einer dünnen Formel zusammengefaßt, der
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9240 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Frau Dr. HartensteinAntragsteller möge doch, bitte schön, eine Übersicht über die wichtigsten vom Projektträger selbst geprüften Vorhabensalternativen geben und die wesentlichen Auswahlgründe dafür benennen. Ich nenne dies pure Kosmetik, weiter nichts.
Alle entscheidenden Elemente, welche die UVP zu einem kräftigen Hebel pro Umwelt machen könnten, fehlen: die Schaffung einer unabhängigen Stelle, die den Untersuchungsrahmen festlegt und die Durchführung der UVP überwacht; eine wirklich breite Öffentlichkeitsbeteiligung über den Kreis der Betroffenen hinaus; die Beteiligung der anerkannten Umwelt- und Naturschutzverbände schon bei der Festlegung des Untersuchungsrahmens; die Darlegung von realistischen Alternativen; das genannte Versagensermessen und die Verpflichtung zur Nachkontrolle — es ist nicht mit einer einmaligen UVP getan — und die Einführung der Verbandsklage.Sie haben sich leider — ich muß das sagen — zu einer Minimalisierungsstrategie entschlossen, die so nicht tragbar ist. Das zeigt sich z. B. auch bei der starken Einengung des Projektkatalogs. An vielen Stellen bleibt völlig unklar, was eigentlich gewollt ist. Darauf wurde auch im Bundesrat mehrfach hingewiesen. Ich gebe nur zwei Beispiele.So muß z. B. gefragt werden: Wie soll in Zukunft bei gentechnischen Anlagen verfahren werden? Warum will die Bundesregierung nur Anlagen zum fabrikmäßigen Umgang mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen und Zellkulturen in die Prüfung einbeziehen? Warum folgt sie nicht dem Bundesrat, der zu Recht darauf hinweist, daß die Eingrenzung auf solche Projekte dem Risikopotential gentechnischer Anlagen nicht gerecht würde?
Warum werden z. B. Brennelementezwischenlager nicht in den obligatorischen Prüfungskatalog aufgenommen, wie dies Nordrhein-Westfalen und Hamburg im Bundesrat beantragt haben?Warum sollen große Hotelkomplexe und industriell betriebene Massentierhaltungen außen vor bleiben?
Das ist nicht einzusehen. Es ist nicht akzeptabel, daß Bestandsgrößen derart heraufgesetzt werden, wie Sie das tun, daß z. B. in der Geflügelhaltung erst bei Anlagen mit 84 000 Mastgeflügelplätzen eine UVP erforderlich wäre. Der Bundesrat argumentiert, daß es nicht gerechtfertigt sei, ausgerechnet bei der UVP die Bestandsgrößen des Bundesimmissionsschutzgesetzes drastisch zu erhöhen. Er schlägt nämlich statt 84 000 Plätzen 14 000 Plätze vor. Das ist nur ein Sechstel dessen, was Sie wollen. Recht hat er.Es drängt sich die Frage auf, ob hier bei der UVP nicht der Bundesumweltminister, sondern vielleicht der Bundeslandwirtschaftsminister federführend war.Bei der Durchführung der UVP soll ein sogenanntes integriertes Verfahren angewendet werden. Das heißt, auch hier wird im Grunde eine Minilösung angepeilt. Zielvorstellung darf doch nicht sein, daß ein möglichst geringer Änderungsbedarf bei vorhandenen Fachgesetzen und Verwaltungsabläufen entsteht, sondern daß der medienübergreifende und der umfassende Charakter der UVP im Sinne der EG-Richtlinie voll zur Geltung kommt. Mit anderen Worten, die Gleichrangigkeit der ökologischen Belange mit den ökonomischen Belangen muß in die Waagschale geworfen werden. Es darf halt nicht wie bisher in den meisten Fällen so bleiben, daß die erwarteten ökonomischen Vorteile automatisch und unangefochten Priorität genießen. Sonst besteht die Gefahr, daß die UVP zu einer bloßen Alibiveranstaltung wird.
Man fragt sich, wie groß die Schäden an der Nordsee, in unseren Wäldern, bei der Grundwasserverseuchung noch werden müssen, bis die Bundesregierung begreift, daß eine Richtungsänderung hin zu einer ökologischen Umstrukturierung unserer Industriegesellschaft das Gebot der Stunde ist. Wir leisten uns immer noch — davon war in Ihren Beiträgen nicht die Rede — einen horrenden Flächenverbrauch, bei dem tagtäglich 120 ha unter Betonasphalt verschwinden.
Wir konstatieren einen galoppierenden Artenrückgang. Von Vögeln, Schmetterlingen, Kriechtieren und Insekten sind bereits rund 50 % verschwunden, und das Artensterben geht weiter. Vor diesem Hintergrund ist es nicht akzeptabel, das Instrument der UVP von vornherein so stumpf zu halten, wie Sie es beabsichtigen.Lassen Sie mich noch zwei Probleme aufgreifen.Erstens: die Frage der Bürokratisierung. Eine wirksame UVP zu fordern heißt nicht, daß damit automatisch neue aufgeblähte bürokratische Apparate entstehen müssen. Wir wollen kein UVP-Amt, wir wollen kein Heer von beamteten und nichtbeamteten Experten, die alle erhobenen Daten dutzende Male hin- und herwenden mit dem Effekt, daß am Ende doch alles beim alten bleibt.Wir sind aber doch der Überzeugung, daß nicht dieselben Leute, die die Straßen planen und die die Flurbereinigungsprojekte entwerfen, gleichzeitig deren Umweltverträglichkeitsprüfung vornehmen können. Das funktioniert schlicht und einfach nicht.
Hier entstehen Interessenkollisionen. Oft fehlt auch die nötige ökologische Sensibilität. Deshalb ist eine von der Genehmigungsbehörde unabhängige Stelle notwendig.Erfahrungen liegen übrigens aus der Schweiz und auch aus den Niederlanden vor, wo z. B. für jedes Projekt eine spezielle Kommission von Fachleuten zusammengesetzt wird
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Frau Dr. Hartenstein— wir haben die Zahl ja gehört — , die den Untersuchungsrahmen festlegt. Dazu ist der Sachverstand aus der Wissenschaft, aber auch aus den Umweltverbänden heranzuziehen.Zweitens: Öffentlichkeitsbeteiligung. Oft wird bei der Forderung nach einer breiten Öffentlichkeitsbeteiligung die Furcht laut, es könnte zu erheblichen Verfahrensverzögerungen kommen. Das ist ein Vorurteil. Die Wirklichkeit könnte genau umgekehrt sein; denn abgesehen davon, daß Transparenz bei allen großen Planungen und Projekten ein Element offener Demokratie ist, hat die sogenannte Jedermann-Beteiligung zwei weitere Vorzüge: Zum einen können Einwände schon in einem sehr frühen Stadium berücksichtigt und damit gegebenenfalls ausgeräumt werden, zum anderen werden die in einem offenen Verfahren gefundenen Lösungen von der Öffentlichkeit, Herr Minister, mit großer Wahrscheinlichkeit mitgetragen werden.
Das heißt, daß eine Prozeßflut vermieden werden kann, wie sie heute oft der Fall ist. Allerdings ist es der falsche Weg, die Rechtsmittel von vornherein nicht zu bewehren. Deshalb ist die Einführung der Verbandsklage nach wir vor unerläßlich.Meine Damen und Herren, Herr Präsident, ich komme zum Schluß. Fast ein Jahrzehnt wird über die UVP diskutiert. Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren. Die Bundesregierung ist hier sicherlich nicht, wie sie oft von sich so gerne behauptet, europäischer Vorreiter, sondern wir sind Nachhut. Es ist zu beklagen, daß trotz der langen Vorlaufzeit ein Gesetzentwurf herausgekommen ist, dem die Flügel sichtlich gestutzt sind. Falsche Kompromisse — das sollten wir alle gelernt haben — können teuer werden, ökologisch und auch finanziell. Deshalb sollte in der parlamentarischen Beratung der Gesetzentwurf so verbessert werden, daß er seinen Namen wirklich verdient.Danke schön.
Am Ende der Aussprache möchte ich das Plenum fragen, ob Sie einverstanden sind, daß der Gesetzentwurf Drucksache 11/3919 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird.
— Es tut mir schrecklich leid, dies läßt sich bedauerlicherweise jetzt nicht durchführen. Sie können höchstens Ihr Einverständnis signalisieren, daß Sie damit einverstanden sind, daß an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann kann ich das als beschlossen feststellen.
Meine Damen und Herren, damit kommen wir zu Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Müller , Adler, Bachmaier, Blunck,
Conrad, Conradi, Fischer , Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Dr. Hauff, Heimann, Ibrügger, Jansen, Kiehm, Koltzsch, Kuhlwein, Lennartz, Dr. Martiny, Menzel, Reimann, Reuter, Schäfer (Offenburg), Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl (Kempen), Stobbe, Waltemathe, Wartenberg (Berlin), Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Maßnahmen zur Verringerung der Umweltbelastung durch Asbest
— Drucksache 11/2642 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Hierzu hat der Ältestenrat Ihnen den Vorschlag einer Debattenzeit von 30 Minuten gemacht. — Dagegen haben Sie offensichtlich nichts einzuwenden; dann ist das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Asbest ist ein Stoff, der uns immer wieder mit alarmierenden Meldungen über Gesundheits- und Umweltgefahren konfrontiert. So deuten auch in der letzten Zeit zahlreiche Messungen wieder darauf hin, daß durch eine hohe Konzentration von Asbeststaub Gesundheitsgefahren gegeben sind. Sie haben alle die Messungen aus Schulklassen, Krankenzimmern, Kindergärten, Büroräumen, und nicht zuletzt bei der Deutschen Welle gelesen, wo jeweils in der Tat eine gesundheitsgefährdende Konzentration von Asbeststaub festgestellt wurde. Es ergibt sich also ein großer politischer Handlungsbedarf.Der Handlungsbedarf wird dadurch deutlich, daß es sich meist um Gebäude aus den 60er und 70er Jahren handelt, also aus einer Zeit, wo es noch eine relativ große Baukonjunktur gab und wo gerade diese Gebäude errichtet wurden, die besondere Probleme aufwerfen, nämlich Gebäude, in denen sich in der Regel besonders viele Menschen aufhalten. Es geht darum, daß durch den Einsatz von Asbestplatten, Asbestbändern und insbesondere von Spritzasbest feuerschützende Wände errichtet wurden. Zum anderen geht es darum, daß man insbesondere in Gebäuden mit einer umfangreichen Haustechnik Asbest als Brandschutz verwendet. Das sind beispielsweise Häuser mit Klimaanlagen.Allein diese Fälle zeigen, daß es bei der Verhinderung von Asbestkonzentrationen nicht nur darum geht, zukünftige Emissionen zu verhindern, sondern daß der Handlungsbedarf, den das Parlament, die Politik hat, auch darin besteht, die sozusagen schon vorhandenen Altlasten, also die Sünden der Vergangenheit, in einer gewissen Weise zügig auszuräumen, d. h. Sanierungsprogramme durchzuführen.Wir werden uns als Parlament bei den Beratungen über den zweiten Antrag, der vorliegt — der erste
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9242 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Müller
Antrag ist ja im letzten Jahr schon eingebracht worden —, Gedanken machen müssen, wie der Bund entsprechende Sanierungsprogramme unterstützen kann. Ich will hier den Verdacht äußern, daß in vielen Städten erst gar keine Messungen durchgeführt werden, weil man Angst hat, daß deren Ergebnisse gar keinen anderen Weg offenlassen, als zu großen Sanierungsprogrammen zu kommen. Ich glaube, man muß einfach die Problematik sehen, daß wir öffentlich nur die Spitze des Eisbergs kennen.Es gibt keine Frage: Die Sanierung ist teuer. Aber noch weniger dürfte es eine Frage sein, daß die Gesundheitsschäden nicht zu verantworten wären und daß wir deshalb schnell handeln müssen.Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit übrigens auch mal fragen, ob in den Gebäuden des Bundestages, insbesondere im Tulpenfeld, aber auch im Langen Eugen, schon einmal Messungen über die Asbestkonzentration durchgeführt wurden.
Ich wage zu bezweifeln, ob die Ergebnisse wirklich überzeugend sind. Ich weiß, wir haben darüber schon in Einzelpunkten geredet, aber es war immer hart an der Grenze. Ich weiß das schon.Also auch hier würde ich empfehlen, daß man diese Messungen auf jeden Fall insofern sieht, daß man weiter am Ball bleibt.Asbest ist eine Sammelbezeichnung für mehrere faserige Mineralien mit verschiedenen chemischen Eigenschaften und Zusammensetzungen. Die Gesundheitsrisiken von Asbest sind lange bekannt. Ich erinnere insbesondere an Asbestose und die verschiedenen Formen von Krebs. Asbest ist als krebserzeugender Stoff seit 1936 bzw. 1946 in Deutschland als Ursache einer Berufskrankheit anerkannt. Seit 1978 fordert das Bundesgesundheitsamt, die Asbestbelastung insgesamt zu verringern bzw. ganz zu beseitigen.Ich sehe heute vor allem folgende Problembereiche, wo wir kurzfristig handeln müssen:Erstens. Nach den Messungen, die vorliegen, ist es so, daß nach wie vor, insbesondere an verkehrsreichen Kreuzungen, deutlich zu hohe Konzentrationen von Asbest auftreten. Hier muß man sehen, daß der frühere — also nicht einmal nur der neue — Grenzwert, den das Bundesgesundheitsamt aufgestellt hat, bei weitem überschritten wird.Zweitens. Wir müssen feststellen, daß insbesondere dort, wo es schwach gebundene Asbestprodukte gibt, z. B. bei Spritzasbest, zu erheblichen Emissionen und Gesundheitsgefährdungen kommt.Drittens. Wir müssen sehen, daß auch fest gebundene Asbestprodukte beispielsweise nicht vor der Aggressivität in der Außenluft — Stichwort: Schwefeldioxidgehalt in der Luft — geschützt sind und daß sich auch hier ein entsprechender Handlungsbedarf ergibt.Besonders problematisch an Asbest ist zum einen, daß Asbeststaub eine sehr lange Latenzzeit hat, nämlich bis zu 30 Jahren, und zum zweiten, daß das Auftreten von Asbestkrankheiten deutlich einer DosisHäufigkeit-Beziehung unterliegt. Das heißt: Sowohl die lange Zeit zwischen Verursachung und Ausbruch der Krankheit als auch die Tatsache, daß es eine überdurchschnittliche Zahl von Krankheitsfällen mit der Dosis-Häufigkeit-Beziehung gibt, ist ein besonderes Problem.Von daher müssen wir feststellen, daß die Gefahr besteht, daß sich die Zahl der durch Asbest verursachten Krankheiten in den nächsten Jahren noch erhöhen wird. Das können wir nicht ausschließen.Der Bundestag hat am 20. Mai über das Anwendungsverbot für asbesthaltige Stoffe debattiert. Wir haben damals gesagt, daß wir, die SPD, alle Maßnahmen unterstützen, die darauf gerichtet sind, ohne Asbest auszukommen, und daß wir die politischen Voraussetzungen dafür schaffen wollen. Es ist gut, daß in der Zwischenzeit die Übereinstimmung in bezug auf einen solchen Weg gewachsen ist. Es gibt übrigens auch Einsichten bei Teilen der Industrie. Wir haben dafür auch die Unterstützung der IG Chemie.Seit dieser Zeit hat sich glücklicherweise etwas getan. Einige Industriebereiche haben — wir müssen allerdings im einzelnen darüber diskutieren — Ausstiegspläne vorgestellt. Die Forschungsanstrengungen insbesondere im Baubereich sind verstärkt worden.Gut ist auch, daß insbesondere die Firmen, die zur Schweizer Eternit-Gruppe gehören, weltweit von Asbest Abstand nehmen.Hinzu kommt, daß die 31. Umweltministerkonferenz, die Mitte November letzten Jahres stattgefunden hat, einen Maßnahmenkatalog zur Verringerung der Umweltbelastung durch Asbest beschlossen hat. Dieser Maßnahmenkatalog berücksichtigt viele Anregungen, die wir hier im Bundestag eingebracht haben. Dazu gehört insbesondere der Vorschlag, neue Konzentrationswerte festzulegen, die gültigen TKR-Werte zu senken sowie Asbest in die Gruppe der gefährlichsten Krebserzeuger einzuordnen.Dennoch ist der Handlungsbedarf zum Teil noch größer geworden. Wir sehen mit großer Sorge, daß insbesondere die belgische Eternit-Gruppe nicht bereit ist, von Asbest wegzugehen, sondern gerade angekündigt hat, sie wolle den europäischen Binnenmarkt nutzen, um verstärkt Produkte beispielsweise in die Bundesrepublik zu exportieren. Dies können wir nicht zulassen. Deshalb können wir hier nicht nur eine Selbstverpflichtung der Industrie akzeptieren, sondern wir brauchen darüber hinaus einen klaren gesetzlichen Rahmen, der astbesthaltige Stoffe im Baubereich ausschließt. Wenn das der gemeinsame Markt sein soll, dann sollte man uns doch bitte davon verschonen. Deshalb müssen wir hier klare gesetzliche Regelungen schaffen.Meine Damen und Herren, viele unserer Forderungen — auch das ist eine positive Entwicklung der letzten Zeit — sind in dem Beschluß der Umweltministerkonferenz enthalten. Es bleiben dennoch eine Reihe von Forderungen übrig, über die wir weiter diskutieren müssen.
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Müller
Dazu gehört die alte Forderung nach einer Technischen Anleitung Innenraumluft. Es ist auf Dauer nicht hinzunehmen, daß wir uns bei der Frage der Innenraumbelastungen von einem Stoff zum anderen hangeln, daß es aber im Grunde genommen ein Konzentrationssystem für die Innenraumbelastungen nicht gibt. Es ist im Grunde genommen eine antiquierte Methode, wenn wir uns von Stoff zu Stoff über jeweilige Gefährdungen unterhalten, anstatt sinnvollerweise Gesamtkonzentrationen festzulegen und damit auch politische Hektik zu vermeiden.
Dazu kommt ein Bund-Länder-Sanierungsprogramm.Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir werden darauf bestehen, daß die gesetzlichen Maßnahmen sobald wie möglich beschlossen werden; denn wir wollen nicht, daß andere Länder eventuell dem belgischen Beispiel folgen, wodurch es auf europäischer Ebene auch immer schwieriger wird, ein Verbot auszusprechen, weil immer mehr nationale Interessen in die EG-Kommission einfließen. Es gilt also, schnell zu handeln. Das bedeutet, daß wir den größten Gefahren gerade beim Umgang mit Asbest, wodurch die wohl anerkannteste Berufskrankheit verursacht wird, begegnen. Ich glaube, es liegt im Interesse aller in diesem Hause, daß dieser Weg beschritten wird.
Herr Abgeordneter, mir ist natürlich bekannt, daß es dem amtierenden Präsidenten nicht erlaubt ist, in die Diskussion einzugreifen, aber ich darf dem Hause bei dieser Gelegenheit doch die Information geben, daß für den Langen Eugen eine solche Untersuchung vorgenommen worden ist.
— Der Präsident wäre jetzt wirklich überfordert, wenn er von hier aus antworten würde, Herr Kollege Baum.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Müller, Asbestsanierung ist notwendig. Wir tun in unserem Kreis etwas, wo wir kommunalpolitisch Verantwortung tragen. Wenn jeder von uns an seinem Platz wirkt, wird hier schneller Abhilfe geschaffen werden. Deshalb, finde ich, gilt die Aufforderung in alle Richtungen.Meine Damen und Herren, Asbest erzeugt Krebs. Damit ist über das Gefährdungspotential mehr als genug gesagt. Asbest wurde und wird noch vielfältig eingesetzt, in über 3 000 Verwendungszwecken. Wir werden unterscheiden müssen nach Einsatzbereichen und Einsatzstoffen.Weißasbest besitzt für den Menschen eine geringere kanzerogene Potenz als Blauasbest. Spritzasbest ist die weitaus gefährlichste Verwendungsform, die in der Gefährlichkeit z. B. mit Asbestzementplatten nicht verglichen werden kann. Bei der Verwendungim Tiefbau — z. B. Wasserrohre — verneint das Bundesgesundheitsamt eine Gefährdung für das Trinkwasser. Diese Einschätzung wird international geteilt.Die Bundesregierung teilt diese differenzierte Betrachtung. Das bedeutet jedoch nicht, daß man bei differenzierter Betrachtung keine Handlungserfordernisse sieht. Wir haben in der Vergangenheit gehandelt. Die Verwendung von Spritzasbest, der gefährlichsten Form von Asbest, ist seit 1979 verboten.Die Gefahrstoffverordnung aus dem Jahre 1986 enthält sowohl ein Verbot des Inverkehrbringens bestimmter besonders gefährlicher asbesthaltiger Stoffe als auch besondere Vorschriften, die beim Umgang mit Asbest zu beachten sind. Die Gefahrstoffverordnung enthält ferner Beschränkungen für die Verwendung von solchen Stoffen und Zubereitungen, die auch gespritzt werden können, und Anstrichstoffen.Das Umweltbundesamt hat einen Substitutionskatalog vorgelegt, mit dessen Hilfe die Prüfpflicht aus der Gefahrstoffverordnung überprüft werden kann.Bereits in der letzten Diskussion habe ich darauf verwiesen, daß wir damit nicht am Ende des zu beschreitenden Weges sind. Wie damals angekündigt, hat der Ausschuß für Gefahrstoffe im Juni letzten Jahres die Umstufung von Asbest in die Gruppe I — sehr stark gefährdende Gefahrstoffe — beschlossen. Wir arbeiten zur Zeit an der rechtlichen Umsetzung dieses Beschlusses. Das damit verbundene Expositionsverbot der Arbeitnehmer hat weitgehende Folgen, kommt einem Produktionsverbot gleich.Deshalb bestehen Überlegungen, für Bereiche, in denen eine Substitution nicht sofort möglich ist, weil keine geeigneten Ersatzstoffe zur Verfügung stehen, zeitlich begrenzte Ausnahmeregelungen vorzusehen. Die können jedoch nur greifen, wenn Gefährdungen auszuschließen sind und die Kooperationsverpflichtung zur Substitution von Asbest eingehalten wird.Gewerkschaftsseitig liegt mir die Information vor, daß die Belastung der Arbeitnehmer, insbesondere bei der Asbestzementproduktion, in den letzten Jahren erheblich vermindert wurde. Die TRK-Werte für Asbest wurden abgesenkt. Bei über 80 % der Arbeitsplätze liegt dieser Wert unterhalb eines Viertels der bestehenden TRK-Werte.
Zur Wertung dieses Sachverhalts: Die Nachweisgrenze liegt zur Zeit bei einem Viertel der TRK-Werte. Das heißt also Identität.Sachverhalt ist: Der Asbesteintrag in der Hochbauproduktion wurde bis zum 31. Dezember 1988 um gut 60 % reduziert, die vorgegebene Zielsetzung des Kooperationsbereichs mithin erfüllt. Die mengenmäßige Produktion — darauf hatte ich bereits hingewiesen — ist ganz drastisch reduziert worden.Sowohl Bundesregierung wie DGB wie verschiedene Einzelgewerkschaften und auch Pfarrer Oeser für die Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen wie auch, wenn ich es richtig gesehen habe, Herr Kollege Baum und die Umweltministerkonferenz haben die vorbildliche Erfüllung der Kooperationsvereinbarung festgestellt. Wir haben durch diese mittlerweile
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9244 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989
Dr. Lippold
international eine Spitzenstellung in der Reduktion erreicht. Dies wie auch die vorherige Aussage lassen es begründet erscheinen, Ausnahmetatbestände zeitlich limitiert zu formulieren.Ich gehe davon aus, daß wir uns bei der Diskussion dieser Frage an dem Abschlußbericht des Arbeitskreises Asbest des Unterarbeitskreises IV im Ausschuß für Gefahrstoffe orientieren sollten, hier auch auf die Umstellung auf asbestfreie Materialtechnologien. Die dort angegebenen Substitutionszeiten und Substitutionshorizonte halte ich für andenkenswert, für überprüfenswert. Wir werden sie diskutieren müssen, um zu Regelungen zu kommen. Ich glaube, daß wir, wenn wir dieses geprüft haben werden, in der Lage sein werden, sinnvolle Regelungsmöglichkeiten zu finden, mit denen wir übrigens auch eine Industrie — ich sage das ganz deutlich — , die bewiesen hat, daß sie unter schwierigen Bedingungen den Weg aus dem Asbest in international vorbildlicher Weise finden will und auch gefunden hat, stützen können. Ich glaube, gerade für Berlin wird das ein Beitrag sein.Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Das Rad ein zweites Mal zu erfinden ist auch noch eine Leistung. Denn wenn es einen Karren aus dem Sumpf auf sicheres Land ziehen hilft, mag sich die gedankliche Mühe gelohnt haben.Wir GRÜNEN haben vor nunmehr bald einem Jahr zwei Anträge eingebracht: „Anwendungsverbot für Asbest und Verbot des Inverkehrbringens asbesthaltiger Produkte" sowie „Sonderprogramm zur ,Sanierung von asbestverseuchten Gebäuden" waren sie betitelt, Herr Kollege Müller .
In der Debatte darüber am 20. Mai letzten Jahres hatten Sie bereits deutlich gemacht, daß die andere Oppositionsfraktion unsere Anträge unterstützt und wichtig findet und sie einen eigenen Antrag einbringen würde, weil Handlungsbedarf bestünde.Nun, der jetzt vorliegende Antrag der SPD unterstreicht in vielen Punkten das, was wir bereits vor einem Jahr hier als Forderung eingebracht haben. Erfreulicherweise ist ein Grundkonsens vorhanden. Die SPD-Fraktion hätte eigentlich sich und dem Plenum hier die Zeit ersparen können.Konsens besteht in folgenden Punkten:Erstens. Notwendig ist ein Verbot des Inverkehrbringens, der Herstellung und Verwendung von Asbest und asbesthaltigen Produkten.Zweitens. Notwendig sind Sanierungsprogramme, um die Asbestaltlasten so gefahrlos wie möglich zu beseitigen.Drittens. Notwendig ist ein Heraufschrauben der Schutzvorschriften, nicht zuletzt im Hinblick auf den' Umgang mit Altlasten und den Sanierungsmaßnahmen.Viertens. Notwendig ist die Anerkennung aller asbestbedingten Erkrankungen, mit deren Auftreten wir wegen der verzögerten Latenzzeit in immer stärkerem Umfang rechnen müssen.Die Koalitionsfraktionen — ich spreche hier von den Bonnern, nicht denjenigen, die vielleicht bald in Berlin die Asbestsanierung auf Trab bringen werden — haben immer noch nicht die Notwendigkeit erkannt, in Sachen Asbest jetzt wirklich durchzugreifen und zu retten, was zu retten ist,
zu sanieren, was zu sanieren ist, um möglichst viel Unheil abzuwehren und Menschen nicht länger der Gefahr, Asbestose zu bekommen, auszusetzen, meine sehr verehrten Herren und Damen. Nachdem jahrzehntelang die notwendige Vorsorge von der Asbestlobby immer wieder beiseite geschoben wurde und auch unsere schon zehn Jahre währenden Forderungen, die Forderungen der GRÜNEN und der Umweltschutzverbände, lange unerfüllt blieben, bewegen Sie sich, meine Herren und Damen von den Koalitionsparteien, leider immer noch im Takt der Asbestlobby, statt endlich einmal selber zu dirigieren.Aber bedauerlicherweise — ich möchte die Kollegen und Kolleginnen von der SPD bitten zuzuhören — benutzen auch Sie den selbstgeschriebenen Fahrplan der Asbestlobby. Denn die bestehenden
freiwilligen Vereinbarungen sollen lediglich gesetzlich fixiert werden. Das aber bedeutet: Die Altlast Asbest wächst weiter an. In diesem Punkt — das muß ich schon sagen — enttäuschen Sie mich. Wo es um die Nennung konkreter Termine und akzeptabler Grenzwerte geht, werden Sie Ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Sie wollen den Sanierungsrichtwert bei 500 Fasern pro Kubikmeter festlegen. Sie wissen, daß die WHO für die Belastung der Außenluft einen Grenzwert von 200 Fasern pro Kubikmeter und für die Innenraumluft von 50 Fasern pro Kubikmeter Luft empfiehlt. 100 Asbestfasern pro Kubikmeter haben wir schon überall in der Luft, sogar in den Bergen; so gestern abend in der WDR-Sendung „Wissenschaftsshow" zu hören. Es ist also allergrößte Eile geboten, meine Herren und Damen.Asbest ist eine höllische Gefahr. Darin sind wir uns einig. Ich wäre froh, wenn wir angesichts dieser Erkenntnis doch dahin kämen, durch beherztes und konsequentes Durchgreifen möglichst vielen unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen die höllischen Qualen einer Asbestose oder anderer durch Asbest verursachten Krankheiten zu ersparen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9245
Frau GarbeEs muß unverzüglich gehandelt werden. Die Länder Schweden, Dänemark und Schweiz haben Asbest verboten,
warum die Bundesregierung trotz aller Erkenntnisse der Gefährlichkeit immer noch nicht?Nun, meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen von den Regierungsparteien, ich denke, Sie werden sich eines Tages für die Unterlassungssünde verantworten müssen.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Erlauben Sie mir zu Beginn eine allgemeine, wenngleich unpopuläre Bemerkung. Zum wiederholten Male beschäftigen wir uns mit Asbest, genauer: mit einem Antrag zur Verringerung der Umweltbelastung durch Asbest. Wir sind uns doch nun alle einig über die Gefahren von Asbest, und es ist doch nicht so, daß in diesem Bereich Bedarf bestünde, hier im Plenum einen Antrag nach dem anderen zu diskutieren.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich spreche nicht davon, daß man gegen die Gefahren durch Asbest nichts tun sollte. Ich meine nur, daß die Diskussion von Entschließungsanträgen fruchtlos ist, wenn sie immer wieder erfolgt und uns und die Ministerien mit der Debatte hier und im Ausschuß beschäftigt, statt die Arbeit voranzutreiben. Es gibt genug Probleme, die einer Lösung bedürfen. Anträge wie dieser behindern nur.
Aber zurück zu unserem Ritual einer Debatte über einen Entschließungsantrag. Die erreichten Fortschritte im Hochbau werden zwar auch von der SPD nicht in Abrede gestellt, ich möchte sie aber dennoch erwähnen. Auf der Grundlage freiwilliger Vereinbarungen hat sich die deutsche Asbest- und Faserzementindustrie dazu verpflichtet, bis Ende 1990 Asbest auch im Hochbau zu ersetzen.
Hier schlägt die SPD nun vor, diese Zielsetzung rechtzeitig durch ein Verbot ab dem 1. Januar 1991 rechtlich abzusichern. Phantastisch! Da werden wir dann wieder eine Menge Leute beschäftigen, um eine Vorschrift in die Welt zu setzen, von der man weiß, daß sie aller Voraussicht nach mit ihrem Inkrafttreten schon gegenstandslos ist. Denn was speziell den Asbestzement im Hochbau angeht, gibt es kaum begründete Zweifel, daß die Selbstverpflichtungserklärung eingehalten wird. Oder hat die SPD Sorge, daß nicht genügend Personen damit beschäftigt sind,
gegenstandslos gewordene Rechtsvorschriften aus
unserem Recht wieder zu beseitigen? Ich wundere
mich manchmal darüber, daß von Ihrer Seite und besonders von seiten der GRÜNEN offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen wird, was wir inzwischen in diesem Bereich erreicht haben.
Wie sieht es nun im Tiefbau aus? Hier wird vorgeschlagen, aus Arbeits- und Umweltschutzgründen Asbestzementprodukte im Tiefbau grundsätzlich zu verbieten und nur in Einzelfällen Ausnahmen an Hand eines besonders strengen Maßstabes zu gewähren.
Frau Abgeordnete Dr. Segall, der Abgeordnete Müller möchte auf Grund dieser Bemerkung eine Zwischenfrage stellen. Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?
Nein. Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr.
Frau Dr. Segall, da Sie von Ritualen sprachen: Meinen Sie nicht, daß es ebenfalls zu schlechten Ritualen gehört, daß man nicht zuhört?
Daß man hier permanent zu gleichen Themen immer wieder Debatten führt, hat zur Folge, daß selbst diejenigen, die es aus dem Ausschuß betrifft, nicht mehr richtig zuhören; das gebe ich gerne zu.
Aber das liegt doch einfach an diesem Ritual. Wir müssen uns mit der Parlamentsreform wirklich einmal darum bemühen, daß wir diese Debatten vor leeren Bänken beseitigen.
— Okay, Sie sagen es, danke.Wir waren beim Asbest im Tiefbau. Zunächst möchte ich auch hier anmerken, daß, soweit im Tiefbau Asbest eingesetzt wird, die besagten Produkte — im wesentlichen dürfte es sich um Druck- und Kanalrohre handeln — auf asbestfreie Materialien umgestellt werden und diesbezüglich eine Zusage vorliegt, bis zum Ende des Jahres 1993 dieses abzuwickeln.Aber nun ganz konkret zu der angedeuteten Ausnahmeregelung im SPD-Antrag: Ihr Antrag läßt doch ganz klar erkennen, daß auch Ihnen bewußt ist, wie pauschalierend das von Ihnen geforderte Verbot von Asbestzementprodukten im Tiefbau ist. Wollen Sie z. B. allen Ernstes Produkte mit weniger als 10 %igem festgebundenem Asbestzement im Tiefbau verbieten? Dieses Verbot, das ja in Wahrheit kein wirkliches und vollständiges Verbot sein kann, hinkt den Angeboten aus der Industrie hinterher. Ich denke, es wäre ungleich sinnvoller, darauf zu drängen, die asbestfreie Materialtechnologie für den Tiefbau zu fördern und so das Verbot, das ja offensichtlich ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt sein soll und entsprechend kompliziert konstruiert und durchgeführt werden müßte, überflüssig zu machen.
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Frau Dr. SegallUnterstützen möchte ich die Umstufung von Asbest in die Gruppe I der Gefahrstoffverordnung. Arbeitnehmerschutz ist unabdingbar, und eine Folge der vorgeschlagenen Einstufungen wäre, daß Arbeiter beim Umgang mit diesen Stoffen vor schädlichen Auswirkungen geschützt sind.Zum Schluß möchte ich betonen, daß die FDP es für fruchtbringender hält, im Bereich der Asbestverarbeitung auf die Zusagen der Industrie zu vertrauen, um so schneller als durch administrative Maßnahmen und endlose Debatten die Reduzierung von Asbest zu erreichen.
Der Knüppel des Gesetzes bleibt uns immer noch. Eine Verordnung zum Verbot ist schnell erlassen. Er sollte jedoch nicht angewendet werden, um die greifbaren Fortschritte bei der Entwicklung neuer Verfahren im Tiefbau kurz vor dem erfolgreichen Abschluß zu zerschlagen.Ich danke Ihnen.
Nun hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Gröbl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Dr. Segall hat dankenswerterweise auf die erforderliche Differenzierung bei dieser Diskussion hingewiesen, daß man zwischen dem Asbestzement und dem hinlänglich bekannten Spritzasbest unterscheiden muß. Sie haben auch auf die Selbstverpflichtungserklärung der Faserzementindustrie hingewiesen, deren Einhaltung des vorgegebenen Zeitplans nach den uns vorliegenden Unterlagen gewährleistet ist.
Die Umweltministerkonferenz hat sich zu dieser Thematik im November 1988 klar und zustimmend geäußert und ergänzt, daß ein Verwendungsverbot von Asbestprodukten dann ins Auge gefaßt wird, wenn das Substitutionsziel nicht erreicht wird; so zitiert in diesem Umweltministerbeschluß.
Im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt und auf das von dem Herrn Kollegen Müller angeführte Beispiel muß sichergestellt werden, daß unsere umweltpolitischen Erfolge und die Selbstverpflichtung der deutschen Faserzementindustrie nicht durch Importe aus EG-Ländern und natürlich auch nicht aus Drittländern unterlaufen werden. Hierzu ist eine einheitilche EG-Regelung oder, wenn diese nicht erreichbar ist, eine nationale, allerdings EG-konforme Regelung erforderlich.
Die 31. Umweltministerkonferenz, die sich mit Asbest befaßt hat, hat im wesentlichen folgende Beschlüsse gefaßt:
Herr Staatssekretär, der Abgeordnete Müller möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Staatssekretär, meine Frage ist in gewisser Weise auch in bezug auf die Aussage von Frau Dr. Segall zu verstehen. Was sagen Sie denn dann zu der Aussage des zuständigen Industriebereichs, daß dieser gerade die rechtliche Regelung begrüßt, um das problematische Eindringen ausländischer Produkte zu verhindern? Das sagt gerade die betroffene Industrie.
Herr Kollege Müller, ich verstehe ja Ihre Frage. Weil Sie meinen Ausführungen nicht zuhören konnten, deshalb kommt nämlich diese Frage. In meinen Ausführungen habe ich darauf hingewiesen, daß zur Absicherung unserer umweltpolitischen Erfolge und zur Absicherung der Selbstverpflichtungserklärung der Faserzementindustrie eine Regelung erforderlich ist,
entweder eine EG-weite oder eine nationale, EG-konforme Regelung. Wenn Sie das gehört und verstanden haben, Herr Müller, ist mir ihre Frage unerklärlich.
Der Abgeordnete Müller möchte noch eine Frage stellen, Herr Staatssekretär.
Gerne.
So, bitte schön, Herr Müller.
Ich frage Sie noch einmal, Herr Staatssekretär, und ich wiederhole meine Frage, was Sie dazu sagen, daß die in diesem Fall betroffene Faserzementindustrie sagt, daß sie gerade die gesetzliche — ich wiederhole: gesetzliche — Absicherung begrüßt, die in dem Antrag steht.
Ich glaube schon, daß ich Ihnen zugehört habe, aber ich weiß nicht, ob Sie meine Differenzierung genau mitbekommen haben. Ich habe nicht von einer Regelung gesprochen, sondern von einer gesetzlichen Maßnahme.
Eine gesetzliche Regelung auf EG-Ebene oder auf nationaler Ebene habe ich für möglich gehalten. Hätten Sie meinen Ausführungen zugehört, hätten Sie jetzt das Plenum nicht aufhalten müssen.Die Umweltministerkonferenz, die sich im November u. a. auch mit Asbest befaßt hat, hat im wesentlichen folgende Beschlüsse gefaßt:Forderung nach einem Herstellungs- und Verwendungsverbot von Asbestprodukten, falls das Substitutionsziel im Hochbau bis Ende 1990 nicht erreicht wird; da sollten Sie zuhören, dort war nämlich auch der Bundesumweltminister dabei.Auch im Tiefbau soll Asbest grundsätzlich nicht mehr verwendet werden. Hierbei begrüßt die Um-
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Parl. Staatssekretär GröblWeltministerkonferenz die Ankündigung der Faserzemtindustrie, auch Tiefbauprodukte bis Ende 1993 asbestfrei herzustellen.
Empfehlung an die Bauträger, bis Ende 1990 möglichst asbestfreie Produkte einzusetzen und somit diese Richtung zu unterstützen.Festlegung eines Sanierungsleitwerts in Höhe von 500 Fasern pro Kubikmeter als verfahrenstechnisches Kriterium.Notwendigkeit der Überprüfung der derzeit gültigen „Technischen Richtkonzentration" am Arbeitsplatz.Verbesserung des Verbraucherschutzes durch verbesserte Kennzeichnung asbesthaltiger Produkte.Daß die gesundheitsschädigende Wirkung von Asbestfeinstaub unbestritten ist, habe ich bereits betont. Kollege Lippold hat das klar und eindeutig dargelegt. Die Bundesregierung hat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Exposition der Arbeitnehmer und der Bevölkerung gegenüber Asbeststaub so gering wie möglich zu halten:Neben dem Verbot des Inverkehrbringens bestimmter asbesthaltiger Stoffe, Zubereitungen und Erzeugnisse enthält die Gefahrstoffverordnung eine Reihe von Vorschriften, die beim Umgang mit Asbest über die allgemeinen Vorschriften der Gefahrstoffverordnung hinaus zu beachten sind.Der Ausschuß für Gefahrstoffe hat im Juni 1988 die Umstufung von Asbest in die Gruppe I der „sehr stark gefährdenden Gefahrstoffe" beschlossen. Diese Umstufung wird im Rahmen der Änderung der Gefahrstoffverordnung derzeit rechtlich verbindlich gemacht. Der Arbeitsminister ist hierfür federführend.Als Folge davon dürfen Arbeitnehmer beim Umgang mit asbesthaltigen Gefahrstoffen diesen nicht ausgesetzt sein, was faktisch einem Herstellungs- und Verwendungsverbot gleichkommt. Für einige Bereiche, in denen eine Substitution von Asbest zur Zeit noch nicht möglich ist bzw. für die noch nicht abzusehen ist, wann geeignete Ersatzstoffe zur Verfügung stehen, und auf die nicht verzichtet werden kann, müssen voraussichtlich zeitlich begrenzte Ausnahmeregelungen in Betracht gezogen werden.
Damit möchte ich zur Frage der Sanierung von asbesthaltigen Gebäuden kommen.Der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat mit Rundschreiben vom 3. März 1986 die obersten Bundesbehörden auf die von schwach gebundenen Asbestsprodukten ausgehenden Gefahren hingewiesen und auf die vom Institut für Bautechnik, Berlin, herausgegebene Broschüre „Spritzasbest" aufmerksam gemacht.Auf dieser Basis wird zur Zeit eine Vielzahl von Asbestsanierungen, überwiegend in Zuständigkeit der Bundesländer und der Kommunen, durchgeführt. Viele Sanierungsfälle müssen und werden noch dazukommen.Sicher wird Sie die Mitteilung interessieren, daß die Kreditanstalt für Wiederaufbau im Rahmen ihres Umweltprogramms sowohl für Gemeinden als auch für gewerbliche Betriebe vergünstigte Kredite für die Sanierung von Spritzasbestfällen bereitstellt.Für mich steht außer Frage, daß die bisherigen Anstrengungen, vor allem die wissenschaftliche Diskussion um Meßverfahren und Orientierungswerte, fortgesetzt werden müssen.Dessen ungeachtet werden wir wie bereits in der Vergangenheit auch künftig dafür sorgen, daß der Schutz von Arbeitnehmern und der Bevölkerung vor Asbeststaub weiter verbessert wird.Ich danke Ihnen.
Damit sind wir am Ende der Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2642 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zusätzlich ist beantragt worden, diesen Antrag an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Besteht kein Widerspruch? — Es ist so beschlossen.Ich rufe dann Tagesordnungspunkt 20 und den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:20. a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen
— Drucksache 11/2387 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 11/3633 —Berichterstatter:Abgeordneter Weiss
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesbahngesetzes
— Drucksache 11/3770 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr Ausschuß für WirtschaftAusschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschußc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiss , Frau Rock und der Fraktion DIE GRÜNENVerstoß gegen § 5 Bundesbahngesetz durch den Deutschen Bundestag— Drucksache 11/3648 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr Haushaltsausschuß
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Vizepräsident CronenbergZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiss , Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNENAusbau der Bundesbahnstrecke München — Mühldorf — Freilassing— Drucksache 11/3973 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauweisen und Städtebau HaushaltsausschußDer Ältestenrat schlägt Ihnen eine Beratungszeit bis zu einer Stunde vor. Ich darf mir erlauben, das Wort „bis" zu unterstreichen.Wenn dies zur Kenntnis genommen worden ist, kann ich die Aussprache eröffnen. Ich erteile dem Abgeordneten Bohlsen das Wort. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während der unter a) zur Beratung anstehende Gesetzentwurf zum Eisenbahnkreuzungsgesetz seine kritische Würdigung in den Fachausschüssen bereits erfahren hat, stehen der unter b) aufgeführte Gesetzentwurf der SPD-Fraktion und der unter c) genannte Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN erst noch zur Überweisung an.Zumindest bei dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Änderung des Bundesbahngesetzes handelt es sich gleichfalls um eine bekannte Forderung in der parlamentarischen Diskussion: um die Sanierung der Deutschen Bundesbahn. Ich will darauf hinweisen, daß hier bereits 1985 eine Gesetzesinitiative der SPD-Fraktion gestartet wurde mit dem Ziel, u. a. auch die Unternehmensverfassung der Deutschen Bundesbahn grundlegend zu ändern. Bei der abschließenden Behandlung im Verkehrsausschuß erwies sich der Versuch, die paritätische Mitbestimmung auch im Verwaltungsrat der Deutschen Bundesbahn zu verankern, als verfassungsrechtlich bedenklich und wenig hilfreich, um notwendige Leistungsreserven bei den Mitarbeitern der Bundesbahn zu mobilisieren.Da sich die rechtlichen Beurteilungsmöglichkeiten in der Zwischenzeit nicht geändert haben, halte ich den Vorstoß der Fraktion in gleicher Sache für wenig erfolgversprechend.
Wenn ein Gesetzentwurf, der vor zweieinhalb Jahren vom Verkehrsausschuß ausführlich beraten und zurückgewiesen worden ist, von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in unveränderter Form erneut vorgelegt wird, dann drängen sich mir natürlich erhebliche Zweifel an der Originalität Ihrer Verkehrspolitik auf.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zur abschließenden Beratung der Gesetzesinitiative des Bundesrates zur Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes zurückkehren. Wie bereits vorgetragen, zielt die Initiative des Bundesrates darauf ab, die Unterhaltskosten für Straßenbrücken über Bundesbahnanlagen von der Freien und Hansestadt Hamburg auf die Deutsche Bundesbahn zu verlagern. Dies würde zusätzliche Kosten für die Deutsche Bundesbahn in Höhe von ca. 4,4 Millionen DM jährlich mit sich bringen.Nach dem geltenden Eisenbahnkreuzungsgesetz wurden Gemeinden von der Unterhaltungslast für Straßenüberführungen weitestgehend ausgenommen, um Härten zu vermeiden. Die Freie und Hansestadt Hamburg kann sich als Bundesland auf dieses Gemeindeprivileg nicht berufen, obgleich sie damit gegenüber anderen Großstädten — das will ich zugeben — benachteiligt ist. Damit die Freie und Hansestadt Hamburg von diesen Kosten künftig entlastet wird, will sie nach dem Gesetzänderungsentwurf künftig wie eine Gemeinde behandelt werden.Nach übereinstimmender Auffassung im Verkehrsausschuß wird die Freie und Hansestadt Hamburg nach dem geltenden Wortlaut des Eisenbahnkreuzungsgesetzes trotz ihrer Steuereinnahmen als Stadtstaat gegenüber anderen Großstädten tatsächlich benachteiligt, da diese über Schlüsselzuweisungen und zweckgebundene Zuweisungen auch an den Steuereinnahmen ihres jeweiligen Bundeslandes partizipieren.Dennoch hält der Verkehrsausschuß es nicht für geboten, den Unterhaltsaufwand für Straßenbrücken durch Änderung des § 19 des Eisenbahnkreuzungsgesetzes der Deutschen Bundesbahn aufzubürden, weil dadurch eine neue Ungleichbehandlung gegenüber anderen Bundesländern herbeigeführt würde.Als Mitglied im Verkehrsausschuß habe ich diese Entscheidung mitgetragen und bitte, im Rahmen der heutigen Plenardebatte den vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes in zweiter und dritter Lesung mit der Maßgabe abzulehnen, daß die Bundesregierung aufgefordert wird, die Frage einer Ausgleichszahlung für die Freie und Hansestadt Hamburg ohne zusätzliche finanzielle Belastung der Deutschen Bundesbahn sorgfältig zu prüfen. Dabei könnte es hilfreich sein, eine Durchschnittsberechnung über die Belastung der Bundesländer mit Unterhaltskosten für Straßenbrücken zu entwickeln und danach eine Ausgleichszahlung für Hamburg zu errechnen. Auf diese Weise könnte eine Gleichbehandlung Hamburgs mit anderen Bundesländern sichergestellt werden.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, mit Blick auf die jüngsten bahnpolitischen Entscheidungen noch einige Ausführungen machen. Mit den Beschlüssen zur Übernahme der DB-Altschulden nach dem Stand von 1972 sowie der Zusage, sich an den Fahrwegausgaben der Bahn zu beteiligen, wurde ein weiterer Meilenstein zur Verbesserung der Wettbewerbslage der Bahn gesetzt. Durch die Übernahme der gesamten Altschulden in Höhe von 12,6 Milliarden DM von 1991 an wird die Verschuldung von 51,3 Milliarden DM auf 38,7 Milliarden DM gesenkt und das Eigenkapital entsprechend erhöht. Mit einem Eigenkapital von 27,8 Milliarden DM anstelle von sonst 15,2 Milliarden DM wird die Bundesbahn damit kreditfähiger für Neuinvestitionen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1989 9249
BohlsenVom Bahnvorstand selbst — das sollte auch für Sie gelten, Kollege Weiss — werden die Beschlüsse der christlich-liberalen Bundesregierung nicht allein als politisches Bekenntnis zur Bahn, sondern sogar als strategischer Durchbruch bewertet.
Die Bundesbahn, meine Damen und Herren, ist aufgefordert, bis Ende 1990 die notwendigen Vorbereitungen in ihrer Kostenrechnung und Rechnungslegung zu leisten, damit dann in nachprüfbarer Weise die Aufwendungen und Erträge dem jeweiligen Wegebereich zugerechnet werden können. Dank der Berechnung eines Wegenutzungsentgeltes, das die unterschiedlichen Auslastungsgrade auf den benutzten Strecken zu berücksichtigen hat, kann der Wettbewerbsnachteil der Deutschen Bundesbahn gegenüber den Wettbewerben in der Binnenschiffahrt und auf der Straße bei den Fahrwegausgaben ausgeglichen werden. Eine durchgängige Einzelrechnung, die die Streckungskosten jeweils nach der in Anspruch genommenen Kapazität differenziert, schafft zudem die Grundlage dafür, daß Dritte gegen Entgelt die Infrastruktur der Schiene nutzen können.Eine weitere und für die künftige Bahnpolitik wichtige Maßnahme stellt schließlich die Bereinigung der Gewinn- und Verlustrechnung der Deutschen Bundesbahn bei Pensionszahlungen dar.
— Das Kabinett. — So wird schon ab dem Haushaltsjahr 1989 die Zahlung der Beträge jährlich neu berechnet und nicht mehr durch einen Haushaltsansatz begrenzt, Herr Kollege Weiss.Im Bundesverkehrswegeplan 1985 wurden die Investitionsausgaben des Bundes für Schienenstrecken in den kommenden zehn Jahren — darauf möchte ich gerne hinweisen — um 25 % aufgestockt und damit erstmals der bislang dominierende Anteil der Straßenbauinvestitionen gebrochen.Unbestritten ist, daß unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit, der Energieeinsparung, des Schutzes der Umwelt, Natur und Landschaft der Schiene eine hervorragende Stellung zukommt. So braucht die Autobahn für die gleiche Transportleistung dreimal mehr Fläche. Während ein Auto pro Person und Kilometer 3,5mal mehr Energie benötigt, erfordert ein Lkw sogar das Neunfache.Bei der Bewältigung des Verkehrswachstums bei einer begrenzten Verkehrsfläche kommt der Schiene eine entscheidende Bedeutung zu. Die Bundesregierung wie auch die Koalitionsfraktionen werden in ihren Bemühen fortfahren, der Bundesbahn den notwendigen Flankenschutz zu geben, damit sie sich zu einem modernen marktorientierten Verkehrsdienstleistungsunternehmen entwickeln kann. Gelder für notwendige Zukunftsinvestitionen wurden zur Verfügung gestellt, Wettbewerbsverzerrungen werden beseitigt und strukturelle Reformen in Gang gesetzt.Mit meinem Dank für die Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter der Deutschen Bundesbahn möchte ich meine Ausführungen schließen und zugleich meiner Zuversicht Ausdruck verleihen, daß die Bahn in Zukunft ihre Position unter den Verkehrsträgern aus eigener Anstrengung zu festigen vermag. Neue Produktions- und Geschäftsfelder, die über den Rahmen des nationalen Betätigungsfeldes weit in den Binnenmarkt hineinreichen, weisen Aussichten auf, die bislang nicht bekannt und genutzt waren. Der Blick auf das Jahr 1993 zeigt, daß die Wachstumsimpulse des Europäischen Binnenmarktes zu einer Zunahme des Güter- und Personenverkehrs führen werden. Für die Bundesrepublik Deutschland als Transitland ergeben sich besondere Herausforderungen.Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang verdient auch die Entscheidung der Bundesregierung hervorgehoben zu werden, nach der eine Straßenbenutzungsgebühr für schwere Lkw eingeführt werden soll. Auch sie wird vermehrte Chancen für die Bahn, für deren Mitarbeiter und für die Umwelt schaffen.Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Niese.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich werde in meinem Beitrag auf den vom Bundesrat eingebrachten Änderungsgesetzentwurf zum Eisenbahnkreuzungsgesetz eingehen.
Nach § 14 des Gesetzes in seiner geltenden Fassung sind Straßenüberführungen über Eisenbahnanlagen vom Träger der Straßenbaulast zu unterhalten. Um Härten für die Gemeinden zu vermeiden, ist in § 19 zu ihren Gunsten eine Übergangsregelung geschaffen worden, durch die die Unterhaltungslast für solche Straßenüberführungen zunächst bei der Deutschen Bundesbahn verbleibt und erst bei einer wesentlichen Änderung der Kreuzungsanlage auf die Gemeinde übergeht.
Diesem Willen des Gesetzgebers beim Inkrafttreten des Eisenbahnkreuzungsgesetzes steht jedoch für Hamburg eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom November 1984 entgegen. Danach wird Hamburg das sogenannte Gemeindeprivileg entzogen.
Bei dieser Entscheidung kam es darauf an, ob Hamburg im Zusammenhang mit dem Eisenbahnkreuzungsgesetz als Bundesland oder als Gemeinde anzusehen ist. Das Bundesverwaltungsgericht entschied, und zwar in einem konkreten Fall — darum ging der Rechtsstreit —, daß die Baulast bei der Freien und Hansestadt Hamburg als Bundesland liegt, und legte, ohne auf den Gemeindecharakter Hamburgs näher einzugehen, dar, daß es eine differenzierende Auslegung des Gesetzes wegen der Doppelrolle Hamburgs als Bundesland und Gemeinde für verfehlt halte.
Es ist aber eigentlich grotesk: Einerseits wird Hamburg nur als Bundesland gesehen, nämlich im Zusammenhang mit dem Eisenbahnkreuzungsgesetz; andererseits aber gilt Hamburg einzig und allein als Gemeinde, nämlich beim Fernstraßengesetz, wo in § 5 Abs. 2 festgelegt wird, daß bei Gemeinden mit über
Dr. Niese
80 000 Einwohnern die Straßenbaulast für die Durchfahrten von Bundesstraßen bei der Gemeinde liegt. Es ist also schon erstaunlich, daß Hamburg einmal als Bundesland und einmal als Gemeinde angesehen wird, und zwar stets so, daß die Kosten auf Hamburg abgewälzt werden können.
Nach der besonderen verfassungsrechtlichen Stellung der Freien und Hansestadt Hamburg werden zwar staatliche und gemeindliche Tätigkeiten nicht voneinander getrennt — das sieht unsere Verfassung in Hamburg nicht vor —; gleichwohl ist unbestritten, daß Hamburg tatsächlich auch gemeindliche Aufgaben wahrnimmt.
Die Argumentation der Bundesregierung, vorgetragen vom Vertreter des Verkehrsministeriums in der Sitzung des Bundesrats-Verkehrsausschusses, geht davon aus, daß anders als bei vergleichbaren Großstädten die Stadt Hamburg über ihre gemeindlichen Einnahmen hinaus auch über Einnahmen verfügt, die ihr als Bundesland zustehen. Es wird die Meinung vertreten, dadurch sei gewährleistet, daß die Erhaltung der Eisenbahnkreuzungsanlagen, der Straßenüberführungen, in Hamburg stets auch aus Mitteln finanziert werden könne, die Hamburg in seiner Eigenschaft als Bundesland erhalten habe. Dadurch soll der Eindruck erweckt werden, als stünden anderen Großstädten nur gemeindliche Einnahmen zur Verfügung. Dies ist aber nicht der Fall. Viele oder fast alle Gemeinden in den Flächenländern werden zu über 25 % durch Schlüsselzuweisungen und andere Dinge von den Bundesländern finanziert, wobei der Anteil für Landeshauptstädte wie München und Stuttgart weit über diesen 25 % liegt.
Genauso unrichtig ist die Behauptung, die Deutsche Bundesbahn hätte bis 1984, als dieser Rechtsstreit in dem konkreten Einzelfall auftrat, die Unterhaltungsleistungen für die Straßenüberführungen in Hamburg nur unter dem Vorbehalt einer gerichtlichen Klärung erbracht. Richtig ist vielmehr, daß die Bundesbahn entsprechende Vorbehalte erstmalig bei diesem Rechtsstreit geäußert hat.
Auch der Hinweis, daß nur ganze 3 % sämtlicher Straßenbrücken in Hamburg Straßenüberführungen über Eisenbahnanlagen sind und somit die Verhältnismäßigkeit bei einem Gesetzesänderungsbegehren nicht gegeben wäre, ist, glaube ich, ohne Bedeutung, denn bei dieser Diskussion ist einzig und allein entscheidend, daß Hamburg im Verhältnis zu anderen Großstädten gleichgestellt werden soll.
Auch die Behauptung, der Gesetzesantrag des Bundesrates führe in seiner Konsequenz zu einer Privilegierung Hamburgs, ist nach meiner Auffassung nicht stichhaltig. Hätte der Gesetzgeber nämlich von Anfang an klarstellen wollen, Hamburg als Bundesland zu behandeln, so hätte eigentlich eine Stadtstaatenklausel in das Gesetz aufgenommen werden müssen. Dieses ist aber 1963 nicht geschehen, so daß man also nicht davon ausgehen kann, daß es bei Verabschiedung des Gesetzes der Wille des Gesetzgebers war, Hamburg in diesem Zusammenhang als Bundesland zu deklarieren.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie sehen es mir nach, wenn ich die vorausgegangene Auseinandersetzung um den Hamburg betreffenden Gesetzesantrag des Bundesrates etwas ausführlicher dargestellt habe. Ich glaube aber, daß ein Hamburger Abgeordneter verpflichtet ist, darzustellen, welche juristischen Windungen hier von verschiedener Seite bei der Beratung des Änderungsgesetzes letztendlich zur Verhinderung berechtigter Hamburger Interessen vorgebracht worden sind.
Natürlich hätte ich als Hamburger gern eine Mehrheit im Bundestag, aber ich kann mich natürlich auch nicht der Argumentation verschließen, daß die Bundesbahn unter erheblichen finanziellen Problemen leidet, und ich weiß um die Probleme, mit denen die Bundesbahn kämpfen muß, wenn sie auf Dauer Bestand haben soll. Deshalb begrüße ich die Entscheidung des Verkehrsausschusses, der eine offensichtliche Benachteiligung Hamburgs anerkannt und in seinen Beratungen die Bundesregierung aufgefordert hat, nach Lösungen und Wegen zu suchen, um Hamburg einen Ausgleich zu gewähren, ohne zu einer Mehrbelastung der Bundesbahn zu kommen.
Nun haben wohl nur ganz wenige den Prüfungsbericht der Bundesregierung heute nachmittag auf den Tisch bekommen. Ich habe ihn bekommen.
— Ja, der liegt mir seit heute nachmittag vor.
Der fällt völlig negativ aus, der Ausgleich ist Null. Nur konnte ich in der kurzen Zeit seit heute nachmittag die Darlegungen natürlich überhaupt nicht einer sachlichen Prüfung unterziehen. Deswegen fordert meine Fraktion — ich glaube, das ist auch eine Selbstverständlichkeit —, daß wir diesen Sachverhalt auf Grund der Ausschußdrucksache des Verkehrsausschusses nochmals einer Beratung im Verkehrsausschuß unterziehen. Ich gehe auch davon aus, daß das hier Dargelegte nicht das letzte Wort der Bundesregierung ist. Ich wäre dankbar, wenn wir in diesen weiteren Beratungen zu einem einvernehmlichen und sachgerechten Ergebnis kämen, was Hamburgs Interessen, aber auch die Interessen der Bundesbahn anbetrifft.
Ich bedanke mich für Ihre freundliche Aufmerksamkeit, die Sie mir zu dieser späten Abendstunde noch gewährt haben. Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem mein verehrter Vorredner über das Eisenbahnkreuzungsänderungsgesetz gesprochen hat, möchte wenigstens ich über den Gesetzentwurf der SPD zur Änderung des Bundesbahngesetzes sprechen.Bevor ich dies aber tue, möchte ich der zahlreich anwesenden interessierten Öffentlichkeit und den Vertretern der Medien
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Kohnmitteilen, daß wir hier insgesamt vier verschiedene Tagesordnungspunkte behandeln, nämlich einmal das Eisenbahnkreuzungsgesetz, dann den Entwurf der SPD-Bundestagsfraktion zur Änderung des Bundesbahngesetzes, einen Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN zu § 5 Bundesbahngesetz und einen Zusatzpunkt betreffend die Bundesbahnstrecke München—Mühldorf—Freilassing. Ich will in aller Kürze, die dieser späten Stunde angemessen ist, folgendes sagen.Zunächst zum Thema Eisenbahnkreuzungsgesetz: Das Problem der Doppelfunktion der Freien und Hansestadt Hamburg — Gemeinde und gleichzeitig Bundesland — ist hinreichend dargestellt worden. Das Problem besteht darin, daß nach § 14 in Verbindung mit § 19 des Eisenbahnkreuzungsgesetzes das Gemeindeprivileg nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes von 1984 nicht zutreffend ist.Es geht hierbei darum, daß pro Jahr Kosten in Höhe von etwa 4,4 Millionen DM nicht so, wie es der Bundesrat begehrt, von der Bundesbahn übernommen werden und damit die Freie und Hansestadt Hamburg entlastet werden kann. Ich will mich auf die juristischen Feinheiten dieser Diskussion nicht einlassen, zumal ich davon nicht sehr viel verstehe. Ich will aber deutlich machen, daß wir erkennen, daß die Freie und Hansestadt Hamburg hier ein Problem hat.Mein Fraktionskollege Rainer Funke hat in der Arbeitsgruppe „Verkehr" der FDP-Fraktion und im Arbeitskreis nachdrücklich die Problemsituation geschildert. Wir haben uns aus diesem Grunde dazu verstanden, gemeinsam mit den anderen Fraktionen dieses Hauses im Bundestagsausschuß für Verkehr die Bundesregierung aufzufordern, zu prüfen, ob die Möglichkeit besteht, eine Ausgleichszahlung ohne zusätzliche finanzielle Belastung der Deutschen Bundesbahn zu erreichen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen. Die Himmlischen sind in diesem Falle wir. Dazu fordern wir die Bundesregierung auf.
Zum Tagesordnungspunkt 20b möchte ich darauf hinweisen, daß ich mit großer Freude diesen Gesetzentwurf zur Kenntnis genommen habe, in dem davon die Rede ist, daß es Ziel der Gesetzesänderung sei, die Anpassung der Unternehmensverfassung der Deutschen Bundesbahn an die gewandelten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu bewirken. Dann wird in einem weiteren Passus davon geredet, es gelte, die Selbständigkeit der Bahn zu stärken, die Eigenverantwortung usw., usw. Als ich das alles gelesen hatte, dachte ich, die sozialdemokratische Fraktion ist immerhin lernfähig. Sie nähert sich hier den Positionen der FDP an; das ist ein Einstieg.
Dann allerdings mußte ich zu meinem großen Erstaunen feststellen, daß dort ein weiterer Passus steht. Er lautet, daß sich die paritätische Mitbestimmung angeblich bewährt habe. Aus diesem Grunde wolle man die paritätische Mitbestimmung auch dem Unternehmen Deutsche Bundesbahn antun. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, ich muß Ihnen sagen: Ich fürchte, Sie werden dafür in diesem Hause beim besten Willen keine Mehrheit finden.
Drittens liegt uns ein Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN betreffend die Abgeltung nach § 5 des Bundesbahngesetzes bezüglich der Freifahrt für Bundestagsabgeordnete vor. Das ist ein Abgeltungsanspruch, den die Deutsche Bundesbahn hat. Ich glaube, daß dieser Antrag durchaus berechtigt ist. Sie sehen, Herr Kollege Weiss, ich gehe mit den GRÜNEN heute außerordentlich milde, der späten Stunde angemessen, um. Ich möchte aber bei dieser Gelegenheit, wenn wir schon bei Prüfungen sind, anregen, daß wir auch die Abteilung der Europaabgeordneten in diesem Kontext untersuchen und schauen, was bei den Mitgliedern der Landtage in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist.
Ich glaube, das ist ein durchaus sinnvoller Prüfungsauftrag.
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion wird dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes nicht zustimmen. Der Überweisung der anderen drei Vorlagen an den federführenden Verkehrsausschuß und die mitberatenden Ausschüsse geben wir unsere Zustimmung.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Die beispielhafte Unterschreitung der Redezeit möchte ich, bevor ich dem Abgeordneten Weiss das Wort gebe, erwähnen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst auch ein kurzes Wort zum Eisenbahnkreuzungsgesetz. Die Beschlußlage des Verkehrsausschusses ist schon dargestellt worden. Mein Kollege Rolf Niese hat mir gerade eben diese Vorlage kurz gezeigt, die der Bundesverkehrsminister offensichtlich als Erfüllung des Auftrages des Verkehrsausschusses ansieht. Ich muß sagen, das ist ein miserables Papier, worin bloß steht, wo irgendwo Rechtsgrundlagen zu finden sein könnten.
— Lassen Sie sich die Vorlage von Rolf Niese geben.Sie brauchen nicht mehr als 30 Sekunden, um das zulesen. Wenn das eine qualifizierte Erfüllung des Prüf-
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auftrags des Bundestags sein soll, dann ist das einfach eine schlichte Mißachtung des Parlaments.
Man hätte doch wenigstens erwarten können, daß einmal die Größenordnung der finanziellen Benachteiligung Hamburgs darin ermittelt wird
und daß dem Bundestag so einmal wenigstens konkrete Zahlen vorgelegt werden. Aber zu dem, was da vorgelegt worden ist, wird sich der Bundesverkehrsminister im Ausschuß noch äußern müssen; auch der Parlamentarische Staatssekretär kann hier etwas dazu sagen.Zu den anderen Punkten der heutigen Beratungen möchte ich nur eines sagen: Wir diskutierten schon seit mehreren Jahren hier im Bundestag über die Möglichkeiten, wie wir die Situation der Bundesbahn verbessern können, welche Struktur wir dem Unternehmen Bundesbahn geben können und wie wir die Unterstützung des Bundes besser gestalten können. Dies ist ein weiterer Versuch, den hier die SPD unternimmt, etwas in der Diskussion voranzukommen.Auch wenn wir uns in den Details des Gesetzentwurfs mit der SPD nicht in allen Punkten ganz einverstanden erklären können, so müssen wir doch sagen, daß man natürlich bei den heutigen Strukturen der Deutschen Bundesbahn andere Möglichkeiten haben muß, um vernünftige Verkehrspolitik überhaupt zu ermöglichen. Gerade im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf steht ja auch die Diskussion, die wir seit Jahren hier führen und bei der wir nicht vorankommen.Wir erleben in der Bahnpolitik immer wieder, daß es großzügige Ankündigungen des Bundesverkehrsministers gibt und daß diese dann von den Koalitionsfraktionen als der angebliche Durchbruch gefeiert werden; jetzt sei die Wende in der Bahnpolitik erzielt. Wenn man sich einmal anschaut, was konkret erreicht worden ist oder was konkret vorliegt, dann ist das im besten Fall etwas Kosmetik; aber es sind keine konkreten Ziffern.Sicher, die Umbuchung von 12,4 Milliarden DM ist ein symbolischer Schritt; aber sie entlastet die Bahn insoweit nicht, als der Bund bisher schon die Zinsen für die 12,6 Milliarden DM getragen hat.
— Wir haben gefordert, die Schulden der Bahn einmal in die von ihr selbst verschuldeten und in die gemeinwirtschaftlichen und aus der Übernahme staatlicher Aufgaben entstandenen Schulden aufzuteilen. Wir fordern eigentlich, daß der Bund als Eigentümer alle von ihm zu vertretenen Schulden, nämlich die, die aus der Übernahme staatlicher Leistungen durch die Bahn oder die aus der Übernahme gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen entstanden sind, zu übernehmen hat. Das ist etwas ganz anderes als der buchungstechnische Trick, jetzt noch Schulden umzuschreiben, für die der Bund ohnehin die Zinsen gezahlt hat. Das entlastet natürlich die Jahresrechnung der Bundesbahn nicht um eine Mark.Genauso ist es mit der großen und vollmundigen Ankündigung, der Bund werde nunmehr einen Anteil an den Wegekosten tragen. Das ist eine schöne strategische Ankündigung. Nur, haben Sie sich wohlweislich gehütet, sich auf irgendeine Ziffer festzulegen. Sie sagen halt einfach als Absichtserklärung für das Jahr 1991: Das soll einmal geschehen.Also, um es klar zu sagen, Sie machen eine Absichtserklärung, wobei sie dann sagen: Wie das genau auszusehen hat, werden wir nach der Bundestagswahl entscheiden. Aber konkret ist doch eigentlich nichts passiert, sondern es ist angekündigt worden, daß man 1991 einmal gucken möchte, ob man nicht der Bahn etwas geben kann. Wie diese Prüfung ausfallen wird, das kann man eigentlich schon erwarten. Denn in der Vergangenheit hat sich der Verkehrsminister nie gegen den Finanzminister durchsetzen können.
Ich möchte auch noch kurz auf die anderen beiden Punkte eingehen. Denn wie die finanzielle Situation der Bahn gesehen wird und wie ernst sie genommen wird, zeigt sich eigentlich an dem Verhalten, das wir als Deutscher Bundestag an den Tag legen. Wir haben alle Freifahrkarten in der Tasche. Nur, wie verschafft sich der Bundestag diese Freifahrkarten? Er schreibt ins Gesetz hinein: Die Bahn hat diese Karten kostenlos zur Verfügung zu stellen. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden das gleiche bei irgendeinem Möbelhaus machen und verlangen, sie sollten uns unsere Schreibtische kostenlos liefern. Sie würden alle schreien, das sei verfassungswidrig.
Aber bei der Bundesbahn sagt man einfach, sie wird per Gesetz verpflichtet. Aber dann lesen Sie einmal weiter, wie der § 5 des Bundesbahngesetzes lautet. In diesem steht nämlich, daß die Bahn Anspruch auf eine finanzielle Abgeltung aller von ihr für den Bund erbrachten Leistungen hat.Nur, das ist etwas, was der Deutsche Bundestag — er müßte ja eigentlich vorbildlich sein — seit Jahren mißachtet. Zu gut deutsch: Der Deutsche Bundestag verstößt seit Jahren gegen das von ihm selbst geschaffene Bundesbahngesetz und gegen dessen § 5.Wir beantragen weiter, endlich einmal mit dem im Bundesverkehrswegeplan versprochenen, beschlossenen Ausbau der Strecke München—Mühldorf—Freilassing Ernst zu machen. Mein Kollege Hias Kreuzeder und ich waren erst vor kurzem bei den Eisenbahnern in diesen Raum und mußten uns davon überzeugen, daß alle sagen, es gebe in dem ganzen Bereich überhaupt nichts, was derzeit geplant oder gearbeitet werde; unter der Hand seien die Planungen auf Eis gelegt worden, weil es wohl nicht finanzierbar sei.So geht es ja wohl doch nicht. Wenn in bestimmten Fällen sinnvolle Ausbaustrecken beschlossen worden sind, die auch umweltverträglich ausgebaut werden können, dann soll man doch an den Ausbau dieser Strecken gehen und bei der Bahn nicht immer zuallererst mit jenen Projekten anfangen, welche die meiste umweltzerstörende Wirkung nach sich ziehen. Hier
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haben wir die Möglichkeit, sinnvoll etwas zu tun. Aber genau das wird nicht getan. Genau das spricht auch für Ihr Interesse. Sie von CDU/CSU und FDP schreien schon immer auf,
wenn z. B. einige Kilometer Bundesfernstraßen weniger gebaut werden können, weil die finanziellen Mittel nicht reichen. Aber bei der Bahn habe ich Sie noch nie schreien hören. Das finde ich sehr zweideutig. Es zeigt eindeutig, wo die Prioritäten in Ihrer Verkehrspolitik liegen.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Jung .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Weiss, wir schreien nicht, sondern wir handeln in den Fragen der Bundesbahn.
Sie haben eben zu generellen Fragen der Bundesbahnpolitik Stellung genommen. Ich möchte gern darauf erwidern. Der Bundestag beschäftigt sich ja ständig mit den Fragen der Bundesbahn. Wir haben erst vor wenigen Wochen hier über Weichenstellungen für die Bundesbahn debattiert.
— Ich komme darauf gleich noch zurück, Herr Kollege Weiss.Damals ist von der Opposition der Vorwurf erhoben worden, daß die Opposition nur rede, aber nicht handele. Das Gegenteil ist der Fall. Ich erinnere Sie an die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom 1. Februar.
Deswegen gilt mein ausdrücklicher Dank dem Verkehrsminister und auch dem Bundeskanzler, daß entscheidende Weichenstellungen für eine Verbesserung der Situation der Deutschen Bundesbahn vorgenommen worden sind.
Die Rolle der Bahn ist gestärkt worden.
Dem Anliegen der Bahn wird durch Ihren Antrag, Herr Kollege Weiss, und auch dem Antrag der SPD nicht Genüge getan. Ich meine, daß es kein Gegeneinander der Verkehrsträger gibt. Auch das kam in Ihrer Rede wieder durch. Das Ausspielen der verschiedenen Verkehrsträger hilft uns nicht. Jeder Verkehrsträger hat seine eigene Aufgabe und die Bahn dabei eine besondere Rolle.Der Verkehrsmarkt ist ein Wachstumsmarkt. Die Bahn ist ein umwelt- und energiefreundliches Beförderungsmittel. Der Binnenmarkt im Jahre 1993 verlangt unsere besondere Vorbereitung auch im Bereich der Deutschen Bundesbahn. Wir setzen für die Leistungen der Bundesbahn beim Aufkommen an Passa-gieren und beim Güterverkehr auf Wachstum. Dazu bedarf es natürlich eigener Anstrengungen der Deutschen Bundesbahn. Aber ich sage in diesem Zusammenhang, daß schon beachtliche Leistungen erzielt worden sind.Ich möchte an dieser Stelle wie mein Kollege Bohlsen ausdrücklich auch einen Dank an die Mitarbeiter der Bundesbahn abstatten. Meine Damen und Herren, wir haben von 1982 bis heute die Zahl der Bundesbahnbeschäftigten von 314 000 auf 250 000 verringert. Jeder kann sich vorstellen, daß das für die Mitarbeiter der Bundesbahn — da wird mir der Kollege Haar sicher zustimmen — eine erhebliche Mehrbelastung bedeutet hat. Deswegen ist es auch Aufgabe des Parlaments, den Bundesbahnbediensteten, die ihren vollen Einsatz erbringen, ein Wort des Dankes zu sagen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage dabei selbstkritisch auch an die Adresse des Verkehrsministers, daß wir natürlich dafür sorgen müssen, daß z. B. Probleme im Zuammenhang mit der Überalterung in bestimmten Bereichen der Bundesbahn angepackt werden. Da kommt es zu erheblichen Problemen, die aber nicht eintreten dürfen, wenn die Bahn zukunfts- und leistungsorientiert sein soll.Die Eisenbahner haben auf Grund ihrer eigenen Beiträge Unterstützung verdient. Deswegen sage ich, Herr Kollege Weiss, wir haben entgegen Ihrer Aussage das Entscheidende getan. Wir haben nämlich den Investitionsanteil für die Bahn erhöht. Das ist die wesentliche Entscheidung, um die Bahn zukunftssicher zu machen.
— Auch zum Nahverkehr sage ich gleich ein Wort.Diese Entscheidungen brauchen natürlich eine Vorlaufzeit. Das besonders Bedauerliche in diesem Zusammenhang ist ja, daß die früheren Regierungen eben nicht gehandelt haben; denn sonst hätten wir Schnellbahnverbindungen, wie sie die Franzosen schon seit langem haben, bei uns in der Bundesrepublik wesentlich früher gehabt. Dies ist ein Versäumnis der früheren SPD-geführten Bundesregierungen. Wir werden im Jahre 1991 einen Hochgeschwindigkeitsbetrieb auf ca. 1 300 km haben. Dies ist ein Beitrag zur Zukunftssicherung der Bundesbahn.Jetzt komme ich, Herr Kollege Weiss, zu den Beschlüssen des Bundeskabinetts, die, wie ich meine, richtig und gut vorbereitet den Weg in die Zukunft weisen. Ich nenne erstens das, was das Bundeskabinett hinsichtlich der Fahrwegangaben beschlossen hat, damit hinterher die Voraussetzungen geschaffen werden können, um Beiträge des Bundes zu leisten.
Sie wissen, es geht um die Erfolgsrechnungen der Leistungsbereiche — Fahrwegrechnung, Streckenrechnung —, die bis zum 31. Dezember 1990 geschaffen sein sollen.
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Jung
Ich nenne als zweiten Bereich die Übernahme der Altschulden von 12,6 Milliarden DM — nicht 12,4 Milliarden DM, wie von Ihnen genannt — , die das Bundeskabinett ebenfalls beschlossen hat, für das Jahr 1991 in den Bundeshaushalt aufzunehmen. Dies ist eine wichtige Weichenstellung. Im übrigen kommen wir damit endlich einer Forderung des Bundeskanzlers Brandt nach, der am 28. Oktober 1969 in seiner Regierungserklärung gefordert hat:Es ist auch an der Zeit, daß der Bund als Eigentümer der Bundesbahn die durch den Wiederaufbau nach dem Krieg bei ihr entstandene Schuldenlast abnimmt.Das erfüllen wir.
— Das ist richtig; die SPD macht die Versprechungen, und die CDU hält sie. Die CDU hat schon immer mehr gehalten, als die SPD versprochen hat, meine Damen und Herren Kollegen.
Ein anderer Bereich ist wichtig. Ich sehe mit Befriedigung, daß sich in der Entscheidung des Bundeskabinetts eine wichtige Formulierung findet; ich will sie zitieren. Es heißt dort:
Herr Abgeordneter!
Diesen Satz möchte ich noch sagen, Herr Präsident.
Ja, bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Die Bundesregierung sieht in der Verkehrsanbindung der Fläche eine wesentliche Aufgabe.
Dies ist richtig und wird so von uns voll unterstützt.
Nun erlauben Sie dem Abgeordneten Haar sicher eine Zwischenfrage. Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Jung, wenn wir zu einer objektiven Bewertung von Versprechungen kommen wollen: Würden Sie nicht auch ja sagen, wenn ich Sie frage: Ist Ihnen bekannt, daß Herr Bundeskanzler Kohl im Jahre 1986 vor dem gesamten Verwaltungsrat der Deutschen Bundesbahn erklärt hat, im ersten Jahr der neuen Legislaturperiode, also 1987, würde die Entschuldung, d. h. das Freimachen von Altschulden, von ihm eingeleitet und durchgeführt?
Herr Kollege Haar, wenn ich mir einmal die Zeiträume einerseits im Zusammenhang mit der Aufstellung der Forderung des Bundeskanzlers Brandt 1969 und andererseits im Zusammenhang mit dem, was Sie zitiert haben — unterstellt, es wäre wahr —, ansehe, wären wir der Realisierung wesentlich näher als damals Ihr Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren Kollegen, ich wollte, nachdem der Nahverkehr soeben in dem Debattenbeitrag des Kollegen Weiss angesprochen wurde, dazu noch etwas sagen. Die SPD geht in ihrem Antrag auf einen Bereich ein, den ich durchaus für diskussionswürdig halte. Ich beziehe mich auf Punkt 5 der Lösungsvorschläge in der Drucksache, wonach die Weiterführung des Betriebs auf einer Strecke möglich ist, wenn das jeweilige Bundesland entsprechende Kosten übernimmt.Ich glaube, das ist eine Diskussion, die wir weiter führen müssen. Im übrigen ist hier auch eine Übereinstimmung mit den Auffassungen der Bundesregierung zu verzeichnen. Ich zitiere auch hier aus dem Bericht des Kabinetts, wo es heißt:Ist eine Änderung der Lastenverteilung im Schienenpersonennahverkehr durch verstärkte Einbeziehung regionaler Körperschaften erforderlich und gegebenenfalls in welchem Umfang?Ich glaube, es ist eine wichtige Frage, die wir zu diskutieren haben, ob wir hier nicht zu einer Neuverteilung von Lasten in bezug auf die Länder und die regionalen Gebietskörperschaften kommen müssen. Ich glaube, das müssen wir sehr sorgfältig und intensiv im Ausschuß prüfen. Das wird auf jeden Fall eines der Themen der zukünftigen Erörterung sein.Gestatten Sie mir, Herr Kollege Weiss, nachdem Sie den Nahverkehr angesprochen haben, ein weiteres Wort dazu. Hier gibt es wichtige Initiativen der Bundesregierung und der Deutschen Bundesbahn.
— Nein. Sie weigern sich nur, manches, was Ihnen nicht in Ihr Konzept paßt, zur Kenntnis zu nehmen, aber deswegen ist es trotzdem vorhanden.
— Herr Kollege Weiss, ich mache gern einmal ein Privatissimum und lade Sie ein, damit Sie auch wirklich Ihren Informationsstand ergänzen können.
Ich erinnere hier z. B. an das rollende Material und die Verbesserungen durch die Bundesbahn: Ich nenne den VT 628, der Ihnen vielleicht noch nicht bekannt ist,
mit einer erheblichen Verbesserung im Personennahverkehr. Ich nenne den Pendolino, mit dem, Herr Staatssekretär, Versuchsfahrten in Bayern durchgeführt werden. Ich erlaube mir dringend noch einmal die Anregung, dafür zu sorgen, daß nach dem Abschluß dieser Erprobungsphase auch diese neue Mög-
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lichkeit der Beschleunigung auf Nahverkehrsstrecken in anderen Bundesländern eingesetzt wird. Es gibt eine Reihe von Strecken, die sich dafür eignen, z. B. die Strecke von Koblenz nach Gießen. Ich glaube, das ist eine wichtige Aufgabe, und ich fühle mich bestärkt, wenn auch der Kollege Daubertshäuser dies so sieht.
— Bis nach Marburg. Das erhöht die Akzeptanz im Haus. Deswegen bitte ich also dringend, sich dieser Frage anzunehmen.Meine Damen und Herren Kollegen, ich sage auch mit Nachdruck, nachdem das hier in Abrede gestellt worden ist: Meine Bahn der Zukunft ist nicht nur eine Bahn, die die großen Zentren verbindet, sondern auch eine Bahn, die die Fläche andient. Ich glaube, das ist eine wichtige Aufgabe. Natürlich gibt es da unterschiedliche Positionen, aber ich finde, wir müssen die Bundesbahn unterstützen: also nicht nur reden, sondern auch handeln, und vor allen Dingen die Bundesbahn auch nutzen.Ich will ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen, wo der Landrat Wuermeling im Landkreis LimburgWeilburg seinen Mitarbeitern die Anweisung ausgegeben hat, mit der Bundesbahn zu fahren. Wenn sie nicht mit der Bundesbahn, sondern mit dem Pkw fahren wollen, ist dies besonders zu begründen.Ich glaube, daß dies eine Möglichkeit ist, wie wir auch dazu beitragen können, die Bahn stärker zu nutzen und nicht nur von einer stärkeren Nutzung der Bahn zu reden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie, bevor Sie zum Schluß kommen, noch eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Weyel?
Aus guter nachbarschaftlicher Verbindung zur Kollegin Weyel nach Diez gerne.
Herr Jung, können Sie mir auch sagen, wieviel zusätzliche Übernachtungskosten den Bediensteten des Landkreises Limburg-Weilburg dabei entstanden sind?
Frau Kollegin Weyel, ich bin zwar auch Mitglied im Ausschuß Fremdenverkehr und Tourismus und habe von daher ein Interesse an der zusätzlichen Frequentierung der Beherbergungsbetriebe,
muß Ihnen allerdings mitteilen, daß der Nahverkehr in weiten Bereichen bei uns so ausgebaut ist, daß die Mitarbeiter abends, wie sie es auch wünschen, wieder bei ihren Familien sein können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Präsident, ich komme zum Schluß. Ich glaube, daß dies ein Beispiel dafür ist, wie wir alle miteinander dafür sorgen können, daß über die Bahn nicht nur geredet, sondern daß sie auch genutzt wird. Ich meine, die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien sind auch mit den Entscheidungen des Bundeskabinetts
erneut wieder ihrer Verantwortung für die Bundesbahn und die Mitarbeiter gerecht geworden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kretkowski.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem siebten Bundesbahnänderungsgesetz setzt die SPD die Reihe der Gesetzesinitiativen in Sachen Bundesbahn fort, die als Gesamtkonzeption zur Stabilisierung und Konsolidierung der Bundesbahn dienen und sie in die Lage versetzen, sich aus eigener Kraft in einem sich wandelnden Verkehrsmarkt behaupten zu können.
— Sie wollen schnell fertig werden, Herr Kollege Fischer, deswegen rede ich etwas schneller.In diesem Zusammenhang erinnere ich auch an das fünfte und sechste Bundesbahnänderungsgesetz sowie an das Schienenwegeausbaugesetz, die wir mit dem Ziel eingebracht haben, eine gesetzliche Grundlage für den neuen Ausbau des Schienenwegenetzes nach einem Bedarfsplan zu schaffen, eine Änderung der Wegekosten dahin gehend zu bewirken, daß der Bund, wie beim Straßenverkehr, die Aufwendungen für die Infrastruktur der Deutschen Bundesbahn trägt und die Bahn zu diesen Aufwendungen Beiträge in ähnlicher Weise leistet, wie dies andere Verkehrsträger zu ihren Wegekosten tun, die finanzielle Verantwortung des Bundes für gemeinwirtschaftliche Leistungen und für die Daseinsvorsorge, die von der Bahn erbracht werden, zu schaffen und schließlich die Bahn von überhöhten Kapitalkosten durch Übernahme von Altschulden durch den Bund zu entlasten.Mit dem heute eingebrachten siebten Bundesbahnänderungsgesetz knüpfen wir übrigens auch an eine Novelle des früheren Verkehrsministers Hauff an, der damals das heutige Vorstandskonzept geschaffen hat, das Sie heute als Erfolg feiern, damals allerdings mit allen Mitteln Ihrer Kleinkunst bekämpft haben.Mit unserer heutigen Initiative soll sowohl die paritätische Mitbestimmung eingeführt als auch die Unternehmensführung der Bahn in die Lage versetzt werden, die Eigenverantwortlichkeit und die marktwirtschaftliche Kompetenz zu stärken. Die Unternehmensführung der Deutschen Bundesbahn soll mit dem Ziel größerer Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Die Genehmigungs- und Beteiligungsvorbehalte der Bundesregierung sollen daher auf solche Tatbestände beschränkt werden, die auf Grund der Stellung der Deutschen Bundesbahn als Sondervermögen des Bundes unverzichtbar sind. Die paritätische Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften hat sich — dies zeigen die mit der Montan-Mitbestimmung von 1951 und der Mitbestimmung von 1976 gemachten Erfahrungen — in allen Industriebereichen bewährt. Sie sollen daher auch bei der deutschen Bundesbahn eingeführt werden.
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KretkowskiSie sehen, meine Damen und Herren, die SPD hat mit ihrer Gesetzesinitiative unter Beweis gestellt: Wir haben ein umfassendes bahnpolitisches Konzept, das die Bahn langfristig auf eine solide wirtschaftliche Grundlage stellt und sie in die Lage versetzt, sich am Markt bei gleichen Wettbewerbsbedingungen zu behaupten oder — anders gesagt — nicht als Almosenempfänger am Tropf des Finanzministers zu hängen, sondern sich vielmehr aus eigener Kraft zu behaupten.
Wir haben ein Konzept, und die Regierung hat eine Kommission. Das ist der Unterschied.
Ich frage mich: Wie schwach ist eigentlich der Verkehrsminister, der drei Anläufe braucht, um eine Vorlage ins Kabinett zu bringen, die in entscheidenden Punkten nichts bringt? Es ist zwar richtig, die Bahn endlich von den Altlasten zu befreien — Sie entsprechen damit einer alten sozialdemokratischen Forderung — , die wirtschaftliche Lage der DB wird sich jedoch nicht ändern, da die Leistungen des Bundes an die DB weiterhin nicht erhöht werden.
Der Minister erinnert mich an jenen Mann, der den Mund spitzt, aber das Pfeifen nicht schafft. Obwohl der Minister in der Kabinettsvorlage selbst zugeben muß, daß die DB-Leitlinien von 1983 gescheitert sind — die Verschuldung steigt bis zum Jahre 2000 immerhin auf über 120 Milliarden DM — , sollen die Leitlinien von November 1983 weiter gelten, jene Leitlinien, die sich mehr und mehr als Todesurteil für die Bahn herausstellen.Das merken insbesondere die Eisenbahner, auf deren Buckel Ihre Politik ausgetragen wird. Wenn überhaupt jemand der Bahn geholfen hat, dann sind es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst,
und zwar nicht nur, weil sie den Personalabbau tragen mußten, sondern mehr noch, weil sie unter unzumutbaren Bedingungen hervorragende Leistungen erbringen, so daß man sich bei ihnen nicht genug bedanken kann.Mit einem Dankeschön allein ist es aber nicht getan. Wenn die Bahn im Wettbewerb bestehen will, muß sie auch die erforderliche Personalstruktur haben. Das heißt: Es sind auch vermehrt junge Eisenbahner einzustellen.
Meine Damen und Herren, Ihre politische Eisenbahnbilanz ist miserabel. Sie stellen in der Kabinettsvorlage Fragen, die längst beantwortet sind. Beschließen Sie unsere Gesetzesinitiativen, und Sie können viel Zeit und Geld sparen. Vor allen Dingen aber helfen Sie der Bahn.Die Beschlüsse der Bundesregierung sind eine bahnpolitische Bankrotterklärung für diese Legislaturperiode. Mit der Einsetzung einer Kommission wollen Sie sich im übrigen ja nur über den Bundestagswahltermin hinaus retten. Dabei ist offenkundig: Die Bahn braucht endlich die Wettbewerbsbedingungen, die ihre Konkurrenten auf der Straße schon lange haben.Die Zeit drängt. Unser Straßennetz ist vollständig überlastet. Überall droht der Verkehrsinfarkt. Abhilfe kann nur die Bahn bringen. Sie muß wachsende Transportaufgaben übernehmen. Was getan werden muß, steht fest. Der Bundesregierung aber fehlen die Kraft und die Entschlossenheit und der Weitblick, die notwendigen verkehrspolitischen Weichenstellungen vorzunehmen.Stimmen Sie unserem Gesetz zu, und Sie haben keine bahnpolitischen Probleme mehr.
Meine Damen und Herren, damit kann ich die Aussprache schließen.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 20 a. Es handelt sich um die Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes auf Drucksache 11/2387.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3633 die Ablehnung des Gesetzentwurfs des Bundesrates. Ich wiederhole: Der Ausschuß empfiehlt, den Bundesratsvorschlag abzulehnen. Ich sage das deswegen, damit es gleich bei der Abstimmung keine Verwirrung gibt. Es ist etwas komplizierter als normal. Bei diesen Gesetzentwürfen ist ständige Praxis — so auch in diesem Fall — , von der Ursprungsvorlage auszugehen.
Nun rufe ich die Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften entgegen der Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Das ist offensichtlich niemand. Will sich jemand enthalten? — Auch das ist nicht der Fall. Damit kann ich feststellen, daß der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt ist. Somit unterbleibt entsprechend § 83 unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vorgeschlagen worden, die Vorlagen unter den Punkten 20b und 20c und dem Zusatzpunkt 4 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Weitere Vorschläge macht offensichtlich niemand. — So ist auch das beschlossen.
Damit sind wir am Ende unserer Tagesordnung. Ich bedanke mich bei denen, die hiergeblieben sind, für ihre Geduld.
Ich berufe den Deutschen Bundestag auf morgen, Freitag, den 17. Februar, 9 Uhr ein und wünsche den Damen und Herren einen vergnüglichen Restabend.
Die Sitzung ist geschlossen.