Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um einen Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/248 und um die Beratung der Beschlußempfehlung des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf der Drucksache 11/244 zur Einsetzung einer Kommission „AIDS" erweitert werden. Diese beiden Zusatzpunkte sollen nach Punkt 10 der Tagesordnung ohne Aussprache aufgerufen werden. Sind Sie mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung für Kindererziehung an Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921
— Drucksache 11/197 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschluß mitberatend und gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, interfraktionell sind für die Beratung ca. 70 Minuten vorgesehen. — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den Abschluß eines der wichtigsten sozialpolitischen Gesetze der letzten Jahrzehnte. Die Einbeziehung der Mütter in das Rentenrecht, die Anrechnung von Kindererziehungszeiten wird heute in ihrem letzten Teil zur Beratung gestellt.Vor der Wahl haben wir unser Wort gegeben. Auch die vor 1921 geborenen Frauen werden in die Anerkennung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht einbezogen. Wir haben schnell gehandelt: Drei Tage nach der Wahl — wie angekündigt — ist der Gesetzentwurf vorgelegt worden. Das Kabinett hat ihn verabschiedet. Der Bundesrat hat ihn im ersten Durchgang beraten. Jetzt, bereits in der fünften Tagungswoche, diskutiert der Bundestag diesen Gesetzentwurf.Die Bürger, ganz besonders die älteren Mitbürger, können sicher sein: Wir handeln schnell. Wir haben ihre Sorgen aufgenommen. Wir tun, was wir versprochen haben.Die Einführung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht ist die wichtigste Neuerung seit der großen Rentenreform unter Konrad Adenauer. Erstmals in der hundertjährigen Geschichte der deutschen Rentenversicherung begründet und erhöht jetzt die Erziehung von Kindern Rentenansprüche.Bisher hatte der Generationenvertrag einen gravierenden Mangel: Wer Kinder erzog und deshalb aus dem Erwerbsleben ausschied, bezahlte dafür mit Einbußen bei der späteren Rente. Das ist eine grobe Ungerechtigkeit; denn Kinder sind überhaupt die Voraussetzung dafür, daß die Rentenversicherung überlebt. Ohne Kinder heute gibt es morgen auch keine Beitragszahler. Die Einbeziehung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht ist kein Werk der Barmherzigkeit, sondern der Gerechtigkeit.
Bereits im vergangenen Jahr haben 350 000 ältere Frauen eine höhere Rente durch die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten erhalten.
— Frau Kollegin, ich bin Ihnen für Ihren Zwischenruf dankbar, um ihn korrigieren zu können. Nicht 5 DM war die Erhöhung, vielmehr betrug die durchschnittliche Erhöhung 54 DM; sie ist also elfmal höher, als Sie mit ihrem Zwischenruf behauptet haben.
50 000 Frauen haben durch die Einführung unseres Gesetzes, des bereits geltenden Gesetzes, zum erstenmal überhaupt Rente erhalten, also einen Rentenanspruch auf Grund der Anrechnung von Kindererziehungszeiten bekommen. Um noch einmal die Bedeu-
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636 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Bundesminister Dr. Blümtung zu schildern: Bereits im ersten Jahr erhalten 350 000 Mütter zum erstenmal die Kindererziehung anerkannt mit einem durchschnittlichen Erhöhungsbetrag von 54 DM, und 50 000 haben zum erstenmal Rente erhalten. Das sind im übrigen, Herr Kollege, 50 000, die zu Zeiten der SPD-geführten Bundesregierungen nichts erhalten haben, es sind 350 000, über die Sie immer geredet haben, ohne für sie etwas zu tun.
Und jetzt werden auch in diesem Jahr 350 000 bis 400 000 Frauen auf Grund des geltenden Gesetzes in den Genuß von Rente für Kindererziehungsjahre kommen. Auch die jüngeren Mütter kommen also Schritt für Schritt jeweils mit ihrem Eintritt ins Rentenalter in den Genuß von Kindererziehungsjahren, Jahr für Jahr zwischen 300 000 und 400 000 zusätzlich!Heute beraten wir darüber, daß in vier großen Schritten auch die Mütter, die sich bereits in Rente befinden, in die Geltung der Kindererziehungszeiten einbezogen werden. Das werden im ersten Schritt nicht wie bei den jüngeren Müttern 350 000 sein, sondern, wenn der Bundestag diesem Gesetz zustimmt, bereits in diesem Jahr 1,2 Millionen Rentnerinnen der Geburtsjahrgänge vor 1907. Es werden also noch in diesem Jahr, wenn sie diesem Gesetz zustimmen, 1,2 Millionen Mütter der älteren Jahrgänge in die Anerkennung von Kindererziehungszeiten einbezogen.Die Jahrgänge vor 1921 kommen mit größeren Schritten in den Genuß von Kindererziehungszeiten als die Jahrgänge nach 1921. Insgesamt werden wir also noch in diesem Jahr rund 2 Millionen Mütter haben, die Kindererziehungszeiten im Rentenrecht in Anspruch nehmen können; 1987 sind es also 2 Millionen Mütter, die in den Genuß von Kindererziehungszeiten kommen!
Im Jahr 1990 werden wir am Ziel sein. Dann werden 5,5 Millionen Frauen deshalb eine höhere Rente oder überhaupt zum erstenmal Rente erhalten, weil es Kindererziehungszeiten, durch diese Koalition eingeführt, gibt; noch in dieser Legislaturperiode werden es 5,5 Millionen Mütter sein, die bis dahin nichts, überhaupt nichts bekommen haben.Der Betrag ist dynamisiert. Er wächst also auch mit der allgemeinen Entwicklung der Renten. Im vergangenen Jahr betrug die Rentensteigerung pro Kind und Monat rund 25 DM, ab 1. Juli 1987 sind es schon 27 DM. Die Kindererziehungszeiten bleiben also nicht stehen, sondern wachsen mit den Renten.Meine Damen und Herren, auch ich hätte mir vorstellen können, daß dieser Durchbruch in einem Schritt geschieht, so daß alle gleichzeitig in den Genuß gekommen wären. Aber jetzt appelliere ich an die Erfahrungen der Sozialpolitiker in allen Fraktionen, Herr Kollege.
— Sie haben zwar den Spitzensteuersatz nicht gesenkt, aber Sie haben in Sachen Kindererziehungszeiten überhaupt nichts gemacht. Wenn es also daran gelegen hätte, hätten Sie die Kindererziehungszeiten doch 1970 einführen müssen; Sie haben sie aber trotzdem nicht eingeführt.
— Ja, so war das. Ich bestätige ausdrücklich, daß Sie nichts gemacht haben.
Nun, meine Damen und Herren, ich will noch einmal an die Erfahrungen der Sozialpolitiker erinnern. Die beste Sozialpolitik hat nie gewartet, bis das Wünschbare machbar ist. Sie hat das Mögliche heute möglich gemacht. Evolution und schrittweise Weiterentwicklung sind das ganze Erfolgsgeheimnis der Lebensnähe der Sozialpolitik. Ideologen malen sich auf Reißbrettern immer die Welt und warten, bis das Reißbrett Wirklichkeit wird. Meistens bleiben Ihre Ideen auf dem Reißbrett stehen, und schlimm ist es häufig, wenn die Reißbrettideen die Welt verändern wollen. Nein, Schritt für Schritt das heute Mögliche jetzt tun, das ist unser Motto für die Sozialpolitik.Nun noch einmal zu den Müttern, die vor 1921 geboren sind, die in vier Schritten in den Genuß der Kindererziehungszeiten kommen. Anders als die neu in die Rente kommenden Frauen erhalten diese Mütter ihren Kinderzuschlag pauschal. Sie erhalten die Leistung also auch dann, wenn sie keine Renten beziehen und selbst bei Berücksichtigung ihrer Kindererziehungszeiten die fünf Jahre Mindestbeitragszeit nicht zusammenbekommen würden. Wir muten also diesen älteren Müttern nicht zu, um Kindererziehungszeiten zu erhalten, auf mindestens fünf Jahre Anspruchszeit zu kommen, weil ich glaube, daß man z. B. einer 80- oder 30jährigen Mutter mit zwei Kindern zumuten kann, jetzt für drei Jahre noch nachzuzahlen, damit sie die fünf Jahre Wartefrist erfüllt. Das kann man den jüngeren Müttern, die diese fünf Jahre meistens auch dank eigener Erwerbstätigkeit zustande bringen, schon zumuten, den älteren nicht. Das ist wiederum ein Beweis dafür, daß nicht alles, was systematisch genau stimmt, sozialpolitisch erträglich ist. System ja, aber man darf das System nicht so hoch hängen, daß es das Leben vergewaltigt. Deshalb bieten wir den älteren Müttern eine andere, eine einfachere Lösung ohne jede bürokratische Belastung. Sie sind also nicht gezwungen, Beiträge noch nachzuentrichten; denn das wäre unzumutbar.Die weitere Folge dieses Grundsatzes ist es, daß die betroffenen Frauen auch dann die Leistungen erhalten, wenn sie im ersten Jahr der Erziehung des Kindes erwerbstätig waren. Das ist eine bürgerfreundliche, unbürokratische Regelung. Wir können auch gar nicht nachprüfen, wer im Jahre 1912 erwerbstätig war. Im übrigen waren damals die Lebensverhältnisse anders als heute. Die älteren Mütter erhalten eine ihrer Lebenslage angepaßte Regelung.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 637
Bundesminister Dr. Blüm— Ja, verehrte Frau Kollegin, in der Tat geht es um Kinder und Mütter. Das sind für uns nicht zwei Gegensätze, sondern gerade in diesem Gesetz — aber nicht nur in diesem Gesetz — sehen wir sie im Zusammenhang.Wichtig ist auch, daß die Leistungen für Kindererziehungszeiten nicht auf Sozialhilfe und Wohngeld angerechnet werden. Wenn wir das tun würden, würden wir gerade den Ärmsten den Erfolg von Kindererziehungszeiten wieder wegnehmen. Sie werden nicht auf die einkommensabhängigen Leistungen der Sozialpolitik angerechnet. Auch wieder ein Beispiel für unsere Absicht, die unterschiedlichen Lebenslagen zu berücksichtigen.Meine Damen und Herren, wir stellen uns gerne der Kritik, die Einführung der Kindererziehungszeiten komme zu spät. Wir sind aber erst vier Jahre in der Regierung. Lange ist darüber geredet worden, viele Vorschläge hat die heutige Opposition in ihren 13 Jahren beraten, der Öffentlichkeit vorgestellt, in Wahlkämpfen dargestellt, aber es ist nie etwas gemacht worden.
— Ja, 18 Jahre davor haben wir es nicht gemacht, in der Tat. Jetzt machen wir es. Reden wir nicht über die Vergangenheit. Nur, wer uns jetzt kritisiert, wir hätten es zu spät gemacht, der muß den Grund liefern, warum er es in seinen 13 Jahren nicht gemacht hat.
Meine Erfahrung ist: Liebe Mitbürger, richtet euch nicht so viel nach Programmen, richtet euch nicht so viel nach Reden, sondern richtet euch nach dem alten biblischen Satz: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.
Wir können uns mit unseren Früchten sehen lassen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Als ich heute morgen die Rundfunknachrichten hörte, wurde dort mitgeteilt, daß heute über ein Gesetz beraten wird, das allen Müttern, die vor 1921 geboren sind, ein Kindergeldzuschlag gewähren soll. Ich dachte: Nun kriegen wir kurzfristig einen neuen Gesetzentwurf vorgelegt.
Ich bin ganz enttäuscht, daß das nicht so ist.
Nun habe ich soeben gehört, Sozialpolitik habe nichts mit Barmherzigkeit, sondern mit Gerechtigkeit zu tun.
Aber dieses, uns heute zur ersten Lesung vorgelegte
Gesetz markiert eine neue Qualität von Sozialpolitik,
die nicht als soziale Gerechtigkeit zu sehen ist, sondern als Willkür.
Die Bundesregierung rühmt sich, mit der stufenweisen Anerkennung eines Babyjahres für die vor 1921 geborenen Mütter, eine kostengünstige Lösung gefunden zu haben. Man muß an dieser Stelle aber darauf hinweisen, daß sie die Finanzierung durch Verschiebungen bei der Bundesanstalt für Arbeit vornimmt. Durch Kürzungen und durch inaktive Arbeitsmarktpolitik sind nämlich Überschüsse entstanden. Das Geld kommt also aus der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit, und zwar zu Lasten der Arbeitslosen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Limbach?
Bitte schön, wenn das nicht angerechnet wird, Herr Präsident.
Wir rechnen grundsätzlich nichts an!
Bitte sehr, Frau Limbach.
Frau Kollegin, könnten Sie mir darin zustimmen, daß es gerechter ist, eine stufenweise Regelung einzuführen, als 13 Jahre lang überhaupt nichts zu tun?
Ach, wissen Sie, Frau Kollegin, ich habe nicht ein so kurzes Gedächtnis. Ich kann mich noch daran erinnern, daß die CDU 1972 überhaupt nicht zugestimmt hat.
— Seien Sie doch einmal ruhig! Ich komme ja noch darauf. In den 70er Jahren haben Sie die Idee gehabt, den zukünftigen Versicherten und nicht den Rentnern Zuschläge zu gewähren, während wir das schon in den Programmen für 1976/80 stehen hatten. Das können Sie nachlesen! Alle in diesem Hause haben damals aber gesagt: Dies soll mit der 84er Regelung eingeführt werden.
Da aber waren wir, wenn ich das richtig sehe, nicht mehr an der Regierung. Wir haben dies damals schon für alle im Blick auf die 84er Regelung in Gang gesetzt.
Des weiteren, liebe Frau Kollegin: Ich habe hier früher vergeblich einen Antrag der damaligen Opposi-
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638 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Frau Steinhauertion CDU/CSU zum Kindergeld gesucht. Ich habe ihn nie gesehen, habe ihn nie gefunden.
Nun aber zu dem Gesetz.
Auf Grund von Annahmen über die Lebenserwartung ist auch noch einkalkuliert, daß viele der stufenweise begünstigten älteren Mütter vor dem jeweiligen Beginn der Zahlung einer Kindererziehungsgeldleistung sterben. So wird z. B. angenommen, daß von den Jahrgängen 1907 und früher jede 5. Rentnerin vor dem 1. Oktober 1987, also vor Beginn des denkbaren Leistungsbezugs, stirbt. Es ist damit zu rechnen, daß von den Jahrgängen von 1907 bis 1911, deren Angehörige ab 1. Oktober 1988 eine Kindererziehungsgeldleistung erhalten sollen, jede 7. Mutter vor dem Tag, an dem sie den Anspruch hat, stirbt. Wenn die Jahrgänge von 1917 bis 1920 am 1. Oktober 1990 endlich dran sind, könnte bis dahin bereits jede 13. der Angehörigen dieser Jahrgänge verstorben sein. Der Tod ist also Kalkulationsgrundlage für die Finanzierung dieses Gesetzes.
So wird hier auf dem Rücken gerade der Frauen gehandelt, die gespart und unter schwierigsten Bedingungen in Kriegs- und Nachkriegszeiten ihre Kinder großgezogen haben, die oft ums Überleben, um die Versorgung mit Nahrungsmitteln kämpfen mußten und die einen wichtigen Beitrag zum Aufbau unserer Bundesrepublik geleistet haben.
Das Sparen am falschen Ende benachteiligt ausgerechnet die Frauengeneration, die ihr Leben lang entsprechend dem tradierten Rollenbild von Frauen überwiegend für die Familie gelebt hat,
und benachteiligt auch die Frauen, die wegen ihrer Herkunft
aus dem ländlichen Bereich, aus der Arbeiterschaft oder anderen weniger gut situierten gesellschaftlichen Gruppen kaum eine Chance hatten, einen Beruf zu erlernen, und die sich daher häufig mit niedrig bezahlten Tätigkeiten zufriedengeben mußten. Die Zeche zahlen diese Frauen im Alter sowieso schon mit niedrigen Renten. Häufig liegen diese Renten unter Sozialhilfeniveau.
Die Armut älterer Frauen ist bekannt und auch in diesem Hause schon mehrfach thematisiert worden.
Die Bescheidenheit der älteren Frauengeneration wird von dieser Koalition vorausgesetzt und ausgenutzt.Nun zu Ihrem Zwischenruf, Herr Bohl: Wer war es denn, der sich überhaupt erst einmal um das Problem der Situation älterer Frauen gekümmert hat? Ihre Partei nicht!
Wir sollten hochbetagten Frauen nicht zumuten, ihre Rechte und Leistungsansprüche in langwierigen Rechtsstreitigkeiten durchzusetzen. Eindeutige und klare Gesetze sind notwendig, und zwar ohne Wenn und Aber; denn es gilt, für die Frauen das Recht klar und übersichtlich zu machen. Es darf nicht hingenommen werden, daß die hochbetagten Frauen langwierige Prozesse — es laufen ja bereits jetzt einige beim Bundesverfassungsgericht — zur Durchsetzung ihrer Rechts- und Leistungsansprüche führen müssen.Ich wende mich daher auch ganz entschieden gegen die 1985 bei der Debatte über das Hinterbliebenenrecht und das damalige Kindergeldzuschlagsgesetz von Frau Verhülsdonk hier zum Ausdruck gebrachte Auffassung, in dieser arg gebeutelten Frauengeneration sei eine Opferbereitschaft vorhanden. Sie sagte, die von ihr befragten Großmütter hätten geantwortet: Fangt auf jeden Fall mit den Erziehungszeiten an; wir sind zwar traurig, daß wir nicht berücksichtigt werden, aber unsere Töchter und Enkelinnen sollen nicht darunter leiden, daß wir nicht einbezogen werden; fangt an!Ich sage: Nein, Schluß mit der Bescheidenheit, dem ständigen Opfern und dem ständigen Zurückstehenmüssen in Familie und Gesellschaft!
Diese Frauengeneration hat genug geopfert, hat wichtige Lebensjahre den Folgen der NS-Zeit und des Krieges opfern müssen. Warum gönnt man dieser Frauengeneration nicht von Anfang an, das heißt vom 1. Januar 1986 an, die 25 DM im Monat mit steigender Tendenz? Warum sind an dieser Stelle fünf bis sechs Milliarden DM zuviel, während man in anderen Fällen außerordentlich großzügig mit dem Geld umgeht, so z. B. bei der Finanzierung der Steuerreformpläne? Deutlicher können christlich-konservative Kräfte und die von ihr getragene Bundesregierung diese Mißachtung von Frauenleistungen überhaupt nicht ausdrükken.Diese Gesetzesvorlage bestätigt schwarz auf weiß: Die Bundesregierung nimmt die Interessen der weiblichen Bevölkerungsmehrheit, zumal der älteren mit noch geringer Lebenserwartung, überhaupt nicht ernst.
Sie institutionalisieren mit der uns vorgelegten stufenweisen Regelung nicht nur ein schreiendes Unrecht,sondern riskieren sogar einen Verstoß gegen das
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 639
Frau Steinhauergesetzlich verankerte Gleichbehandlungsgebot in der Verfassung. Bisher hat mir noch niemand einen Grund, der verfassungsrechtlich einwandfrei wäre, für eine unterschiedliche Behandlung von Müttern bei der Anerkennung von Erziehungszeiten nennen können. Die gesellschaftliche Anerkennung von Familienarbeit kann ja wohl nicht vom Alter der Mütter abhängig gemacht werden. Die offizielle Begründung des Regierungsentwurfs bestätigt dies übrigens auch. Ein Anreiz für die Erhöhung der Geburtenfreudigkeit steht ja bei dem heute zur Beratung anstehenden Gesetz wohl auch nicht zur Debatte.Allerdings sollte bei der Begründung zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten die Verbesserung einer eigenständigen sozialen Sicherung gerade der älteren Frauen eingeschlossen sein. Die seinerzeit im Ausschuß bei den früheren Beratungen von der CDU/ CSU/FDP-Mehrheit vorgetragene bequeme Auffassung, wer 65 Jahre oder älter sei, gehöre typischerweise bereits zum Rentenbestand, seine Rentenbiographie sei abgeschlossen, hält einer am Gleichbehandlungsgrundsatz orientierten verfassungsrechtlichen Bewertung also keineswegs stand.Die Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses älterer Frauen bei der Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten wird auch von einer kürzlich in der Zeitschrift „Der Betrieb" veröffentlichten Verlautbarung und einem Gutachten ganz besonders deutlich.Auch aus der Systematik des Rentenversicherungsrechts kann, da es sich bei den Erziehungszeiten, wie wir ja alle bestätigen, um versicherungsfremde Leistungen handelt, nicht der Schluß gezogen werden, daß der Ausschluß der Trümmerfrauengeneration aus systematischen Gründen, d. h. aus der Natur der Sache, gerechtfertigt sei.Die finanziellen Gründe, die gegen eine Einbeziehung der vor 1921 geborenen Frauen angeführt wurden, gelten aus verfassungsrechtlicher Sicht ja völlig als sachfremd. Gerade die ausgegrenzten Frauen haben, gemessen an den sozialpolitischen Vorstellungen und Zielen den Rentenzuschlag auf jeden Fall nötig und verdient. Mit derselben Argumentation gilt die gewählte Stichtagsregelung als sachlich unvertretbar.Fazit: Nichts rechtfertigt die von der Bundesregierung und der CDU/CSU/FDP-Mehrheit beschlossene Ungleichbehandlung. Ihre vorgelegte Stufenregelung mindert das soziale Unrecht lediglich. Ich bin sehr erschüttert darüber, daß uns der Bundesarbeitsminister soeben sagte, hier finde eine abschließende gesetzliche Regelung statt.Nach wie vor bleiben nämlich die älteren Frauen grundsätzlich schlechtergestellt. Sie erhalten Kindererziehungsgeldleistungen wesentlich später als die Frauen, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind. Daraus erwächst außer einer konkreten finanziellen Einbuße auch die Gefahr, daß viele Frauen nie die Leistung in Anspruch nehmen werden, weil sie vorher sterben.Diesem makabren Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot verweigert dieSPD-Bundestagsfraktion entschieden ihre Zustimmung.
Wenn ich eingangs von Willkür sprach, wird diese auch noch dadurch deutlich, daß mit dem jetzt vorgelegten Kindererziehungsleistungsgesetz — das sind ja alles Zungenbrecher; das ist ja wieder eine andere Bezeichnung als bei dem 1985 verabschiedeten Gesetz —
ein völlig anderes Recht geschaffen wird als mit dem Hinterbliebenen- und Kindererziehungszeitengesetz von 1985.Die SPD-Bundestagsfraktion wie auch die Sozialverbände — übrigens, auf diesen Druck haben Sie sich ja überhaupt erst zu diesem Gesetz noch durchgerungen —
haben auf die Ungleichheiten der bisherigen Anerkennung von Kindererziehungszeiten, also im bisherigen Gesetz, schon mehrfach hingewiesen. Ich frage nur beispielsweise: Was hat es noch mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, wenn Mütter, die nach der Geburt weitergearbeitet, freiwillige Beiträge gezahlt oder sich seinerzeit nachversichert haben, keinen oder nur einen niedrigen Kindererziehungszuschlag nach dem bisherigen Recht erhalten? Wir haben auf die Reparatur des Gesetzes schon mehrfach hingewiesen. Die Bundesregierung hätte jetzt die Gelegenheit gehabt, die Ungerechtigkeiten, die in dem 85er Gesetz enthalten sind, zu beseitigen. Statt dessen werden neue Ungleichheiten gesetzlich verankert.
Wir fordern die Bundesregierung erneut auf, allen Müttern unabhängig von Altersgrenzen und Stichtagregelungen ein Babyjahr oder einen Kindererziehungsgeldzuschlag zu gewähren.
Diesem Vorhaben würden wir unsere Unterstützung gewähren. Sie haben Gelegenheit dazu, Ihr Gesetz bei den Ausschußberatungen noch entsprechend zu ändern.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Verhülsdonk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Steinhauer, Sie sind Sozialpolitikerin wie ich. Sie wissen so gut wie ich, daß seit hundert Jahren in unserem Land ein Rentenrecht besteht, das Kindererziehung überhaupt nicht berücksichtigt hat. Jetzt stellen Sie sich hierhin, nachdem wir endlich diese Gerechtigkeit für Mütter einführen, und nennen das Willkür.
Ihre Argumentation finde ich einfach schäbig, wenn Sie sagen: Da werden Millionen Frauen sterben, die nicht mehr in den Genuß dieser Leistung kommen.
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640 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Frau VerhülsdonkMillionen von Frauen sind gestorben, ohne je für die Leistung der Kindererziehung auch nur einen Pfennig bekommen zu haben. Auch in den 13 Jahren, in denen Sie regiert haben, sind Millionen Frauen gestorben; davon reden Sie überhaupt nicht.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich will noch einen Satz sagen.
Sie wollten doch mit Ihrer Regelung, die Sie 1972 einmal auf den Weg gebracht haben, überhaupt nur künftige Mütter bedenken und gar nicht in die Vergangenheit gehen.
Wir sind einen ersten Schritt in die Vergangenheit gegangen und greifen jetzt auf alle zurück.
Herr Kollege Dreßler, bitte.
Frau Kollegin Verhülsdonk, stimmen Sie mir zu, daß die Kollegin Steinhauer die Einführung nicht als „Willkür" bezeichnet hat, sondern als „Willkür" bezeichnet hat, daß Sie Tausende von Frauen älterer Jahrgänge nach einem ganz bestimmten Prinzip, das sie das Wegsterben genannt hat, ausschließen?
Herr Kollege Dreßler, ich werde in meiner Rede jetzt genau auf diesen Punkt eingehen und Ihnen damit antworten.
— Nein, er muß nicht stehenbleiben.
Indem ich Ihnen erkläre, was wir machen, wird nämlich Ihre Frage beantwortet.
Meine Damen und Herren, entscheidend ist: Wir halten Wort. Was wir vor der Wahl versprochen haben, wird jetzt sogleich in die Tat umgesetzt, unmittelbar nach Beginn der Legislaturperiode. Die Frauen, die vor 1921 geboren wurden, erhalten für jedes Kind die gleiche Leistung, die auch die jüngeren Frauen seit dem 1. Januar 1986 dann bekommen, wenn sie in die Rente gehen. Die Einbeziehung der älteren Frauen in die Anerkennung von Kindererziehungszeiten wird in vier Stufen bis 1990 wirksam werden. Wir beginnen noch in diesem Jahr mit den ältesten Frauen. Damit wollen wir die Erziehungsleistung der Frauengeneration anerkennen, die unter den schwierigsten Bedingungen des Krieges und der Nachkriegszeit ihre Kinder erzogen haben. Sie sollen dafür jetzt im Alter ein Stück soziale Gerechtigkeit erfahren.
Ich erinnere mich nur ungern an die hitzige und unsachliche Debatte, die wir mit Ihnen, der SPD, im vorigen Sommer über dieses Thema führen mußten, eine Debatte, die die älteren Frauen sehr verunsichert hat, weil Sie diese älteren Frauen zu Wahlkampfzwecken mißbrauchen wollten. Und auch heute — wir
stehen ja immer noch in Wahlkämpfen — spielt bei dem, was Sie gesagt haben, dies sicher eine Rolle. Ich finde das sehr bedauerlich.
Die Union hat immer betont — und wir haben das zur Maxime unserer Politik erhoben — , daß wir keine Leistungen versprechen, die wir nicht langfristig finanzieren können. Davon haben wir uns auch im Vorfeld der Bundestagswahl nicht abbringen lassen. Deshalb haben wir zunächst in einem ersten Schritt, der für alle künftigen Frauengenerationen von ganz erheblicher Bedeutung ist, die Leistungen der Kindererziehung in das System der sozialen Rentenversicherung integriert.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
Ja, bitte schön.
Frau Kollegin Verhülsdonk, halten Sie den Hinweis auf die mangelnde Finanzierbarkeit eigentlich für glaubwürdig, wenn Sie gleichzeitig über eine halbe Milliarde DM zur Verfügung hatten, um die Frühpensionierung von 45 Jahre alten Berufsoffizieren zu bezahlen?
Liebe Frau Kollegin, Sie sind so lange im Deutschen Bundestag, und Sie waren ja viele Jahre lang maßgeblich im Finanzausschuß. Sie wissen ganz genau, daß man nicht einen Haushalt gegen den anderen aufrechnen kann und nicht einfach Mittel, die in einem bestimmten Bereich sachlich geboten und notwendig sind, für etwas anderes in Anspruch nehmen kann. Wenn das möglich wäre, wären wir Sozialpolitiker wahrscheinlich sehr viel weiter, nämlich so weit, wie es uns allen ums Herz ist.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Frau Kollegin Verhülsdonk?
Ja, bitte, wenn der Herr Präsident mir das nicht anrechnet.
Ich habe schon verkündet, daß ich grundsätzlich nichts anrechne. Bitte sehr.
Sie sind heute ganz großzügig, Herr Präsident.
Glauben Sie, Frau Kollegin, daß dieses Ihr Argument von den älteren Frauen verstanden wird, die sehen, daß 45 Jahre alte Offiziere schon pensioniert werden, aber sie selber mit über 65 Jahren eben kein Geld für ihre Kindererziehungsleistung bekommen haben?
Frau Kollegin, es scheint, daß die älteren Frauen dies verstanden haben. Sonst wäre nicht die Tatsache zu vermelden, daß wir bei der letzten Bundestagswahl gerade von den älteren Frauen ganz überproportional gewählt
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 641
Frau Verhülsdonkworden sind. Das war unsere stabilste Wählerschicht.
Ich komme auf meine Ausführungen von eben zurück. Wir haben angefangen, in der Rentenversicherung Erziehungszeiten einzuführen, weil wir damit die Möglichkeit schaffen wollen, daß Frauen, die Kinder erziehen, ihre Lücken auffüllen können, die in ihrer Rentenbiographie für diese Zeit in der Regel entstehen.Ich sagte schon: Mehr als ein Erziehungsjahr war auf Anhieb nicht finanzierbar. Jeder, der hier sitzt, hätte gern mehr gewollt. Das geht halt nicht. Aber es hat uns auf der Seele gebrannt, ganz besonders den Kolleginnen meiner Fraktion, die das ja immer wieder hier gesagt haben, auch die älteren Mütter gerecht zu behandeln und ihnen die gleiche staatliche Leistung zu geben.Ich danke an dieser Stelle ganz besonders Ihnen, Frau Minister Süssmuth, für Ihr engagiertes Eintreten im Kabinett und in der Fraktion, daß es jetzt möglich geworden ist, daß wir trotz großer Finanzenge in diese Regelung einsteigen können.
Natürlich hätten wir am liebsten sofort alle älteren Frauen begünstigt. Da das aber nicht finanzierbar ist, beginnen wir mit den ältesten. Ich halte das für die gerechteste Lösung, nach Altersgruppen vorzugehen. Ich bitte die jüngeren Frauen wiederum um Verständnis dafür, daß sie noch etwas warten müssen. Immerhin erhält eine Frau, die heute 66 Jahre alt ist und die also am längsten warten muß, nämlich bis 1990, bereits ab ihrem 70. Lebensjahr diese Erziehungsrente, also 10 Jahre früher als die Frauen, die jetzt als erste begünstigt werden. Gerade unter den älteren Frauen gibt es — da bin ich mit Ihnen einer Meinung, Frau Steinhauer — viele mit kleinen Alterseinkommen, mit sehr kleinen Witwenrenten. Wir alle kennen die Gründe, warum das so ist: niedrige Einkommen der Ehemänner, und was da alles eine Rolle spielt und auf ihre Renten durchschlägt. Oft sind das zugleich die Frauen, die mehrere Kinder großgezogen haben. Sie sollen dafür jetzt endlich bessergestellt werden.Frau Steinhauer, wir haben für die älteren Frauen aus gutem Grund einen anderen Weg gewählt als für die Frauen, die in das Rentenrecht noch eingepaßt werden können. Wir sind froh, daß ein verwaltungstechnisch unkompliziertes Verfahren gefunden worden ist. Es wird den alten Frauen nicht zugemutet, mit einem Berg von Belegen bei den Ämtern zu erscheinen. Und es ist auch ein Vorteil für die Rentenversicherung, wenn sie abgeschlossene Rentenakten nicht erneut öffnen muß.
Sie wäre wohl schwerlich in der Lage, die ersten Leistungen bereits am 1. Oktober 1987 termingerecht zu zahlen, wenn wir ein anderes Verfahren gewählt hätten.
Und noch eins war uns wichtig: Die älteren Frauen sollen alle — ohne Ausnahme — in diese Regelung uneingeschränkt und ohne Vorleistung einbezogen werden, vor allen Dingen auch ohne Rücksicht auf ihre finanzielle Situation
und ohne Rücksicht darauf, ob sie eine Rente beziehen oder nicht. Das wurde mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erreicht. Jetzt erhalten sie bei Vorlage der Geburtsurkunde für jedes lebendgeborene Kind nach dem Stand dieses Jahres rund 27 DM monatlich, und zwar als Zuschlag zu ihren jeweiligen Alterseinkommen. Dabei lag uns besonders am Herzen, daß gerade die Frauen mit den kleinsten Einkommen, nämlich die Sozialhilfeempfängerinnen, bessergestellt werden. Und deswegen haben wir Leistungen auf Grund dieser Regelung auf die Sozialhilfe ebensowenig anrechenbar gemacht wie Leistungen auf Grund des Erziehungsgeldgesetzes.Wie schon gesagt: Das Gesetz steht auf einem soliden Finanzfundament. Ein Rentenjahr für jedes Kind für alle Mütter — das ist ein Meilenstein in der Geschichte der Rentenversicherung. Und es ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gleichwertigkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.
Herr Präsident! Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Es ist etwas ganz Tolles: Soziales — typisch Frauen; Fraktionen besetzt — natürlich fast nur mit Männern.
— Ja, nun, ich habe ja nichts gegen Männer. —
Ich freue mich, daß ich jetzt etwas erfahren habe, nämlich daß Sie, die großen Fraktionen, sich darüber einig waren, erst ab 1984 daran zu denken, daß es in dieser Gesellschaft in der Tat Mütter gibt, die Enormes leisten. Und siehe da: Seitdem die GRÜNEN im Deutschen Bundestag sitzen, hat man Ihnen noch etwas mehr Pfeffer gegeben. Im übrigen sind die GRÜNEN die einzigen, die überhaupt Wählerstimmenzuwachs bekommen haben. Wenn Sie sich, Frau Kollegin, damit brüsten, daß gerade alte Frauen im besonderen die Christparteien wählen — —
— Ach Gott, wir sind stolz darauf, daß wir alt geworden sind. Und Sie können uns nicht vormachen, daß Altsein etwas Häßliches ist.
— Ja, nicht „so". Also, verzeihen Sie bitte. Ich würde mich wirklich nicht trauen, Ihnen „so" zu zeigen. Denn „so" zu zeigen — und das von einer solch tollen,
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642 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Frau Unruhechten Dame —, das ist nun keine Form hier in diesem Hohen Hause.
Also, so geht es wirklich nicht.Aber nun zur Sache: Herr Blüm, ich freue mich, daß auch Sie hier sind. Ich weiß, daß Sie ein barmherziges Herz haben. Sie haben es ja auch im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung gezeigt.
— Nun klatschen Sie nicht zu früh. — Aber genau mit dieser Barmherzigkeit täuschen Sie, seit es diesen Deutschen Bundestag gibt, die Frauen draußen. Sie beuten sie aus, schlimmer geht's nicht!
Sie geben ihnen Niedriglöhne. Die Gewerkschaften sorgen nicht dafür, daß diese Billiglöhne und anderes wegkommen. Und dann kommt der große Zynismus.
— Ach Gott, nun lassen Sie es bitte, ja. Denn gerade Ihr Kopf, mit Beton ausgerüstet, signalisiert nach draußen, daß wir von dieser Generation Männer, die nur Karrieredenken für sich im Kopf haben, nichts zu erwarten haben, schon gar nicht wir alten Frauen.
Wort halten!
— Mit Beton meine ich z. B., was Sie an Subventionen für Dinge bereit sind zu schieben, die uns vernichten. Auch im letzten Krieg sind viele, viele Millionen vernichtet worden. Die Frauen, die heute alt sind, haben diesen Krieg überlebt. Es ist Ihnen ohne den Druck von außen nicht eingefallen, diesen Frauen irgendwann zumindest eine Mindestrente zu geben. Es gibt bei Ihnen eine Frau Ministerin Süssmuth. Die Ministerin ist gut, aber die Fraktion taugt nichts.
Was nutzt da eine Ministerin?
Da bin ich in einer viel, viel besseren Obhut.
Die Fraktion der GRÜNEN steht voll dahinter. — Oh,lassen Sie mal. Der Minister in Hessen — wenn Sieden Joschka meinen — hat Zeichen ganz besonderer Art gesetzt.
Sie haben nur Glück gehabt. Er hat Zeichen gesetzt, wie man mit genau demselben Geld Besseres fürs Volk tun kann. Dreißig verstrahlte Arbeiter — mehr geht nicht, meine Damen und Herren.
— Jetzt kommen wir zum Gesetz, genau.
Ich habe nur sieben Minuten. Nur wollen Sie es ja gern. Wenn ich durch eine Parlamentsreform genausoviel Redezeit bekomme wie Sie, dann können wir das ganz wunderbar in Ruhe ausdiskutieren.
— Sie werden sich wundern. Schon 21/2 % der Menschen über sechzig haben die GRÜNEN gewählt, ob Sie es glauben oder nicht, weil hier Ansatzpunkte zu spüren sind, die ehrlich sind.Sie, Herr Minister, gehen im Wahlkampf damit hausieren: Alle Mütter bekommen etwas. Was bleibt unter dem Strich übrig? Bei den nach 1921 geborenen Müttern — wohlgemerkt — wird auf Sozialhilfe angerechnet. Das muß man sich einmal vorstellen. Die Ärmsten der Armen bekommen von Ihren 390 DM — —
— Wissen Sie überhaupt, was 390 DM sind? Das ist für Sie ein Sektfrühstück mit zwei charmanten jungen Frauen.
— Er hat mir gerade gesagt, mit seinen jungen Frauen trinkt er Champagner.
Ich kann mit Ihnen gar nicht ernst werden, weil ich Sie nicht ernst nehme. Ich nehme Sie wirklich nicht ernst. Was haben Sie in der Vergangenheit alles versäumt! Aber Sie haben eine große Chance. Das muß ich sagen. Sie können das berichtigen. Die alten Mütter werden Sie nicht mehr wählen. Dafür werde ich sorgen.
— Natürlich. Die Graue-Panther-Organisation ist querbeet durch die Bundesrepublik organisiert. Mit einer Unterschriftenliste werden wir dafür sorgen, daß auch der Herr Blüm seiner Ministerkollegin soviel Schützenhilfe gibt und daß der Minister Stoltenberg in Schleswig-Holstein so viel Angst kriegt, daß die alten Frauen ihn nicht wählen könnten, daß er dann groß-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 643
Frau Unruhzügig die sieben Milliarden DM herausrückt, die nötig sind, um Gerechtigkeit für diese Frauen zu schaffen.
— Ach Gott, ach Gott. Sie haben doch gehört, Sie wollen den Besserverdienenden neun Milliarden DM zuschieben und haben bis heute keine Deckung. Auch Frau Ministerin Süssmuth bedauert, daß es nicht geht. Herr Stoltenberg hat es abgelehnt, weil keine Deckung da wäre. Freunde, hier wird mit Maßstäben gemessen, daß einem Menschen, der sein Leben außerhalb dieses Parlaments gelebt hat, elend und schlecht wird. Wie wird hier mit Schicksalen, mit Menschen umgegangen? Was sind 390 DM Sozialhilfe?Man nennt Sie einen Anreißer in der CDU/CSU-Fraktion.
Reißen Sie einmal Ihre CDU/CSU-Fraktion an. Die Chance haben Sie noch. Sie haben Millionen Wählerstimmen verloren. Sie werden weitere Millionen verlieren. Herr Blüm, nehmen Sie Ihren Finanzminister an die Brust. Er soll das Geld herausrücken. Die ganze Regierungsbank wird sich blamieren, alle politischen Kräfte hier im Bundestag. Ein Drittel der Stimmen hier im Bundestag brauchen wir. Bundestagsfrauen und -männer, gehen Sie mit uns zusammen in eine Normenkontrollklage. Dieses Gesetz ist so ungleich, ungleicher geht es nicht. Und die nächste Wahl kommt!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns das Kindererziehungsleistungs-Gesetz ansehen, so ergeht es uns möglicherweise wie einem Menschen, der ein Glas mit Inhalt betrachtet: Dem einen erscheint dieses Glas halbvoll, dem anderen dagegen erscheint es halbleer.
Die Opposition verfährt heute morgen nach dem altbekannten Strickmuster: Die Vorschläge der Bundesregierung werden leider verdammt, weil sie den Maximalforderungen der Opposition nicht entsprechen. Nun ist das in diesem Fall ein bißchen peinlich, denn es war ja gerade die SPD, die in der sozialliberalen Koalition die Einführung der Anrechnung von Kindererziehungszeiten auf die Rente in einer vernünftigen Form nicht gewähren ließ.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Aufmerksamkeit für die Kollegin.
Es war bereits damals ein Anliegen der FDP, die Leistungen aller Mütter in der Rente zu berücksichtigen. Es steht ja fest, daß in der vergangenen Legislaturperiode der erste bedeutende Schritt in die richtige Richtung getan wurde und damit Weichen gestellt wurden.
Daß man sich eine teilweise andere Ausgestaltung des Gesetzes hätte denken können, ist unbestritten. Die finanziellen Zwänge ließen dies jedoch nicht zu.Es ist vielleicht einmal ganz interessant, sich in diesem Zusammenhang anzusehen, was die SPD gewollt hätte. Hätten sich die Vorstellungen der SPD verwirklichen lassen, wie sie in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegen haben, wäre es zu einer Ausgrenzung eines Teils der älteren Frauen gekommen, und zwar derjenigen, die als Selbständige oder als mithelfende Familienangehörige weder eine eigene Rente beziehen noch eine Hinterbliebenenrente haben.
Nach dem Konzept der SPD gingen aber auch diejenigen Frauen und Mütter leer aus, deren Mann noch lebt und die sich ihre Rentenansprüche bei Heirat hatten auszahlen lassen; und das sind im Grunde genommen sehr viele.Nach den Vorstellungen der Koalition nun — das kann man nicht oft genug betonen — werden alle Frauen der Jahrgänge vor 1921 gleichbehandelt, und zwar unabhängig davon, ob sie jemals in einer Beziehung zur Rente gestanden haben oder nicht.Auch die Zahlen sind wichtig: Rund zwei Millionen Mütter kommen in diesem Jahr in den Genuß einer höheren Rente, bis 1990 werden 51/2 Millionen Frauen eine höhere Rente beziehen können, weil sie Kinder erzogen haben.Sie sehen, meine Damen und Herren, für mich ist das erwähnte Glas halbvoll, wenn ich bei diesem Beispiel bleiben darf. Ganz voll ist es jedoch noch nicht.
— Frau Unruh, ich muß Sie wirklich einmal fragen, haben Sie eigentlich das, was man eine gute Kinderstube nennt, von innen gesehen?
Die generelle Anrechnung der Erziehungszeiten für alle Mütter in der Rente verstehe ich als einen Hinweis, als ein Signal zum Umdenken in der Bewertung der Leistungen der Mütter durch unsere Gesellschaft.
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644 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Frau WürfelMeine Damen und Herren, wir stehen im sozialen, ökonomischen, anthropologischen und ökologischen Bereich vor Aufgaben,
die es noch nie zuvor in einem solchen Umfang, aber auch noch nie mit einer solchen Wichtigkeit für die fundamentalen Voraussetzungen des menschlichen Lebens gegeben hat. Die Art der Bewältigung dieser Aufgaben wird entscheidend die Situation der kommenden Generation beeinflussen.Nun ist aber die wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Überwindung der vor uns liegenden Probleme der unbelastete — damit meine ich den seelisch gesunden, produktiven und kreativen — Mensch.
Das bedeutet, daß die Gesellschaft diesen Typus von Mensch schon in seiner Kindheit zu erziehen beginnen muß.
Nun ist es in der Regel immer noch die Mutter, die die Kinder erzieht,
während man die Kinder als die wichtigsten Garanten für die Sicherung unserer eigenen Zukunft anzusehen hat. Von der Erziehungsleistung wird es also entscheidend abhängen, wie die Zukunft unserer Gesellschaft sein wird. Damit ist die Situation der Kinder — aber ebenso auch die der Mutter — so optimal wie nur möglich zu gestalten. Dies müßte meines Erachtens das wichtigste Ziel gesellschaftspolitischen Handelns sein.Sicher ist in dieser Beziehung gerade von der jetzigen Regierung sehr viel Positives getan worden, offensichtlich aber noch nicht genug. Zahlen sprechen unter Umständen eine sehr beredte Sprache. Auf unsere Kinder bezogen bedeutet dies, daß eine Vielzahl statistischer Daten einen beunruhigenden Klimawechsel in der Einstellung zum Kind in unserer Gesellschaft signalisieren. Nach diesen Statistiken ist beispielsweise jedes vierte deutsche Kind sprachgestört. Als Grund und Ursache wird angenommen der mangelnde Kontakt zu den Eltern und das stundenlange Aufhalten vor dem Fernseher.Die Brutalität zwischen Kindern nimmt in erschrekkendem Maße zu. Die Kinder werden teilweise zusammengeschlagen von den Schulhöfen gekarrt. Wir stellen eine zunehmende Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen fest, und bei den drogentoten Jugendlichen liegen wir 300 % über Japan und sind noch vor den USA Weltspitze. Darüber hinaus — und das ist etwas ganz besonders Schlimmes — müssen wir jedes Jahr bis zu 500 Kinderselbstmorde beklagen. Hunderttausende von noch nicht schulpflichtigen Kindern schlucken Beruhigungsmittel.
10 000 Fälle von Kindesmißhandlung werden pro Jahr aktenkundig, und erschreckend viele Kinder beenden ihr Leben als Verkehrstote im Straßenverkehr.Ich denke, daß wir uns mit diesen Fakten auseinandersetzen müssen, und zwar nicht nur wegen der betroffenen Kinder, sondern auch wegen der sie erziehenden Mütter oder Väter.
Denn die Kraft der Familie oder aber ihre Bereitschaft zum Zerfall, ihre Geltung oder aber ihre Abwertung sind immer zugleich mitentscheidend über die Stellung der Mutter in der Gesellschaft wie aber auch über die Stellung des Kindes in der Gesellschaft.
— Richtig.Unsere Parteitagsbeschlüsse, aber auch unsere Koalitionsbeschlüsse, geben uns vor, uns dieser aufgezeigten Problematik anzunehmen.
Das Kindererziehungsleistungs-Gesetz ist ein entscheidender Schritt nach vorne, bei dem wir es aber nicht belassen dürfen.
Das Wort hat der Abgeordnete Günther.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Beratung dieses Gesetzes will ich zunächst noch einmal darauf hinweisen, daß es diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen waren, die es überhaupt erst ermöglicht haben, sich über diese Leistung hier im Parlament und draußen in der Bevölkerung zu freuen. Ich will das einmal deutlich am Anfang sagen.
Seit 1986 begründet Kindererziehung Rentenansprüche. Das ist etwas völlig Neues im sozialpolitischen Raum der Bundesrepublik Deutschland. Meine Damen und Herren, man kann das deshalb nicht oft genug sagen, weil ich oft den Eindruck habe, daß das einige auch hier in diesem Parlament immer noch nicht begriffen haben oder einfach nicht begreifen wollen.Man muß auch eine Frage stellen. Diese Frage wird ja erneut deutlich, wenn die von mir ansonsten sehr geschätzte Kollegin Steinhauer — mit großem Sachverstand ausgestattet,
aber in dieser Rede hier wahrscheinlich der Not gehorchend — immer wieder so tut, als wenn hier nichts geschehen wäre. Ich muß sagen: Kollegin Steinhauer, Sie wissen selber doch ganz genau — das ist doch an Fakten ablesbar und die Datenlage ist auch
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 645
Günthereindeutig —, daß nun wirklich in Ihrer Regierungszeit absolut nichts geschehen ist.
Frau Kollegin Steinhauer und alle, die das tun: Es nutzt nichts, daß Sie hier ständig beklagen, daß Vorschläge da waren, daß Ideen da waren, daß Halbfertiges eingebracht wurde, daß die böse Opposition damals noch etwas Besseres wollte, wie Sie das auch dauernd wollen.
Fakten sind entscheidend, und die Fakten sagen deutlich: Bei Ihnen war Null. Gar nichts ist geschehen. Das ist eindeutig.
Ich will auch noch einmal auf folgendes hinweisen. Wir haben eine Leistung eingeführt, die nicht nur Geburten nach Inkrafttreten eines Gesetzes zugute kommt, sondern wir haben auch eine Leistung eingeführt, die rückwirkend gilt. Das ist fast einmalig bei sozialen Leistungsgesetzen. Das ist, glaube ich, auch noch einmal zu verdeutlichen.Es ist immer unsere Absicht gewesen — ich habe das selber im vorigen Jahr auch erklärt — , auch die älteren Jahrgänge, wenn es möglich ist, einzubeziehen. Das geschieht heute mit dem vorgelegten Gesetzentwurf bzw. bei dessen Verabschiedung restlos. Sie sprechen immer davon, daß noch welche übrigbleiben. Es bleibt niemand mehr übrig.
Im übrigen finde ich, daß es auf seiten der Sozialdemokraten ein makabres Spiel ist, ständig mit der Sterbetafel zu argumentieren. Ich tue das nicht gerne, aber wenn Sie das nicht lassen, muß ich das auch noch einmal verdeutlichen: Während Ihrer Regierungszeit sind sehr viele alte Frauen gestorben, die überhaupt nichts bekommen haben. Das sind weit mehr gewesen als jene, die möglicherweise jetzt sterben, wenn wir die Stufenregelung einführen. Das waren weit mehr. Deshalb habe ich die Bitte, daß Sie dieses Argument nicht weiter verwenden.Ich halte es auch nicht für eine sinnvolle Sache, alten Menschen ständig zu erzählen, daß sie bald sterben. Ich halte das für eine ganz schäbige Sache.
Was den Inhalt des Entwurfs angeht, so ist festzustellen, daß wir keine schlichte Ausdehnung der rentenrechtlichen Regelungen des Hinterbliebenen- und Erziehungszeitengesetzes auf die vor 1921 geborenen Mütter vorgenommen haben. Das hätte nämlich bedeutet, daß 4,6 Millionen Rentenfälle hätten aufgerollt werden müssen. Wer etwas von den Dingen versteht, Frau Unruh, weiß, daß das, auch in Anbetracht des Alters dieser Menschen, unmöglich gewesen wäre.Der Erste Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, der von uns allen sicher sehr geschätzte Herr Dr. Kolb, dem wir in dieser Woche unsere Glückwünsche zum 60. Geburtstag überbracht haben —
und ich möchte deshalb die Gelegenheit nehmen, ihm auch von dieser Stelle aus für seine großartigen Leistungen in der Sozialversicherung, insbesondere in der Rentenversicherung, noch einmal sehr herzlich zu danken —,
hat in sehr überzeugender Weise dargelegt, daß die Rentenversicherungsträger überhaupt nicht in der Lage gewesen wären, diese 4,6 Millionen Rentenfälle auf einmal zu bearbeiten, wenn wir so beschlossen hätten. Alleine aus verwaltungsmäßigen Gründen wäre es also zu Stufen gekommen. Wenn Sie also die Argumente, die wir anführen, schon nicht gelten lassen wollen, dann gehen Sie in die Praxis und schauen sich dort um. In der Praxis wäre es ohnehin so gekommen.
Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf sieht daher vor, daß die Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 in Stufen für jedes lebend geborene Kind eine Leistung für Kindererziehung erhalten, allerdings in der gleichen Höhe wie nach dem Hinterbliebenen- und Erziehungszeitengesetz, also rund 27 DM zur Zeit. Damit erhalten diese Mütter die Leistung schon bei nur einem Kind, ohne daß die Wartezeit von 60 Monaten in der Rentenversicherung erfüllt sein bzw. nachgewiesen werden muß.
— Liebe Kollegin Steinhauer, ich habe das eben schon ausgeführt und will es gerne wiederholen: Was Sie wollten, ist alles schön und gut. Getan haben Sie nichts.
Jedenfalls ist in diesem Parlament kein Beschluß mit Ihrer Mehrheit zustande gekommen. Machen Sie bitte nicht immer die Opposition, die in der Minderheit war, für das verantwortlich, was Sie mit Ihrer Mehrheit nicht geschafft haben.
Das wäre ja ein seltsames Parlament, das von Minderheiten bestimmt würde. Das können sie draußen doch wirklich keinem klarmachen.
Wir unterstützen den Entwurf der Bundesregierung. Ich muß an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich sagen, daß ein großes Verdienst unserem Bundesarbeitsminister zukommt, der diese Problematik bei Antritt seines Amtes sehr beherzt angepackt
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Güntherund mit uns allen gemeinsam letztendlich gelöst hat.
Ich hoffe, daß sich die Opposition dieser großartigen Leistung für die älteren Mütter besinnt und auch zustimmt. Wer dieses Gesetz ablehnt, lehnt ältere Mütter ab.
Frau Abgeordnete Unruh, bitte halten Sie sich zurück!
Das Wort hat der Abgeordnete Peter (Kassel).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal scheint es über eines in diesem Hause von Frau Unruh bis zu Herrn Günther Einigkeit zu geben: Einigkeit darüber, daß die Zielsetzung, alle Mütter in den Genuß von Kindererziehungszeiten zu bringen — in diesem Fall in den Genuß einer pauschalen Erziehungszeit — , berechtigt ist.
Allerdings verpflichtet das Prinzip, Wort zu halten, nach Bundestagswahlen nicht, schlechte Dinge — weil sie ungerecht sind — wieder vorzulegen, sondern es ist durchaus Lernfähigkeit möglich und erlaubt, wenn man einen vorgelegten Gesetzentwurf besser machen kann.
Dieser Gesetzentwurf, Herr Bundesarbeitsminister Blüm, reiht sich in die Tradition Ihrer Gesetzentwürfe ein. Er ist eine Blümsche Mogelpackung par excellence, d. h., die Verpackung verspricht mehr, als der Inhalt hält. Herr Blüm, ich habe es Ihnen schon einmal gesagt: Sie sind ein Verpackungsminister für Mogelpackungen par excellence und mit beachtlichen alchemistischen Fähigkeiten. —
Der Herr Bundesarbeitsminister hat das im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung schon einmal volkstümlicher erklärt. Er meinte damals: Na ja, man muß aus allem, was es da gibt, Gold machen können. — Aber bei Alchemisten ist es so, daß das bisher noch niemandem gelungen ist. Herr Blüm, es scheint auch Ihnen nicht zu gelingen.
Wenn man Mogelpackungen vorlegt, ist man auf der anderen Seite auch dazu verpflichtet, Sprüche zu klopfen, dann ist man dazu verpflichtet, mit diesen Sprüchen Unzulänglichkeiten des Gesetzes zu überdecken. Das haben wir am Beispiel des Gesetzes zur Anerkennung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung 1985 erlebt. Da haben die älteren Frauen zunächst auch einmal gedacht, sie seien einbezogen, und dann waren die über 65jährigen nicht darin. Da haben auch die Mütter, die nach der Geburteines Kindes weitergearbeitet haben, gedacht, sie seien einbezogen, und als das Gesetz in Kraft trat, waren sie nicht darin.
— In der allgemeinen Wahlkampfargumentation, Herr Dr. Becker, haben Sie diese Differenzierung nicht vorgenommen. — Dasselbe gilt auch für die Mütter, die freiwillige Beiträge nachentrichtet haben, um Ansprüche zu erlangen. Plötzlich stellten sie fest, sie waren auch nicht darin.
Das sind Mogelpackungen. Das Gesetz, das Sie hier eben wieder vorgelegt haben, ist eigentlich dasselbe. Es ist nicht das Zelebrieren eines Jahrhundertereignisses.
Dann kommen Sie jetzt mit dem historischen Rückblick. Da sage ich Ihnen: Weder die Gnade der späten Geburt, Frau Würfel, noch andere Gründe entbinden von der Pflicht zur historischen Wahrheit. Am Anfang der Geschichte der Kindererziehungszeiten standen ein sozialliberaler Gesetzentwurf und eine Ablehnung dieses Gesetzentwurfes durch die CDU.
— Herr Kolb! — Dann haben Sie das mit einem anderen Beschluß gekoppelt, und zwar mit der Öffnung der Rentenversicherung für andere Gruppen, die gleichzeitig das Geld gebunden und weggenommen hat, in der Zeit danach mit finanzieller Verantwortlichkeit die volle gewünschte Lösung durchzusetzen. Diese Seite des Beschlusses von 1972 gehört auch dazu.Es waren ja auch keine 13 Jahre, in denen im Hinblick auf Kindererziehungszeiten nichts passiert ist. 1976 beim Versorgungsausgleich ist dieses Prinzip anerkannt worden, das wissen Sie. 1978/79 beim Mutterschaftsurlaubsgeldgesetz ist dieses Prinzip anerkannt worden.
Auch das wissen Sie, nur verschweigen Sie es hier aus vordergründigen politischen Motiven.
Die Einführung der Rente nach Mindesteinkommen war letztlich ebenfalls eine Leistung, die Müttern zugute gekommen ist, wenn sie gearbeitet und dabei unterdurchschnittliche Löhne erhalten haben.Das ist das Problem, Herr Arbeitsminister, der historischen Redlichkeit, und ich meine es nicht als Schimpfwort, sondern ich meine es als Appell an künftige Diskussionsbeiträge.
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Peter
Wenn man ein Jahrhundertereignis zelebriert, dann ist das wie bei allen Jahrhundertereignissen: Es gibt Opfer, und diese Opfer müssen aus dem Bewußtsein verdrängt werden. Im Falle dieses Gesetzes sind es die älteren Frauen, die durch den Stufenplan noch weiter hingehalten werden. Darüber müssen wir uns klar sein, unabhängig von der politischen Einschätzung: Wenn Menschen ihren Lebensabend in Angst verbringen müssen, ob sie eine vorgesehene Leistung noch erhalten oder nicht, dann ist das bedenklich. Wenn das bewußt geschieht und aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt wird, kann man auch von Zynismus sprechen.Unsere Einschätzung dieses Entwurfs ist nicht eine Frage: halbvolles Glas, halbleeres Glas, sondern ist die Frage, was in dem Glas drin ist. Wir meinen, der Entwurf ist ungerecht, dafür aber auch systemwidrig. Unter dem Diktat des Finanzministers sind Sie aus der Logik der gesetzlichen Rentenversicherung ausgestiegen, weil Ihnen dieser Ausstieg aus der Logik der gesetzlichen Rentenversicherung Tür und Tor für finanzpolitische Erwägungen und damit für Willkür öffnet.Unser Vorschlag, mit einem Zuschlag in der gesetzlichen Rentenversicherung vier Millionen betroffene Frauen einzubeziehen, hätte allen Frauen mehr genützt als der Vorschlag eines Stufenplanes mit Wartezeiten.
Herr Günther — ich sehe ihn im Moment nicht — Ihr Problem: 4,6 Millionen Rentenfälle aufrollen, ist ein Papiertiger. Ich empfehle Ihnen die Lektüre unseres damaligen Gesetzentwurfs. Darin steht, daß wir pauschalieren wollten, und darin steht, daß die Rentenversicherung von sich aus die betroffenen Frauen angeschrieben hätte. Das hätte keinen Deut mehr bürokratischen Aufwand bedeutet wie jetzt bei Ihrem Gesetzentwurf, wo ja ebenfalls die Rentenversicherungsträger die betroffenen Frauen anschreiben müssen und wo ebenfalls, wie bei uns auch, der Nachweis der Berechtigung an das Vorlegen der Geburtsurkunde gekoppelt gewesen wäre — also kein bürokratisches Verfahren, sondern das wäre mit beiden Lösungen möglich gewesen. Sie haben sich allerdings für die andere Lösung entschieden. Dabei haben Sie sich um die Tatsache herumgedrückt, daß es durchaus gesetzliche Regelungsbereiche gibt, wo das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit im Zielkonflikt mit der Finanzierung aufrechterhalten werden muß. Daß wir in diesem Falle hier von der Lösung für alle Frauen abgehen, bedeutet, daß Menschen, die die Rente noch nicht erhalten haben, in Angst gestürzt werden, Menschen im Alter von über 65 Jahren. Das finde ich nicht verantwortungsvoll gehandelt. Vor allen Dingen finde ich es dann nicht verantwortungsvoll gehandelt, wenn Sie mir nichts, dir nichts in der Lage sind, auf den Spitzensteuersatz zu verzichten, wenn Sie mir nichts, dir nichts in der Lage waren, Vermögensteuer zu senken.
und damit Milliarden eingespart haben — das mit derVermögensteuersenkung war in der Vergangenheit — , und wenn Sie Ihre Vorliebe für die 45jährigenOffiziere den Bundeshaushalt 600 Millionen DM kosten lassen.Sie kalkulieren natürlich mit der Sterbetafel. Ich sage auch das nicht als Vorwurf, ganz bewußt nicht als Vorwurf, sondern Sie müssen damit kalkulieren, weil in den Vorlagen für die künftigen Haushaltspläne — in dem Vorschlag für das Haushaltsjahr 1988 ist das bereits belegt — steht: Im nächsten Jahr werden 0,2 Millionen der betroffenen Anspruchsberechtigten bereits gestorben sein. — Das ist nicht Zynismus, sondern das ist in der Logik und in der Technik des Gesetzes angelegt, und ein Gesetz, das solch eine Logik enthält, ist ein Gesetz, das, finde ich, verbessert werden muß.Deshalb kann die Schlußfolgerung nur lauten: Alle Frauen müssen von Anfang an in das Gesetz einbezogen werden. Dazu müssen die finanziellen Prioritäten — das steht fest — anders gesetzt werden. Sie haben in der Vergangenheit bewiesen, daß Sie bei anderen Interessentengruppen dazu immer in der Lage gewesen sind. Warum denn eigentlich nicht bei den alten Frauen, so frage ich Sie einmal.
Noch haben Sie ja Zeit, sich im Laufe der Gesetzesberatungen einen Ruck zu geben. Druck hat Sie ja auch in der Vergangenheit mehrfach dazu bewegt, Ihre Absichten zu verändern.Die jüngste Geschichte dieses Gesetzes begann ja mit einer Stichtagsregelung nur für die Mütter, die hineinwachsen, die im Arbeitsleben stehen. Nachdem es Widerstand gab, war der nächste Schritt die Einbeziehung der bis zu 65jährigen; das war für Sie zumindest der Anteil, der Ihnen finanzierbar zu sein schien. Der nächste Schritt ist die Stufenregelung. Machen Sie doch jetzt noch den entscheidenden Schritt und lassen Sie alle Mütter in den Genuß dieser Leistung kommen! Dazu werden Sie unsere Unterstützung haben.Wir unterstützen allerdings auch die Kritiker des Gesetzes — VdK, Reichsbund, Frauenorganisationen usw. — , und unsere Kritik bleibt bestehen, wenn Sie nicht zu einer Änderung kommen. Sie schaffen mit den Bedingungen für den Anspruch auf die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten neue Ungerechtigkeiten gegenüber den nach 1921 geborenen Müttern. Sie grenzen innerhalb der bisher ausgegrenzten Gruppe ganze Jahrgänge bis 1991 aus, und Sie finanzieren das Ganze mit den Geldern anderer, die dieses Geld für andere soziale Ansprüche bitter notwendig haben. Ich nenne als ein Beispiel nur die Arbeitslosen. Das ist ungerecht, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien.
Herr Abgeordneter, die vorgesehene Redezeit ist zu Ende. Bitte kommen Sie zum Schluß!
Der letzte Satz: Das Gesetz ist ungerecht, unmenschlich
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648 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Peter
und in der dahinterstehenden politischen Philosophie zynisch, weil Sie Menschen ausschließen, die einen wohlerworbenen Anspruch hätten.Schönen Dank.
Ich erteile der Frau Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Einbringung des Gesetzes wird hier heute erneut darüber gestritten, wer was wann gemacht hat und was für die Frauen alles hätte geschehen können. Wenn ich an das Schlußwort meines Vorredners erinnere, der gesagt hat, das Gesetz sei ungerecht, unmenschlich und zynisch, dann muß ich einmal zurückfragen, seit wann denn überhaupt an den Lebensabend der älteren Frauen gedacht wird.
— Ich habe nie behauptet, daß irgend jemand der erste oder der letzte war, aber ich muß Ihnen gestehen: wenn solche Versäumnisse gegenüber der Geschichte faktisch aufweisbar sind, dann sollte man in seiner Kritik zurückhaltender sein
und sollte sich nicht als diejenigen aufspielen, die alles zum besten der Frauen gerichtet hätten. Ich muß Ihnen sagen: Wenn schon in den sehr viel üppigeren 70er Jahren mehr Vorsorge für Frauen in der Rentenversicherung, in der Frage der Reduzierung der Anzahl von Sozialhilfeempfängerinnen und in der Frage der Pflegebedürftigkeit getroffen worden wäre, dann wäre der Berg, der jetzt — in der zweiten Hälfte der 80er Jahre — vor uns liegt, nicht so hoch.
Ich denke, daß wir hier zu Recht darüber streiten, ob es hier nicht eine Alternative zur Stufenlösung gegeben hätte. Aber — hier möchte ich Frau Würfel und alle anderen Redner, die vor mir gesprochen haben, unterstützen — es geht doch jetzt auch einmal darum, zu sagen, daß endlich eine durchgreifende Lösung erreicht worden ist, zwar spät, aber, ich hoffe, nicht zu spät.
— Ich muß Ihnen sagen: für 0,2 Millionen Frauen zu spät, nach dem, was wir heute wissen. Ich halte es für unmöglich, daß wir in die politische Diskussion permanent die Sterberaten einbeziehen
und noch darüber diskutieren, ob wir mit den Sterberaten kalkulieren.
Ich muß Ihnen sagen: Wir haben uns mit den Kollegen aus den Fraktionen unserer Koalition, mit Vertretern der Regierung wochenlang um die Finanzierung bemüht. Wenn ich heute noch einmal, auch stellvertretend für Norbert Blüm, sage, daß es hierbei ja nicht um 160 Millionen oder 0,5 Milliarden DM geht, sondern daß bis 1989 10 Milliarden DM finanziert werden müssen, dann ist das kein Pappenstiel; es ist eine sozialpolitische Leistung, die sich, bei allen Schwächen, die dieser Kompromiß hat, durchaus sehen lassen kann.
Wenn es einmal darum geht, zu fragen, wer was gemacht hat, dann zählt in der Tat endlich die Entscheidung, daß jemand etwas bekommt und nicht, ob die Prinzipien der anderen besser waren.
— Ich habe eben gesagt, daß es Ihr Recht und Ihre Pflicht ist, über die Richtigkeit von Gesetzentwürfen zu streiten; nur, pharisäisch für sich in Anspruch zu nehmen, daß man immer den Part der Frauen und im besonderen der älteren Frauen vertreten hätte, das kann ich nicht nachvollziehen.
Ich möchte einen weiteren Punkt unterstreichen. Hinsichtlich des Anspruches der Systemgerechtigkeit möchte ich noch einmal geltend machen: Wenn es weiterhin nur nach Systemgerechtigkeit geht, dann kommen die Frauen in der Rentenversicherung nur als Erwerbstätige vor, mit geringen Einschränkungen und Ausweitungen. Ich denke, gerade die Systemwidrigkeit ist die einzige Chance für uns Frauen, in der Alterssicherung in Zukunft besser berücksichtigt zu werden als bisher. Wenn wir schon nach Wahrheit oder Unwahrheit in der Geschichte fragen, dann müssen Sie deutlich sagen, daß Sie bis zur letzten Legislaturperiode klare Begrenzungen nach Altersjahrgängen und Gruppen von Frauen vorgenommen haben,
so daß darin die nicht Erwerbstätigen, das heißt die Frauen, die keinen Rentenanspruch hatten, auch nicht vorkamen. Dies war eine Lösung in Form einer Verbesserung der sozialen Sicherung für erwerbstätige Frauen. Wir sind immer noch weit davon entfernt, Tätigkeit im Erwerbsleben und Tätigkeit außerhalb des Erwerbslebens für Familie, Erziehung und Pflege— ich schließe auch die vielen im Ehrenamt ein — gleichgewichtig zu verankern.
Ich glaube, das ist die Frage, die uns für die nächsten Jahre maßgeblich beschäftigen wird.Da meine Redezeit zu Ende geht, möchte ich abschließend nur an das erinnern, was der Bundes-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 649
Bundesminister Frau Dr. Süssmuthpräsident am 8. Mai gesagt hat: Wir haben alle einen erheblichen Nachholbedarf in der Würdigung der Geschichte, wenn es um Frauenleistungen geht. Auch die Kriegs- und Nachkriegsleistungen der Frauen sind uns sehr spät eingefallen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/197 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor.
Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung des Versicherungsschutzes bei Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit
— Drucksache 11/198 —
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederherstellung eines ausreichenden Schutzes bei Arbeitslosigkeit
— Drucksache 11/132 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß ich schon wieder da bin, um zu beweisen: Wir sind eine solide Regierung; wir halten uns an das, was wir im Wahlkampf versprochen haben. Kaum ist der Bundestag wieder zusammengetreten, da legen wir heute zum zweiten Mal ein Gesetz vor, das wir im Wahlkampf angekündigt haben. Das ist in der Tat ein Kontrastprogramm zu Ihren Wahlkämpfen in früheren Zeiten.
— Den Zwischenruf, Herr Kollege, will ich doch noch einmal aufgreifen: Darf ich Sie daran erinnern, was Sie alles in Sachen Renten in Wahlkämpfen versprochen haben und was Sie nach den Wahlkämpfen jeweils getan haben? Soll ich die ganze Liste aufführen? Aber ich will mich dem Gesetzentwurf und den Arbeitslosen zuwenden, die sind noch wichtiger als die Opposition, bei allem Respekt vor Ihnen.Nun, dieser Gesetzentwurf hat drei Ziele: erstens besserer Schutz aller Arbeitnehmer bei Arbeitslosigkeit, zweitens gezielte Verbesserung für ältere Arbeitslose und drittens Hilfe für die Arbeitnehmer der Stahlindustrie. Die Verbesserungen sind möglich auf Grund der verbesserten Finanzlage der Bundesanstalt für Arbeit. Ich erinnere dieses Hohe Haus: Als ich mein Amt angetreten habe, stand für die Bundesanstalt ein Defizit von 12 Milliarden DM ins Haus, 12 Milliarden DM rote Zahlen!
Was man sich immer merken kann: Rote Zahlen sind schlecht. Bei roten Zahlen haben Sie nichts zu verteilen. Wir haben gespart, das gebe ich zu. Es war schmerzhaft.
— Ja, darauf komme ich auch noch zurück. Wir haben gespart, um die roten Zahlen wegzubekommen, weil Sie bei roten Zahlen nichts zu verteilen haben. Diese Mathematik haben Sie nie beherrscht.
— Sie sollten mit Zwischenrufen vorsichtig sein. Ich weiche nämlich sonst vom Text ab und rechne einmal aus, war wir gespart haben und was wir inzwischen verbessert haben.Wir haben schmerzhaft bei den Arbeitslosen gespart, die keine Kinder haben: Wir haben das Arbeitslosengeld für diesen Personenkreis von 68 % auf 63 % gesenkt. Wenn das Verursacherprinzip gilt, dann muß die Beschwerde darüber an die Verursacher gerichtet werden. Das ist die SPD. Gut, wir haben gespart. Ja, um rd. 900 Millionen DM haben wir gekürzt. Inzwischen haben wir das Arbeitslosengeld zweimal verlängert, und mit der heutigen Verlängerung werden wir dafür über 3 Milliarden DM aufgebracht haben. Sie sehen: Wir haben nicht gespart, weil uns Sparen Spaß macht, sondern um neue Spielräume für eine Sozialpolitik zu gewinnen, die sich den Bedürftigen zuwendet.
Sparen ist kein Selbstzweck, aber ohne Sparen erhalten Sie überhaupt keinen Spielraum. Ich halte es für sinnvoll, gerade den älteren Arbeitslosen einen verbesserten Schutz zukommen zu lassen; denn, meine Damen und Herren, auch das ist ja eine Erfahrung: Gerade die Älteren haben es schwer, wieder Arbeit zu finden. Eine Sozialpolitik, die nicht mit der Gießkanne arbeitet, muß gerade diesen unterschiedlichen Verhältnissen Rechnung tragen.Es läßt sich geradezu eine Regel aufstellen: Je älter, um so länger arbeitslos. Darauf muß in zweierlei Weise geantwortet werden: Zunächst mit einer verstärkten Anstrengung, den Älteren wieder Arbeit zu verschaffen. Das ist nämlich das erste.
— Auch darauf eine Antwort in Zahlen: Als wir unsere Regierung antraten, gab es 260 000 Umschüler, Fortzubildende. Inzwischen gibt es über 500 000. Selbst ein grüner GEW-Lehrer wird zugeben müssen, daß 500 000 mehr sind als 260 000.
— Ich habe von der Mathematik gesprochen, Entschuldigung.
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650 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Blüm, Bundesminister: Bitte.
Sie wissen vielleicht, daß ich Berufsschullehrer bin, und daher habe ich ein Interesse an anerkannten — —
Herr Kollege, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen, dann nehmen Sie bitte Ihre Hände aus der Tasche! Es ist nicht üblich, daß man mit Händen in der Tasche redet. Bitte, nehmen Sie die Hand aus der Tasche. Ich bitte, diesen Anweisungen des Präsidenten zu folgen.
Sellin: : Also, wie ich mich verhalte, das unterliegt auch noch mir.
Herr Kollege, ich bitte, diesen Anweisungen zu folgen. Ich rufe Sie zur Ordnung.
Ich rufe Sie zum zweiten Mal zur Ordnung und weise Sie darauf hin, daß ich Sie dann des Saales verweisen muß.
Sellin: : Dann verzichte ich auf die Zwischenfrage.
Meine Damen und Herren, dann will ich dennoch diesen Gedanken fortführen: Nichts tun, diesen Vorwurf hören wir häufig; er wird durch keine Zahl belegt. Als ich mein Amt antrat, gab es 29 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, inzwischen sind es über 100 000. Wir geben für aktive Arbeitsmarktpolitik, Herr Kollege, inzwischen 12,5 Milliarden DM aus; 1982 waren das 6,9 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf sieht erstens die Verkürzung des Verhältnisses der sogenannten Vorbeschäftigungszeiten zu den Zeiten des Anspruchs auf Arbeitslosengeld vor, nämlich von bisher 3:1 auf 2:1.
— Bitte, mit dem Ausdruck des Bedauerns ziehe ich die Hand aus der Tasche und wende mich Ihnen in voller Aufmerksamkeit zu.
Meine Damen und Herren, 3:1 war bisher das Verhältnis; jetzt wird es 2:1, was die sozialen Ansprüche derjenigen, die in Arbeitslosigkeit sind, verbessert. Um es noch einmal mit einem Beispiel zu sagen: Für einen Anspruch auf ein Jahr Arbeitslosengeldbezug reichen statt bisher drei Jahre künftig zwei Jahre Beschäftigung. Das ist die Verbesserung des Verhältnisses, und das kommt auch und ganz besonders den Saisonarbeitern zugute, die häufig aufgrund ihrer Beschäftigungszeit gar nicht ein Jahr mit Anspruchsberechtigung überbrücken konnten.
Zweitens verlängern wir — ich komme auch darauf wieder zurück — den Arbeitslosengeldanspruch für die Älteren, weil die am längsten arbeitslos sind. Wir
wollen eine differenzierte Arbeitsmarktpolitik, nicht einfach eine globale Arbeitsmarktpolitik, die für alle die gleichen Maßnahmen vorsieht.
Ich möchte die Gelegenheit zu dem besonderen Appell nutzen, sich der Lage der älteren Arbeitnehmer zuzuwenden. Da hat sich nämlich etwas verändert. Ich rede mit Ihnen allen über den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, aber laßt uns darüber nicht die Lage der Arbeitnehmer aus den älteren Jahrgängen vergessen! Wir müssen der Versuchung widerstehen, daß die Gesellschaft nur an Jugendlichkeit Maß nimmt und daß, wer älter ist, vergessen wird.
— Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Hoss, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, drücken Sie bitte auf den Knopf, sonst ist das hier nicht ersichtlich.
— Bitte schön.
Herr Minister, Sie haben darüber gesprochen, daß man für die älteren Arbeitnehmer, die arbeitslos sind, mehr tun muß. Sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie, ausgehend von der bisherigen Unterstützung 58jähriger Arbeitnehmer, mit Ihrem Gesetzentwurf inzwischen 42jährige Arbeitnehmer zu „älteren Arbeitnehmern" machen, und wie stehen Sie dazu?
Darauf komme ich gleich zurück, denn ich wollte auch an diesem Beispiel beweisen, daß wir differenziert arbeiten, daß wir die Verlängerung des Arbeitslosengeldes in Stufen vornehmen, von den 42jährigen bis zu den 58jährigen. Allerdings geben wir dem 58jährigen einen längeren Anspruch als dem 42jährigen. Der gesunde Menschenverstand spricht ja auch dafür, daß er länger Beitrag gezahlt hat.
— Ich finde schon, daß einer, der 30 Jahre lang zur Arbeit gegangen ist, der 30 Jahre lang Beitrag gezahlt hat, auch den Anspruch hat, länger unter dem Dach der Arbeitslosenversicherung zu bleiben als ein 20jähriger, der vielleicht zwei Jahre lang Beitrag gezahlt hat.
Lassen Sie mich aber bei dem Beispiel der Älteren bleiben. Wir sollten der Versuchung, die Älteren abzuschreiben, gemeinsam widerstehen. Wir brauchen ihre Erfahrung im Berufsleben und nicht nur im Berufsleben. Wir wollen keine Gesellschaft, die einem Jugendwahn folgt. Es gibt ja immer solche modischen Bewegungen. Es gab Zeiten, da galt der Mensch nur etwas, wenn er älter war; da mußten sich 12jährige mit einer Perücke versehen und weiß pudern, damit sie wie Greise erschienen. Das war offenbar eine Zeit, die das Alter geschätzt, aber vielleicht sogar überschätzt und die Jugend unterschätzt hat. Jetzt scheinen wir in das andere Extrem zu verfallen; jetzt muß man sich offenbar jugendlich maskieren, um noch ernst genom-
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Bundesminister Dr. Blümmen zu werden. Ich sage: Bleibt jedem Lebensalter treu, spielt nicht jung gegen alt aus, und vor allen Dingen: Verzichtet in den Betrieben nicht auf die Erfahrung der älteren Arbeitnehmer! Die sind unverzichtbar.
Das gilt nicht nur für die Verbesserung des sozialen Schutzes; das gilt auch für Bildung und Weiterbildung. Wir sollten Bildung und Weiterbildung nicht in das erste Drittel des Lebens einzwängen. Auch der ältere Arbeitnehmer muß auf der Höhe der Zeit bleiben. Bildung kann nicht nur Aufstiegsbildung bedeuten; Bildung muß auch bedeuten, daß man im erlernten Beruf auf der Höhe der Zeit bleibt. Was nützt es denn einem Dreher, einem Werkzeugmacher, daß er vor 20 oder vor 30 Jahren ein hervorragendes Facharbeiterergebnis erzielt hatte? Wenn er sich nicht weiterbildet, läuft er Gefahr, daß sich seine Arbeitsmarktchancen mindern. Deshalb muß Bildung die Menschen ein ganzes Leben lang begleiten.
Das ist nicht nur Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit. Das ist auch Aufgabe der Unternehmer. Zu einem modernen Unternehmer, wie ich ihn verstehe, gehört nicht nur, daß er in Investitionsplanungen denkt, daß er Maschinen erneuert, sondern auch, daß er Arbeitnehmer qualifiziert. Das ist eine wichtige Voraussetzung eines modernen Unternehmers. Die Bundesanstalt kann das nur begleiten, flankieren; sie kann diese unternehmerische Aufgabe nicht ersetzen.Drittes Ziel dieses Gesetzentwurfes: Wir verbessern das Kurzarbeitergeld in der Stahlindustrie. Das ist sozusagen die Sofortantwort, die prompte Antwort auf die Krisensituation in einer Branche. Der Kurzarbeitergeldbezug in der Stahlindustrie wird auf 36 Monate verlängert. Sie sehen, wir haben nicht lange geredet, wir haben gehandelt. Diese Verlängerung des Kurzarbeitergeldbezuges soll auch dazu beitragen, Massenentlassungen zu verhindern. Ich appelliere hier auch an die Stahlindustriellen, den strukturellen Anpassungsprozeß ohne Entlassungen vorzunehmen. Die Kurzarbeitergeldregelung kann solche strukturellen Anpassungsprozesse ohne Entlassungen möglich machen. Das ist jedenfalls ein Beitrag, mit dem Strukturwandel fertigzuwerden.Die Gespräche zwischen IG Metall, Stahlunternehmern und Bundesregierung haben ja in einer sehr aufgeschlossenen, kooperativen Atmosphäre stattgefunden. Das Kurzarbeitergeld ist ein Beitrag, ein Schritt. Das ist noch nicht alles. Ich plädiere dafür, daß alle drei ihre Zusammenarbeit, ihre Kooperation fortsetzen: IG Metall, Stahlindustrie und Bundesregierung. Einer allein schafft es nicht, weder die Bundesregierung allein noch die IG Metall allein noch die Stahlindustrie. Drei müssen vor den Wagen gespannt werden, drei müssen den Stahlkochern helfen. Unser Beitrag, von dem ich gesprochen habe, ist die Verlängerung des Kurzarbeitergeldbezuges in der Stahlindustrie.Meine Damen und Herren, alle Schutzmaßnahmen können nicht die Anstrengung ersetzen, wieder Arbeit zu schaffen. Die schönste soziale Schutzpolitikist nicht soviel wert wie die Anstrengung, Arbeit zu schaffen, damit man den Schutz gar nicht in Anspruch nehmen muß.
Deshalb bleibt im Vordergrund: Arbeit für alle. Das kann die Sozialpolitik nicht allein leisten. Das muß Wirtschaftspolitik in Bund und Land leisten, das müssen die Tarifpartner leisten, das müssen die Unternehmer leisten. Nicht Klassenkonflikte lösen das Problem, sondern Kooperation ist das Gebot der Stunde.
Ich will an dieser Stelle die Arbeitslosen auch gegen den Kollektivvorwurf in Schutz nehmen, sie seien alle Drückeberger oder Faulenzer.
- Ich nehme sie ja in Schutz, wie Sie hören.
Daß es Mißbrauch gibt, wird ja wohl niemand bestreiten. Den gibt es im übrigen in vielen, vielen sozialen Einrichtungen. Den gibt es nicht nur von Arbeitnehmern. Den gibt es auch von Arbeitgebern. Wir sind auf keinem Auge blind.
— Den gibt es sogar unter Politikern. Auch dort soll es ihn geben. Wo Mißbrauch auftritt, wird er von uns bekämpft, und zwar der Ehrlichen wegen. Das ist Schutz für die Ehrlichen. Wenn wir den Mißbrauch nicht bekämpfen, dann leisten wir einer Verdachtspolitik Vorschub, die auch diejenigen, die es gar nicht verdient haben, unter den Verdacht stellt, sie würden den Sozialstaat ausbeuten.
— Ja, ich halte es beispielsweise für einen ausgesprochenen Mißbrauch, wenn Arbeitgeber dem Arbeitnehmer den Kündigungsschutz abkaufen, indem sie in den letzten drei Monaten den Lohn kräftig erhöhen, um dem Arbeitnehmer dadurch ein höheres Arbeitslosengeld zu sichern.
Wir prüfen zusammen mit der Bundesanstalt für Arbeit, wie wir illegaler Beschäftigung zu Leibe rükken können, Schwarzarbeit zu Leibe rücken können, wie wir die Kontrolle verbessern. Das ist keine Politik gegen die Arbeitnehmer, sondern eine Politik für die ehrlichen Arbeitnehmer, für diejenigen, die unseren Sozialstaat mitfinanzieren, die ja schließlich ihren Beitrag leisten, damit die Solidargemeinschaft intakt bleibt.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der SPD zur Wiederherstellung eines ausreichenden Schutzes bei Arbeitslosigkeit, mit dem sie ja vor der Hessenwahl noch schnell Propaganda getrieben hat, hätte 6 Milliarden gekostet. Das ist überhaupt das Betriebsgeheimnis der SPD: Sie verteilt immer Geld,
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Bundesminister Dr. Blümdas gar nicht vorhanden ist. Das sind die Zauberkünstler der Verteilungspolitik.
6 Milliarden Mark für einen Vorschlag, der in Eile zusammengebastelt war, um den hessischen Wahlkampf auszustaffieren. Wir bleiben einer soliden Politik treu. Dieser Gesetzentwurf soll den sozialen Schutz aller Arbeitnehmer bei Arbeitslosigkeit verbessern. Er wendet sich gezielt den älteren Arbeitnehmern zu. Er hilft den Arbeitnehmern in der Stahlindustrie.Ich bitte Sie, Opposition und Regierungsparteien, im Interesse der Betroffenen um eine zügige Beratung. Je schneller das Gesetz in Kraft ist, desto eher kommt es bei denjenigen an, denen geholfen werden soll.
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesarbeitsminister, der von den Sozialdemokraten vorgelegte Gesetzentwurf hat den Vorteil, daß er die bei der Bundesanstalt für Arbeit entstandenen Überschüsse auch zugunsten der Arbeitslosen verwendet und diese nicht in einer Mogelpackung landen wie bei Ihrem Gesetzentwurf.
— Natürlich, das ist der Minister der Mogelpackungen, Herr Günther.Die Überschüsse landen in einer Mogelpackung, weil Sie nämlich die Zahlungszeit des Arbeitslosengeldes verlängern mit dem einzigen Ziel, über die Einsparung bei der Arbeitslosenhilfe mehr Geld im Bundeshaushalt zu haben, um damit die Kindererziehungszeiten zu finanzieren. Insofern hätten wir eigentlich den heute morgen zuerst gelesenen Gesetzentwurf mit diesem Gesetzentwurf zusammen-behandeln können.
Herr Minister, ich habe in einer nach der Auflage großen deutschen Tageszeitung vor vier Wochen gelesen, daß die Antwort auf die Frage, warum Norbert Blüm immer so fröhlich sei, laute, er habe als Arbeitsminister wenig zu lachen. Dafür hat er uns heute morgen, glaube ich, wieder ein deutliches Beispiel gegeben.
Der Arbeitsmarkt ist vom Konjunkturabschwung erreicht. Der Konjunkturschwindel ist aufgedeckt; das muß sogar Herr Bangemann zugeben. Es wird zu Recht nur noch von einer jahreszeitlich bedingten Entlastung auf dem Arbeitsmarkt gesprochen. DieZahl der Arbeitslosen ist seit der Wende um nahezu eine halbe Million gestiegen.
Es ist also selbstverständlich, daß wir die Zahlen bei den ABM-Maßnahmen und die Zahlen bei Aus- und Weiterbildung erhöhen mußten. Das ist kein Ruhmesblatt, sondern selbstverständliches Handeln, Herr Bundesarbeitsminister.Sie haben in den vergangenen vier Jahren die Arbeitslosenversicherung gründlich demontiert und den Arbeitslosen das Geld aus der Tasche gezogen.Wir haben es am Mittwoch im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung erlebt — und das, was wir eben gehört haben, war ein Aufguß der Rede vom vergangenen Mittwoch
— vielen Dank, Frau Unruh — , daß der Bundesarbeitsminister an aktiver Arbeitsmarktpolitik nichts einzubringen hat.
Wir mußten im Ausschuß sogar nachfragen, ehe er sich bequemte, zu der ernüchternden Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in diesem Frühjahr überhaupt Stellung zu nehmen. Kein Wort dazu, daß wir inzwischen drei Millionen Sozialhilfeempfänger haben, daß sich die Zahl der arbeitslosen Sozialhilfeempfänger in Ihrer Regierungszeit verfünffacht hat, Herr Bundesarbeitsminsiter.
32 To der Arbeitslosen sind länger als ein Jahr arbeitslos. Dieser Anteilswert hat sich in den vergangenen vier Jahren verdoppelt.
Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit ist in Ihrer Regierungszeit von siebeneinhalb auf zwölfeinhalb Monate gestiegen. Immer mehr Arbeitslose erhalten weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe. Nur noch 35 % der gemeldeten Arbeitslosen erhalten Arbeitslosengeld. Vor fünf Jahren waren das noch mehr als 50 %.Große Teile der nachwachsenden Generation sind vom Arbeitslosenhilfebezug ausgeschlossen, nämlich dann, wenn sie nach Abschluß der berufsbildenden Schulen, ohne in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gewesen zu sein, oder nach Abschluß in Fach- und Hochschulen keine Arbeit finden.
— Neue Armut unter den Arbeitslosen, lieber Herr Kolb, ist bittere Realität. Immer mehr Arbeitslose müssen Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Immer mehr Arbeitslose werden vom Leistungsbezug ausgegrenzt. Wenn die Bezugszeit von Arbeitslosengeld zu Ende ist, wird heute beim 50jährigen Arbeitslosenhilfeempfänger die 80jährige Mutter von ihren 1 500 DM Rente etwas abgeben; sie muß es abgeben, damit ihr 50jähriger Sohn Arbeitslosenhilfe bekommt. Ich glaube, das ist ein unwürdiger Tatbestand. Sie schlie-
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Heyennßen immer mehr vom Bezug von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe aus: Jugendliche, soweit sie noch nie oder nur vorübergehend erwerbstätig waren, Frauen, soweit sie nach der Phase der Kindererziehung wieder erwerbstätig werden wollen, und Mehrfacharbeitslose, die nach kurzen Einstellungsperioden wieder entlassen werden.Durch den schleichenden Verfall der Arbeitslosenversicherung sind die arbeitsmarktpolitischen Probleme mehr und mehr auf Städte und Kommunen verlagert worden. Die Kommunen müssen mit der Sozialhilfe die entstandenen Lücken schließen, die in der Arbeitslosenversicherung aufgerissen worden sind.
Die Antwort der Bundesregierung auf diese — nur kurz skizzierte — Lage der Arbeitslosen ist mehr als schlicht, und sie ist auch gesellschaftspolitisch dramatisch, wenn wir hier vom Bundesminister hören, daß Arbeitslose über 42 Jahre für ihn schon ältere Menschen, nämlich ältere Arbeitslose sind. Soll das etwa heißen, daß Sie, Herr Minister, wenn die Entwicklung so weitergeht, uns in zwei Jahren hier mit 35jährigen Arbeitslosen kommen und sie als ältere Arbeitslose bezeichnen? Ich halte das schlichtweg für einen Skandal.
Wir Sozialdemokraten wollen das Geld, das an Überschüssen durch Ihre Kürzungspolitik entstanden ist, den Arbeitslosen zugute kommen lassen, aber keinen Verschiebebahnhof neuer Art eröffnen, wie Sie es tun, und damit die Kindererziehungszeiten finanzieren. Wir wollen die Wende zu Lasten der Arbeitslosen zurücknehmen, d. h. die nachhaltige Demontage der Arbeitslosenversicherung durch Norbert Blüm rückgängig machen. Wir wollen sicherstellen, daß Arbeitslose im Regelfall Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe erhalten und nicht der Sozialhilfe zu Last fallen.
Abgänger von berufsbildenden Schulen, Fachschulen, Fachhochschulen, Hochschulen und gleichartigen Ausbildungsstätten sollen, wenn sie keinen Arbeitsplatz finden, Anspruch auf Arbeitslosenhilfe erhalten. Zeiten der Betreuung und Erziehung von Kindern und pflegebedürftigen Personen wollen wir den Vorbeschäftigungszeiten gleichstellen.
Wir wollen die Familien durch eine weitgehende Nichtberücksichtigung der genannten Verwandteneinkommen massiv entlasten.
Wir wollen also mit unserem Gesetzentwurf insbesondere die Benachteiligung der Frauen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt abbauen helfen.Norbert Blüm hält von all diesen Intentionen nichts. Er hält nichts davon, das durch seine Kürzungen eingesparte Geld bei der Bundesanstalt für Arbeit den Arbeitslosen zurückzugeben. Das ist der eigentliche Skandal bei diesem Gesetzentwurf.Wir wollen weiter mit unserem Entwurf die lokalen Beschäftigungsinitiativen unterstützen. Die Arbeit, die dort geleistet wird, kann zwar — das ist wahr — die Probleme grundsätzlich nicht lösen. Aber in Ergänzung anderer Maßnahmen ist das, was hier in den Arbeitsloseninitiativen getan wird, eine wirksame Hilfe. Weil wir nach wie vor der Auffassung sind, daß die Arbeitslosenzentren sinnvolle Aufgaben leisten, wollen wir sie finanziell unterstützen.Wir weisen erneut darauf hin, daß § 128 AFG ersatzlos zu streichen ist. Denn diese Vorschrift hat sich im Laufe der Jahre geradezu ins Gegenteil verkehrt.
— Das Recht auf Arbeit gehört für uns zu den sozialen Grundrechten. Arbeit heißt nach unserem Verständnis auch Selbstverwirklichung, heißt Teilhabe an der gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung. Arbeitslosigkeit ist genau das Gegenteil. Wir wollen, daß zur Arbeitslosigkeit nicht auch noch materielle Not hinzukommt. Deswegen wiederholen wir seit Jahren, daß die Wiederherstellung eines ausreichenden Schutzes bei Arbeitslosigkeit dringend erforderlich ist.
Mit dem von der Bundesresgierung vorgelegten Gesetzentwurf wird dieses Ziel nicht erreicht. Wir appellieren an die Regierungsparteien, die aufgelaufenen Überschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit auch zugunsten der Arbeitslosigkeit und nicht zur teilweisen Sanierung des Bundeshaushaltes und zur Finanzierung der Kindererziehungszeiten einzusetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Feilcke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Heyenn, wenn man Sie so hört, dann hat man den Eindruck, Sie handeln nach der Devise: Wir wollen alles, und zwar subito, und das finanzieren wir nach altem Strickmuster mit roten Zahlen. — Ich glaube, das ist nicht die Redlichkeit, die hier bei einem solchen Gesetz angesagt ist. Dies um so weniger, als Sie zu dem Zeitpunkt, als Sie das Regierungsgeschäft aufgeben mußten, in der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit eine Fehlfinanzierung von 12 Milliarden DM hatten. Wir dagegen können sagen: Wir werden das, was in diesem Gesetz zu finanzieren ist, mit 12,5 Milliarden DM genau aus der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit finanzieren.
— Nicht auf Knochen der Armen, nicht auf Kosten der Armen, sondern zugunsten der Armen, Frau Unruh.Und, lieber Herr Kollege Heyenn: Auch wenn Sie — Ihrem oppositionellen Selbstverständnis entsprechend — hier den Madigmacher herausgekehrt haben, so habe ich doch den Eindruck, daß wir uns
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Feilckeverständigen können; denn im Ziel sind wir uns einig.
Ich finde, das ist für die vor uns liegenden Ausschußberatungen ermutigend. Wir jedenfalls sind der Auffassung, daß dieses Gesetz ein hervorragendes sozialpolitisches Angebot ist, insbesondere für diejenigen, die unserer Hilfe bedürfen: für die längerfristig — insbesondere älteren — Arbeitslosen. Dabei ist auch klar, daß Jüngere, die nach relativ kurzer Zeit der Berufserfahrung arbeitslos werden, davon profitieren werden.Wir sind uns alle darüber im klaren, daß es sich nur um ein Kurieren an Symptomen handelt. Wir müssen die Ursachen beseitigen, aber wir müssen nicht nur die Ursachen, sondern auch die Arbeitslosigkeit selbst beseitigen. Da sind wir alle gefordert.
— Bitte, blasen Sie sich hier nicht so auf wie ein Ochsenfrosch.
Helfen Sie dabei, hier Lösungen zu finden. —
Sie haben uns das Regierungsgeschäft übergeben, weil Sie versagt haben. Wir machen das Beste daraus.
Und wenn wir noch ein paar Jahre mehr haben, dann werden Sie sehen, daß wir auch diese Probleme im Griff haben werden.
Meine Damen und Herren, es darf nicht unser politisches Ziel sein. Arbeitslosigkeit zu verwalten oder möglichst günstig zu gestalten.
— Als Redner darf man das. —
Wichtig ist vielmehr, daß wir versuchen, die Ursachen für die strukturellen und die internationalen Probleme an der Wurzel zu packen.Lassen Sie mich aber, da die Zeit ja relativ knapp bemessen ist, auch noch zu zwei Fragezeichen bei diesem Gesetz kommen, die in unseren Ausschußberatungen, Herr Minister, sicherlich eine gewisse Rolle spielen werden. Einen Punkt haben Sie selbst angesprochen; ich bin darüber sehr froh. Ich glaube, wir sollten bei allem, was wir an Gutem tun, auch diejenigen im Auge haben, die ein gutes Gesetz möglicherweise zu mißbrauchen versuchen. Damit schadenwir nicht dem guten Ansatz des Gesetzes, sondern wir helfen, so glaube ich, denen, die unserer Hilfe bedürfen. Dabei sollten wir Anreize zum Mißbrauch eines Gesetzes eben innerhalb dieses Gesetzes nach Möglichkeit ausschließen. Es ist sehr richtig und sehr wichtig, Herr Minister
— doch, er hört sehr gut zu, er hat nämlich zwei Ohren —,
daß in den Koalitionsvereinbarungen davon die Rede ist, daß Sie, Herr Minister, angekündigt haben, es werde eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich u. a. auch mit der Frage des Mißbrauchs befaßt. Ich bin der Auffassung — und ich weiß, daß diese Meinung von vielen Kollegen geteilt wird — , daß man eventuelle Mißbrauchstatbestände nach Möglichkeit innerhalb eines Gesetzes, das möglicherweise auch dem Mißbrauch Türen öffnet, regeln sollte. Lohnersatzleistungen, meine Damen und Herren, dürfen niemals so attraktiv sein, daß die Motivation zur Arbeitsaufnahme dadurch möglicherweise geschwächt wird. Ich glaube, in diesem Ziel sind wir uns alle einig.
— Ja, aber in meiner Tasche, Herr Egert. —
Lassen Sie mich noch kurz einen zweiten Gesichtspunkt ansprechen: Ich bin der Auffassung, wir sollten bei den Beratungen im Ausschuß sehr sorgfältig prüfen,
ob wir die Leistungsfähigkeit der Bundesanstalt für Arbeit langfristig nicht möglicherweise überfordern, wenn wir alle Überschüsse zugunsten eines so wichtigen und richtigen Gesetzes verbrauchen. Denn es ist nicht ausschließlich die Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit, die Arbeitslosigkeit zu verwalten und nach Möglichkeit zu gestalten, sondern sie sollte in erster Linie dafür Sorge tragen, daß Menschen in Arbeit kommen. Das Geschäft der Bundesanstalt ist in erster Linie Beratung, Vermittlung, Wiedereingliederung und Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese Ziele dürfen nicht aus dem Auge verlorengehen. Ich glaube, wenn das sichergestellt ist, dann werden wir alle diesem Gesetz zustimmen.
Es ist erforderlich, in einer Zeit längerfristiger Arbeitslosigkeit insbesondere von älteren Arbeitnehmern darauf zu achten, daß wir die Folgen dieser Arbeitslosigkeit mildern. Der Gesetzentwurf, der heute hier zur Beratung steht, dient diesem Ziel. Er beweist gleichzeitig unsere Solidarität mit den Betroffenen, vor allem den älteren Arbeitslosen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Um zu einer richtigen Beurteilung des vorliegenden Gesetzentwurfes der Bundesregierung zu kommen, ist es notwendig, sich damit auseinanderzusetzen, woher die Mittel stammen, die hier zur Verteilung anstehen. Wenn der sozialpolitische Strahlemann Blüm sich im Grunde anschickt, die Beute zu verteilen,
die er in einem Raubzug seit 1984 gemacht hat, indem er in die Taschen der Arbeitslosen, derjenigen, die nicht zu den Vermögenden gehören, gegriffen hat, dann ist das der eigentliche Punkt, um den es hier geht. Er hat gesagt: Wir haben gespart, seitdem wir an der Regierung sind.Für mich ist der Begriff des Sparens eigentlich damit verbunden, daß es sich um mich handelt, daß ich spare und daß es dann mein Geld ist. Er hat nicht von sich aus oder von seiner Klasse, von den Vermögenden aus gespart, sondern er hat mit dem Geld der Arbeitslosen gespart, indem er sie geschröpft hat.
Das Arbeitslosengeld wurde ab 1984 von 68 % auf 63 % gekürzt, die Arbeitslosenhilfe von 58 % auf 56 %.
Das Unterhaltsgeld bei Qualifizierungsmaßnahmen— heute reden Sie von einer Qualifizierungsoffensive— haben Sie von 80 % auf 63 % gekürzt.
Sie haben den Zugang zum Versicherungsschutz erschwert, indem Sie die Anwartschaftzeiten verdoppelt haben. Sie haben die Dauer verkürzt, während der man Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, und Sie haben den gesetzlichen Rentenversicherungen Rentenbeiträge aus der Arbeitslosenversicherung vorenthalten. Damit haben Sie Gelder angehäuft. Der normale Bürger wird davon ausgehen, daß bei zunehmender Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik die Kassen in Nürnberg leerer werden. Man höre und staune: Genau das Umgekehrte ist passiert. Sie haben über die Sparmaßnahmen bei den Arbeitslosen und indem Sie die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit reduziert haben und damit die einzelnen Betroffenen geschröpft haben, Geld zusammengebracht und einen Zustand erreicht, daß heute in der Kasse mehr Geld ist als vorher, obwohl die Arbeitslosigkeit angestiegen ist. Das ist Ihre Sozialpolitik, die Sie hier immer blendend zu verkaufen versuchen
und mit Ihren Späßchen hier über die Bühne bringen wollen.
Diese Schröpfung geschieht in der Zeit Ihrer Regierung, in der sich — ich nenne nur eine Zahl — die Einkünfte aus Unternehmenstätigkeit, aus Vermögen und Kapital um 70 Milliarden DM erhöht haben. Die Einkommen der Arbeitnehmer und Rentenempfänger haben sich um 60 Milliarden DM verringert. Das sind die Tatsachen. Das sind die Fakten.
— Diese Rechnungen sind schon in Ordnung. Sie können mir glauben, daß ich, wenn ich mich hier hinstelle und etwas sage, die Dinge genau prüfe.
Sie können mir das Gegenteil beweisen.
Weiterhin: Wir sind selbstverständlich für eine Rückgabe der Gelder, die sich dort angesammelt haben und die den Arbeitslosen gehören. Sie gehören nicht Ihnen, Herr Blüm. Das ist die Kasse derjenigen, die die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, und diese haben einen Anspruch auf eine solidarische Verteilung nach sozialpolitisch weitgehend gleichen Kriterien und gleichen Vorteilen. Es geht nicht an, daß Sie bestimmte Gruppen ausnehmen.
— Bitte stören Sie mich nicht, Herr Cronenberg, ich habe nur sieben Minuten Zeit.
Ich will Ihnen zwei Punkte nennen: Erstens schaffen Sie künstlich und willkürlich neue Kriterien für die Ausgabe von Geldern für Leute, die arbeitslos geworden sind. Sie schaffen das Kriterium des Alters; Sie machen heute einen 42jährigen Arbeitnehmer zu einem „alten" Arbeitnehmer, der über einen längeren Zeitraum Arbeitslosengeld bekommt als derjenige, der 41 Jahre alt ist. Sie müssen sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, was es bedeutet, was Sie da anrichten.Sie sind nicht mehr nur damit zufrieden und stellen sich darauf ein, daß wir eine Teilung in unserer Gesellschaft haben zwischen solchen, die in Lohn und Gehalt stehen, und solchen, die keine Arbeit haben; Sie schaffen jetzt auch noch eine Polarisierung unter den Arbeitslosen, indem Sie Arbeitslose zweier Kategorien schaffen, nämlich solche, die längere Zeiten, und solche, die geringere Zeiten der Arbeitslosigkeit durchlaufen haben.Das ist dasselbe Konzept, Herr Blüm, das Sie bei den Trümmerfrauen angewandt haben. Auch da haben sie eine willkürliche Zahl, den Jahrgang 1921 genommen und ihn zum Maßstab gemacht, und der Jahrgang 1920 geht leer aus. Hier machen Sie es bei den Arbeitslosen genau so.
Wir konnten uns mit der 58er Regelung noch anfreunden, Herr Blüm, weil das eine Regelung war, bei der man einen Übergang in die normale Rente schaffen konnte. Aber mit dem, was Sie hier mit 42jäh-
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Hossrigen machen — Sie stempeln einen Großteil unserer Arbeitnehmer als zum alten Eisen gehörig ab —, gehen Sie weiter als manche andere.
Der zweite Punkt ist folgender. Mit der Art und Weise, wie Sie die Mittel verteilen, helfen Sie im Grunde den Stoltenbergschen Etat sanieren. Wenn ich kurz einmal den Stahlbereich herausgreifen darf: Im Stahlbereich stellt sich eigentlich eine Strukturaufgabe, die nur gemeinschaftlich gelöst werden kann. Mich fasziniert es, daß Sie in Fortsetzung Ihrer sogenannten Sozialpolitik der erste sind, der einen Gesetzentwurf einbringt, der der Sanierung der Stahlregionen dienen soll, und zwar auf Kosten der Arbeitslosen. Indem Sie aus der Kasse der Nürnberger Bundesanstalt die Mittel zur Verlängerung der Zahlung des Kurzarbeitergeldes bereitstellen,
helfen Sie mit, die Situation in den Stahlregionen zu verbessern.
Dabei tun Sie nichts, um die Konzerne, die dort in der Pflicht sind, und die öffentliche Hand ins Spiel zu bringen.
Wenn hier über Subventionen geredet wird, muß ich folgendes sagen. Die Stahlindustrie wie auch die Kohle und die Werften sind Industrien, die nie diese Größe erreicht hätten
— Herr Blüm, lassen Sie mich diesen Gedanken ausführen; Sie kommen gleich dran — , wenn es sich nicht um Industrien handelte, die für den damaligen Staat wichtig waren. Riesige Subventionen sind vor dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg in die Stahlindustrie geflossen.Was heute ansteht, ist genau dasselbe: Man darf nicht auf Kosten der Arbeitnehmer eine Sanierung aus der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit im Bereich der Stahlindustrie finden, sondern muß eine Lösung finden, die diejenigen in die Pflicht nimmt, die in der Vergangenheit — auch durch die Führung von Kriegen — in den Stahlregionen verdient haben.
Diese wollen wir in die Pflicht nehmen und nicht die Arbeitslosen.
Jetzt sind Sie dran.
Nein, so leid es mir tut, aber Sie sind jetzt schon über Ihre Zeit, Herr Hoss. Dann muß auch der Abgeordnete Blüm auf eine Zusatzfrage verzichten.
Einen Schlußsatz?
Einen Schlußsatz!
Wir werden im Verlauf der Beratungen unsere Vorschläge in einen Änderungsantrag einbringen, der darauf abzielt, eine solidarische und gerechte Verteilung dieser Gelder zu erreichen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Thomae.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Arbeitslosigkeit soll verhindert und nicht verwaltet werden.
Das Frühjahrsgutachten der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute bestätigt trotz unterschiedlicher Prognosen, daß die Politik der Bundesregierung sehr erfolgreich ist. Hohe Preisstabilität, erhebliche Einkommenszuwächse und ein weiterer Beschäftigungsanstieg werden von allen vorausgesagt. Wir werden mit einer umfassenden Steuerreform die weitere Beschäftigung sichern. Und trotzdem: Es bleibt eine zu hohe Zahl von Arbeitslosen. Es bleiben Bürger, die einen Anspruch haben, daß wir uns um sie kümmern. Dazu gehören sogenannte Unterqualifizierte ebenso wie die Arbeitnehmer der Problemindustrien sowie vor allen Dingen ältere Arbeitnehmer.Neben der Durchsetzung einer soliden liberalen Wirtschaftspolitik hat diese Bundesregierung mehr als jede andere Bundesregierung dafür gesorgt, daß die Bürger, die arbeitslos sind, fort- und weitergebildet werden. Mehr als 530 000 sind 1986 in Bildungsmaßnahmen eingetreten. Dies war möglich, weil wir die Arbeitslosenversicherung konsolidiert haben.Wir wissen, wie schwierig es gerade für ältere Arbeitslose ist, eine neue Anstellung zu finden. Diese Personen, die meistens jahrzehntelang Beiträge in die Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, können nicht mit einem Jahr Arbeitslosengeld abgespeist werden. Deshalb waren wir bereits in der vergangenen Legislaturperiode für die längere Zahlung des Arbeitslosengeldes, deshalb auch der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung. Deshalb begrüßen wir von den Liberalen es, daß es nach langen Bemühungen demnächst gelingen wird, die Mischnick-Vorstellungen zu realisieren, wonach die Länge der Leistungsgewährung von der Dauer der Beitragszahlung abhängig gemacht wird.Ich möchte Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, daß nach den Koalitionsvereinbarungen bei finanziellen Spielräumen der Bundesanstalt für Arbeit Beitragssenkungen vor Leistungsverbesserungen gehen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 657
Dr. ThomaeHerr Hoss, die Beitragssenkungen sind möglich, weil wir neue Arbeitsplätze geschaffen haben. Das waren 600 000.
Außerdem müssen Sie feststellen, daß die Dauer der Jugendarbeitslosigkeit und die Arbeitslosigkeit der älteren Bürger dank der soliden Politik dieser Regierung abgenommen haben.Der Gesetzentwurf der SPD ist unseriös. Die SPD glaubt wieder einmal, als Oppositionspartei tief in die große Wundertüte greifen und soziale Wohltaten ausschütten zu können.
Für die Folgen hätten Sie ja nicht aufzukommen.
Der SPD-Vorschlag würde in kurzer Zeit die Bundesanstalt wieder in rote Zahlen bringen.
Der von der SPD gemachte Vorschlag würde 5 Milliarden DM kosten. Weitere 5 Milliarden DM würde die Verwirklichung der SPD-Forderung kosten, daß die Bundesanstalt für Arbeit für ihre Leistungsbezieher wieder volle Rentenversicherungsbeiträge zahlen soll, also summa summarum 10 Milliarden DM. Dieser Vorschlag ist unseriös und auch nicht finanzierbar.Meine Damen und Herren, die Tarifpartner tragen selbst eine sehr hohe Mitverantwortung für Wohlstand und Arbeit. Es darf nicht vergessen werden, daß die Tarifpartner den Preis für die Arbeit gemeinsam bestimmen und damit einen entscheidenden Einfluß auf die Beschäftigung haben. Daß vor zwei Wochen ein Arbeitskampf in der Metallindustrie vermieden worden ist, haben wir mit Erleichterung aufgenommen. Die zusätzlichen Beschäftigungskosten können von großen Firmen verkraftet werden und durch Rationalisierungsmaßnahmen aufgefangen werden. Oh dies den kleineren Betrieben gelingt, ist eine andere Frage.
Mir scheint, daß die Verhandlungspartner auf der Arbeitgeberseite mehr an die Großindustrie gedacht haben als an den Mittelstand.
Dabei ist es gerade den vielen kleinen Betrieben im letzten Jahr gelungen, neue Arbeitsplätze zu schaffen.Mittelstandsfeindlich ist bekanntlich die SPD. Wie sonst könnte sie die Streichung des Überbrückungsgeldes fordern, mit dem wir die Gründung einer selbständigen Existenz erleichtern wollen? Wir Liberale wollen diese Maßnahmen von drei auf maximal sechs Monate verlängern. Es ist besser, jemandem den Schritt in die Selbständigkeit zu erleichtern, als ihn weiter arbeitslos zu lassen.
Darüber hinaus schaffen diese Selbständigen auch zusätzliche Arbeitsplätze.Arbeitsmarktpolitik bedarf einer hohen Phantasie und Flexibilität aller Beteiligten. Erstens. Die Arbeitnehmer müssen mobiler und in stärkerem Maße zur Umschulung bereit sein. Zweitens. Die Gewerkschaften müssen endlich akzeptieren, daß sich betriebliche Arbeitszeiten nicht nach Einheitstarifverträgen richten können.
Drittens. Die Arbeitgeber müssen endlich die Teilzeitarbeit fördern. Viertens. Wir brauchen endlich neue Berufsbilder für einfachere Tätigkeiten.
Letzter Punkt — darauf wird die FDP verstärkt Gewicht legen — : Wir brauchen endlich eine betriebliche und überbetriebliche Fortbildung, die verstärkt in die Tarifverträge einbezogen wird.Hier liegt eine außerordentlich wichtige Aufgabe für die Arbeitgeber und für die Gewerkschaften. Nur wenn sie gemeinsam mit der Bundesregierung die Qualifizierungsoffensive fördern, kann die Beschäftigungsoffensive erfolgreich sein. Nur so können wir Schritt für Schritt in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit weiterkommen, was die FDP als oberste Priorität ansieht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Rede des Bundesarbeitsministers habe ich mich gefragt, was denn schlimmer sei: eine Hand in der Tasche oder ein Brett vor dem Kopf?
— Es kommt noch.
— Sie sind von Brettern geradezu umzingelt, Herr Kollege Feilcke. Sie brauchen da überhaupt nichts zu sagen.Der Bundesarbeitsminister hat mit der Bemerkung begonnen, die Bundesregierung habe sich bislang an alles gehalten, was man versprochen habe.
Herr Bundesarbeitsminister, ich darf Sie an die verschiedenen Erklärungen der Bundesregierung zum Problem der Massenarbeitslosigkeit in der Vergangenheit erinnern. Ich darf aus der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 zitieren. Damals hatte Kohl im Deutschen Bundestag gesagt:Aufgabe Nummer eins ist die Beseitigung derMassenarbeitslosigkeit. Hier geht es für uns nicht658 Deutscher Bundestag — 11, Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987Schreinernur um ein wirtschaftliches Problem, sondern vor allem um ein Gebot der Mitmenschlichkeit.
Bundesarbeitsminister Blüm hatte in der „Bild" -Zeitung am 8. Juni 1983 folgende Überschrift produziert:Blüm: „1 Million Arbeitslose weniger — so geht's."Ihr Kollege Geißler hatte in derselben Zeitung — das scheint Ihr Leib- und Magenblatt zu sein — am 3. Mai 1983 folgende Überschrift produziert:Geißler: „In zwei Jahren 1 Million Arbeitslose weniger. "Das waren die Absichtserklärungen, die Versprechungen der Bundesregierung in den 80er Jahren, nachdem Sie die Macht in diesem Lande übernommen hatten.
Von diesen Versprechungen ist überhaupt nichts eingelöst worden.
Ganz im Gegenteil:
In der jüngsten Regierungserklärung ist innerhalb von zweieinhalb Stunden, in denen sich der Bundeskanzler hier produziert hat, über das Problem der Massenarbeitslosigkeit so gut wie kein Satz gesprochen worden.
Einige wenige Platitüden, die von Ihnen hätten übernommen sein können: die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern, in die Zukunft blicken. Das war es dann schon.Das legt den Schluß nahe, Herr Arbeitsminister, daß sich die Bundesregierung mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht mehr beschäftigen will, daß die Bundesregierung auf gesellschaftliche Gewöhnungseffekte, auf gesellschaftliche Verdrängungsprozesse spekuliert, mit einem hohen Sockel von Millionen arbeitslosen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu leben: weit über 2 Millionen, stille Reserve über 1 Million, insgesamt 3 Millionen.Mir steht es nicht zu, Ihnen Ihre Wahlergebnisse zu neiden. Sie mögen Ihre Wahlergebnisse interpretieren, wie Sie wollen, aber eines ist gewiß:
Angesichts der historischen Erfahrung in Deutschland tragen Sie vor dem Hintergrund von über drei Millionen arbeitslosen Mitbürgerinnen und Mitbürgern
ein hohes Maß an Verantwortung. Dieses hohe Maß an Verantwortung könnte irgendwann einmal in ein hohes Maß an Schuld umkippen. Wir brauchen Sie nicht daran zu erinnern, daß, wenn die Entwicklungso weitergeht, wenn die Bundesregierung so tut, als gäbe es diese Probleme nicht, wenn die Bundesregierung die Massenarbeitslosigkeit nicht mehr zur Kenntnis nimmt, wir strukturell einer Situation entgegensteuern können, die mit der Ausgangslage in den 30er Jahren im Deutschen Reich vergleichbar sein kann.
— Das ist kein völliger Quatsch. Ich prophezeie Ihnen eines: Der zweite deutsche Demokratieversuch wird in schwere Wasser geraten, wenn das Problem Massenarbeitslosigkeit für die Regierung nicht stattfindet.
Ich prophezeie Ihnen keine Wiederholung der 30er Jahre, aber ich sage Ihnen, daß sich die Arbeitslosen das nicht auf Dauer bieten lassen werden.
Ich sage Ihnen dazu, daß die arbeitslosen Mitbürgerinnen und Mitbürger an dieser Demokratie verzweifeln, wenn wir als Land nicht in der Lage sind, denen, die arbeiten wollen, auch wirklich die Möglichkeit zu geben, selbständig auf die eigenen Füße zu kommen.
— Ich habe in der Tat bei Ihren Reden den Eindruck gehabt, Sie reden von einem anderen Land. Ich komme darauf zurück.Ihr Gesetzentwurf ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Kollege Hoss hat einiges über die Genesis der letzten Jahre referiert. Ich will mir das ersparen.
Ich will Ihnen aber zwei Bemerkungen nicht ersparen. Erstens. Das Motiv für Ihren Gesetzentwurf ist nicht das Kümmern um die materielle Not von Arbeitslosen, sondern das Motiv ist ausschließlich finanzpolitisches Geschiebe, Entlastung des Bundes und zusätzliche Belastung der Bundesanstalt für Arbeit. Das ist das tragende Motiv Ihres Gesetzentwurfes. Als Abfallprodukt kommt dabei eine tendenzielle Verbesserung der Situation einiger Arbeitsloser herüber.
Zweite Bemerkung. Ein Herr von der FDP hat eben hier berichtet, die SPD wolle soziale Wohltaten ausschütten. Ich will Ihnen einmal sagen, lieber Herr von der FDP,
wenn Sie uns beschuldigen, mit Blick auf die materielle Situation der Arbeitslosen soziale Wohltatenausschütten zu wollen: Fragen Sie sich doch erst ein-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 659
Schreinermal, aus welchem Grund eigentlich die FDP an die Reichsten der Reichen dieser Republik fortgesetzt soziale Wohltaten ausschüttet, zuletzt noch in Form der Absenkung des Spitzensteuersatzes!
Ich zitiere — ich hoffe, Sie gehen sonntags in die Kirche — einen Kirchenmann vom 21. April 1987.
— Ja, das vermute ich in der Tat; denn Sie sind die klassische Verkörperung des Pharisäertums.
Wenn derjenige, der damals den Tempel von den Pharisäern und Falschmünzern leergfegt hat, hier wäre, wäre Ihre Fraktion die erste, die draußen vor der Tür wäre.
Zitat aus der „Frankfurter Neuen Presse" vom 21. April 1987.
— Herr Präsident, die sind fortgesetzt so laut, daß ich hier kaum noch zur Rede komme.
Könnten Sie dieses Brüllorchester hier vorne etwas mäßigen?
Lieber Herr Kollege Schreiner, es gibt auch beim Reden Ursache und Wirkung.
Die Frage ist, welche Reihenfolge.
— Sie sind ein Kollege Quatschkopf! Aber wirklich, das ist unglaublich.
Herr Kollege Schreiner, das geht nicht. Nun lassen Sie sich einmal unterbrechen. Dies ist eine Sache, die ich hier so nicht gelten lasse. Es ist unparlamentarisch, was Sie gemacht haben.
Meinen Sie den Kollegen Feilcke?
Herr Kollege Schreiner, das, was Sie zu einem anderen Kollegen gesagt haben, war unparlamentarisch. Ich finde das nicht in
Ordnung. Sie sollten das aus Ihrem Wortschatz streichen.
Also, Herr Präsident, ich bemühe mich um viel guten Willen.
Ich zitiere nun wirklich die „Frankfurter Neue Presse" vom 21. April 1987:
Die Evangelische Kirche schätzt die Zahl der Menschen in der Bundesrepublik, die nicht genug Geld haben, um menschenwürdig leben zu können, auf rund drei Millionen. Der Präsident des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche, Pfarrer Neukamm, forderte deshalb am Oster-Wochenende eine deutliche Erhöhung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe. „Es geht nicht an, daß die Bundesanstalt für Arbeit Milliardenüberschüsse macht und Hunderttausende von Langzeitarbeitslosen und jungen Arbeitslosen in Armut, in bitterer Armut leben", sagte Neukamm.
Wenn man vor dem Hintergrund derjenigen, die, wie hier geschildert, in der Tat in bitterer Armut leben, von sozialen Wohltaten redet, und das von einer Partei, die, was Wohltaten anbelangt, überhaupt keine andere gesellschaftliche Gruppe in ihr Blickfeld geraten läßt als diejenigen, die es nun wirklich am wenigsten nötig haben,
dann ist das ein derartiger Zynismus denen gegenüber, die nicht wissen, wie sie ihren Kindern die Butter aufs Brot bringen sollen, daß Sie sich schämen sollten, wenn Sie einen Rest von Anstand im Leib hätten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
Wenn mir das nicht angerechnet wird, gerne.
Herr Kollege Schreiner, haben Sie einmal zur Kenntnis genommen, daß das Bemühen um Steuersenkungen aus unserer Sicht insbesondere für die mittleren und kleinen Unternehmen aktive Beschäftigungspolitik ist? Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß die Ursache für die vielen Pleiten und damit für die hohe Arbeitslosigkeit mangelndes Eigenkapital, zu hohe Steuerzahlungen sind? Ist Ihnen das bewußt?
Herr Cronenberg, ich habe in den vergangenen Monaten anläßlich einer Reihe von Gesprächen mit Vertretern des Mittelstandes immer wieder hören müssen, daß die Steuerpolitik der Bundesregierung am allergeringsten geeignet ist, die Pro-
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660 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Schreinerbleme der kleinen und mittelständischen Betriebe zu lösen
— das ist fortgesetzt gesagt worden —, daß Sie, wenn man die Entwicklungen der vergangenen Jahre präzise beobachtet, ganz im Gegenteil eine gewaltige Umverteilung innerhalb der Unternehmerschaft erreicht haben, nämlich hin zu den Kassen, die eh schon gefüllt sind. Gucken Sie sich die Gewinnsituation bei einer Reihe von deutschen Großunternehmungen an, gucken Sie sich die Verfünffachung der Transferierung deutschen Besitzes ins Ausland an, gucken Sie sich die massenhafte Form von Aufkäufen auswärtiger Firmen durch deutsche Großunternehmungen an! Das sind doch nicht Meine Bäcker, kleine Handwerker, kleine Metzger und kleine Schuster, die in den USA Firmen aufkaufen. Das ist ein Produkt Ihrer Politik, im übrigen mit negativen zusätzlichen Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt.
Jetzt reicht es; ich wollte zum Ende kommen.
Ich wollte einen Punkt noch besonders herausstellen, der, wie ich denke, es wert ist, daß man einige Sätze dazu sagt, weil der Bundesarbeitsminister in seiner ideologischen Blindheit soeben hier darauf hinwies, daß es ja wohl angemessen sei, daß jemand, der längere Zeit Beiträge zahlt, auch für längere Zeit in den Genuß von Lohnersatzleistungen kommt. Sie biegen sich Ihre Argumente so zusammen, wie Sie sie gerade brauchen. Wenn dieses Argument im Grundsatz richtig wäre, gäbe es überhaupt keinen Grund, die Junggesellen anders zu behandeln als die Verheirateten, bei gleicher Beitragszahlung und bei gleicher Beitragslänge. Genau das haben Sie gemacht. Das heißt: Sie machen immer das hier vorne, was Ihnen gerade in den Kram paßt.
— Es ist nicht falsch. Der Bundesarbeitsminister begründet den Ausschluß von Hunderttausenden von arbeitslosen Jugendlichen aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung damit, daß er sagt: Es ist wohl angemessen, längere Beitragszahlungen auch mit einem längeren Inanspruchnehmen von Lohnersatzleistungen zu honorieren.Jetzt will ich einige Bemerkungen zur Situation der jugendlichen Arbeitslosen machen.
Herr Kollege, das wird nicht mehr gelingen.
Ich komme zum Schluß. Ich finde es bemerkenswert, daß Sie es zum Anlaß eines allgemeinen Gegrinses nehmen, wenn man Ihnen mitteilt,
daß im Jahre 1987 über 250 000 junge Menschen in der Sozialhilfe sitzen,
: Ihr habt sie aus der
Krankenversicherung geschmissen!)
daß im Jahre 1987 in wachsendem Maße arbeitslose Jugendliche überhaupt keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosenunterstützung haben, daß im Jahre 1987 in wachsendem Maße junge Leute ganz vom Arbeitsmarkt abgekoppelt werden, daß im Jahre 1987 die jugendlichen Arbeitlosen, die noch einen Anspruch haben, ein Durchschnittsgeld von 500 DM im Monat haben. Das reicht nicht zum Leben, und zum Sterben ist es ein bißchen zuviel.
Wer angesichts dieses Hintergrundes von sozialen Wohltaten redet, hier albern rumfeixt, rumgrinst, aber keinen Satz zu der Notlage dieser jungen Leute sagt,
der hat auch kein Recht, diejenigen öffentlich zu beschimpfen, —
Herr Abgeordneter!
— die mit diesem Staat nichts Rechtes mehr anfangen können.
Herzlichen Dank.
Herr Abgeordneter, das war Ihr Schlußsatz. — Herr Kollege Schreiner, ich muß doch noch eine Bemerkung zu dem Anfang Ihrer Rede machen. Die Sache mit dem Brett vor dem Kopf fand ich auch nicht sehr parlamentarisch. Allerdings würde ich gern hinzufügen, daß eine große deutsche Schriftstellerin, Marie von Ebner-Eschenbach, zu dem Thema gesagt hat: „Jeder Mensch hat sein Brett vor dem Kopf. Es kommt allerdings auf die Entfernung an."
Das Wort hat der Abgeordnete Scharrenbroich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schreier —
— Verzeihen Sie vielmals, Herr Schreiner, ich will mich nicht auf Ihr Niveau begeben. — Ich finde es empörend, wie Sie sich z. B. mit jungen Leuten gleichsetzen. Wenn hier über Sie gegrinst worden ist, dann hat das nichts mit den jungen Leuten zu tun. Und wenn Sie sich über das Thema Massenarbeitslosigkeit auslassen, dann bitte ich doch, sich daran zu erinnern, daß die Arbeitslosigkeit in der Zeit, als Ihre Partei die Regierung stellte, im Jahre 1981 in einem Jahr um 41 % und im Jahre 1982 um 42 % gesteigert wurde. Sie sollten sich an Ihre Geschichte erinnern.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 661
ScharrenbroichDie Melodie des heutigen Tages heißt: Versprechen vor der Wahl werden prompt eingelöst. Ich singe jetzt praktisch die zweite Stimme dazu, Herr Minister.
Wir danken der Bundesregierung, insbesondere dem Bundesarbeitsminister Blüm, daß er dafür gesorgt hat,
daß dieses Gesetz bereits zum 1. Juli in Kraft treten kann.
Ich sage auch ganz offen — ich halte das auch für guten demokratischen Stil — : Ich danke auch der SPD, daß sie zu erkennen gegeben hat, daß sie im Bundestagsausschuß für Arbeit und Sozialordnung die Voraussetzungen dafür schaffen will, daß dieses wichtige Gesetz pünktlich in Kraft treten kann. Herzlichen Dank!
— Ach, Herr Dreßler, jetzt setzen Sie doch nicht die Schreierei Ihres Kollegen fort.
— Ach, das ist Ihnen gerade noch eingefallen; danke schön für den Hinweis.Ich meine aber trotzdem, klarmachen zu müssen, daß wir dem Entwurf der SPD nicht zustimmen können. Ich habe Verständnis dafür, daß ihr nichts anderes übriggeblieben ist, als vor der hessischen Landtagswahl einen Entwurf einzubringen, der allen alles bietet, aber der den großen Nachteil hat, daß er nicht zu finanzieren ist. Wir dürfen nicht noch einmal in den Fehler zurückverfallen, daß die Finanzen der Bundesanstalt für Arbeit kaputtgehen und daß die Beitragszahler, die Steuerzahler und die Arbeitslosen diejenigen sind, die das austragen müssen. Das werden wir verhindern. Deswegen bitte ich um Verständnis, daß wir dem SPD-Gesetzentwurf nicht nahetreten können.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Bundesregierung aus drei Gründen zu: erstens, weil er sozial treffsicher ist, zweitens, weil er ökonomisch sinnvoll ist und drittens, weil er solide finanziert ist.Sozial treffsicher: Natürlich möchten wir die Leistungen für alle Arbeitslosen gerne anheben, aber wir stehen vor der Alternative: Was machen wir mit dem Geld? Da halte ich es für richtiger, daß man für diejenigen, die längere Zeit arbeitslos sind — im Schnitt mehr als zwölf Monate — , die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlängert. Das ist die Alternative. Wir mußten uns entscheiden, und das haben wir gemacht.Aber wir lassen auch die jugendlichen Arbeitslosen nicht alleine. Deswegen haben wir jetzt wieder das Verhältnis zwischen Beitragszahlung und dem Bezug von Arbeitslosengeld von 3 zu 1 auf 2 zu 1 verändert. Wer jetzt ein Jahr Beitrag gezahlt hat, der bekommt also demnächst wieder maximal sechs Monate Arbeitslosengeld.Herr Hoss, ich muß das, was Sie gesagt haben, noch einmal korrigieren. Wir reden hier nicht davon, daß die 42jährigen Ältere sind, aber wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, daß bereits 42jährige schwerer vermittelbar sind, weil bei ihnen ein längerer zeitlicher Abstand zur Ausbildung besteht; sehr wahrscheinlich liegt es daran. Die Zahlen belegen, daß sie erheblich schwerer vermittelbar sind. Deswegen meine ich doch, daß es richtig ist, daß wir auch bereits den 42jährigen helfen. Sie wollen das doch wohl hoffentlich nicht abstreiten.Wir werden durch diesen Gesetzentwurf das Kurzarbeitergeld für Stahlarbeiter erneut auf 36 Monate verlängern. Jetzt kommen Sie mir bitte nicht daher und sagen: Ist das das einzige, was Sie für die Stahlarbeiter machen? Wir haben die große Stahldiskussion bereits hier im Bundestag geführt. Wir können in einem Gesetz nicht alles gleichzeitig regeln, aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß es Arbeitslose gibt, und davor verschließen wir die Augen nicht. Deswegen helfen wir ihnen.Wenn ich sage, das Gesetz ist ökonomisch sinnvoll, dann mache ich darauf aufmerksam, daß durch die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes viel weniger Menschen in die Arbeitslosenhilfe und dann in die Sozialhilfe kommen und daß dadurch die Gemeinden entlastet werden. Das ist doch auch ökonomisch wichtig; denn gerade die kommunalen Investitionen sind die wichtigsten öffentlichen Investitionen zur Anhebung der Beschäftigung.
Ich möchte das noch einmal zurückweisen, Herr Heyenn: Wir machen diesen Gesetzentwurf nicht, um das Trümmerfrauenmodell zu finanzieren — das erleichtert uns die Sache zwar —, sondern wir machen das Gesetz um der Menschen willen.Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfassen. Wir müssen diesen vorsichtigen, sozial richtigen und ökonomisch richtigen Weg gehen, damit das Arbeitsförderungsgesetz in seiner Grundidee, die darin besteht, den Arbeitslosen zu helfen und der produktiven Arbeitsmarktpolitik zu dienen, nicht wieder kaputtgemacht wird. Denn das war doch das Schlimme: In der Zeit, als die Automationswelle auf die Arbeitnehmer zuraste, war das Arbeitsförderungsgesetz nicht mehr in der Lage — weil Sie es haushaltspolitisch kaputtgefahren haben — , die Arbeitslosen auf die neuen Erfordernisse vorzubereiten. Deswegen bedanken wir uns bei der Bundesregierung für diesen Gesetzentwurf und werden ihn kräftig unterstützen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
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662 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Vizepräsident WestphalDer Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 11/132 und 11/198 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, den Gesetzentwurf auf 11/132 zusätzlich an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zur Mitberatung zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die sechzehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz
— Drucksachen 11/150, 11/199 —Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Die Regierung will den Gesetzentwurf begründen. Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch dieser dritte Gesetzentwurf steht in der Linie der Verläßlichkeit der Regierungsparteien und der Bundesregierung.Die Kriegsopfer werden, wie die Rentner, an der Entwicklung der verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer teilnehmen. Das ist die Zusage der Regierungserklärung. Wir lösen sie heute mit diesem 16. Anpassungsgesetz der Kriegsopferversorgung ein.Um 3 % — genau 3,03 % — sollen die Renten der Kriegsopfer, der Wehrdienstopfer und der Opfer von Gewalttaten zum 1. Juli 1987 erhöht werden. Damit bleiben Kriegsopfer wie Rentner im Anpassungsverbund. Damit bleiben Kriegsopfer wie Rentner an die Lohnentwicklung der Arbeitnehmer gekoppelt. Es ist aus meiner Sicht eine wichtige sozialpolitische Errungenschaft, daß Rentner und Kriegsopfer in eine Automatik eingebunden sind, daß sie nicht bittstellend an den Gesetzgeber herantreten müssen, sondern daß sie im Verbund mit der Lohnentwicklung, mit der Einkommensverbesserung der Arbeitnehmer bleiben.Die Rentenanpassung wie die Kriegsopferanpassung folgen den Löhnen des Vorjahres. Keine Lohnerhöhung geht also — auch dies an die älteren Mitbürger und an die Kriegsopfer als nochmalige Information — an den Kriegsopfern vorbei; mit einjährigem Abstand — anders geht es aus technischen Gründen nicht — folgen die Renten wie die Kriegsopferversorgung der Lohnentwicklung. Früher waren es einmal drei Jahre Abstand. Wir haben den Abstand verkürzt, um den Zusammenhang zwischen aktiv Beschäftigten und Rentnern und Kriegsopfern und damit auch die Solidaritätsverpflichtung deutlicher zu machen.Ich glaube, die Bedeutung dieser 3 % Rentenanpassung und Kriegsopferversorgungsverbesserung wird zu kurz geachtet, wenn man sie nicht ins Verhältniszur Preisentwicklung setzt. Erst die Preisstabilität macht diese 3 % besonders wertvoll. Was haben denn Rentner und Kriegsopfer von Schmidtschen Rentenerhöhungen, von 4 % gehabt — man ist versucht, zunächst einmal hurra zu rufen — , wenn die Preise in der gleichen Zeit um 6,3 % stiegen?
Es kommt doch nicht darauf an, was du im Geldbeutel hast, sondern es kommt darauf an, was du damit kaufen kannst! 3 % bei Preisstabilität, das ist eine ehrliche Sozialpolitik, das ist eine Sozialpolitik, die den Menschen nicht mehr verspricht, als sie halten kann. Inflation ist immer ein Betrug, besonders an den kleinen Leuten.
Angesichts der Preisstabilität haben die Rentnerhaushalte im vergangenen Jahr den höchsten realen Einkommenszuwachs seit 1978 gehabt. Das sind die Früchte auch der Stabilitätspolitik der Bundesregierung.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen ganz aktuellen Bezug machen: Glaubt jemand, die IG Metall oder die IG Druck hätte bei Inflation einen dreijährigen Tarifvertrag abschließen können? Die Stabilität ist überhaupt erst die Voraussetzung, daß man langfristige, kalkulierbare Einkommenspolitik betreiben kann. Sehen Sie: Das Vertrauen der IG Metall in die Stabilitätspolitik der Bundesregierung ist größer als das der Opposition.
Hätte sie nicht das Vertrauen, daß wir diesen Stabilitätskurs halten, sie würde ihre Mitglieder um den Erfolg des Tarifabschlusses bringen.
— Das weiß ich so gut, weil ich meine Kollegen in der IG Metall für so vernünftig halte, daß sie einen dreijährigen Tarifabschluß nur machen können bei einer Politik der Preisstabilität. Das ist die beste Hilfe, auch für die Tarifpartner.
Eine Politik der Solidität kommt gerade den 1,6 Millionen Kriegsopfern zugute. Unsere Kriegsopferversorgung hat sich seit ihren Anfängen zu einem differenzierten, umfangreichen Leistungssystem entwikkelt. Daran haben mehrere Regierungen, auch Ihre, mitgearbeitet, der Weiterentwicklung unserer Kriegsopferversorgung zu dienen. Den Kriegsopfern kann in den unterschiedlichsten Lebenslagen ja auch nur durch ein differenziertes System geholfen werden. Kein Leistungssystem ist vollkommen.
— Ich bin kein Leistungssystem!
Deshalb wird es auch in Zukunft eine strukturelleVerbesserung der Kriegsopferversorgung geben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 663
Bundesminister Dr. BlümDie Regierungsparteien haben sich im Rahmen ihrer Koalitionsvereinbarungen darauf festgelegt — jetzt zitiere ich — , „das Leistungssystem in der Kriegsopferversorgung durch strukturelle Verbesserungen weiterzuentwickeln, um ein sozial ausgewogenes Versorgungsniveau zu erreichen" . Der Bundeskanzler hat dies in der Regierungserklärung angekündigt. Wir sehen dies für die Mitte der Legislaturperiode vor.Ich will aber aus Anlaß der Verabschiedung dieses Anpassungsgesetzes darauf aufmerksam machen, daß gerade in diesem Jahr doch eine Reihe von Verbesserungen, auch strukturellen Verbesserungen, für die Kriegsopferversorgung in Kraft treten. Fast 200 000 Berechtigte profitieren von der Erhöhung des Berufsschadensausgleichs und des Schadensausgleichs. Bis zu 159 DM im Monat erhält der einzelne Versorgungsberechtigte zusätzlich. Für Beschädigte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 % und 60 % ist die Ausgleichsrente spürbar angehoben worden. Das macht für den einzelnen Betroffenen eine Einkommensverbesserung von bis zu 143 DM monatlich aus. Die materiellen Hilfen bei der orthopädischen Versorgung werden verbessert, und zwar ist das eine Verbesserung jüngsten Datums: 1987. 100 000 Kriegsopfer erhalten für ihre orthopädische Versorgung bessere materielle Hilfen.Die Kriegsopfer haben — das soll nie vergessen werden — Anspruch auf Anerkennung, Solidarität der Generationen.
— Ja, das haben sie, denn sie haben viel geleistet. Das ist auch eine Generation, der wir den Wiederaufbau mitverdanken. Mit weniger Wehleidigkeit als heute in leichteren Zeiten haben sie 1949 dieses Land wieder aufgebaut.
— Wenn ich manchmal, Frau Kollegin Unruh, die Darstellung unserer Gesellschaft im Jahre 1987 höre, dann erinnere ich einmal an das, was die Kriegsopfergeneration nach 1945 geleistet hat mit weniger Selbstmitleid, mit weniger Selbstbedauern. Es gab Millionen Flüchtlinge, Heimatvertriebene, Kriegsgefangene mit zerstörter Gesundheit, zerstörte Städte, zerbombte Fabrikhallen. Da ist nicht gejammert worden, da ist nicht bei Karl Marx nachgelesen worden,
da ist auch nicht bei den GRÜNEN Zuflucht genommen worden; die gab es damals Gott sei Dank noch nicht. Da hat man sich an die Arbeit gemacht durch Zusammenarbeit. Das bleibt auch unser Erfolgsgeheimnis. Jammern bringt die Welt nicht weiter.
Praktische Hilfe, das ist das, was von der Politik gefordert wird.Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auch den Kriegsopferverbänden zu danken. Das ist sozialstaatlicher Dienst, was sie tun: hunderttausende vonehrenamtlichen Helfern, die tagtäglich Dienst leisten
für ihre Nachbarn, für ihre Nächsten. Sie entlasten den Sozialstaat auch von vielen bürokratischen Anstrengungen. Deshalb gilt es auch aus Anlaß dieser Gesetzgebung, den Verbänden, ihren Mitgliedern, ihren Mitstreitern, ihren Mitarbeitern Dank zu sagen.
Nun eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies war wieder einmal ein typischer Blümscher Blumenstrauß, aber, Herr Minister, es waren leider Kunstblumen. Wenn man Sie so reden hört, Herr Minister, könnte man eigentlich das Anpassungsgesetz gleich in zweiter und dritter Lesung beschließen, denn anscheinend ist ja alles in bester Ordnung: Die Kriegsopfer werden nicht älter, ihre Beschwerden und die ihrer Pflegepersonen nehmen nicht schädigungsfolgenbedingt zu.Sie, Herr Minister, nehmen nicht zur Kenntnis, was der Bundesrat beispielsweise an Strukturverbesserungen gefordert hat.
— Ja, zur Kenntnis schon, aber Sie ziehen daraus nicht die notwendigen Konsequenzen. Dabei sind das doch auch CDU/CSU-regierte Bundesländer gewesen. Sie nehmen genauso wenig das zur Kenntnis — bzw. nehmen es zur Kenntnis, ziehen aber nicht die Konsequenzen — , worauf der Präsident des VdK, Herr Weishäupl — und da genügt es eben nicht, wenn man nur den Dank ausspricht, dem wir uns anschließen — , zu Recht hinweist, nämlich daß das Durchschnittsalter der Kriegsbeschädigten 68 Jahre und das der Witwen 74 Jahre beträgt. Diese Menschen erwarten nach Ihren Vorwahlkampfversprechungen mehr als nur warme Worte, Herr Minister!Zwar ist die Anpassung der Versorgungsbezüge nach dem Bundesversorgungsgesetz um 3,03 % zum 1. Juli 1987 grundsätzlich zu begrüßen, denn die nach dem Bundesversorgungsgesetz Versorgungsberechtigten haben sie wirklich nötig; aber Sie tun nicht mehr als das, wozu Sie letzten Endes verpflichtet sind.Empörend ist, daß sich die Bundesregierung mit ihrer Gesetzesvorlage rigoros über die teils schon seit Jahren von den Kriegsopfern und ihren Verbänden erhobenen Forderungen nach dringend notwendigen strukturellen Leistungsverbesserungen hinwegsetzt und keine dieser Forderungen aufgreift, und dies, obwohl eindeutige anderslautende Versprechungen und Zusagen vorausgegangen sind. Insoweit ist, so meinen wir, der Gesetzentwurf völlig unzureichend. Er muß in den weiteren Beratungen verbessert werden.
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664 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
KirschnerDie vorgesehene Anpassung der Versorgungsbezüge nach dem Bundesversorgungsgesetz rechtfertigt keineswegs die selbstgefälligen Töne und den regierungsamtlichen Optimismus, den der Bundesarbeitsminister auch heute hier wieder mit dicken Rauchwolken in punkto Preisstabilität
und in punkto Abschluß der jüngsten Tarifverträge — für die Sie ja übrigens nichts können — von sich gegeben hat.
— Natürlich darf man das erwähnen, aber Sie wissen genau, daß die lange Dauer der Tarifverträge ja vor allem mit anderen Dingen etwas zu tun hat, nicht nur mit Preisstabilität. Sie können auch keine Garantie dafür geben, daß die Preisstabilität in zwei oder drei Jahren noch so ist, wie sie heute ist.Im übrigen, Herr Minister, tun Sie doch nicht so, als ob die Höhe des Dollar und die Ölpreise letzten Endes im Bundeskanzleramt festgesetzt würden. Die werden an ganz anderen Märkten auf dieser Erde festgesetzt!
Sie haben in dieser Woche sicher auch den „Spiegel" gelesen. Da können Sie einmal schön nachlesen, wie die Rohstoffpreise in den letzten 12 Monaten gefallen sind. Das alles sind Dinge, auf die Sie keinen Einfluß haben, bei denen Sie aber so tun, als ob die Entwicklung letzten Endes Ihr Verdienst wäre.Ich meine, dies alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kriegsopferrenten — trotz aller Preisstabilität — 1986 real 0,3 To niedriger waren als 1982, im Jahr der „Wende" . Erst jetzt, im fünften Jahr Ihrer Regierungszeit, wird ein spürbarer Einkommenszuwachs zu verzeichnen sein.Bei der Beurteilung der Anpassung übersehen Sie, Herr Bundesarbeitsminister, auch geflissentlich, daß die mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 unter Ihrer Federführung auf Dauer vorgenommene Verschiebung des Anpassungstermins vom 1. Januar auf den 1. Juli eines jeden Jahres auch in das Jahr 1987 fortwirkt und das Niveau der Versorgungsleistungen vermindert.
— Das haben wir nicht! Sie wissen genau, daß es 1972 zwei Anpassungen gab.
Dies sollten Sie, Herr Arbeitsminister, nicht verschweigen, wenn Sie die Anpassung der Versorgungsleistungen hier so lobpreisen. Wie gesagt, es ist übrigens auch Ihre Pflicht, daß Sie die Leistungen entsprechend anheben.Im übrigen ist der Anpassungssatz zum 1. Juli 1987 wiederum um einen Abschlag in Höhe des weiteren Eigenanteils der Rentner der Rentenversicherung an ihrem Krankenversicherungsbeitrag reduziert. Damitwird seit Einführung des Krankenversicherungsbeitrages bei den Sozialrenten im Jahre 1983 ein rentenmindernder Gesamtabschlag in Höhe von 5,9 erreicht.Zur Rechtfertigung dieses Anpassungsvorschlages verweisen Sie, Herr Bundesarbeitsminister, immer auf den bestehenden Anpassungsverbund zwischen Sozialversicherungsrenten und Kriegsopferrenten.
Eigentlich könnten wir Ihnen dankbar sein, daß Sie bei solchen Gelegenheiten immer wieder die großen Erfolge sozialdemokratischer Politik für die Kriegsopfer, die Sie ja sonst immer in Abrede stellen, hervorheben. Denn wir waren es, die diesen Anpassungsverbund 1970 geschaffen haben, der sich bewährt hat und den wir auch erhalten wollen. Er war doch erst die Grundlage dafür, daß die Kriegsopfer nicht weiter für die Anpassung ihrer Versorgungsleistungen in Bonn demonstrieren mußten und diese seitdem der Erhöhung der Bruttolöhne und -gehälter folgen.Dieser Dynamisierungsverbund darf sich aber doch nicht derart denaturierend auf den entschädigungsrechtlichen Charakter des Bundesversorgungsgesetzes — und darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen — , zu dessen Grundanliegen die kostenfreie medizinische Rehabilitation zählt, auswirken, daß den Kriegsopfern systemwidrig ein Beitrag zu ihrer medizinischen Versorgung auferlegt wird. Hier können Sie nicht die Begründung aus den Sozialrenten heranziehen. Ich sage deutlich, wir haben uns mit dieser Problematik auch schon im Zusammenhang mit den Beratungen des 14. und des 15. Anpassungsgesetzes in den letzten zwei Jahren auseinandergesetzt. Sie sind unserem Antrag auf volle Anpassung ohne Berücksichtigung eines Abschlages in Höhe des Krankenversicherungsbeitrages bedauerlicherweise nicht gefolgt. Wir meinen, in der Zwischenzeit hat sich an der Berechtigung dieser Forderung nichts geändert, so daß wir uns auch im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf damit wieder mit Ihnen auseinandersetzen werden.Hinsichtlich der strukturellen Weiterentwicklung der Kriegsopferversorgung ist die Gesetzesvorlage ein klarer Beweis dafür, wie weit Reden und Handeln bei der Bundesregierung auseinanderklaffen. Sie weisen zu Recht auf die Regierungserklärung, auf die Koalitionsvereinbarungen hin. Nur, ich meine, schöne Reden bei Jubiläen oder Treffen mit Kriegsopferverbänden sind für diese Bundesregierung eine Sache. Die Umsetzung konkreter Zusagen oder Versprechungen bei der Gesetzgebungsarbeit sind aber offensichtlich wieder eine ganz andere Seite der Medaille.
Da fühlen Sie sich an frühere Aussagen überhaupt nicht mehr gebunden und glauben, sich mir nichts dir nichts aus der Verantwortung stehlen zu können.Obwohl wiederholt die Absicht bekundet wurde, die Kriegsopferversorgung strukturell weiterzuentwickeln, findet sich in dem Gesetzentwurf, bei dem dazu nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 665
KirschnerVerpflichtung bestanden hätte, nichts. Sie haben damit den Versorgungsberechtigten eine bittere Enttäuschung bereitet und damit in Ihren politischen Aussagen an Glaubwürdigkeit verloren.
Oder was, meinen Sie, sollen z. B. die Mitglieder des Reichsbundes der Kriegsopfer, Behinderten, Sozialrentner und Hinterbliebenen, eines der großen Sozialverbände unseres Landes, davon halten, wenn sich der Herr Bundeskanzler gegenüber dem Präsidium dieses Verbandes noch im Dezember letzten Jahres für eine — ich zitiere wortwörtlich — „zielgerichtete Weiterentwicklung des Kriegsopferrechts und die Schließung bestehender Lücken im Versorgungssystem " ausspricht, aber schon bei dem im März dieses Jahres vom Kabinett beschlossenen Gesetzentwurf davon nichts mehr wahr ist? Für mich ist es nicht verwunderlich, wenn auf Grund solcher Erfahrungen das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit politischer Aussagen erschüttert wird.Geradezu zynisch ist es, wenn die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zu der Stellungnahme des Bundesrates, der ja, wie gesagt, strukturelle Verbesserungen in der Kriegsopferversorgung verlangt, lapidar erklärt, daß sie den Änderungsvorschlägen derzeit nicht zustimmen könne und den Gesetzentwurf — das steht wortwörtlich drin — „vor allem wegen der zeitlichen Gegebenheiten für die Beratung und rechtzeitige Verabschiedung als reinen Anpassungsgesetzentwurf vorgelegt habe".Dies ist doch reine Augenwischerei; denn wir wissen alle, daß Sie sich in der Koalition dahin abgesprochen haben, bis 1988 keine Leistungsverbesserungen vorzunehmen. Sagen Sie den Versorgungsberechtigten offen, daß dies nach Ihrem Willen das Aus für deren Hoffnungen auf eine baldige Realisierung ihrer berechtigten Forderungen bedeutet.Wir Sozialdemokraten werden dies nicht mitmachen; darauf können Sie sich für die weiteren Gesetzesberatungen einstellen. Für uns haben die sofortige strukturelle Verbesserung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz und die Erleichterungen der durch die Folgen des Krieges erschwerten Lebensbedingungen der Kriegsopfer besonderes Gewicht. Dieser Zielsetzung entsprechend werden wir konstruktive Anträge in das weitere Gesetzgebungsverfahren im Ausschuß einbringen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zu Beginn eine persönliche Bemerkung. Als neuer Abgeordneter vertrete ich heute die Positionen der FDP
in einem Bereich, in dem ich selber in dem Ausschuß nicht mitberaten konnte. Naturgemäß war ja die Beratung vorher.
Ich möchte auch deutlich machen, daß mir die Begründungen, warum wir in diesem Gesetzentwurf keine wesentlichen strukturellen Verbesserungen einbringen
— keine wesentlichen; ich verweise hier auf die Aussagen von Herrn Minister Blüm —,
nicht leicht fällt.Ich selbst bin als Kriegerwaise groß geworden und kenne sehr wohl die großen Opfer, die dieser Personenkreis für unser Land erbracht hat;
ich weiß, wovon ich rede. Insofern habe ich sehr viel Verständnis für die Forderungen der Kriegsopferverbände nach strukturellen Verbesserungen. In der Tat erfordert die sich ändernde Altersstruktur auch, daß das Leistungsspektrum den sich wandelnden Bedürfnissen adäquat angepaßt wird.In den Koalitionsverhandlungen haben wir auch deshalb festgelegt — ich freue mich außerordentlich, daß Herr Bundesarbeitsminister Blüm das hier auch noch einmal zum Ausdruck gebracht hat — , daß das System der Kriegsopferversorgung weiterentwickelt und verbessert werden muß. Das ist eine klare Aussage, und dazu stehen wir. Nur müßte, so meine ich, der Herr Bundesfinanzminister vielleicht seine vornehme Zurückhaltung in dieser Frage etwas aufgeben. Denn ohne Geld können wir ja bekanntlicherweise in der Sozialpolitik überhaupt nichts ausrichten.Ich möchte in diesem Zusammenhang auch an die Rede des Herrn Bundeskanzlers erinnern, die er beim 10. Ordentlichen Verbandstag vor dem VdK Deutschlands vor etwa einem Jahr gehalten hat. Ich zitiere: „Die Kriegsopferversorgung ist ein Maßstab für das soziale Verantwortungsbewußtsein unserer Gesellschaft. "Hierzu möchte ich die Aussage von Minister Blüm unterstreichen, in der Mitte der Legislaturperiode hier entsprechende strukturelle Veränderungen vornehmen zu wollen. Der Koalitionsbeschluß, die nächsten zwei Jahre keine Leistungsgesetze zu verabschieden, läßt derzeit keinen Spielraum. Ich hoffe aber, wie gesagt, auf die Zeit danach.Verbesserungsvorschläge liegen ja genug auf dem Tisch. Als Beispiele können genannt werden: Anhebung des Berufsschadenausgleichs und Schadenausgleichs für Witwen, Verbesserung der Anspruchsvoraussetzungen für Kuren von Kriegsopfern und deren Hinterbliebenen, Erhöhung der Zulagen für die Begleitung von Blinden, weitere Abkoppelung von der Sozialhilfe und damit verbundene entsprechende Verbesserungen. Ich glaube, das ist ein ganz beson-
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666 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Heinrichders wichtiger Punkt, daß wir hier diese Position in der Zukunft im Auge behalten.Aber das, was wir heute auf den Weg bringen, ist trotz aller Kritik besser als sein Ruf. Mit dem 16. Anpassungsgesetz zur Kriegsopferversorgung wird die bewährte Politik, Kriegsopfer und ihre Angehörigen an der allgemeinen Entwicklung des Lebensstandards teilhaben zu lassen, konsequent fortgesetzt.
Dies ist sachgerecht und notwendig.Durch den Anpassungsverbund mit der Rentenversicherung wird sichergestellt, daß sich Kriegsopfer- und Sozialrenten in dem gleichen Umfang ändern. An diesem sachgerechten System sollten wir auch künftig festhalten. Es führt in diesem Jahr dazu, daß sich die Rente der Kriegsopfer tatsächlich um 3,03 % erhöht. Die Kosten dieses Beschlusses sind Ihnen bekannt. Sie belaufen sich 1987 auf 134 Millionen und 1988 auf 258 Millionen DM.Weiter muß man darauf hinweisen, daß die Leistungen für Kriegsopfer, Kriegsopferversorgung und -fürsorge zu den wesentlichen Positionen im Haushalt des BMA gehören. Etwa ein Fünftel der 60 Milliarden DM fließen in diese Richtung. Diese Zahlen unterstreichen die Bedeutung, die wir den Kriegsopfern auch künftig beimessen.Auch ich gebe zu bedenken, was die 3 To bei unserer derzeitigen Geldwertstabilität bedeuten. Herr Kollege Kirschner von der SPD, ob wir das alles selber erarbeitet haben oder nicht, die Tatsache, daß die 3 bei den Betroffenen ankommen, läßt sich wohl nicht verheimlichen und nicht bestreiten. Wir haben hier einen direkten Zuwachs von 3 % zu verzeichnen. Daß damit natürlich die geringe Inflationsrate besonders diesen Gruppen zugute kommt, ist selbstverständlich. Es ist deshalb die beste Sozialpolitik, auch dafür zu sorgen, daß die Inflationsrate gering ist.Ich sage Ihnen: Für die Freien Demokraten wird es kein Ende der strukturellen Weiterentwicklung geben, sondern wir werden uns für eine Fortentwicklung des sozialen Entschädigungsausgleichs im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten auch künftig verstärkt einsetzen.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Heinrich, Sie haben noch nichts an Ausschußberatungen versäumt. Dies ist die erste Lesung. Die Ausschußberatungen kommen danach. Erst dann verabschieden wir das Gesetz.
Als nächste hat Frau Unruh das Wort.
Daß man eine Mark nur einmal ausgeben kann, ist gerade den alten Menschen bekannt. Deshalb möchte ich das mal von einer ganz anderen Seite her anfassen. Die gestrige Debatte zum Beispiel über den deutschen Standpunkt zur Lage der Weltabrüstungsgespräche hat mir drastisch vorAugen geführt, daß eine bestimmte Gruppe von Menschen in diesem hohen Hause seit dem Kriegsende 1945 überhaupt nichts dazugelernt hat. Es wurde nicht etwa Gott gedankt, daß man Kosten einsparen könnte, daß endlich Amerikaner und Russen bereit sind, sich einander anzunähern. Statt dessen mußte ich hören, daß „wir Deutschen" mal wieder die Größten sein sollen: „Wir Deutschen werden sorgfältig überlegen, ob wir zustimmen."Es wurde mir elend, als ich diesen Machtwahn aus erster Hand gestern hier hören mußte. Wo bleibt denn jetzt die „Gnade der späten Geburt", wenn man heute, mehr als 40 Jahre nach dem letzten, wahnsinnigen Weltkrieg über diese paar Pfennige, diese paar Mark Erhöhung reden muß, wo 40 Jahre danach ein neuer Weltkrieg, wie ihr sagt, verhindert worden ist? Aber bitte schön, der Verteidigungshaushalt umfaßt immer noch 51 Milliarden und an versteckten Ausgaben in anderen Haushaltsbereichen 17 Milliarden DM.Ich persönlich gehöre zu jener Generation. Ich genoß nicht die „Gnade der späten Geburt". Ich war „mittendrin", wie man das so schön nennt. 1939 brach der Krieg aus. Da war ich 14 Jahre alt. Ich muß Ihnen mit Recht sagen, wie schnell junge Menschen reifen, über ihre Zeit hinaus fast kaputtreifen, wenn sie einer Diktatur ausgeliefert sind, unter der einem Menschen von knapp 16 Jahren wie mir mit Befehlsgewalt befohlen wurde, nach einem Vergeltungsbombenangriff die Leichenteile zerfetzter Menschen aufzusammeln. So etwas prägt einen Menschen.Und was muß ich 40 Jahre danach erleben? Daß wir andere tödliche Vernichtungsmittel geschaffen haben, daß wir den Einsatz von Hunderten von Milliarden von Geldern gefahren haben, allerdings nicht, um da irgend etwas gutzumachen. Denken Sie einmal an die ganzen Zwangsarbeiter. Die GRÜNEN haben ja Gott sei Dank noch andere Anträge eingebracht. 40 Jahre danach müssen wir dummes Volk erfahren — ich habe es letztlich auch erst erfahren, als ich mich intensiv damit befaßt habe —, daß Menschen, die ausgebeutet, geknechtet, versklavt worden sind, noch immer Herr Barmherzigkeitsminister Blüm, irgendwo darauf warten, daß dieses Parlament endlich Beschlüsse faßt, die die Würde der Menschen, die heute alt geworden sind, nicht so vernachlässigen, wie das jetzt mit diesen Alten passiert. Denn alle, die heute alt sind, haben diesen letzten Weltkrieg überlebt.
Und jetzt komme ich einmal zu den Kriegsbeschädigtengrundrenten. Wenn sich — jetzt kommt es wieder — die Menschen draußen, die Betroffenen, nicht schon vor vielen Jahren in Verbänden zusammengeschlossen hätten, wäre dieses Parlament sehr wahrscheinlich überhaupt nicht munter geworden. Deshalb sage ich: Die Kriegsopferverbände usw. waren die Bürgerinitiativen, wie wir sie heute, wenn auch anderer Art, kennen.
Es waren Bürgerinitiativen ohne ideologische Fratzen.Denn die Alten wollen keinen Krieg mehr. Und Siehier im Parlament reden immer von Frieden, Frieden,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 667
Frau UnruhFrieden, kommen aber Ihren Verpflichtungen als Staatsminister
letztlich nicht nach. Und was Ihren knickrigen Haushaltsminister angeht: Ich weiß auch nicht, wieso der der „große Klare" aus Schleswig-Holstein sein soll.
In meinen Augen ist er ein Sparminister an der total falschen Stelle in einem sozial verpflichteten Rechtsstaat.
Und nun zu Ihren mickrigen Grundrenten, damit die Menschen überhaupt einmal wissen, was da läuft. Es wird natürlich schön eingeteilt nach Prozenten: Bei 30 % gibt's 131 DM, bei 50 % gibt's 296 DM, bei 100— Blinde und ähnlich behinderte Menschen — gibt's 850 DM. Und jetzt kommt — das hört sich toll an — die Rentenankoppelung. Nur, man sollte einmal wissen, wieviel Millionen Rentner und Rentnerinnen Niedrigstrenten übelster Art bekommen. Das sieht folgendermaßen aus: Sie haben es in diesem Hohen Hause geschafft, daß mir z. B. 1983 ein Rentenspiegel zu Gesicht kam, wonach die kleinen Renten aus der Arbeiter- und Angestelltenversicherung kraft ihrer großen Reserve hier im Hause um 25 % abdynamisiert worden sind, daß also in der Rententüte nach 40 anrechnungsfähigen Rentenjahren eben nicht 1 467 DM — alle Beamten hier und die, die das Protokoll nachlesen, bitte gut zuhören — , sondern nur die gebremsten 1 260 DM waren.
Muß sich dieser Staat nicht schämen, Menschen, die alt geworden sind, so im sauren Regen, wie die GRÜNEN sagen, stehenzulassen, wo Sie doch vor „Barmherzigkeit" nur so triefen?
— Wenn ich vor Quatsch triefe, dann verlassen Sie hier den Saal! Ich bin zwar nicht der Präsident, aber Ihr Ausdruck ist schlimmer als die Tatsache, daß ein Mensch eine Hand in der Hosentasche hat — er ist hier vor dem Hause deswegen öffentlich blamiert worden —,
ein junger Mensch, der lernfähig ist. Sie mit Ihren Betonköpfen sind überhaupt nicht lernfähig.
Und deshalb müssen Sie bald abgelöst werden.
— Ich bin auch nicht primitiv.
Ich bin ein Mensch, ob Sie's wollen oder nicht, vielleicht wie Ihre Ehefrau zu Hause.
— Ich beleidige niemanden.
Ich sorge mit meinen Worten dafür, daß diese Demokratie sehr lebendig werden wird. Ich habe eine Fraktion — sie heißt DIE GRÜNEN — , die Sie wegen der Volkszählung verteufeln. Aber diese im wesentlichen jungen Leute — auch wir haben einen Ältestenrat — tragen nicht die Kriegsverherrlichung, wohl aber die soziale Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft voll mit. Das ist das sehr, sehr Gute, das sehr, sehr Gute.
Davon müssen Sie sehr viel lernen.
Frau Kollegin Unruh — —
Ich komme zum Ende. — Sehr viele von Ihren Köpfen werden verschwinden, und dafür sitzen hier dann Frauenköpfe. Dann geht es anders.
Das Wort hat der Abgeordnete Louven.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Unruh, es lohnt eigentlich nicht, auf Ihre Rede einzugehen.
Aber auf zwei Bemerkungen tue ich es dennoch.Erstens entscheiden nicht Sie darüber, wer hier abgelöst wird.
— Gott sei Dank. — Zweitens sollten Sie zur Kenntnis nehmen, daß uns die Wähler gerade erst bestätigt haben.
Ich versuche, mir vorzustellen, Frau Kollegin, wie wohl die heutige Debatte verlaufen würde, wenn wir nicht den Sparminister Stoltenberg gehabt hätten.
Wahrscheinlich könnten wir dann heute nicht über Erhöhungen von mehr als 3 % für unsere Kriegsopfer reden.
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668 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
LouvenWie im vergangenen Jahr erfahren die Kriegsopfer auch diesmal einen deutlichen realen Einkommenszuwachs.Dieses Gesetz ist in der Tat, Herr Kirschner, ein reines Anpassungsgesetz. Es sieht keine strukturellen Verbesserungen vor. Es steht jedoch die Zusage des Bundeskanzlers, gegeben in der Regierungserklärung vom 18. März, daß ab Mitte dieser Wahlperiode strukturelle Verbesserungen für unsere Kriegsopfer erfolgen müssen.Es sei mir an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, Herr Kirschner, daß gerade zum 1. Januar 1987 strukturelle Verbesserungen von 70 Millionen DM in Kraft getreten sind. Der Herr Minister hat einige Punkte genannt. Es würde mich reizen, Ihnen die gesamte Liste der strukturellen Verbesserungen unserer letzten Legislaturperiode hier einmal vorzutragen.Es bleibt beim bewährten Anpassungsverbund. Wir wollen dies. Ich habe mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß Sie das genauso sehen. Kriegsopferrenten und Sozialrenten entwickeln sich auch künftig im Gleichklang.Die Zunahme von gut 3 % bei einer Inflationsrate von praktisch 0 % ist ein spürbarer Zugewinn für unsere Kriegsopfer. Hier bewahrheitet sich einmal wieder das Wort von Minister Blüm, daß die Politik der Preisstabilität eine Politik für die kleinen Leute ist.
Von daher muß ich mich über die Kritik wundern, die der Reichsbund in seiner Zeitschrift, Ausgabe Nordrhein-Westfalen, äußert. Dort heißt es schon in der Überschrift, dieses Gesetz sei kaum mehr als eine Null-Lösung. Wenn der Reichsbund in dieser Veröffentlichung erklärt, der Verband werde dafür sorgen, daß die Kriegsopfer nicht weiter zur Sparbüchse des Bundesfinanzministers werden, dann, meine ich, muß dieses zurückgewiesen werden.
Ähnlich haben Sie, Herr Kirschner, hier heute argumentiert.
Ich habe mir heute morgen Ihre Rede nochmals durchgelesen,
die Sie vor genau einem Jahr gehalten haben, nämlich am 15. Mai. Das war fast das gleiche. Dort haben Sie uns erhebliche Vorwürfe gemacht, wir sparten zu Lasten der Kriegsopfer. Ich darf Sie einmal daran erinnern, Herr Kirschner, daß Sie 1978 eine Anpassung völlig haben ausfallen lassen und sich von 1979 bis 1981 bei der Anpassung überhaupt nicht an der Lohnentwicklung orientiert haben.
Von daher haben Sie eigentlich den Anspruch verwirkt, uns mit diesem Gesetzentwurf Vorwürfe zu machen.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung 1983 erklärt: Die Leistungen für die Kriegsopfer werden von Sparmaßnahmen ausgenommen.
— Dies haben wir gehalten, Herr Kirschner, und zwar in vollem Umfang.
Ich will Ihnen dazu einmal einige Zahlen nennen: Von 1982 bis 1986 sank die Zahl der Versorgungsberechtigten von 1,85 Millionen auf 1,59 Millionen; das sind 14,1 %. Dagegen sanken die Ausgaben für die Kriegsopferversorgung und Kriegsopferfürsorge nur um 4,6 %, nämlich von 12,8 auf 12,2 Milliarden DM. Für den einzelnen bedeutet dies, daß seine Einkünfte von 1982 bis 1986 um 11,3 % gestiegen sind, während die Gesamtausgaben des Haushalts in der gleichen Zeit nur um 7,7 % zunahmen. Ich denke, diese Zahlen beweisen, daß wir das gehalten haben, was der Bundeskanzler 1983 erklärt hat.
— Sie haben nachher Gelegenheit, auf diese, wie Sie meinen, Zahlenspielerei einzugehen.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Ihnen gelingen wird, diese Zahlen zu entkräften.
Dies sind, Herr Kirschner, Fakten, die ich Ihnen vorgetragen habe, da kann von einer Sparpolitik zu Lasten der Kriegsopfer nicht gesprochen werden.
Der Ihnen jetzt vorgelegte Gesetzentwurf macht deutlich, daß die Kriegsopfer die Gewißheit haben können, daß ihre Opfer nicht vergessen sind und ihr Anspruch auf eine angemessene und würdige Versorgung außer Frage steht.Wir vergessen auch nicht, daß es die Kriegsopfer waren, die unter erschwerten Bedingungen einen wichtigen Beitrag zum Aufbau unserer Republik geleistet haben. Sie, die Kriegsopfer, können sich auch in Zukunft auf diese Koalition und auf diese Regierung verlassen.Ich möchte mich abschließend bei Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, bedanken, daß Sie eine zügige Beratung dieses Gesetzentwurfs ermöglichen. Damit ist sichergestellt, daß die Verbesserungen für die Kriegsopfer pünktlich zum 1. Juli gezahlt werden können.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 669
LouvenMeine Damen und Herren, soweit Sie noch an der anschließenden Ausschußsitzung teilnehmen, können Sie noch nicht ins Wochenende gehen; allen anderen wünsche ich ein schönes Wochenende.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Auch ich darf mich für die guten Wünsche beim Redner bedanken und gebe das Wort an Frau Weiler.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz kommt die Bundesregierung lediglich ihrer gesetzlichen Anpassungsverpflichtung nach. Darüber hinaus hält sie es leider nicht für notwendig, etwas für die Weiterentwicklung der Kriegsopferversorgung zu tun. So enthält — das hat auch Herr Blüm zugegeben — der vorgelegte Gesetzentwurf keinen einzigen Regelungsvorschlag, der eine strukturelle Leistungsverbesserung zum Ziel hätte. Nichts, aber auch gar nichts von den vielfältigen Versprechungen gegenüber den Kriegsopfern und ihren Verbänden findet darin seinen Niederschlag. Dies ist für uns Sozialdemokraten unannehmbar und einmal mehr Ausdruck der sozialen Kälte, wie sie zum Markenzeichen Ihrer konservativen Politik geworden ist.
Es kann wahrlich kein Trost für die Kriegsopfer sein, daß sie nicht die einzige gesellschaftliche Gruppe sind, die diese soziale Kälte zu spüren bekommt, daß sie in dieser Hinsicht ein gemeinsames Schicksal haben z. B. mit den Rentnern, den Arbeitslosen, den Behinderten oder den Sozialhilfeempfängern, die seit der Wende schmerzlich erfahren mußten, was soziale Ungerechtigkeit bedeutet.
Weiterführen kann uns die Entwicklung nur, wenn die soziale Gerechtigkeit wieder Richtschnur politischen Handelns wird. Dafür bestehen aber bei dieser Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen wenig Aussichten. Im Gegenteil, die Steuerpläne der Bundesregierung zeigen vielmehr, daß wieder einmal den Reichen geholfen und die Arbeitnehmer und ihre Familien im Stich gelassen werden sollen.
Am Ende wird es gar so sein, daß die Kriegsopfer, die ohnehin zu den Verlierern des Steuergerangels gehören werden, zur Finanzierung der Steuererleichterungen für Hochverdienende über erhöhte Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern herangezogen werden.
Solche Absichten werden wir Sozialdemokraten allerdings wie bisher unseren Widerstand entgegensetzen.
Zur Anpassung der Versorgungsbezüge nach dem Bundesversorgungsgesetz hat mein Kollege Klaus Kirschner schon im Detail Stellung genommen.
Ich möchte deshalb auf die Notwendigkeit der strukturellen Weiterentwicklung eingehen, die im vorgelegten Entwurf nicht vorkommt. Ich möchte dies insbesondere mit dem Blick auf die Tausenden von Frauen tun, die im Zusammenhang mit den Kriegsauswirkungen ein sehr schweres Leben auf sich nehmen mußten, sei es als selbst unmittelbar Kriegsbeschädigte, sei es als Mütter, denen die Kinder genommen wurden, oder sei es als Witwen, deren Ehemänner nicht mehr aus dem Krieg zurückkamen, oder etwa als Ehefrauen, die für ihre schwerbeschädigten Ehemänner sorgen und sie pflegen.
Solche Einzelschicksale müssen wir vor Augen haben, wenn wir beurteilen wollen, ob die bestehenden Entschädigungsleistungen und Hilfen noch ausreichend sind oder ob sie verbessert werden müssen. Dabei wissen wir — ich denke, das kann ich auch im Namen aller Fraktionen des Hauses sagen — , daß man allein mit Geldleistungen natürlich nicht alle Nachteile ausgleichen kann, von denen die Kriegsopfer betroffen sind. Aber dies wissen die Kriegsopfer auch und verlangen es auch nicht.
Haben Sie bei der Konzeption dieses Entwurfs nicht an die Frauen gedacht, für die der Verlust des Ehegatten oder des Kindes oft jahrzehntelang nachhaltige physische und psychische Belastungen zur Folge hatte, die zu behandlungsbedürftigen gesundheitlichen Schäden führten, und denen Sie die Gewährung von Badekuren zur Stabilisierung des Gesundheitszustandes verweigern?Haben Sie nicht an die Frauen gedacht, deren Kinder an Kriegsfolgen gestorben sind, deren Elternrenten seit 1950 die geringste Steigerung erfahren haben und denen Sie die längst fällige überproportionale Rentenanhebung auf ein dem sozialen Entschädigungsrecht angemessenen Niveau verweigern?Herr Blüm, haben Sie nicht an die Frauen gedacht, deren Schadensausgleich, mit dem ihnen z. B. die durch den Verlust des Ehemannes entstandenen wirtschaftlichen Einbußen ausgeglichen werden soll, einer wirksamen Entschädigung nicht mehr gerecht wird und denen Sie eine spürbare Verbesserung der Entschädigungsquote verweigern?Und haben Sie nicht an die Frauen gedacht, die in bewundernswerter Weise etwa ihre kriegsblinden Ehemänner betreuen und pflegen und die zwischenzeitlich ein Alter erreicht haben, das in zahlreichen Fällen die Fortführung der Pflege in dem erforderlichen Umfang erschwert oder gar unmöglich macht? Sie lassen weiterhin zu, daß die Aufwendungen für die Fremdpflege dem Ehegatten auf den Pauschbetrag der Pflegezulage angerechnet wird, obwohl der Ehegatte auch weiterhin in nicht unerheblichem Umfang Pflegeleistungen erbringt; denn der tatsächliche Pflegebedarf geht ja in aller Regel weit über die mit fremden Personen vereinbarten Zeiten hinaus.
Der Grund ist wohl, daß Sie der Meinung sind, im Zusammenhang mit der alten und mit der neuen Mütterlichkeit seien diese Aufgaben mit einigen Dankesworten zum Muttertag für die Frauen abgegolten.
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670 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Frau WeilerHaben Sie schließlich nicht an die selbst kriegsblinden Frauen gedacht, denen Sie — wie übrigens auch den kriegsblinden Männern — die überfällige Erhöhung der Beihilfe für fremde Führung verweigern. Und dies, obwohl mit fortgeschrittenem Lebensalter die Ehegatten von Kriegsblinden oft nicht mehr in der Lage sind, die notwendige Begleitung durchzuführen, so daß zusätzlich finanziell zu entschädigende fremde Begleitpersonen in Anspruch genommen werden müssen?Ich fürchte, Sie haben solche Sachverhalte nicht vor Augen gehabt; denn sonst hätte der Gesetzentwurf nicht so unzureichend sein dürfen, wie er ist.
Für uns Sozialdemokraten ist er in dieser Form unannehmbar. Er wird sowohl aus sozialpolitischer als auch aus entschädigungsrechtlicher Sicht der Situation der Kriegsopfer auch nicht annähernd gerecht.Wir werden deshalb in den Ausschußberatungen alles daransetzen, ihn zu verbessern. Ich hoffe, die Koalitionsfraktionen werden ihre engherzige Haltung noch einmal überprüfen und sich bereit finden, den Entwurf mit strukturellen Verbesserungen so zu ergänzen, daß er auch in den Augen der Betroffenen bestehen kann, und zwar jetzt zu verbessern und nicht erst kurze Zeit vor den nächsten Bundestagswahlen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch dies sagen: Die durch den Krieg besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen erwarten nicht nur soziale Gerechtigkeit, sondern sie erwarten von dieser Regierung auch, daß alles getan wird, um einen weiteren Krieg zu verhindern. Ich erwähne das ausdrücklich noch einmal deshalb, weil die Debatte gestern ja gezeigt hat, wie wenig Sie bereit sind, endlich eine aktive Friedenspolitik zu beginnen, und wie wenig Sie bereit sind, die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der UdSSR zu unterstützen.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/150 an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 13 und 14 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission
„AIDS"
— Drucksache 11/248 —
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Einsetzung einer Enquete-Kommission
„AIDS"
zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Einsetzung einer Enquete-Kommission
— Drucksachen 11/117, 11/120, 11/122, 11/244 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Voigt
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen, aber die Fraktion DIE GRÜNEN hat um Gelegenheit zur Begründung des Antrags gebeten. Dazu hat Frau Wilms-Kegel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will es ganz kurz machen und nur darstellen, warum wir uns bei der Abstimmung wie verhalten.Zu dem Tagesordnungspunkt „Einsetzung einer Enquete-Kommission" legen DIE GRÜNEN heute einen eigenen Antrag vor, den ich persönlich — abweichend von der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, dessen Vorsitzende ich bin — unterstütze, da ich mich auch nach Vorlage eines gemeinsamen Antrages der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP nicht mit Inhalt und Zielvorstellungen einverstanden erklären kann. Wenn wir unseren Antrag zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „AIDS" stellen, wollen wir damit ganz deutlich machen, daß es uns nicht darum geht, die Diskussion aus der Gesellschaft in ein Wissenschaftlergremium zu tragen.Wir erwarten, daß in der Enquete-Kommission Lösungsvorschläge erarbeitet werden, die es möglich machen, die Diskussion erfolgversprechend in die Gesellschaft zu tragen. Aufgabe der Kommission darf es nach meiner Auffassung keinesfalls sein, Vorschläge zu erarbeiten, die darauf hinauslaufen, eine Veränderung des sexuellen Verhaltens der Menschen zu fordern. Ganz im Gegenteil: Gerade ich als Ärztin erwarte von der Kommission, daß sie sicherstellt, daß die sexuelle Selbstbestimmung und das Recht der Menschen auf Sexualität nicht beschnitten werden, und darüber hinaus Lösungsvorschläge erarbeitet werden, die garantieren, daß an AIDS erkrankte und HIV-positive Menschen in keiner Form diskriminiert werden.
Das ist für mich im Gegensatz zu der Fragestellung wichtig, wie der Ausbreitung von AIDS verwaltungsmäßig und rechtlich entgegengewirkt werden kann. Ich fürchte auf Grund der Aufgabenbeschreibung des gemeinsamen Antrages von CDU/CSU, SPD und FDP, daß immer noch die Meldepflicht erwogen wird, die ich auf Grund meiner beruflichen Erfahrung mit HIVpositiven Menschen jedoch grundsätzlich ablehne.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 671
Frau Wilms-Kegel
Ich erwarte von einer Enquete-Kommission, daß sie sich nicht als Verteiler von lukrativen Forschungsprojekten entpuppt, sondern ihr ganzes Wissen dazu einbringt, eingetretenes Leid, eingetretene Diskriminierung, eingetretene Angst durch das Aufzeigen von Lösungsvorschlägen zu beenden. Wenn sich daran eine breite Diskussion in der Gesellschaft anschließt, wird der Bundestag in die Lage versetzt sein, Maßnahmen zu ergreifen, mit denen ein Leben mit AIDS in unserer Gesellschaft ermöglicht wird.
Dies ist gerade mir als Ärztin, die HIV-positive Menschen betreut hat, am wichtigsten für die Zukunft.Wir werden uns bei dem gemeinsamen Antrag der CDU/CSU, SPD und FDP der Stimme enthalten.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/248. Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ab. Wer den Nr. 1 bis 3 der Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/244 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung des Ausschusses bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe nun Zusatztagesordnungpunkt 12 auf: Aktuelle Stunde
Neueste Hinweise auf einen alarmierenden Anstieg bei der Verseuchung von Grund- und Trinkwasser durch Einsatz von Pflanzenschutzmitteln
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zum genannten Thema verlangt.
Ich eröffne dazu die Aussprache. Das Wort hat Frau Garbe.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ein halbes Jahr ist es her, da hat die Katastrophe von Sandoz die Zerstörungskraft der chemischen Produktion wieder einmal unter Beweis gestellt. Hunderttausende von toten Fischen trieben auf dem Rhein. 39 Wasserwerke entlang des Rheins mußten Brunnen stillegen, und zwar bis zu 14 Tage lang. Die langfristigen Schäden an den Ökosystemen Rhein und Nordsee sind noch nicht abzuschätzen. Das war das Ergebnis von 20 bis 30 Tonnen der ach so harmlos genannten Pflanzenschutzmittel.Sandoz und andere Unfälle in der chemischen Produktion sind aber nur ein Aspekt der Zeitbombe Chemie. Die Vergiftung der Umwelt findet nämlich täglich statt. 160 000 Tonnen Pestizide, die zum Töten und Zerstören gemacht worden sind, werden in der Bundesrepublik pro Jahr hergestellt und gelangen tonnenweise mit den Abwässern der chemischen Industrie in die Flüsse. 30 000 Tonnen Pestizide werden in der Bundesrepublik pro Jahr angewendet. Das sind 2,6 bis 4 Kilogramm pro Hektar landwirtschaftlicher Fläche, und bis zu 5 % der gespritzten Menge werden sofort in die Gewässer abgeschwemmt. Da ist es kein Wunder, daß Pestizide allgegenwärtig sind, in Gewässern, im Boden, als sogenannte Rückstände in Lebensmitteln, in Babycremes und nun auch im Grund- und Trinkwasser.Der Bundesverband der Gas- und Wasserwirtschaft warnt vor dem alarmierenden Anstieg der Konzentrationen im Trinkwasser. Bestätigt werden diese Angaben auch von einem Institut, das der Frau Gesundheitsministerin Süssmuth untersteht, dem Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene des Bundesgesundheitsamts. Die Wasserversorgungsunternehmen ziehen aus der Brunnenvergiftung die einzig richtige Konsequenz: Sie fordern ein Anwendungsverbot für alle Pestizide, die im Grund- und Trinkwasser nachgewiesen werden.
Dagegen steht nur eines, meine Damen und Herren: das Profitinteresse der Hersteller, vertreten vom Industrieverband Pflanzenschutz und dem Verband der Chemischen Industrie.Nun bedarf es keiner hellseherischen Fähigkeiten, um vorhersagen zu können, für welche Seite sich die Bundesregierung entscheiden wird. Nicht ein einziger Giftstoff wird aus dem Verkehr gezogen werden, solange die Industrie diesen verkaufen will.Nun führt der Industrieverband Pflanzenschutz seit 1986 selber ein Untersuchungsprogramm Pestizide im Grundwasser durch. Nach einer ersten Auswertung teilte man den Vertretern von Bund, Ländern, Bundesgesundheitsamt, Umweltbundesamt und Wasserversorgungsunternehmen am 27./28. Mai 1986 in Frankfurt mit: Pestizide im Grundwasser sind kein Problem. Selbst in den Brunnen der Gelsenwasser AG, die bereits vor Monaten die Öffentlichkeit über Atrazin in ihren Brunnen informiert hatte, fanden die Herren der IPS nichts. Sie hatten einfach nicht nach Atrazin gesucht und folglich auch nichts nachgewiesen. Ähnliche Verfälschungen und Manipulationen sind auch aus anderen Bundesländern bekanntgeworden. Dieses Beispiel, meine Herren und Damen, zeigt deutlich die verantwortungslose Gesinnung der chemischen Industrie auf.
Die Zange der chemischen Industrie hat uns fest im Griff. Wenn sich die gefährliche Trinkwassersituation noch zum Positiven ändern soll, meine Herren und Damen von der Bundesregierung, muß die Entscheidung zugunsten der Bevölkerung recht bald fallen. Handeln Sie, ehe es zu spät ist!
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672 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Frau GarbeIch danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Göhner.
Herr Prsäsident! Meine Damen und Herren! Die in jüngster Zeit bekanntgewordenen Untersuchungen über Belastungen des Grundwassers mit chemischen Pflanzenschutzmitteln sind zweifellos besorgniserregend, wenngleich sie nichts mit dem Katastrophengemälde zu tun haben, das hier gerade gezeichnet worden ist.
Es handelt sich um Einzelfälle, die Konsequenzen nach sich ziehen müssen, nämlich die konsequente Umsetzung des neuen Pflanzenschutzgesetzes, seit 1. Januar dieses Jahres in Kraft, des neuen Wasserhaushaltsgesetzes, seit 1. Januar dieses Jahres in Kraft, der neuen Trinkwasserverordnung mit den Grenzwerten ab 1. Januar 1989 und der zu novellierenden Anwendungsverordnung.Der Schutz unseres Grund- und Trinkwassers hat für uns zweifellos absolute Priorität, zumal langjährige Versäumnisse auf dem Gebiet des Grundwasserschutzes vorliegen.
Das Ziel des neuen Pflanzenschutzgesetzes ist klar: kein Pflanzenschutz, der bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Auswirkungen auf das Grundwasser hat,
keine Zulassung mehr für solche Mittel, Anwendungsverbote, gegebenenfalls Rücknahme der erfolgten Zulassungen. Gesetzliche Voraussetzung dafür ist das Feststellen der schädlichen Auswirkungen auf das Grundwasser. Das können nicht wir feststellen, sondern die Biologische Bundesanstalt und das Umweltbundesamt.
Wir erwarten, daß diese Prüfung z. B. bei Atrazin möglichst bald abgeschlossen wird und daß im Rahmen der zu novellierenden Anwendungsverordnung — jedenfalls rechne ich persönlich damit — Atrazin verboten wird.Die bisherigen Zulassungsbedingungen nach dem alten Pflanzenschutzgesetz brauchten und haben offensichtlich auch nicht hinreichend den Schutz des Grundwassers berücksichtigt. Nach dem jetzt geltenden, von uns verschärften Gesetz ist das aber vorgeschrieben. Deshalb müssen alle derzeit zugelassenen Pflanzenschutzmittel, nicht nur Atrazin, unverzüglich erneut auf diese verschärften Voraussetzungen überprüft werden.
Vorrang für den Grundwasserschutz heißt erhöhte Umweltanforderungen in Wasserschutzgebieten und die erhebliche Ausweitung dieser Gebiete.
Für beides haben wir mit dem neuen, ebenfalls seit dem 1. Januar 1987 in Kraft befindlichen Wasserhaushaltsgesetz die Voraussetzungen geschaffen, einschließlich der Entschädigungen für die unausweichlichen besonderen Nachteile der betroffenen Bauern. Umsetzen müssen das die Länder, dafür hat der Bund keine Zuständigkeit. Es besteht großer Nachholbedarf in diesem Bereich.Die ganz besonders strengen Werte der Trinkwasserverordnung gelten für Trinkwasser: 0,1 Millionstel Gramm als Grenzwert bei Pflanzenschutzmitteln ab 1. Januar 1989 heißt jedoch nicht — damit das ganz klar ist —, daß jeder darüberliegende Wert gesundheitlich bedenklich wäre. Die Trinkwasserverordnung ist Lebensmittelrecht und entspricht dem Minimierungsgebot. Die Grenzwerte orientieren sich nicht an toxikologischen Gesichtspunkten oder dem Kriterium der Gesundheitsgefährdung, sondern an dem Prinzip: so wenig Fremdstoffe wie möglich, unabhängig von der Gesundheitsgefährdung. Das wollen wir so, dazu bekennen wir uns nachdrücklich, und deshalb darf kein Zweifel daran bestehen, daß die dortigen Grenzwerte überall in Schutzgebieten eingehalten werden müssen.
Die Annahme allerdings, die Grenzwerte der Trinkwasserverordnung könnten überall im Grundwasser eingehalten werden, ist ebenso abwegig. Man müßte sonst in etwa von Menschenhand völlig unberührten Berggebieten sozusagen das Grundwasser verbieten, weil zu hohe Eisen-, Aluminium-, Mangan- oder Kaliumgehalte vorliegen.
Eine WHO-Expertenkommission hat gerade für Atrazin eine Bewertung vorgenommen und einen Trinkwassergrenzwert von 2 Millionstel Gramm pro Liter vorgeschlagen. Das ist das 20fache von dem, was wir festgesetzt haben und woran wir festhalten wollen.Italien hat gerade einen Grenzwert von 1,7 Mikrogramm festgesetzt. Das ist das 13fache dessen, was wir festgelegt haben und was wir behalten wollen.Meine Damen und Herren, aus Vorsorgegründen wollen wir diesen strengeren Grenzwert überall dort, wo Trinkwasser gewonnen wird. Das, was z. B. auf Föhr gefunden worden ist — 0,7 Mikrogramm —, ist das Siebenfache des Zulässigen. Deshalb muß dort konsequent gehandelt werden, einschließlich Atrazin-Verbot, und zwar auch dann, wenn noch keine Gesundheitsgefährdung vorliegt.Die Festsetzungen der Trinkwasserverordnung sind deshalb überall dort unbedingt einzuhalten, wo Wasserschutz, Trinkwassergewinnungs- und - einzugsbereiche bestehen. Wasserschutzauflagen müssen konsequent erfolgen, und die entsprechenden besonderen Nachteile der Bauern müssen ausgeglichen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 673
Dr. Göhnerwerden. Das ist die notwendige Vorsorge nach dem Minimierungsprinzip, das für uns Grundlage des Schutzes des Trinkwassers ist.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Blunck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Jahren müssen wir mit einer hohen Nitratbelastung unseres Grundwassers leben. Im Bericht des Bundesumweltamtes 1986/87 heißt es:Die nachgewiesenen Belastungen sind symptomatisch für eine Entwicklung, die mit der Intensivierung der Landwirtschaft begonnen hat und sich selbst bei geänderten Rahmenbedingungen— davon ist hier bisher ja wahrlich nichts zu spüren —wegen der langen Verweilzeiten im Untergrund noch über Jahrzehnte auswirken wird.Und:Die Folgen können ... kaum abgeschätzt werden.Kürzlich haben nun neue Untersuchungsergebnisse den alarmierenden Beweis erbracht, daß das Trinkwasser auch noch zusätzlich hochgradig durch Pflanzenschutzmittel verseucht ist, und zwar länderübergreifend von Schleswig-Holstein bis Bayern. Wenn man bedenkt, daß es bislang nur wenige und auch unsystematisch vorgenommene Grundwasseruntersuchungen gibt, dann braucht man keine allzu große Phantasie, um sich vorzustellen, daß wir es hier erst mit der Spitze eines Eisberges zu tun haben.Die jetzt von der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft dankenswerterweise vorgelegten Ergebnisse zeigen, daß die Hälfte der ermittelten Rückstandswerte sogar noch über den für die Summe aller Pflanzenbehandlungsmittel nach der Trinkwasserverordnung zugelassenen Höchstwerten von 0,5 Mikrogramm pro Liter liegen.Nun hilft es überhaupt nicht, wenn die Bundesregierung dem Problem durch Verharmlosung — die Auflistung enthielt ja auch Daten aus dem Ausland — und Schuldzuweisung an die Landwirte, die Belastung sei Folge unsachgemäßer Anwendung, Herr zu werden versucht.Wir Sozialdemokraten haben es bereits 1985 bei dem Entwurf der Trinkwasserverordnung als eine Kapitulation vor der Chemie- und Agrarlobby angeprangert. Die nun veröffentlichten Rückstandsdaten haben unsere damaligen Befürchtungen noch bei weitem übertroffen.
Das gilt besonders für das UnkrautvernichtungsmittelAtrazin, das sich zwischen 300 und 500 Tagen imAckerboden hält und von dort nach und nach in dasGrundwasser eindringt. Hier wurden überall hohe Konzentrationen ermittelt;
in Schleswig-Holstein wurde bei einer Untersuchung der Vordergeest in einem Fall sogar eine Höchstkonzentration von 17,52 Mikrogramm pro Liter festgestellt — das ist bei weitem höher als das, was Sie hier als schlechtes Beispiel genannt haben — , und dies bei einem erst ab 1989 geltenden Summenhöchstwert von 0,5 Mikrogramm pro Liter.30 000 Pestizide, ca. 1,3 Millionen t Stickstoffmineralien, rund 0,8 Millionen t Stickstoffstalldung werden innerhalb eines Jahres auf unsere Böden ausgebracht.Wir brauchen jetzt durchgreifende Sofortmaßnahmen zum Schutz des Grund- und Trinkwassers:
Erstens. Verbot der Anwendung und des Abgebens von Atrazin. Das Pflanzenschutzgesetz bietet hierzu die rechtlichen Möglichkeiten. Herr Göhner, ich habe das, was Sie gesagt haben, als Appell an die Regierung verstanden, das endlich umzusetzen.
Nach § 15 Abs. 1 Nr. 3 darf die Zulassung nur erteilt werden, wenn das Pflanzenbehandlungsmittel keine schädlichen Auswirkungen auf das Grundwasser hat. Die schädlichen Auswirkungen können nicht länger bestritten werden, da das Grundwasser wegen Überschreitens der in der Trinkwasserverordnung festgesetzten Grenzwerte ohne besondere Aufbereitung für die Trinkwasserversorgung nicht mehr verwendet werden darf.Zweitens. Für die Bundesrepublik muß ein Bodenkataster erstellt werden.Drittens. Für besondere Standorte wie Sand- oder Torfböden müssen wegen der geringen Filterwirkung dieser Böden alle wassergefährdenden Pflanzenbehandlungsmittel verboten werden. Eine Beschränkung des Verbotes auf Wasserschutzgebiete allein, wie es im Entwurf vorgesehen ist, reicht nicht aus,
da das Grundwasser generell, unabhängig von Wasserschutzgebieten vor schädlichen Auswirkungen zu schützen ist.Viertens, sofortige Einhaltung der Grenzwerte bei den Pflanzenbehandlungsmitteln, für die heute schon Analyseverfahren vorliegen. Bei Pflanzenbehandlungsmitteln, für die keine Nachweisverfahren vorliegen, muß die Zulassung entzogen werden.Das Trinkwasser ist unser wichtigstes Nahrungs- und Lebensmittel. Es darf nicht länger hingenommen werden, daß weiterhin Gifte in die Trinkwasserquellen gelangen, die dann, wenn überhaupt, nur mit großem Kostenaufwand beseitigt werden können.
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674 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Das Wort hat Frau Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident, Kollegen und Kolleginnen! Wenn wir uns heute mit dem Gewässerschutz befassen, der sowohl den Schutz des Oberflächenwassers als auch des Grundwassers bewirken soll, so haben wir einen Bereich der Umweltpolitik vor uns, der sicher zu den wichtigsten zählt. Wasser ist wahrscheinlich der elementarste Rohstoff, den die Menschheit benötigt.Dies hat die FDP schon frühzeitig erkannt und bereits im Jahre 1981 in ihrem ökologischen Aktionsprogramm Vorschläge zum Grundwasser- und Oberflächenwasserschutz gemacht. Diese Linie haben wir stets weiterverfolgt, auch in den jüngsten Koalitionsvereinbarungen.Im Bereich des Gewässerschutzes wird es in der neuen Legislaturperiode weitere Fortschritte geben. Bislang hat die öffentliche Aufmerksamkeit im Bereich des Gewässerschutzes, vor allem dem Oberflächenwasser gegolten.Aber auch die Sorge um das Grundwasser wächst. Vielfältige Belastungen bedrohen das Grundwasser. Als ein Beispiel seien nur die von den Mülldeponien und den Düngemitteln ausgehenden Gefahren genannt. Diesen Belastungen sollen das Pflanzenschutzgesetz, das Wasserhaushaltsgesetz und die entsprechenden Verordnungen entgegenwirken.Die FDP begrüßt es, daß die Bundesregierung in ihrem Umweltressort alle Belastungen aufmerksam beobachtet. Dadurch wurde festgestellt, daß bei dem Pflanzenschutzmittel Atrazin die Gefahr besteht, daß es bis ins Grundwasser gelangt, wahrscheinlich selbst bei sachgemäßer Verwendung und bei Beachtung der pflanzenschutzrechtlichen Bestimmungen.Konkret gilt es, hinsichtlich des Stoffes Atrazin, aber auch selbstverständlich anderer Pflanzenschutzmittel und sonstiger Verunreinigungen, zwei Fragenkomplexe zu prüfen.Zum einen muß festgestellt werden, welche Belastungen bei welchen Messungsmethoden festzustellen sind. Erst auf Grund gesicherter Erkenntnisse kann dann die Frage entschieden werden, welche Maßnahmen zu treffen sind.
Natürlich entspricht diese Differenzierung nicht dem aktionistischen Vorhaben der Opposition.
Sie wünscht ein sofortiges Verbot. Es ist jedoch notwendig, differenziert vorzugehen, um den Grundwasserschutz wirklich zu gewährleisten.Außerdem wird bei solchen Verbotsforderungen vergessen, daß jedes Verbot einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Wohlgemerkt, dies betrifft nur das generelle Verbot, nicht die Möglichkeit, Auflagen für die Handhabung von Atrazin durch Einschränkung weitergehend zu regeln.Die §§ 6 und 7 des Pflanzenschutzgesetzes bieten keine Grundlage für ein Verbot, da diese Paragraphen den Nachweis einer schädlichen Einwirkung voraussetzen. Genau diese Einwirkung muß nachgewiesen werden. Hier gibt es noch erhebliche Schwierigkeiten. Wie schon erwähnt, gestaltet sich die Messung solcher Substanzen äußerst schwierig.So möchte ich die Opposition einmal fragen, ob ihr bekannt ist, daß bei der Messung von Atrazin in der Analytik im Spurenbereich Abweichungen von plus/ minus 100 % möglich sind.
Wie wollen Sie bei dieser wissenschaftlich nicht gesicherten Grundlage dem gesetzlichen Erfordernis so aktionistisch, wie von Ihnen gefordert, genügen? Und wie wollen Sie darüber hinaus sicherstellen, daß ein solches Verbot den wirklich schädlichen Stoff erfaßt?Richtiger ist es, mit dem Bundesministerium für Umwelt erst zu prüfen, ob wir tatsächlich einen stetigen Anstieg der Gehalte von Pflanzenschutzmitteln haben, die im Sinne der §§ 6 und 7 des Pflanzenschutzgesetzes ein sofortiges Verbot rechtfertigen. Dann erst kann man Maßnahmen ergreifen, um die schädliche Einwirkung zu reduzieren.Wir werden außerdem darauf hinwirken, daß die Bundesregierung bei den anstehenden Novellierungen des Pflanzenschutzgesetzes, des Wasserhaushaltsgesetzes und den entsprechenden Verordnungen die Erkenntnisse des Bundesforschungsministeriums hinsichtlich des Stoffes Atrazin berücksichtigt. Den Verwendern von Atrazin Auflagen zu machen, ist Sache der Länder. Die Länder Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg belegen die Verwender von Atrazin bereits mit umfassenden Auflagen. In Nordrhein-Westfalen hingegen wurde erst vor vier Wochen in lediglich einem Regierungsbezirk, nämlich dem Regierungsbezirk Münster, für die Stever-Talsperre, eine entsprechende Auflage erlassen.Was nun Auflagen allgemein anbetrifft, die aus liberaler Sicht nicht die optimale Lösung darstellen, da sie der Überwachung bedürfen, so kann der Bund hier leider nicht mehr tun, als eine Anregung geben; denn die Kompetenzverhältnisse sind noch immer so gelagert, daß ein ganz erheblicher Teil umweltrelevanter Gesetzgebung in den Zuständigkeitsbereich der Länder fällt. Dem neuen Umweltminister, der heute leider nicht bei dieser Debatte anwesend ist,
wünsche ich viel Glück für seine Aufgaben und möchte ihn darum bitten, zu prüfen, ob die Kompetenzverhältnisse nicht geändert werden können.Zum Schluß: Man sollte das Problem möglichst so angehen, daß dem Verursacherprinzip weitgehendst Rechnung getragen wird und ökonomische Anreize dafür sorgen, daß belastende, d. h. gesundheitsgefährdende bis toxische Stoffe so wenig und so sparsam wie möglich eingesetzt werden. Vergessen wir dabei eines nicht: Die Toxizität ist immer auch ein Mengenproblem, wie bereits Paracelsus erkannte. Mehr zu tun, mag propagandistisch wirkungsvoll sein, läßt
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 675
Frau Dr. Segallaber die Rechtslage unbeachtet und trägt den tatsächlich bestehenden, sachlichen Gegebenheiten kaum Rechnung.
Frau Kollegin, das war ein Schlußsatz.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Garbe: Die Jagd ist auf; Strohfeuergefechte! Ich habe auch nach Ihrem Einstand im Ausschuß an sich gedacht, daß Sie nicht in die alte Strategie verfallen, die DIE GRÜNEN in der letzten Legislaturperiode in alphabetischer Reihenfolge von Atomstrom über Formaldehyd über all die Reizbegriffe hier durchgezogen haben. Ich war darauf gespannt, weil dieses Thema ein ernstes Thema ist und diese Strategie nicht verträgt, ob Sie hier einmal von Ihrer alten Strategie abweichen, die Bevölkerung zu verunsichern, Horrorszenarien aufzubauen. Aber, Frau Kollegin: keinerlei konstruktive Ansätze.
Ich gebe Ihnen ja recht, daß in fünf Minuten in einer Aktuellen Stunde — was daran aktuell ist, vermag ich im Augenblick nicht zu beurteilen — — Was Ihren Beitrag angeht: Sie haben Zahlen gebracht, die zehn Jahre alt sind, Frau Kollegin.
— Vielleicht regen Sie sich einmal von hier aus auf und gewöhnen sich daran, daß von hier vorne geredet wird und nicht von hinten solche unsachlichen Beiträge laufen.
Ihnen ist dieses Umweltthema natürlich wieder Mittel zum Zweck. Das bedauere ich außerordentlich.Frau Kollegin Blunck, ich stimme Ihnen zu, daß wir hier in einigen Bereichen nachfassen müssen. Sie haben davon gesprochen, daß hier einiges von der Bundesregierung nicht rechtzeitig aufgegriffen wurde. Ich darf einmal daran erinnern, daß wir seit dem Januar 1987 das neue Pflanzenschutzrecht haben. Ich darf zitieren. Da heißt es — was auch Ihnen bekannt ist — in einer Auskunft der Bundesregierung:Die vor Inkrafttreten des neuen Pflanzenschutzgesetzes zugelassenen Pflanzenschutzmittel werden zur Zeit von der Biologischen Bundesanstalt und den beteiligten Behörden, Bundesgesundheitsamt und Umweltbundesamt, daraufhin überprüft, ob sie den Anforderungen des neuen Gesetzes genügen. Bei Fehlen dieser Voraussetzung wird eine Rücknahme der Zulassung erfolgen. Dies ist die gesetzlich vorgeschriebene Voraussetzung für ein Anwendungsverbot.Ich denke, wir haben in kurzer Zeit wesentliche Rahmenbedingungen erlassen. Herr Kollege Göhner hat darauf hingewiesen: Das Wasserhaushaltsgesetz 1986, das neue Pflanzenschutzgesetz am 1. Januar 1987, neue Trinkwasserversorgung im Oktober 1986, ausgehend von der Richtlinie 80 der EG. Im übrigendenke ich, daß es hier einige Probleme gibt. Herr Kollege Göhner hat auf die Grenzwerte hingewiesen, auf den Grenzwert 0,1 Mikrogramm und auf den ppbBereich. Das bedeutet im Verhältnis — weil die Zahlen hier nur so schwirren — in einer 4-MilliardenWeltbevölkerung die Suche nach vier Personen. In diesem analytischen Bereich bewegen wir uns bei diesem Grenzwert. Das hat nichts mit Verharmlosung zu tun. Im übrigen, Herr Kollege Schäfer, schlägt die WHO 2 Mikrogramm vor,
die Vereinigten Staaten 70 Mikrogramm, um nur einige Beispiele zu nennen.Vergleichen Sie bitte einmal diese Grenzwerte mit denen anderer Stoffe, deren Toxizität viel größer ist. Beispiele: Der Grenzwert bei Arsen ist 400mal höher, der bei Blei ebenfalls 400mal höher. Daraus ersehen Sie, daß hier in der Tat eine wichtige Vorsorge betrieben wurde.Ein weiterer Punkt, weil die Frau Kollegin vorhin Werte angesprochen hat: Frau Kollegin, ein Trinkwasser-Monitoring-Programm, das Sie zitiert haben, dessen Ergebnis Ihnen aber offensichtlich nicht zugänglich war, sagt folgendes aus: Bei insgesamt über 12 000 Einzelanalysen sind nur bei 200 überhaupt Spuren dieser Mittel nachgewiesen worden.
— Das waren Institute, das war teilweise IPS, das waren Wissenschaftler, die mit modernen Analysemethoden versucht haben, in diesem schwierigen Bereich Einzelergebnisse zu analysieren. Ich denke, daß dies zugänglich gemacht wird.
Ich würde auch anregen, Frau Kollegin Blunck, daß wir die Diskussion im Ausschuß fortführen und daß wir uns einmal einen Sachstandsbericht über den Vollzug der Gesetze und über die notwendigen Verordnungen, die aus diesen Gesetzen resultieren, geben lassen.
Da gibt es offene Fragen, die auch der BGW angeschnitten hat.Im übrigen war es natürlich sehr reizvoll, festzustellen — und die Anfrage der GRÜNEN bezieht sich ja wohl auf diese Briefe des Bundesverbandes Gas/Wasser — , daß es verschiedene Briefe mit verschiedenen Formulierungen gab. Es ist reizvoll, den Brief vom 9. April mit dem vom 27. April zu vergleichen. Im ersten Brief stand noch „die alarmierende Zunahme". Als man nachgedacht hat, ist man zu völlig anderen Formulierungen gekommen.
— Man ist zu anderen Formulierungen gekommen, und ich denke, dies sollte für uns Anlaß sein, die aufgeworfenen Fragen einmal im Ausschuß zu besprechen.
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676 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich bitte die Bundesregierung, uns im Ausschuß über den Sachstand zu informieren.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Flinner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahresgutachten 1986/87 zum Thema „Agrarpolitik" stellt selbst der Sachverständigenrat fest, daß die heutige intensiv bewirtschaftende Landwirtschaft die natürliche Umwelt gefährdet. 30 000 Tonnen Pestizide, das sollte uns zu denken geben und uns wachrütteln! Es kann und darf mit der Umweltvergiftung auch in der Landwirtschaft nicht mehr so weitergehen! Wir haben es in unserem Land schon so weit gebracht, daß das Gesundheitswesen fast nicht mehr zu finanzieren ist. Ich denke nur an die vielen Allergien, die nicht heilbar sind.
Es wird ja immer behauptet, so schlimm sei es mit den chemischen Spritzmitteln gar nicht. Heute haben wir dafür wieder genug Beispiele vorgeführt bekommen, vor allem von der FDP und der CDU. Ich möchte zwei Beispiele nennen, die das widerlegen:
Auf dem Beipackzettel eines Halmverkürzers — ich könnte Ihnen auch den Namen nennen — steht: Das Stroh nicht an das Vieh verfüttern. Warum wohl? Was aber wird aus den Körnern? Der Qualitätsweizen,
den wir Verbraucher essen!
Es wird auch gefordert, beim Umgang mit den Spritzmitteln Schutzanzüge und Handschuhe zu benutzen. Auch das kommt nicht von ungefähr. Das sind Tatsachen, meine Damen und Herren!
Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Produktions- und Anwendungsverbot für alle Pestizide auszusprechen.
Wir fordern Schulung und Aufklärung über die Gefahren der chemotechnischen Landwirtschaft, konkrete Hilfen zur Umstellung auf ökologischen Landbau
sowie die Unterrichtung in ökologischem Land- und Gartenbau an den bereits vorhandenen Schulen.
Eine ökologische und umweltfreundliche Landwirtschaft würde auch die Produktionsüberschüsse abbauen.
Flächenstillegungen — wie von Ihnen gefordert —
kann nicht die Lösung sein, denn es ist vorauszusehen, daß auf der Restfläche dann noch mehr Chemie und Dünger verwendet werden. Alles spricht für ökologischen Landbau, nur nicht die Lobby der chemischen Industrie.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, das Recht der Bürger auf eine gesunde Umwelt und Nahrung höher zu schätzen als vordergründige Industrieinteressen.
Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Grundwasser ist sehr empfindlich, und der Abbau von Verunreinigungen dauert Jahre, ja, Jahrzehnte. Ich meine, die Menschen reagieren mit Recht sehr sensibel, wenn sie von Verunreinigungen im Grundwasser und dann noch im Trinkwasser hören. Deshalb will ich auch klar sagen, Pflanzenschutzmittel haben im Grundwasser nichts zu suchen.
Das war und ist Grundlage der Politik der CDU/CSU-Fraktion.
Der Gesundheit des Menschen hat sich jedes andere Interesse zu beugen; selbst wenn Sie es nicht gerne hören, so ist es.
Um dies sicherzustellen — und dies ist bereits vorgetragen worden —, wurden im Wasserhaushaltsgesetz, im Pflanzenschutzgesetz und in der Trinkwasserverordnung das notwendige rechtliche Instrumentarium auch geschaffen. Die Werte, die hier zugrunde gelegt worden sind, bedeuten, daß im Trinkwasser so gut wie keine Pflanzenschutzmittel enthalten sein dürfen.
Dennoch gibt es in diesem Bereich Probleme, die gelöst werden müssen. Sie haben gemerkt, daß wir dies hier auch nicht verschweigen. Diese Probleme müssen gelöst werden, um einen optimalen Schutz des Grundwassers vor Pflanzenschutzmitteln sicherzustellen. Täglich werden rund hundert Tonnen Pflanzenschutzmittel auf Felder, Gärten und Anlagen aufgebracht, aber von 300 verschiedenen Wirkstoffen, die zugelassen sind, haben wir nur für ein Drittel geeignete Nachweisverfahren.
Der heutige Wissensstand über das Transportverhalten von Pflanzenschutzmitteln im Boden ist zu gering. Es bedarf neuer Analyseverfahren.
Die den Herstellern bekannten Analyseverfahren sind den Wasserbehörden oft nicht bekannt. Ich meine, die Forschung auf diesem Gebiet bedarf neuer Impulse, auch von seiten der chemischen Industrie;
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 677
Dr. Rüttgersdenn ihre Verantwortung endet nicht mit dem Verkauf ihrer Produkte.
Untersuchungen von Grundwässern und Trinkwässern werden — und auch das, meine ich, muß man sagen — erst seit einiger Zeit vermehrt durchgeführt, und dies ist sicherlich ein Fehler gewesen. Mit Ausnahme von Untersuchungsräumen in Baden-Württemberg liegen eben nur punktuelle Messungen vor. Dringend notwendig, meine ich, sind flächendekkende Meßprogramme in Trinkwassereinzugsbereichen, um Veränderungen feststellen zu können.
Ich meine, es darf bei dieser Debatte hier aber auch nicht der Eindruck entstehen, als ob der kleine Landwirt alleine der Schuldige sei.
Auch die Produzenten von Pflanzenschutzmitteln müssen über neue Wege nachdenken. Dies bedeutet zunächst, daß chemische Pflanzenschutzmittel entwickelt und angeboten werden müssen, die viel selektiver wirken als die heute üblichen. Auch die Biotechnologie eröffnet neue Wege.
Das Bundesministerium für Forschung und Technologie fördert zur Zeit 17 Projekte im Bereich des biologischen Pflanzenschutzes. Ich meine, gerade dieses Beispiel, das wir heute diskutieren, zeigt, daß Aufklärung und Forschung hier noch viel bewirken können.Ich fasse zusammen. Der Schutz der Gesundheit und damit des Trinkwassers bleibt oberster Grundsatz der Wasserwirtschaftspolitik der CDU/CSU-Fraktion. Durch eine konsequente Anwendung des bestehenden rechtlichen Instrumentariums, durch weitere Forschung und durch den Abbau noch bestehender Vollzugsdefizite bleibt das Grundwasser auch in Zukunft sauber. — Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Reuter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesverband der Deutschen Gas- und Wasserwirtschaft schlägt Alarm, nicht irgendwer, sondern die Fachleute, die sich mit dieser Materie befassen, meine Damen und Herren.
Ich verstehe auch nicht ganz, Herr Kollege Schmidbauer, wenn Sie hier fragen: Wo ist die Aktualität? Es ist aktuell. Wenn die Betroffenheit dieser Fachleute hier zum Ausdruck kommt, hat das Parlament auch das Recht — ich sage, es hat die Pflicht — , sich damit zu befassen.
Meine Damen und Herren, anstatt hier in diesem Parlament allgemeine Betroffenheit zu erzeugen und festzustellen, stelle ich immer wieder die Gesundbeterei der Koalitionäre hier fest, die immer so tun, alshabe das alles schon seine Ordnung, weil man einmal ein Gesetz gemacht hat.
— Es geht mir nicht um Schuldzuweisungen, Herr Kollege Baum.
— Na, Sie waren doch auch mal Minister; da hätten Sie doch schon mal in dieser Zeit etwas machen sollen.Es geht hier nicht darum, Schuldzuweisungen an die chemische Industrie oder an die kleinen Anwender, an die Landwirte und Gärtner, zu machen;
vielmehr sollten wir überlegen, wie wir hier im Parlament durch geeignete Instrumente das Problem lösen, meine Damen und Herren.
Es ist anscheinend nicht der Fall, daß wir ausreichende Instrumente haben. Denn seit dem 1. Januar 1987 ist die Neufassung des Pflanzenschutzgesetzes in Kraft.Aber, meine Damen und Herren, die Novelle der Pflanzenschutzmittelverordnung und der Pflanzenschutzanwendungsverordnung befinden sich zur Zeit in der Ressortabstimmung der zuständigen Ministerien. Diese Novellen berücksichtigen aber nicht die veränderte gesetzliche Grundlage,
daß der Schutz des Grundwassers gleichrangig neben den Schutz von Mensch, Tier und Naturhaushalt gestellt wird.
— Ja, das weiß ich deshalb, weil ich es in einem Brief der Gas- und Wasserfachleute gelesen habe.
Meine Damen und Herren, ich kann nur feststellen, daß der Umweltminister gefordert ist. Es geht um die Gesundheit unserer Bürger.
Doch der neue Minister, meine Damen und Herren, setzt die unrühmliche Tradition seines Vorgängers Wallmann fort,
öffentlich lautstarke Erklärungen abzugeben, anstatt hier im Parlament oder auch im Ausschuß sein Programm und seine Politik vorzutragen.
— Ich weiß ja, wo er ist. Aber dessen ungeachtet hätte er ja einmal, bevor er, Herr Kollege Dr. Göhner, lautstark in der Öffentlichkeit ankündigt, daß sein Mini-
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678 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
Reutersterium zwei neue Abteilungen brauche, erst einmal im Ausschuß mit uns reden müssen, wie wir die Dinge sehen. Denn wir sind der Gesetzgeber — das sage ich auch an die Frau Kollegin Dr. Segall — , nicht irgendwer.
Wenn Sie mir nicht glauben, meine Damen und Herren, wenn Sie sagen: Das ist ja alles gar nicht so schlimm, was da im Wasser ist
— doch, das ist hier von dieser Stelle aus auch gefallen — , dann darf ich nur dagen: Wenn Sie mir nicht glauben, glauben Sie einmal den Bierbrauern. Denn ein namhafter Bierbrauer aus München hat auf dem Sparkassentag in Hessen erklärt: Das Reinheitsgebot für Bier gerät zur Farce, wenn wir auf der anderen Seite feststellen, daß das Grundwasser verunreinigt ist und wir dann andere Verunreinigungen im Bier haben, meine Damen und Herren.
Jeder Mensch ist auf sauberes Wasser angewiesen. Wasser bedeutet Leben. Deshalb sind wir hier in diesem Parlament gefordert.Ich begrüße ja ausdrücklich, Herr Kollege Schmidbauer, daß Sie ankündigen, daß wir uns im Ausschuß damit befassen. Diese Aktuelle Stunde hat den Sinn, einmal öffentlich zu dokumentieren, daß wir die Sorgen unserer Bürger ernstnehmen. Das kann sich natürlich nicht in dieser Aktuellen Stunde erschöpfen, sondern wir müssen jetzt sachgerecht im Ausschuß diese Probleme lösen.
Dazu sind wir alle aufgerufen. Wenn uns das gelingt, dann brauchen wir auch Kontrollmechanismen. Es genügt nämlich nicht nur, Gesetze zu machen; wir müssen auch entscheidende Schritte einleiten, wie wir bundesweit das kontrollieren, was wir hier beschließen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Reuter, warum erwecken Sie den Eindruck, als ginge es uns nicht um den Schutz des Grundwassers? Ich halte diesen Bericht für wert, hier im Parlament diskutiert zu werden; er muß diskutiert werden. Diese fünf Minuten, die wir heute haben, reichen überhaupt nicht aus. Wir brauchen andere Erkenntnisgrundlagen. Die flächendeckende Messung ist unbedingt notwendig.An dem Bericht kann man nicht kommentarlos vorbeigehen, auch die Bundesregierung nicht. Das heißt also, wenn jetzt die Umsetzung des Pflanzenschutzgesetzes in den genannten Verordnungen erfolgt, wirdman auf diese Messungen Rücksicht nehmen müssen. Pflanzenschutzmittel der genannten Art haben im Grundwasser nichts zu suchen.
Wir müssen uns überlegen, wie wir das sicherstellen. Aber es ist doch nicht so, daß Sie hier eine allgemeine Schreckensszenarioberechtigung hätten.
Es sind Stichproben, und denen muß nachgegangen werden. Wir müssen sehen, wie wir das Ziel erreichen, die Pflanzenschutzmittel zu verringern und herauszuhalten. Das ist nicht nur ein Bemühen von heute, sondern das ist immer schon geschehen. Aber was bisher geschehen ist, reicht noch nicht.Deshalb haben wir in der Koalitionsvereinbarung eine ganze Reihe von Punkten, mit denen wir den Boden, das Wasser, Oberflächengewässer und das Grundwasser, besser schützen wollen. Wir haben die Bundesregierung gebeten, eine Grundwasserkonzeplion vorzulegen. Das gleiche gilt für den Bodenschutz. Wir haben uns in der vorigen Legislaturperiode über den Gewässerschutz, das Wasserhaushaltsgesetz, das Wasserabgabengesetz, das Waschmittelgesetz unterhalten. Wir wollen auch das noch einmal überprüfen. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung die verstärkte Förderung des integrierten Pflanzenbaus als einen gesonderten Punkt erwähnt, weil das natürlich ein Anknüpfungspunkt ist, um solche Stoffe zurückzuhalten.
Im übrigen teile ich die Meinung, die hier geäußert worden ist: Es ist nicht nur die Landwirtschaft. Gukken Sie sich mal die Atrazin-Verwender an! Das ist zum Beispiel der Wegebau. Gucken Sie sich mal an, was die Deutsche Bundesbahn mit Atrazinmitteln macht und was da möglicherweise ins Grundwasser geht!
Oder gucken wir uns doch selber an! Wir haben doch Gärten. Was tun wir denn in Kleingärten, Hausgärten usw.?
All dies gehört in die Betrachtung.
Wir wollen also, daß diese ganze Palette der Maßnahmen, die wir vorgesehen haben, jetzt umgesetzt wird. Dazu brauchen wir keine zusätzlichen Aufforderungen. Dazu brauchen wir keine zusätzlichen Katastrophenszenarien, mit denen Sie ja immer arbeiten.
Wir wollen, daß die Instrumente, die wir haben, so geschärft werden, daß sie sich anwenden lassen. Das gilt besonders für die Ausfüllung des Pflanzenschutzgesetzes durch die genannten Verordnungen. Es besteht hier durchaus, besonders durch diese Informationen, die wir bekommen haben, ein Recht des
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 679
BaumParlaments, wie Herr Kollege Schmidbauer ausgeführt hat, uns zu vergewissern, daß die Absichten des Gesetzgebers in diesen Verordnungen zum Tragen kommen.Das heißt, wir werden uns im Ausschuß möglichst bald über die Lage unterhalten müssen. In diesem Sinn und in dieser Zielsetzung brauchen wir keine Aufforderung und keine Stöße von Ihnen. Das machen wir schon selber.
Das Wort hat der Abgeordnete Pfuhl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Baum, ich bin der Meinung: Das Parlament als Ganzes hat eine Aufgabe, nicht nur die Opposition und nicht nur die Regierungsparteien.
Aus diesem Grund sollten Sie uns auch nicht die Ehrlichkeit absprechen, daß wir dazu etwas zu sagen haben.
— Ja, ja.Als ich dieses Thema „Neueste Hinweise auf einen alarmierenden Anstieg bei der Verseuchung von Grund- und Trinkwasser durch Einsatz von Pflanzenschutzmitteln " gelesen habe, habe ich mich gefragt: Ist dies das einzige Problem, das wir im Bereich des Grundwassers haben? Wir alle wissen, daß dies nur ein Teilbereich ist. Als ich dann gehört habe, daß man Messungen durchgeführt hat, die teilweise nur im Bereich der Landwirtschaft, andererseits aber in den Uferfiltraten stattgefunden haben, habe ich gedacht: Nun machen wir das Thema etwas weiter. Denn die Messungsergebnisse bei den Uferfiltraten sind ja wohl nicht auf Verunreinigungen durch Pflanzenschutzmittel der Landwirtschaft zurückzuführen, sondern die könnten meiner Ansicht nach doch viel eher von Sandoz & Co. kommen, die an den Flüssen ihre Betriebe haben und dort ihre Abwässer einleiten. Deswegen sollten wir hier weiter als nur in den Bereich der Landwirtschaft greifen. Leider Gottes schien es vielen, die die Zeitung aufschlugen, als seien hier die Bauern die Schuldigen.
Dagegen wende ich mich. Denn den Beelzebub bei der Landwirtschaft zu suchen, ist zu einfach.
Die Landwirtschaft kann unter den Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeitet, doch nicht der Schuldige an der Geschichte sein.
Ja, meine Damen und Herren!
Niemand, der Verantwortung trägt, wird die Gefahren verniedlichen, die im Zusammenhang mit derVerunreinigung des Grundwassers bestehen. Und niemand wird hier bestreiten, daß auch im Bereich des Pflanzenschutzes — das ist ja der Grund, warum das Gesetz gemacht wurde und warum wir hier neue Möglichkeiten der flächendeckenden Überprüfung erörtern — die Ernsthaftigkeit auf allen Seiten vorhanden ist.Wir sollten uns aber hüten, einen auszugucken, ihn als den Schuldigen hinzustellen und dabei zu vergessen, daß das Spektrum dessen, was wir hier abzudekken haben, weit ist. Das Thema ist also nach meiner Ansicht in dieser Hinsicht etwas zu kurz gegriffen.Aber die Gas- und Wassermänner, wie ich sie nenne — ich selber gehörte in meiner Bürgermeisterzeit diesem Verein an —, scheinen mir hier nur die Notwendigkeit zu sehen, auf andere zu deuten, statt zu prüfen, inwieweit sie selber durch überproportionale Ausbeutung des Grundwassers zu diesen Problemen beigetragen haben.
Auch dies möchte ich an dieser Stelle einmal sagen. Allerdings bin ich ihnen dankbar, daß sie dieses Thema in diesem Fall aufgegriffen haben.Die Landwirtschaft kann -- das habe ich soeben gesagt — nur innerhalb der Rahmenbedingungen, die wir gesetzt haben, arbeiten.
Und solange der Landwirt seine Existenz nur dadurch sichern kann, daß er immer mehr und mehr produziert, wird er einfach gezwungen, Einsatz und Verwendung von Pflanzenschutz- und Düngemitteln zu intensivieren. Das heißt: Wir müssen neue Rahmenbedingungen für die Agrarpolitik schaffen, damit die Landwirtschaft existieren kann.
Wir alle haben ja in den Debatten hier jeweils erklärt, daß wir dafür sind, so viel landwirtschaftliche Betriebe, Existenzen wie möglich zu sichern. Also müssen wir auch dazu beitragen, den Landwirten die Möglichkeit zu geben, zum einen weiterhin zu produzieren und davon zu leben, aber zum anderen ihre Aufgabe als Umweltschützer im Rahmen der Dienstleistungsbereiche auch honoriert zu bekommen. Es gilt also, die Landwirte nicht nur zu loben, sondern ihre Arbeit auch zu honorieren.
Ich glaube, dies ist etwas, was wir tun sollten. Leider Gottes haben wir in der Vergangenheit, z. B. bei der Verabschiedung des Wasserhaushaltsgesetzes, nicht dafür gesorgt, bundeseinheitliche Regelungen für die Entschädigung zu schaffen.
— Herr Göhner, darüber haben wir uns ja gestritten. Sie sollten das einmal schnell nachholen. Dann hätten wir vielleicht eine bessere Ausgangsposition für die Landwirtschaft.
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680 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987
PfuhlHerzlichen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herr Grüner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte zunächst sagen, daß Herr Umweltminister Töpfer es tatsächlich sehr bedauert, daß er bei dieser aktuellen Diskussion nicht dabeisein kann; Frau Dr. Segall hat es angesprochen. Sie wissen wahrscheinlich, daß er sich auf der Umweltministerkonferenz in Bremen befindet. Die Themen, die dort anstehen, sind von herausragender Bedeutung, u. a. auch das Thema, das wir hier behandeln — mit einem entsprechenden Antrag aus dem Kreise der Länder, den wir für sehr förderungswürdig halten. Ich bitte deshalb in seinem Namen ausdrücklich um Verständnis, daß er angesichts der Bedeutung der Lander für den Umweltschutz nach entsprechender Abwägung seine Anwesenheit als neuer Umweltminister bei dieser Konferenz für richtig gehalten hat.
— Ich finde es sehr dankenswert, daß Sie das sagen, und möchte hinzufügen: Es ist hier kritisiert worden, daß Herr Töpfer seine organisationspolitischen Vorstellungen vor der Personalversammlung dargestellt hat. Ich meine, es war wirklich der richtige Ort, daß er bei seinem Antritt — —
— Nein, ich glaube nicht, daß man das so sehen kann.
Denn es ist doch wohl klar, daß für die Organisation des Ministeriums auch in unserer parlamentarischen Demokratie der Minister zuständig ist und daß das Personal von solchen Entscheidungen in besonders hohem Maße betroffen wird. Ich bin im übrigen zuversichtlich, daß die von ihm angestrebten Personal- und insbesondere Sachentscheidungen im Bereich der Organisation auf die volle Zustimmung des Ausschusses stoßen werden, weil es ja im Kern ausschließlich darum geht, die Aktivität und die Intensität der Arbeit in wichtigen Bereichen unseres Umweltschutzes zu verstärken.Ich möchte auch dem Eindruck entgegentreten, der hier verschiedentlich erweckt worden ist, als ob die Bundesregierung oder die Koalitionsfraktionen diehier diskutierten Fragen verharmlosen oder gar beschönigen wollten.
Die Darstellung des Sachverhaltes, die Darstellung dessen, was wir im Augenblick wissen, die ehrliche Darstellung auch dessen, was wir nicht wissen, kann nicht als Verharmlosung angesehen werden.
Wir sind dankbar dafür, daß der Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft dieses Thema aufgegriffen hat, daß er mit seinen Feststellungen dazu beigetragen hat, daß diese Aktuelle Stunde stattfindet. Ich begrüße ausdrücklich, daß hier angekündigt worden ist, daß wir Gelegenheit haben werden, diese Fragen im Ausschuß eingehend zu besprechen — ich hoffe, unter Hinzuziehung auch der Wissenschaftler, die wir brauchen — , um darstellen zu können, was wir feststellen und was wir nicht feststellen können.
Ich halte den Hinweis für wichtig, daß das Regierungshandeln an die Gesetze gebunden ist, die Sie hier im Deutschen Bundestag gemacht haben. Das heißt konkret: Wir sind nicht in der Lage, auf Verdacht zu verbieten. Das hat uns der Deutsche Bundestag verboten.
Wenn hier jemand anderer Meinung sein sollte, dann sollte er als Parlamentarier das auf den Tisch legen. Dann sollte hier ein Antrag vorgelegt werden, der die Bundesregierung auffordert, ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage zu entscheiden. Ich glaube, daß die Diskussion einer solchen Frage uns sehr rasch deutlich machen würde, wohin das notwendigerweise führen würde.Die Bundesregierung hat -- das ist von Herrn Dr. Göhner und anderen eingehend dargelegt worden — mit der Fünften Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz die notwendigen rahmenrechtlichen Regelungen zur Verbesserung des Grundwasserschutzes geschaffen. Wir erarbeiten zur Zeit eine Konzeption für weitere Maßnahmen zum Grundwasserschutz. In dieser Konzeption — Schwerpunkte des Grundwasserschutzes — werden auch die Probleme der Grundwassergefährdung durch Pflanzenschutzmittel behandelt und Maßnahmen zur Problemlösung vorgestellt.Die jetzt mitgeteilten Meldungen über das Auftreten von Pflanzenschutzmitteln im Grundwasser und auch in Trinkwasserbrunnen sind sicher auch darauf zurückzuführen, daß die 1989 in Kraft tretenden Grenzwerte für Pflanzenschutzmittel in der Trinkwasserverordnung vermehrte Aufmerksamkeit gefunden haben. Das heißt, allein diese Grenzwerte — das ist hier dargestellt worden — , die extrem niedrig, an der Grenze der Nachweisbarkeit sind, haben das ausgelöst, was wir umweltpolitisch wollen, nämlich: Untersuchungen, Vorsichtsmaßnahmen. Ich verstehe voll-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 681
Parl. Staatssekretär Grünerkommen, daß die Wasserwerke schon heute Alarm rufen, weil sie nicht in die Lage kommen wollen, 1989 bekennen zu müssen, daß diese Grenzwerte im Grundwasser nicht eingehalten sind.
Sie wollen schon jetzt die Verantwortlichen feststellen. Ich meine, wir müssen hier ehrlich zugestehen, daß heute niemand sagen kann, ob die von uns festgesetzten Werte in allen Fällen 1989 auch eingehalten werden.
Ich finde es ungeheuer wichtig, daß wir das hier auch sagen, weil tatsächlich niemand ganz genau weiß, was schon geschehen und nicht mehr rückholbar ist.
Ich meine deshalb, daß es uns nicht erspart bleibt, diese Grenzwerte festzustellen, daß wir aber nicht in die Gefahr kommen dürfen, auf Grund dieser Grenzwerte den Vorwurf zu bekommen, wir hätten nicht rechtzeitig gehandelt.
Wir haben so rechtzeitig gehandelt,
wie das nach unseren Kenntnissen möglich war.Nach dem Kenntnisstand, den wir derzeit haben, muß auch offen bleiben, ob es sich wirklich um einen stetigen Anstieg der Gehalte von Pflanzenschutzmitteln handelt
oder ob nicht erst die neuen Messungen diesen Gehalt ergeben haben. Aber die Sorgen müssen außerordentlich ernst genommen werden. Denn die vor Inkrafttreten des neuen Pflanzenschutzgesetzes zugelassenen Pflanzenschutzmittel werden im Augenblick erst überprüft. Das ist ja betont worden.
Leider erfordert diese Überprüfung einen sehr erheblichen Zeitraum. Für eine Rücknahme von Zulassungen ist gesetzliche Voraussetzung, daß eine solche Überprüfung zu dem Ergebnis der Schädlichkeit führt.
Darauf habe ich hingewiesen.
Prioritär muß natürlich die Überprüfung von Atrazinsein. Das ist völlig richtig. Dies ist die vordringlicheAufgabe, die wir den dafür zuständigen Behörden gestellt haben.
— Frau Kollegin, die Grenzwerte, die in der Trinkwasserverordnung festgelegt worden sind — ich unterstreiche, was hier schon gesagt worden ist —,
sind extrem niedrig. Der Grenzwert ist nicht toxikologisch begründet. Er drückt aus, daß Pflanzenschutzmittel aus Vorsorgegründen nicht im Trinkwasser auftreten sollen.
Grenzwertüberschreitungen sind deshalb kein gesundheitliches Risiko,
solange sie zeitlich begrenzt sind.
— Es ist richtig, daß wir vieles nicht wissen. Aber wir wehren uns dagegen, daß Sie hier so tun, als ob Sie alles wüßten. Das ist leider nicht der Tatbestand.
Wir wissen leider vieles nicht, und wir müssen gemeinsam dafür sorgen, daß wir möglichst schnell einvernehmliche Grundlagen für mehr Zusammenarbeit auf diesem Sektor finden.Das gilt auch für die Rolle des Landwirts. Selbstverständlich kann er nicht an den Pranger gestellt werden, sondern es geht um die
Mittel, die wir ihm zur Verfügung stellen und die wir überprüfen müssen. Aber wir müssen auch mit der Gefahr rechnen, daß ein Verbot zu Beschränkungen führt, die auch den Landwirt betreffen können, wenn man an die Stelle der zu verbietenden Mittel nicht etwas anderes setzen kann.Lassen Sie mich abschließend deutlich die Zielsetzung nennen: scharfe Anforderungen an das Zulassungverfahren, Stärkung der Eigenverantwortung der Anwender — auch durch sachgerechte Beratung —, Ausweisung aller notwendigen Trinkwasserschutzgebiete, um durch Auflagen und durch intensive Überwachung Restrisiken zu vermindern — hier die bedeutende Zuständigkeit der Länder — und insbesondere möglichst rasche Entwicklung umweltfreundlicherer Pflanzenschutzmittel durch die Chemieindustrie.
682 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8 Mai 1987
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, man muß zunächst einmal feststellen, daß wir von der Union die Diskussion für notwendig halten. Aber das ändert nichts daran, daß die Begründung für diese Aktuelle Stunde abenteuerlich ist.
Uns werden doch zur Begründung dieser angeblich neuen Hinweise Listen vorgelegt, die viele Vorgänge und Messungen aus dem Ausland enthalten. Soweit die Messungen überhaupt in Deutschland stattgefunden haben, liegen sie oft jahrelang zurück. Das eigentlich Traurige ist, daß erst die neue Koalition aus diesen Listen die richtigen Konsequenzen gezogen hat.
— Ich will hier nichts verharmlosen. — Gestern haben mir die Behörden — das ist allerdings wirklich neu —, auch die bayerischen Behörden bestätigt, die jetzt erst anlaufenden systematischen Messungen hätten auch in Bayern ergeben, daß die neu festgesetzten Grenzwerte, die noch gar nicht gelten, teilweise überschritten werden.
Meine Damen und Herren, das sind überhaupt keine erfreulichen Prognosen. Darüber müssen wir diskutieren. Aber wir brauchen erst einmal systematische Meßergebnisse. Bevor Sie schon zu Beginn der Messungen den Alarm ausrufen, sollten wir hier zunächst einmal festhalten, daß die neuen Gesetze diese systematischen Messungen erst einmal ausgelöst haben.
Wir hinken, Frau Kollegin, in diesem Bereich nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik hinterher, sondern wir waren gar nicht in der Lage, die schon beschlossenen Grenzwerte sofort in Kraft zu setzen, weil die Analysemethoden zum Teil noch fehlen.
Wir von der Union und wir in der neuen Koalition benutzen bewußt den technischen Fortschritt, um uns immer genauere Kenntnisse zu verschaffen nicht nur über die Gefährdung des Menschen, sondern auch über die Verunreinigung von Luft, von Wasser, von Boden.
Meine Damen und Herren, wenn man aus neuen Erkenntnissen immer den Schluß zieht, daß die Risiken für den Menschen zunehmen, dann halte ich das für einen Fehlschluß. Er ist manchmal richtig, häufig falsch, und es ist vor allem ein typisch grüner Fehlschluß. Sie haben es geradezu für notwendig gehalten, von Verseuchung zu sprechen. Sie versetzen damit die Menschen völlig unnötig in Panik.
Ich habe hier nicht die Zeit, um Ihnen zu erläutern,
was es bedeutet, wenn ein nach dem Vorsorgewert
festgelegter Grenzwert überschritten wird. Das kann ich hier aus Zeitgründen nicht.
Sie wissen es wahrscheinlich nicht, was das bedeutet; vielleicht wissen Sie es aber auch.
Doch wenn Sie das wissen, dann befolgen Sie halt die Handlungsanleitung Ihres Fraktionssprechers, der uns erst vor kurzem wieder im „Spiegel" darauf aufmerksam gemacht hat, was Sie eigentlich hier wollen: Sie wollen in diesem Staat einiges aufmischen, Sie wollen einiges in Unruhe bringen,
und Sie wollen polarisieren, steht da. Für diese Politik brauchen Sie den verunsicherten Bürger,
und wir wollen den aufgeklärten Bürger.
— Frau Kollegin Unruh, Zwischenrufe sollte man nicht nach der Zahl und nicht nach der Lautstärke beurteilen, sondern nach dem Inhalt; und da schneiden Sie ganz schlecht ab.
Von den GRÜNEN unterscheidet uns nicht die Sehnsucht nach der heilen Welt, sondern die Erkenntnis, daß den Menschen bei Ihrem Handeln Grenzen gesetzt sind.
Wenn man nicht jedes Molekül, das man mit verfeinerter Nachweistechnik überall in unserer Welt nachweisen kann, schon zum Problem erklärt, dann werden Sie sich vielleicht wundern: Ich bin für die Null-Lösung, bezogen auf die Reststoffe der Pflanzenschutzmittel im Grundwasser. Bloß, wir brauchen dafür ein bißchen Zeit. Die Gesetze sind doch kaum in Kraft getreten. Wir wenden sie jetzt an. Die ersten Ergebnisse der Analysen zeigen doch den Zustand vor der neuen Gesetzeslage auf. Das Ganze bewirkt doch etwas.
Warum können wir denn optimistisch sein? Selbst das hier angesprochene Atrazin hat nach meinen Informationen eine Zerfallzeit von sechs Monaten. Wir können da ja noch Weiteres entwickeln. Ich bin hoffnungsvoll. Wir müssen das neue Wasserhaushaltsgesetz erst einmal richtig anwenden. Der Kollege Göhner hat es schon gesagt.
Meine Damen und Herren, in Mittelfranken gibt es einen Praxisversuch mit mechanischer Unkrautbekämpfung. Das ist übrigens von einer CSU-Mehrheit beschlossen worden. Ich sage jetzt nicht von wem. Da hatten die Bauern ursprünglich gesagt: Jetzt spinnen auch die CSUler.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8 Mai 1987 683
Dr. Friedrich
Und gestern habe ich mit dem Obmann des Bauernverbandes in meinem Wahlkreis geredet. Er sagt: Da ist in Sachen integrierter Pflanzenschutz eine erfolgreiche Lösung gefunden worden.
— Frau Unruh, Sie dürfen doch nicht erwarten, daß die Bauern in Mittelfranken und erst recht die in Schleswig-Holstein die neuen Maschinen jetzt schon kennen und schon anwenden können. Das dauert ein bißchen. Wir brauchen Geduld.
Meine Damen und Herren, ich muß hier etwas abkürzen, weil ich immer auf Zwischenrufe eingehe. Deshalb nur folgendes.
Sie können nur noch einen schönen Satz sagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte deshalb nur folgendes abschließend anmerken. Unsere Landwirte entwickeln ein Umweltbewußtsein. Wir sollten sie dabei unterstützen und nicht behindern. Das, was wir von ihnen erwarten, kostet mehr Arbeit, kostet mehr Geld. Das finanzielle Ergebnis darf nicht nur bei den Landwirten landen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist überschritten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin beim letzten Satz.
Meine Damen und Herren, die Landwirte sind nicht in der Lage, allein vom Umweltbewußtsein zu leben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lennartz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege, es war Ihre Jungfernrede. Ich will hoffen, daß die nächste vom Inhalt her ein bißchen besser aufbereitet wird.
— Wissen Sie, wenn einer so gehässig ist gegenüber der Kollegin Unruh mit ihren Zwischenrufen, obwohl die Kollegin sich nicht wehren kann, dann muß man auch einen Satz über die Form sagen.
Meine Damen und Herren, wir halten fest: Unser Trinkwasser ist in Gefahr, weil immer mehr Pflanzenschutzmittel ins Grundwasser gelangen. Im Laufe der letzten zehn Jahre, Herr Kollege Göhner, ist der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der Bundesrepublik um 60 % gestiegen. 60 %! Wir dürfen annehmen, daß die Verunreinigung unseres Grundwassers im selben Maße zugenommen hat.
Das Grundübel bei der drohenden Verseuchung des Grundwassers ist wieder einmal u. a. die industrielle landwirtschaftliche Produktion.
Das Glaubensbekenntnis der bundesrepublikanischen und europäischen Landwirtschaftspolitik — immer mehr, immer größer, Masse statt Klasse — zwingt nicht nur die Landwirte in einen ruinösen Wettbewerb bei der Ausbeutung der Böden; diese irrsinnige Lehre beschert uns auch Fleisch voller Chemie, Obst und Gemüse mit Wachs- und Chemieschicht. Auch bedroht sie die Trinkwasserversorgung der Menschen in den Industrienationen.
Allein in der Bundesrepublik Deutschland fördern die öffentlichen Wasserversorger jede Stunde knapp 750 Millionen Liter Wasser, von dem Menschen trinken können, sollen, müssen. Die Menschen erwarten von der Bundesregierung zu Recht, daß sie unsere Lebensgrundlagen schützt, erhält und behütet. Die Bundesregierung enttäuscht diese Erwartungen bitter. Nicht nur bei der Reinhaltung unserer Atemluft, unserer Nahrungsmittel und der Böden, auf denen die Nahrungsmittel wachsen, auch bei der Reinhaltung des Lebenselixiers Wasser versagt diese Bundesregierung. Diese Regierung und diese Koalition und ihre mangelhaften Regelwerke werden zum wiederholten Male von der Rasanz der zunehmenden Vergiftung überholt.
Was für unsere Luft das Brüsseler Katalysator-Debakel, die mangelhafte Großfeuerungsanlagen-Verordnung, die butterweiche TA Luft sind, sind für unser Wasser das Wasserhaushaltsgesetz und das Pflanzenschutzgesetz:
ungenügend, zu viele Ausnahmen, kein wirksames Regelwerk zum Schutz des Trinkwassers.
Ein Großteil der Grundwasservorkommen in der Bundesrepublik Deutschland ist besonders anfällig gegen die Auswaschung von Pflanzenschutzmitteln aus den Böden, weil sie eben von stark wasserdurchlässigen Mitteln und Schichten bedeckt sind.
Was gibt es zu tun, wenn man politische Verantwortung ernst nimmt? Das hat die SPD-Bundestagsfraktion auf den Tisch gelegt. Erstens. Grundwasser muß unabhängig von den Wasserschutzgebieten vor schädlichen Auswirkungen der Pflanzenschutzmittel geschützt werden. Das sieht der Pflanzenschutzanwendungsentwurf nicht vor. Zweitens. Pflanzenschutzmittel dürfen nicht angewendet werden, wenn sie den Naturhaushalt beeinträchtigen. Drittens. Der Staat muß flächendeckend die Qualität des Grundwassers messen und die bekannten Nachweisverfahren für die Bestimmung von Pflanzenschutzmitteln im Grundwasser offenlegen lassen.
Die 6 500 öffentlichen Wasserversorger in der Bundesrepublik Deutschland bedürfen dringend dieser staatlichen Unterstützung, um ihre Arbeit vernünftig machen zu können.
684 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8 Mai 1987
Lennartz
Aber die Offenlegung der Nachweisverfahren alleine genügt nicht. Von den 300 Pflanzenschutzmitteln, die bei uns eingesetzt werden, sind zur Zeit nur knapp 50 durch Analysen nachweisbar, d. h. von 250 angewendeten Pflanzenschutzmitteln wissen wir überhaupt nicht, ob sie das Grundwasser schädigen, ob sie überhaupt im Grundwasser sind.
Die politische Konsequenz muß doch demzufolge zwingend sein: Pflanzenschutzmittel dürfen nur genehmigt werden, wenn sie auch analytisch nachweisbar sind.
Umgekehrt heißt das doch: Ein Mittel, bei dem wir nicht messen können, wie weit es uns schon vergiftet hat, gehört nicht in den Handel und darf nicht zugelassen werden. Das ist politische Konsequenz.
Alles andere ist Selbstmord auf Raten. Das gilt auch auf Ministerebene.
Bodenschutz muß auch gesetzlich unzweideutig Gewässerschutz werden. Der Bodenschutz muß eine stärkere Verankerung auch im Wasserhaushaltsgesetz erfahren. Eine vernünftige Landwirtschaftspolitik wird auch unsere Böden schonen, weil sie dann weniger Chemie brauchen. Weniger Chemie im Boden bedeutet weniger Chemie im Grundwasser und mehr Gesundheit für die Menschen.
Herr Kollege Rüttgers, bei Ihrer Rede mußte man den Eindruck gewinnen, per Verordnung bleibt das Grundwasser sauber. Jetzt zitiere ich einmal den neuen Umweltminister, den Kollegen Töpfer. Der bemerkt zum Thema Grundwasserverseuchung mit Pestiziden, daß wir in Zukunft eher mehr denn weniger haben werden. Ihre Aussage ist: weniger. Er sagt genau das Gegenteil.
Auf die Frage, ob denn nicht nur solche Stoffe zugelassen werden sollten, die auch in Spuren mit einfachen Mitteln nicht nachzuweisen sind, antwortet Töpfer: Die Nachweisanalytik sollte in das Genehmigungsverfahren einbezogen werden.
Ich kann nur hoffen, daß der Kollege Töpfer nicht wie beim Raucher-Pfennig in dieser Frage ebenfalls umkippt. Wir werden ihn prüfen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Michels.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand sollte sich hier hinstellen und sich dieses, wie wir alle doch glauben, so wichtigen Themas oberlehrerhaft annehmen.
Der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist das Werk der Landwirtschaft und der in ihr arbeitenden Menschen seit vielen Generationen. Vor wenigen Monaten haben wir das neue Pflanzenschutzgesetz verabschiedet. Wer die heutigen Werte, über die wir diskutieren, beurteilen will, muß sich doch fragen: Welche Werte gab es denn früher? Noch nie haben wir es mit so feinen Meßmethoden wie heute zu tun gehabt. Vor wenigen Jahren überhaupt noch nicht faßbare Mengen erscheinen heute an der fünften Stelle hinter dem Komma auf der Skala der Meßgeräte.So wie die Landwirtschaft verpflichtet ist, alles Erdenkliche zu tun, um einen Eintrag von Schadstoffen in Boden und Wasser zu verhindern, so sind aber auch alle untersuchenden Stellen verpflichtet, die Genauigkeit der Proben zu garantieren, die zur Ermittlung von Meßwerten entnommen werden. Die Wissenschaft tut gut daran, einmal die realen Mengenverhältnisse darzustellen. Das ist hier heute von dieser Stelle aus schon einmal geschehen. Ich darf es noch einmal sagen: Ein Nanogramm steht zu einem Liter im Verhältnis wie eine vierköpfige Familie zur gesamten Weltbevölkerung. — Klarheit bringt Wahrheit.Wenn die begründbare Gefahr besteht, daß ein Pflanzenschutzmittel negative Gesundheitswirkungen hat, dann muß es aus dem Verkehr gezogen werden. Auch können durch Nutzungsänderungen in Trinkwasserschutzgebieten natürliche Schutzdämme errichtet werden. Das Land Schleswig-Holstein hat hier eine zukunftsweisende Vereinbarung über die Änderung der landwirtschaftlichen Nutzung getroffen, und zwar auf der Insel Föhr. Für die Umwandlung von Ackerland in Dauergrünland mit entsprechenden Einschränkungen im Pflanzenschutz- und Düngebereich werden jährlich 675 DM je Hektar an die Landwirte als Ausgleich gezahlt.Ich fordere alle Kritiker auf, für ganz Europa die gleichen Rückstandsbegrenzungen zu fordern und durchzusetzen
und keine importierten Nahrungsmittel zu kaufen, die unter weniger gesundheitsbezogener Auflage produziert sind.
Eine Verniedlichung dieses Problems wäre natürlich genauso verhängnisvoll wie die hier heute wiederholt gehörte Überzeichnung. Wenn der Landwirt in Wasserschutzgebieten auf den Einsatz von Atrazin verzichtet und ein anderes Mittel verwendet, so ist auch dies ein Kostenfaktor von ganz enormer Bedeutung.Wir sollten hier nicht direkt und auch indirekt immer nur jede Gelegenheit suchen, bei diesem Thema die Landwirtschaft an den Pranger zu stellen.
Wir haben auch keinen Grund anzunehmen, daß dieLandwirte dieses recht teure ertragssichernde Pro-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 11. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Mai 1987 685
Michelsduktionmittel mehr als wirklich nötig einsetzen. Gerade mit Rücksicht auf die jungen Landwirte muß hier einmal gesagt werden, daß sie mit einer hervorragenden Ausbildung und mit einer Verantwortung, wie sie beispielhaft ist, sich der Anwendung dieser Pflanzenschutzmittel angenommen haben.Die Zahl der bei uns zugelassenen Pflanzenschutzmittel ist sogar rückläufig. Wir haben heute insgesamt weniger Pflanzenschutzmittel im Umlauf, als das früher der Fall war. Die Landwirtschaft hat seit Urzeiten die Menschen ernährt, ihre Gesundheit gesichert. Die Landwirtschaft wird doch nicht die Menschen, für die sie arbeitet, in ihrer Gesundheit gefährden.Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende.
Herr Kollege Michels, das wollte ich mir gerade vorbehalten.
Ich kann Ihnen verkünden, daß wir am Ende der Aktuellen Stunde sind.
Wir sind damit auch am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. Mai 1987, 13 Uhr ein.
Auch ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.