Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, ich habe zunächst einige Mitteilungen: Der Abgeordnete Dr. Linde hat am 10. November 1983, der Abgeordnete Grobecker am 14. November 1983 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger des Abgeordneten Dr. Linde hat am 11. November 1983 der Abgeordnete Neumann , als Nachfolger des Abgeordneten Grobecker am 15. November 1983 der Abgeordnete Hettling die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße diese Kollegen, von denen uns der Abgeordnete Neumann kein Fremder ist, und wünsche ihnen im Deutschen Bundestag eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit uns allen.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung dieser Woche um die Beratung folgender Anträge erweitert werden: Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN, Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen, Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen, Antrag der Fraktion der SPD, NATO-Doppelbeschluß und Stand der INFVerhandlungen. Die Anträge sollen mit dem Punkt 1 der Tagesordnung in verbundener Aussprache behandelt werden. Sind Sie damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung und die soeben genannten Anträge auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen
Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen
— Drucksache 10/617 —
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen
— Drucksache 10/620 —
und
Antrag der Fraktion der SPD NATO-Doppelbeschluß und Stand der INFVerhandlungen
— Drucksache 10/621 —
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist eine zweitägige Aussprache vereinbart worden. Sie soll heute unmittelbar nach der Erklärung beginnen, um 23 Uhr unterbrochen und morgen um 9 Uhr fortgesetzt werden. Für heute und morgen ist keine Mittagspause vorgesehen. Die Abstimmungen sollen morgen nach Schluß der Aussprache durchgeführt werden. Sind Sie damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
— Meine Damen und Herren, üblicherweise arbeiten wir hier im Sitzen. Aber ich will niemanden hindern, stehend den Respekt zu erweisen. — Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute führen wir erneut eine große Debatte
über die Grundsatzfrage, wie in unserem Land, wie in Westeuropa Frieden und Freiheit gesichert werden können. Wer vom Frieden spricht, muß sich am Maßstab der Freiheit messen lassen.
Freiheit ist für uns Bedingung des Friedens. Sie kann nicht sein Preis sein.
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2322 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundeskanzler Dr. KohlWer bereit ist, die Freiheit für den Frieden zu riskieren, wird beide verlieren.
Bedroht durch inneren und äußeren Druck, im Ringen um Freiheit und Menschenrechte waren es im letzten Jahr die polnischen Bischöfe, die ins Gedächtnis riefen, was immer und überall gilt:Die Berufung auf Freiheit ist das Recht jedes Menschen und jeder Nation. Sie ist eine Aufgabe, jedem Menschen und jeder Nation gestellt. Wir sehen die Freiheit und den Frieden, der mit ihr verbunden ist, als Frucht des bewußten und durchdachten Handelns.
Dieses Zitat der katholischen Bischöfe Polens spricht für sich.Die Sicherung des Friedens in Freiheit — dies bleibt die beherrschende Aufgabe unserer Zeit. In dieser Verantwortung stehen wir bei den Diskussionen, die wir führen, und bei den Entscheidungen, die wir zu treffen haben. Wir alle sind für den Frieden.
Worüber wir streiten, das ist der beste Weg, den Frieden zu erhalten.Das Leitmotiv meines Handelns bleibt, wie ich es in der Regierungserklärung am 4. Mai dargelegt habe: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, beim NATO-Doppelbeschiuß geht es nicht zuerst um eine technische Frage der Rüstung, nicht allein darum, ob eine Waffenart durch eine andere ersetzt werden soll. Es geht um das Gleichgewicht der Kräfte und damit um die Grundlage des Friedens in Europa.
Es geht um die Frage, ob Rüstungskontrolle helfen kann, ein Gleichgewicht auf niedrigem Niveau herzustellen und zu stabilisieren. Es geht darum, ob sich die Partner in der Solidargemeinschaft. des Bündnisses weiter auf die Bundesrepublik Deutschland — und wir uns auf sie — verlassen können.
Es geht darum, ob das Bündnis auf der Grundlage vertrauensvoller und freundschaftlicher Beziehungen Westeuropas zu den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada auch in den letzten Jahren dieses Jahrhunderts seine Aufgabe erfüllen kann, Frieden und Freiheit zu sichern.
Schließlich, meine Damen und Herren, geht es im Kern, im entscheidenden Kern um die Frage, ob wir, ob die Bundesrepublik Deutschland willens und fähig ist, sich mit ihren Verbündeten einem Vormachtanspruch der Sowjetunion entgegenzustellen oder nicht.
Die außenpolitische Orientierung unseres Landes steht auf dem Spiel. Es darf der Sowjetunion nicht gelingen, mit Hilfe ihrer gewaltigen Rüstungsanstrengungen, die durch kein erkennbares Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnis zu rechtfertigen sind, uns Westeuropäer einzuschüchtern, unsere politische Handlungsfreiheit einzuengen und uns von den Vereinigten Staaten zu trennen.
Nur wenn wir dies verhindern können, bleibt die Tür offen zu einer Friedensordnung in Europa, die auf Gerechtigkeit beruht und nicht auf Gewalt. Nur eine solche Friedensordnung kann den Frieden endgültig sichern. Das sollte auch die Sowjetunion erkennen lernen.Es ist der politische Wille der Sowjetunion, von dem wir uns bedroht fühlen. Waffen sind Gegenstände. Sie drohen niemandem. Es ist der politische Wille, es ist die Drohung, die hinter ihnen steht, die Spannungen schafft. Vergessen wir das nicht, wenn wir heute und morgen über den NATO-Doppelbeschluß diskutieren.Unsere Allianz, die NATO, ist defensiv.
Sie hat das in 30 Jahren ihrer Existenz bewiesen. Das Atlantische Bündnis hat noch in seiner Bonner Erklärung am 10. Juni 1982 erneut bekräftigt: „Keine unserer Waffen wird jemals eingesetzt werden — es sei denn, als Antwort auf einen Angriff."
Unser eigenes Bekenntnis zum Gewaltverzicht wird erweitert durch die ethische Pflicht, andere davon abzuhalten, uns anzugreifen.Das elementare Ziel der Atlantischen Allianz war und ist es, Krieg zu verhindern, damit Frieden und Freiheit gesichert bleiben. Die sicherste und bisher einzige Garantie dafür ist die Abschreckung auch mit Nuklearwaffen.Es ist unser Ziel, jeden Krieg zu verhindern,
den nuklearen wie den konventionellen, denn auch konventionelle Waffen wirken verheerend. Schon wegen der gewaltigen konventionellen Bedrohung bleiben wir auf die Abschreckung auch mit Nuklearwaffen angewiesen.Ich weiß ùm die Angst und die Gewissensnot, die manche unserer Bürger tief beunruhigen, denn wir alle kennen die schreckliche Wirkung von Nuklearwaffen. Meine Damen und Herren, um so größer ist unsere politische und moralische Verantwortung, Voraussetzungen zu schaffen, die den Einsatz dieser und anderer Waffen verhindern.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2323
Bundeskanzler Dr. KohlDer Friede im nuklearen Zeitalter ist aber nur so sicher wie die Gefahr des Untergangs für den, der ihn bricht.
Deshalb wäre der einseitige Verzicht auf Abschrekkung ein unkalkulierbares Risiko. Für solche Wagnisse ist der Friede in Freiheit ein zu kostbares Gut.
Wir müssen also vorerst weiter mit nuklearen Waffen leben und damit in der ungeheuren Spannung zwischen ihrer Vernichtungskraft und ihrer friedenssichernden Wirkung.Um den NATO-Doppelbeschluß in seiner politisch-strategischen Bedeutung richtig einzuordnen, müssen wir auch heute einen Blick zurückwerfen: Anfang der 60er Jahre war die nuklearstrategische Situation zwischen den beiden Weltmächten dadurch gekennzeichnet, daß die Vereinigten Staaten eine erdrückende Überlegenheit an Nuklearwaffen interkontinentaler Reichweite besaßen. Beide Mächte, die USA und die Sowjetunion, verfügten in Europa über Mittelstreckenraketen.Die Amerikaner zogen ab 1963 ihre eigenen Mittelstreckenflugkörper aus Europa ab. Sie verminderten außerdem ihre nuklearstrategische Zerstörungskapazität auf ein Viertel dessen, was sie zu Beginn der 60er Jahre besessen hatten.Die Sowjetunion hingegen behielt nicht nur ihr eurostrategisches Potential, sondern baute es sogar, wie wir alle wissen, seit Beginn der 70er Jahre zu einem eigenständigen Machtfaktor in Europa aus.Diese beiden gegenläufigen Entwicklungen kreuzten sich 1974, als beide Weltmächte die inzwischen von der Sowjetunion erreichte nuklearstrategische Parität in der Erklärung von Wladiwostok programmatisch festhielten. Das Mittelstreckenpotential blieb jedoch — wie beim SALT-I-Abkommen — außerhalb dieser Vereinbarung.Zugleich wurde in jenen Tagen den Europäern bewußt, daß die nuklearstrategische Parität zwischen den beiden Weltmächten für Westeuropa ein zweischneidiges Schwert ist:Für die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion bedeutet Gleichstand bei den Interkontinentalwaffen stabile Abschreckung. Durch den Einsatz dieser Waffen kann keiner etwas gewinnen, sondern jeder nur alles verlieren.Für die Europäer und für uns Deutsche jedoch ist der Verlust der nuklearstrategischen Überlegenheit der USA eine der folgenreichsten Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte. Es gibt in Europa keinen Ausgleich mehr für die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes und für die eurostrategische Bedrohung durch die Sowjetunion.Das Bündnis trug diesen Veränderungen — nicht zuletzt auch auf Wunsch der deutschen Bundesregierung — frühzeitig Rechnung, indem es seine Strategie von der „massiven Vergeltung" zur „flexiblen Antwort" weiterentwickelte. Aber — und das wissen wir auch — es wurden nicht die erforderlichen Mittel bereitgestellt. Die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts besteht bis heute fort. Und bis heute verfügt die NATO nicht über landgestützte nukleare Mittelstreckenwaffen, also solche Waffen, die nach der Bündnisstrategie notwendig sind, um die Abschreckung auf allen Ebenen sicherzustellen.Westeuropa, meine Damen und Herren, ist damit in einer anderen Sicherheitssituation als die USA. Wir sind durch die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts bedroht. Wir sind aber auch durch ein nukleares Erpressungspotential an SS-20Mittelstreckenraketen bedroht, das immer stärker wird. Diese Raketen, meine Damen und Herren, zielen auf europäische Städte, nicht auf amerikanische. Die Sowjetunion will uns Europäer bedrohen und gleichzeitig die USA davon abhalten, uns zu schützen.
Schließlich sind wir durch sowjetische Interkontinetalraketen bedroht, die gegen Nordamerika und Europa eingesetzt werden können.Der Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979 soll dieses für uns Europäer gefährliche Ungleichgewicht korrigieren.
Die Sowjetunion hat die Wahl, künftig entweder die gleiche nukleare Doppelbedrohung wie Westeuropa hinzunehmen, nämlich die Bedrohung durch Interkontinental- und Mittelstreckenraketen, oder — und das hoffen wir — zusammen mit der NATO auf eurostrategische Waffen zu verzichten oder sie auf einen niedrigstmöglichen Stand zu bringen.
Mit dem Doppelbeschluß hat das Atlantische Bündnis allerdings auch für die Dauer von vier Jahren darauf verzichtet, die sowjetische Vorrüstung mit der Aufstellung gleichwertiger Waffen zu beantworten. Das Bündnis hat damit eine einseitige Vorleistung erbracht, die in der Geschichte ohne jedes Beispiel ist.
Die Sowjetunion ist dabei, eine historische Chance zu zerstören, indem sie sich diesem neuartigen und mutigen Ansatz zur Abrüstung starr verschließt.Aus der eurostrategischen Bedrohung durch die Sowjetunion ergeben sich für uns zwei politische Kernfragen:1. Ist es mit unserer Sicherheit und unserer politischen Unabhängigkeit vereinbar, wenn die Sowjetunion Westeuropa — das heißt: auch uns, die Bundesrepublik Deutschland — zu einer Zone minderer Sicherheit herabstuft?2. Soll die Sowjetunion ein Instrument behalten, mit dem sie die Geschicke Europas entscheidend beeinflussen kann?Die Diskussion über diese Fragen und damit über den NATO-Doppelbeschluß berührt den Lebensnerv
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2324 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundeskanzler Dr. Kohlder Völker Europas. Jedermann spürt, daß fundamentale Fragen unserer Sicherheit berührt sind.Ich möchte dazu wiederholen, was ich am 4. Mai 1983 in meiner Regierungserklärung gesagt habe:Wir können die Nuklearwaffen nicht über Nacht aus der Welt schaffen. Ein einseitiger Verzicht würde die auf uns gerichtete nukleare Bedrohung nicht mindern, sondern die Gefahr eines Krieges erhöhen. Es gibt nur einen Weg aus diesem Dilemma: Wir müssen die nuklearen Waffen auf beiden Seiten drastisch reduzieren, diejenigen, die unsere Existenz bedrohen, und diejenigen, die wir heute für unsere Sicherheit bereithalten müssen.
Solange nicht umfassende Abrüstung militärische Mittel zur Friedenssicherung entbehrlich macht, bleiben wir auf die bewährte Bündnisstrategie von Abschreckung und Verteidigung auf der Grundlage des Gleichgewichts angewiesen — eine Strategie, meine Damen und Herren, die wie die Streitkräfte der Allianz vom Vertrauen der Völker im Bündnis getragen wird.Diese Sicherheitspolitik hat über Jahrzehnte Zustimmung in unserem Volk und in den demokratischen Parteien gefunden.
Die Stimme unseres Landes war im Bündnis klar und unser Platz unumstritten.Am 26. Mai 1981 wurde auf Antrag der damaligen Bundesregierung unter der Führung von Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Entschließung des Deutschen Bundestages mit nur fünf Gegenstimmen und sechs Enthaltungen verabschiedet. Darin heißt es:Der Deutsche Bundestag unterstützt die Bundesregierung bei der konsequenten und zeitgerechten Verwirklichung des Beschlusses der NATO vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen. Er unterstreicht in diesem Zusammenhang, daß der Westen den Bedarf an Mittelstreckenwaffen in der NATO im Lichte konkreter Verhandlungsergebnisse prüfen wird.In der Debatte rief der SPD-Vorsitzende Willy Brandt Moskau zu: „Stoppt eure Vorrüstung, beseitigt eure Vorrüstung, dann brauchen wir nicht nachzurüsten."
Die CDU/CSU-Fraktion hat damals als Opposition unter meiner Führung dieser Politik zugestimmt. Die von mir geführte Bundesregierung hat diese Politik fortgesetzt. Ich persönlich habe mehrfach erklärt, daß ich mich an den Beschluß der NATO in beiden Teilen gebunden fühle. Die damaligen Bedingungen für beide Teile des Doppelbeschlusses gelten unverändert.Der Doppelbeschluß, meine Damen und Herren, hat zu den Genfer Verhandlungen geführt. In ihm sind die Voraussetzungen, Bedingungen und Ziele der westlichen Verhandlungsposition definiert. Der Doppelbeschluß ist die konkrete Ausformung des Harmel-Berichts von 1967, der nach wie vor die politische Konzeption unseres Bündnisses klar und eindrucksvoll beschreibt, eine Konzeption, die auf dem inneren Zusammenhang von militärischer Sicherheit und Politik der Entspannung beruht. Die Bundesregierung setzt die von ihrer Vorgängerin eingeschlagene Richtung fort und steuert den Kurs der Atlantischen Allianz.Um eine Verständigung zu ermöglichen, haben die USA ihre Position bei den Genfer INF-Verhandlungen in engster Abstimmung mit den NATOPartnern kontinuierlich weiterentwickelt. Im November 1981 schlug Präsident Reagan vor, daß beide Seiten auf die gesamte Kategorie von landgestützten Mittelstreckenraketen größerer Reichweite und ihre Abschußvorrichtungen verzichten. Sein Vorschlag ging von der ehrlichen Überzeugung aus, daß mit dieser beiderseitigen Null-Lösung unseren Sicherheitsinteressen ebenso wie denen der Sowjetunion am besten gedient sei. Ich bedauere nach wie vor, daß sich die Sowjetunion bis heute weigert, diesen wegweisenden Vorschlag anzunehmen.
Im März 1983 schlugen die Vereinigten Staaten ein Zwischenabkommen vor, weil die Sowjetunion offensichtlich nicht bereit war, wie der Westen auf Mittelstreckenraketen insgesamt zu verzichten. Dieser Vorschlag kam der Sowjetunion dadurch entgegen, daß er für jede Seite eine gleiche Zahl von Gefechtsköpfen in der Bandbreite zwischen 50 und 450 vorsah.Weil auch dieser Vorschlag der Amerikaner für eine Zwischenlösung von der Sowjetunion zurückgewiesen wurde, hat der amerikanische Präsident im September 1983 zusätzlich neue Vorschläge unterbreitet, die auf konkrete Anliegen der Sowjetunion eingingen. Die Vereinigten Staaten sind bereit, nur das sowjetische Mittelstreckenpotential in Europa auszugleichen, wenn eine weltweite Obergrenze vereinbart wird, und neben den Mittelstrekkenflugkörpern auch über Flugzeuge entsprechender Reichweite zu verhandeln. Die Vereinigten Staaten sind ebenso bereit, bei einer möglichen Reduzierung des Nachrüstungsbedarfs Marschflugkörper und Pershing II anteilmäßig zu berücksichtigen.Heute vor acht Tagen hat der amerikanische Präsident diesen Vorschlag vom September 1983 weitergeführt und mit Zahlen konkretisiert.Damit hat die amerikanische Seite, damit hat die Allianz, damit hat der Westen während des ersten Jahres meiner Regierungszeit drei substantielle Vorschläge unterbreitet.
Demgegenüber beharrt die Sowjetunion auf ihren Maximalforderungen. Sie möchte unverändert die Aufstellung von nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa vollständig verhindern und sich das Mono-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2325
Bundeskanzler Dr. Kohlpol bei den landgestützten Mittelstreckenraketen sichern.Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von Anfang an bei der Fortentwicklung der amerikanischen Position in Genf aktiv und konstruktiv beteiligt. Ich habe persönlich alles darangesetzt, daß sämtliche Kompromißmöglichkeiten in Genf ausgelotet werden,
die mit den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland und der Allianz vereinbar sind.
Ich stand dabei in einem ständigen engen persönlichen Kontakt mit dem amerikanischen Präsidenten, um alle Einzelheiten für die Genfer Verhandlungsführung abzustimmen.
Ich muß hier mit aller Deutlichkeit sagen, daß es für die deutsch-amerikanischen Beziehungen einmalig ist, wie eng die Weltmacht USA ihre Verhandlungen in Genf mit uns abgestimmt hat.
Ich hatte dabei selbstverständlich nicht nur die nationalen Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Auge. Es war auch mein Bestreben, unser Gewicht für Westeuropa in die Waagschale zu werfen. Zugleich mußte die Bundesrepublik Deutschland Eckpfeiler der Allianz bleiben,
auf den die USA sowohl ihre Verhandlungsführung als auch eine Stationierung, wenn uns die sowjetische Unbeweglichkeit am Ende dazu zwingen sollte, gründen konnten. Meine Damen und Herren, diese klare Haltung war und ist lebenswichtig.
Der NATO-Doppelbeschluß ist heute Prüfstein für die Handlungsfähigkeit und den Selbstbehauptungswillen der NATO. Selbst außerhalb des Bündnisses wird heute mit Sorge verfolgt, ob die freie Welt die Kraft aufbringt, der Sowjetunion selbstbewußt zu begegnen und ihre Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Viele Staaten auch außerhalb des Bündnisses wissen, daß sie von den Erschütterungen nicht verschont bleiben würden, die eine Schwächung der NATO im Ost-West-System auslösen würde.Herr Präsident, meine Damen und Herren, wie stellt sich nun heute die Lage am Verhandlungstisch dar? Präsident Reagan hat mit seinen Vorschlägen vom 22. September und 14. November zu allen entscheidenden Problemen Lösungswege aufgezeigt, die auf wesentliche Anliegen der Sowjetunion eingehen. Generalsekretär Andropow hat diese Vorschläge in seiner Antwort vom 28. Oktober aufgenommen.Aber damit sind die Probleme eben nicht gelöst. Es besteht jedoch eine Grundlage für einen Verhandlungskompromiß. Die Sowjetunion hat ihre Maximalforderungen von Anfang an konsequent verfolgt. Mit ihrem Beharren auf die Einbeziehung der britischen und französischen Systeme blockiert sie seit Monaten die Verhandlungen. Ich hoffe, daß die jetzt aus Genf kommenden Anzeichen darauf hindeuten, daß sich diese Haltung ändern wird.Wir jedenfalls können diese Forderung nicht akzeptieren. Sie läuft im Kern darauf hinaus, die nukleare Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa zu verhindern und die USA langfristig — das ist das Hauptziel — aus Europa zu verdrängen;
sie nimmt uns, der Bundesrepublik Deutschland, als Nicht-Kernwaffenstaat den nuklearen Schutz der USA; sie enthält dem Bündnis die Mittel vor, die es zur Durchführung seiner Strategie benötigt, und betreibt damit die Abkoppelung Europas von den USA.Ich behaupte nach wie vor: Der Boden für ein Ergebnis ist bereitet. Aber Voraussetzung für ein Ergebnis ist, daß die Sowjetunion ihr Maximalziel aufgibt, sich ein Monopol bei landgestützten Mittelstreckenraketen gegenüber Westeuropa, gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu sichern.
In meiner Rede vor dem Hohen Hause am 9. Juni dieses Jahres habe ich schon sehr frühzeitig die Kriterien für eine Verhandlungslösung skizziert. Ich darf sie heute noch einmal wiederholen.
Erstens. Wir sind bereit, die legitimen Sicherheitsinteressen der Sowjetunion zu respektieren. Wir sind jedoch nicht bereit, Westeuropa als eine Zone minderer Sicherheit zu akzeptieren.
Zweitens. Wirksame Rüstungskontrollvereinbarungen müssen auf dem Grundsatz der Gleichheit beruhen, und sie müssen verifizierbar sein.Drittens. Eine Berücksichtigung der französischen und britischen Systeme hat in den INF-Verhandlungen keinen Platz.Viertens. Wir streben eine Reduzierung der sowjetischen Mittelstreckenpotentiale gegen Europa auf Null an und sind bereit, dafür auf die Dislozierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen zu verzichten. Wenn es, meine Damen und Herren, zu keinem Ergebnis kommen sollte, weil die Sowjetunion dazu nicht bereit ist, wird gemäß Doppelbeschluß stationiert werden.
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2326 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundeskanzler Dr. KohlSollte ein Zwischenergebnis erzielt werden, so wird sich der Umfang der Stationierung nach dem konkreten Verhandlungsergebnis richten.Fünftens. Eine Verlagerung des gegen Europa gerichteten sowjetischen nuklearen Mittelstreckenpotentials nach Fernost ist für uns nicht hinnehmbar.Sechstens. Die Sowjetunion bleibt aufgefordert, eine Einigung nicht dadurch zu verhindern, daß sie sich durch verstärkte Rüstung in Fernost
ein neues hegemoniales Machtmittel gegenüber ihren asiatischen Nachbarn und zugleich ein verlegbares Dispositionspotential gegenüber Westeuropa, gegenüber uns verschafft.
Meine Damen und Herren, ich habe diese Kriterien hier erneut vorgetragen, um zweierlei deutlich zu machen:Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag, der deutschen und der Weltöffentlichkeit frühzeitig ihre Vorstellungen über ein Verhandlungsergebnis dargelegt; unsere heutige Debatte knüpft an diese Darlegungen an.Die Bundesregierung hat in dieser Frage einen konstruktiven Kurs gesteuert. Wir haben vom ersten Tag der Regierungsübernahme dieser Regierung bis heute auf die amerikanischen Verhandlungspositionen Einfluß genommen.
Die enge persönliche Abstimmung mit dem amerikanischen Präsidenten ist ganz gewiß in der deutschen Nachkriegsgeschichte ohne Beispiel.
Und ohne Beispiel ist auch die enge Abstimmung mit unseren Freunden und Partnern in der NATO in Europa, in Kanada und in den Vereinigten Staaten.Wir haben uns fortgesetzt darum bemüht, auch nach einem Beginn der Stationierung alle Verhandlungsmöglichkeiten offenzuhalten. Nichts wird durch eine Stationierung unumkehrbar werden. Das Bündnis ist bereit, auch stationierte Systeme nach einem Verhandlungsergebnis wieder abzubauen.
Die Sowjetunion hat keinerlei Anlaß, jetzt vom Verhandlungstisch aufzustehen.Auch der Westen hat verhandelt, während die Sowjetunion die Aufstellung ihrer SS-20-Raketen fortsetzte.
Die Sowjetunion hat von einem Moratorium geredet, während der Westen über vier Jahre faktischein Moratorium eingehalten und als einseitige Vorleistung keine Raketen stationiert hat.
Die Allianz hat der Sowjetunion das bisher umfassendste Abrüstungsangebot der Geschichte unterbreitet.Bei den Verhandlungen über strategische Interkontinentalwaffen haben die USA angeboten, nicht nur die Trägersysteme drastisch zu verringern, sondern vor allem auch die Zahl der Gefechtsköpfe der land- und seegestützten Raketen um 40 % zu vermindern.
Bei den INF-Verhandlungen haben die USA den Sowjets vorgeschlagen, gemeinsam auf eine ganze Waffenkategorie zu verzichten,
d. h. auf alle landgestützten Mittelstreckenraketen in Ost und West.Bei den Wiener MBFR-Verhandlungen über den gegenseitigen und ausgewogenen Truppenabbau in Mitteleuropa haben die Vereinigten Staaten gemeinsam mit uns und den übrigen europäischen Partnern einen umfassenden Vertragsentwurf eingeführt. Hierdurch soll eine überprüfbare Verringerung der Land- und Luftstreitkräfte beider Bündnisse auf 900 000 Soldaten jeder Seite im Reduzierungsgebiet sichergestellt werden.Im Genfer Abrüstungsausschuß bemüht sich der Westen um ein Abkommen, das Produktion und Lagerung aller chemischen Waffen nachprüfbar verbietet.
Und am 17. Januar 1984 soll in Stockholm die Konferenz über sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen und über Abrüstung in Europa beginnen. Diese Konferenz geht ebenfalls auf eine Initiative des Westens zurück.Außerdem wurden 1980 im Rahmen des NATODoppelbeschlusses aus Europa einseitig 1 000 nukleare Gefechtsköpfe abgezogen. Weitere 1 400 Gefechtsköpfe sollen folgen. Damit baut die NATO ein Drittel ihrer nuklearen Sprengköpfe in Europa ab.Nichts, nichts kann unsere Politik, die ich unter das Thema gestellt habe „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen", eindrucksvoller verdeutlichen als diese Vielzahl von Abrüstungsinitiativen.
Wir streben eine ausgewogene Abrüstung auch deshalb an, weil wir Mittel freisetzen müssen, freisetzen wollen für die Linderung der Not von Menschen insbesondere in den Entwicklungsländern.
Es ist widersinnig und kann keinem von uns gleichgültig sein, daß die Rüstungsausgaben weltweit
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2327
Bundeskanzler Dr. Kohlsteigen, während Hunderte Millionen Menschen Hunger leiden.
Dies ist für mich ein entscheidender Grund, auf Fortschritte bei ausgewogener Abrüstung und Rüstungskontrolle zu drängen.
— Meine Damen und Herren, ein einziger Satz widerlegt Sie: Die Bundesrepublik Deutschland gibt in diesem Jahr mehr Mittel für Entwicklungshilfe aus als alle Länder des Warschauer Pakts zusammen, die Sowjetunion eingeschlossen. —
Wir wissen: Es gibt keine schnellen und radikalen Lösungen. was auf dem Feld der Abrüstung und Rüstungskontrolle gilt, das sind Beharrlichkeit, Ausdauer und Geduld.Präsident Reagan hat mit seinem persönlichen Einsatz für das bisher umfassendste Abrüstungsprogramm des Westens alle diejenigen Lügen gestraft, die ihm unterstellt haben, mit der Sicherheit der europäischen Verbündeten anders umzugehen als mit der Sicherheit der Vereinigten Staaten. In seiner Rede vor dem japanischen Parlament vor ein paar Tagen, am 10. November, hat er unmißverständlich festgestellt — ich zitiere —:Ein Atomkrieg kann niemals gewonnen und darf niemals geführt werden. Der Besitz von Nuklearwaffen hat allein den Wert, sicherzustellen, daß sie nicht eingesetzt werden können — niemals.
Der Westen hat seine Bereitschaft zur Abrüstung und Rüstungskontrolle immer wieder unter Beweis gestellt. Dennoch hören wir immer nur Vorschläge, worauf der Westen einseitig verzichten und welche Vorleistungen er erbringen sollte. Meine Damen und Herren, worauf wir aber verzichtet haben, darüber wird niemand mit uns verhandeln. Und wie soll denn die Bedrohung durch den Warschauer Pakt abgebaut werden, wenn wir vorher bereits alles, was möglich ist in den Verhandlungen, hingegeben haben?
Unsere Sicherheit, der Schutz unserer Freiheit gebieten nunmehr, daß wir mit der Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen beginnen.
Wir tun dies im Bewußtsein der Solidarität im Bündnis, dessen Partner sich gemeinsam mit uns dazu verpflichtet haben. Die NATO hat den Umfang der Stationierung von Anfang an qualitativ und quantitativ begrenzt. Damit wird deutlich, daß wir keine Bedrohung für die Sowjetunion schaffen wollen, sondern daß wir die notwendigen Maßnahmen auf ein Minimum dessen beschränken, was für unsere Sicherheit erforderlich ist. Für jede Rakete, diejetzt aufgestellt wird, wird eine andere Nuklearwaffe aus Europa abgezogen — und die Sowjetunion weiß das. Sie weiß auch, daß Ende des Jahres, wenn die ersten Einheiten einsatzbereit werden, immer noch fünf Jahre Zeit bleiben, ein Verhandlungsergebnis zu erzielen, das die Aufstellung dieser Raketen begrenzt oder rückgängig macht.
Der Beginn der Stationierung schlägt die Tür zu Verhandlungen nicht zu. Der Westen ist bereit, so lange weiterzuverhandeln, bis ein für beide Seiten annehmbarer Kompromiß gefunden ist. Die Sowjetunion hat wenige Tage vor dieser Aussprache in Genf zu erkennen gegeben, daß sie unter Aufgabe ihrer bisherigen Position bereit sein könnte, über die britischen und französischen Systeme mit den betroffenen Staaten in einem anderen Forum zu verhandeln. Ich bin sicher, daß sich Ausdauer, zähes und konstruktives Verhandeln sowie die Bewahrung der eigenen Sicherheitsinteressen bei gleichzeitiger Anerkennung der legitimen Sicherheitsbedürfnisse der anderen Seite auszahlen werden.Die Sowjetunion verfolgt weiterhin das Ziel, die Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme in Europa grundsätzlich zu verhindern und gleichzeitig ihr Raketenmonopol zu bewahren. Dies bleibt für uns unannehmbar.
Die jüngsten Vorgänge zeigen aber: Auch die Sowjetunion erkennt, daß die Anrechnung der britischen und französischen Systeme bei INF ein von ihr selbst künstlich geschaffenes Problem darstellt.
Wenn die Sowjetunion tatsächlich Kompromißbereitschaft zeigen würde, sollte es möglich sein, ein Gleichgewicht zwischen den nach Reduzierungen verbleibenden sowjetischen Systemen und den zu stationierenden amerikanischen Systemen zu vereinbaren, so daß unser Anspruch auf ein möglichst niedriges, aber für die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion gleiches Niveau gewahrt wird.Ich wiederhole: Es gibt keine Veranlassung für die Sowjetunion, vom Verhandlungstisch aufzustehen. Wenn sie wirklich ein Ergebnis will, kann sie ein Ergebnis haben.
Daß weiter verhandelt wird, liegt auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der Sowjetunion. Ich appelliere heute von dieser Stelle erneut an die sowjetische Führung, nicht auf starren Prinzipien zu beharren, sondern ein Ergebnis möglich zu machen.
Die Sowjetunion behauptet, der Stationierungsbeginn zwinge sie zu Gegenmaßnahmen. Diese Behauptung beweist einmal mehr, daß die Sowjetunion bereit ist, mit Nuklearwaffen politischen Druck auszuüben. Darüber hinaus wissen wir, daß dieses als „Gegenmaßnahme" bezeichnete Rüstungsprogramm für nukleare Kurzstreckenwaffen
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2328 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundeskanzler Dr. Kohlseit Jahren vorbereitet wird. Die Entwicklungszeit für diese Waffensysteme beträgt acht bis zehn Jahre. Sie wurden völlig unabhängig vom NATO-Doppelbeschluß produziert und sollen jetzt auf diese Weise nachträglich vor der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden.
Die Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen sind ein wichtiger Teil des sicherheitspolitischen Gesprächs zwischen Ost und West.
Sie sind ein Teil unseres Bemühens, das Ost-West-Gleichgewicht insgesamt zu stabilisieren und den Frieden in Europa zu festigen.Die Bundesregierung hat ein dichtes Netz von Gesprächen und Verhandlungen mit der Sowjetunion und der DDR geschaffen. Hierbei gelingt es uns auch immer wieder, konkrete Fortschritte zu erreichen, wie gerade die Postvereinbarungen in der vergangenen Woche zeigen. Die Ost-West-Beziehungen dürfen nicht auf die Raketenfrage verengt werden.
Mein Angebot in der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 gilt: Uns liegt daran, eine neue und bessere Qualität der Beziehungen zur Sowjetunion und zu den Staaten des Warschauer Paktes zu erreichen. Unsere Politik ist eine Politik des guten Willens und der besten Absichten.Wie ich vor kurzem Generalsekretär Honecker schrieb, müssen nach meiner Überzeugung die beiden Staaten in Deutschland gerade dann, wenn die internationale Lage schwieriger wird, alle Kraft daransetzen, das Geflecht der Beziehungen und der Zusammenarbeit weiterzuentwickeln und auszubauen. Gerade unsere historische Erfahrung und Verantwortung für die Erhaltung des Friedens gebieten eine solche Politik.Wir sind nach wie vor bereit, auf der Grundlage der mit der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei und der DDR geschlossenen Verträge den Dialog und die Zusammenarbeit auf allen Gebieten fortzusetzen. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit diesen Verträgen den Gewaltverzicht zum zentralen Bestandteil ihrer Friedenspolitik gemacht. Die Völker in Ost und West, meine Damen und Herren, würden kein Verständnis dafür haben, wenn dieser Weg, den wir gemeinsam beschritten haben, verschüttet wird. Dies gilt ganz besonders für die Menschen in unserem geteilten Vaterland.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung steht uneingeschränkt zu beiden Elementen des Harmel-Berichts. Danach hat die Atlantische Allianz zwei Hauptfunktionen. Die eine besteht darin, eine ausreichende militärische Stärke und politische Solidarität aufrechtzuerhalten. Die andere Funktion besteht in der weiteren Suche nach Fortschritten inRichtung auf dauerhafte Beziehungen zwischen Ost und West, mit deren Hilfe die grundlegenden politischen Fragen gelöst werden können.Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung stellen keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung dar.Es war der damalige Außenminister Willy Brandt, der im Dezember 1967 für die Bundesregierung dem Harmel-Bericht zugestimmt hat, in dessen Kontinuität auch der Doppelbeschluß des Bündnisses steht.
Dieser Beschluß repräsentiert im Kern die Philosophie des Bündnisses, daß Verteidigungsfähigkeit und Rüstungskontrolle gleichwertige Aufgaben sind. Wer nein sagt zum Doppelbeschluß, wendet sich also gegen die Sicherheitspolitik, die alle NATO-Staaten gemeinsam vertreten.
Wer den innerem Zusammenhang zwischen militärischer Sicherheit und Politik der Entspannung auflöst, löst auch die politische Konzeption des Bündnisses auf, ohne dafür eine Alternative zu besitzen.
Wer je nach Bedarf das eine oder das andere aus den beiden Teilen des Harmel-Berichts verfolgt, dessen Politik wird für die Freunde im Bündnis ebenso wie für die Staaten des Warschauer Paktes unberechenbar.
Wer den Doppelbeschluß und damit den inneren Zusammenhang zwischen Verteidigung und Rüstungskontrolle auflöst, stellt letztlich das Bündnis selbst und seine Entscheidungs- und Lebensfähigkeit in Frage.
Angesichts dieser Lage und nach dem Ergebnis des Parteitages muß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands gegenüber der deutschen und der Weltöffentlichkeit folgende Fragen beantworten:Warum will sie offenbar die sowjetische Aufrüstung und die sich daraus ergebende Bedrohung nicht zur Kenntnis nehmen?Warum will sie dem Bündnis den notwendigen militärischen Schutz verweigern?Warum übernimmt sie wieder und wieder die sowjetische Argumentation, obwohl sie damit im Westen wie auch gegenüber der Mehrzahl ihrer sozialistischen Schwesterparteien isoliert ist?
Warum unterstellt sie den Vereinigten Staaten ohne Unterlaß ungeachtet der gegenteiligen Fakten mangelnden Verhandlungswillen in Genf?Und warum, meine Damen und Herren, erkennt sie nicht die Bemühungen der Bundesregierung an, alle Verhandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2329
Bundeskanzler Dr. KohlProfessor Karl Kaiser, ein international angesehenes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
hat am 2. Oktober 1983 vor dem Seeheimer Kreis der SPD gesagt — ich zitiere —:Im Doppelbeschluß geht es im Kern um die Frage, ob sich die Bundesrepublik Deutschland im Einvernehmen mit ihren Verbündeten einem sich abzeichnenden Vormachtanspruch der Sowjetunion über Westeuropa entgegenstemmt oder nicht. Das sowjetische Ziel ist ein neues politisches System in Europa, das durch die Erosion der amerikanisch-europäischen Kooperation und wachsende Abhängigkeit von der Sowjetunion entsteht. Dies ist eine entscheidende Frage nationalen Interesses, nämlich der Selbstbestimmung der Bundesrepublik Deutschland, bei der man nicht kampflos sowjetische Positionen übernehmen oder dagegen gerichtete Bemühungen innenpolitisch untergraben darf. Dies ist von der sozialdemokratischen Regierung unter Helmut Schmidt so erkannt worden; sie betrieb deshalb den Doppelbeschluß, der von der Partei gebilligt wurde.In einem mehrjährigen Prozeß wurde jedoch die Ablehnung aus der SPD stärker und entwickelte sich zu einer Wende. Die Position Helmut Schmidts wurde faktisch ins Gegenteil verkehrt.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Ich fasse die Prinzipien zusammen, die die Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung bestimmen.Wir gehören zum Westen. Das Bündnis für Frieden und Freiheit ist elementarer Bestandteil deutscher Politik. Hier verbinden sich unsere Grundwerte, unsere Lebensformen und unsere Sicherheit. Nur ein wehrhaftes und einiges Bündnis kann den Frieden in Freiheit sichern.
Das Bündnis dient dem Frieden Europas und der Welt. Es bleibt Grundlage einer Politik der Verständigung mit dem Osten. Die Bundesregierung steht fest zur Sicherheitspolitik der Allianz. Diese Politik verbindet Abschreckung und Verteidigung mit Rüstungskontrolle und Abrüstung.
An der historischen Wegscheide zwischen Erfolg in der Abrüstung und weiterer Nuklearrüstung und im Angesicht der Entscheidung, neue nukleare Mittelstreckenwaffen zu stationieren oder eine ganze Kategorie von Nuklearwaffen von dieser Erde zu verbannen oder sie wenigstens gleichwertig zu begrenzen, stehen Ost und West in der Bewährung. Ein Erfolg verlangt, daß beide Seiten ihre jeweiligen Sicherheitsbedürfnisse respektieren.Die Bundesregierung steht fest zum NATO-Doppelbeschluß. Wenn die Verhandlungen zunächst ohne Ergebnis bleiben, wird das Bündnis bis zum Jahresende die Einsatzbereitschaft der ersten Pershing-Raketen und Cruise Missiles herstellen. Die Bundesrepublik Deutschland trägt hierbei ihren Anteil.
Wir wissen, daß die Vereinigten Staaten von Amerika auch danach in Genf nichts unversucht lassen werden, einen Verhandlungserfolg zu erzielen.Standfestigkeit zum NATO-Doppelbeschluß steht heute für das Überleben des demokratischen Europas, die Bewahrung des Atlantischen Bündnisses und die Fortsetzung gleichberechtigter Beziehungen mit der Sowjetunion.
Die Bundesregierung bleibt bei der klaren Orientierung in der Sicherheitspolitik, die unser Volk braucht.
Fundamente unserer Außenpolitik bleiben das Atlantische Bündnis und die Europäische Gemeinschaft.
Die Entscheidung für das Atlantische Bündnis, für die Partnerschaft mit den USA und Kanada wird uns auch in Zukunft Frieden und Freiheit sichern.
Wer von ganzem Herzen für den Frieden eintritt, wer Freiheit und Menschenwürde als höchstes Gut betrachtet, wer unsere nationalen Interessen auf Dauer gesichert sehen will, der muß das westliche Bündnis stark und gesund erhalten.
Die Atlantische Allianz, deren Kernstück die festverwurzelte Freundschaft der alten Staaten des Kontinents mit der Neuen Welt jenseits des Atlantik bleibt, sichert unseren Frieden. Ich stehe dafür, daß dieser Weg, den FDP, CSU und CDU unter Konrad Adenauer eingeschlagen haben, nicht verlassen wird. Wir sind keine Wanderer zwischen Ost und West.
Zwischen Demokratie und Diktatur gibt es keinen Mittelweg. Wir stehen auf der Seite der Freiheit.
Unsere Freiheit, das ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit in Verantwortung auch für den Nächsten.
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2330 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundeskanzler Dr. KohlUnd weil wir für den Nächsten miteinzustehen haben, dürfen wir gerade auch als Christen die Gefahr von Gewaltherrschaft — und demnach von Krieg — für unsere Mitmenschen nicht erhöhen.
Ohne Freiheit kann der Friede nicht bestehen. Wo die Grundwerte Freiheit und Gerechtigkeit mißachtet, wo Menschenrechte verletzt werden, da ist immer auch der Friede in Gefahr.
Jenseits der Freiheit gibt es keinen Frieden, der diesen Namen verdient. Freiheitssicherung ist immer auch Friedenspolitik.
Krieg darf kein Mittel der Politik sein.
Dies gehört zum Selbstverständnis demokratischer Staaten und demokratischer Politiker. Wer im Inneren Gewalt ausschließt
und den staatspolitischen Willen durch friedlichen Mehrheitsentscheid der Bürger bildet, der scheut auch nach außen das Mittel der Gewalt.Ebenso, meine Damen und Herren, gilt aber auch: Im Ringen um den äußeren Frieden darf der innere Frieden nicht in Gefahr geraten.
Ich habe großen Respekt vor der persönlichen Gewissensentscheidung eines jeden, die in der Friedensdiskussion zum Ausdruck kommt.
Meine Damen und Herren, ich bitte, diese Transparente zu entfernen. Wir kämpfen hier mit Argumenten und Worten. Ich bitte, das Zeigen von Transparenten zu unterlassen und sie zu entfernen.
— Ruhe! Meine Damen und Herren, ich bitte auf allen Seiten des Deutschen Bundestages um Mäßigung.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Ich wiederhole: Ich habe Respekt vor der persönlichen Gewissensüberzeugung eines jeden, die in der Friedensdiskussion zum Ausdruck kommt. Aber nach unserer demokratischen Verfassung liegt die Entscheidung bei der Mehrheit des frei gewählten Parlaments.
Gerade in sogenannten Überlebensfragen gibt es nicht die geringste Legitimation für den Anspruch einer Minderheit, ihren Willen gegen eine Mehrheit durchzusetzen.
Gegen demokratische Mehrheitsentscheidungen unserer frei gewählten Volksvertretung hat niemand das Recht zum Widerstand.
So will es unsere demokratische Freiheits- und Friedensordnung.Diese Ordnung ist es wert, im Inneren bewahrt und nach außen verteidigt zu werden. Das schulden wir uns selbst und unseren Bündnispartnern. Das sind wir auch den Menschen in Mittel- und Osteuropa schuldig.
Selten zuvor, meine Damen und Herren, ist der Wille, vor Herrschaftsstreben nicht zurückzuweichen, sondern die eigene Freiheit standhaft zu bewahren, eindringlicher formuliert worden als von Manès Sperber in seiner Dankrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels:Da ich — wie so viele andere — stets dazu geneigt war, unsere Zivilisation mit unerbittlicher Strenge zu kritisieren, will ich heute um so lauter darauf bestehen, daß Europa sich trotz allem selbst retten kann, wenn es sich nicht dazu verführen läßt, sich gerade in einer Zeit aufzugeben, in welcher der Mut zur Menschlichkeit und zur Wahrheit den Mut zur Selbstbehauptung voraussetzt.Meine Damen und Herren, dazu sind wir heute alle aufgerufen.
Weil ich Verantwortung für unsere Mitbürger trage, empfinde ich hier eine ganz persönliche Verpflichtung.
Als Christ, der sich auch in einem hohen Staatsamt an christliche Ethik gebunden weiß, wende ichmich deshalb gegen jeden Versuch, die Bergpredigt
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2331
Bundeskanzler Dr. Kohlin einer Weise in die Politik einzuführen, die jedenfalls für mich so nicht akzeptabel ist.
Die Bergpredigt zu leben heißt demütig anzuerkenen, daß es göttliche Vollkommenheit hier auf Erden nicht gibt. Die Verwechselung paradiesischer Verheißung mit irdischer Realität wird der Bergpredigt gerade nicht gerecht.
Der Christ weiß um die Widersprüchlichkeit der Natur des Menschen, die auch die Geschichte prägt und den Frieden immer wieder gefährdet. Diese Bedingung menschlicher Existenz kann von uns allein nicht aufgehoben werden.Wenn unsere menschliche Natur durch unser Christsein aufgehoben würde, brauchten wir keine Politik mehr. Die Bergpredigt ist keine Aufforderung, die Wirklichkeit zu verleugnen, sondern sie verpflichtet uns zu einem ethisch verantwortlichen Handeln.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, der schon lange anhaltende Zustand erfolgreicher Kriegsverhütung in Europa ist ein Ergebnis verantwortlichen Handelns, eine Leistung der Vernunft, ja, ein Werk der Staatskunst, das es fortzuführen und zu stärken gilt. Dem dient unsere Verteidigungsbereitschaft, unser Bemühen um ein Gleichgewicht der Kräfte und damit um die Sicherung von Frieden und Freiheit.Wer vor dem Druck einer Diktatur weichen muß, weil er ihrer Macht nicht standhält, verleitet sie zu immer neuer Erpressung und zur Anwendung von Gewalt.
Kein demokratischer Politiker darf sich in die Lage bringen, nicht mehr frei entscheiden zu können. Wir sollten nicht jene bittere Erkenntnis des britischen Premierministers Neville Chamberlain vergessen, der nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens die englische Ohnmacht gegenüber dem nationalsozialistischen Regime im Unterhaus beschrieb. Er sagte:Die Erfahrung der letzten Tage hat uns nur zu deutlich gezeigt, daß militärische Schwäche diplomatische Schwäche bedeutet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Geschichte lehrt: Wer schwach ist, ermutigt hegemoniale Ansprüche und fordert Bedrohung geradezu heraus. Er macht sich erpreßbar und setzt seine Freiheit und damit in letzter Konsequenz auch den Frieden aufs Spiel.
Allein die Standfestigkeit der freien Völker kann totalitären Staaten ihre Grenzen zeigen.
Niemals dürfen wir zulassen, daß Friede und Freiheit gegeneinander ausgespielt werden.Nur ein Volk, das in Frieden und Freiheit lebt, kann auch wirklich einen Beitrag für den Frieden in der Welt leisten. Wir Deutsche, wir alle wollen diesen Frieden in Freiheit. Wir wollen ihn mit allen Völkern, und wir wollen ihn ganz besonders mit unseren Nachbarn in West und Ost.Wir wissen um das Schreckliche, das in deutschem Namen geschehen ist. Wir vergessen niemals das unsagbare Leid, das die Völker Europas und auf anderen Kontinenten in zwei Weltkriegen erfahren haben. Und in unserem eigenen Volke, in unseren eigenen Familien, in uns selbst lebt die Erinnerung an die Wunden, die Gewaltherrschaft und Krieg geschlagen haben, fort.
Unzählige Deutsche haben Schlimmes erlebt, am eigenen Leibe, in ihrer Familie, in ihrem Freundeskreis.
Nie werden wir genau wissen, wie viele damals ihr Leben verloren — in den Kerkern des Unrechtsregimes, in den Schlachten des Krieges, in den Bombennächten in der Heimat, in der Gefangenschaft oder bei Flucht und Vertreibung aus der Heimat.
Viele von denen, die Krieg und Diktatur überlebten, blieben gezeichnet von den Spuren schrecklicher Erfahrungen.Wir haben die Lektion der Geschichte gelernt.
Jene schlimmen Erfahrungen haben sich tief in das Gedächtnis und das Bewußtsein unseres Volkes eingegraben.
Waffen und militärische Stärke haben für uns keinerlei Faszinationskraft. Wir sind nicht raketensüchtig!
Aber in einer friedlosen Welt müssen wir bereit sein, für die Sicherung unseres Friedens in Freiheit das Notwendige zu tun.
Wir, die Deutschen, können nicht beiseite treten, um in einer Nische der Geschichte darauf zu hoffen, daß es anderen gelingen möge, den Frieden und unsere Freiheit zu sichern.
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2332 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundeskanzler Dr. KohlDazu müssen wir auch selbst und persönlich unseren Beitrag leisten.
,,... dem Frieden der Welt zu dienen", wie es unser Grundgesetz, unsere Verfassung, vorschreibt dies war und bleibt für uns stets politische Notwendigkeit und sittliche Pflicht.Aber dieser Frieden in Freiheit hat seinen Preis.
Wir müssen bereit sein, dafür Opfer zu bringen. Wir müssen unsere Pflicht tun, jeder an seinem Platz, alle Bürger unseres Landes, ihre frei gewählten Abgeordneten, ihre demokratisch legitimierte Bundesregierung und auch ich ganz persönlich.
Im Bewußtsein der schweren Verantwortung, die ich in meinem Amt trage, bleibe ich bei meiner Überzeugung:
Nur wenn wir jetzt das Gleichgewicht wiederherstellen und damit zugleich unser Bekenntnis zum Bündnis bekräftigen, sichern wir für unser Land den Frieden in Freiheit und damit die Zukunft unseres Vaterlandes.
Meine Damen und Herren, zur Geschäftsordnung hat das Wort Herr Abgeordneter Burgmann.
Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Die GRÜNEN stellen hiermit den Antrag nach § 26 der Geschäftsordnung auf Vertagung dieser Sitzung.
Ich darf den Antrag kurz begründen. Mir sind heute schon zweimal die Tränen gekommen. Das letzte Mal war das, als der Herr Bundeskanzler hier so rührend gesprochen hat.
Das erste Mal war es, als ich auf dem Weg hierher ,ein paar Friedensfreunde auf der Straße getroffen und mich mit ihnen unterhalten habe. Dieses Gespräch auf der Straße wurde von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas auseinandergetrieben.
Wenn im Bundestag heute über Frieden geredet wird, dann muß ich feststellen, daß draußen Krieg herrscht. Mit unheimlich brutalem Polizeieinsatz wird draußen demonstriert, was diese Regierung unter Frieden versteht.
Und Sie sitzen hier und reden und reden
und hören nicht, was draußen die Bevölkerung will. Wo ist denn der Mehrheitswille dieses Volkes?
Gehen wir doch einmal hinaus auf die Straßen, und reden wir mit den Menschen darüber, was die für Sorgen haben!
Der freie Westen, von dem der Herr Bundeskanzler eben geredet hat, fängt zweihundert Meter weiter an.
Gehen wir doch einmal hinaus, und hören wir uns an, — —
Herr Kollege Burgmann, ich bitte Sie, den Übungen des Hauses folgend einen Antrag zur Geschäftsordnung zu begründen und nicht Ausführungen zu machen, die nicht zu dieser Sache gehören.
Ich komme gleich zum Thema.
Der Herr Bundeskanzler hat darüber hinaus gesagt: Wir müssen unsere Lektion aus der Geschichte lernen, und jeder muß seinen persönlichen Beitrag dazu leisten. Dann möchte ich den Herrn Bundeskanzler hiermit auffordern, hinauszugehen und einen persönlichen Beitrag dazu zu leisten, daß draußen wieder Frieden ist.
Herr Kollege, ich bitte Sie, zur Sache zu kommen.
Ich rufe Sie zur Ordnung.
Das ist zur Sache, Herr Präsident.
Ich möchte uns alle auffordern: Gehen wir raus auf die Straße,
schauen wir uns an, was diese Regierung unter Frieden versteht, und versuchen wir, konkret einen Beitrag zu leisten, daß draußen auf dieser Straße — —
Herr Kollege Burgmann, ich rufe Sie zum zweitenmal zur Ordnung. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß nach § 37 unserer Geschäftsordnung der dritte Ordnungsruf — das ist eine zwingende Vorschrift — Sie automatisch von dem Fortgang der Debatte als Redner ausschließt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2333
Präsident Dr. BarzelDas würde für diese beiden Tage gelten. Ich mache Sie darauf aufmerksam.
Ich weiß, daß Sie mich nicht gerne hören. Vielleicht sollten Sie mal die Freunde draußen hören.
Herr Präsident, ich habe das hier dargestellt, weil wir meinen, es ist angebracht, die Debatte in diesem Augenblick zu vertagen, um uns konkret ein Bild darüber zu machen, was draußen vorgeht. Dann hätten wir die Gelegenheit rauszugehen, ganz abgesehen davon, daß ich mir persönlich eine trokkene Hose anziehen möchte.
Deshalb dieser Antrag der GRÜNEN auf Vertagung der Sitzung in dem Sinne des Appells von Bundeskanzler Kohl, einen konkreten Beitrag zum Frieden in diesem Lande zu leisten. Denn wir müssen davon ausgehen: Wer hier mit Raketen, mit Gewalt den Frieden will, der wird den Unfrieden in diesem Lande schaffen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Porzner.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat die Erklärung des Bundeskanzlers gehört. Wir würden unsere Pflicht versäumen und unsere Aufgaben nicht erfüllen, wenn wir uns jetzt vertagten und auf die Straße gingen.
Die sozialdemokratische Fraktion hat als ersten Debattenredner den Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Herrn Dr. Hans-Jochen Vogel, angemeldet. Ich bitte darum, daß der Antrag, den die Fraktion der GRÜNEN gestellt hat, abgelehnt und daß Herrn Dr. Vogel das Wort gegeben wird.
Wird das Wort zur Geschäftsordnung weiter gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann lasse ich über diesen Antrag abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um ein Zeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich an den Eingang meiner Rede eine Bemerkung aus aktuellem Anlaß stellen. Das Recht des Parlaments und des einzelnen Abgeordneten auf ungehinderte Beratung und Willensentscheidung ist ein Kernstück unserer politischen Ordnung.
Schon der Versuch, dieses Recht anzutasten, muß mit Besonnenheit, aber auch mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden, ganz gleich, von wem und warum dieser Versuch unternommen wird.
Wir haben uns heute mit einer Frage auseinanderzusetzen, die unser Volk wie wenig andere Fragen in den 34 Jahren seit der Gründung der Bundesrepublik bewegt, nämlich mit der Frage, ob auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland mit der Stationierung von 204 neuen nuklearen Mittelstreckenraketen begonnen werden soll. Wir halten es für eine Selbstverständlichkeit, daß der Deutsche Bundestag über diese Frage ohne jeden Zeitdruck diskutiert, daß jeder einzelne von uns dazu in namentlicher Abstimmung sein Votum abgeben kann und daß vor der Entscheidung des Parlaments auch nicht eine einzige dieser Mittelstreckenraketen aufgestellt wird.
Für Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, war das ursprünglich keine Selbstverständlichkeit. Sie haben diese Debatte zunächst als überflüssig bezeichnet. Es sei alles schon im Jahre 1979 entschieden worden, so sagten Sie. Diesen am 6. März 1983 gewählten Bundestag gehe das im Grunde gar nichts an.
Erst auf unseren Vorschlag hin haben Sie dann am 23. Juni 1983 beschlossen, daß doch eine Aussprache stattfinden soll.
Später haben Sie versucht, die Aussprache auf einen Tag zu beschränken, ja haben Sie uns allen Ernstes vorgeschlagen, man solle jedenfalls heute abstimmen; die Debatte könne ja nach der Abstimmung fortgesetzt werden.Sie sind inzwischen zur besseren Einsicht gekommen. Auf meine Aufforderung hin haben Sie, Herr Bundeskanzler, auch ausdrücklich bestätigt, daß vor Abschluß unserer Debatte auf keinen Fall mit der Stationierung begonnen wird. Ich begrüße das.Diese Vorgeschichte hat eine tiefere Bedeutung. Sie zeigt, daß Sie Ihrer Sache bei aller zur Schau
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2334 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. Vogelgetragenen Entschlossenheit nicht sicher sind. Wer seiner Sache sicher ist, weicht nicht aus. Er sucht vielmehr die Diskussion.
Er will überzeugen und greift schon deshalb nicht zum Mittel der Diffamierung und der Ausgrenzung. In Ihrer heutigen Rede, Herr Bundeskanzler, haben Sie darauf verzichtet. Das entspricht dem Ernst der Stunde und der Bedeutung des Gegenstandes.Das macht aber nicht ungeschehen, was Ihre Freunde und Sie in den letzten Monaten und bis in die letzten Tage hinein gesagt und in dieser Auseinandersetzung getan haben. Sie haben gerade in den Monaten vor den großen Friedenskundgebungen mit einer Verschärfung des Demonstrationsstrafrechtes gedroht, die Gewalttäter und friedliche Demonstranten, die einer Aufforderung, sich zu entfernen, nicht unverzüglich Folge leisten, in einen Topf wirft. Sie haben gerade in dieser Zeit den Pazifisten vorgeworfen, sie hätten Auschwitz erst möglich gemacht. Sie lassen gerade in dieser Zeit amtlich immer wieder verbreiten, die Friedensbewegung sei kommunistisch gesteuert und folge den Anweisungen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in Moskau.
Sie ermutigen den Generalsekretär Ihrer Partei, an der Verleumdung, die Sozialdemokraten seien die fünfte Kolonne, d. h. ein Spionage- und Sabotagetrupp Moskaus, unverändert festzuhalten.
Sie haben einen Ihrer eigenen Partei angehörenden Fernsehmoderator nur deshalb vom Bildschirm entfernt, weil er in der Stationierungsfrage eine der Ihren entgegengesetzte Ansicht vertritt und sich in seiner Weise auf die Bergpredigt beruft.
Sie rügen es zu Recht, Herr Bundeskanzler, wenn Herr Spranger ein CIA-Agent genannt wird. Sie schweigen aber beredt und beifällig, wenn Ihre Freunde meine Freunde und mich als Agenten Andropows bezeichnen.
Das alles, Herr Bundeskanzler, ist nicht clever und schon gar nicht christlich. Dies ist empörend, Herr Bundeskanzler. Und ich sage es hier an dieser Stelle.
Wir Sozialdemokraten stimmen mit der Friedensbewegung, die Sie in dieser Weise bekämpfen, durchaus nicht in allen Punkten überein. Sehen Sie aber wirklich nicht, daß es sich hier um eine der breitesten und engagiertesten Bewegungen der Gegenwart handelt, und zwar weit über unsere Grenzen hinaus? Bleiben Sie bei der Aussage, die Friedensbewegung gäbe es gar nicht? Spüren Sie nicht,Herr Bundeskanzler, wie sich das Bewußtsein unseres Volkes gegenüber den tödlichen Gefahren des atomaren Rüstungswettlaufs in den letzten beiden Jahren verändert hat, wie die Menschen nicht mehr bereit sind, den Wahnwitz einer Weltordnung, die wohl Raketen und Waffen in wenigen Stunden in den letzten Winkel der Erde zu schaffen vermag, die aber nicht fähig ist, Reis oder Brot zu denen zu bringen, die zu Millionen Hungers sterben, länger schweigend hinzunehmen?
Spüren Sie nicht, wie die Zahl der Menschen steigt, die sich weigern, den Krieg oder gar die völlige Vernichtung weiterhin als Mittel der Politik zu akzeptieren, wie Bewußtheit, wie der Wille, die Verhältnisse zu ändern, wie die Erkenntnis der eigenen Mitverantwortung an die Stelle bewußtloser Gleichgültigkeit tritt? Hören Sie denn nicht, Herr Bundeskanzler, was so viele aus den Kirchen heraus fordern, was Tausende von Ärzten, von Philosophen, von Naturwissenschaftlern,
was über 30 Nobelpreisträger erst vor wenigen Tagen gefordert haben, was Carl Friedrich von Weizsäcker erst am vergangenen Wochenende so eindringlich und mahnend empfohlen hat, was die deutschen Gewerkschaften verlangen und was Zehntausende, ja, Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern in Eingaben an das Parlament und an die Abgeordneten geschrieben haben? Auf all das sind Sie, Herr Bundeskanzler, heute nicht eingegangen.Meine Freunde und mich
bewegen diese Botschaften zutiefst, Botschaften wie die des Wiener Erzbischofs Franz Kardinal König, der uns mit folgenden Worten aufrüttelt:Wir reden vom Krieg, wie die Menschen seit Jahrhunderten vom Krieg geredet haben. Aber ist das, was uns heute in aller Furchtbarkeit droht, nur Krieg? Im Krieg hat es immer Vernichtung gegeben, aber immer ist noch jemand dagewesen, um nachher zu weinen, zu klagen, die Toten zu bestatten und wieder neu anzufangen, über Trümmer, Schutt und Rauch. Doch— so fährt der Kardinal fort —nach der totalen Vernichtung wird es niemand mehr geben, der klagen und neu beginnen kann. Der Mensch kann sich das nicht vorstellen. Darum nennt er noch immer Krieg, was nicht Krieg ist.Geht Ihnen das nicht unter die Haut? Das alles frage ich nicht nur Sie, Herr Bundeskanzler, das frage ich Sie alle, das frage ich uns alle.
Sie, Herr Bundeskanzler, verweisen oft auf Ihre christliche Tradition und Verwurzelung. Sie haben das auch heute getan. Läßt es Sie wirklich unbe-
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Dr. Vogelrührt, wenn Ihre, ich darf sagen: unsere gemeinsame Kirche, die eher in Jahrhunderten, wenn nicht in Jahrtausenden denkt, die Größe der Gefahr, der wir heute gegenüberstehen, als so neuartig, als so überwältigend charakterisiert, daß die Lehren eines Thomas von Aquin keine angemessene Antwort mehr zu geben vermögen, daß es neuer Antworten bedarf? Und muß es Ihnen nicht zu denken geben, daß Sie immer häufiger davor warnen, auch heute die christliche Botschaft zur unmittelbaren Richtschnur politischen Handelns zu machen, daß Sie immer häufiger auffordern, Religion und Politik nicht zu vermischen? Fällt Ihnen nicht selber auf, wie häufig Sie mit solchen Äußerungen mit Herrn Honecker übereinstimmen, der denen, die sich in seinem Herrschaftsbereich auf Christus berufen, ähnliches vorhält?
Dabei, Herr Bundeskanzler, haben Sie doch in Ihrer Regierungserklärung gesagt, unsere Gesellschaft brauche die Stimme der Kirchen, ihr offenes und kritisches Wort.
Sie reagieren auf all das mit den herkömmlichen Mechanismen, die Konservative schon immer gern gegenüber Meinungen und Menschen angewendet haben, die ihnen unbequem waren, die anderes wollten, als sie wollten. Meinungen, wie sie die Friedensbewegung vertritt, sind eben für Sie nicht nur falsch, und erst recht sind sie für Sie offenbar kein Anlaß zum Nachdenken oder gar zur Korrektur eigener Ansichten.
Nein, Nachdenklichkeit halten Sie offenbar für Schwäche und bessere Einsicht für mangelnde Prinzipientreue. Mehr noch, solche Meinungen sind in Ihren Augen — und Sie sagen das ja auch — im Grunde subversiv, staatszerstörend, bestenfalls naiv, im Zweifel aber doch verräterisch. Und zu den verräterischen Ideen gehören dann natürlich stets auch Verräter in Person, denen man entsprechend begegnen, die man zumindest isolieren und aus dem Konsens herausdrängen muß. Sie leisten damit, meine Damen und Herren, der politischen Kultur unseres Landes einen schlechten Dienst.
Sie schwächen die Demokratie, von deren Gefährdung Sie ständig reden, und Sie vertiefen Gräben und Klüfte, die einzuebnen, zumindest aber zu überbrücken Ihre Pflicht gerade als Bundeskanzler wäre. Ja, Sie kritisieren Männer wie Willy Brandt,
der durch seine Rede auf der Bonner Friedenskundgebung, bei der er mit Betonung auch das gesagthat, wofür er nicht mit allgemeinem Beifall rechnenkonnte, mehr zur Bewahrung des Konsenses in unserem Volk,
mehr zur Bewahrung des Konsenses zwischen den Generationen getan hat als Sie während der bisherigen Amtszeit.
Wenn Sie mir nicht zuhören wollen, dann lesen Sie, was ein so besonnener Mann wie der kürzlich
in den Ruhestand getretene Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Herr von Staden, dazu in einem Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung" bemerkt hat. Vielleicht stimmt es Sie ausnahmsweise einmal nachdenklich. Vielleicht bewirkt es, daß Sie anstelle unerschütterlicher Selbstgewißheit einmal auch vor diesem Hause Betroffenheit erkennen lassen.
Vielleicht erinnert es Sie daran, daß Sie unserem Volk zu Beginn Ihrer Amtszeit neben der berühmten Wende eine geistig-moralische Erneuerung, ja, daß Sie geistig-politische Führung versprochen haben. Wenn überhaupt, ist diese Führung hier in der Auseinandersetzung mit dieser Bewegung gefordert. Sie haben diese Führung auch nicht ansatzweise geleistet. Sie haben sie verweigert.
Ich weiß nicht, welche Überlegungen Ihrem Verhalten zugrunde liegen. Aber ich weiß: Ihre Rechnung geht nicht auf. In der Stationierungsfrage steht die Mehrheit unseres Volkes gegen Sie.
Und diese Mehrheit ist durch die Art und Weise, in der viele Ihrer Partei, allen voran Ihr Generalsekretär, diesen Meinungskampf geführt haben, größer geworden und nicht kleiner.Jetzt hoffen Sie, das werde mit dem Beginn der Stationierung rasch vergehen, und Sie erinnern an das Jahr 1958, an die Atomtodbewegung. Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren, Sie täuschen sich, wie immer sich die Friedensbewegung auch weiter entwickelt, ob es ihr gelingt, zu verhindern, daß viele ihrer Anhänger in die Privatheit zurückfallen oder daß einzelne in die Gewaltanwendung flüchten. Und ich appelliere an alle auch und gerade an die Fraktion der GRÜNEN, alles zu tun, damit diese Flucht in die Gewaltanwendung nicht stattfindet. Das ist auch Ihre Pflicht.
Das, Herr Bundeskanzler, was da in den letzten Monaten in unserem Land geschehen ist, hat nicht nur die Wellen gekräuselt, hat nicht nur die Oberfläche berührt, sondern das reicht auch tief in das politische Bewußtsein unseres Volkes, das hat die politische Landschaft verändert. Christoph Bertram schrieb dazu vor kurzem in der „Zeit":
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2336 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. VogelEs gibt keine Rückkehr zur guten alten Zeit, in der eine Handvoll sachkundiger Politiker, unterstützt von Regierungsexperten, die wesentlichen Entscheidungen der Verteidigungspolitik untereinander abmachen konnten. Die Friedensbewegung hat,— so schrieb Bertram in der „Zeit" —auch wenn sie mit ihrem Nahziel scheitert, die sicherheitspolitische Landschaft in der Bundesrepublik bereits verändert. Die Sicherheitspolitik ist demokratisiert worden. An dem kommt die deutsche Politik künftig nicht mehr vorbei.Darüber kann niemand zur Tagesordnung übergehen, auch Sie nicht, meine Damen und Herren.
Dazu hat auch die Tatsache beigetragen, daß sich die Aktivitäten der Friedensbewegung — ich hoffe sehr, daß der heutige Tag meine Aussage nicht widerlegt — fast völlig gewaltlos abgespielt haben.
Das ist ein ermutigendes Zeichen für die wachsende Reife unserer Demokratie. Der Dank dafür gebührt den Männern und Frauen der Friedensbewegung, die diese Linie von Anfang an verfolgt und sie gegen Widerstand auch durchgesetzt haben.
Er gilt ebenso der Polizei und denen, die für die besonnene und verständnisvolle Art ihres Einsatzes verantwortlich sind.
Stellvertretend nenne ich namentlich Herrn Schnoor, den Innenminister des Landes NordrheinWestfalen,
und Herrn Schröder, den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei.
Es ist kein Zufall, meine Damen und Herren, daß gerade diese beiden Männer im voraus von Ihren Freunden, Herr Bundeskanzler, und von Ihrem Innenminister, von Herrn Zimmermann, am schärfsten angegriffen worden sind.
Der Beitrag des Herrn Zimmermann beschränkte sich im wesentlichen darauf, wochenlang von einer drohenden Bürgerkriegssituation zu reden und hinterher einen Streit über die Teilnehmerzahlen zu führen. Gut, daß sich von den Beteiligten in dieser Frage kaum jemand um Herrn Zimmermann gekümmert hat!
Zu all dem haben Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung geschwiegen. Geschwiegen haben Sie auch zu den verfassungsrechtlichen Problemen und zu der Frage, in welcher Form dieZustimmung der Bundesrepublik Deutschland zu einer etwaigen Stationierung erteilt werden muß:
ob dafür eine Äußerung der Bundesregierung oder ein einfacher Beschluß des Bundestages ausreicht oder ob es dafür eines Vertragsgesetzes bedarf.
Wir haben im Rechtsausschuß mehrfach darauf gedrängt, die Argumente ernsthaft zu prüfen, die in letzter Zeit für die Notwendigkeit eines Vertragsgesetzes vorgebracht worden sind. Sie haben das abgelehnt. Sie tragen deshalb allein die Verantwortung für alles, was daraus folgt. Wir behalten uns die Prüfung der Folgen vor.
Hier und heute steht aber für uns die politische Auseinandersetzung im Vordergrund, nicht die über verfassungsgerichtliche Fragen und Probleme.
Weiter, Herr Bundeskanzler, schweigen Sie zu einer noch viel grundsätzlicheren Frage, nämlich zu der nach dem Spannungsverhältnis zwischen dem Mehrheitswillen unseres Volkes und dem Mehrheitswillen des Parlaments. Gewiß, unser Grundgesetz gibt dazu eine eindeutige Antwort; nach ihm gibt der Mehrheitswille des Parlaments den Ausschlag. Die Mehrheit des Volkes kann ihrem Willen erst bei den nächsten Wahlen und in dem Umfang Geltung verschaffen, in dem das dann noch möglich ist. Solange wir uns nicht im Wege der Grundgesetzänderung für die Aufnahme plebiszitärer Elemente entscheiden, wie einige der Länderverfassungen sie kennen, läßt sich daran verfassungsrechtlich nicht rütteln. Zu einer Diskussion über die letztere Frage sind wir bereit, nicht jedoch zur Mitwirkung an einem Ad-hoc-Gesetz, das an der verfassungsrechtlichen Lage nichts ändern würde — dies um so weniger, als ja über den Mehrheitswillen unseres Volkes gar keine Unklarheit besteht, die man erst durch eine Befragung beheben müßte.
Was Sie beabsichtigen, ist also nicht von der Verfassung verboten. Aber es belädt Sie — und das sage ich mit allem Ernst — mit einer gesteigerten politischen Verantwortung gerade in dieser Frage. Es wäre gut gewesen, Sie hätten das selber ausgesprochen, und es wäre gut, Sie brächten mehr Verständnis für diejenigen auf, die dem Mehrheitswillen Geltung verschaffen wollen, dann an der Demokratie verzweifeln, weil ihnen nicht nur das nicht gelingt, sondern weil ihnen darüber hinaus vorgeworfen wird, ihr Begehren sei undemokratisch und eine Störung unserer Ordnung. Ist dieser Vorwurf alles, was Sie denen zu sagen haben? Haben Sie nicht die Kraft, Herr Bundeskanzler, diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern — und das bleiben sie doch — ein Zeichen des Verständnisses, wenigstens
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2337
Dr. Vogelein versöhnliches Wort in dieser Debatte zukommen zu lassen?
Nicht zuletzt weil das unterbleibt, kommen manche auf den Gedanken, hier müsse es ein Recht zum Widerstand geben. Ich verstehe diesen Zusammenhang, aber ich möchte keinen Zweifel daran lassen: ein solches Recht zum Widerstand gibt es nicht, weder individuell noch kollektiv.
Das gilt auch für gewaltlose Gesetzesverletzungen. Ich bin gegen solche Gesetzesverletzungen und habe vor ihnen gewarnt. Wer sie zum Zeichen der besonderen Ernsthaftigkeit seines Protestes auch gewaltlos begeht, der muß die Folgen auf sich nehmen.
Diejenigen aber, die sich über solche möglicherweise gegebenen Gesetzesverletzungen, also beispielsweise über bestimmte Formen von Sitzblockaden besonders lautstark und andauernd entrüsten, müssen sich allerdings fragen lassen, ob sie sich gegen andere Gesetzesverletzungen, etwa gegen Steuerhinterziehungen, Wirtschaftsvergehen, verbotene Preisabsprachen genauso lautstark gewendet haben.
— Sehr verehrte Damen und Herren, ich freue mich über die Lebhaftigkeit, mit der Sie meine Ausführungen begleiten. Wenn der Herr Bundeskanzler hier stünde, dann hätte er schon mindestens dreimal mit dem Blick zum Fernsehpublikum gesagt: „Da sehen Sie, wie sie ihnen unbequeme Meinungen niederschreien und wie sie das nicht ertragen können."
Also, bitte, fahren Sie ruhig fort in der Art von Begleitung, die Ihnen angemessen erscheint.
Im übrigen will ich eine Gemeinsamkeit zwischen Ihnen und der GRÜNEN-Fraktion feststellen: in der Lautstärke und Hemmungslosigkeit Ihrer Zwischenrufe stehen Sie der GRÜNEN-Fraktion in gar keiner Weise nach. Da sind Sie völlig vereinigt.
Herr Bundeskanzler, ich habe gesagt, Sie weichen wichtigen Punkten in der Diskussion aus. Sie rücken Fragen in den Vordergrund, die gar nicht streitig sind, um die es heute gar nicht geht.
So erwecken Sie auch in Ihrer heutigen Regierungserklärung den Eindruck, es gehe um den Fortbestand unserer politischen Ordnung, es gehe um unsere Zugehörigkeit zum Atlantischen Bündnis oder es gehe um die Bundeswehr. All dem widerspreche ich für die sozialdemokratische Fraktion entschieden.
Wir Sozialdemokraten haben für eine freiheitliche demokratische und parlamentarische Ordnung unserer Gesellschaft schon gekämpft, als andere das noch nicht oder nicht mehr getan haben.
Wir haben nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, eine solche Ordnung aufs neue ins Werk zu setzen. Wir wissen, daß wir in dieser Ordnung eine größere Chance haben als in anderen Ordnungen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität immer wieder aufs neue zu verwirklichen. Deshalb wollen wir diese Ordnung wie bisher bewahren, fortentwickeln, schützen und, wo es not tut, auch verteidigen.Im Kampf gegen rechte und linke Diktaturen haben Sozialdemokraten für diese Ordnung mit anderen zusammen ihr Leben geopfert. Herr Bundeskanzler, wir bedürfen in dieser Frage keiner Belehrung; nein, ich sage es deutlicher: Wir verbitten uns eine Belehrung in dieser Frage.
Ebensowenig bedürfen wir einer Belehrung darüber, daß die Sowjetunion eine andere Ordnung anstrebt; eine Ordnung, die wir ablehnen, die für uns unannehmbar ist.Wir stehen zum Atlantischen Bündnis.
Es gibt uns mehr Sicherheit, als wir sie ohne das Bündnis besäßen. Unsere Ostpolitik, unsere Deutschlandpolitik, zu deren Fortsetzung Sie sich zu unserer Freude immer wieder — jedenfalls verbal — bekennen, wären ohne die Zugehörigkeit zum Bündnis und ohne dessen Unterstützung nicht möglich gewesen.
Ein Austritt aus dem Bündnis hätte Isolierung und weniger Sicherheit zur Folge. Man nähme auf unsere Interessen nicht mehr, sondern weniger Rücksicht. Unser Einfluß gegenüber beiden Weltmächten, aber auch in Europa, würde nicht gestärkt, sondern empfindlich geschwächt. Das langfristige Ziel einer europäischen Friedensordnung, die mit der Teilung Europas auch die deutsche Teilung überwindet, würde nicht näherrücken, sondern in noch weitere Ferne entschwinden.Aber gerade wer so zum Bündnis steht, muß Meinungsverschiedenheiten wie jetzt die über die Stationierung oder über andere Fragen der gemeinsamen Strategie und Politik offen austragen und zu
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2338 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. Vogeleinem vernünftigen Ausgleich bringen. Das gehört auch zum Bekenntnis zu diesem Bündnis.
Wer das nicht tut, wer diese Meinungsverschiedenheiten verschweigt oder bemäntelt, braucht sich nicht zu wundern, daß auch eine Diskussion über das Bündnis in Gang kommt.Deshalb müssen wir auch der gegenwärtigen Regierung unseres Hauptverbündeten sagen, wie wir über die Ansicht denken, Atomkriege seien führbar oder gar gewinnbar, oder über den Plan, Kriege künftig auch auf den Weltraum auszudehnen oder sowjetischen Vorstößen in anderen Regionen der Welt durch horizontale Eskalation, d. h. durch offensive Operationen in Zentraleuropa, zu begegnen.Wir müssen auch fragen, ob die Defizit- und Hochzinspolitik mit Art. 2 des NATO-Vertrags vereinbar ist. Ich zitiere diesen Artikel im Wortlaut:Sie— d. h. die Vertragspartner —werden bestrebt sein, Gegensätze in ihrer internationalen Wirtschaftspolitik zu beseitigen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen einzelnen oder allen Vertragspartnern zu fördern.
Wir müssen unseren Partnern auch sagen, daß die Zustimmung der Bevölkerung zum Bündnis nicht steigen, sondern nachlassen wird, wenn die Raketen gegen den Willen der Mehrheit dieses Volkes stationiert werden.
Es ist einer unserer Hauptvorwürfe gegen Ihre Politik, Herr Bundeskanzler, daß Sie gerade das unterlassen, daß Sie in allen ihren Beteuerungen und Kundgebungen undeutlich, allgemein und eine Spur zu substanzlos bleiben, daß Sie Freundschaft mit Gefälligkeit und kooperative Einordnung in ein Bündnis mit vasallenhafter Lehenstreue verwechseln.
Damit schaden Sie nicht nur deutschen Interessen, damit schaden Sie auch den Interessen des Bündnisses. Hier liegen auch die Wurzeln der sogenannten Bündnisdiskussion, nicht im Mutwillen einzelner.Wir stehen zu unserer Bundeswehr. Sie ist ein wesentliches Element unserer Bündnis- und Schutzfähigkeit, und sie ist die erste Armee in unserer Geschichte, die nicht neben unserer Gesellschaft oder gar gegen sie, sondern mitten in ihr steht.
Dazu haben Sozialdemokraten entscheidend beigetragen. Wir werden es nicht zulassen, daß die Bundeswehr wieder in eine gesellschaftliche Isolierunggerät. Das würde schon mit einer einseitigen politischen Inanspruchnahme oder Orientierung unserer Streitkräfte beginnen.Deshalb sage ich auch bei dieser Gelegenheit: Wir bejahen die militärischen Anstrengungen zur Kriegsverhütung, und wir anerkennen das Engagement derer, die den Wehrdienst absolvieren oder den Dienst in der Bundeswehr als Beruf gewählt haben. Deswegen treten wir auch für eine Wehrsolderhöhung im nächsten Jahr ein, die von Ihnen abgelehnt wird.
Übrigens sollte sich niemand täuschen. Die Frage, ob stationiert werden soll oder nicht, ist doch auch in der Bundeswehr überaus umstritten. Nicht wenige Soldaten teilen doch unsere Sorgen in dieser Frage und bringen das zum Ausdruck.Deshalb, Herr Bundeskanzler, ist das falsch, was Sie zumindest dem Sinne nach auch heute in Ihrer Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht haben, daß nämlich gegen unsere politische Ordnung, gegen das Bündnis und gegen die Bundeswehr sei, wer der Stationierung nicht zustimme. Das ist falsch.
Den Konsens in unserem Volke stellt der in Frage, der das behauptet und der das zum Thema macht, nicht der, der heute nein zur Stationierung sagt.
Ich nannte Themen, um die es zwar nicht geht, die Sie aber immer wieder in den Vordergrund rükken. Entgegen Ihren Auslassungen geht es auch nicht um die nachträgliche Bestätigung oder Aufhebung des Beschlusses vom 12. Dezember 1979. Es geht vielmehr darum, Konsequenzen aus dem letzten Satz dieses Beschlusses zu ziehen. Es geht um die Entscheidung darüber, ob im Lichte der Ergebnisse der Genfer Verhandlungen — und das heißt j a wohl auch: im Lichte ihres bisherigen Verlaufs — mit der Stationierung begonnen werden soll. Ihre Antwort ist Ja, die Antwort meiner Partei, die Antwort der großen Mehrheit meiner Fraktion ist Nein.Ich sage der Mehrheit; denn es gibt in meiner Fraktion abweichende Meinungen, die von der Mehrheit nicht geteilt, die von ihr aber respektiert werden. Meinungen, deren moralische Qualifikation die Mehrheit ebensowenig in Zweifel zieht wie ihren legitimen Platz innerhalb unserer sozialdemokratischen Gemeinschaft.
Es sind einmal die Gründe derer, die sich aus ihrer Überzeugung heraus bereits außerstande gesehen haben, für die Entschließung im Mai 1981 zu stimmen. Es ist zum anderen die Meinung derjenigen, für die insbesondere Helmut Schmidt in dieser Debatte das Wort nehmen wird.
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Dr. VogelSie haben im Vorfeld dieser Debatte über diese Mitteilung frohlockt und Ihre Freude zum Ausdruck gebracht. Ich glaube, zu Unrecht. Ich berufe mich dabei gar nicht auf die stehende Redensart des Bundeskanzlers, daß Meinungsverschiedenheiteh jedenfalls dann ein Lebenselement der Demokratie darstellen, wenn sie in Ihrer Fraktion oder in der Koalition auftreten. Das tun sie ja häufig genug. Ich frage vielmehr, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union, ob Ihre scheinbare Geschlossenheit wirklich die Meinungsvielfalt Ihrer Anhänger, Ihrer Wähler, Ihrer Mitglieder widerspiegelt.
Wo — so frage ich — ist der Politiker in der Union, der seiner Partei mit gleicher Eindringlichkeit die Gründe gegen die Stationierung vorgetragen hätte, wie Helmut Schmidt meiner Partei die Argumente für die Stationierung dargelegt hat? Wo ist dieser Mann?
Sie wissen doch selbst, daß ein beträchtlicher Prozentsatz Ihrer Wähler und Mitglieder die Stationierung nicht will. Sie wissen, daß Franz Alt oder Klaus-Dieter Zemlin — immerhin ein Mann, den Richard von Weizsäcker bei seiner ersten Kandidatur in Berlin der Aufnahme in seine Regierungsmannschaft für wert hielt — nur scheinbar Außenseiter, in Wahrheit aber Repräsentanten zumindest einer starken Minderheit in Ihrem Bereich sind. Wäre es da nicht ehrlicher, wenn das auch im Abstimmungsverhalten Ihrer Fraktion seinen Ausdruck fände?
Und bei Ihnen, bei den Freien Demokraten, hat doch sogar ein Viertel der Delegierten auf Ihrem Parteitag gegen die Stationierung gestimmt.Außerdem: Sie werfen uns doch immer vor, daß wir Zwang, Fraktionszwang ausübten. Nein, wir tun das gerade nicht. Wir fordern nicht nur Gewissensfreiheit, wir praktizieren sie. Folgen Sie diesem Beispiel und kritisieren Sie es nicht!
Sie haben Ihr Ja in Ihrer Regierungserklärung soeben zu begründen versucht. In Ihrer Erklärung gibt es Elemente, denen ich zustimmen kann. So stimme ich über meine bisherigen Feststellungen zu unserer Gesellschaftsordnung, zum Bündnis und zur Bundeswehr hinaus der Feststellung zu, daß die gegenwärtige Runde des Rüstungswettlaufs von der Sowjetunion eingeleitet worden ist oder daß die Überrüstung der Sowjetunion destabilisierend wirkt und für uns eine Herausforderung darstellt.Anderen Elementen widerspreche ich mit allem Nachdruck. So behaupten Sie beispielsweise, wir wollten im Bündnis den notwendigen militärischen Schutz verweigern. Das ist falsch. Ich werde darauf noch im einzelnen eingehen. Falsch ist auch, daß Sie alles Notwendige getan hätten, damit in Genf eine Vereinbarung zustande komme. Wir bestreiten das.
Im zentralen Punkt, nämlich in der Frage der Berücksichtigung der Drittstaatensysteme, haben Sie das Notwendige nicht getan. Ganz im Gegenteil, Sie haben Notwendiges unterlassen.
Geradezu bestürzend in seiner Undifferenziertheit ist aber Ihr Satz, der Friede im nuklearen Zeitalter sei nur so sicher wie die Gefahr des Untergangs für den, der ihn bricht. Sehen Sie die Problematik der Abschreckungsdoktrin wirklich so verkürzt? Wissen Sie nicht, daß es in diesem Fall nicht nur um den Untergang dessen geht, der den Frieden bricht, sondern auch um den Untergang dessen, der sich zu verteidigen meint?
Ist die ganze kirchliche Diskussion gerade über diese Frage wirklich spurlos an Ihnen, meine Damen und Herren, vorübergegangen — die Diskussion, die doch eines ganz deutlich gemacht hat, nämlich daß die Sicherung des Friedens nicht allein auf ein technisches Kalkül eingeengt werden kann?
Wieder anderes von dem, was Sie gesagt haben, ist in hohem Maße ungewiß. Sie geben sich zuversichtlich, daß es im Falle der Stationierung nur zu einer vorübergehenden Trübung unserer Beziehungen zur Sowjetunion und zu Osteuropa und zu einer vorübergehenden Trübung oder — wenn ich Sie heute richtig verstanden habe — zu überhaupt keiner Trübung der deutsch-deutschen Beziehungen kommen wird. Wir wünschen, es wäre so. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gering. Nach allem, was wir wissen, ist es leider viel wahrscheinlicher, daß es bitterste Rückschläge geben wird. Wir in diesem Haus wissen doch auch, wer dafür vor allem zu zahlen haben wird, nämlich die Menschen im anderen deutschen Staat. Landesbischof Dr. Johannes Hempel, der Vorsitzende der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR, hat es doch in Ihrer Gegenwart, Herr Bundeskanzler — in Ihrer Gegenwart —, zu Beginn dieses Monats bei der Luther-Feier in Worms gesagt. Wörtlich hat er dort ausgeführt:Viele Christen bei uns — das heißt in der DDR —, ich auch, fürchten, daß die Stationierung weiterer Raketen in Europa die Menschen in beiden deutschen Staaten weiter auseinanderbringen und in unserem Land die Lage vieler Menschen unabhängig von ihrer Weltanschauung seelisch und materiell belasten wird.Der Mann weiß wohl, wovon er redet. Andere wissen es auch — die, die gerade vor diesen Folgen der Stationierung und vor den Gefahren warnen. Es ist nicht gut, nein — ich wähle das Wort —, es ist
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Dr. Vogelinfam, diejenigen immer wieder als Sprachrohre Moskaus zu verdächtigen, die solche Warnungen, die solche Wahrheiten aussprechen und in unsere Diskussion einbringen.
Ihre heutige Wendung, Herr Bundeskanzler, die SPD würde wieder und wieder die sowjetische Argumentation übernehmen, ist in der Sache nicht einen Deut besser, nur in der Form ein bißchen subtiler.Zum anderen Punkt haben Sie überhaupt nichts gesagt. Wer hat denn z. B. den konkreten Nachrüstungsbedarf der NATO in der gegenwärtigen Situation geprüft? Welche Standpunkte haben die Mitgliedsländer vertreten? Warum haben Sie sich der Einberufung der Konferenz, wie sie aus dem Kreis der Verbündeten gefordert worden ist, widersetzt?Unser Ziel war und ist, die Gesamtzahl der bereits vorhandenen Mittelstreckenraketen in Europa zu vermindern und erstmals durch Verhandlungen eine weitere Umdrehung der Rüstungsspirale im voraus zu verhindern. Unser Ziel war nicht die Stationierung neuer Raketen auf unserer Seite. Das hätten wir ohne Doppelbeschluß haben können.Ich weiß — und manche von Ihnen sagen es auch —, manche von Ihnen bedauern, daß die USA nicht sofort stationiert haben. Sie halten schon den Doppelbeschluß für ein Zeichen von Schwächlichkeit und für einen Fehler. Ich widerspreche dem ausdrücklich.
Ich wiederhole: Unser Ziel war es, den Teufelskreis zu durchbrechen. Diese Zielsetzung war das absolut Neue an diesem Beschluß. Sie sagen, dieses Ziel wurde verfehlt, deshalb bedürfe es der Stationierung. Wir sagen: Dieses Ziel ist erreichbar; es ist in greifbarer Nähe. Deshalb sind wir gegen die Stationierung.
Der Beschluß des Jahres 1979 und der nachhaltige Einsatz des damaligen Bundeskanzlers haben zunächst bewirkt, daß die USA und die Sowjetunion in Genf im November 1981 Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen aufgenommen haben. Während dieser Verhandlungen haben sich beide Seiten bewegt — beide Seiten, auch die Vereinigten Staaten.
Zuletzt hat nicht irgendwer, sondern der erste Mann der Sowjetunion folgendes öffentlich angeboten:Erstens eine Reduzierung der Zahl der auf Westeuropa gerichteten Systeme auf 140 und damit eine Reduzierung der Zahl der Sprengköpfe auf etwa 420.Zweitens die Verschrottung der überzähligen Systeme, d. h. den Verzicht auf ihre Verlagerung in den Fernen Osten.Drittens — dies ist ein völlig neues Element, wie jeder weiß, der die Souveränitätslehre der osteuropäischen Staaten kennt — die Kontrolle der Verschrottung an Ort und Stelle.Viertens die Festsetzung einer gemeinsamen Obergrenze für Flugzeuge mittlerer Reichweite.Im Gegenzug sollen die USA auf die Stationierung neuer Systeme verzichten.Meine Damen und Herren, dieser Vorschlag enthält das Eingeständnis der Sowjetunion, daß sie ihre Rüstung weit überzogen hat, daß sie viel mehr Raketen stationiert hat, als sie zu ihrer Sicherheit bedarf. Wir halten diesen Vorschlag für verhandlungswürdig und für verhandlungsfähig. Er hätte auf seine Ernsthaftigkeit genauestens ausgelotet werden müssen.
Das ist nicht geschehen. So bleibt unerprobt, ob ein Verhandlungserfolg dadurch erzielbar wäre, daß das sowjetische nukleare Mittelstreckenpotential durch kontrollierbare Verschrottung von Raketen unter das Niveau von 1978 zurückgeführt wird. Damals, als dieser Stand maßgeblich war, hielt man die Stationierung landgestützter US-Raketen, die von Europa aus die Sowjetunion erreichen, in Europa keineswegs für unerläßlich.Dies, Herr Bundeskanzler, würde in noch viel stärkerem Maße gelten, wenn das, was Sie in der letzten Woche plötzlich behauptet haben, richtig gewesen wäre, sich jedoch — leider — inzwischen als eine Fehlinformation herausgestellt hat, der Sie übrigens mit einer erstaunlichen Leichtigkeit aufgesessen sind. Daß Sie dies heute trotz eindeutiger Dementis im Plenum wiederholen, macht die Sache nicht besser. Außerdem: Wenn die Sowjetunion zu Beginn der letzten Woche in Genf tatsächlich die Möglichkeit einer Reduzierung auf 120 Systeme ins Gespräch gebracht hätte, dann bleibt es Ihr Geheimnis, wieso ein solches Angebot — wenn es das wirklich gegeben hätte — als Argument gegen uns verwendet werden kann. Das ist doch wider die einfache Logik. Das verstärkt das noch, was ich hier über die Notwendigkeit ernsthaften Auslotens gesagt habe.
Danach stehen wir heute vor zwei Optionen.Die eine lautet: Die Bundesrepublik stimmt der Stationierung zu. Dann wird es auf westlicher Seite alsbald einige hundert modernste Raketensysteme mehr geben. Aber auch die Sowjetunion wird nicht ein einziges ihrer Systeme abbauen, die Stationierung vielmehr verstärkt fortsetzen und zumindest auf die DDR und die Tschechoslowakei ausdehnen. Gleichzeitig werden die schon jetzt bedrohlichen Spannungen zwischen den Weltmächten weiter zunehmen. Die Bundesrepublik wird außerdem mit den stationierten Raketen Ziele bieten, die im Falle der Konfrontation Schläge der anderen Seite in gesteigertem Maße herausfordern. Die Akzeptanz des Bündnisses wird — jedenfalls in der Bundesrepublik, aber auch in anderen Mitgliedsländern — für geraume Zeit gemindert. Die Entspannungspolitik
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Dr. Vogelwird weiter in den Hintergrund treten. Die von dieser Politik in Richtung Osteuropa ausgehenden günstigen — ich füge hinzu: liberalisierenden — Wirkungen werden weiter abnehmen. Das ist Ihre Option.Die andere Option lautet so: Die Bundesrepublik stimmt der Stationierung nicht zu. Dann erscheint eine drastische Reduzierung der sowjetischen Systeme erreichbar.
Die Bedrohung mit nuklearen Waffen nimmt erstmals ab.
Der Stationierungswettlauf wird unterbrochen. Die Konfrontation zwischen den Supermächten wird gemildert.
Die Entspannungs- und Rüstungskontrollpolitik erhält neuen Auftrieb.
Die Intensivierung der deutsch-deutschen Beziehungen kann fortgesetzt werden. Die bedrohte Akzeptanz des Bündnisses festigt sich.
Das ist unsere Option!
Wir glauben nicht, daß die Nachteile Ihrer Option dadurch aufgewogen werden, daß künftig in unserem Lande Raketen stehen, die wichtige Gebiete der Sowjetunion noch schneller, noch zielsicherer, noch wirksamer zerstören können, als es mit den schon vorhandenen Waffen möglich ist. Wir behaupten nicht, daß unsere Option jedes Risiko ausschließt, aber wir widersprechen mit großem Ernst dem Satz, daß mehr Rüstung stets auch mehr Sicherheit bedeutet.
Wir sind vielmehr tief davon überzeugt, daß mehr Rüstung auch weniger Sicherheit und Destabilisierung bedeuten kann.
Wir widersprechen ebenso der These, daß für die Sicherheit, für das Gleichgewicht, für die Kriegsverhütung allein der militärische Aspekt den Ausschlag gibt. Die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Volkswirtschaft, das Maß an sozialer Sicherheit der einzelnen und der Familien, die Verwirklichung der Menschenrechte, das Ausmaß und die Tragfähigkeit der Zustimmung der Bürger zu den von der Staatsführung verfolgten Zielen sowie die Fähigkeit zur friedlichen Veränderung innerer Strukturen und politischer Zielsetzungen wiegen ebenso schwer. Nein, wenn die eigene Verteidigungs- und Kriegsverhütungsfähigkeit gewährleistet ist, wiegen diese Überlegenheiten viel schwerer als Überlegenheiten, die sich, wie bei den nuklearen Massenvernichtungswaffen, nur in Megatonnen, in Wurfgewichten und in Zielgenauigkeit ausdrücken lassen.
Das gilt ebenso für die Glaubwürdigkeit und die ethisch-moralische Konsistenz der Politik der Weltmächte und ihrer Bündnissysteme gegenüber anderen Völkern, insbesondere gegenüber den weniger entwickelten Völkern im allgemeinen und den kleineren Völkern in ihren jeweiligen Interessenbereichen im besonderen.Zu diesen Zusammenhängen schweigt Ihre Regierungserklärung. Und sie gibt auch zu der entscheidenden Frage keine Auskunft, zu der Frage nämlich, was Sie getan haben, um den Genfer Verhandlungen, um dem Verhandlungsteil des Doppelbeschlusses in der Frage der Drittstaatensysteme zum Erfolg zu verhelfen.
Sie haben die Sowjetunion immer wieder gedrängt, sich zu bewegen, ihre Überrüstung abzubauen. Das war richtig, das haben wir unterstützt und unterstützen wir auch in Zukunft. Aber was haben Sie den Vereinigten Staaten gesagt,
was haben Sie durchgesetzt? Paul Nitze, der Chefdelegierte der Vereinigten Staaten, hielt eine Vereinbarung für möglich, bei der auf westlicher Seite keine einzige Pershing-II-Rakete stationiert worden wäre. Er hatte eine solche Vereinbarung bei dem sogenannten Waldspaziergang vorgeschlagen. Herr Bundeskanzler, Sie haben noch nicht einmal diesen Vorschlag öffentlich unterstützt!
Als ein schwächlicher Vorstoß in Gestalt Ihres Interviews in der „Washington Post" am 21. Juli 1983 in Ihren eigenen Reihen auf Widerspruch stieß, kapitulierten Sie endgültig vor denen, die den Beginn der Stationierung auf jeden Fall und unter nahezu allen Bedingungen wollten.
Sie, Herr Wörner, meinen — er hat es erst vor wenigen Tagen gesagt —, man könne die Sowjetunion durch ein Wettrüsten überwinden.
— Ich stelle Ihnen das Zitat anschließend gern zur Verfügung, Herr Kollege.
Herr Bundeskanzler, welches Gewicht haben Sie eigentlich in Washington?
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2342 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wörner?
Nein, ich möchte meine Ausführungen im Zusammenhang machen.
Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen das Wort nicht erteilen.
Meine Damen und Herren, der Vormittag wird Gelegenheit geben, das Zitat zu verlesen. Ich bitte um Ihr Verständnis, daß ich nicht mit ganzen Kisten von Papier hier an das Rednerpult trete. Ihnen wird das Zitat zur Verfügung gestellt.
Meine Damen und Herren, ich glaube, der Redner kann jetzt fortfahren.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie an der vollen Entfaltung Ihrer Argumentationskraft in keiner Weise hindern. Wir haben Zeit.
— Dieser originelle Zwischenruf ist Ihnen offenbar bei jeder Gelegenheit bei der Hand.Herr Bundeskanzler, welches Gewicht haben Sie eigentlich in Washington? Wir sind der Bündnispartner, der zu den konventionellen Anstrengungen der Allianz in Europa den größten Beitrag leistet. Wir sind das exponierteste Stationierungsland des Bündnisses. Gegen den Willen der Bundesrepublik kann nicht eine einzige Rakete stationiert werden. Ich werfe Ihnen vor, Herr Bundeskanzler, daß Sie die Möglichkeiten, die sich daraus für eine Politik der Beendigung des Rüstungswettlaufs ergeben, nicht genügend benutzt haben,
daß Sie in Washington den Eindruck haben entstehen lassen, Sie seien zu fast allem bereit, was die gegenwärtige amerikanische Administration will und fordert.Sie berufen sich in dieser Frage häufig auf Helmut Schmidt. Ganz zu Unrecht! Helmut Schmidt hätte einen solchen Eindruck nie entstehen lassen. Er hat deutsche Interessen stets mit Festigkeit vertreten. Er hätte es auch in diesem Fall getan.
Sie haben es ja jetzt gerade erlebt. Für jeden war offenkundig, daß Ihre Position durch die Intervention in Grenada fühlbar erschwert wurde. Einer Ihrer Freunde — er ist hier zugegen — hat das in der Aussprache vom 27. Oktober 1983 offen bekannt. Er hat gesagt: Das hat uns gerade noch gefehlt. Dennoch: Washington hat Sie nicht konsultiert, hat Sie noch nicht einmal informiert. Sie sind vor vollendete Tatsachen gestellt worden.Ich billige dieses Vorgehen der Administration in Washington nicht. Ich bin dagegen, daß mit dem Bundeskanzler unserer Republik so umgegangen wird. Aber Sie haben sich diese Behandlung selber mit zuzuschreiben.
Ein zentraler Punkt der Genfer Verhandlungen war bis zuletzt das Problem der englischen und der französischen Systeme. Wir haben vorgeschlagen, ihre Berücksichtigung bei den START-Verhandlungen oder bei den weiteren Rüstungskontrollverhandlungen verbindlich zuzusagen. Sie haben sich dem widersetzt und tun es auch heute. Sie sind immer auf den Satz ausgewichen, die Supermächte könnten in Genf nicht über Waffen anderer Staaten verfügen.Aber darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, daß diese 162 Systeme in Europa existieren, daß sie auf Osteuropa gerichtet sind und bei SALT II nicht angerechnet wurden. Es geht darum, Tatsachen anzuerkennen und aus diesen Tatsachen Folgerungen zu ziehen. Wer wollte denn, meine Damen und Herren, umgekehrt die Vereinigten Staaten davon überzeugen, sie müßten 162 Systeme ignorieren, wenn diese in der Karibik oder gar in Mittelamerika von Verbündeten der Sowjetunion stationiert und von dort aus auf das Territorium der Vereinigten Staaten gerichtet werden?
Ein vergleichbarer Versuch der Sowjetunion hat doch 1962 zur Kuba-Krise geführt, und einer der von der amerikanischen Administration angegebenen Gründe für die Intervention in Grenada war allein schon der Verdacht, ein dort errichteter Flughafen könne für den Antransport von solchen Raketen verwendet werden.Diesen Punkt haben Sie in Ihrer Erklärung umgangen. Sie sprechen statt dessen von einem Monopol der Sowjetunion an eurostrategischen Waffen. Aber auch das ignoriert die Tatsachen. Großbritannien und Frankreich besitzen doch solche Waffen ebenfalls; beide sind Mitglieder des Bündnisses. Die britischen Systeme unterstehen überdies im Spannungsfall dem NATO-Oberbefehl. Das sind doch Tatsachen, die den Gebrauch des Wortes „Monopol" schon aus logischen Gründen ausschließen.
Noch eine Frage: Herr Bundeskanzler, haben Sie wenigstens eine verbindliche Zusage gefordert und erhalten, daß die Raketen nur im Rahmen der Bündnisverpflichtungen der NATO, unter gar keinen Umständen aber für sonstige Zwecke, also für Krisen außerhalb des NATO-Gebietes, eingesetzt werden? Ihre Regierungserklärung übergeht dieses
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Dr. VogelThema. Ich fordere Sie deshalb auf, sich dazu im weiteren Verlauf der Debatte klar und unmißverständlich zu äußern.
Wie soll es weitergehen? Kommt es nach Ihrem Willen zur Stationierung, so werden wir alles daran setzen, damit diese Entscheidung korrigiert wird.
Wir werden nicht resignieren, wir werden uns mit Entschiedenheit gegen die Fortsetzung der Stationierung in der Sowjetunion und gegen neue Stationierungen in der DDR und der Tschechoslowakei wenden. Diese Stationierungen sind nicht weniger bedrohlich und weniger vernunftwidrig als die Stationierungen, die jetzt gutgeheißen werden sollen.
Wir werden unablässig darauf drängen, daß die Weltmächte von neuem verhandeln, um den Rüstungswettlauf zum Stehen zu bringen, damit die Raketen, die jetzt stationiert werden, auf beiden Seiten wieder abgebaut werden. Der Beginn der Stationierung wird die Aufnahme solcher Verhandlungen sehr schwer werden lassen. Dennoch, wir wollen diese Verhandlungen, und wir wünschen ihren Erfolg. Die Ergebnisse solcher Verhandlungen werden wir verantwortungsbewußt und mit großer Sorgfalt prüfen.Aber das genügt nicht; Friedenssicherung verlangt mehr. Sie verlangt neue und verstärkte Ansätze im Rahmen einer umfassenden Strategie. Deshalb treten wir für die Eröffnung einer neuen und konstruktiven Debatte über die künftige Strategie des Bündnisses ein. An der Abschreckungstheorie insgesamt kann nur noch für eine Übergangsfrist festgehalten werden. Vor allem aber stoßen im Rahmen dieser Theorie die Elemente des Ersteinsatzes und des frühen Ersteinsatzes von Atomwaffen als Elemente der nuklearen Abschrekkungsstrategie auf immer stärkere Bedenken.So haben die katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten festgestellt, sie könnten sich keine Situation vorstellen, in der die vorbedachte Einleitung nuklearer Kriegführung — sei sie noch so begrenzt — moralisch gerechtfertigt werden könne. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat in Worms erst vor wenigen Tagen einstimmig erklärt: „Als Christen müssen wir sagen: Die Androhung gegenseitiger Vernichtung widerspricht dem Geist Christi und ist Ausdruck unserer Sünde; deshalb muß das System nuklearer Abschreckung unbedingt überwunden werden."
Helmut Schmidt sagt zu Recht, daß die Idee des Ersteinsatzes von Nuklearwaffen selbst im Falle eines konventionellen Angriffs in den kommenden Jahren mehr und mehr als inadäquat und unakzeptabel angesehen werde. Ihr Freund Biedenkopf — und nicht er allein — hat dieser These immer wieder öffentlich zugestimmt. Zugleich ist die Sorge gewachsen, die nuklearen Bedrohungssysteme könnten eines Tages infolge eines technischen Versagens oder einer menschlichen Fehlhandlung außer Kontrolle geraten und auf diese Weise zu einer ungewollten tödlichen Katastrophe führen.Die geltende Bündnisstrategie muß deshalb weiterentwickelt werden. Außerdem muß der defensive Charakter all unserer Verteidigungsanstrengungen noch stärker hervortreten. Das sind wesentliche Elemente einer neuen, einer besseren Strategie: vertrauensbildende Maßnahmen auf europäischer Ebene, eine ergänzende Gewaltverzichtsvereinbarung zwischen NATO und Warschauer Pakt — Ihr Außenminister verlangt sie inzwischen, Sie selbst schweigen dazu —, die Intensivierung der Rüstungskontrollverhandlungen an allen Tischen mit dem Ziel, ein annäherndes Gleichgewicht zwischen NATO und Warschauer Pakt herzustellen, die schrittweise Einrichtung einer von nuklearen Gefechtsfeldwaffen freien Zone in Europa — das lehnen Sie ab —, die Einrichtung einer von chemischen Waffen freien Zone — Sie zögern und schweigen dazu — in Europa.
Das alles muß sich in eine umfassende Strategie einfügen, die neben, j a vor den militärischen Elementen ökonomische, psychologische, soziale und eine Vielzahl weiterer politischer Elemente umfaßt.Eine solche Strategie hat der Westen über eine beträchtliche Zeitspanne hinweg unter Führung amerikanischer Präsidenten von Truman über Eisenhower bis hin zu Nixon und Ford erfolgreich paktiziert. Er hat dadurch das Gleichgewicht nicht nur behauptet; er hat es stabilisiert, er hat zur Kriegsverhütung beigetragen. Er hat die Chancen für die friedliche Ausbreitung der Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität nicht nur genutzt, sondern sie auch verbessert und gestärkt.
Das wirtschaftliche System des Westens hat sich dem des Ostens überlegen gezeigt. Friedliche Regierungswechsel sind im Westen eine Selbstverständlichkeit. Die Ereignisse in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968, ganz zu schweigen von denen im Juni 1953, hatten in den westlichen Demokratien des Bündnisses ebensowenig eine Entsprechung wie die Umstände, unter denen das polnische Volk um Reformen und einen neuen nationalen Konsens ringt. Die Entwicklungshilfe des Westens lag — bei allem Ungenügen — weit über den vergleichbaren Hilfeleistungen Osteuropas. Die USA zogen sich nach bitterem Lernprozeß 1974 aus Vietnam zurück und respektierten so am Ende das Recht dieses Volkes. Die Sowjetunion marschierte hingegen 1979 in Afghanistan ein und mißachtete eben dieses Selbstbestimmungsrecht. Die Schlußakte von Helsinki setzte — gegen Ihren Widerstand — einen Prozeß in Gang, der die Menschenrechte stärkte. Unsere Ost- und Deutschlandpolitik hat Millionen von Menschen mehr an Erleichterungen und Europa mehr an Stabilität gebracht, als in Zeiten der Konfrontation und des Kalten Krieges verlorengegangen war.
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2344 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. VogelDiese Strategie hat uns im Wettbewerb der Systeme durchaus nicht geschwächt, sondern gestärkt. Sie hat in der jüngsten Zeit aber Schaden gelitten.Die Haushalts- und Hochzinspolitik der USA hat viele Entwicklungsländer an den Rand des Ruins gebracht, die Weltwirtschaftsbeziehungen empfindlich gestört und den Abbau der Arbeitslosigkeit in den Industrieländern — auch bei uns — fühlbar erschwert. In Lateinamerika — Nicaragua oder El Salvador sind dafür nicht die einzigen Beispiele — tritt eine Politik direkter oder indirekter militärischer Einflußnahme an die Stelle des Abbaus empörender sozialer Ungerechtigkeiten und Spannungen.
Die Intervention in Grenada, die selbst Ihre Freunde als völkerrechtswidrig bezeichnen, die in der UNO-Vollversammlung von keinem NATOStaat gebilligt und von neun NATO-Staaten — darunter von Frankreich, Italien und den Niederlanden — sogar verurteilt worden ist, nimmt dem Westen einen Teil der Glaubwürdigkeit, mit der er bisher sowjetischen Interventionen imperialistischer Art entgegengetreten ist. Am klarsten hat diesen Gedanken und die gefährlichen Folgerungen, die sich aus ihm ergeben können, die britische Regierungschefin in dem Satz zum Ausdruck gebracht:Wenn man ein neues Gesetz verkündet, daß, wo immer der Kommunismus gegen den Willen des Volkes regiert, die Vereinigten Staaten einmarschieren sollen, dann werden wir schreckliche Kriege in der ganzen Welt bekommen.
Das muß geändert werden. Die erfolgreiche Strategie muß wiederhergestellt werden. Das Gewicht Europas muß zunehmen, auch und gerade innerhalb des Bündnisses. Und ich füge hinzu: Die Politik muß endlich ihren Primat wiederherstellen — gegenüber den Militärstrategen und gegenüber den Waffentechniken.
Die Gräfin Dönhoff hat doch recht, wenn sie sagt: Politik muß endlich wieder mehr sein als eine Funktion der jeweiligen technolgischen Waffenentwicklung.
Wir behaupten nicht, daß wir diese Ansätze allein entwickeln oder gar durchsetzen können. Wir kennen die Grenzen, die unserer Bundesrepublik als Mittelmacht gezogen sind. Aber wir werden nicht müde werden, unsere Ansätze zu konkretisieren und für sie zu werben — im eigenen Volk, bei den Freunden und Nachbarn. Der Einwand, wir würden Utopien nachjagen, schreckt uns nicht. Alles, was wir Sozialdemokraten in 120jähriger Geschichte erreicht und verwirklicht haben, ist von den Konservativen, von den Selbstgerechten, von den Besserwissern zunächst einmal noch stets als Utopie abgetan worden.
Wir stünden noch mitten im Kalten Krieg, wir stünden sozialpolitisch noch in den 50er Jahren, wenn wir ihnen gefolgt wären. — Nein, wir folgen ihnen nicht. Die Geschichte zeigt, daß sie in allen wesentlichen Entwicklungen noch immer uns gefolgt sind, daß sie nach kürzerer oder längerer Zeit — leider meist längerer Frist — sich genau dem angeschlossen haben, was von uns ins Werk gesetzt und von ihnen zuvor erbittert bekämpft wurde.
Die Deutschlandpolitik ist dafür das jüngste, aber nicht das einzige Beispiel. In der Frage, über die wir heute streiten, wird es nicht anders sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist jetzt viel von Angst die Rede. Manche verzagen,
andere steigern sich gelegentlich in eine Weltuntergangsstimmung. Ich setze diese Angst und diesen Stimmungen Hoffnung entgegen. Eine Menschheit, die im Laufe ihrer Geschichte die Sklaverei überwunden hat, die die Streitigkeiten und Konflikte im nationalen Bereich nicht mehr gewaltsam austrägt, sondern in geordneten Verfahren friedlich schlichtet, eine solche Menschheit kann auch den Krieg überwinden, wenn sie es nur will. Und die Völker wollen es, auch unser eigenes.
Ein Mann, der davon viel verstand, der Jahrzehnte seines Lebens dem Kriegswesen, dem Streben nach militärischer Überlegenheit, dem Sieg über den jeweiligen Feind gewidmet hat,
schrieb dazu nicht lange vor seinem Tod:
Ich habe mein Leben damit verbracht, militärische Stärke als Abschreckung vor Krieg und die Art der Bewaffnung zu studieren, die notwendig ist, um einen Krieg zu gewinnen. Die Untersuchung der ersten dieser Fragen ist immer noch nützlich, aber wir kommen schnell zu dem Punkt, daß kein Krieg mehr gewonnen werden kann.Krieg beinhaltet Wettbewerb. Wenn man jedoch an den Punkt gelangt, daß es nicht mehr um Wettbewerb geht und der mögliche Ausgang dem Untergang des Feindes und unserem eigenen Selbstmord nahekommt — eine Aussicht, die keine der beiden Seiten länger außer acht lassen kann —, dann sind Argumente über die genaue Höhe der verfügbaren Stärke im Vergleich eines anderen nicht länger die wesentlichen Fragen.Und dieser Mann fährt fort:Wenn wir an den Punkt kommen, wohin wir eines Tages kommen werden, daß beide Seiten wissen, daß bei jedem Ausbruch eines allgemeinen Krieges ungeachtet des Überraschungselements die Vernichtung gegenseitig und vollständig sein wird, dann werden wir möglicher-
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Dr. Vogelweise Vernunft genug haben, um uns mit der Einsicht am Verhandlungstisch zu treffen, daß das Zeitalter der Rüstung zu Ende ist und das menschliche Geschlecht sein Handeln diesen Wahrheiten anpassen oder sterben muß. Diese Möglichkeit ist noch nicht vollständig erreicht, und ich will auf keinen Fall die Notwendigkeit der Stärke in Abrede stellen;— sagt dieser Mann —aber diese Stärke muß geistig, wirtschaftlich und militärisch sein. Alle drei Elemente sind wichtig und schließen sich nicht aus.Der, der diese bewegenden Worte sprach und den ein Voreiliger hier als General Bastin bezeichnet hat, war General. Er war einer der erfolgreichen Militärs unseres Jahrhunderts. Und er war Amerikaner. Es war Dwight D. Eisenhower am Ende seines Lebens.
Und ein Amerikaner sagte 1961 in einer großen Rede vor den Vereinten Nationen:Die Menschheit muß dem Krieg ein Ende machen; sonst wird der Krieg der Menschheit ein Ende bereiten.Es war John F. Kennedy, der Präsident, der heute vor fast genau 20 Jahren einem Mordanschlag zum Opfer fiel.Wir Sozialdemokraten stimmen mit diesen großen Amerikanern überein. Wir wollen nicht, daß das menschliche Geschlecht stirbt. Wir wollen, daß das Zeitalter der Rüstung zu Ende geht. Und wir wollen, daß das menschliche Geschlecht sein Handeln den Wahrheiten anpaßt, die immer offenkundiger geworden sind.Die deutsche Politik, die Politik überhaupt — das ist unser Wille — soll nach diesen Wahrheiten handeln, auch heute in dieser Entscheidung.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt keine politische Entscheidung, die länger, intensiver und auch kontroverser diskutiert worden wäre als diejenige, die wir morgen zu treffen haben. Das entspricht dem Ernst, dem großen Ernst des Themas.Wir begrüßen es daher, daß so viele Bürgerinnen und Bürger mit uns diskutiert haben, und wir werden uns auch nach der Beschlußfassung morgen wie zuvor der Diskussion in unserem Lande stellen.
Aber das ändert nichts daran, daß die Verantwortung, die große Last der Verantwortung für die zu treffende Entscheidung allein bei uns liegt: den gewählten Organen des demokratischen Staates.
Es ist daher unsere Sache,
die vorgetragenen Argumente zu würdigen. Wir werden sie nach ihrem Gewicht, nicht nach der Militanz, mit der sie vorgetragen worden sind, zu werten haben. Die zu treffende Entscheidung ist politischer, nicht religiöser oder wissenschaftlicher Natur. Sosehr wir von wissenschaftlichen Erkenntnissen und religiösen Überzeugungen beeinflußt sind und sein wollen, die Entscheidung bleibt eine politische: Weder die Bergpredigt noch die Naturwissenschaften geben Antworten auf die gestellten Fragen.
Wir sind überzeugt, daß auch diejenigen, die andere Wege zur Friedenssicherung für richtig halten,
den Frieden wollen wie wir. Deshalb bekunden wir ihnen unseren Respekt, soweit sie an der Diskussion in demokratischer Weise teilgenommen haben.
Wir haben allerdings den Eindruck, daß nicht wenige von ihnen den Wert der Freiheit als integralen Bestandteil eines menschenwürdigen Friedens zu gering einschätzen.
Diesen Kardinalfehler werden wir uns nicht zu eigen machen. Opus iustitiae pax — Der Friede ist das Werk der Gerechtigkeit, nicht das Werk der Unterwerfung.
Weder als Menschen noch als Christen sind wir dazu berufen, in Unfreiheit zu leben oder gar der Unfreiheit den Weg zu ebnen. Angst, meine Damen und Herren, ist aller Kreatur eigentümlich — auch ich bin davon nicht frei —, aber sie ist ohne moralische Qualität. Nur wer die Angst überwindet, kann besonnen, vernünftig und entschlossen handeln; das ist unsere Pflicht.
Denen, die uns mit Gewalt und mit Täuschung begegnen, indem sie ihre Gewalt als gewaltlos bezeichnen, werden wir widerstehen.
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2346 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. DreggerDie Republik würde ihre demokratische Qualität verlieren, wenn wir uns der — als gewaltlos getarnten — Gewalt unterwerfen würden.
Wir warnen jeden, uns, die gewählten Abgeordneten des deutschen Volkes, für erpreßbar zu halten.
Wir beschließen morgen, meine Damen und Herren, über den Beginn der Nachrüstung. Wir entscheiden damit zugleich über den Fortbestand der NATO, .der Grundlage unserer freiheitlichen Existenz im geteilten Europa.
Würde es den Sowjets gelingen, der NATO in dieser Frage ihren Willen aufzuzwingen, die NATO daran zu hindern, das verlorengegangene militärische Gleichgewicht in Europa wiederherzustellen, würde es ihnen gelingen, insbesondere die Deutschen aus dem Vollzug gemeinsam gefaßter Beschlüsse herauszubrechen, dann verlöre die NATO ihre Grundlage.
Sie verlöre sie in doppelter Hinsicht: zunächst militärisch, weil es dann für die Übermacht der Sowjetunion in Europa keine Grenze mehr geben würde; zugleich politisch-psychologisch, weil dann die Barrieren des Sich-nicht-mehr-verstehen-Könnens zwischen Amerikanern und Europäern unübersteigbar werden dürften.Mißverständnisse in der Allianz gibt es natürlich auf beiden Seiten. Aber in der Sicherheitspolitik sind es vor allem die Europäer und — ich bedaure, es gestehen zu müssen — sind es vor allem die Deutschen, die den Amerikanern immer unverständlicher werden.
Deshalb sei in Erinnerung gerufen — wenn Sie es überhaupt schon einmal gewußt haben, Herr Fischer — erstens: den — —
Herr Abgeordneter, einen Augenblick. — Ich bitte, sofort dieses Plakat dort wegzunehmen.
Fahren Sie bitte in Ihren Ausführungen fort.
— Ich bitte meine Ordnungsmaßnahme nicht zu kritisieren, Herr Fischer.
Erstens. Den NATO-Doppelbeschluß haben nicht die Amerikaner erfunden, sondern die Europäer. Inzwischen erwecken manche Europäer den Eindruck, als sei ihnen dieser Doppelbeschluß von den Amerikanern aufgezwungen worden.
Zweitens. Ohne die Stationierung amerikanischer Truppen in Europa wären die Europäer der sowjetischen Macht schutz- und hilflos ausgeliefert. Die Bilder aber, die die Amerikaner an ihren Fernsehschirmen sehen, zeugen nicht von Demonstrationen für Amerika, sondern von Demonstrationen gegen Amerika.
Drittens. Die sogenannte Friedensbewegung in Europa richtet ihre Aktionen — —
— Sie müssen dringend zuhören, Sie wissen zuwenig.
Diese sogenannte Friedensbewegung, die nicht nach dem Willen ihrer Anhänger, aber objektiv eine Unterwerfungsbewegung ist,
diese sogenannte Friedensbewegung richtet ihre Aktionen nicht gegen die sowjetischen Raketen, die auf uns zielen,
die uns bedrohen, die während der Genfer Verhandlungen noch ständig vermehrt worden sind,
sondern die Aktionen richten sich — —
Herr Abgeordneter, einen Augenblick. — Ich rufe Sie zur Ordnung, Herr Abgeordneter Fischer, für das Wort „Jetzt lügen Sie".
Man kann die Wahrheit nicht niederschreien; auch Sie werden das nicht schaffen.
Sondern die Aktionen der sogenannten Friedensbewegung richten sich gegen die noch nicht vorhandenen amerikanischen Raketen, die nicht kommen,
Deutscher Bundestag — l0. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2347
Dr. Dregger
die auch wieder zurückgezogen würden, wenn nur die Sowjetunion bereit wäre, ihre vorhandenen Raketen zu beseitigen oder sich in Zukunft dazu bereit erklären könnte.
Als noch schlimmer und unbegreiflicher als das Verhalten dieser sogenannten Friedensbewegung, die keine politische Verantwortung trägt,
empfinden die Amerikaner das Verhalten der SPD.
Gerade Ihren zweiten Kanzler haben sie immer hoch eingeschätzt. Wir müssen jetzt erleben, daß die Partei dieses Kanzlers sich von dessen bisheriger Politik total abwendet, daß sie sich dadurch mit sich selbst und mit ihrem eigenen bisherigen Verhalten in Widerspruch setzt.
All das ist schwer verständlich, nicht nur für die Amerikaner, sondern auch für uns.
Eine der Ursachen kann man offenlegen. Sie liegen in dem unterschiedlichen Verhalten der NATO und der Sowjetunion in den hinter uns liegenden Jahren. Die Sowjetunion hat Fakten geschaffen, die NATO Fragestellungen. Fakten nimmt man hin, auch wenn sie unangenehm sind. Was bliebe einem anders übrig? Über Fragestellungen diskutiert man. Die Sowjetunion hat uns nicht gefragt. Sie hat die landgestützten zielgenauen, weitreichenden SS-20Raketen stationiert ohne Rücksicht auf die Genfer Verhandlungen und ohne sich um die Proteste zu scheren, die in der Öffentlichkeit laut wurden.
Während in Genf verhandelt und im Osten gerüstet wurde, wurde im Westen diskutiert:
Sollen wir nachrüsten? Warum, weshalb, wieso, wieviel? — Die Sowjetunion hat die Möglichkeiten ihres totalitären Systems voll genutzt. Ihre Propaganda und Desinformation waren meisterhaft.
Alles, was von ihr in die Öffentlichkeit eingespeist wurde, war strategisch geplant und auf die jeweilige Stimmungslage der zu beeinflussenden westlichen Öffentlichkeit abgestimmt. Fakten mit Fragestellungen zu beantworten ist offenbar problematischer, als die Initiatoren des NATO-Doppelbeschlusses sich das vorgestellt haben,
jedenfalls einem Gegenspieler gegenüber, der über
seine Raketen nicht diskutiert, sondern sie aufstellt,
der selbst gegenüber den Medien völlig immun ist, aber es dafür um so besser versteht, auf unsere öffentliche Meinung von außen her Einfluß zu haben.
Meine Damen und Herren, all das sind Gegebenheiten, die wir heute nicht mehr verändern können.
Es ist der Sinn der repräsentativen Demokratie und es ist unsere Pflicht als Abgeordnete, den Fehleinschätzungen zu widerstehen, die sowjetische Desinformation und Propaganda in Teilen unserer öffentlichen Meinung erzeugt haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogt? — Keine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter.
Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden, nicht nach dem, was uns Demoskopen oder Demonstranten zu suggerieren suchen, denn wir tragen die Last der Verantwortung.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die politische und strategische Lage Europas, wie sie durch und nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden ist.
Für sie gibt es kein geschichtliches Beispiel.
Zum ersten Male steht die östliche Vormacht schon im Frieden mitten in unserem Land. Diese Vormacht zeichnet sich aus durch militärische Stärke; sie ist außerdem Trägerin eines weltrevolutionären Anspruchs.
Weltrevolution unter sowjetischer Führung, das heißt Weltherrschaft der Sowjetunion, ist das beharrlich verfolgte Ziel ihrer Politik.
Dieses Ziel geht die Sowjetunion mit langem Atem an. Sie überstürzt nichts. Sie läßt Entwicklungen reifen. Sie erkennt Tatsachen an. Sie ist risikobewußt. Aber wenn die Risiken kalkulierbar, wenn sie tragbar erscheinen, hat die Sowjetunion noch nie gezögert, das zu tun, was sie als ihren historischen Auftrag begreift.
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2348 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. DreggerAls Hitler 1939 in Westpolen einmarschierte, war es für die Sowjetunion risikolos, in Absprache mit Hitler in Ostpolen einzumarschieren. Die zwischen Hitler und Stalin vereinbarte Grenze des Jahres 1939 gilt noch heute.
Als Hitler-Deutschland die Vormacht Europas war, war es für die Sowjetunion 1940 in Absprache mit Hitler risikolos, die drei baltischen Staaten zu annektieren. Die 1940 geschaffenen Tatsachen gelten noch heute.
Als am Ende des Zweiten Weltkrieges alle europäischen Mächte
am Boden lagen — —
— Sie können die Wahrheiten nicht ertragen, deswegen schreien Sie; wer schreit, hat Unrecht.
Als am Ende des Zweiten Weltkrieges alle europäischen Mächte am Boden lagen und die USA abrüsteten,
war es für die Sowjetunion risikolos, ihre Grenzen weiter nach Westen auszudehnen und, was noch bedeutender ist, den ost- und mitteleuropäischen Staaten, die sich in ihrer Gewalt befanden, ihr kommunistisches System aufzuzwingen. Die damals gegen den Willen der Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Rumänen, Bulgaren und Deutschen geschaffenen Tatsachen und Herrschaftsverhältnisse gelten noch heute. Die Sowjetunion lehnt jede Revision dieser Herrschaftsverhältnisse ab. Jede Freiheitsregung der ost- und mitteleuropäischen Völker wurde mit militärischer Gewalt niedergeschlagen. Mitteldeutschland 1953, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, Polen in anderer Form 1982 sind die Stationen dieser ost- und mitteleuropäischen Passion, meine Damen und Herren.
Daß Westeuropa mit Teilen Mitteleuropas noch über sich selbst bestimmen kann, verdankt es nur einem Umstand: der Gründung der NATO, der Aufstellung der Bundeswehr und dem fortdauernden amerikanischen Engagement hier in Europa.
Das zuzugeben, fällt Sozialdemokraten schwer. Die großen Entscheidungen, denen wir unseren sicheren Frieden verdanken, mußten 1955 gegen die SPD durchgesetzt werden. Auch die Sozialdemokraten haben das später anerkannt. Die NATO hat sich als das größte Friedens- und Freiheitsbündnis der Geschichte erwiesen.
Nur auf der Grundlage eines durch die NATO und das Engagement der USA in Europa gewährleisteten annähernden Gleichgewichts zwischen Ost und West konnte Mitte der 60er Jahre eine Politik eingeleitet werden, die später als Entspannungspolitik bezeichnet wurde. Sie sollte zu erträglicheren Beziehungen zwischen Ost und West führen, was auch gelungen ist.Gefährlich wurde diese Politik erst, als die SPD begann, die Realitäten aus den Augen zu verlieren. Zu diesen Realitäten gehört die unverändert offensive Zielsetzung der sowjetischen Politik und die gerade unter dem Deckmantel der Entspannung massiv betriebene Aufrüstung. Diese Aufrüstung hat dazu geführt, daß die Sowjetunion der NATO in Europa heute in allen wichtigen Waffenkategorien massiv überlegen ist. Das Weißbuch 1983 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, das die Bundesregierung soeben vorgelegt hat, berichtet nüchtern über die Fakten.
Anders als der Westen hat die Sowjetunion seit 1945 niemals abgerüstet. Sie hat immer aufgerüstet, und sie betreibt seit 15 Jahren eine Hochrüstung, für die es in der Geschichte der Menschheit, jedenfalls in Friedenszeiten, kein Beispiel gibt.
— Ich kann Ihnen heute nicht Nachhilfeunterricht in allen Geschichtsfächern geben, Herr Fischer.
Die offensive Zielsetzung der sowjetischen Hochrüstung wird weniger bei den interkontinental-strategischen Raketen deutlich. Zwar hat die Sowjetunion auch hier die Machtverhältnisse grundlegend verändert. Aber daß die Sowjetunion auf diesem Feld Parität mit den USA angestrebt und erreicht hat, entspricht ihrem berechtigten Sicherheitsbedürfnis, das wir nicht zu kritisieren haben.
Die offensive Zielsetzung der sowjetischen Hochrüstung wird vor allem auf drei anderen Feldern deutlich.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2349
Dr. DreggerErstens in der Vergrößerung der konventionellen Übermacht in Europa. Wer für sich Parität in der nuklearen Rüstung erstrebt und gewinnt wie die Sowjetunion, muß auch Parität im konventionellen Bereich zugestehen. Dazu ist die Sowjetunion leider bis heute nicht bereit.Zweitens. Neben der konventionellen Übermacht der Sowjetunion ist auch ihre Hochseerüstung ganz offensichtlich offensiv. Diese Rüstung zur See hat die große Landmacht Sowjetunion,
deren Herrschaftsgebiet von der Elbe bis Wladiwostok reicht, nun auch noch zur großen Seemacht werden lassen. Auf diese Seemacht ist die Sowjetunion zu defensiven Zwecken nicht angewiesen. Als größte Energie- und Rohstoffmacht der Erde verfügt sie in ihrem Herrschaftsbereich über alle Ressourcen.Für den Westen gilt das Gegenteil. Seine Länder sind existentiell auf die Energie- und Rohstoffzufuhren aus anderen Erdteilen angewiesen. Für den Westen haben die Seewege daher die gleiche Bedeutung wie die Landwege für die Sowjetunion. Insbesondere das freie Europa ist auf die Freiheit der Meere, auf den ungestörten Nachschub aus den USA, aus den Ländern um den Persischen Golf und um die Südspitze Afrikas herum existentiell angewiesen.
Die außerordentlich vermehrten sowjetischen Angriffs-U-Boote und die sowjetische Hochseeflotte bedeuten daher eine einseitige Bedrohung des Westens,
eine Gefährdung, der sich die Sowjetunion auch bei Parität der Seerüstung wegen ihrer grundlegend anderen Lage selbst nicht ausgesetzt sieht.
Dabei ist klar: Seewege zu schützen erfordert mehr Kräfte, als sie zu unterbrechen.
Die dritte, die aktuellste, die größte Gefährdung Westeuropas ist das Machtmonopol, das sich die Sowjetunion in den letzten Jahren bei den landgestützten, zielgenauen Mittelstreckenraketen größerer Reichweite geschaffen hat. Um sie, um die SS20-Raketen, und um eventuelle Gegenwaffen des Westens ging es in Genf und wird es in Genf oder an anderem Orte gehen. Denn ich bin überzeugt, wenn wir entschlossen handeln, gehen die Verhandlungen weiter.Was bei den bisherigen Verhandlungen Verdacht erwecken mußte, war die Tatsache, daß die Sowjetunion während dieser Verhandlungen fieberhaft weitergerüstet hat. Bei der Verabschiedung des NATO-Doppelbeschlusses 1979 hatte die Sowjetunion eine Überlegenheit an SS-20-Sprengköpfen von 420 zu Null. Jetzt beträgt sie 1080 zu Null.
Wenn sich der Westen so verhalten hätte, wie sich die Sowjetunion verhalten hat, dann hätte die Sowjetunion die Verhandlungen sofort abgebrochen. Und Sie hätten ihr Beifall gezollt, meine Damen und Herren.
Von den SS-20-Sprengköpfen sind über 700 auf Europa und über 300 auf Asien gerichtet.
Auch diese können schnell nach Westen verlegt und ebenfalls auf Europa gerichtet werden. Eine derartige Überlegenheit — weit über 1 000 zu Null —, die immer noch wächst, bei einem derartigen Waffensystem — punktzielgenau; Reichweite bis zu 5 000 km,
selbst weitgehend unverwundbar, da beweglich —
eröffnet der Sowjetunion viele Möglichkeiten, unter anderem, mit einem einzigen Schlag alle wichtigen Ziele in Europa zu zerstören.
Dann wären die wichtigen Punkte zerstört. Europa würde verteidigungsunfähig. Es wäre aber nicht in der Fläche zerstört. Es stünde nach der Besetzung zur Ausbeutung zur Verfügung.
Auch wenn die Sowjetunion nicht die Absicht haben sollte, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, was ich annehme und hoffe: Allein die Möglichkeit, daß sie es tun könnte, ist geeignet, unseren Willen zu lähmen und uns untertänig zu machen. Das ist das Ziel der sowjetischen Strategie.
Bei den Verhandlungen in Genf ging es dem Westen um Gleichgewicht, der Sowjetunion um Übermacht.
Der Westen wollte und will die Lösung 0:0 oder x:x.
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2350 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. DreggerDie Sowjetunion wollte und will das Null nur für den Westen, nicht aber auch für sich. Ihren noch während der Verhandlungen ständig wachsenden Bestand an SS-20-Raketen nicht reduzieren zu müssen und zugleich den Westen daran zu hindern, auch nur ein minimales Gegengewicht gegen diese neue Bedrohung zu schaffen,
das war das Ziel ihrer Verhandlungsführung.Allein diesem Zweck diente der Vorschlag, die Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens in die Verhandlungen einzubeziehen,
obwohl Frankreich und Großbritannien an diesen Verhandlungen nicht beteiligt sind.
Die SPD hat sich auch in dieser Frage den sowjetischen Standpunkt zu eigen gemacht.
Man fragt sich, ob Sie trotz Warnungen Ihrer französischen Freunde den Pferdefuß nicht erkannt haben oder ob Sie auch hier nur einen Vorwand gesucht haben, um aus dem NATO-Doppelbeschluß auszusteigen.
— Hören Sie zu; ich wollte Ihnen das gerade erklären.
Zu den französischen und britischen Raketen ist folgendes festzustellen.Erstens. Quantitativ fallen sie im Ost-West-Kräfteverhältnis kaum ins Gewicht.
Die britischen und französischen Sprengköpfe machen nicht mehr als je 1 % der 8 000 sowjetischen Sprengköpfe auf interkontinentalstrategischen Raketen aus — nicht mehr als je 1 %; das sind zusammen 2 %.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Entschuldigung. — Es ist klar, daß es bei uns Zwischenrufe gibt. Es muß aber noch möglich sein, mehrere Sätze im Zusammenhang zu sagen.
Ich bitte, den Redner jetzt sprechen zu lassen. Auch
Sie kommen nachher dran. Seien Sie doch so
freundlich und machen Sie die Ordnung des Hauses nicht kaputt.
Es wird für den Präsidenten außerordentlich schwierig. Ich bitte um Entschuldigung und um Ihre Hilfe, daß der Redner hier sprechen kann.
Das war die quantitative Seite. Qualitativ sind die britischen und französischen Raketen etwas anderes als die Waffensysteme, über die in Genf verhandelt wird. Es sind keine landgestützten, zielgenauen Mittelstreckenraketen. Sie sind seegestützt, daher nicht zielgenau und daher nicht zur Punktzielbekämpfung geeignet. Nur die Franzosen haben auf dem Plateau d'Albion 18 landgestützte Raketen, die aber, anders als die SS 20, nicht beweglich und daher relativ leicht auszuschalten sind.
Ein Gegengewicht gegen die schon jetzt weit über 1 000 SS-20-Raketen-Sprengköpfe der Sowjetunion sind sie in keinem Fall.Drittens. Briten und Franzosen lehnen es mit Recht ab, daß die Supermächte ihre nationalen Notwehrwaffen in ihre Verhandlungen einbeziehen.
Sie wollen an solchen Verhandlungen beteiligt sein. Der französische Staatspräsident, ein Sozialist, zu dem Sie Beziehungen unterhalten sollten
hat daher in seiner UNO-Rede vom 28. September 1983 eine Konferenz der fünf Atommächte einschließlich Chinas vorgeschlagen. Es ist Sache der Sowjetunion, diesen Vorschlag aufzugreifen, wenn sie tatsächlich an den britischen und französischen Raketen so sehr interessiert sein sollte.Viertens. Mit allen Vorbehalten und Rückzugsmöglichkeiten, die für sowjetische Angebote typisch sind, hat die Sowjetunion in einer bestimmten Verhandlungsphase angedeutet, sie werde ihre SS 20 auf die Zahl der britischen und französischen Raketen beschränken, wenn keine amerikanischen Raketen in Europa aufgestellt würden.
Später soll sie auf die Anrechung sogar verzichtet haben,
aber gleichzeitig gefordert haben, daß sie 320 SS-20Sprengköpfe behält und daß keine einzige amerikanische Rakete in Europa aufgestellt wird.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2351
Dr. DreggerMeine Damen und Herren, was der Oppositionsführer über das, was aus dem Kanzleramt verlautete, gesagt hat, entspricht den Tatsachen. Ich bin gern bereit, Ihnen die Unterlagen zu überreichen. Aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, daß alle diese Varianten dasselbe Ziel hatten: Sie, die Sowjets, wollen ein Monopol an landgestützten zielgenauen Mittelstreckenraketen größerer Reichweite, mit dem sie alle wichtigen Ziele in Europa mit einem Schlag zerstören könnten. 360 Sprengköpfe reichen dazu völlig aus.Sie wollen zum anderen verhindern, daß dazu irgendein Gegengewicht geschaffen wird, was nur die Amerikaner tun könnten. Deswegen wollen sie die Amerikaner bei diesem Waffensystem auf jeden Fall aus Europa verbannen.Meine Damen und Herren, die Folgen eines solchen Verhandlungsergebnisses wären schlimm für die europäische und besonders schlimm für die deutsche Sicherheit. Wir Deutschen verfügen nicht über eigene Atomwaffen.
Großbritannien und Frankreich lehnen es ausdrücklich ab, ihre Atomwaffen zum Schutz Deutschlands einzusetzen, wofür man Verständnis haben muß, wenn man an das Kräfteverhältnis dieser europäischen Atommächte zur Sowjetunion denkt: in beiden Fällen ca. 1:100.Wir Deutschen sind daher mehr als andere Europäer auf die USA angewiesen. Was sie für uns bedeuten, läßt sich mit einem Satz sagen: Solange die Amerikaner mit ihren Truppen und Atomwaffen auf deutschem Boden stehen, sind wir vor einem sowjetischen Angriff absolut sicher.
Die Sowjetunion träfe ja hier bei uns nicht nur auf die atomar unbewaffnete Mittelmacht Deutschland,
sondern auch auf die Weltmacht USA mit all ihren konventionellen und atomaren Potentialen.
Amerikanische Atomwaffen auf See oder in den USA könnten die gleiche Abschreckung nicht bewirken. Die Sowjetunion könnte glauben, durch Überraschung und Tempo ihrer für den Blitzkrieg geschulten Verbände den Einsatz der auf See oder in den USA stationierten Atomwaffen unterlaufen zu können.
Die Stationierung dieser Waffen in Deutschland entzieht einer solchen gefährlichen Spekulation die Grundlage.
Schlußfolgerung: Wir haben uns nicht vor amerikanischen Atomwaffen zu fürchten, die bei uns stationiert sind, sondern haben uns vor denen zu fürchten, die uns diese Waffen nehmen wollen, um uns wehrlos und erpreßbar zu machen.
— Ich gehe auf Ihren Einwand ein.Nun gibt es bei uns Leute, die die USA verdächtigen, diese hätten die Möglichkeit oder gar die Absicht, von Europa aus einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion zu führen, von dem sie selbst verschont blieben.
— Auch wenn Sie „wie wahr, wie wahr" sagen: Diese Vorstellung ist absurd.
Die Führer der Sowjetunion — nehmen Sie die bitte ernst — haben immer wieder erklärt,
von wo auch immer amerikanische Raketen auf ihr Land abgeschossen würden, die sowjetische Antwort würde sich in jedem Fall und vor allem gegen das Kerngebiet der Vereinigten Staaten von Amerika richten.
Es besteht nicht der geringste Anlaß, an dieser Aussage Breschnews und anderer sowjetischer Führer zu zweifeln, weil sich ihre Aussage aus der Sache ergibt. Warum sollten die Sowjets die Amerikaner in deren Kerngebiet verschonen, wenn die Amerikaner, von wo auch immer, das sowjetische Kerngebiet angriffen?
Meine Damen und Herren, wer schon Risiken der westlichen Allianzpartner gegeneinander abwägt, der muß das erhebliche Risiko würdigen, das die USA mit der Stationierung ihrer Raketen in Deutschland zugunsten Deutschlands und zu Lasten ihres eigenen Landes eingehen, ein Risiko, das zu übernehmen die Briten und die Franzosen z. B. nicht bereit sind.Aus all diesen Gründen erkläre ich: Die nationalen Notwehrwaffen Frankreichs und Großbritanniens, die im Ost-West-Vergleich quantitativ nicht ins Gewicht fallen, die mit den sowjetischen SS-20Raketen qualitativ nicht vergleichbar sind und die außerdem nicht dem Schutze Deutschlands zu dienen bestimmt sind,
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2352 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. Dreggersind kein Äquivalent für die sowjetischen SS-20Raketen. Deswegen scheidet jede Anrechnung aus. Da wir auf nationale Atomwaffen verzichtet haben, kann dieses Äquivalent nur durch amerikanische atomare Waffen wie Pershing II und Marschflugkörper geschaffen werden. Solange Europa nicht vereinigt und nicht zur Dritten Weltmacht geworden ist — nichts spricht dafür, daß das einmal so sein wird —, so lange ist das atomare Gleichgewicht der Weltmächte in Europa eine unverzichtbare Voraussetzung für die europäische Sicherheit, insbesondere für die nationale Sicherheit der Deutschen.
Daraus folgt: Wenn die Sowjetunion die Pershing II nicht will, muß sie die SS 20 wegnehmen. Beides sind ballistische Raketen. Der Hinweis auf die verkürzten Vorwarnzeichen gilt doch selbstverständlich für beide Richtungen.
Wenn darin eine besondere Gefahr liegt — ich schätze sie nicht gering ein —, dann kann die Schlußfolgerung doch nur sein: Das Teufelszeug muß auf beiden Seiten weg! Es darf nicht nur auf unserer Seite nicht entstehen, sondern es muß auf beiden Seiten weg.
Das ist die Null-zu-Null-Lösung, die Präsident Reagan und die NATO immer wieder vertreten haben. Ich kann von den Friedensfreunden auf der linken Seite des Hauses nicht begreifen, daß sie für diese sauberste Friedenslösung nicht eintreten.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die SPD versucht, ihr Abweichen vom NATO-Doppelbeschluß auch mit der Behauptung zu begründen, die USA und das Bündnis hätten es an den notwendigen Konzessionen fehlen lassen. Diese Behauptung stellt die Tatsachen auf den Kopf.Erstens. Zwar hat der Westen auf gleichen globalen Obergrenzen bestanden — und ich hoffe, daß er diese Forderung nie aufgeben wird —, aber er hat seine Bereitschaft bekundet, in Asien stehende SS-20-Raketen nicht in den europäischen Kräftevergleich einzubeziehen. In Asien gibt es keine westlichen Gegenwaffen. Die dort stationierten SS20-Raketen können zum Teil schon heute aus ihren Stellungen bis nach Europa reichen. Die anderen können unschwer nach Westen verlegt und gegen Europa gerichtet werden. Dieses Zugeständnis des Westens bedeutet doch faktische Überlegenheit der Sowjetunion auch in diesem wichtigen Waffenbereich. Ich frage Sie: Ist das nicht eine fundamentaleKonzession des Westens zugunsten der Sowjetunion?Zweitens. Das für den Fall des Nichtzustandekommens einer Vereinbarung vom Westen angekündigte Nachrüstungsprogramm umfaßt, wie Sie wissen, quantitativ nur die Hälfte dessen, was die Sowjetunion allein an SS-20-Sprengköpfen längst stationiert hat. Den weit über 1 000 sowjetischen SS-20-Sprengköpfen will der Westen nur 572 Sprengköpfe, also nur die Hälfte, entgegenstellen. Ist nicht auch das eine fundamentale Konzession des Westens an die sowjetische Seite?
Drittens. Die Pershing II kann weder Moskau noch Leningrad erreichen. Auch die Reichweite der Marschflugkörper ist nur halb so groß
wie die der sowjetischen SS 20, die aus ihren jetzigen Stellungen ganz Europa erreichen können. Ist die vom Westen bewußt vorgenommene Reichweitenbegrenzung nicht eine fundamentale Konzession des Westens an die Sowjetunion?
Von Wettrüsten kann doch, was den Westen angeht, wirklich nicht die Rede sein.
Können Sie sich vorstellen, daß die Sowjets jemals bereit sein könnten, dem Westen solche einseitigen Konzessionen anzubieten, wie der Westen sie mit den drei Konzessionen, die ich soeben genannt habe, der Sowjetunion angeboten hat? Sie werden sagen müssen: Das können wir uns nicht vorstellen.
Das zu verkennen ist nicht das einzige, was ich Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, vorzuwerfen habe. Es war schlimm, daß Sie in der Schlußphase der Genfer Verhandlungen durch Ihre Landesparteitage der Sowjetunion praktisch signalisiert haben, sie brauche gar nicht abzurüsten.
Dem Sinn nach haben Sie doch erklärt: Was auch immer ihr tut, wir tun nichts.
Ich frage Sie: Was soll eigentlich die Kreml-Herren bewegen, auf ihre kostspieligen Raketen, mit denen sie Europa beherrschen wollen, zu verzichten, solange sie hoffen können, mit Hilfe der Friedensbewegung und nun auch noch mit Ihrer Hilfe aus der Alternative „Abrüstung oder Nachrüstung" entlassen zu werden?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2353
Dr. DreggerNoch schlimmer als ihr Abrücken vom NATODoppelbeschluß sind die Scheingründe, die Sie dafür ins Feld geführt haben. Sie bestehen in einseitigen und völlig unbegründeten Schuldvorwürfen an die Adresse der USA. Niemand hat das treffender zum Ausdruck gebracht, als das Mitglied der SPDGrundwerte-Kommission, Frau Professor Gesine Schwan.
Im „Heute-Journal" erklärte sie am 12. Oktober 1983 — ich bitte um Genehmigung, sie zu zitieren —:Die SPD gibt nicht zu, daß sie die Bedrohung durch die Sowjetunion nicht mehr zur Kenntnis nimmt, j a daß sie sie sogar tabuisiert und deshalb ist die SPD gezwungen, zu ihrer Eigenlegitimation den Amerikanern die Schuld zu geben. So gerät sie wirklich in den Zwang, mit den Argumenten der Sowjetunion gegen die Amerikaner zu argumentieren.
Ich bedaure, an die Adresse der SPD sagen zu müssen: Ihre Einlassungen während der Genfer Schlußphase haben die Verhandlungen nicht gefördert.
Sie haben nicht nur — Herr Ehmke — die westliche Position geschwächt, sondern auch die Chancen für einen Verhandlungserfolg wesentlich gemindert.
Sie tragen ein großes Maß von Mitverantwortung für das bisherige Scheitern der Genfer Verhandlungen.
Ein besonderes Wort verdient der frühere Bundeskanzler, Herr Kollege Schmidt. Ich weiß nicht, ob er anwesend ist, er wird es hören oder nachlesen können. Ich möchte Herrn Kollegen Schmidt bestätigen, daß er am vergangenen Samstag auf dem Bundesparteitag der SPD eine große Rede gehalten hat. Ich habe sie im Text studiert. Ich übersehe bei dieser Feststellung seine völlig ungerechtfertigten Vorwürfe gegen den Bundeskanzler.
Diese Vorwürfe können nur als Vorwände verstanden werden, die es Ihnen ermöglichen sollen, morgen gegen unsere Entschließung zu stimmen, obwohl sie völlig Ihre Politik wiedergibt.
Auch Ihre Vorwürfe an die Adresse der USA, die Waldspaziergangsformel nicht ausgelotet zu haben, ist nicht schlüssig. Da diese Formel vom amerikanischen Unterhändler, nicht vom sowjetischen, in die Gespräche eingeführt worden ist, wäre es doch Sache der sowjetischen, nicht der amerikanischenSeite gewesen, sie auszuloten. Die sowjetische Seite hat das Gegenteil getan. Sie hat sie am Verhandlungstisch und in der Öffentlichkeit ausdrücklich abgelehnt. Ich verweise auf das „Spiegel"-Interview des Herr Arbatow, des Andropow-Beraters. Bis heute lehnt die Sowjetunion alles ab, was ihr Monopol bei ihrer Vorherrschaftswaffe SS 20 in Frage stellen könnte. Das ist die Wirklichkeit.Vorzuwerfen, Herr Kollege Schmidt, habe ich Ihnen nicht Teilstücke aus Ihrer Rede vor dem Bundesparteitag der SPD, sondern etwas ganz anderes: daß Sie in den letzten Wochen und Monaten in dieser Existenzfrage unseres Volkes resigniert und nicht gekämpft haben.
Statt ruhelos durch die Welt zu fahren und Vorträge zu halten, was ich Ihnen gönne, wären Sie besser in die Unterbezirke der SPD gefahren und hätten für Ihre Auffassung gekämpft.
Mit Ihrer totalen Niederlage auf dem Parteitag in Köln haben Sie geerntet, was ich als Ihre Distanz zu Ihrer eigenen Partei bezeichnen möchte. Das begann mit Ihrem Verzicht auf den Parteivorsitz — wie ich meine, ein schwerer Fehler —, als Sie Kanzler wurden, und das setzte sich in Ihrem beharrlichen Schweigen zu den Aktivitäten z. B. des Herrn Bahr noch während Ihrer Regierungszeit fort, alles unter dem Protektorat Ihres Parteivorsitzenden, der Ihre Niederlage am vergangenen Samstag als späten Triumph genossen hat, wie auch von uns im Fernsehen zu sehen war.
Meine Damen und Herren, mich würde das alles nicht interessieren, wenn die persönliche Niederlage von Helmut Schmidt nicht auch eine Niederlage der Republik wäre. Die Selbstisolierung der SPD, der zweiten großen demokratischen Partei unseres Landes, ihre Aufkündigung des nationalen Konsenses in der Sicherheitspolitik, der uns 20 Jahre lang getragen hat, ihr Ausstieg aus der Solidarität der großen, bedeutenden demokratischen Parteien Westeuropas schaden uns allen.
Ist es nicht auch für Sie, meine Damen und Herren von der SPD, erschreckend, daß bei der kürzlichen Abstimmung im Europäischen Parlament die deutschen Sozialdemokraten zusammen mit den Kommunisten gegen die französischen und gegen die italienischen Sozialisten gestimmt haben?
Sie sind im westlichen Lager völlig isoliert.
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2354 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. DreggerIch weiß nicht, ob Herr Kollege Schmidt noch die Kraft hat, zu kämpfen.
Ich möchte es im Interesse unseres Landes wünschen. Männer wie Georg Leber und andere würden an seiner Seite stehen. Die Republik kann nicht auf eine SPD verzichten, die den Frieden und die Freiheit unseres Landes
mit eben solcher Überzeugungskraft, Klarsicht und mit solchem Realismus vertritt, wie Helmut Schmidt es getan hat und wie wir es jetzt tun.
Wenn sich die GRÜNEN auch noch so anstrengen: Wir müssen den nationalen Konsens der großen demokratischen Parteien in der Sicherheitspolitik wiederherzustellen versuchen.
Je mehr die SPD aus der Verantwortung für die nationale Sicherheit aussteigt, um so größer wird die Verantwortung der CDU/CSU und der FDP. Ich versichere unseren Mitbürgern in Deutschland und unseren Verbündeten: CDU/CSU und FDP werden das Notwendige tun, um in den 80er und 90er Jahren den Frieden und die Freiheit ebenso zu sichern, wie wir Frieden und Freiheit für die 50er, 60er und 70er Jahre möglich gemacht haben.
Wir stimmen daher der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers und den darin angekündigten Entscheidungen einmütig und ausdrücklich zu.
Wir bewundern die Standfestigkeit des Bundeskanzlers.
Wir bewundern seine Fähigkeit, unserem Land Freunde in der Welt zu gewinnen.
Seit er Kanzler ist, ist das Bündnis verwandelt. Es ist wieder Harmonie im westlichen Bündnis.
Zugleich ist er in der Lage, uns Respekt bei der Sowjetunion zu gewinnen.Helmut Kohl hat in den ersten zwölf Monaten seiner Regierung neben den schweren innenpolitischen Weichenstellungen eine großartige außenpolitische Leistung vollbracht.
Zusammen mit der FDP bekräftigen wir seine Politik und die seines Außenministers, dessen Leistungen ich ebenfalls hervorheben möchte.
Wir bekräftigen sie durch einen Antrag, der Ihnen, meine Damen und Herren, vorliegt.
Ein Wort auch an meine Mitbürger. Ist die Perspektive düster? Nein.
Wenn wir fest bleiben, ist uns um die Zukunft nicht bange.
— Ich weiß das, mein Haus ist 20 km von der Grenze entfernt, aber ich fühle mich dort völlig sicher, solange der Westen im Bündnis fest bleibt und die Amerikaner an unserer Seite stehen.
Ich werde dort auch nicht weggehen, und ich werde mir auch nicht irgendein Domizil im Ausland beschaffen. Ich bleibe bei meinen Mitbürgern, 20 km von der Grenze.
Wenn wir fest bleiben, braucht uns um die Zukunft nicht bange zu sein. An der offensiven Zielsetzung der Sowjetunion können wir nichts ändern; darauf müssen wir uns einstellen. Aber auf zwei Tatbestände können wir als westliche Politiker setzen.Erstens: auf die Risikobewußtheit der Sowjetunion. Solange wir die Machthaber im Kreml nicht durch allzu große Schwäche in Versuchung führen, werden sie sich nicht zu Abenteuern hinreißen lassen.
Das zweite ist: Wir können auf die wirtschaftliche Unergiebigkeit des kommunistischen Systems setzen.
Das läßt die Sowjetunion und ihre Satelliten an wirtschaftlicher Kooperation mit uns sehr interessiert sein. Die Beispiele liegen auf der Hand.
Der Milliarden-Kredit an die DDR, die Erschließung sowjetischer Devisenquellen durch das Erdgas-Röhrengeschäft, um nur zwei Beispiele zu nen-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2355
Dr. Dreggernen, haben der Sowjetunion gezeigt, daß wir zur Kooperation mit ihr und den anderen sozialistischen Ländern bereit sind, daß wir für sie wertvolle Partner sein können. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich nicht einen Augenblick Schwierigkeiten gehabt, dem Milliarden-Kredit an die DDR zuzustimmen. Im Kontext unserer gesamten Politik war das absolut richtig.An der anderen Voraussetzung für die Erhaltung des Friedens in Europa und der Freiheit der Bundesrepublik Deutschland fehlt es zur Zeit jedoch in gefährlicher Weise. Die Unterlegenheit der NATO in Europa ist inzwischen so groß, daß sie eine offensive Macht wie die Sowjetunion in Versuchung führen muß. Es ist die Aufgabe des Westens, ein wenigstens annäherndes Gleichgewicht auf möglichst niedrigem Waffenniveau wiederherzustellen. Wir Deutschen haben dabei unseren Teil beizutragen, nicht mehr. Wir stehen nicht allein.Die Regierungserklärung, die Helmut Kohl heute abgegeben hat, stimmt in Grundhaltung und Zielrichtung völlig überein mit den großen Reden, die der Staatspräsident Frankreichs, ein Sozialist, am 20. Januar 1983 und der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, ein Republikaner, am 19. Juni 1983 von diesem Pult aus an den Deutschen Bundestag und an das deutsche Volk gerichtet haben. Für uns ist diese Übereinstimmung und Solidarität im westlichen Bündnis Genugtuung und Ermutigung zugleich.Daß die deutschen Sozialdemokraten aus dieser Solidarität des demokratischen Westens ausscheren, bedauern wir. Das dient weder dem Frieden, der gewiß nicht vom Westen bedroht wird, es dient auch nicht den deutschen Interessen, die nicht isoliert, sondern nur im Bündnis zur Geltung gebracht werden können.
Ihre heutige Entscheidung, meine Damen und Herren der SPD, wirft Sie hinter Godesberg zurück. Sie werden ein zweites Godesberg brauchen, um das zurückzugewinnen, was Sie heute aufgeben.
Meine Schlußworte möchte ich an die Führer der Sowjetunion richten.
— Das ist ein Beispiel politischer Folklore, was die GRÜNEN den ganzen Tag geboten haben!Ein Schlußwort an die Führer der Sowjetunion: Wir Deutschen bedrohen niemand. Wir greifen niemand an.
Wir wollen Frieden. Frieden, der auf atomarer Abschreckung beruht, ist für uns nur ein Notbehelf.Wir möchten Frieden, der sich auf Vertrauen gründet, auf Gleichgewicht und auf Interessenausgleich.
Wir wünschen die drastische Verringerung, wenn möglich die Abschaffung aller atomaren Waffen.
Das setzt Gleichgewicht bei den nichtatomaren, den sogenannten konventionellen Waffen voraus. Wir fordern Sie daher auf, Ihre konventionelle Übermacht in Europa zu verringern, um auch auf diese Weise zur drastischen Verringerung der Atomwaffen beizutragen.
Ebenso entschieden wie die atomaren Waffen lehnen wir die biologischen und chemischen Waffen ab.
Nach unserer Überzeugung ist keine der beiden Seiten zu Abschreckungszwecken auf biologische oder chemische Waffen angewiesen. Deshalb fordern wir, sie restlos abzuschaffen, und zwar jetzt, weltweit, total!
Ein zweites Wort möchte ich an die Führer der Sowjetunion richten. Auf der Grundlage gesicherten Friedens wollen wir mit ihnen zusammenarbeiten, vor allem auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet. Gerade die Bundesrepublik Deutschland kann ihnen, wie sie wissen, in dieser Hinsicht ein wertvoller Partner sein. Unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist nicht geringer als unser Wille zur Selbstbehauptung. Je weniger sie uns bedrohen, um so größer kann der Beitrag sein, den wir zur Entwicklung ihres riesigen Landes aufbringen — zum beiderseitigen Nutzen, versteht sich.
Ein drittes. Die meisten von ihnen, den Führern der Sowjetunion, gehören zur Kriegsgeneration wie ich. Sie und wir, die Völker der Sowjetunion und das deutsche Volk, haben unter dem letzten Krieg und seinen Folgen schrecklicher gelitten als die meisten anderen Völker. Wir wissen, was Krieg bedeutet. Das verbindet uns und es verpflichtet uns, über alle Unterschiede hinweg gemeinsam für den Frieden zu arbeiten. Wir Deutschen empfinden gegenüber dem großen russischen Volk und den anderen Völkern der Sowjetunion Respekt. Ich glaube, daß Ähnliches von ihnen uns gegenüber empfunden wird.Gesicherter Friede mit möglichst wenigen Waffen, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen, gegenseitiger Respekt: das ist das, was wir wollen.
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2356 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. DreggerDie gesamte CDU/CSU-Bundestagsfraktion und selbstverständlich alle Fraktionen des Hauses wollen es, beide Staaten in Deutschland, alle Deutschen in Ost und West. Wir hoffen, daß sie, die Führer der mächtigen Sowjetunion, diese unsere Bereitschaft nicht zurückweisen.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir werden diese für unser Land, für den Frieden und die Sicherheit in Europa so wichtige Debatte bestehen, wenn das Signal dieser Debatte die Bekundung des Willens unseres Volkes zum Frieden ist, wie sie soeben in der Rede des Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU zum Ausdruck gekommen ist. Wir werden sie bestehen, wenn wir uns die Fähigkeit bewahren, in Respekt und Achtung auch vor der anderen Meinung über Grundfragen unserer Sicherheit zu sprechen. Die Fähigkeit, den äußeren Frieden zu bewahren, setzt doch die Fähigkeit zum inneren Frieden voraus. Diejenigen, die im Augenblick mit Gewalt versuchen, die Beratungen dieses frei gewählten Parlaments unmöglich zu machen,
haben diese Fähigkeit zum Frieden verloren; sie gefährden den inneren Frieden.
Wir wollen niemanden diffamieren, der eine andere Auffassung vertritt. Man kann mit guten Gründen und mit genauer Gewissenserforschung zu einer Bejahung der beiden Teile des Doppelbeschlusses der NATO kommen, und niemand wird die Gewissensentscheidung demjenigen absprechen, der zu einer Ablehnung kommt. Aber die Diskussion über diese Frage darf nicht dazu führen, daß der Wille zum Frieden und die Fähigkeit zum Frieden nur einer Seite als Monopol zugesprochen und der anderen verweigert wird; das ist die Entscheidungsfrage.
Sie haben, Herr Kollege Dr. Vogel, heute die Auseinandersetzung des Bundeskanzlers mit Auffassungen der Friedensbewegung kritisiert. Ich habe Ihnen vorzuhalten, daß Sie den Begriff „Friedensbewegung" in einem undifferenzierten Sinne verwenden, der zu Mißverständnissen über die Motive anderer führen kann. Unser Volk hat sich in allen Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ablehnung radikaler Parteien auf beiden Seiten zum inneren und zum äußeren Frieden bekannt. DiesesVolk ist eine einzige Friedensbewegung in der Auseinandersetzung über den richtigen Weg zum Frieden.
— Wenn Sie hier vorn sagen „Schön wär's!", dann sage ich Ihnen: Wenn wir schon den Begriff „Friedensbewegung" verwenden wollen, dann gehören für mich zur Friedensbewegung die jungen Polizeibeamten, die draußen gegenüber Gewalttätern augenblicklich die Freiheit der Entscheidung unseres deutschen Parlaments sichern.
Zu der Friedensbewegung, die ich meine, gehören die Soldaten unserer Bundeswehr, die die Freiheit der Wahlentscheidung in diesem Lande sichern.
Und zu dieser Friedensbewegung gehören auch die Soldaten
der uns verbündeten Demokratien, der europäischen wie der amerikanischen. Sie sorgen dafür, daß eine freie, eine leidenschaftliche Auseinandersetzung über den richtigen Weg zum Frieden hier in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann.
Eine der gefährlichsten Formen der politischen Auseinandersetzung in einer Demokratie ist der Versuch, Minderheiten auszugrenzen. Aber nicht minder gefährlich ist auch der Versuch, Mehrheiten vom Willen zum Frieden auszugrenzen.
Ich habe es sehr begrüßt — und ich möchte mich dazu dafür ausdrücklich bedanken —, daß Herr Kollege Dr. Vogel sich in großer Klarheit wie wir zur ungeschmälerten Verantwortung und Entscheidungsfreiheit des frei gewählten Parlaments bekannt hat. Das führt uns zusammen.
Aber ich würde mir an Ihrer Stelle noch einmal überlegen, Herr Dr. Vogel, ob Sie nach dem Ergebnis der Bundestagswahl vom 6. März auch legitimiert sind, der Bundesregierung vorzuwerfen, daß die von ihr betriebene Politik mindestens in dieser Frage von der Mehrheit unseres Volkes abgelehnt werde. War es nicht so, daß am Donnerstagabend vor der Bundestagswahl der Vorsitzende der CDU, der Vorsitzende der CSU und ich in aller Klarheit einem Millionenpublikum von Wählern in der Bundesrepublik Deutschland gesagt haben, daß wir im
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2357
Bundesminister GenscherFalle eines Ausbleibens eines konkreten Verhandlungsergebnisses den zweiten Teil des Doppelbeschlusses, den Nachrüstungsbeschluß, erfüllen werden? Die Wähler haben uns auch für diesen Teil unserer Politik das Mandat gegeben.
Niemand sollte deshalb die demokratische Mehrheitsentscheidung vom 6. März glauben unterlaufen zu können mit Meinungsumfrageergebnissen, wo wir weder Methode noch Fragestellung beurteilen können.
Sie, Herr Dr. Vogel, werden gewiß auch für sich nicht sagen wollen, daß alle Wähler, die Ihnen ihre Stimme am 6. März gegeben haben, gegen diese Sicherheitspolitik sind.
Denn in dieser Fernsehsendung haben Sie j a noch nicht mitgeteilt, was Sie am letzten Wochenende beschlossen haben.
Dort sind Sie ja noch vor einem Millionenpublikum einer konkreten Beantwortung der Frage, ob Sie im Falle des Ausbleibens eines konkreten Verhandlungsergebnisses nachrüsten werden oder nicht, ausgewichen. Es kann sehr wohl sein, daß es viele sozialdemokratische Wähler gibt, die Ihnen damals in der Erwartung ihre Stimme gegeben haben, Sie würden am Ende doch zu der Sicherheitspolitik zurückkehren, die Sie in der Bundesregierung vertreten haben.Ich will hier überhaupt nicht in Abrede stellen, daß es auch unter den Wählern meiner Partei Wähler gegeben hat, die in dieser Frage eine andere Position haben. Aber ich muß, wenn wir die Legitimation dieses Parlaments in allen Fragen nicht in Zweifel stellen wollen, mit aller Klarheit sagen: Niemand hat das Recht, eine Entscheidung, die so klar getroffen wurde — auch über die Frage: ja oder nein zu dieser Sicherheitspolitik, ja oder nein zu beiden Teilen des Doppelbeschlusses —, in Zweifel zu ziehen. Sonst würden wir in eine schwere Legitimationskrise unserer demokratischen Ordnung kommen.
Der 6. März ist eine Bekräftigung unserer Politik. Wer davon abgewichen ist, der soll nicht mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die heute konsequent zu dieser Politik stehen.
Herr Dr. Vogel, ich bin in der Tat der Meinung, daß wir der Versuchung, der Gefahr widerstehen müssen — ich stimme Ihnen da ausdrücklich zu —, denjenigen in das andere Lager zu verweisen, in das der Beauftragten Moskaus, der kritisch zu unserer Politik steht, der auch sagt: Ich habe meine Meinung geändert. Niemand wird dieses Recht bestreiten. Nur: Wenn Sie zur Fairneß in der Diskussion aufrufen, dann sollten Sie auch eine andere Formulierung Ihrer Rede noch einmal überdenken, nämlich die Formulierung, durch die Sie dem Bundeskanzler vorwerfen, daß er Freundschaft mit Gefälligkeit und kooperative Einordnung in ein Bündnis mit vasallenhafter Lehenstreue verwechsele. Meine Damen und Herren, wer zu den national getroffenen Entscheidungen und international übernommenen Verpflichtungen steht, der ist nicht ein Vasall, sondern der ist ein Garant der Berechenbarkeit der deutschen Außenpolitik. Das ist die Frage.
Ganz offen gesagt hätte ich mir auch gewünscht, daß, wenn schon der erste Redner der SPD hier einem Mitglied der Bundesregierung, einem von uns allen hochgeschätzten Kollegen, vorwirft, er sei der Meinung, man könne die Sowjetunion durch ein Wettrüsten überwinden — das ist ein schlimmes Wort, „durch ein Wettrüsten überwinden" —, und das nicht mit einem Zitat belegen kann, er ausnahmsweise in diesem Fall dem Kollegen wenigstens die Möglichkeit gibt, vor demselben Zuschauerpublikum draußen durch eine Zwischenfrage diese Unterstellung zurückzuweisen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Für das deutschamerikanische Verhältnis hält es der langjährige Botschafter in den USA für unerläßlich, den NATODoppelbeschluß zu erfüllen." Es heißt weiter: „Man müsse wie die heutige Regierung in Bonn sehr umsichtig mit Amerika umgehen."
— Herr Kollege Vogel, ich möchte jetzt gern weiterreden. Ich vermute, daß Sie Ihre Richtigstellung in einer unmittelbaren Auseinanderstzung mit Herrn Kollegen Wörner vornehmen werden.
— Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß gar nicht, warum Sie sich so erregen. Wir haben Ihnen mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zugehört; wir werden das auch bei den kommenden Redebeiträgen tun. Aber jetzt geben Sie mir bitte Gelegenheit, unsere Auffassung zu erläutern.Wir müssen die Debatte auf den Kern zurückführen, um den es zunächst geht. Ich habe in den letzten Tagen, meine Damen und Herren, oft an den 14. Dezember 1979 zurückdenken müssen. Damals
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2358 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundesminister Genscherkam ich unmittelbar von der Sitzung der NATOAußenministerkonferenz hier nach Bonn zurück. Dort war am 12. Dezember die Entscheidung für den Doppelbeschluß gefallen. Ich habe damals für die Bundesregierung hier im Deutschen Bundestag folgendes ausgeführt:Das Vereinigte Königreich, Italien und die Bundesrepublik Deutschland— so hieß es in der damaligen Regierungserklärung —haben schon jetzt — also 1979 —der Dislozierung auf ihrem Boden, zu der es in drei bis vier Jahren kommen wird, zugestimmt.Damals haben alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen — die FDP, die SPD und die CDU/CSU — dieser Entscheidung der Bundesregierung zugestimmt. Es war eine Entscheidung, die die Bundesregierung nicht willkürlich getroffen hatte. Es war eine Entscheidung, die vorbereitet worden war in zahlreichen Beratungen des Bundessicherheitsrats, der Bundesregierung, in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und in mehreren Plenarsitzungen hier. Es gab damals eine volle Übereinstimmung aller Fraktionen, daß das der richtige Weg sei, um der großen Herausforderung durch die sich immer stärker ausbreitende sowjetische Vorrüstung zu begegnen.Heute haben wir darüber zu befinden, ob es seit jenem 14. Dezember 1979 Entwicklungen gegeben hat, die es rechtfertigen, von der damaligen Entscheidung abzugehen.
Herr Kollege, der NATO-Doppelbeschluß sagt deshalb: „im Licht konkreter Verhandlungsergebnisse geprüft werden".Die Entwicklung seitdem hat bis auf den heutigen Tag gezeigt, daß ein solches konkretes Verhandlungsergebnis nicht vorliegt. Aber sie hat zugleich gezeigt, daß die Bedrohung mit sowjetischen Mittelstreckenraketen nicht geringer, sondern größer geworden ist;
daß westliche Zurückhaltung über vier Jahre — Sie könnten es auch als westliche Vorleistung bezeichnen — nicht ein Impuls war, um schon vorhandene Bedrohung wieder abzubauen, sondern daß westliche Zurückhaltung über vier Jahre verstanden wurde als Ermutigung, mit der Vorrüstung weiterzumachen. Wer jetzt „weitere Zurückhaltung" sagt, der ermutigt weiter. Das können wir nicht verantworten.
In Wahrheit ist heute nicht eine Entscheidung über den Doppelbeschluß vom Dezember 1979 zu treffen. Darüber wurde vor vier Jahren entschieden, und seitdem ist diese Entscheidung des Bündnisses im Deutschen Bundestag auch immer wieder bekräftigt worden. Wir haben heute darüber zu entscheiden,
ob wir zu der einmal getroffenen Bündnisentscheidung stehen oder nicht. Es wäre aber eine Selbsttäuschung, wenn wir glaubten, daß das der ausschlaggebende Punkt sei. Ich will die Bedeutung dieser Frage zunächst zurückstellen.Es geht nicht darum, eine Entscheidung einzuhalten, die uns andere vorgeschlagen, möglicherweise aufgedrängt haben. Es geht nicht darum, jemandem in Washington gefällig zu sein bei der Zustimmung zur Stationierung westlicher Raketen in Westeuropa. Die Geschichte des Doppelbeschlusses ist eine andere. Die Geschichte des Doppelbeschlusses stellt sich so dar, daß zuerst die Europäer — und nach außen zuerst der damalige Bundeskanzler — auf die Gefahr sowjetischer Vorrüstung hinwiesen, daß hier die Sorge entstand, diese Vorrüstung könne zu einer Abkoppelung Westeuropas führen, daß deshalb die Europäer die Frage einer westlichen Nachrüstung ins Gespräch gebracht haben.Was mit dem Doppelbeschluß geschieht, ist nicht eine Gefälligkeitsleistung Europas an Amerika,
sondern ein Beitrag Amerikas zu europäischer Sicherheit.
Wir werden diesen Beitrag zur europäischen Sicherheit in jeder nur denkbaren Form nur dann für uns bewahren können — da meine ich nicht nur die Aufstellung atomarer Mittelstreckenraketen —, wenn die Europäer auch dazu bereit sind, ihren Teil zur gemeinsamen Sicherheit des westlichen Bündnisses zu leisten. Dazu gehört vor allen Dingen, daß wir hier in Europa, daß wir, die Bundesrepublik Deutschland, in der Wahrnehmung der Verantwortung, die wir erkennen, in der Erfüllung der Verpflichtungen, die wir übernommen haben, unbezweifelbar bleiben. Wir haben darüber zu entscheiden, ob wir zu diesen Entscheidungen stehen oder ob wir einen Weg beschreiten wollen, an dessen Ende eine schwere Einbuße an Vertrauen, letztlich die Isolierung und damit der Verlust jeglicher Sicherheit für uns stünden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, in diesem Sinne ist die heute und morgen zu treffende Entscheidung eine Grundentscheidung über die Orientierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
Worüber wir heute und morgen entscheiden, ist in Wahrheit die Entscheidung, wo der Standort unserer Bundesrepublik auch in Zukunft sein wird — im Westen als sein verläßlicher Teil oder als ein abdriftendes Land aus dem Verbund der westlichen Demokratien.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2359
Bundesminister GenscherEs ist doch so, daß unsere westlichen Verbündeten zu dieser Entscheidung stehen. Die beiden anderen Staaten, die in der ersten Phase ebenfalls für die Stationierung in Frage kommen, Großbritannien und Italien, haben sich mit großer Mehrheit durch ihre Parlamente dafür ausgesprochen, daß die 1979 getroffene Stationierungsentscheidung auch eingehalten wird — wegen des von ihnen wie von uns bedauerten Fehlens eines konkreten Verhandlungsergebnisses. Mit Recht hat Herr Kollege Dregger darauf hingewiesen, daß sich auch die Mehrheit im Europäischen Parlament so entschieden hat.
Meine Damen und Herren, deutsche Außen- und Sicherheitspolitik hat sich von Anfang an dafür eingesetzt, die feste Einbindung unseres Landes in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien, in die Europäische Gemeinschaft, in das westliche Bündnis und die glaubwürdige Koppelung der Sicherheitsinteressen Europas mit den Vereinigten Staaten zu garantieren. Wir würden eine Abkoppelung oder eine Entwicklung, die zur Abkoppelung führen könnte, teuer bezahlen müssen — mit einer Schwächung des Bündnisses und einer Aushöhlung unserer Sicherheit.Meine Damen und Herren, wenn sich die Bundesrepublik Deutschland, wenn sich der Deutsche Bundestag morgen gegen die Stationierung, gegen den NATO-Doppelbeschluß entschieden,
dann wäre dieses Bündnis nicht mehr das, was es vorher war. Es wäre auf gar keinen Fall mehr ein Garant für Frieden und Sicherheit hier in Europa. Das ist die Frage.
Gerade wir können uns keine sicherheitspolitischen Risiken leisten.
Und wir wissen, daß alle Bemühungen um Ausgleich, Zusammenarbeit und Entspannung die verläßliche Grundlage unserer Einbettung in das westliche Bündnis brauchen. Es ist eine Illusion, anzunehmen, man könne es lassen, den bündnisnotwendigen Entscheidungen zuzustimmen, und trotzdem bei dem Ausbau von Zusammenarbeit mit dem Osten erfolgreich sein. Es gibt keine Sicherheit zum Nulltarif.
Meine Damen und Herren, jetzt geht es darum, die Grundelemente unserer Politik zu bestätigen. Das ist eine Aufgabe, die über die Bedeutung des Doppelbeschlusses weit hinausweist und -führt. Es ist doch unbestreitbar, daß bei unseren Verbündeten im Westen, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch bei Franzosen, Engländern und anderen Europäern, eine Sorge immer größer wird. Die Sorge, meine Damen und Herren, über das, was hier geschieht, ist nicht, wie in der Vergangenheit, die Sorge vor einem deutschen Militarismus. Es ist schon gar nicht die Sorge, daß die Stationierung amerikanischer Raketen hier auf deutschem Boden die Kriegsgefahr in Europa erhöhen würde. Die Sorge, die dort laut wird, ist die Sorge vor einer neuen Spielart eines unberechenbaren deutschen Neutralismus. Dieser Sorge müssen wir entgegentreten, um Stabilität in Europa zu bewahren.
Es ist die Sorge, wir Deutschen könnten wie Schlafwandler den Rückzug aus der westlichen Gemeinschaft antreten, in dem Traum befangen, die Lösung unserer nationalen Probleme könnten wir am besten in einem Neutralismus erreichen.Meine Damen und Herren, darüber machen sich unsere Verbündeten Sorge, weil sie wissen, welche Bedeutung dieses Land hat, welche Bedeutung diese Bundesrepublik Deutschland für die gemeinsame Sicherheit des Westens hat. Unser Volk hat in seiner ganzen Geschichte zusätzliche Verantwortung gehabt durch seine geographische Lage im Herzen Europas. Wir können nicht behaupten, daß wir diese Verantwortung immer richtig gemeistert hätten. Im Gegenteil, wir haben dabei schwere Erschütterungen
in Europa hervorgerufen. Aber es ist auch nicht die leichteste Aufgabe, die wir hatten. Wir haben oft im Gegensatz zu unseren Nachbarn gestanden. Heute stehen wir in Übereinstimmung mit unseren Nachbarn. Heute haben wir unsere nationale Frage verbunden mit dem Schicksal Europas. Wenn wir aus dieser Verantwortung wieder ausbrechen, wenn wir den Alleingang suchen, dann geht viel an Stabilität in Europa verloren, zu der wir alle gemeinsam nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen haben.
Ein Hinausdriften unseres Landes aus dem westlichen Bündnis — zunächst nicht verbal, sondern nur durch das Verhalten — würde gefährliche Destabilisierung bedeuten. Diesmal wäre es nicht die Stärke Deutschlands, die Probleme in Europa schafft, diesmal wäre es die Schwäche der Bundesrepublik Deutschland, die Gefahren für Europa schaffen würde.
Eine schwache Bundesrepublik Deutschland außerhalb der Strukturen des westlichen Bündnisses würde ein Vakuum der Kräfte um sich herum schaffen, würde zum Gegenstand der Rivalität werden. Das darf nicht geschehen.Deshalb ist für uns die Erfüllung der Verantwortlichkeiten im Bündnis, die uns nicht aufgedrängt wurden, die wir gewollt haben, weil wir sie als richtig erkannten, unser Beitrag zum Frieden in Europa. Da darf keine Frage offen bleiben, auch nicht die Frage der inneren Haltung aller verantwortlichen politischen Kräfte zum westlichen Bündnis.
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2360 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundesminister GenscherHerr Kollege Dr. Vogel, niemand wird es mehr begrüßt haben als die Bundesregierung, daß Sie sich heute für Ihre Fraktion noch einmal und nachdrücklich zum westlichen Bündnis bekannt haben. Die Frage ist, wieweit Sie mit dieser Feststellung für Ihre ganze Partei und für Ihre ganze Fraktion sprechen können.
Ich erinnere mich daran, daß es Debatten im Deutschen Bundestag gab, in denen sich Ihre Fraktion mit großem Nachdruck zum NATO-Doppelbeschluß in beiden Teilen bekannte, und draußen forderte Herr Lafontaine bereits, daß die Nachrüstung nicht stattfinden dürfe. Jetzt sind Sie Herrn Lafontaine gefolgt. Aber für ihn ist die Ablehnung des NATODoppelbeschlusses nicht der Endpunkt Ihrer sicherheitspolitischen Entwicklung, sondern eine Zwischenstation zum Austritt aus der NATO, „Austritt wagen", wie er es nennt.
Meine Damen und Herren, Austritt aus der NATO, das ist nicht das Wagnis einer Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft, Austritt aus der NATO, das ist das Wagnis der Sicherheit für Deutschland und für Europa. Das ist die Kernfrage. Ich fürchte, daß vielleicht auch in dieser Frage Herr Lafontaine nicht ein Herold ohne Gefolge ist, sondern daß er wie bei dem Nein zum NATO-Doppelbeschluß auch dabei mehr und mehr Anhänger finden wird. Es muß unser gemeinsames Interesse sein, daß es dazu nicht kommt; denn wir müssen auch morgen, nach der Entscheidung auf der Grundlage des NATO-Bündnisses, nach getroffener Entscheidung für die Stationierung die Sicherheitspolitik unserer Bundesrepublik Deutschland mitgestalten.
In dieser Gestaltung ist die Sozialdemokratische Partei ein unverzichtbarer Faktor. Ihre Partei ist zu groß, zu bedeutungsvoll und zu stark, als daß hier Zweifel aufkommen dürften. Ihre Partei wird in Ihrer Gänze für die Stärkung unseres westlichen Bündnisses gebraucht. Das ist der Unterschied zwischen einer traditionsreichen Partei wie der SPD und denjenigen, die sich hier als GRÜNE im Deutschen Bundestag an der Debatte beteiligen und die auch das Wort „Frieden" in Anspruch nehmen. Ich akzeptiere das bei jedem einzelnen von Ihnen. Trotzdem sollten Sie einmal überlegen, ob dem Anspruch für Frieden, den Sie erheben und den wir Ihnen nicht bestreiten, in der Art genügt wird, wie Sie z. B. bei der Rede des Bundeskanzlers Zwischenrufe gemacht haben. Ich habe nichts gegen Zwischenrufe. Auf den Geist kommt es bei den Zwischenrufen an.
Meine Damen und Herren, wenn es um die Durchführung der Beschlüsse des westlichen Bündnisses geht, kommt es darauf an, daß wir unsere Verantwortung erkennen; denn in der Auseinandersetzung über Frieden und Freiheit für die westlichen Demokratien sind wir nicht unbeteiligte Zuschauer im Gegensatz der beiden Weltmächte. Wer das glaubt und wer in Wort und Tat auf gleichen Abstand zu den beiden Supermächten gehen will, stellt fundamentale deutsche Interessen in Frage.Es ist ja nicht so, daß wir durch Zufall — vielleicht historischen Zufall — Mitglied des westlichen Bündnisses geworden sind.
Das war eine ganz bewußte Entscheidung.
Es war eine Friedensentscheidung, und es war eine Freiheitsentscheidung.
Meine Damen und Herren: Friedens- und Freiheitsentscheidung!
In dem West-Ost-Gegensatz sind wir selbst Partei.
Wer glaubt, unsere nationalen Interessen dadurch wahrnehmen zu können, daß wir bei dieser Auseinandersetzung Zuschauer sind, der wird leicht in den Fehler zurückfallen, den wir gemacht haben, als wir glaubten, Schiedsrichter sein zu können.Wenn wir uns die Frage stellen, wie die Entwicklung war seit jenem 14. Dezember 1979, als hier im Deutschen Bundestag das Ja zu dem Ja der Bundesregierung ausgesprochen wurde, so müssen wir feststellen, daß damals die Zahl der sowjetischen SS 20-Raketen wesentlich geringer war, als sie heute ist. Mehrfach hat die Sowjetunion diese Zahl durch eine permanente Aufrüstung erhöht.Die Gründe, die damals zum NATO-Doppelbeschluß geführt haben, sind nicht weniger gewichtig geworden; sie haben mit jeder einzelnen SS 20 zusätzlich an Gewicht gewonnen. Wer damals ja zum Doppelbeschluß sagte, kann doch heute nicht, wo es mehr Bedrohung gibt, nein sagen, sondern er muß heute feststellen, daß der Beschluß von damals die richtige, auch die notwendige Antwort gewesen ist, die wir heute nicht in Zweifel ziehen können.Wir dürfen auch nicht vergessen, daß es Entwicklungen gegeben hat, die auch durch Gewaltanwendung, z. B. in Afghanistan, gekennzeichnet waren. Wir haben trotzdem hier im Westen alles getan, um die Verhandlungen in Genf zum Erfolg zu führen. Wir haben es doch als eine gemeinsame Leistung betrachtet, daß es durch die Festigkeit aller Seiten des Deutschen Bundestages möglich war, die Sowjetunion von der Notwendigkeit der Aufnahme von Verhandlungen zu überzeugen, und das schon wenige Monate, nachdem der sowjetische Außenmi-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2361
Bundesminister Genschernister Gromyko in Bonn noch gesagt hatte, es werde keine Verhandlungen geben.Jetzt geht es darum, die Konsequenzen aus dem Ausbleiben des von uns gewünschten konkreten Verhandlungsergebnisses zu ziehen. Die Zeit seit dem Doppelbeschluß ist vom Westen durch konkrete Vorschläge genutzt worden, durch Vorschläge, die die elementaren Interessen gerade unseres Landes wahrgenommen haben.Es war doch keine illusionäre und irrealistische Entspannungsforderung, wenn als erster — und das auf deutschen Wunsch — die Vereinigten Staaten die doppelte Null-Lösung, den Verzicht der Sowjetunion auf ihre Vorrüstung und dafür den Verzicht des Westens auf Nachrüstung, verlangt haben. Kann es eigentlich, ich muß sagen: könnte es eigentlich ein besseres Ergebnis gerade für unser geteiltes Volk geben als den gänzlichen Verzicht auf Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten?
Unsere Bundesrepublik Deutschland gehört zu den Ländern, die auf eigene atomare Waffen verzichtet haben. Dieser Verzicht auf eigene atomare Waffen gibt unserem Volk den Anspruch, daß es nicht mit atomaren Waffen bedroht wird. Das ist unser Recht, und das müssen wir in Anspruch nehmen.
Als wir den Verzicht auf eigene atomare Waffen ausgesprochen haben, haben wir doch damit die Erwartung verbunden, daß unser Territorium nicht mit atomaren Waffen einer anderen Atommacht bedroht wird. Wir machen auch heute diesen Anspruch geltend. Dieser Anspruch bedeutet, daß wir den Verzicht auf alle sowjetischen landgestützten Raketen unverändert nicht nur für die beste Lösung für unser Volk, für Westeuropa, für alle europäischen Völker, sondern auch für die logische Konsequenz aus dem Atomwaffensperrvertrag halten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reents?
Ich würde gerne meinen Gedankengang fortsetzen dürfen.
Gut.
Wir haben damals aber auch — unwidersprochen — das Recht zugestanden bekommen, uns im Falle einer Bedrohung mit atomaren Waffen des Schutzes der atomaren Waffen einer Macht zu versichern, die mit uns verbunden und befreundet ist. Das ist die Konsequenz, aus der sich der zweite Teil des NATODoppelbeschlusses, nämlich das Recht und im Falle der Verweigerung auf der anderen Seite die Pflicht zur Nachrüstung ergeben hat.Wir werden mit dieser Politik, die durch Verhandlungswillen und durch die Entschlossenheit gekennzeichnet ist, das für unsere Sicherheit Notwendige zu tun, auch in Zukunft fortfahren. Wir haben, nachdem sich zeigte, daß die Sowjetunion nicht bereit war, gänzlich auf ihre Vorrüstung zu verzichten, als Bundesrepublik Deutschland von uns aus den Vorschlag einer Zwischenlösung in die Diskussion gebracht, weil wir gesagt haben: Es ist besser, einen Schritt mit der sowjetischen Vorrüstung zurückzugehen und deshalb im Westen ein Stück weniger nachzurüsten, als es so zu lassen, wie es ist. Die Bereitschaft zu einem Zwischenergebnis ist ein Vorschlag, der aus der Bundesregierung kam. Das ist die Antwort auf Ihre Frage, Herr Kollege Dr. Vogel, wo die Beiträge des Bundeskanzlers und der Bundesregierung zur Entwicklung der westlichen Verhandlungspositionen gelegen hätten.Zugegeben, wir haben aus den intensiven Diskussionen im Bündnis und mit den Vereinigten Staaten nicht eine öffentliche Auseinandersetzung gemacht, sondern das vertrauensvolle Gespräch. Uns kam es darauf an, die Wirkungen in der westlichen Verhandlungsposition zu erzielen und nicht im Wege der Selbstdarstellung Gegensätze zu den Amerikanern künstlich herbeizuführen.Wir haben im weiteren Verlauf dieser Diskussion auch dazu beigetragen, daß das Angebot im einzelnen substantiell erläutert wurde, daß dargelegt wurde, daß der Westen bereit ist, auch Sicherheitsinteressen des Osten anzuerkennen, daß wir bei globalen Obergrenzen auf beiden Seiten nicht den gesamten Nachrüstungsbedarf in Westeuropa vollziehen wollen. Das ist übrigens ein Element, daß im „Waldspaziergang" vorhanden war, das nur öffentlich im Augenblick nicht erwähnt wird; aber es ist so. Als Zweifel aufkamen, ob der Westen bereit sei, bei einer reduzierten Nachrüstung als Antwort auf eine reduzierte Vorrüstung auch Pershing II weniger zu stationieren, oder ob die westliche Reduzierung nur bei den Marschflugkörpern stattfände, ist am Verhandlungstisch klargestellt worden, daß sich die Reduzierung selbstverständlich verhältnisgleich auf beide Systeme, auf Pershing II ebenso wie auf Marschflugkörper erstrecken würde.
Hier ist es immer stärker zu einer differenzierten Darlegung und Beschreibung der westlichen Verhandlungsposition gekommen.Meine Damen und Herren, eines war dabei von Anfang an klar — das ist nicht eine Erfindung der jetzigen Bundesregierung, das haben wir damals in der früheren Regierung beschlossen und in den Doppelbeschluß aufgenommen —: Gleiche Obergrenzen auf beiden Seiten global, so heißt es im NATO-Doppelbeschluß, und das ist die Ablehnung eines einseitigen Monopols für sowjetische landgestützte Mittelstreckenraketen. Das muß ganz unmißverständlich sein: Ein Monopol der Sowjetunion für landgestützte Mittelstreckenraketen, gerichtet gegen Westeuropa oder andere Teile der Welt, werden wir nicht akzeptieren. Ein solches Monopol würde dazu führen, daß, wann immer es not-
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2362 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundesminister Genscherwendig erschiene, Drohung ein Mittel der Politik werden könnte.Niemand wird hier der sowjetischen Führung vorwerfen, daß sie ein friedliches Westeuropa mit ihren Mittelstreckenraketen beschießen wolle; aber die Existenz dieser Waffen, die Möglichkeit, diese Waffen als Mittel der Drohung einzusetzen, würde die politische Entscheidungsfähigkeit Westeuropas beeinträchtigen, uns von den Vereinigten Staaten abkoppeln. Es wäre der Anfang eines Weges der politischen Erdrosselung Westeuropas. Diesen Weg dürfen wir nicht beschreiten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reents, oder lassen Sie grundsätzlich keine zu?
Nein, ich möchte keine zulassen.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist es so notwendig, daß wir an dem festhalten, was damals am 14. Dezember 1979 hier die Zustimmung der damals im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen gefunden hat. Daran, Herr Kollege Dr. Vogel, kann auch Ihre ja erst später erhobene Forderung nichts ändern, die französischen und britischen Systeme in diese Verhandlungen einzubeziehen oder dabei zu berücksichtigen. Die Frage, ob diese Systeme berücksichtigt werden, ist nicht erst jetzt aufgekommen; wir haben sie bei der Vorbereitung des NATODoppelbeschlusses geprüft und diese Einbeziehung mit guten Gründen abgelehnt. Noch 1980 bei den Gesprächen in Moskau hat die sowjetische Führung zum Ausdruck gebracht, daß auch sie diese Systeme Frankreichs und des Vereinigten Königreichs für strategische Systeme hält, daß sie deshalb ihre Einbeziehung in die Mittelstreckenverhandlungen nicht für richtig hält.
Niemand in Frankreich und England vertritt ja die Auffassung, daß es keine Verhandlungen geben könne, bei denen diese Systeme berücksichtigt werden. Bei der letzten Vollversammlung der Vereinten Nationen haben der französische Staatspräsident und der britische Außenminister ganz klargemacht, daß sie, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, sehr wohl bereit sind, ihre Systeme in internationale Verhandlungen einzubringen. Das ist der Weg. Wir sollten heute nicht zusätzlich zu den Problemen, die wir ganz sicher im Ost-West-Verhältnis haben, durch eine Änderung der deutschen Position zu den französischen und britischen Systemen einen tiefen Keil zwischen unser Land und diese beiden wichtigen europäischen Verbündeten schieben.
Meine Damen und Herren, es kommt darauf an, daß wir auch in dieser Frage nicht die Besorgnisse der uns befreundeten Länder erhöhen, wir, die Deutschen, könnten versuchen, uns unserer Verpflichtung und Verantwortung zu entziehen.
In der Tat: Diese Systeme sind nach ihrer Anlage, nach ihrer Bestimmung auch gar nicht dafür ausersehen oder gar geeignet, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder der anderen nichtatomaren westlichen Staaten Europas zu garantieren. Man muß ja schon die Frage stellen, ob sie ausreichen, die Sicherheit der beiden Länder zu garantieren, denen sie zur Verfügung stehen. Deshalb gehören diese beiden Länder auch dem Bündnis an. Gefährden wir also durch diese neuerlich erhobene Forderung nicht auch noch im europäischen Verband das Vertrauen in die Beständigkeit unserer Politik!
Herr Kollege Dr. Vogel, Sie haben an den Bundeskanzler die Frage nach einem leichtfertigen Umgang mit Behauptungen gestellt. In Ihrer Rede haben Sie heute danach gefragt, wie der Bundeskanzler dazu gekommen sei zu erwähnen , daß die Sowjetunion darauf verzichten könne, die französischen und britischen Systeme einzubeziehen. Tatsache ist, daß der sowjetische Unterhändler am Sonntag, dem 13. November, ein Angebot zur Diskussion gestellt hat, in dem der Verzicht auf die Einbeziehung der französischen und britischen Systeme erwähnt wurde. Dazu gehörte aber auch die Forderung nach einem fortbestehenden Monopol für die sowjetische Seite.
Deshalb war dieses Angebot für uns nicht annehmbar.
Es hat dann anschließend eine laufende Variation der sowjetischen Haltung durch den sowjetischen Botschafter, durch öffentliche Erklärungen gegeben. Ich will mich jetzt nicht zu der Frage äußern, welche Motive hinter veränderten sowjetischen Positionen zu diesen Fragen stehen. Ich will mich nicht dazu äußern, ob es Fragen der bewußten Desinformation sind oder ob es auch Meinungsverschiedenheiten in der sowjetischen Führung gibt. Der Bundeskanzler war aber auf Grund der Informationen, die uns von der dort verhandelnden amerikanischen Seite zur Verfügung gestellt wurden, berechtigt, die Erklärungen abzugeben, die er dazu abgegeben hat. Wir können auch die Informationen im einzelnen ausbreiten. Ich frage mich aber, ob das weiterführt.
Wir wollen, daß die Verhandlungen weitergehen. Wir wollen, daß die beiden Seiten weiter im Vertrauen verhandeln können. Ich weise aber den Versuch zurück, hier der Bundesregierung zu unterstellen, daß sie mit einer falschen Angabe über den Inhalt der am 13. November in Genf vorgetragenen sowjetischen Erwägungen gearbeitet habe. Um mehr geht es nicht.
Verzeihen Sie, Herr Bundesminister, ich muß noch einmal fragen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2363
Nein, ich möchte weiterreden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht jetzt um die Frage, wie wir auf dem von der Bundesrepublik Deutschland, auf dem vom westlichen Bündnis eingeschlagenen Weg nun weitergehen. Viele unserer Mitbürger im Lande und in der ganzen Welt beschäftigt die Frage, wie es mit den Verhandlungen weitergehen soll. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, wir, die westlichen Staaten, haben vier Jahre lang nach dem NATO-Doppelbeschluß unsere Bereitschaft erklärt und auch bewiesen, trotz fortschreitender sowjetischer Vorrüstung weiter zu verhandeln. Diese Haltung gibt uns den Anspruch — „uns" heißt: den Regierungen dieser Länder, unseren Völkern, allen Völkern Europas —, auch von der Sowjetunion zu erwarten, daß sie zur Fortsetzung der Verhandlungen bereit ist, um ein Verhandlungsergebnis zu erzielen.
Solche Verhandlungen an dem jetzt gegebenen Tisch oder einem anderen liegen im Interesse der Sowjetunion und ihrer Verbündeten genauso wie in unserem Interesse. Wir werden vom Verhandlungstisch nicht aufstehen. Wir werden an jeden Verhandlungstisch hingehen, der an anderer Stelle aufgebaut wird. Wir werden alles tun, um in den Jahren des Stationierungsvorgangs — jetzt geht es um den Beginn — mit aller Kraft auf ein konkretes Verhandlungsergebnis hinzuarbeiten.Die Erklärung des westlichen Bündnisses steht: Jede einzelne amerikanische Mittelstreckenrakete, die jetzt aufgestellt wird, kann als Ergebnis späterer Verhandlungen wieder beseitigt werden. Nichts ist unwiderruflich.
Wir werden alles tun, daß die Verhandlungen zu einem solchen Ergebnis führen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das werden wir dann erreichen, wenn wir unsere Politik in allen Teilen — bei der Durchsetzung des Doppelbeschlusses der NATO genauso wie in den anderen Elementen unserer Friedenspolitik — verwirklichen. Diese anderen Elemente der Friedenspolitik gehen über den NATO-Doppelbeschluß hinaus, aber sie sind nicht denkbar ohne diesen Teil unserer Außen- und Sicherheitspolitik.Herr Kollege Dr. Vogel hat heute auch die Frage nach der Strategie des westlichen Bündnisses aufgeworfen. Das ist die Frage nach der Tauglichkeit, der Beständigkeit und den Perspektiven der westlichen Abschreckungsstrategie. Wenn wir von Abschreckung sprechen, so müssen wir die Frage stellen: Von was abschrecken? — Abschrecken vom Kriege, meine Damen und Herren; den Krieg in Europa nicht mehr führbar machen; den Krieg verhindern. Diese Strategie ist Kriegsverhinderungsstrategie. Deshalb sagen wir ja dazu.
Wer langfristig den Frieden gewinnen will, was weit mehr ist als Nichtkrieg, der muß zuallererst durch seine Politik
den Krieg unter allen Umständen vermeiden. Da wissen wir, meine Damen und Herren, daß es hier in diesem hochgerüsteten und dicht besiedelten Europa darum geht, jede Form von Krieg zu verhindern.
Unsere Kriegsverhinderungsstrategie hat bisher und wird auch in Zukunft den atomaren Krieg genauso verhindern wie den konventionellen Krieg. Wenn wir Gewaltverzicht meinen, dann heißt das: Verzicht auf jede Form der Gewaltanwendung, der atomaren und der konventionellen Gewaltanwendung.
Herr Kollege Dregger hat auf die Erfahrung einer Generation hingewiesen, die die Schrecken des Zweiten Weltkrieges erlebt hat. Wir dürfen niemals in den Hintergrund treten lassen: Auch ein konventionell geführter Krieg in Europa ohne Einsatz von Atomwaffen wäre tausendmal schrecklicher als der Zweite Weltkrieg, den wir alle so bitter in Erinnerung haben.
Und deshalb müssen wir alles tun, um jede Form des Krieges zu verhindern und zu vermeiden. Das ist unsere Strategie.Und da wissen wir, daß die Strategie der Abschreckung nicht die letzte Antwort auf die Frage nach dauerhaftem Frieden in ganz Europa sein kann. Aber sie wird es so lange bleiben müssen, solange wir nicht politische Rahmenbedingungen geschaffen haben, in denen der Nichtkrieg durch Abschreckung abgelöst werden kann durch eine Friedensordnung, die auf Vertrauen gegründet ist. Das ist die Aufgabe unserer Friedenspolitik. Das ist eine Aufgabe, die wir nicht nur bei den Verhandlungen über Mittelstreckenraketen erfüllen müssen — wie es überhaupt gefährlich ist, die Frage der Friedenssicherung, des West-Ost-Verhältnisses auf diese eine Frage zu reduzieren.Das ist eine Aufgabe, die wir zu erfüllen haben bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen und im UNO-Abrüstungsausschuß, bei den Verhandlungen über Truppenreduzierung in Mitteleuropa. Es ist eine Aufgabe, die wir bei der im Januar des kommenden Jahres beginnenden europäischen Abrüstungskonferenz zu erfüllen haben, wo es vor allem darum geht, in der ersten Phase Vertrauen zu bilden, Vertrauen in ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural, und, von Vertrauensbildung beginnend,
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2364 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bundesminister Genscherauch auf ein konventionelles Gleichgewicht in ganz Europa hinzuarbeiten.
Und konventionelles Gleichgewicht in ganz Europa wollen wir durch Abrüstung erreichen. Das heißt, daß die Sowjetunion bereit sein muß, auch hier ihre konventionelle Überlegenheit abzubauen.Wir werden diesen Weg einer besonnenen und realistischen Friedenspolitik zusammen mit unseren Verbündeten konsequent weitergehen. Wir werden durch Zusammenarbeit, Zusammenarbeit in allen Bereichen, Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten, Zusammenarbeit mit der DDR, durch die Mitwirkung in den internationalen Konferenzen alles tun,
damit die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die wir brauchen, damit in Europa eine Ordnung geschaffen werden kann, die den Begriff Friedensordnung verträgt, die den Begriff Friedensordnung verdient.Hier müssen wir erkennen, daß wir in unserer Lage im Herzen Europas eine besondere Verantwortung zu erfüllen haben. Wir erfüllen diese Verantwortung durch die Berechenbarkeit unserer Außenpolitik, durch die Erhaltung der Übereinstimmung unserer Politik mit den Auffassungen und den gemeinsam erarbeiteten Zielen der Friedenspolitik aller unserer Nachbarn und Verbündeten im Westen und durch den aufrichtigen Willen, mit den Staaten des Ostens, mit den Völkern des Ostens den Weg zu gehen, der mit zunehmendem Abbau von Spannungen, Vertrauensbildung und Abrüstung eben diese Friedensordnung schafft.Wir wissen, und wir werden es uns bei jeder Entscheidung neu fragen, wie die Auswirkungen jeder einzelnen dieser Entscheidungen auch auf das deutsch-deutsche Verhältnis sind. Deshalb haben wir dieser Aufgabe der Gestaltung der deutschdeutschen Beziehungen ein solches Gewicht und eine solche Bedeutung zugemessen.Herr Kollege Dr. Vogel, Sie haben heute, und das zu Recht, eine auch mich beeindruckende Ansprache bei der Feier in Worms erwähnt. Ich denke, daß wir uns bei der Entscheidung, die jetzt vor uns steht, davor hüten sollten, unsere Mitbürger in der DDR für die eine oder für die andere Auffassung in Anspruch zu nehmen.
Wie sie in dieser Frage stehen, konnten sie — im Gegensatz zu uns — in freier Entscheidung nicht bekunden. Unsere Aufgabe ist etwas anderes: Unsere Aufgabe ist es
— als Regierung, als Parlament, als Menschen in einem Staat, der nur einen Teil des eigenen Volkes repräsentiert —, alles zu tun, damit auch die Interessen der anderen unseres Volkes — und als Europäer: der anderen Europäer — gewahrt werden. Diese Verantwortung bedeutet in unserem Verständnis, daß wir für uns alle in West und Ost den Frieden bewahren. Sie bedeutet in unserem Verständnis aber auch die Einsicht, daß wir den Frieden der anderen nicht dadurch sichern, daß wir für uns die Freiheit aufs Spiel setzen würden. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schily.
Vorab werde ich einen einseitigen verbalen Abrüstungsschritt vollziehen: Ich nehme den gegen den Staatssekretär Kollegen Spranger gerichteten Ausdruck „CIA-Agent" zurück.
Wir können uns dann gemeinsam darauf verständigen, mit welchem Ausdruck wir den Besuch von Herrn Spranger auf Einladung des CIA in Grenada bezeichnen wollen.Der Entschluß der Bundesregierung, den Beginn der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden zuzulassen, ist ein Akt der Unterwerfung unter die zunehmend aggressivere Militärstrategie der gegenwärtigen US-Regierung, eine Kapitulation der Vernunft, ein Fiasko für den Frieden in Europa.
Den Verheerungen der Kriege sind stets Verheerungen im Denken der Menschen, im Denken der politisch Verantwortlichen, der politisch Herrschenden, vorausgegangen. Immer dann, wenn sich die politische Vernunft, die gern im Gewand der Realpolitik daherkommt, unterordnete, war dies das Vorzeichen einer kommenden Katastrophe. Im Jahre 1975 veröffentlichte die Zeitung „Die Welt" einen Artikel unter der Überschrift: „Flucht in den Frieden". Dort hieß es, in Wirklichkeit lasse sich der Krieg weder wegforschen noch wegträumen. Einer ganzen Generation von Friedensforschern und Friedensfreunden sei der Begriff des Krieges abhanden gekommen. Es hat heute den Anschein, daß einer ganzen Generation von Politikern inzwischen der Begriff des Friedens abhanden gekommen ist.
Gewiß, der Krieg läßt sich nicht wegforschen noch wegträumen. Aber sicher ist zugleich, daß der Krieg herbeigeforscht, herbeigedacht, herbeigeplant werden kann.
Das ist angesichts der Tatsache, daß gegenwärtigjeder fünfte Wissenschaftler in der Welt damit be-
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Schilyschäftigt ist, immer perfektere Tötungsinstrumente herzustellen, und daß sich der militärisch-industrielle Komplex in den Vereinigten Staaten sowie der militärisch-bürokratische Komplex in der UdSSR jeweils zu den beherrschenden gesellschaftlichen Kräften entwickelt haben, eine sehr reale Gefahr.
Es ist die ins Aberwitzige übersteigerte Machtpolitik, die sich in den Atomwaffenarsenalen materialisiert und der sich auch die Bundesregierung verschrieben hat. Ihre Beteuerungen, ihr Verhalten diene der Friedenssicherung in Europa, sind nicht glaubhaft. Die Bundesregierung beruft sich auf ein Konzept der Kriegsverhinderung durch Abschrekkung. Dieses Konzept ist trügerisch. Es ist ein Vabanquespiel mit dem Untergang Europas, mit dem Weltuntergang. Das Zerstörungspotential der wechselseitigen Bedrohung hat inzwischen eine Größenordnung von 1 Million Hiroshima erreicht. Wenn Politik ihren letzten Sinn in der Erhaltung des Friedens hat, wie kann sie sich dann auf die Alternative des „Alles oder Nichts" oder genauer: des „Etwas oder Nichts" einlassen? Freiheit oder Weltuntergang, das kann niemals eine sinnvolle Alternative sein.Herr Bundeskanzler, Sie haben heute vormittag gesagt, der Friede im nuklearen Zeitalter sei nur so sicher wie die Gefahr des Untergangs für den, der ihn bricht. Das ist leider allenfalls die halbe Wahrheit. Herr Kollege Dr. Vogel ist darauf schon eingegangen. Es ist ein Beweis für die Selbsttäuschungen, in denen Sie befangen sind. Denn die Gefahr des Untergangs besteht im Nuklearzeitalter für uns alle, die wir Geiseln der Supermächte sind. Wissen Sie wirklich nicht, daß die prekäre Scheinsicherheit der Abschreckung der Weltuntergang auf Abruf ist? Daß wir längst unser Schicksal, das Schicksal der Menschheit der Erbarmungslosigkeit von Computern anvertraut haben? Was ist daran noch christlich, frage ich Sie.Sie drohen mit dem Weltuntergang wie ein Polizist mit dem Bußgeld. Kann aber der Weltuntergang die Sanktion für irgendeinen Vorgang in dieser Welt sein? Haben Sie wirklich keine Ahnung, mit welchen grauenvollen Eventualitäten solche Drohungen belastet sind?
Lesen Sie doch einmal nach in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 11. November 1981, was sie über die Atompolitik schreibt. Ich zitiere:Nun ist aber Atompolitik eine Kunst, die mit lauter Unbekannten arbeiten muß. Nichts ist hier beweisbar. Ausgangspunkt ist die Vernunft. Der Verstand sagt, daß niemand den Untergang will. Strategisch ist das jedoch keine Tatsache. Es ist eine Hoffnung. Das hat die amerikanischen Analytiker dazu getrieben, zahlreiche Modelle eines möglichen Krieges zu entwerfen. Der Sinn dieser Entwürfe ist, die Gewalt der atomaren Kraft zu mäßigen, die Atomwaffen nur als politische Waffen zu nutzen und vielleicht partielle Vernichtung der totalen Vernichtung vorzuschalten. Eines dieser Modelle ist die flexible response — zugegebenermaßen voller Fehler, Hypothesen und Fiktionen.Ende des Zitats. — Der Weltuntergang, abhängig von Fehlern, Hypothesen und Fiktionen. Läßt Sie das nicht innehalten, meine Damen und Herren Kollegen?Von Hannah Arendt stammt der Satz:Die technische Entwicklung der Gewaltmittel hat in den letzten Jahrzehnten den Punkt erreicht, an dem sich kein politisches Ziel mehr vorstellen läßt, das ihrem Vernichtungspotential entspräche oder ihren Einsatz in einem bewaffneten Konflikt rechtfertigen könnte.Die Eiferer der Abschreckung wollen uns weismachen, dies eben sei ihre Überzeugung, auch sie wollten den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln verhindern. Deshalb seien die Vorbereitung und die Androhung von Massenvernichtungsmitteln notwendig.Aber Sie befinden sich damit in einem unauflöslichen und unheilvollen Widerspruch. Wer Kriegsverhinderung durch Abschreckung bewirken will, kann dem Dilemma nicht entrinnen, daß er den atomaren Holocaust dadurch unmöglich machen will, daß er ihn möglich macht. Auf exakt dieser paradoxen Denkweise beruht das sicherheitspolitische Konzept der Bundesregierung: Kriegsverhinderung durch Kriegsführungsoptionen, so lautet die Parole.Im Nuklearzeitalter aber — das sollten Sie begreifen — ist Bedrohung des Gegners immer zugleich Bedrohung für uns selbst.
Kriegsführungsoptionen, die im Zusammenhang mit der geplanten Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen für das sogenannte europäische Nuklearkriegstheater entwickelt werden, taugen schon deshalb nicht zur Kriegsverhinderung, weil sie mit untragbaren, unüberschaubaren Risiken verbunden sind und weil nicht — jedenfalls nicht deutlich — erkennbar ist, ob sie offensiven oder defensiven Absichten entsprechen. Welches Vertrauen will die Bundesregierung in dieser Hinsicht eigentlich für sich, vor allem aber für die gegenwärtige US-Regierung beanspruchen?Im Sommer 1978 hielten sich eine Reihe von Militärexperten der CDU/CSU, darunter der heutige Verteidigungsminister Wörner,
in den Vereinigten Staaten auf. Über die Vorstellungen, die sie seinerzeit entwickelt haben, wird folgendes berichtet: Die Vereinigten Staaten sollten ihre strategischen Streitkräfte direkter mit ihren Angriffsoptionen — Angriffsoptionen! — für europäische Kriegspläne integrieren. In diesem Zusammenhang wurde Bezug auf die Strategie der direk-
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Schilyten chirurgischen Schläge gegen sowjetische Gebiete genommen. Die deutschen Teilnehmer argumentierten, die USA müßten alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um die glaubwürdige Option, zuerst in einem europäischen Krieg — in einem europäischen Krieg! — Kernwaffen einzusetzen, am Leben zu erhalten. — Zuerst in einem europäischen Krieg! — Sollte es der Sowjetunion gelingen, diese Option zu durchkreuzen, könnte dies das Ende der Allianz sein. Sie betonten den politischen und psychologischen Wert gerade von sichtbaren landstationierten Systemen in Europa. Sie betonten auch das Abschreckungsparadox, daß bis zu einem gewissen Punkt gerade die Verwundbarkeit der Waffen — ich erinnere an unsere Großen Anfragen — den Willen stärkt, schon früh in einem militärischen Konflikt auf Kernwaffen zurückzugreifen.Soweit der Bericht über die damaligen Äußerungen von CDU/CSU-Politikern.Angeblich soll durch diese Senkung der Nuklearschwelle Europa stärker an die atomare Vergeltungsdrohung der Vereinigten Staaten angekoppelt werden. In Wahrheit tritt genau das Gegenteil ein. Nach den Vorstellungen der amerikanischen Militärplaner schaffen sich die USA die Option auf einen atomaren Enthauptungsschlag gegen die Sowjetunion. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Strategie der horizontalen Eskalation, d. h. der Verknüpfung verschiedener Krisengebiete in der Welt, führt das zu einer schroffen Destabilisierung der Lage in Europa.Die Bundesregierung will uns beruhigen. Sie versichert, es gebe kein Konzept dieser Art. Aber wie verträgt sich die Auskunft mit der Tatsache, daß dieses Konzept des Enthauptungsschlages in dem geheimen Leitlinien-Dokument 1984 bis 1988 der US-Regierung enthalten ist, das 1982 in der „New York Times" veröffentlicht wurde? Und hat nicht der Vordenker der US-Regierung Colin S. Gray das folgende Szenario entworfen:Nehmen wir an, — so schrieb er —es handelt sich um hundert Ziele. Wenn wir alle diese hundert Ziele treffen könnten, würden wir jedes Mitglied des Politbüros erwischen, jedes Mitglied des Zentralkomitees. Wir würden alle entscheidend wichtigen Bürokraten töten. Wir würden also dem sowjetischen Huhn den Kopf abschlagen.
Muß es uns nicht alarmieren, daß der ehemalige US-Admiral La Roque erklärt hat, daß die Amerikaner davon ausgingen, der dritte Weltkrieg werde ebenso wie der Erste und Zweite in Europa ausgefochten werden? Ist Kissinger irgendwer, wenn er äußert:Ich glaube nicht, daß die Sowjetunion, wenn Nuklearwaffen auf eine begrenzte Weise gegen sie eingesetzt würden, in jedem Fall mit einem weltweiten Atomkrieg antworten würde.Es mag eine Illusion sein, aber es wäre nicht das erste Mal, daß eine Illusion in die Katastrophe eines Krieges führt.Müssen wir nicht aufwachen, wenn der französische Admiral Sanguinetti berichtet, daß ihm amerikanische NATO-Offiziere in aller Offenheit erklärt hätten, die Amerikaner müßten eines Tages über die Zerstörung Europas nachdenken? Der Trick, wenn sie Europa zerstören müßten, wäre der, die andere Seite dazu zu bringen, den Krieg anzufangen.Und welche unauffällige Botschaft hat der amerikanische Präsident Reagan in einem unscheinbaren Satz untergebracht, als er in einer Rede am 18. November 1981 erklärte:Mit sowjetischem Einverständnis könnten wir gemeinsam die schreckliche Gefahr eines Atomkrieges, die über den Völkern Europas schwebt, wesentlich vermindern.Die Gefahr eines Atomkrieges, die schreckliche Gefahr — das läßt uns der amerikanische Präsident wissen —, schwebt über den Völkern Europas. Wohlgemerkt: über den Völkern Europas.In letzter Zeit ist sehr viel von Stimmungen die Rede. Welche Stimmung kommt eigentlich darin zum Ausdruck, wenn in einem Leserbrief, den die „New York Times" veröffentlichte, die Frage gestellt wird:Warum sind die Deutschen nicht bereit, ein Opfer zu bringen? Die Menschen von Hiroshima haben es auch erbracht, und viele von ihnen leben noch.Und welche hintergründige Voraussage will uns eigentlich der den Amerikanern jedenfalls nicht fernstehende Kommentator des „Tagesspiegel" vermitteln, der am 13. Oktober 1981 schrieb:Das deutsche Volk hat einmal bis zur letzten Patrone und bis zum letzten Mann sich für sein diktatorisches System geschlagen. Die Demonstranten— er meinte die Friedensdemonstration in Bonn —von Bonn scheinen nicht bereit zu sein, für ein demokratisches System und für den Verbund der demokratischen Völker der Welt ein Risiko einzugehen.Sollen wir uns da beruhigen? Sollten wir nicht eher die Warnung des früheren US-Verteidigungsministers McNamara ernstnehmen, der kürzlich gesagt hat:Worüber sich die Westdeutschen klarwerden müssen, das ist, daß ihr Kulturkreis völlig verwüstet wird, wenn sie sich weiterhin an die NATO-Strategie halten.Diese Warnung ernstnehmen, bedeutet, daß wir an einer Grenzlinie angelangt sind.Herr Dr. Dregger, Sie haben in der vergangenen Woche und auch heute in der Debatte erklärt — in Übereinstimmung mit dem Bundesaußenminister —, ein Nein zur Stationierung neuer amerika-
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Schilynischer Mittelstreckenraketen sei ein Votum gegen die NATO. Dem scheinen die Annahme und die Absicht zugrunde zu liegen, ein Ja zur Stationierung werde das NATO-Bündnis festigen. Sie täuschen sich.Wirkungen und Gegenwirkungen in der Geschichte unterliegen nicht den Gesetzen einer politischen Mechanik. Wenn Sie Ihre Macht dazu ausnutzen, den Weg für die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen auf dem Boden der Bundesrepublik freizugeben, wenn Sie den Mehrheitswillen der Deutschen in beiden deutschen Staaten mit dieser Entscheidung mißachten,
wenn Sie Verfassung und Völkerrecht beiseiteräumen und Europa an den Rand des Abgrunds rükken, dann setzen Sie selber die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zum NATO-Bündnis auf die politische Tagesordnung;
denn was kann ein Bündnis wert sein, das bereit ist, die Existenz unseres Volkes zu opfern, das zu schützen es vorgibt?In einem bereits 1977 veröffentlichten Artikel hat die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter Hinweis auf Ausführungen des damaligen Oppositionspolitikers Dregger in einer Bundestagsdebatte hervorgehoben, daß sich die Bundesrepublik nicht mit einer Bündnisstrategie zufrieden geben könne, die ihre totale Vernichtung im Verteidigungsfall einplane, bei konventioneller wie atomarer Kriegführung. Im vorigen Jahrhundert hätte sich aus dieser Gefährdung — so schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" — selbstverständlich die Überprüfung der Bündnisfrage ergeben. In Bonn — so stellte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" damals fest — sei man diesen Fragen bisher aus dem Weg gegangen, und auch Dregger habe sie nur so angesprochen, daß man sie weiter liegenlassen könne. Der Grund liege auf der Hand. Befriedigende Antworten seien nicht in Sicht, ein Umstand, der auch die Zurückhaltung der Union erkläre. Schließlich wäre man um eine gute Antwort ebenso verlegen wie die derzeitige Regierung, sollte man die Rollen tauschen. — In der Tat, der Rollentausch ist vollzogen, und gute Antworten hinsichtlich der Überlebenschancen unseres Volkes im sogenannten Verteidigungsfall bleiben aus wie früher.Und vielleicht erinnern Sie sich auch des Satzes eines Mannes, der sich wahrlich nicht scheut, Tabus anzugehen. Rudolf Augstein hat in einem Artikel im „Spiegel" vom 19. April 1982 folgendes bemerkt:Wenn wir dann aber noch hören, „vom strikt nationalen Standpunkt der USA" bestehe keine Notwendigkeit, Mittelstreckenraketen auf europäischem Boden zu dislozieren, man könne sie ebensogut auf Schiffe tun, wie Kissinger meint. Nun, warum tut man sie dann nicht auf Schiffe? Die Antwort fällt recht heikel aus: Weil Westeuropa ... nicht nur die Geisel der Sowjets, sondern auch die der USA sein soll.
Welchen Wert soll schließlich aber auch das NATOBündnis für uns haben, wenn es die Entscheidung über Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes, der europäischen Völker überhaupt, in die Hand des amerikanischen Präsidenten Reagan legt, der mit der Wahnidee umgeht, es sei die Zeit des Armageddon, die Zeit des apokalyptischen Endkampfes zwischen Gut und Böse?Wir Europäer müssen uns auf einen anderen Weg begeben. Insbesondere wir Deutschen sollten aus unserer dunklen Vergangenheit gelernt haben. Das Streben nach militärischer Macht und Übermacht hat die Deutschen in den letzten hundert Jahren immer wieder ins Verderben gestürzt. Konstantin Frantz, der davon überzeugt war, daß das zentralistische Experiment in Deutschland in einer Katastrophe enden müßte, blieb im vergangenen Jahrhundert ungehört. Er schrieb seinerzeit:Mit der Staatsidee ist da von vornherein nicht auszukommen, wo es sich vielmehr um das Verflochtensein Deutschlands mit den europäischen Verhältnissen handelt. Im Gegenteil: Je mehr Deutschland dazu berufen ist — und diesen Beruf auch ausfüllen will —, einen organischen Zusammenhang des europäischen Völkerlebens zu begründen, um so weniger darf es sich selbst zu einem abgeschlossenen und zentralistischen Staatskörper gestalten wollen, der nach allen Seiten hin nur abstoßend wirken würde. Bloße Macht hilft hier nicht.Ist es nicht einen Augenblick des Nachdenkens wert, daß ausgerechnet in der Geburtsstunde des Doppelbeschlusses der scheinbare Eintritt der Bundesrepublik in den Club der Großmächte gefeiert wurde? Wir müssen uns auf uns selbst besinnen, auf unsere Identität, die zugleich und vornehmlich eine europäische ist und sein muß. Auflösung der Blökke,
Verbindung der europäischen Interessen, Neutralisierung Mitteleuropas als ein Anfang, Ersetzung der militärischen durch politische Sicherheitselemente — das sind die Perspektiven, auf die wir hinarbeiten müssen.
Wahre christliche Nächstenliebe, kulturelle Beziehungen leisten für die Sicherheit mehr, als es jede Waffe je tun konnte.
Jedes Kind, dem wir eine Schüssel Reis überreichen, soll mir mehr wert sein als Ihre Glanzpapierproklamation über Freiheit und ähnliches,
die Sie hier mit Atomwaffen und dem Weltuntergang verteidigen wollen.
Von einem Freund, der in der unabhängigen Friedensbewegung der DDR aktiv ist, habe ich einen Satz im Gedächtnis behalten, der uns gut als Leitli-
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Schilynie dienen kann: Frieden schaffen durch die Kraft der Schwachen.Eine Neutralisierung Mitteleuropas, eine Neutralisierung der Völker Europas, eine Auflösung der Blöcke ist sicherlich nicht ohne Risiken. Diese sind jedoch unvergleichbar geringer als das Risiko der atomaren Vernichtung, das uns das NATO-Bündnis aufbürdet.Eine Auflösung der Blöcke liegt nicht zuletzt im wohlverstandenen Interesse des amerikanischen Volkes und der Völker der Sowjetunion. Die Machtteilung in Europa auf der Grundlage von Jalta ist geschichtlich überholt. Das sagen wir auch und nicht zuletzt an die Adresse der Sowjetunion und der osteuropäischen Staaten. Insbesondere die Sowjetunion wird sich zu der Wahrnehmung befähigen müssen, daß die Friedensbewegung in Westeuropa ein bedeutender politischer Sicherheitsfaktor geworden ist, und sie sollte daraus Folgerungen für ihr Handeln ziehen.Den sogenannten Realpolitikern, die die von uns angestrebte Überwindung der Blöcke als Wunschtraum abtun, antworte ich mit den Worten Albert Schweitzers aus dem Jahre 1958: Wir haben die Wahl zwischen zwei Risiken. Das eine besteht in der Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens, in Atomwaffen und der damit gegebenen Gefahr eines unvermeidlichen Atomkrieges, das andere in dem Verzicht auf Atomwaffen und in dem Hoffen, daß Amerika, die Sowjetunion und die mit ihnen in Verbindung stehenden Völker es fertigbringen werden, in Verträglichkeit und Frieden nebeneinander zu leben. Das erste enthält keine Möglichkeit einer gedeihlichen Zukunft, das zweite tut es. Wir müssen das zweite wagen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Waigel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich am Anfang auf einige Bemerkungen des Oppositionsführers Dr. Vogel eingehen.
Herr Dr. Vogel, es war nicht erträglich und ein sehr unzulässiger Vergleich, den Bundeskanzler und Honecker bei der Bewertung der Friedensbewegungen von drüben und hier gleichzustellen.
— Ich habe zugehört!
Wer wie Sie so empfindlich ist wie kein anderer, wer nur im Geben stark, im Nehmen aber schwach ist, sollte mit solchen gefährlichen Vergleichen und Unterstellungen vorsichtig sein.
Wenn Sie, Herr Vogel, zur politischen Kultur in unserem Lande etwas beitragen wollen, dann bitte ich Sie, einmal mit den Jungsozialisten zu sprechen und sich das Flugblatt, das ich in meiner Hand halte, anzusehen, auf dem fünf Kollegen von uns bildlich dargestellt werden und darunter eine explodierende Atombombe zu sehen ist.
Das ist eine unglaubliche Beleidigung und eine Unterstellung hinsichtlich der persönlichen und politischen Haltung.
Sie haben hier behauptet, die Mehrheit in der Bundesrepublik Deutschland stünde hinter Ihrer Politik. Herr Kollege Vogel, das ist die Unwahrheit. Sie sind in diesen Wahlkampf gegangen und haben eine Mehrheit gegen Raketen gefordert. Uns haben Sie wider besseres Wissen unterstellt, wir wollten eine Mehrheit für Raketen, was nicht stimmte. Trotz dieser Argumentation hat sich das deutsche Volk in einer freien Abstimmung gegen Sie und gegen Ihre Partei entschieden.
Nur als einen Beitrag zum politischen Humor oder zur politischen Groteske kann ich es ansehen, wenn Sie die Defizitpolitik der amerikanischen Regierung mit dem NATO-Vertrag in Verbindung bringen wollen. Wer selber so lange in einer Regierung saß und einen Finanzminister gestellt hat, der 13 Jahre nach dem Motto „Mach dich fit durch Defizit" gehandelt hat, der soll sich doch nicht wegen Defiziten in anderen Völkern und auf anderen Kontinenten aufspielen.
Mit großem Engagement, Kollege Vogel, gebrauchen Sie Äußerungen der Kirche. Es wäre schön gewesen, wenn Sie sich auch als Justizminister beim Thema „§ 218" der Ratschläge der Kirche so bedient hätten.
Es war auch eine schwache Leistung eines Oppositionsführers und Einserjuristen, dem Bundesverteidigungsminister eine Aussage zu unterstellen und dann das Zitat nicht bringen zu können und dann nicht einmal eine Zwischenfrage des Ministers zuzulassen, der die Sache hier entsprechend klarstellen wollte und Ihnen bewiesen hätte, daß Sie mit dieser Unterstellung nicht recht gehabt haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Vogel?
Herr Präsident, da der Oppositionsführer genau zu dem Thema eine klärende Zwischenfrage nicht zugelassen hat, lasse auch ich jetzt die Frage nicht zu.
Es wäre auch schön gewesen, wenn Sie, Herr Abgeordneter Vogel, mehr auf den früheren Bundeskanzler und auf dessen Argumentation eingegan-
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Dr. Waigelgen wären. Dann hätten Sie so nicht argumentieren können.Ich weiß nicht, was der frühere Bundeskanzler nach mir sagen wird, und weiß nicht, wie er sich bei der Abstimmung verhalten wird. Wenn es aber stimmt, daß er sich der Stimme letztlich enthält,
dann kann ich bezüglich Ihres Antrags nur sagen: Eine Stimmenthaltung ist keine gute Sache. Das haben wir selber einmal bitter erlebt. Und für das bißchen Nestwärme, das er bei Ihnen noch bekommt, brauchte er keine Stimmenthaltung zu üben.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, der NATO-Doppelbeschluß ist ein Ergebnis der Sicherheitspolitik von SPD und FDP. Diesem Ansatz der Sicherheitspolitik hatte sich auch die damalige Opposition CDU/CSU angeschlossen und die Regierung voll unterstützt. Der Regierungswechsel im letzten Jahr hat daran nichts geändert. CDU und CSU haben seit den 50er Jahren immer eine verläßliche und berechenbare
Sicherheitspolitik betrieben. Sie setzen die realistische und aktive Friedenspolitik Konrad Adenauers fort.Wir haben uns in den letzten Wochen und Monaten die Entscheidungen nicht leichtgemacht, die in den zurückliegenden Zeiten zu treffen waren. Wir haben alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt, und zwar nicht nur die militärstrategischen, sondern auch die politischen, die gesellschaftlichen und die moralischen.
Wir haben uns mit den sittlichen und theologischen Aspekten dieser Verteidigung des Friedens auseinandergesetzt. Wir haben die Tatsachen objektiv gewürdigt und gewichtet, um entscheiden zu können.Wir verfolgen und prüfen jede einzelne Phase der Verhandlungen in Genf. Für das gegenwärtige Stadium des NATO-Doppelbeschlusses lautet unser klarer Entschluß: Wir unterstützen die Entscheidungen der Bundesregierung, den Beginn der Modernisierung der Mittelstreckensysteme nach den Verpflichtungen aus dem NATO-Doppelbeschluß einzuleiten.Die weltweite Parität ist in Europa zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt empfindlich gestört. In nahezu allen Bereichen ist die Nordatlantische Allianz unterlegen, besonders bei den konventionellen Streitkräften und den Raketen kürzerer Reichweite. Dennoch war bei Abwägung des gesamten Kräfteverhältnisses das Entscheidende bisher gesichert: Die Sowjetunion konnte es nicht riskieren, in Europa einen militärischen Konflikt zu suchen.
Für die Strategie der Abschreckung haben sich inzwischen die Voraussetzungen entscheidend geändert. Mit der SS-20-Rakete und der ständigen Steigerung ihrer Zahl hat Moskau die eurostrategische Balance aufgegeben. Die Sowjetunion hat sich eine gefährliche Möglichkeit geschaffen, die sie bis dahin nicht hatte.
Sie kann einen atomaren Erstschlag gegenüber Europa auslösen. — Nein, Kollege Voigt, wir haben nicht Angst. Aber die Angst wird im Moment als ein Instrument der Politik mißbraucht. Das ist für die Politik und für nüchterne, realistische Entscheidungen sehr gefährlich.
Die Abkoppelung von den USA wäre das Ende einer glaubwürdigen Verteidigung.Der Doppelbeschluß ist nicht Selbstzweck, sondern Antwort auf die für uns lebensentscheidende Frage: wie schaffen wir die sowjetische Drohung aus der Welt? Denn um des Friedens und unserer Freiheit willen können wir mit dieser Drohung nicht leben. Wir selbst, und das weiß jeder, wollen keine neuen Mittelstreckenraketen, im Gegenteil.
Wir wollen die gesamte Kategorie dieser Mittelstreckenwaffen ächten und aus der Welt verbannen.
— Wissen Sie, was uns von Ihnen trennt, ist, daß wir nicht nur keine Pershing II wollen, sondern daß wir insbesondere auch keine SS 20 in Europa haben wollen, die auf uns gerichtet sind.
Ihre ganze politische Aktion und Agitation läuft doch nur einseitig gegen die Friedenserhaltung des Westens
und ist blind gegenüber der Friedensgefährdung des Ostens. Nur wer sie kennt und wer weiß, wo Sie herkommen, der wundert sich darüber nicht.
Vor sieben Jahren hat die Sowjetunion begonnen, SS-20-Raketen aufzustellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Burgmann?
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2370 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Nein.
Ich befürchte, daß er immer noch nasse Hosen hat und will ihm das nicht antun.
Vor sieben Jahren hat die Sowjetunion begonnen, SS-20-Raketen aufzustellen. Dafür gab es objektiv keinen Grund. Ich darf in dieser Sache Egon Bahr zitieren. Er hat am 15. Juni dieses Jahres im Bundestag erklärt — ich zitiere wörtlich —:Niemand hat mir in Moskau eine plausible und einsehbare Erklärung dafür gegeben, warum die Sowjetunion 250 Systeme mit 250 Sprengköpfen aufgestellt hat, die in der Lage sind, Westeuropa zu erreichen.Ich habe dem nichts hinzuzufügen.Gegen diese Aufstellung der SS-20-Systeme hatte die NATO ihren Doppelbeschluß gefaßt. Alle Maßnahmen, Beschlüsse und Schritte sind nicht Alleingänge der Amerikaner, sondern einvernehmlich zwischen allen Partnern in Rom, London, Bonn, Washington und den Beneluxstaaten beschlossen und bis auf den heutigen Tag abgestimmt worden. Wer die Amerikaner angreift, greift auch uns und alle Verbündeten dieses Bündnisses an. Daraus folgt: Die Stationierung ist militärstrategisch und politisch notwendig. — Es handelt sich bei der Entscheidung um einen klassischen Fall von Politik und Strategie. Vom früheren US-Verteidigungsminister McNamara
stammt der Satz: Strategie ist immer auch eine politische Frage. — McNamara hat deshalb seine Zweifel an der militärischen Notwendigkeit einer Stationierung ausdrücklich nicht auf deren politische Notwendigkeit übertragen.Mit den SS-20-Raketen wird die politisch-strategische Bedrohung sichtbar, die von der Sowjetunion, von ihren Nachbarn und über die Nachbarn hinaus für weite Teile der Welt ausgeht. Die SS-20-Raketen sind, das ist gesagt worden, Waffen der Vorherrschaft, Hegemonialwaffen. Darin liegt ihre eigentliche Herausforderung für die freie Welt.Mit den SS-20-Raketen erreicht die Sowjetunion 52 Staaten der Welt und über 60 % der Weltbevölkerung. Damit bedrohen diese Raketen nicht nur ganz Europa, sondern auch das atomwaffenlóse Japan, sie bedrohen darüber hinaus China, nahezu ganz Asien, sogar Nordafrika. Darum sind die SS-20-Raketen entspannungsfeindlich, ja sie sind das Spannungsinstrument in der gegenwärtigen Situation schlechthin.
Seit 1975 erweist sich die frühere Entspannungseuphorie als Illusion. Unbeeinflußt von den Unterschriften unter die KSZE-Vereinbarung begann die Sowjetunion mit der Verwirklichung ihres SS-20Programms.Der NATO-Doppelbeschluß war und ist ein Angebot. Er ist kein Fahrplan zur Aufrüstung, als den ihn Demagogen denunzieren. Der NATO-Doppelbeschluß ist kein Erpressungsinstrument; er ist kein Ultimatum, und er enthält keine Stationierungsautomatik. Im Zusammenhang mit ihrem Doppelbeschluß erbringt die NATO erhebliche Vorleistungen. Der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister haben darauf hingewiesen. Mit dem NATO-Doppelbeschluß hat die Nordatlantische Allianz einen neuartigen und erstmaligen Weg zur Abrüstung und Rüstungskontrolle beschritten.Die Sowjetunion hat ihre Chancen bis heute nicht genutzt. Moskau hat seine ganze Energie in Ablenkungsmanöver und in die Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Westen gesteckt.
Als erfahrener Zeitzeuge hat Golo Mann zu Protokoll gegeben — und gegen den Mann werden Sie wohl nichts einwenden können — —
— Ja, Sie schon; das glaube ich. Wer Geschichte nie gelernt hat, wird über Golo Mann kichern, aber ein vernünftiger Mensch nicht.
Das Kichern über Golo Mann ist wieder ein Plädoyer für die Notwendigkeit des Geschichtsunterrichts in den Schulen.
Er sagt wörtlich:
In Anwendung des Prinzips, den Gegner durch Nuklearwaffen einzuschüchtern und gefügig zu machen, haben die Russen gegen die Aufstellung der Pershings den größten Propagandafeldzug veranstaltet, den ich je erlebt habe. Das will etwas heißen; denn ich kann mich noch an die Propagandamaschine der Nazis erinnern.Die UdSSR denkt bis heute ausschließlich in den Kategorien ihres eigenen aggressiven Sicherheitsbedürnisses, das nicht Ausgleich sucht, sondern auf Unterwerfung zielt. Deswegen ist eine echte Sicherheitspartnerschaft mit der Sowjetunion nicht möglich. Moskau hat seine Sicherheit zum Sanktuarium, zum Allerheiligsten, erklärt, wie Gromyko sich ausdrückte.
Ich will darüber nicht spotten. — Meine Damen und Herren, wer hier den Zwischenruf macht, „da hilft doch nur noch Krieg", der zeigt, wie ernst ihm eine solche Debatte ist und wie er sie nur zum Spektakulum mißbrauchen will.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2371
Dr. WaigelAber rufen Sie weiter so! Das ist der beste Beitrag dazu, daß Sie dem nächsten Deutschen Bundestag nicht mehr angehören werden.
— Nein, aber der Wähler, und der Wähler wird diese Vernunft aufbringen.
Wir weisen die Sowjetunion mit ebensoviel Ernst darauf hin, daß auch unser Land und unsere Freiheit unantastbar sind und daß wir hierfür mit allen Kräften einstehen.Die Antwort der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen ist bekannt. Die ganze Waffenkategorie der weitreichenden eurostrategischen Mittelstreckenraketen gehört auf den Müll der Geschichte. Wir wollen unsere Waffen nicht aufstellen, und wir fordern von den Sowjets, die ihren zu verschrotten. Die Sowjets allerdings haben das bisher nicht getan. Deshalb werden wir ihnen jetzt jenes Mindestmaß entgegenstellen, das für unsere Sicherheit elementar erforderlich ist. Wir verschrotten jedes einzelne System sofort, wenn die Sowjetunion dies begreift und ihre Überrüstung wenigstens im Bereich der SS-20-Raketen zurücknimmt.Wir wollen Entspannung, und zwar realistische Entspannung. Doch Entspannung ist dort — und nur dort — notwendig, wo Spannungen existieren. Spannungen haben Ursachen. Deshalb kann es Entspannung nur geben, wenn deren Ursachen beseitigt werden.Was hat demgegenüber die Sowjetunion getan? Einen verstärkten Export revolutionärer Umtriebe vor allem nach Afrika und Lateinamerika; Waffenlieferungen riesigen Umfangs in alle Welt, mit Vorliebe in Krisengebiete, ohne den Ländern der Dritten und Vierten Welt Entwicklungshilfe zu leisten; das Anheizen, Schüren und aktive Unterstützung von lokalen bewaffneten Auseinandersetzungen.
Meine Damen und Herren, wer dies objektiv feststellt, der wird mir darin zustimmen, daß es keine Äquidistanz in der Beurteilung der USA und der UdSSR geben kann.
Die moralische und sittliche Überlegenheit der amerikanischen Demokratie wird wider besseres Wissen außer acht gelassen. Die wirkliche Ursache der Spannung liegt bei der Sowjetunion. Sie verweigert ihren Bürgern und den Bürgern ihrer Satelliten die menschlichen Grundrechte und die bürgerlichen Grundfreiheiten. Sie hat um sich herum einen Kreis von Satelliten unterworfen und hält ihn im Würgegriff. Wenn es noch Imperialisten gibt, dann die Russen, sagte Golo Mann kürzlich.Was können uns eigentlich große Männer, die wirklich das Letzte an persönlichem Einsatz geboten haben, wie Solschenizyn oder Sacharow, vermitteln? Sie haben ihr Leben gewagt, sie haben keinenNachholbedarf an Freiheitsliebe. Sie sollten aber für uns Ratgeber bei dieser schwierigen Entscheidung sein.
Gerade sie beschwören uns, standhaft zu bleiben und den Sowjetimperialismus in die Schranken zu weisen. Sie vollführen etwas, was wir von niemandem verlangen und was Fürst Fugger, einer der ersten Abgeordneten der CSU, über sein Leben geschrieben hat: Lieber den Tod, als in die Knechtschaft gehen. Ich sage nochmals: Das ist keine Maxime für ein ganzes Volk. Aber jene, die sich so entscheiden und dafür mit ihrem Leben ein Beispiel gezeigt haben, sollten uns wert sein, sie zu hören, sie zu bedenken und ihren Rat nicht in den Wind zu schlagen.
Manes Sperber, der als früherer Kommunist weiß, wovon er redet, hat das freie Europa eindringlich ermahnt, dem Sowjet-Totalitarismus mit Stärke entgegenzutreten. Ich habe mich geschämt, daß der Vorsitzende des Deutschen Schriftstellerverbandes diesen Mann in dieser Art und Weise angegangen ist und ihm die Friedenliebe und die Friedenskraft bestritten hat. Eine Schande war das, was Herr Engelmann hier getan hat.
Der Beginn der Stationierung nach dem NATODoppelbeschluß hat nichts Entspannungsfeindliches an sich. Die Stationierung neutralisiert vielmehr einen eklatanten Spannungsakt der Sowjetunion. Die Stationierung schafft überhaupt erst die Basis, auf der die Lage in Europa entspannt werden kann.
Die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland für die NATO war eine Entscheidung für die Freiheit und für den Frieden. Die NATO — darauf hat Kollege Dregger bereits hingewiesen — ist die einzige zuverlässige Friedensorganisation unserer Zeit.
—
Frau Potthast [GRÜNE]: Todsicher!)Sie ist nicht nur ein Zweckverband, sondern eine Wertegemeinschaft freier Völker. Sie allein ist der Garant einer freiheitlichen Weltordnung, der großen politischen Aufgabe dieses Jahrhunderts.
Das westliche Bündnis ist ein Friedensinstrument. Sie können noch so hysterisch dazwischenrufen. Sie werden mich von meiner Überzeugung nicht abbringen.
Seien Sie davon versichert. Außerdem habe ich hier die Möglichkeit das Mikrophon zu benutzen, und werde mich wesentlich besser durchsetzen als Sie.
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2372 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. Waigel— Ja, das gilt insbesondere für Sie! Das sieht man Ihnen auch an.
Die Gründung der NATO, ihre Charta und der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland dienen allein dazu, die Freiheit gegenüber dem kommunistischen Osten zu sichern. Ziel des Bündnisses ist die Abwehr eines möglichen Angriffs und die Verteidigung demokratischer Freiheiten in den westlichen Staaten. Die Mitglieder des Bündnisses sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechtes beruhen, zu gewährleisten.
Ich wünschte mir, alle Friedensdemonstranten würden sich diese Charta, die durch die Planung und die Art der Durchführung der Verteidigung der NATO unter Beweis gestellt wird, zu Gemüte führen. Denn das ist eine friedensliebende und eine friedensstiftende Grundhaltung, zu der wir uns bekennen.
Wir leben an der Trennungslinie, die Deutschland und Europa teilt. Wir leben an der Nahtstelle, an der sich Freiheit und Unfreiheit gegenüberstehen. Ein Kompromiß zwischen Freiheit und Unfreiheit ist nicht denkbar. Jede Zwischenlösung geht zu Lasten unserer Wertordnung. Und das ist es, was im Grund das Konzept des Kollegen Bahr „Wandel durch Annäherung" undurchführbar und gefährlich macht.
Ein menschenverachtender Friedhofsfrieden ist nicht unser Frieden. Er ist nicht der Friede, den die Völker wollen.
— Wir wollen den Atomkrieg verhindern und können es durch unsere Strategie, während Sie sich dem Unrecht ausliefern würden. Das unterscheidet uns von Ihnen.
— „Wie wollen Sie ihn denn verhindern?", werde ich von hier gefragt. Mit Sicherheit nicht, wenn Herr Börner und andere Leute in der SPD mit Ihnen eine Koalition bilden würden. Dann ließe sich der Frieden nicht gewährleisten; da bin ich ganz sicher.
Freiheit und Frieden gehören zusammen. Carl Friedrich von Weizsäcker weist zu Recht darauf hin, daß die in kommunistisch regierten Ländern herrschende Unfreiheit und das Streben nach Weltherrschaft keine Entartungserscheinungen, sondern unvermeidliche Wesensmerkmale des kommunistischen Systems sind. Wer daher mit den Kommunisten für den Frieden demonstriert, der sollte sich genau überlegen, daß die Unfreiheit der kommunistischen Idee inhärent ist und daß er sich die falschen Bundesgenossen aussucht.Freiheit verlangt inneren Frieden. Und Voraussetzungen dafür sind die Einhaltung des Rechts, die Anerkennung der Menschenwürde, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Glaubens- und Gewissensfreiheit und das Recht der freien Meinungsäußerung. Daran orientieren sich die Staaten des freien Westens. In den totalitären Systemen des Kommunismus dient die Politik nicht den Menschen, sondern der Mensch wird zum Sklaven der politischen Zielsetzung gemacht. Wir haben daher nur die Wahl zwischen Frieden und Freiheit oder Unterwerfung unter kommunistischer Herrschaft. Wer das letztere hinnimmt, verschließt die Augen davor, wie entwürdigend und wie unmenschlich das Leben unter kommunistischer Diktatur ist.Garant für die europäische Freiheit sind der Selbstbehauptungswille Europas und das Bündnis mit Amerika. Und deshalb ist es das Ziel der Sowjetunion, Europa von den Vereinigten Staaten abzutrennen. Bis zur Hegemonie der Sowjetunion über Westeuropa wäre es dann nur noch ein kleiner Schritt.Die Führer im Kreml wissen genau um den absolut defensiven Charakter der NATO. Stärke und Bewaffnung der NATO-Streitkräfte erlauben keinen Angriff auf den Warschauer Pakt. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gegen manche Verleumdung und Unterstellung die „Neue Züricher Zeitung" wörtlich:Das in Deutschland ab und zu auftauchende Argument, damals habe im Weißen Haus ein Mann gewohnt, der der Detente, der Entspannung, verpflichtet gewesen sei, während heute ein nach atomarer Überlegenheit strebender Präsident die Geschicke der Vereinigten Staaten lenke, kann an Verlogenheit nicht überboten werden.
Natürlich stehen amerikanische Truppen und Waffen nicht nur den Europäern zuliebe am Rhein. Ebenso natürlich ist es aber, daß die Großmacht ohne Stationierung ungleich sicherer weiterleben könnte als Westeuropa.
Darum steckt hinter den Angriffen auf den NATO-Doppelbeschluß so viel Unredlichkeit. Der NATO-Doppelbeschluß war das Eingeständmis des Scheiterns einer verfehlten Sicherheitspolitik. Die sowjetische Expansion und Hochrüstung war jahrelang übersehen, wegbeschworen und geleugnet worden. Mit den SS-20-Raketen kam dann die Stunde der Wahrheit. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, die Bundesregierung aus SPD und FDP, die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2373
Dr. Waigelund, so schien es zumindest, auch die der SPD sprachen sich für den NATO-Doppelbeschluß als die beste Lösung aus.Doch die SPD war Gefangener ihrer eigenen Entspannungsillusion geblieben. Sie war nicht mehr in der Lage, umzudenken. Sie hat es nur über kurze Zeit hinweg freudlos getan, um den Kanzler an der Macht zu halten. Willy Brandt hat dies auf seine Art und Weise vor einigen Monaten klar zum Ausdruck gebracht. Die Kompromißformel, die Helmut Schmidt auf den Parteitagen erstritt, wurde immer fadenscheiniger. Nicht zuletzt über dem NATO-Doppelbeschluß zersprang die Regierung Schmidt, und die SPD konnte nun ihren Aversionen gegen das Sicherheitskonzept freien Raum lassen. Die SPD hat — das ist ein schwerer Vorwurf an sie — den Bürgern jahrelang etwas vorgemacht.
Ja, selbst nach dem Regierungswechsel und im Wahlkampf wurde der Offenbarungseid über die wirklichen Absichten immer noch nicht geleistet, obwohl von Anfang an feststand, daß die SPD den ganzen Doppelbeschluß, d. h. auch den Stationierungsteil, unter keinen Umständen akzeptieren würde.Heute stehen wir wieder einmal vor der Versicherung des Oppositionsführers, das Nein der SPD zur Stationierung taste die Mitgliedschaft in der NATO keinesfalls an; auch das Bekenntnis zur Bundeswehr darf nicht fehlen. Nur, Herr Kollege Vogel, was sollen diese Treuebekenntnisse angesichts des schrittweisen Zurückgehens — immer mehr — von Ihrer Position? Sie gehen ja heute hinter die Sicherheitspolitik der 50er Jahre zurück, die Sie mit dem Godesberger Programm zu überwinden hofften.
Meine Damen und Herren, wir haben noch gut in Erinnerung, wie die Atomtod-Hysterie
damals, 1958 gepflegt wurde — auch vom damaligen Oppositionsredner Helmut Schmidt —, wie wir damals als Raketen-Christen und manches mehr verunglimpft wurden.
— Herr Conradi, ich hätte von Ihnen, der ich Sie als aufrechten und anständigen Linken respektiere, nicht erwartet, daß Sie sagen, es stimme auch heute noch, daß wir Raketen-Christen seien.
— Wir sind heute schon so weit, daß es, wenn man einem Mann der anderen Seite persönlichen Respekt bekundet, zu Hohn und Zynismus führt — ein trauriger Niedergang der politischen Kultur in Ihren Reihen. —
Sie gehen wieder hinter die Namen zurück, die eine glaubwürdige Verteidigungs- und Außenpolitik verkörperten: Fritz Erler, Georg Leber und Helmut Schmidt. Es drängt sich der Verdacht auf, daß Godesberg nur ein Intermezzo war, aus bloßem Parteikalkül geboren, um an die Macht zu kommen.
Und: Es ist nicht zufällig, daß mit dem Abtreten von Herbert Wehner, Georg Leber und Helmut Schmidt auch die Aufgabe eines realistischen sicherheitspolitischen Konzepts der SPD zusammenfällt.Geradezu tragisch muten die Versuche derjenigen an, die sich selber treu bleiben wollen. Ich weiß, daß ich ihnen zwar keinen Dienst erweise, wenn man sie nennt, aber es bleibt ein Stück Respekt, daß einige von ihnen nicht bereit sind, diesen opportunistischen Kurs mitzugehen, an dessen Spitze immer wieder Ihr neuer Fraktionsvorsitzender Vogel gestanden hat und steht.
Meine Damen und Herren, wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß diese Stationierung auch moralisch, ethisch gerechtfertigt ist.
— Ihre Moral, Ihre Ethik ist mit Sicherheit nicht die unsere; das gebe ich Ihnen gerne zu. —
Der Friede, den die Politiker der Bundesrepublik Deutschland seit deren Gründung erfolgreich wahren konnten, beruht auf Gerechtigkeit, Interessenausgleich, Achtung der Menschenrechte und der Rechte der Völker. Friede beruht aber auch auf stabilem Gleichgewicht und Machtausgleich. Im Zeitalter der Atomwaffen beruht der Friede auch auf einem annähernden militärischen Gleichgewicht der atomaren Abschreckung, das Waffeneinsatz unmöglich macht.Der Schutz der Freiheit, das Recht auf Verteidigung stehen auch im Einklang mit dem christlichen Glauben. Gott gebietet uns Nächstenliebe. Nächstenliebe ist Verständnis für den Nächsten, Hinwendung zum Nächsten, Einsatz für den Nächsten, aber auch Schutz des Nächsten. Die Bibel gebietet — —
— Wenn Ihnen schlecht wird, gehen Sie raus!
Gustav Heinemann hat dies als Bundespräsident so ausgedrückt: Es ist kein Widerspruch, Freundschaft zu suchen und sich vor Feindschaft zu schützen.Es ist Mode geworden, unter viel publizistischem Beifall die Bergpredigt für die totale Wehrlosigkeit
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2374 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. Waigelin Anspruch zu nehmen. Das ist unzulässig. Martin Luther hat in einer Randbemerkung zur Bergpredigt unmißverständlich festgestellt: „In diesem Kapitel redet Christus nicht von dem Amt oder Regiment weltlicher Obrigkeit, sondern lehret seine Christen ein recht Leben für Gott im Geist."Es besteht seit jeher Übereinstimmung darin, daß die Bergpredigt das gesamte menschliche Leben des einzelnen prägen muß, daß sie aber keine Begründung für ein pazifistisch-politisches Programm sein kann. Überhaupt ist heute jeder Versuch, Bibelansätze unmittelbar in direkte Handlungsanweisungen umzusetzen, ein Rückschritt hinter das, was seit langem an Bibelexegese und -hermeneutik geleistet worden ist. Auch das haben die Bischöfe in ihrem Hirtenwort eindeutig klargestellt. Ich meine auch, wir sollten Respekt vor einem unabhängigen Wissenschaftler wie Professor Hättich zeigen, der in einer bemerkenswerten Schrift zu diesem Mißbrauch der Bergpredigt hingewiesen und Stellung genommen hat.
Die direkte Übertragung der Bergpredigt in die Politik zerstört sogar den Sinn der Sendung Jesu. Denn dadurch kommt es zu einer Vermischung von Gottesreich und Weltreich, die von Jesus in eindeutiger Klarheit verworfen wird. Jede Politisierung der Bergpredigt führt letztlich zu ihrer Verfälschung. Die Vernebelung des Evangeliums läßt den christlichen Glauben dann nur noch zu einem diesseitigen Aktionismus herunterkommen.Auf die Frage der Atomwaffen gibt die christliche Botschaft prinzipiell keine eindeutige Antwort.
Die US-amerikanischen Bischöfe haben zwar bereits jede Androhung auch nur des defensiven Einsatzes von Atomwaffen verurteilt. Dieser Haltung aber stehen die Aussagen der Päpste des Atomzeitalters entgegen, ebenso die Stellungnahme der deutschen und jüngst der französischen Bischöfe, die jene amerikanische Haltung nicht teilen. Die Päpste und die deutschen Bischöfe tolerieren die Abschrekung, auch die atomare, insbesondere wenn und solange totalitäre Systeme das Leben und die Freiheit von Nationen und Menschen bedrohen. Die Päpste und Bischöfe tolerieren ein Gleichgewicht des Schreckens auf möglichst niederem Niveau — nicht als Dauerlösung, das wissen wir, aber so lange, wie wir in Wort und Tat die Massenvernichtungswaffen nicht aus der Welt schaffen können und solange wir sie mit unserem politischen Ziel aus der Welt schaffen wollen. Und das tun wir nun wahrlich. Der NATO-Doppelbeschluß ist ein Beispiel unseres wahren Wortes und unserer Fakten.Die Vertreter der sogenannten Friedensbewegung sind bis heute nicht in der Lage, zu sagen, welchen Frieden sie wollen und wie er konkret politisch gestaltet werden könnte.
Niemand hat bisher erklären können, wie man dieRüstung vermindert, ohne daß wir die Verteidigungsfähigkeit verlieren. Zur Gestaltung der Zukunft hat die sogenannte Friedensbewegung keinen Beitrag geleistet.
In allen Wahlen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, zuletzt am 6. März dieses Jahres, hat sich die überwältigende Mehrheit der Bürger für die Friedenspolitik der Bundesrepublik Deutschland entschieden. Diese Bürger haben sich für den Frieden entschieden. Sie sind die Bewegung, die unseren Frieden erhält.
Herr Kollege Dregger hat es bereits vorher zum Ausdruck gebracht, daß sogar die Konstruktion, die politische Vorgabe für die Pershing II genauso gestaltet wurde, daß sie nicht als ein Angriffsinstrument gewertet werden kann. Wie kann man eigentlich seine Friedensliebe stärker unter Beweis stellen?Ich möchte in diesem Zusammenhang auch den fünf Millionen Männern danken, die ihren Wehrdienst geleistet haben und sich damit an einer aktiven Friedenspolitik beteiligt haben.
Sie sind eine Friedensbewegung unserer Demokratie. Vielen von ihnen ist es nicht leicht gefallen. Sie haben dafür Opfer an Zeit bringen müssen, materielle Einbußen erlitten, und nicht wenige haben bei Unfällen Schaden an ihrer Gesundheit genommen. Ich denke dabei auch an meinen Kollegen Fritz Wittmann, der heute nach einer schweren Verletzung wieder da ist.
Alle haben demokratischen Mut bewiesen und ein aktives Zeugnis für den real existierenden Frieden abgegeben.Angst ist ein schlechter Ratgeber. Nun gehört Angst zweifellos zum persönlichen Leben. Sie ist eine Erfahrung der Krise und der Grenze. Es hat noch nie eine Welt, ein Leben ohne Risiko gegeben.
Wer ein Leben ohne Risiko verspricht, wer verspricht, alle Angst abzuschaffen, betreibt sprachlich und politisch Falschmünzerei.
— Nein, das haben wir nicht. Wir schaffen genau das Risiko des Massenmords ab.
Die Bereitschaft, persönliches Matyrium auf sich zu nehmen, verdient Achtung und Anerkennung. Es ist aber unzulässig, jene Opferbereitschaft auch von der Allgemeinheit zu fordern.
Diese Einsicht erfordert von uns allen Gelassenheitund Stärke. Dann brauchen wir, wie es der vor
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2375
Dr. Waigelkurzem verstorbene evangelische Theologe Professor Dr. Kasch ausgedrückt hat, keine Friedensbewegungen, die die Verantwortlichen diskriminieren und auf den Straßen Abrüstungsplakate herumtragen. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaft, die bereit ist, die moralischen Risiken der Sicherung des Friedens, die für sie eingegangen werden, moralisch mitzutragen.
Wir stimmen dem Wort der deutschen Bischöfe zu, daß der Friedensauftrag der Christen auch die Politik betrifft. Im Namen Jesu haben Christen um der Nächstenliebe willen zugunsten von Armen, Schutzbedürftigen und Entrechteten deren Unterdrückern wirksam entgegenzutreten. Auch die nukleare Bewaffnung wird in unserer politischen Wirklichkeit vorübergehend toleriert, wenn die Frist genutzt wird, alle Wege zum gerechten Frieden zu gehen.
Friedensförderung verlangt zuerst die Achtung der Menschenrechte als Grundrechte jeder Gesellschaft. Zum Frieden gehören die Personenwürde als Grundlage jeder Rechtsordnung und der Zusammenhang von Recht, Freiheit und Gleichwertigkeit aller Menschen.
— Auch in der Dritten Welt. Jede Friedensordnung beruht letztlich auf dem begründeten Vertrauen in die friedensstiftende Kraft des Rechts. Unsere Friedenspolitik entspricht nach strenger Prüfung diesen strengen Bedingungen des Hirtenworts der deutschen Bischöfe.Auch die Heidelberger Thesen aus den Jahren 1957/58 halten den Raum offen für die Begründung der atomaren Bewaffnung. In der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Oktober 1981 heißt es:Die Kirche muß auch heute, 22 Jahre nach den Heidelberger Thesen, die Beteiligung am Versuch, einen Frieden in Freiheit durch Atomwaffen zu sichern, weiterhin als eine für Christen noch mögliche Handlungsweise anerkennen.Der evangelische Theologe Professor Trutz Rendtorff weist einen politisch gangbaren Weg von der Utopie zur realen Politik:Ohne Rüstung zu leben, ist ein gutes und wertvolles Ziel, für das wir auch gute und erkennbare Beispiele haben. Wir brauchen keine Hochrüstung gegenüber Holland, Belgien, Frankreich und anderen Ländern. Wir kennen also die Bedingungen, unter denen die Formel „Ohne Rüstung leben" in dieser Welt einen Ort hat. Wir kennen den Weg, den man dafür gehen muß, die Bündnisfähigkeit aufzubauen und in den politischen Bedingungen so etwas wie Bündnistragfähigkeit zu realisieren.Meine Damen und Herren, nichts anderes tun wir mit unserer Politik.In der These 11 der Heidelberger Thesen heißt es: „Nicht jeder muß dasselbe tun, aber jeder muß wissen, was er tut." Dieser Satz führt zu den personalen Verantwortung des Politikers, des Abgeordneten, gerade in dieser Entscheidung.Politisches Handeln bedeutet unter den gegebenen Bedingungen, die wir uns nicht ausgesucht haben, etwas Sinnvolles zu tun, nämlich das unter diesen Bedingungen Bestmögliche. Zum sinnvollen Handeln gehört ein positives Verhältnis zur Wirklichkeit, die den Rahmen unseres Handelns abgibt.
Dazu bedarf es auch der Gelassenheit, d. h. der Haltung dessen, der das, was er nicht ändern kann, als sinnvolle Grenze seines Handelns in sein Wollen aufnimmt, Gelassenheit bedeutet nicht Fatalismus oder Resignation.Angst ist das Kennwort des neuen Existentialismus. Angst ist zum bewegenden Grund der Auseinandersetzung um den Frieden geworden. Angst gehört zur Grenzerfahrung des Lebens.
Angst führt aber zum Wunschdenken in der Politik. Man stellt sich vor, es wäre Krieg, aber keiner geht hin.
In diesem Fall macht Angst blind und führt zur wunschhaften Selbstüberschätzung.Angstfreie Gelassenheit besteht nach christlicher Überzeugung darin, daß Verlauf und Ziel der Geschichte in Gottes und nicht in Menschenhand liegen. Wer aus lähmender Furcht heraus im resignativen Nichthandeln verharrt,
verhält sich verantwortungslos und wird seinem Mandat nicht gerecht.Joseph Bernhart, mein schwäbischer Landsmann, ein Theologe und Philosoph, stellt den Christen in die Gewißheit eines tragischen Weltseins, aber auch in die Hoffnung der Erlösung, wenn er Johannes 16,33 zitiert: „In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden." Damit wird Politik Maßstäben unterworfen, die sie sich selbst nicht zu geben vermag. Unter dieser Zusage steht auch der Dienst der Politik an den Menschen.Mit immer weniger Waffen, in Freiheit Frieden sichern, den Frieden schaffen. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
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2376 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Verzeihung, Herr Abgeordneter, ich möchte die Saalordner bitten, die Plakate zu entfernen.
Mein Freund HansJochen Vogel hat angekündigt, daß ich meine abweichende Meinung vortragen würde. Meine Meinung weicht auch deutlich ab von der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers. Und Herr Kollege Dregger braucht keine Angst zu haben, daß mich dabei die Kraft verließe. Allerdings, Herr Kollege Dregger, werde ich mich bemühen, nicht in schwarz-weiß zu malen, nicht in gut oder böse. Ich hoffe, das Haus hat noch ein Ohr für einige Zwischentöne.Ich möchte im Vorwege versuchen, ein Mißverständnis auszuschließen, und wende mich deshalb vorweg an viele Menschen in der Friedensbewegung, die uns zuhören, besonders an die jungen.Die bewegende Kraft, die in der Unruhe und in der gemeinschaftlich erlebten Unruhe vieler unserer Mitbürger erkennbar geworden ist, muß als Ansporn und auch als moralische Verpflichtung verstanden werden. Es handelt sich um eine große und positive moralische Kraft.
Und wir müssen uns der Gefahr bewußt sein, daß die von den Schrecken eines nuklearen Holocaust geängstigten Bürger bald nicht mehr verstehen können, warum sich Verhandlungen über praktische Abrüstungsschritte über endlose Jahre hinziehen.Dies sind Worte, die ich vor anderthalb Jahren vor den Vereinten Nationen im Zuge einer langen Rede gesprochen habe. Ich kann meine Meinung heute nicht ändern.Ich habe in diesem Jahre viele Male vielen amerikanischen Zuhörern gesagt, welch große Belastungen mein Volk im Geiste der Aufrechterhaltung des Friedens in Europa auf sich genommen hat. Ich habe die Bundesrepublik Deutschland verglichen mit dem Staate Oregon. Sie haben beide ungefähr dieselbe Größe, was das Territorium angeht. In Oregon allerdings leben weniger als 3 Millionen Menschen, in der Bundesrepublik über 60 Millionen Einwohner. Dazu kommen hier bei uns 500 000 unserer eigenen Soldaten, eine amerikanische Armee und Luftwaffe, eine französische, eine englische, ein holländisches Armeekorps, belgische Truppen, kanadische Truppen, alle diese zum großen Teil unter ausländischen Befehlshabern und unter ausländischem Oberbefehl, dazu natürlich die Wehrpflicht, die wir nicht aufgegeben haben, als andere es taten. Und dazu rund 5000 nukleare Waffen — auf diesem eng besiedelten Gebiet. Und viele von uns Deutschen — habe ich hinzugefügt — glauben — und wohl nicht zu Unrecht —, daß diese 5000 Waffen gleichzeitig 5000 Ziele für sowjetische Atomraketen sein könnten. Und nun sollen noch einmal einige nukleare Waffen dazukommen. — Dies alles gibt es in Oregon nicht und gibt es überhaupt nirgendwo innerhalb des westlichen Bündnisses.Ich darf Sie versichern, meine Damen und Herren, nicht nur die Bürger Oregons, sondern alle Zuhörer in den Vereinigten Staaten von Amerika, haben verstanden, daß die zusätzlichen Waffen auf deutschem Boden hier niemals Begeisterung auslösen können und daß die deutsche Friedensbewegung deshalb nur allzu verständlich ist.
Ich habe also in vielen Reden und Vorträgen vor ungezählten amerikanischen Bürgerinnen und Bürgern um Verständnis für die deutsche Friedensbewegung geworben und habe auch Verständnis gefunden. Ich habe allerdings stets und begründet hinzugefügt, warum ich selber zu anderen Ergebnissen komme.Ich weiß im übrigen, daß auch Menschen in der DDR und in der Tschechoslowakei Angst haben. Sie wollen nicht demnächst sowjetische nukleare SS21-Raketen und SS-22-Raketen bei sich stationiert sehen, die dann ihrerseits westeuropäische Hauptstädte in Schutt und Asche legen könnten. Sie wollen keine zusätzlichen sowjetischen Waffen.
Das gilt auch für Ungarn, wo ich jüngst war und mir einen eigenen Eindruck verschaffen konnte. Das gilt für Bulgarien. Je mehr sich die beiden Weltmächte konfrontativ gebärden, um so näher rücken die Menschen im östlichen Teil Mitteleuropas und im westlichen Teil zueinander und um so näher kommen sich die Deutschen in beiden Teilen des Vaterlandes.
Es sind aber nicht so sehr Rüstung und Überrüstung und Nachrüstung und Nachnachrüstung, die den Frieden gefährden. Hitler war rüstungsmäßig und den Zahlen nach der Sowjetunion eindeutig unterlegen, als er seinen Vertrag mit Stalin brach und die Sowjetunion angriff. Weniger Rüstung vergrößert nicht notwendigerweise die Chance des Friedens.Sondern nur durch eine Politik des gegenseitigen Verstehenwollens,
durch eine Politik des tatsächlichen gegenseitigen Verstehens, durch eine Politik der Partnerschaft — der Partnerschaft zur Friedenssicherung, jawohl! — nur dadurch wird die Friedenschance vergrößert und der Krieg vermieden.Dazu gehört dann auch, daß wir das Vertrauen auch innerhalb des Westens nicht gefährden oder gar zerstören. Wir dürfen auch innerhalb des Westens keine Glaubenskriege gegeneinander führen. Ich jedenfalls kann in keinem Fall eine idealistische Moralität akzeptieren, die Menschen mit ande-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2377
Schmidt
rer, mit begründeter anderer Meinung als moralisch zweitklassig herabsetzt oder gar bekämpft.
Ich weiß: ideale, absolut gesetzte Ziele, absolut gesetzte ideale Lösungen, das ist deutsche Tradition. Aber idealistischer Wille zum Frieden ist allein noch überhaupt kein Rezept zum Frieden, ist allein noch keine Politik zum Frieden, sondern die Leidenschaft zum Frieden muß mit der Leidenschaft zur politischen Vernunft gekoppelt werden,
muß mit dem Willen zum Kompromiß gekoppelt werden.
Ich weiß, daß Kompromisse nie — fast nie — idealistischer Zielsetzung entsprechen können. Unsere Jugend darf aber nicht dazu verführt werden, die Menschen auf der Welt in Freunde oder Feinde einzuteilen. Es ist schon schlimm genug, wenn in anderen Staaten der Welt, in großen Staaten der Welt, die Menschen in weiß oder schwarz eingeteilt werden, in Freund oder Feind. Wir dürfen daran keinen Anteil haben.
Hier ist gegenwärtig viel von Widerstand die Rede. Das Wort „Widerstand" ist in Deutschland vornehmlich verbunden mit dem mit Risiko für das eigene Leben verknüpften Versuch, Hitler zu bekämpfen, oder ihn zu beseitigen. In diesem Sinne sollte wirklich heute von Widerstand gegen den Beschluß, den diese Bundestagsmehrheit morgen fassen will, nicht gesprochen werden.
Auch im Sinne von Art. 20 Abs. 4 unseres Grundgesetzes kann keineswegs von einem Recht auf Widerstand, auf Blockade oder Belagerung des Bundestags geredet werden. Der Bundestag hat vielmehr seine verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten ungehindert wahrzunehmen.
Der von der CDU/CSU und der FDP beabsichtigte Beschluß, deren Begründungen mir zum großen Teil wirklich nicht gefallen haben, greift nicht die verfassungsmäßige Ordnung oder die Demokratie schlechthin oder die unabhängige Rechtsprechung an. Vielmehr kann ja eine andere verfassungsmäßige Mehrheit später durchaus andere Beschlüsse fassen. Ebenso bleiben die Befugnisse des Verfassungsgerichts in Karlsruhe völlig unberührt.Wir Älteren sind verpflichtet, den Jüngeren zu sagen: Demokratische Mehrheitsentscheidungen können durchaus auch falsch sein. Wir sind auch verpflichtet, den Jüngeren zu sagen, daß sich demokratische Bewegungen irren können. Wir alle begingen einen Irrtum und einen Fehler, wenn wir nicht erkennten: Die Kriegsgefahr, von der die Rede ist — wenn es sie denn gibt, dann geht sie aus von dem heute kaum noch gebremsten Konkurrenzverhältnis zwischen zwei Gesellschafts- und Staatssystemen, sie geht aus von konfrontativen Reden und Gebärden auf beiden Seiten.
Ich zögere nicht zu sagen, daß nicht nur in Moskau, sondern auch in Washington in den letzten Jahren einige schlimme Reden gehalten und schlimme Drohungen ausgestoßen worden sind.Ich denke, ich verstehe den Urgrund der Angst sehr wohl, denn die verbale Konfrontation zwischen Ost und West scheint eben nicht nur Konfliktbereitschaft, sondern sogar Kriegsbereitschaft zu signalisieren. In Wahrheit allerdings ist diese Kriegsbereitschaft auf keiner der beiden Seiten vorhanden, weder im Westen noch im Osten. Im Gegenteil, bisher hat uns Europäer das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens davor bewahrt, in einen der vielen, der ungezählten Kriege hineingezogen zu Weden, die seit 1945 jeden Tag Menschen haben sterben lassen, die insgesamt viele Millionen Menschen haben sterben lassen.
Ich verstehe als Urgrund der Angst erstens den zunehmenden — mit dem Generationswechsel immer mehr zunehmenden — Verlust an nationaler Identität durch die Teilung unserer Nation.
Zweitens verstehe ich als Urgrund den mir sehr sympatischen Willen, die Fehler der Urgroßväter und Großväter nicht zu wiederholen, die den Ersten Weltkrieg nicht haben verhindern können, und die Fehler der Großväter und Väter nicht zu wiederholen, die den Zweiten Weltkrieg nicht haben verhindern können.
Trotzdem müssen die Redner der GRÜNEN oder der Friedensbewegung sich selbst zur Rationalität bringen oder zwingen. Meine Damen und Herren, unsere europäischen Nachbarn, die im Westen und die im Osten, dürfen von uns nicht in die Lage gebracht werden, uns Deutsche abermals als unberechenbar oder unzuverlässig anzusehen. Dann begänne die wirkliche Gefahr.
Ebenso wenig dürfen wir in die Lage kommen, uns — wenn auch ganz gewiß ungewollt — sowjetischen Wünschen anzupassen. Es sind ja nicht amerikanische Friedensforscher, die innerhalb ihres Heimatlandes in eine bestimmte Stadt — weit weg von der Hauptstadt — verbannt worden oder ins Gefängnis geworfen worden sind,
sondern es sind vielmehr russische Menschen inihrem eigenen Vaterland und in anderen osteuropäischen Vaterländern, weil sie von der Meinung
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der sowjetischen Führung abweichen. Es ist nicht der Westen, sondern der Osten, der z. B. die Demonstrationsfreiheit unterbindet.Was nun die Rüstungsbegrenzungsverhandlungen mit der Sowjetunion angeht, so stehe ich auf dem Standpunkt meines Freundes James Callaghan, der gesagt hat: Genauso wenig, wie ein Gewerkschafter dies bei Lohnverhandlungen tun würde, genauso wenig darf der Westen im Vorwege seine Karten oder seine Hebel aus der Hand geben.Als ich im Sommer 1980 in Moskau das versammelte Politbüro zu Verhandlungen über eurostrategische Waffen bewegte, habe ich nicht geblufft, sondern deutlich gemacht: Wenn Verhandlungen und Vertrag nicht erreichbar seien, dann würden nach der vorangegangenen weitgehenden Stationierung von sowjetischen SS-20-Raketen in Osteuropa auch amerikanische Stationierungen in Westeuropa unvermeidlich, und ich würde mich dann dafür einsetzen. — Ich habe meine Meinung nicht geändert.Mein erster Grund für die Stationierung heute ist: Die Bundesrepublik muß ihr Wort halten — trotz aller Enttäuschungen —,
Wort halten sowohl gegenüber unseren Verbündeten als auch gegenüber der Sowjetmacht.Der zweite Grund: Das politische Gleichgewicht würde nachhaltig gestört werden, wenn sich die Sowjetunion mit ihrer einseitigen, völlig unprovozierten Vorrüstung durchsetzte; denn eine tiefgreifende politische Krise unseres Bündnisses würde unvermeidlich.Ich habe den Völkern der Sowjetunion, ich habe der sowjetischen Führung niemals Kriegsabsichten unterstellt. Ich tue das auch heute ganz gewiß nicht. Aber ich habe immer wiederholt, daß von ihren beinahe 250 auf Westeuropa gerichteten neuen Mittelstreckenraketen — jede mit drei Sprengköpfen — und den weiteren über hundert, die auf die asiatischen Staaten gerichtet sind, eine schwere psychologisch-politische Bedrohung der Entschlußfreiheit von über 50 nicht-nuklearen Staaten der Welt ausgeht, Staaten, die im Schatten dieser Drohung leben müssen.Ich habe meinen sowjetischen Gesprächspartnern auch immer gesagt, es habe an der Spitze der Sowjetunion nicht nur kühle Schachspieler gegeben. Es hat auch z. B. Chruschtschow gegeben, der seinerzeit England und Frankreich mit seinen damaligen Raketen gedroht hat. Dergleichen könnte irgendwann in Zukunft wiederkehren,
z. B. bei Krisen innerhalb des Warschauer Pakts, bei Krisen im östlichen Mittelmeer, bei Krisen im mittleren Osten, bei Krisen — ich sage es ganz leise, weil ich nichts herbeirufen möchte — um Berlin oder bei Krisen innerhalb des Westens. Ich habe nie am Friedenswillen der politischen Führung der Sowjetunion gezweifelt. Aber ich habe auch nie die Breschnew-Doktrin vergessen oder übersehen.
Der Doppelbeschluß basiert auf der gleichen, auf Friedenssicherung gerichteten Vernunft, die der seit Ende 1967 für das ganze Bündnis geltenden doppelten Gesamtstrategie unseres Bündnisses zugrunde liegt. Diese doppelte Philosophie der Gesamtstrategie, diese Doppelphilosophie à la Harmel, lautete, zusammengefaßt,zum einen: ausreichende politische Solidarität und militärische Stärke des Westens, um von Angriffen und politischer Nötigung abzuschrecken und um notfalls gemeinsam die Territorien der Bündnisgenossen zu verteidigen;und zum anderen: Bemühung um Fortschritte in Richtung auf Entspannung und dauerhafte Friedensordnung in Europa.Ich habe all die Schlüsselworte des damaligen Atlantikratsbeschlusses zitiert. Dies war übrigens die Geburtsstunde, in der Entspannung durch gemeinsamen Beschluß aller Bündnispartner in den Rang der Gesamtstrategie erhoben wurde.Der Doppelbeschluß zwölf Jahre später hat sich ganz ausdrücklich — man kann es nachlesen — auf diese doppelte Philosophie berufen.Herr Bundeskanzler, es wird Zeit, daß die gegenwärtige Bundesregierung im NATO-Rat Anfang kommenden Monats alle Bündnispartner erneut an diese Gesamtstrategie erinnert und sie erneut darauf festlegt.
Ich will einräumen: Auch bei mir gibt es durchaus Zweifel, die nachbleiben, nicht nur weil an der Spitze der Weltmächte Personen gewechselt haben und weiterhin wechseln werden, sondern auch deshalb, weil offensichtlich im Handeln von Politikern im Überschwang ihrer innenpolitischen Auseinandersetzungen auch dann die Rationalität verlorengehen kann, wenn es gar nicht gewollt ist.Es war z. B. irrational, daß die sowjetische Führung nach dem Abschuß des koreanischen Flugzeugs, der 250 Tote zur Folge hatte, erstens versucht hat, den Abschuß zu leugnen; zweitens, als das nicht mehr ging, daß die militärische Führung ihn sodann öffentlich gerechtfertigt hat; und drittens, als es gar nicht mehr anders ging, daß dann drei Wochen später auch die politische Führung, der so lange die Sprache verschlagen war, ihn gerechtfertigt hat.Ein Wort zum gegenwärtigen Verhandlungsstand in Genf. Die nervösen, sich gegenseitig widersprechenden Tatarenmeldungen über jüngste Bewegungen, aus Genf oder Moskau oder Washington, sind wohl zum überwiegenden Teil auf die Parteitage des letzten Wochenendes und auf die gegenwärtige Bundestagssitzung gezielt gewesen. Zeitweise schien es mir sogar so — aber ich bin dessen nicht sicher —, als ob auch die Bundesregierung einen Augenblick darauf hereingefallen wäre.
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Tatsache bleibt: Zum einen beharrt die sowjetische Seite nicht mehr auf 243 europäischen SS-20Raketen, jede mit drei Sprengköpfen, wohl aber beharrt sie auf mindestens 120 bis 140 dieser Waffen. Sie fordert aber immer noch, die USA sollten in Europa bei 0 Raketen und bei 0 Cruise Missiles bleiben.Zum anderen verlangen die Amerikaner nicht mehr länger, daß die Sowjets ihrerseits bei den SS20-Raketen wieder auf 0 gehen sollen; sie billigen den Sowjets offenbar heute 140 Stück zu, wobei mir unklar ist — ich kann mich nur aus Zeitungen informieren —, ob das für Europa oder für Europa und Asien zusammen gelten soll. Die Amerikaner verlangen nicht mehr länger, daß die Russen auf 0 gehen, sondern 140 werden ihnen zugebilligt; aber die Amerikaner verlangen für sich selbst ebenso 140 Mittelstreckenwaffen, darunter auch Pershing.Mit anderen Worten: Beide haben sich gegenüber ihren maximalen Ausgangspositionen wesentlich bewegt. Aber keine der beiden Seiten hat sich ausreichend bewegt; sie sind noch nicht zusammen. Übrigens ist der zweite Teil des heutigen Beschlußantrags von CDU/CSU und FDP schon aus diesem Grunde abzulehnen, weil dort behauptet wird, die USA und ihre Verbündeten hätten in Genf „größte Anstrengungen" gemacht. Keine der beiden Seiten hat bisher größte Anstrengungen gemacht!
Ich lehne Ihre Entschließung, Herr Dregger und Herr Mischnick, übrigens auch deshalb ab, weil sie jede klare Zurückweisung der Auffassung des Parteivorsitzenden der CSU vermissen läßt, wonach der Verhandlungsteil des Doppelbeschlusses von vornherein ein Geburtsfehler gewesen sei.
Wenn der erste Teil Ihrer Entschließung so interpretiert wird, wie es der Herr Kollege Waigel soeben getan hat, nämlich daß der Doppelbeschluß ein „Eingeständnis des Scheiterns der Politik der Entspannung" gewesen sei, dann tut es mir leid, daß der Herr Kollege Mischnick seinen Namen daruntergesetzt hat.
Es liegen also gegenwärtig — ich zitiere wörtlich — keine konkreten Verhandlungsergebnisse vor. Wohl aber gab es im Sommer des vorigen Jahres ein erstaunlich konkretes Sondierungsergebnis. Ich rede von dem berühmten Spaziergang im Walde. Danach sollten die Sowjets nur noch 75 dieser SS20-Raketen behalten, der Westen sollte ganz auf Raketen verzichten, wohl aber 75 Cruise Missiles aufstellen können.Beide Weltmächte haben diese sondierte Formel ihrer beiden Chefunterhändler abgelehnt. In meinen Augen war dies nach der ungeheuren und ungeheuer kostspieligen sowjetischen SS-20-Vorrüstung der zweite schwere Fehler der Sowjetunion. Wenn es stimmte, was sie behauptet, daß die amerikanischen Pershing eine besondere Gefährdung für sie darstellten, so hätte die Sowjetunion diese Formel annehmen müssen, und die Reduzierung ihrer eigenen Raketenzahl auf ganze 75 hätte ihr immer noch viel mehr dieser Raketen belassen, als sie etwa im Mai 1978 besaß, als der sowjetische Generalsekretär Breschnew hier in Bonn zu Besuch war und mir gegenüber feststellte, nach seiner Auffassung bestehe doch ein ungefähres Gleichgewicht. Ich habe dem damals widersprochen und wir haben seine Feststellung auch nicht gemeinsam niedergelegt. Wir haben vielmehr gemeinsam gesagt, es müsse ein ungefähres Gleichgewicht angestrebt werden. Das Ergebnis des Waldspaziergangs gestand ihnen ungefähr doppelt so viele SS-20-Raketen zu, wie Breschnew im Mai 1978 besessen hatte.Auch die Amerikaner haben durch die Ablehnung dieses Sondierungsergebnisses einen erheblichen Fehler gemacht. Beide Weltmächte mußten wissen und müssen weiterhin wissen, daß nur auf dem Kompromißwege ein Ergebnis erreicht werden kann. Die USA haben gleichzeitig noch einen zweiten Fehler begangen, der in meinen Augen sehr schwer wiegt, weil er das Verhältnis innerhalb unseres Bündnisses berührt. Sie haben die Verbündeten und die Stationierungsländer im Sommer 1982 weder von der Tatsache dieses Sondierungsergebnisses noch von der Ablehnung durch die USA informiert, noch haben sie die Verbündeten und die Stationierungsländer vor dieser Ablehnung konsultiert. Zum Beispiel habe ich in den restlichen zehn Wochen bis zur Amtsübergabe an Herrn Bundeskanzler Kohl von der ganzen Sache nichts gewußt.Ich will mich hier nicht weiterhin auf Schelte der Weltmächte einlassen. Wesentlich ist mir an dieser Stelle ein Vorwurf an die Bundesregierung. Ihnen, Herr Bundeskanzler, sind der Waldspaziergang und die Ablehnung der dort gefundenen Formel durch beide Weltmächte gleichfalls erst sehr verspätet bekanntgeworden. Ich denke aber, Sie hätten sodann energisch, tatkräftig, zugleich natürlich umsichtig reagieren müssen,
denn jene Formel lag doch im deutschen Interesse. Sie diente dem Gleichgewicht. Sie ließ die Bundesrepublik Deutschland nicht in eine Isolierung gegenüber sowjetischer Bedrohung geraten. Sie haben keine dringenden und drängenden, schon gar keine sichtbaren oder hörbaren Anstrengungen unternommen, keine Arbeitsbesuche zu diesem Thema, zunächst in Washington und dann in Moskau. Es gab keine Entschließungen des Bundestages oder der Mehrheit im Bundestag, keine Einberufung des Ministerrats, keine Einschaltung der europäischen Verbündeten. Ihre Diplomatie hätte auf Hochtouren laufen müssen!
Die Rücksicht auf unseren Hauptverbündeten, die USA, hätte Sie davon nicht abhalten brauchen. Als ich z. B. im Sommer 1980
— es wird j a wohl die Geschichte hier vorgetragen werden dürfen, Herr Kollege —
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die sowjetische Führung zu Verhandlungsbereitschaft bewegen konnte, geschah das nach Vorbereitung durch den damaligen französischen Präsidenten Giscard d'Estaing, der Herrn Breschnew wenige Wochen vorher in Warschau getroffen hatte. Wir haben dabei beide — sowohl Giscard wie der deutsche Bundeskanzler — keine übertriebenen Rücksichten auf amerikanisches Abraten von solchen Treffen genommen. Das brauchten wir auch nicht.
Ich anerkenne Ihren guten Willen zur Stetigkeit, zur Kontinuität. Je weniger Sie aber handeln, desto schwächer wird diese Kontinuität
und desto schwächer wird die deutsche Position sowohl in Washington als auch in Moskau.
Sie berufen sich gern auf Altbundeskanzler Adenauer. Sie haben es heute wieder getan. Adenauer allerdings hatte den Mut zur Auseinandersetzung mit zwei amerikanischen Präsidenten. Bundeskanzler Erhard hatte jedenfalls den Instinkt zu solcher Auseinandersetzung, wenngleich er sich bei dem Besuch auf der Ranch in Texas nicht hat durchsetzen können.
Bundeskanzler Brandt hat Präsident Nixon für die Zustimmung zu unserer Ostpolitik gewinnen können, und das war weiß Gott nicht einfach.
Ehe Sie sich auf solchen Versuch einlassen, Herr Bundeskanzler, sollten Sie lesen, woran Sie sich wahrscheinlich ohnedies erinnern, was Bundeskanzler Adenauer — er war damals schon außer Diensten — auf dem CDU-Parteitag 1966 über den Umgang mit der Sowjetunion gesagt hat. Es war in einer Zeit, in der der Außenminister, der von mir sehr geschätzte Kollege Gerhard Schröder, den Mut zur Friedensnote hatte. Dies wurde ja, wenn man es geschichtlich betrachtet, der erste, noch sehr bescheidene Anfang dessen, was später an Ostpolitik entfaltet worden ist.Herr Bundeskanzler, in alle Welt zu reisen, fast überall mit der Versicherung voller Übereinstimmung zurückzukehren ist allein noch kein außenpolitisches Konzept.
Wir wollen unser deutsches Gewicht keineswegs überschätzen — wir stehen ja auch keineswegs in der Mitte; wir stehen auf einer Seite, auf der westlichen Seite —, aber Sie sind im Begriff, die Spielräume deutscher Politik zu vergeben. Sie müssen nicht Makler sein, schon gar nicht Parlamentär; aber Deutschland erwartet von Ihnen, daß Sie handeln! Es scheint mir angesichts der bisherigen Versäumnisse nicht möglich, Ihnen heute oder morgen eine Blankovollmacht zu geben.
Sie geben viel auf Adenauer. Adenauer hat am Ende seines Lebens — nicht nur einmal — die Sowjetunion — ich zitiere ihn — „in die Reihe der Völker eingereiht, die den Frieden wollen". Ich finde, man muß den Friedenswillen der Russen nicht nur ernst nehmen, sondern man muß die Russen beim Wort nehmen. Übrigens: Man soll auch Walter Scheel ernst nehmen, der als Bundespräsident gesagt hat: Die Politik der Entspannung muß sich darin bewähren, das Gespräch miteinander — mit Moskau, ist hier gemeint — auch dort zu suchen und fortzusetzen, wo gegensätzliche Auffassungen und Interessen aufeinanderstoßen.Wir müssen wissen: Die Russen haben auch ihrerseits Angst. Die Russen haben Angst vor den Chinesen, vor der Volksrepublik China. Sie haben Angst vor Amerika. Sie haben auch — mir ist dies durchaus verständlich — Angst vor den Deutschen.
Sie wollen gewiß den Frieden, aber sie bleiben trotzdem eine expansionistische Macht. Ich denke an ihre Unterstützung des vietnamesischen Imperialismus in Kambodscha oder Laos, ich denke an Südjemen oder Äthiopien, Kuba oder Angola, ich denke an den Krieg in Afghanistan. Sie bleiben eine expansionistische Macht. Manchen Handlungsweisen und Aggressionen, die ich soeben genannt habe, liegt ein weit übertriebener Einkreisungskomplex und Sicherheitskomplex zugrunde. Die Drohung, in Mitteleuropa nunmehr SS 22 zu stationieren und damit nicht nur Bonn, sondern auch Paris und London und Den Haag und Brüssel und Kopenhagen zu bedrohen, entspringt diesem völlig übertriebenen Sicherheitskomplex.Der Komplex ist mir nach den unvorstellbaren Leiden, die die Völker Rußlands im Zweiten Weltkrieg erlitten haben, durchaus begreiflich, aber er ist und bleibt irrational. Das Streben der Sowjetunion nach absoluter Sicherheit gegenüber jedermanp in der Welt und gegenüber allen anderen zusammen führt zu immer größerer Unsicherheit für die übrigen.Ich habe von 1969 bis 1982 sehr, sehr viele Gespräche mit Herrn Breschnew, Herrn Kossygin, Herrn Tichonow, Herrn Gromyko und Herrn Ustinow gehabt. Ich weiß, daß die Russen rationale Gegenvorstellungen verstehen, schließlich sind die meisten von ihnen wirklich Schachspieler. Aber wenn Adenauer recht hatte, daß sie vor allem Deutschland locken wollen — verlocken wollen, hat er gemeint —, dann ist es besonders wichtig, diese Schachspieler erfahren zu lassen, wie sehr wir zu Kooperation und Entspannung bereit sind, aber sie auch erfahren zu lassen, daß wir unsere Sicherheit nicht von ihnen abhängig machen können.
Herr Bundeskanzler Kohl, zur Zeit des Kanzlers Brandt, auch zu meiner Zeit, waren wir Deutschen in Moskau die wichtigsten Gesprächspartner inner-
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halb Europas, heute sind wir nur noch wichtigstes Ziel für psychologischen und politischen Druck.
Sie müssen sich bemühen, Terrain zurückzugewinnen. Sie müssen sich bemühen, die doppelte Zielsetzung der Gesamtstrategie à la Harmel wiederherzustellen. Dazu gehört eben auch — und ich unterstreiche mit Zustimmung die jüngsten Aktivitäten der Bundesregierung auf diesem Felde — die Wirtschaftskooperation mit der Sowjetunion, mit der DDR.
— Ich habe doch gesagt „mit Zustimmung". Ich würde nicht zuviel Zwischenrufe machen, sonst erinnern Sie mich daran, die Frage aufzustellen: Was hat eigentlich — wenn ich an den Kredit an die DDR denke — aus dem konfrontativen Saulus inzwischen einen kooperativen Paulus gemacht?
Ich nehme an, es war gerade noch rechtzeitig, daß sich hier jemand angepaßt hat an die wirkliche Welt und nicht an die eingebildete.Ich bin für Wirtschaftskooperation, natürlich auch mit der DDR und den übrigen Staaten OstMitteleuropas. Ich gehe noch einen Schritt weiter, ich spreche einen Gedanken aus, der mich schon immer beherrscht hat: Man muß sogar ökonomische Interdependenzen willentlich schaffen.
Neben dieser Kooperation zum wirtschaftlichen Fortschritt auf beiden Seiten steht die Kooperation zur Abrüstung und zur Entspannung. Rüstungsbegrenzung verhindert nicht direkt die Kriegsgefahr— ich sage es noch einmal —, kann aber neues Anfangsvertrauen schaffen.Zu der Gesamtstrategie des Westens gehört auch die militärische Strategie. Das ist sozusagen eine Unterabteilung, nicht die Hauptabteilung, eine der mehreren Unterabteilungen. Die militärische Strategie der flexible response bedarf neuer Ausprägung. Wir müssen weg von immer größeren Raketen- und Nuklearbudgets. Wir brauchen statt dessen bessere konventionelle, nichtnukleare Verteidigung. Ich habe am Wochenende ausführlich darüber gesprochen und beziehe mich darauf. Nur eines will ich wiederholen.
— Es liegt in Ihrem Fach, Sie können es finden. — Eines der wichtigsten Prinzipien zukünftiger militärischer Strategie wird sein, daß man einen Dritten, einen Adressaten der eigenen Militärstrategie von dem Willen zu ihrer Durchführung nicht wird überzeugen können, wenn man nicht zuvor die eigene öffentliche Meinung überzeugt hat. Ich nennedies das in Zukunft notwendig werdende Prinzip der Akzeptanz militärischer Strategie.
Es muß im Laufe der 80er Jahre dahin gebracht werden, daß die Entscheidung darüber, ob in einer bestimmten Lage jemand als erster eine sogenannte taktische nukleare Waffe gebraucht, dieser Zwang zur Entscheidung der anderen Seite zugeschoben werden muß. Ich weiß, daß dies gewaltige Veränderungen auf unserer Seite notwendig macht, und ich weiß, daß es nicht einfach durch einen Parlamentsbeschluß dahin gebracht werden kann.Am wichtigsten scheint mir, daß die Allianz zum Konsultationsprinzip zurückkehrt, zu dem Prinzip, daß die Regierungen gemeinsam miteinander beraten, ehe Entscheidungen getroffen werden, die alle hinterher gemeinsam tragen sollen.
Das gilt für Europäer und Kanadier in gleicher Weise.Jochen Vogel hat mit Recht gesagt, daß die Wirtschaftspolitik der verbündeten Staaten ebenso sehr dringlich ernsthafter Konsultation bedarf. Sie ist im Atlantikpakt vorgesehen gewesen. Sie wird um so wichtiger, als die ökonomische Strukturkrise der ganzen Welt heute eine strategische Qualität, eine gesamtstrategische Qualität erreicht hat.Die Arbeitslosigkeit in Europa steigt. Die Arbeitslosigkeit in allen Staaten der Welt steigt, außer in den USA. Der Hunger in den Entwicklungsländern steigt. Die wirtschaftliche Destabilisierung wird an vielen Stellen zur sozialen Destabilisierung und sodann zur politischen, auch zur außenpolitischen Destabilisierung führen. Die Besetzung der FalklandInseln durch die argentinische Militärregierung war ein Beispielsfall für das, was ich eben ausgeführt habe.Aus europäischer Sicht gibt es vier Krisen gleichzeitig, die mich gegenwärtig bedrücken. Da ist zum einen diese ökonomische Strukturkrise der Welt. Da ist zweitens insbesondere die Schuldenkrise der Entwicklungsländer, ganz leise: die zugleich eine Krise der westlichen Gläubigerbanken werden könnte. Klammer zu!
Jemand, der das nicht glaubt, soll einen Bankier befragen, wenn er einen kennt.
Wir haben es drittens mit einer Krise der Europäischen Gemeinschaft zu tun. Sogar die viele Jahre lang trotz ökonomischer Krise gut funktionierende Europäische Politische Zusammenarbeit , die außenpolitische Zusammenarbeit, ist dabei, auf den Hund zu kommen.
Es gibt in der gegenwärtigen Weltlage zu all denwichtigen Problemen aus dem Schoße der europäi-
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schen außenpolitischen Zusammenarbeit keine europäischen Initiativen.Viertens — ich nenne diese Krise mit Bedacht an der letzten Stelle — haben wir es mit dieser OstWest- oder West-Ost-Krise zu tun.Wir Deutschen sind — wie viele Staaten der Welt — von all diesen vier Krisen betroffen. Dazu kommt dann noch die Sorge um den Frieden im Mittleren Osten, auch um unsere Ölversorgung aus dem Persischen Golf usw. Das bedeutet: wir sind dringend interessiert, mit den uns befreundeten und verbündeten Regierungen auf allen diesen Feldern gemeinsam am selben Strang zu ziehen. Einseitig verkündete, weltweit sich auswirkende Maßnahmen — Embargopolitik z. B. — stehen im Gegensatz zu Geist und Buchstaben des Vertrages, der unserem Bündnis zugrunde liegt.
Nun ist es wohl so, daß wir geteilten Deutschen noch stärker an der Friedensordnung Europas interessiert sind als die meisten anderen europäischen Völker. Um so mehr brauchen wir Deutschen Freunde und Partner in der EG, in der Allianz. Um so mehr brauchen wir Deutschen die Freundschaft und die Partnerschaft mit der amerikanischen Nation. Die amerikanische Nation ist eine junge Nation von ganz ungewöhnlicher Vitalität, von einem ganz ungewöhnlichen Optimismus, von einer herausragenden Großzügigkeit. Sie hat auf der anderen Seite niemals in ihrer Geschichte einen Krieg auf eigenem Boden erlebt, seit die Vereinigten Staaten gegründet wurden. Auch ansonsten hat sie nicht viele Jahrhunderte außenpolitischer Erfahrung mit Krieg und Frieden. Deshalb fehlt es dort oft an Verständnis für Europa.Nach dem Zweiten Weltkrieg, den die Anti-HitlerKoalition ohne die Vereinigten Staaten nicht hätte gewinnen können, gab es ein großes und weiter wachsendes Vertrauen in Europa. Ich erinnere an die Zeit Trumans und des Marshall-Planes, an Eisenhower und an Kennedy. Es hat danach mehrere unglückliche Perioden gegeben.Heute gibt es auch eine Vertrauenskrise. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind dabei durchaus involviert. Es gibt ernste Fragen hinsichtlich der amerikanischen Fähigkeit zum Verstehen der geschichtlichen Erfahrung von uns Europäern, Fragen hinsichtlich des Willens der Vereinigten Staaten, europäische Interessen ausreichend ins Gewicht fallen zu lassen und die europäischen sachlichen Kompetenzen zu berücksichtigen.Vor ein paar Tagen schrieb Flora Lewis, eine der großen amerikanischen Journalistinnen, in der „New York Times", Präsident Reagan ängstige Europa. Ich nehme nicht an, das ganze Europa. Aber es wäre gut, wenn man sich im Weißen Hause mit diesem Dictum auseinandersetzte. Jedenfalls sollte man dort wissen: Wir Europäer wünschen nicht, daß die Menschen in schwarz oder weiß oder in gut oder böse eingeteilt werden.
Wenn ich sage, daß es Amerika uns gegenwärtig manchmal schwer macht, so will ich doch auch in Erinnerung rufen, daß ich Präsident Reagan viele Male verteidigt habe, weil ich seinem Worte Glauben geschenkt habe und ihm heute noch glaube, das er Anfang 1981 zu uns sagte: er werde mit den Russen verhandeln, verhandeln, verhandeln. Es ist nicht gut, wenn wir aus seelischer Bedrängnis einseitig die Vereinigten Staaten von Amerika anschuldigen. Ihnen zuallermeist verdanken wir unsere Freiheit. Auch in Bonn, auch in London, auch in Paris werden Fehler gemacht.
Dies gesagt, stimme ich ausdrücklich Richard von Weizsäcker zu, der jüngst in einem Buche geschrieben hat, eine „Grundportion echter Partnerschaft", die unentbehrlich sei, sei nur dann erreichbar,wenn den USA ein europäischer Partner zur Seite steht, der ihr im Vorfeld des Interessenausgleichs und der Entscheidungen als Wider-lager entgegentritt.
Es gibt in Amerika eine wachsende Neigung zum „Go it alone". Auch nach den Präsidentschaftswahlen im nächsten November, wer immer sie gewinnen wird, wird ohne stärkere europäische Einwirkung kaum mehr Verständnis für die Interessen Europas, für die geopolitische Lage, für die psychologisch-politischen Notwendigkeiten Europas zu erwarten sein. Um so mehr muß Europa selbst etwas dafür tun.Dafür ist nun allerdings nicht nur deutsch-französische Freundschaft, die gegeben ist und für die wir alle sicher gleichermaßen dankbar sind, notwendig, sondern vor allem enge deutsch-französische tatsächliche politische Zusammenarbeit. Natürlich werden beide dabei vom Bündnis mit den Vereinigten Staaten ausgehen. Aber ohne engste tägliche Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn kann es keine Persönlichkeit Europa geben. So wie, de Gaulle und Adenauer — und später andere auf beiden Seiten in Paris und Bonn — außen- und wirtschaftspolitisch auf das engste zusammengearbeitet haben, so muß das auch gegenwärtig möglich gemacht werden.
Die Engländer bleiben einstweilen immer noch in insularem Denken befangen. Herr Kollege Dregger, so ist es nicht! Wenn es das gäbe, dann hätte sich Europa längst von den Höchstzinsen, die jede Investitionstätigkeit unterbinden, gemeinsam abgekoppelt.
Bisher nimmt uns Frankreich mit seiner „force de frappe" nicht in Schutz. Die „force de frappe" ist daher für uns kein Gegengewicht gegen sowjetische Raketenbedrohung. Aber die „force de frappe", jedenfalls französiche Armee und Luftwaffe, könnten durchaus einer der drei entscheidenden Fakto-
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ren für eine operative deutsch-französische außenpolitische Zusammenarbeit sein.Der zweite Faktor könnte sein die monetäre und finanzielle Kraft der Bundesrepublik. Wir haben ja Ihnen, Herr Bundeskanzler und Herr Stoltenberg, die größten Devisenreserven der Welt hinterlassen. Die sind ja nicht nur dazu da, im Keller gehütet zu werden.
— Ich fürchte, meine Damen und Herren, daß Sie im Augenblick die Legitimation zur Kritik an den GRÜNEN zu verlieren im Begriffe sind, wenn Sie sich weiterhin so aufführen.
Wer seine eigene Wirtschaft von den die Investitionen strangulierenden Wirkungen der realen Höchstzinsen befreien will,
der muß dem Europäischen Währungsfonds endlich die vorgesehene zweite Stufe hinzufügen.Der dritte Faktor dieser Zusammenarbeit liegt dann allerdings in dem Willen der beiden Völker, die nicht nur Freundschaft, sondern auch Zusammenarbeit wollen.Ich möchte am Schluß die Vorschläge zusammenfassen, die ich zum heutigen Gegenstand zu machen habe.Erstens. Der Nordatlantikrat sollte nächsten Monat einen Stationierungsplan über die nächsten fünf Jahre aufstellen.Zweitens. Für jetzt und für das Jahr 1984 genügen weit weniger als 10 % des Maximalumfangs, wobei das Schwergewicht nicht auf deutschem Boden liegen sollte.
Drittens. Der Nordatlantikrat sollte demnächst gleichzeitig den Willen zur Fortsetzung der Verhandlungen eindeutig bekunden. Das ist für die Bundesregierung heute schon geschehen.Viertens — auch dies ist für die Bundesregierung schon geschehen — sollte er eindeutig die Bereitschaft zur Verschrottung bekunden, sobald ein Vertrag zustande gekommen sein wird.Fünftens. Der Westen sollte seine Bereitschaft bekunden, den bilateralen Gewaltverzicht der Bundesrepublik und der Sowjetunion und anderer osteuropäischer Staaten international auszuweiten.
Ich weiß: Einzelne in der Regierung haben darüber schon gesprochen.Sechstens. Der Westen sollte seine Bereitschaft zu einer Konferenz aller fünf Nuklearmächte zwecks einvernehmlicher Berücksichtigung undEinschränkung aller ihrer strategischen Waffen vorschlagen.
Das heißt, die westlichen Nuklearmächte Amerika, England und Frankreich sollten sich ihrerseits zur Teilnahme bereit erklären, und sie sollten die Sowjetunion und die Volksrepublik China dazu einladen. Sie wissen, daß dies ein Vorschlag von Pierre Trudeau ist.
Ich glaube, er bedarf ganz sorgfältiger Erörterung und weiterer Verfolgung.Siebtens. Der Nordatlantikrat muß die doppelte Gesamtstrategie im Sinne seiner eigenen Beschlüsse vom Dezember 1967 — Harmel-Philosophie — ausdrücklich wiederherstellen und wiederholen.Es mag darüber hinaus zweckmäßig sein, wenn einer der neutralen Regierungsschefs in Europa die damaligen Teilnehmer der Helsinki-Konferenz persönlich zu einer Zusammenkunft einlädt. Es könnte nützlich sein, den Entspannungsgedanken von denjenigen wieder aufnehmen zu lassen, die ihn in der ersten Hälfte der 70er Jahre so tatkräftig vorangebracht haben. Schließlich darf Entspannungspolitik ja nicht zu einer Sache von Abrüstungsbuchhaltern herabsinken.
Die erste Regierungserklärung des damaligen Kanzlers Brandt im Jahre 1969 ist immer noch richtig — ich zitiere —:Ob es sich um Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle oder um die Gewährleistung ausreichender Verteidigung handelt, unter beiden Aspekten begreift die Bundesregierung ihre Sicherheitspolitik als Politik des Gleichgewichts und der Friedenssicherung. Und ebenso versteht sie unter beiden Aspekten die äußere Sicherheit unseres Staates als eine Funktion des Bündnisses, ... als dessen Teil wir zum Gleichgewicht ... zwischen West und Ost beitragen.Nach meiner Überzeugung gilt das heute ganz genauso. Es gilt gewiß nicht nur für uns Deutsche, sondern es gilt für viele Menschen und Staaten in beiden Teilen Europas.Die Parteitage der Sozialdemokratie wie auch der Freien Demokratischen Partei am Wochenende haben gezeigt, daß es in beiden Parteien der ehemaligen, zu Ende gegangenen sozialliberalen Koalition durchaus differenzierte und differenzierende Meinungen zu den heute verhandelten Fragen gibt. Wer in solcher Frage einstimmig abstimmt, weckt jedenfalls bei mir Verdächte.
Aber gleichzeitig hat diese differenzierende Meinungsbildung einen großen Vorteil für die Bundesregierung. Ich möchte der Bundesregierung ans
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Herz legen: Nutzen Sie diesen Widerspruch. Nutzen Sie die Sorgen, die vielfältig im deutschen Volk formuliert und vorgebracht werden. Nutzen Sie die Sorgen, die Sie in beiden Teilen unseres Volks, die Sie auch heute im Parlament spüren. Wir müssen Wort halten. Das ist und bleibt meine Meinung. Aber zugleich: Nutzen Sie diese Widersprüche, damit die Bundesregierung auch zukünftig deutsche Interessen initiativ vertreten kann. Lassen Sie diese Widersprüche auch bei unseren eigenen Freunden und Verbündeten ins Gewicht fallen. Machen Sie unseren Verbündeten klar, daß Sie, Herr Bundeskanzler, es gegenwärtig, im Augenblick in der öffentlichen Meinung Deutschlands nicht ganz leicht haben. Machen Sie unseren Freunden klar, warum das so ist und welche Hilfe und welche Zurückhaltung Sie infolgedessen von unseren Freunden und Verbündeten erwarten müssen.Machen Sie unseren Vertragspartnern und unserem zukünftigen Abrüstungspartner in Moskau klar, daß diese nicht darauf rechnen können, daß sich im Westen oder daß sich in der Bundesrepublik Deutschland eine Absicht zur einseitigen Abrüstung oder zum einseitigen Verzicht durchsetzen wird.
Aber machen Sie gleichzeitig den Moskauer Gesprächspartnern ganz deutlich: Wir wollen Zusammenarbeit, weil wir den Frieden wollen.Nun weiß ich, daß keine Regierung irgend eines größeren Staates unabhängig von der voraufgegangenen Handlungsweise der vorangegangenen Regierungen handeln kann, auch wenn in Wahlkämpfen manchmal anderes gesagt wird. Das galt für Präsident Carter, das gilt für Präsident Reagan, das gilt für Kanzler Kohl, das gilt für Generalsekretär Andropow. Der Bundeskanzler hat sich heute beinahe auf alle von uns herbeigeführten oder von uns ratifizierten Verträge und Beschlüsse einschließlich der Gewaltverzichtsverträge berufen, den Sie damals wie die meisten jener Verträge mit der großen Mehrheit Ihrer Kolleginnen und Kollegen abgelehnt hatten.Jeder muß aufbauen auf dem, was er vorfindet. Ich habe gerne gehört, daß Sie sich auf diese Verträge berufen haben. Ähnliches galt 1969 und später auch für uns. Auch wir haben nichts von dem rückgängig machen können, was unter Adenauer oder Erhard beschlossen worden war. Aber jede Regierung kann die vorgefundene Lage durch ihre eigene Initiative verbessern, kann ihr etwas hinzufügen. Auch das gilt für die Gegenwart, für diese Bundesregierung; und es wird für zukünftige Bundesregierungen gelten.Das wissen auch unsere Diplomaten, unsere Soldaten und der öffentliche Dienst insgesamt. Ich weiß nach 13 Jahren in der Bundesregierung: Die Soldaten und die Beamten müssen nicht nur, sondern sie werden auch loyal sein gegenüber jeder verfassungsmäßigen Regierung. Viele von ihnen besitzen ein sehr hohes Maß an Erfahrung. Und jede Regierung sollte sich der Erfahrung der eigenenDiplomaten bedienen, statt die erfahrenen Personen in den Ruhestand zu versetzen.
Zum Schluß, Herr Präsident: Die Deutschen haben lange Jahre ohne wirkliche Angst gelebt. Der von der damaligen sozial-liberalen Koalition herbeigeführte beiderseitige Gewaltverzicht von Moskau und Bonn, der Grundlagenvertrag mit der DDR, die Verträge und Abmachungen mit Polen, mit der Tschechoslowakei, das Viermächteabkommen über Berlin, der Nichtverbreitungsvertrag, gegen den Sie sich so lange gesträubt haben, alles das hat dazu wesentlich beigetragen. Alle diese Verträge dienen gegenwärtig dem Frieden, und das werden sie auch in Zukunft tun. Man braucht sich also heute nicht der Angst anheimzugeben.Wer Angst größer schreibt als Hoffnung, der gefährdet sich selbst, jedenfalls gefährdet er seine eigene Fähigkeit zu verantwortungsbewußtem Handeln. Es ist durchaus Anlaß zur Hoffnung. Ich stimme all denen zu, die das in den letzten Tagen gesagt haben. Ich jedenfalls setze gemeinsam mit meinem Freunde Vogel meine Hoffnung und mein Vertrauen darein, daß wir es fertigbringen, in Europa die auf Entspannung und Zusammenarbeit gerichtete Politik wiederaufzunehmen und fortzusetzen. Das nukleare Gleichgewicht hat bisher den Frieden in Europa bewahrt. Ich bin fest überzeugt: Das wird auch in Zukunft so sein. Ich setze mein Vertrauen darein, daß Entspannung schließlich zu einer Friedensordnung in Europa führt, in der die beiden Teile unserer Nation zueinanderfinden können.In Antwort auf meinen Vorredner, Herrn Kollegen Waigel, darf ich mir am Schluß ein persönliches Wort erlauben. Herr Waigel, die Sozialdemokratische Partei ist seit genau 120 Jahren, seit Ferdinand Lassalle, seit August Bebel, die größte Friedenspartei in Deutschland. Das wird so bleiben. Und ich werde Sozialdemokrat bleiben.
Meine Damen und Herren, mir liegt das vorläufige Protokoll von heute mittag vor. Danach hat während der Rede des Bundesaußenministers der Abgeordnete Vogt gerufen: „Sie sind ein Verleumder!" Im Einvernehmen mit der Sitzungspräsidentin rufe ich Sie, Herr Abgeordneter Vogt, hiermit zur Ordnung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, was Herr Kollege Schmidt hier als Analyse dargelegt hat — —
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2385
Meine Damen und Herren, ich bitte um Aufmerksamkeit für den Redner.
— — als die gegenwärtige außen- und sicherheitspolitische Situation, wird in vielen Teilen mit Sicherheit auch in diesem Hause Zustimmung finden. Wenn sich die Sowjetunion nach wir vor „mit ihrer einseitigen unprovozierten Vorrüstung durchsetzen könnte, wird eine tiefe Krise der Allianz unvermeidlich eintreten".Wir sind hier völlig einer Meinung. Wir teilen die Auffassung: Die Bundesrepublik Deutschland muß Wort halten. Genau um dies geht es. Diese Bundesrepublik Deutschland muß und wird das Wort halten, das sie 1979 gegeben hat.
„Die Fortentwicklung unserer Außenpolitik macht Solidarität und Zuverlässigkeit im Bündnis zu einem überragenden Gebot." Auch diesem Wort des Kollegen Schmidt können wir zustimmen. Diese Auffassung entspricht auch den Grunderkenntnissen, die über Jahre gemeinsam in der sozial-liberalen Koalition vertreten worden sind. Wir, die Freien Demokraten, haben die Kontinuität dieser Politik auch in der neuen Koalition fortgesetzt,
im Gegensatz zu dem, was wir heute von Ihnen aus der SPD erleben.Die Kontinuität dieser Politik ist auch im sowjetischen Interesse. Denn es war das beiderseitige Interesse, das zu den Vertragsabschlüssen führte. Das beiderseitige Interesse ist, Ausgewogenheit, Berechenbarkeit und Abbau des Mißtrauens zwischen den Großmächten zu erreichen, um damit praktische Friedenspolitik umsetzen zu können.
Das haben wir in der Vergangenheit, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sehr oft gemeinsam in diesem Hause festgestellt. Ich begrüße und würdige ausdrücklich die Standfestigkeit von Helmut Schmidt. Ich habe auch gar nichts anderes erwartet. Es wäre gut gewesen, wenn die Sozialdemokratische Partei, die sozialdemokratische Fraktion diese Standfestigkeit bewiesen hätte, die er allein hier gezeigt hat.
Herr Kollege Schmidt, Sie sprachen davon, daß die moralische Kraft in der Friedensbewegung gesehen werden muß, aufgenommen werden muß. Wir sagen: Die moralische Kraft, die dahintersteht, daß das ganze deutsche Volk Frieden will, haben wir aufgenommen und vertreten wir gemeinsam
und nicht nur diejenigen, die dies an Demonstrationen zum Ausdruck bringen.Mit Recht haben Sie, Herr Kollege Schmidt, davon gesprochen, daß die DDR-Bevölkerung keine zusätzlichen sowjetischen Waffen will. In vielen Gesprächen mit meinen Verwandten und Bekannten in Dresden, im Erzgebirge und überall ist das gleiche gesagt worden. Sie sagen aber genauso deutlich: Wir erwarten von euch, daß ihr eine Politik betreibt, die nicht nur euch die Freiheit erhält, sondern uns die Chance gibt, morgen oder übermorgen ebenfalls in Freiheit zu entscheiden. Beides muß man sehen.
Sie haben darauf hingewiesen, im NATO-Rat sollte die Gesamtstrategie sichtbar bleiben, also nicht nur die Frage der Nachrüstung, sondern auch das, was wir als Mittel- und Fernziel sehen: Entspannungspolitik, europäische Friedensordnung. Sie können sicher sein: Dies werden wir mit der uns zu Gebote stehenden Kraft tun. Wenn Sie allerdings mit dem Verweis auf die Entschließung meinen, weil da keine Distanzierung von der Meinung von Franz Josef Strauß stehe, auch die Verhandlungen seien nicht richtig gewesen, dann darf ich doch feststellen, daß der Verhandlungsteil genauso wie der Nachrüstungsteil in diesem Hause 1981 mit einer so überwältigenden Mehrheit beschlossen worden ist, daß wir uns hier nicht von Einzeläußerungen zu distanzieren brauchen.
Ich füge hinzu: Mir tut auch meine Unterschrift nicht leid, und zwar deshalb nicht, weil ich nicht nur selbst, sondern mit meiner Fraktion in der Kontuität bin. Das ist in diesem Fall der Unterschied zwischen Ihnen, Herr Kollege Schmidt, und mir!
Meine Damen und Herren, es hat sich aber auch gezeigt — dies sage ich nicht mit Freude, auch nicht mit Schadenfreude, sondern mit Sorge —, daß sich in der SPD eine Kanzlerdemontage durchgesetzt hat, die für die Gesamtpolitik in dieser Bundesrepublik Deutschland nicht gut ist.
Diese Kanzlerdemontage hat aber auch gezeigt, wie recht wir vor einem Jahr hatten, als wir sagten: Nicht nur die Wirtschafts-, die Sozial- und die Finanzpolitik, sondern auch die Sicherheitspolitik wird von der SPD nicht mehr getragen. Deshalb war es nicht möglich, gemeinsam die Regierungsarbeit fortzusetzen.
Diese „Stunde der Wahrheit" hat die „Neue Zürcher Zeitung" wie folgt beschrieben — ich zitiere —:... was bleibt vom bündnispolitischen Bekenntnis, wenn die Partei sich von eben der praktisch-konkreten Bündnispolitik loslöst, die sie selber eingeleitet und mitgetragen hat? Ist die SPD wieder auf dem Wege in jene Isolation, die sie in den ersten zehn Jahren der Bundesrepublik von Westeuropa, von Amerika und von den ihr sonst nahestehenden Linksparteien trennte und die sie schon wieder, unter anderem, von den Parteien Mitterrands und Craxis trennt?
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2386 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
MischnickUnd ist der Sprung hinüber zu den sich allmählich zerstreitenden Sekten der „Friedensbewegung", wie ihn Willy Brandt getan hat, der Absprung von einer Politik des Maßes, der Orientierung auf die Mitte und der Regierungstauglichkeit?Soweit die „Neue Zürcher Zeitung".Das kann nicht im Interesse — auch nicht im parteitaktischen Interesse — von uns allen liegen. Das ist ein Weg, der leider, wie hier schon einmal gesagt wurde, zu einem Rückfall in die Zeit vor Godesberg führen muß.Ich kann Ihnen nur wünschen, daß bei Ihnen möglichst schnell ein ähnlich couragierter Mann wie damals Herbert Wehner auftritt, der diesen Weg in eine falsche Richtung aufhält und zur Gemeinsamkeit der Demokraten in diesem Hause in Sachen Sicherheitspolitik zurückkehrt.
Meine Damen und Herren, es ist auch — jedenfalls für mich — etwas erstaunlich, daß die SPD hier heute in die gleichen Fehler verfällt, die sie den Unionsparteien in den 70er Jahren vorgeworfen hat, als es um die KSZE usw. ging. Haben Sie daraus nichts gelernt?Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf dem Wahlparteitag der SPD am 21. Januar 1983 hieß es noch, sehr verständlich: Wir Sozialdemokraten werden im Herbst 1983 entscheiden, welche Folgerungen aus dem bis dahin erreichten Verhandlungsstand zu ziehen sind. Dieses scheinbare Offenhalten wurde jedoch mit der Behauptung verknüpft — ich zitiere wörtlich —: Nur eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung wird alle deutschen Möglichkeiten der aktiven Einwirkung in Genf nutzen. — Das heißt doch: Bei einem SPD-Kanzler hätte man vor der Ablehnung vielleicht noch einmal geprüft, ob man zustimmt; bei einem anderen prüft man gar nicht, ob man zustimmt. Und dies muß im Zusammenhang damit gesehen werden, daß bei der Rede des Außenministers auf dessen Sorge, ein Austritt aus der NATO gemäß den Überlegungen Lafontaines sei der nächste Schritt, von dem Kollegen Voigt, der immerhin außenpolitischer Sprecher der SPD ist, der Zuruf kam, das sei die logische Konsequenz. Das ist doch die Bestätigung für die Befürchtungen, die wir hegen, und steht im Widerspruch zu dem, was Sie auf Ihren Parteitagen jetzt noch formal verkünden, während Sie in Wahrheit schon viel weiter von dem Bündnis entfernt sind, als Sie es in dieser Debatte zugeben wollen.
Meine Damen und Herren, in Genf sitzen nur die Amerikaner und die Sowjetunion am Verhandlungstisch. Kein Bundeskanzler sollte sich der Selbsttäuschung hingeben, er könne in einer alleinigen Kraftanstrengung das Ruder des Verhandlungsboots herumreißen. Deshalb muß ich ganz nüchtern feststellen: Drei der vier Verhandlungsjahre in Genf brachten kein Ergebnis, obwohl damals der Bundeskanzler Helmut Schmidt war.
Ich sage das nicht als Vorwurf. Aber man kann es sich doch nicht so leichtmachen zu sagen, seit dem Kanzlerwechsel sei das Ergebnis nicht erreicht, wenn man die Jahre vorher in aller Nüchternheit mit einbezieht.
Wenn hier so getan wird, als sei nichts — —(Zuruf von der SPD: Sie waren doch da-
bei!)— Natürlich bestreite ich das nicht. Ich habe doch auch nicht behauptet, daß zu diesem Zeitpunkt etwas versäumt worden ist. Ich wehre mich nur dagegen, daß man so tut, als müßte das eine Jahr alles bringen, obwohl vorher drei Jahre nicht ausgereicht haben, zu einem Ergebnis zu kommen. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das ist doch eine falsche Darstellung!
Ich muß in aller Offenheit folgendes hinzufügen. Als wir über die Frage diskutierten — Kollege Vogel hat es eingangs mit angesprochen —, zu welchem Zeitpunkt im Deutschen Bundestag über die Ergebnisse oder Nichtergebnisse gesprochen werden sollte, habe ich mich dafür eingesetzt, ja, darum gerungen, auch bei der Bundesregierung, daß auf jeden Fall erst nach dem 15. November hier im Plenum debattiert und bestätigt oder nicht bestätigt wird. Ich muß gestehen, ich war erschüttert, als ich dann hörte, daß einer der Gründe, warum diese Termine so schwer verschiebbar sind, daran lag, daß schon im Jahre 1980 für den August 1983 der Zulauf der Ausrüstungsteile und für Oktober 1983 der Zulauf der ersten Gefechtsköpfe in Aussicht genommen worden ist.
Wenn das schon 1980 vorgesehen war, dann sollte man sich, bitte, heute nicht hier hinstellen und den Vorwurf erheben, jetzt sei nicht genug geschehen, jetzt habe man nicht genug dagegen getan!
Dabei muß man natürlich auch sehen, wie schwierig es ist, eine Überzeugung breit durchzusetzen, wenn in den eigenen Reihen der Widerstand gegen diese Überzeugung so groß ist. Das war früher zum Teil in der SPD der Fall, heute noch mehr.Ich kann nicht umhin, ein Wort von John F. Kennedy, dessen 20. Todestag sich morgen jährt, zu zitieren. Er sagte:Die entscheidende Tatsache ist, daß außenpolitische Probleme auf lange Sicht nicht erfolgreich von einer Partei angepackt werden können, die auch im Innern nicht bereit ist, Probleme auf lange Sicht anzupacken. Konsequente Leitung und entschlossene Zielsetzung für die freie Welt können nicht mit Nutzen von
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2387
Mischnickeiner Partei ausgehen, die unser eigenes Volk nicht kraftvoll zu führen weiß.Sehen Sie, das Nein von Ihnen war leider vorprogrammiert, und deshalb war es nicht möglich, in der Zeit 1981/82 alle Möglichkeiten voll zu nutzen.
— Wenn Sie sagen „So ein Quatsch", kann ich nur feststellen, daß das Ringen um die Bestätigung und Unterstützung unserer gemeinsamen Politik damals schon in Ihrer Fraktion mit dem Parteitag in München begonnen hat und nur mit innenpolitischen Zugeständnissen erkauft werden konnte, damit die Mehrheit überhaupt noch zustande kam. So ist es doch gewesen.
Lieber Herr Kollege Ehmke, Sie sollten mit der Bemerkung „Quatsch" etwas vorsichtiger sein; denn das läßt sich alles in allen Archiven nachlesen. Ich hätte sie alle hier mit herbringen können; aber ich dachte, Sie sind selbst mit einem so guten Gedächtnis ausgestattet, daß Sie das noch wissen, wie das damals gewesen ist.
Meine Damen und Herren, während Helmut Schmidt seinen Freunden noch vor Augen hielt, daß die Genfer Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion nur dann erfolgreich sein werden, wenn Moskau bei einem Scheitern der Gespräche mit der Stationierung angemessener amerikanischer Waffen in Westeuropa ab Ende 1983 rechnen muß — welchen Grund sollte die Sowjetunion überhaupt gehabt haben, zielstrebig und ernsthaft in Genf zu verhandeln, wenn dies nicht der Fall war? —, hat Ihr Parteivorsitzender Willy Brandt schon das Schlagwort vom Nachverhandeln in die Diskussion gebracht. Damit war der innenpolitische Konflikt eröffnet, und es ist nicht hinwegzustreiten, daß sich die Sowjetunion bei ihrer Verhandlungsstrategie in erster Linie nicht von militärpolitischen Überlegungen, sondern vom Grad der Irritation im westlichen Lager in der Hoffnung hat mit leiten lassen, daraus für sich Honig saugen zu können. Daß diese Irritationen auch aus Teilen der SPD, der GRÜNEN und Alternativen kam, ist doch unbestritten.Erst seitdem die Sowjetunion mit einer eindeutigen und einmütigen Haltung des Westens rechnen muß, ist auch in die Vorschläge mehr Bewegung gekommen, ohne daß sie für die eine wie für die andere Seite schon akzeptabel waren.Dazu darf ich ein weiteres Zitat bringen:Wir müssen warnen vor einer einseitigen Schwächung der westlichen Sicherheit. Diese muß voll intakt bleiben, und wenn da etwas nicht mehr intakt sein sollte, muß es wieder voll intakt gebracht werden.Weiteres Zitat:Denn nur von dieser Basis aus kann man mitAussicht auf Erfolg sich schließlich dann docheines Tages wieder hinbewegen zu Verhandlungen über gleichwertige Reduzierung der Rüstung in Ost und West.So sprach Willy Brandt fünf Tage nach dem Einmarsch der Sowjetunion in die CSSR, und die Erkenntnisse, die er damals gehabt hat, gelten heute noch in der gleichen Weise. Es wäre gut, wenn man sich manchmal an das, was man gestern vertreten hat, auch heute erinnerte, wenn auch die Stimmungen vielleicht anders geworden sind.
Er hatte damals nach seinem eigenen Eingeständnis gesagt, er hielte es für unwahrscheinlich, daß das geschieht, weil seine Interpretation der sowjetischen Interessen dazu führte, daß sich die Führer in Moskau das genau überlegen würden. Sie haben es sich damals nicht genauer oder anders überlegt. Afghanistan war etwas Ähnliches. Die Erkenntnis, daß es keine einseitige Schwächung des Bündnisses geben darf, sollte doch nicht so kurzatmig sein, sondern die Gesamtpolitik auch in Zukunft bestimmen, damit sie berechenbar ist.Unsere liberale Friedenspolitik steht hier völlig in der Kontinuität. Wenn Sie nachlesen, was Karl Georg Pfleiderer von dieser Stelle aus gesagt hat, was Thomas Dehler von dieser Stelle aus gesagt hat, was Wolfgang Döring von dieser Stelle aus gesagt hat, was unsere Außenminister Scheel und Genscher gesagt haben, was meine Kollegen und ich gesagt haben, so werden Sie feststellen, daß es bei uns einen solchen Zickzackkurs zu keiner Zeit gegeben hat, sondern daß wir Friedens- und Sicherheitspolitik kontinuierlich als eine Einheit betrachtet haben, nach Westen im Bündnis, nach Osten mit dem Ziel, die Diskrepanzen zu überwinden und zu einer vernünftigen Zusammenarbeit zu kommen.
Meine Damen und Herren, wir haben dies in aller Offenheit, in aller Deutlichkeit auf unserem Parteitag ausgetragen. Natürlich gibt es auch in meiner Fraktion Kollegen, die unterschiedlicher Meinung sind. Das habe ich nie bestritten. Das werden wir auch anderen nie bestreiten. Der entscheidende Unterschied ist aber doch, daß sich bei unserem Parteitag ein Verhältnis von von 3 : 1, bei der SPD hingegen plötzlich eine Abstimmung von 90 : 10 ergeben hat, aber in der Umkehrung früherer Entscheidungen. Letzteres ist doch eine gewaltige Veränderung der Grundlagen politischer Entscheidungen. Dies zeigt mir, daß hier leider doch manches von dem verlorengegangen ist, was unsere gemeinsame Arbeit sein sollte.Herr Kollege Vogel, Sie haben heute früh gesagt, wir hätten diese Debatte nur einen Tag führen wollen, wir hätten uns gescheut, weil wir vielleicht unserer Sache nicht sicher seien.
— Herr Kollege Vogel, es ist doch nicht so, daß wiruns vor einer Debatte gescheut hätten. Das hingdoch alles genau mit dem Punkt zusammen, auf den
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2388 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Mischnickich vorhin im Zusammenhang mit Fakten der vergangenen Entscheidungen zu sprechen gekommen bin. Nachdem es gelungen war, erneut deutlich zu machen, daß um der parlamentarischen Diskussion, um der Freiheit der Entscheidung des Parlaments willen auch eine weitere Verschiebung notwendig würde, ist dies sofort geschehen. Herr Kollege Vogel, das wäre alles nicht notwendig gewesen, wenn nicht schon 1980 für den August 1983 entsprechende Stationierungen in Aussicht genommen worden wären. Deshalb mußten wir doch die Zeit haben, um das alles erst wieder in Ordnung zu bringen.
Wenn hier davon gesprochen wird — vor allen Dingen von den GRÜNEN und von den Alternativen —, es sei nicht genügend diskutiert worden, so kann ich den Kollegen, die das natürlich nicht alles wissen können — bei einem Nachfragen im Archiv hätten sie es aber erfahren können —, hier nur sagen: Seit 1979 ist in diesem Hause 37mal über den NATO-Doppelbeschluß diskutiert worden. 37mal! Sich dann noch hinzustellen und zu sagen, die Dinge würden an der Öffentlichkeit vorbei, an der Bevölkerung vorbei entschieden, ist eine Verfälschung der Tatsachen. Das sollten Sie endlich aufgeben.
Dies zeigt auch, daß die Behauptung, Sicherheitspolitik, Friedenspolitik müßte jetzt erst demokratisiert werden, einfach falsch ist. Jeder von uns, der im Wahlkampf draußen war, der zwischen den Wahlen Veranstaltungen durchgeführt hat, ist doch spätestens seit 1979 — viele schon vorher — ständig in Diskussionen nach diesen Themen gefragt worden und hat dazu Stellung genommen. Deshalb kann man doch nicht behaupten, erst jetzt sei eine Demokratisierung dieser Probleme im Gange.Von seiten der SPD wurde hier gesagt, sie sei überzeugt, daß bei einer Nichtstationierung eine drastische Reduzierung des sowjetischen Raketenpotentials zu erwarten sei. So etwa war die Formulierung des Kollegen Vogel; ich habe das Wortprotokoll hier noch nicht vorliegen. Was stimmt Sie eigentlich so zuversichtlich, nachdem es über mehrere Jahre nicht möglich war, durch Gespräche und Verhandlungen — des damaligen Bundeskanzlers, des damaligen und heutigen Außenministers, des heutigen Bundeskanzlers, von Arbeitsgruppen aller Fraktionen, Unterausschüssen und Ausschüssen — mit sowjetischen Diplomaten, mit sowjetischen Politbüro-Mitgliedern, mit Abgeordneten usw. zu erreichen, daß sie wenigsten nicht mehr weiter aufstellen? Wieso sind Sie jetzt plötztlich so optimistisch, daß, wenn wir keine Entscheidung treffen, der Abbau etwa einseitig erfolgt?
Meine Erfahrung lehrt mich — bitte verstehen Sie mich nicht falsch, wenn ich das sage; ich gehöre vielleicht zu den zwei oder drei Dutzend Kolleginnen und Kollegen hier, die sehr viele Gespräche mit Vertretern der Warschauer-Pakt-Staaten geführt haben —, daß ein konsequentes Beibehalten einer politischen Richtung viel erfolgversprechender ist als ein ständiges Hin- und Herspringen. Dies erweckt sehr schnell den Eindruck: Mit diesem Gesprächspartner kann man machen, was man will. Ich habe erlebt, daß das harte Beharren auf einem als richtig erkannten Standpunkt — manchmal nach langer Zeit, manchmal nach kurzer Zeit — auch zu einem positiven Ergebnis führt.Meine Damen und Herren, es ist hier davon gesprochen worden, daß man natürlich die Stimmungen in unserer Bevölkerung nicht übersehen darf; man müsse sie vielmehr aufnehmen. Das ist völlig richtig. Man muß die Ursachen dafür erforschen; man muß sich mit ihnen auseinandersetzen. Aber ich warne davor, daß diejenigen, die in der Verantwortung stehen, Stimmungen nachgeben. Das, was man für richtig erkannt hat, muß man auch gegen Stimmungen vertreten. Sich auf der Woge von Stimmungen davontragen lassen, das kann zum Schaden der Gesamtheit unseres Volkes gereichen.
Das schließt nicht aus, daß ich mich mit denjenigen, die Angst in diesem Lande haben — es sind ja viele —, sachlich auseinandersetze. Aber wer das tut, der sollte wenigstens so fair sein, nicht zusätzlich Angst zu schüren. Er sollte vielmehr dazu beitragen, diese Angst durch eine sachliche Aufklärung über die Fakten abbauen zu helfen.
Wer immer davon spricht, das atomare Potential werde ständig unendlich vergrößert, aber nicht dazusetzt, daß bereits 1980 1000 atomare Sprengköpfe abgezogen worden sind und daß 1 400 weitere abgezogen werden sollen, der schürt Angst und trägt nicht dazu bei, daß die Zuversicht in der Bevölkerung vorhanden ist, die notwendig ist, um auch die schwierige Situation, vor der wir stehen, durchstehen zu können. Hier sollten Sie ihre Möglichkeiten einsetzen, aber nicht die Angst in den Vordergrund stellen.Meine Damen und Herren, ich muß hier doch eine Bemerkung zu den Vorgängen der letzten Tage machen, die mich tief bekümmern und die mich auch sehr, sehr nachdenklich stimmen. Kollegen haben mir berichtet, was in den letzten Tagen vor ihren Wohnungen geschehen ist. Ich bin vielleicht eher in der Lage, dazu etwas sagen zu können, weil ich das gleiche erlebt habe, als wir hier um die Ostverträge gerungen haben: mit Drohungen, Totenkreuzen, Morddrohungen gegen den, der diesen Verträgen zustimmt. Ich habe mich damals gegen diese Art des versuchten Druckes auf Abgeordnete gewendet. Ich wende mich heute gegen den versuchten Druck auf Abgeordnete durch das, was man so „Mahnwachen" nennt.
Als die ersten in Erscheinung traten, hat mir meinSohn aus der „Chronik der Deutschen" die Seite
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2389
Mischnickaufgeschlagen, wo die „Mahnwachen" 1933 stranden. Was daraus geworden ist, das wissen wir.
Wenn ein Kollege angekündigt bekommt, vor seiner Wohnung werde man in zwei Tagen eine „Mahnwache" aufstellen, und er mitteilt, er stehe zur Diskussion bereit, bitte aber darum, von der Mahnwache abzusehen, weil er wegen unseres Parteitages nicht da sei, und hinzufügt, nur seine 80jährige Mutter sei da, und die stehen dann doch da, dann ist das Psychoterror. Gegen den wende ich mich.
Wenn ständig von der Menschlichkeit gesprochen wird, dann sollten Sie dafür sorgen, daß diejenigen,
— ich verdächtige Sie nicht, daß Sie das hier waren,
— nein — die mit Ihnen und mit denen Sie zusammenarbeiten, sich von denen, die solches veranstalten und genauso vorgehen, sich von solchen Methoden distanzieren. Denn wir haben doch schon einmal erlebt, wohin das führt.
Und wenn Ihnen das noch nicht genug ist: Telefonterror die ganze Nacht; Flugblätter gefälscht
— gefälscht! — mit der Unterschrift eines Kollegen, der keine Ahnung davon hatte — er sei angeblich unsicher, man solle ihn anrufen —; bei einem anderen Kollegen, der kleine Kinder hat, Trommelwirbel vor der Tür; Kranzniederlegungen — die Kinder sehen den Kranz !
Ja, spüren Sie denn nicht, was Sie damit anrichten? Das ist für unseren demokratischen Staat nicht gut. Und davon sollten Sie sich mit aller Entschiedenheit distanzieren.
Ich sage Ihnen ganz offen: Ich bin zu jeder harten Auseinandersetzung bereit. Ich bin zu jeder harten Auseinandersetzung mit jedem bereit. Aber wenn man den Weg geht, an die Familien heranzugehen, dann muß man wissen, daß man damit die Grundlagen unseres freiheitlichen demokratischen Staates und der Menschlichkeit untergräbt. Und davon sollten Sie sich distanzieren.
Ich weiß um die Ängste. Aber die brauche ich nicht so zum Ausdruck zu bringen.
Ich weiß um die Ängste, die bei den jungen Menschen und bei den Alten vorhanden sind. Die kann ich nur überwinden, wenn ich deutlich mache, wie eine mittel- und langfristige Friedenssicherungspolitik aussieht.Wir Freien Demokraten haben mit unserem Beschluß des Bundesvorstands vom 6. Juni 1983 und mit unserer Parteitagsentschließung sehr deutlich gesagt, daß für uns die Diskussion eben nicht mit der Frage „Ja oder nein zur Aufstellung von Raketen" endet, sondern daß es unser Ziel ist, Vertrauensbildung zu erreichen, damit das Mißtrauen zu überwinden, ein europäisches Sicherheitssystem zu erreichen, in dem dann auch die Frage zu beantworten ist, ob nicht generell der Abbau atomarer Waffen in allen Bereichen möglich wird.Aber mit Recht hat Helmut Schmidt darauf hingewiesen: Dann muß man auch sehen, daß das bedeutet, im konventionellen Bereich zu neuen Überlegungen zu kommen. Das als Gesamtbild den Menschen deutlich zu machen, hilft deshalb viel mehr, die Ängste zu überwinden, als Angst einzujagen und damit das in Frage zu stellen, was langfristig für uns notwendig ist.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Entschließung, die wir eingebracht haben und die morgen zur Entscheidung steht, weist in ihrem ersten Teil die Bestätigung dessen aus, was wir schon einmal hier beschlossen haben. Ich bin doch etwas verblüfft darüber, daß diejenigen, die beispielsweise 1981 oder vorher der Union vorgeworfen haben, sie stehe zu manchem nicht, was sie vorher beschlossen habe, diesen ersten Teil auch nicht zustimmungsfähig finden. Dafür, daß der zweite Teil, der unsere langfristige Politik darstellt, von einer Opposition natürlich nicht unterstützt wird, habe ich Verständnis. Gleichwohl: Wenn ich mich recht entsinne, hat die damalige Opposition CDU/CSU in der Vergangenheit manchen Punkten der einen oder anderen Entschließung, die viele Punkte umfaßte, zugestimmt. Auch die frühere Opposition FDP hat, als es die Große Koalition gab, z. B. allen Punkten — bis auf einen einzigen — der Entschließung betreffend den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei zugestimmt, weil wir der Meinung waren: Es gibt bestimmte Grundfragen, die man hier gemeinsam vertreten soll.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wiederhole es: Für uns Freie Demokraten ist die Sicherheitspolitik mit diesem morgigen Beschluß nicht beendet; er ist eine Zwischenstation. Wir werden unermüdlich weiter daran wirken, durch Vertrauensbildung, durch Abbau des Mißtrauens die Friedensordnung in Europa herzustellen, die wir brauchen, um die Spaltung Europas zu überwinden. Dazu werden wir durch alles beitragen, was in der Wirtschaftspolitik und bei den innerdeutschen Beziehungen möglich ist. Wir helfen dieser Politik aber nicht, wenn wir Entscheidungen von gestern plötzlich in Frage stellen.
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2390 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
MischnickDie Fraktion der Freien Demokraten wird dem Entschließungsantrag und damit den Konsequenzen aus dem NATO-Doppelbeschluß zustimmen, weil wir überzeugt sind, damit einen Schritt zum Frieden und zu möglicher Abrüstung bei weiteren Verhandlungen zu gehen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Bastian.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag debattiert heute nicht unter dem Druck der Straße,
: Doch!)
wie es hier schon mehrfach zu Unrecht behauptet worden ist.
Er debattiert im Angesicht Tausender besorgter Bürger,
deren Anwesenheit an der Bannmeile die Abgeordneten ermahnen soll, sich der Bedeutung ihrer Entscheidung bewußt zu sein.
Eine solche Mahnung undemokratisch zu nennen und als „Druck der Straße" zu diffamieren, ist unzulässig und wird von den GRÜNEN zurückgewiesen.
Ebenso wird die offensichtliche Unangemessenheit des Polizeieinsatzes in dieser Stadt am heutigen Tage zurückgewiesen.
Wir danken unseren Freunden dort draußen für ihr persönliches Engagement und für ihr demonstratives Bekenntnis gegen die beabsichtigte Stationierung von Atomwaffen.
Herr Abgeordneter Bastian, ich erkläre hiermit: Der Präsident des Deutschen Bundestages dankt den Ordnungskräften, die diese freie Debatte und Entscheidung möglich machen. Ich bitte Sie, sich zu mäßigen.
Ich merke nur nichts von der Beruhigung, die hier durch die Ordnungskräfte eintreten soll; auf dem Flügel der Regierungsparteien ist wenig Wirkung davon zu spüren.
Was die soeben vorgetragenen Klagen über Mahnwachen vor Abgeordnetenwohnungen angeht, so würden sie bei uns vielleicht mehr Resonanz finden, wenn wir alle hier nicht schon längst seit Jahren mit Droh- und Schmähbriefen sowie persönlichen Belästigungen aus dem Lager derjenigen, die für die Aufrüstung eintreten, leben müßten; das müssen Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen.
Herr Abgeordneter Bastian, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reents?
Trotzdem finde ich, daß der persönliche Bereich eines jeden zu respektieren ist und daß solche Mahnwachen kein geeignetes Mittel sind, politischen Willen zum Ausdruck zu bringen. Deswegen bitte ich unsere Freunde draußen, von solchen Mahnwachen vor Abgeordnetenwohnungen abzusehen.
Kollege Bastian, würden Sie bestätigen, daß es nicht demokratischen Ordnungsmaßnahmen der Polizei entspricht, denen es zu danken gälte, wenn Abgeordnete des Deutschen Bundestages daran gehindert werden, einen Kranz am Gedenkstein für die Opfer des Naziregimes aus dem Reichstag niederzulegen, und dabei von der Polizei zu Boden gestoßen werden, wie es mir eben passiert ist?
Ja, ich kann Ihnen nur zustimmen, Herr Kollege Reents. — Damit möchte ich gern zum Thema des heutigen Tages kommen.
Die Bundesregierung will sich in ihrer Friedensliebe von niemandem übertreffen lassen. So haben wir es nach dem Regierungswechsel in zahllosen Variationen — —
Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, danke. Ich muß jetzt leider meine Zeit für mich in Anspruch nehmen. Sie ist mir ohnehin nicht so reichlich zugemessen wie den Regierungsvertretern.
— Ja, es wäre schöner, wenn das Volk und die Repräsentanten des Volkes mehr zu Wort kämen als die Regierung.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2391
Bastian— Ja, allerdings, Sie werden sich wundern, auch ich bin gewählt worden, und gar nicht mit so wenigen Stimmen, auch wenn es Ihnen nicht paßt. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen, und damit müssen Sie auch leben können und müssen es ertragen.
Der Bundeskanzler will Frieden schaffen mit immer weniger Waffen. So hat er es jedenfalls in seiner Regierungserklärung versichert und heute noch einmal gesagt. Was läge demnach näher als zu vermuten, daß die erste große Debatte im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit dem voraussehbaren Scheitern der Genfer Verhandlungen über Mittelstreckenraketen dem Thema Abrüstung gewidmet wäre. Aber nicht der Abrüstung oder auch nur ersten Schritten zum Rüstungsverzicht, sondern der Aufrüstung unseres Landes und seiner westlichen Nachbarn mit Nuklearwaffen von strategischer Bedeutung soll heute nach dem Willen der Bundesregierung das Wort geredet werden.Dabei handelt die christdemokratisch geprägte Regierung freilich nach einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Tradition. Denn vor rund einem Vierteljahrhundert hat sie schon einmal gegen den leidenschaftlichen Widerstand der Opposition Atomwaffen auf deutschem Boden durchgesetzt.
Damals forderte das auflagenstärkste Blatt unseres Landes in seiner Ausgabe vom 21. November 1957 — ich zitiere —:Keine Atomwaffen für Westdeutschland und keine Abschußrampen für Atomraketen. Deutschland muß atomfrei bleiben. Deutschland weiß, was Trümmer und Ruinen bedeuten. Keiner von uns kann die Verantwortung tragen, ja zu sagen.Und vier Monate später, am 22. März 1958, erklärte der SPD-Abgeordnete Helmut Schmidt im Deutschen Bundestag — ich zitiere —:Wir sagen dem deutschen Volk in voller ernster Überzeugung, daß der Entschluß, beide Teile unseres Vaterlandes mit atomaren Bomben gegeneinander zu bewaffnen, in der Geschichte einmal als genauso schwerwiegend und verhängnisvoll angesehen werden wird, wie es damals das Ermächtigungsgesetz für Hitler war.
Heute, 25 Jahre später, sind gerade diese Warner von damals die hartnäckigsten Befürworter der bevorstehenden Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden, die nicht nur ihrer Neuartigkeit wegen, sondern vor allem auch wegen ihrer Einordnung in eine offensive Nuklearstrategie der Vereinigten Staaten eine ungleich größere Gefahr für Mitteleuropa bilden als alle bisher auf deutschem Boden angehäuften Massenvernichtungswaffen.
— Wenn Sie es nicht begreifen, liegt es an Ihnen.In seiner noblen und beeindruckenden Rede vom Samstag hat Helmut Schmidt seinen Sinneswandel begründet. Das verdient Respekt, auch wenn wir seine Schlußfolgerungen nicht zu akzeptieren vermögen.
Genauso ist freilich zu respektieren, wenn andere aus demselben Sachverhalt gegenteilige Überzeugungen gewonnen haben, die Überzeugung nämlich, daß nicht die Eingliederung der Bundesrepublik in das Abschreckungssystem der NATO vor 25 Jahren und die jahrzehntelange Teilhabe an diesem System als die gravierendsten Existenzgefährdungen zu bewerten sind, sondern daß die existentielle Gefahr für Mitteleuropa von der erstmals mit treffgenauen amerikanischen Mittelstreckenwaffen entstehenden Chance zur nuklearen Offensive der Vereinigten Staaten in Europa begründet wird.
Die fortschreitende Perfektionierung der Nuklearwaffen, die Entwicklung offensiver strategischer Konzepte und die gravierenden Veränderungen in der von unverhülltem Vormachtstreben und antikommunistischer Kreuzzugsmentalität geprägten Politik der Vereinigten Staaten bieten Gründe genug, die Abschreckungsdoktrin und die Stationierung von Atomwaffen heute ungleich kritischer zu bewerten und kompromißloser zurückzuweisen als vor 25 Jahren. Damals gab es ja noch die Möglichkeit, an die kriegsverhindernde Wirkung von Atomwaffen zu glauben, die nur zur Androhung untragbarer Schäden, aber nicht zur Kriegführung geeignet waren. Damals gab es noch eine Chance für die Soldaten, mit der Fähigkeit zur konventionellen Verteidigung im ohnehin unwahrscheinlichen Konfliktfall jeden Angreifer ohne Einsatz von Atomwaffen zurückzuschlagen und damit der Heimat wenigstens das allerschlimmste Schicksal, auch noch atomares Schlachtfeld zu werden, zu ersparen — eine Chance, die mit dem Aufbau der Bundeswehr und mit der Entwicklung moderner konventioneller Abwehrwaffen von Jahr zu Jahr größer wurde.Es war j a nicht irgendein Unbedarfter, sondern der damalige Oberbefehlshaber aller amerikanischen Truppen in Eurpa, General Kroesen, der 1981 erklärte, er sei davon überzeugt, daß die NATO in der Lage wäre, mit den verfügbaren Streitkräften Mitteleuropa konventionell gegen jeden Angriff zu verteidigen.
Wenn jedoch erst einmal Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper bei uns und unseren Nachbarn in Stellung gebracht sind, wird es die Möglichkeit zur Kriseneindämmung und zur konventionellen Verteidigung im Konfliktfall nicht mehr geben: denn diese Waffen sind allein zur nuklearen Offensive bestimmt und geeignet. Ihren Hintergrund bildet nicht der Wunsch nach mehr Abschreckung, nach dem Wiederherstellen eines angeblich durch die sowjetischen SS-20-Raketen zerstörten euro-
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Bastianstrategischen Gleichgewichts oder gar nach künftiger Abrüstung in diesem Bereich.
— Ich komme gleich darauf.
Dieses Rüstungsvorhaben des Westens erklärt sich allein aus den neuen strategischen Zielsetzungen der USA, die erkennbar nicht mehr auf Kriegsverhinderung, sondern auf eine offensive Kriegsführung im Konfliktfall, wenn nicht auf Kriegseröffnung an der Schwelle zum Konflikt angelegt sind.
— Da waren die Strategien noch nicht so. Ich kann nur die Strategie zitieren, die jetzt entwickelt worden ist. In meiner Zeit, als ich noch aktiver Soldat war, gab es diese Strategie und diese Gefahr noch nicht.
— Das ist drei Jahre her.
— Nein, ich sage meine Meinung. Mit so billigen Mätzchen brauchen Sie mir nicht zu kommen. Ich werde hier schon so frei sein, meine Meinung zu sagen. Sie können es ja auch in meinen Veröffentlichungen nachlesen. Daß Sie sich diese Mühe nicht machen, ist mir vollkommen klar. Es wäre auch sicher Zeitverschwendung, wenn Sie das täten, denn Sie verstünden es doch nicht.
Deshalb ist alles, was Helmut Schmidt und seine Nachbeter zur Begründung der sogenannten Nachrüstung der NATO anführen, nicht schlüssig und nicht übezeugend, sondern die Beschreibung eines Irrwegs, dessen Ausgangspunkte schon falsch bewertet worden sind.Helmut Schmidts Vorstellung, nach der Unterzeichnung des später von den USA nicht ratifizierten SALT-II-Abkommens zur Begrenzung der strategischen Rüstung beider Supermächte müßte ein gesondertes eurostrategisches Gleichgewicht bewertet und hergestellt werden, entsprang gewiß einer tiefen Besorgnis.Trotzdem war diese Vorstellung unzutreffend und gefährlich; unzutreffend, weil es kein gesondertes Mittelstreckenraketenproblem und kein getrenntes INF-Gleichgeweicht gibt und geben darf, weil andernfalls Instabilität und Unsicherheit die Folge vieler gesondert ausgewiesener regionaler Gleichgewichte wären. Darauf hat neben vielen anderen auch der seinerzeitige amerikanische Abrüstungsbeaufragte für Genf, Eugen Rostow, überzeugend hingewiesen.Gefährlich war Helmut Schmidts Vorstellung vom gesondert zu bewahrenden eurostrategischen Gleichgewicht, weil sie zu folgenschweren Überschätzungen der sowjetischen SS-20-Drohung gegen Europa mit eben den Konsequenzen hinführte, die unser klares Nein zur geplanten Aufrüstung in Europa notwendig machen.
Es war naheliegend, daß die Vereinigten Staaten die von Helmut Schmidt geäußerte Sorge sehr schnell als Möglichkeit begreifen würden, ein heranreifendes Rüstungsprogramm für Europa den Europäern nun auch schmackhaft zu machen. Die in den USA ja nicht unbemerkt gebliebene SS-20Stationierung in der Sowjetunion hatte für sich allein diese Möglichkeit noch nicht geboten. Da bot der deutsche Bundeskanzler den Einstieg regelrecht an. Kein Wunder, daß er schnell beim Wort genommen und in die Rolle eines Vorkämpfers für die unselige NATO-Entschließung vom 12. Dezember 1979 gedrängt wurde.Auch das leider ohne überzeugende Notwendigkeit; denn die so oft als Begründung für die Nachrüstung der NATO ins Feld geführte Vorrüstung der Sowjets gibt es ebensowenig wie die angeblich grundsätzlich neue Bedrohung Westeuropas durch die verbesserten sowjetischen SS-20-Raketen und die von ihnen herrührende Erpreßbarkeit der europäischen NATO-Staaten. Zwar hat die Sowjetunion mit dem Aufbau eines überzogenen SS-20-Potentials weder klug noch vertrauensbildend gehandelt. Das ist unstrittig. Aber eine dem Wesen nach neue Bedrohung Westeuropas hat sie dennoch nicht geschaffen, wie auch Theo Sommer — gewiß eher ein Freund als ein Gegner Helmut Schmidts — in der Wochenzeitung „Die Zeit" vom 18. November 1983 zu Recht schreibt; denn schließlich liegt Westeuropa nördlich der Pyrenäen schon seit 20 Jahren im Zielgebiet hunderter sowjetischer Mittelstrekkenraketen, die alle wichtigen NATO-Länder in Europa hätten in Schutt und Asche legen können, wären sie abgefeuert worden. Daß die neueren SS-20Raketen den Sowjets die Möglichkeit bieten, jetzt auch noch Spanien und Portugal anzuzielen, eröffnet dem Osten in Europa keineswegs grundsätzlich neue Optionen für die Kriegsführung oder für die Erpressung anderer Staaten durch die Androhung militärischer Gewalt.Eines muß auch gesagt werden, obwohl es von der Regierung meist schamhaft oder bewußt verschwiegen wird. Wenn die NATO über keine landgestützten Mittelstreckenraketen verfügt, heißt das ja nicht, daß sie auf die nukleare Gegendrohung in Europa verzichtet hätte. Ganz im Gegenteil: In all den Jahren der sowjetischen Raketendrohung lagen auch die europäischen Verbündeten der UdSSR und die europäischen Sowjetländer im Zielgebiet eurostrategischer Nuklearwaffen, die, von U-Booten abgefeuert oder von Kampfflugzeugen transportiert, all diese Länder mit gleich fürchterlichen Schäden bedrohten.Am Gleichgewicht des Schreckens bestand und besteht auch in Europa keinerlei Zweifel. Selbst mit
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Bastiannoch vielmehr SS-20-Raketen, als tatsächlich vorhanden sind, würde die Sowjetunion daran nichts ändern; denn dieses Schreckensgleichgewicht erfordert ja keine gleichen Waffenzahlen, sondern lediglich die Gleichwertigkeit der jeweils angedrohten Schäden, die längst nicht mehr steigerbar sind, für die Sowjets allerdings auch nicht reduzierbar; denn keines der diese Schäden garantierenden Waffensysteme des Westens kann eben wegen seiner technisch anderen Beschaffenheit von sowjetischen Mittelstreckenraketen angegriffen und zerstört werden.Überdies werden allein die britischen und französischen Mittelstreckenpotentiale auf Grund der beschlossenen und eingeleiteten Neubeschaffungen bis zum Ende des Jahrzehnts einen Umfang erreichen, der mit fast 1 600 Gefechtsköpfen rund doppelt so hoch ist wie das sowjetische Drohpotential im eurostrategischen Bereich. Daß die britischen und französischen Waffen der NATO-Seite zuzurechnen sind, daran ist ein vernünftiger Zweifel nicht möglich.Für eine zusätzliche Aufstellung von 108 Pershing-II-Raketen allein in unserem Land sowie von 464 Marschflugkörpern bei uns, in England, Holland, Belgien und Italien gibt es deshalb keinen militärischen, aber auch keinen politischen Grund, wenn tatsächlich nur an Abschreckung und nur an Gleichgewicht selbst in einem unzulässigen formalen Sinn gedacht wäre.
Ebensowenig war die Erwartung berechtigt, der Stationierungsbeschluf3 könne als Hebel für die Durchsetzung erfolgversprechender Abrüstungsverhandlungen verwendet werden.
Ich bezweifle nicht, daß Bundeskanzler Schmidt diese Hoffnung gehabt hat und alles ihm Mögliche getan hat, um die Supermächte an den Verhandlungstisch zu bringen. Aber schon die vom amerikanischen Präsidenten angeordneten Verhandlungspositionen sowie die hartnäckige Zurückweisung der verständlichen sowjetischen Forderung in Genf, auf westlicher Seite auch die britischen und französischen Mittelstreckenwaffen mitzuzählen, ließen keinen Zweifel daran, daß das amerikanische Interesse allein einer ungehinderten Stationierung der eigenen Waffen, aber nicht einer möglichen Reduzierung sowjetischer Systeme galt und gilt.
Mit der Unterstützung der unrealistischen amerikanischen Verhandlungspositionen hat die Bundesregierung das voraussichtliche Scheitern der Genfer Verhandlungen eindeutig mitzuverantworten. Diese Mitverantwortung wiegt um so schwerer, als bei einer anderen Art der Einflußnahme auf die amerikanische Regierung eine Änderung der amerikanischen Verhandlungspositionen nicht ausgeschlossen gewesen wäre.
Daß der Versuch gar nicht unternommen wurde, ja die Amerikaner in ihrer ablehnenden Haltung von der Bundesregierung sogar noch bestärkt wurden, ist entlarvend und entfernt die Bundesregierung noch weiter von der Mehrheit unserer Mitbürger, die keine atomaren Mittelstreckenwaffen in unserem Land haben wollen, die im Gegenteil ganz eindeutig die Entfernung aller jetzt schon bei uns angehäuften Massenvernichtungswaffen fordern.
5 Millionen Bürger haben allein den Krefelder Appell unterschrieben, der die Regierung auffordert, Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper hier nicht zuzulassen. Doch die Bundesregierung ist nicht einmal bereit, die Repräsentanten dieser Initiative anzuhören, wenn sie die Bedenken von 5 Millionen Deutschen vortragen wollen.
In unzähligen Anzeigen, Briefen und Veröffentlichungen aller Art haben sich in den letzten Wochen Ärzte, Wissenschaftler, Richter, Staatsanwälte, Theologen, Philosophen, Gewerkschaften und andere Gruppen der Gesellschaft mit derselben Forderung an die Regierung gewendet. Millionen Menschen demonstrierten in eindrucksvoller Würde. Politiker, Militärs und Wissenschaftler aus den Vereinigten Staaten setzen sich dafür ein, daß nachverhandelt und nicht nachgerüstet wird. Regierungen verbündeter Länder vertreten denselben Standpunkt. — Doch die Bundesregierung gibt sich unbeeindruckt und setzt sich frivol über den zweifelsfrei bekundeten Willen der Bevölkerungsmehrheit hinweg. Merkt sie gar nicht, daß sie damit Demokratie zerstört,
Vertrauen in den Staat mindert, Glaubwürdigkeit verspielt, daß ihr Handeln nicht Stärke, sondern Schwäche verrät und die Unfähigkeit zur Einsicht, daß sie sich auf einem Irrweg befindet, der nur zur Erhöhung der Gefahr für alle, zu immer mehr Waffen der bedenklichsten Art, zu mehr Unfrieden innen und außen und vor allem zum Zerreißen des westlichen Bündnisses hinführen wird?
Denn nicht die Festigung der Allianz und der deutsch-amerikanischen Freundschaft, sondern die schwerste Belastung von beidem seit Kriegsende wird das Ergebnis der sogenannten Nachrüstung sein.
Die Bundesregierung wird an all diesen Ergebnissen gemessen und von der Geschichte schuldig gesprochen werden. Wir fordern die Regierung deshalb auf, nukleare Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden nicht zu dulden. Sie handelt nicht in Übereinstimmung mit dem Willen der Bevölkerungsmehrheit, wenn sie zur Stationierung ja sagt.
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2394 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
BastianFür diesen Fall empfehlen wir der Regierung deshalb, das Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! In der Rede, die heute morgen Herr Kollege Vogel hier gehalten hat — und das war nach dem SPD-Parteitag auch gar nicht anders zu erwarten —, ist noch einmal deutlich geworden, daß die Sozialdemokraten uns und dem Bündnis angesichts der sowjetischen Überrüstung jene Abschreckungswaffen verweigern wollen, die sie selber lange Jahre hindurch gefordert haben. In schmerzlicher und — ich sage — oft in deprimierender Weise zeigt sich, wie eilfertig und hurtig die deutschen Sozialdemokraten ihre eigenen Beschlüsse und Einsichten über Bord werfen, wie rasch sie die seit 1960 bestehende Gemeinsamkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik zerbrechen und wie eifernd und — man muß sagen — ohne Rücksicht auf die Folgen, sie sich jener alten deutschen politischen Romantik in die Arme werfen, wo die Wirklichkeit wenig, die verworrenen Träume um so mehr gelten.
Es war und es ist schon erstaunlich, was wir aus Köln und auch hier gehört haben. Da werden, meine Damen und Herren, historische Tatsachen, die jedermann in den Dokumenten nachprüfen kann, einfach verleugnet, in ihrem Zusammenhang und in ihrer Wirkung verdreht. Der Bundesminister des Auswärtigen hat dazu das Nötige in aller Klarheit gesagt.Ich, meine Damen und Herren, werfe den sozialdemokratischen Kollegen vor, daß sie in der Abrechnung mit ihrer eigenen Vergangenheit und mit ihrem letzten Kanzler und auch, um im Volk draußen die Fakten vergessen zu machen, ihre eigenen früheren Entscheidungen falsch darstellen, die Ursachen für die Nachrüstung unterschlagen, die Vorgeschichte des Doppelbeschlusses nicht richtig mitteilen, die sowjetische Politik schönen und über den Wald von Raketen in Osteuropa einfach hinwegsehen,
j a, daß sie im Grunde die effektive Bedrohung, die wir durch die sowjetische Hochrüstung und die auf uns gerichteten Raketen empfinden, so, als ob dies alles unwichtig sei, einfach zur Seite drängen.
Sie begleiten Ihre Absage an den Doppelbeschluß mit der Versicherung, Sie wollten in der NATO bleiben, Sie wollten in der NATO wirken. Und Sie loben die Bundeswehr. Aber diese Formeln, meine Damen und Herren, wie sie im Kölner Leitantrag des Parteivorstandes der SPD enthalten sind, tragen einen unauflösbaren Widerspruch in sich. Denn was ist — Herr Kollege Mischnik hat darauf hingewiesen, indem er eine Passage aus der „Neuen Zürcher Zeitung" verlesen hat — das Bekenntnis zur NATO wert, wenn gleichzeitig die entscheidenden Beschlüsse der NATO abgelehnt werden?
Herrn Vogels Beitrag zur Bundeswehr heute vormittag und sein Hinweis auf eine Wehrsolderhöhung haben gezeigt, was er meint, wenn er „Bundeswehr" sagt. Ich hätte gerne gehört, daß Herr Vogel bei dem permanenten Mißbrauch des Wortes Friedensbewegung heute endlich und mit Betonung hier gesagt hätte, daß die einzig wirkliche, funktionierende und bewährte Friedensbewegung die Bundeswehr und das Bündnis ist.
Meine Damen und Herren, es wird auch heute wieder versucht, vergessen zu machen, daß es vor allem die damalige deutsche Regierung gewesen ist,
die seit 1977 die Amerikaner immer wieder drängte, Abschreckungswaffen gegen die Übermacht der sowjetischen SS 20 bereitzuhalten und in Europa aufzustellen. Sie beschämen sich durch die Art, in der Sie Ihre eigene jüngste Geschichte zu bewältigen suchen — meine Damen und Herren — trotz des heute hier gegebenen demonstrativen Beifalls, auch durch die abweisende Kälte, mit der Sie Ihren ehemaligen Kanzler, dem Sie ja im Februar des letzten Jahres hier in diesem Raum noch einstimmig das Vertrauen ausgesprochen haben, behandeln — das ziert Sie nicht und ehrt Sie nicht.
Es ist, um es offen zu sagen, nur peinlich.
Ich fürchte, meine Damen und Herren, daß sich die Sozialdemokraten so sehr mit sich selbst beschäftigen, und daß sie so sehr die Konkurrenz der GRÜNEN fürchten, daß sie gar nicht spüren, wie unwirklich, fast gespenstisch ihre Position in der Welt draußen geworden ist.Meine Damen und Herren, die deutschen Sozialdemokraten, von ihrer neuen sozialistischen Mehrheit ins politische Abseits getrieben, gelten heute in vielen Teilen der Welt — ich sage das nicht mit Begeisterung, sondern ich sage das mit Bedauern —
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Dr. Marxfür unberechenbar. Manches von dem, was dort als unberechenbar verstanden wird, wird dann leider insgesamt auf die Deutschen übertragen. Das ist etwas, was uns sehr bedrücken und bedrängen muß.
Meine Damen und Herren, bei unseren Nachbarn gibt es bange Fragen — man lese doch nur ihre Zeitungen —, ob denn der unheilvolle deutsche Irrationalismus wiederkehre,
ob man — so lautet z. B. die Formel in der linken und in der rechten Presse Frankreichs — jenseits des Rheins künftig noch auf Treue und Glaubwürdigkeit zu geschlossenen Verträgen rechnen könne.Herr Schmidt hat heute — vielleicht haben Sie genau zugehört — nicht umsonst an vielen Stellen seiner Rede immer darauf hingewiesen: Man muß sein Wort halten. Er sagt das nicht in Richtung auf die Regierungskoalition, auf uns, sondern er sagt es als Mahnung an seine eigene Fraktion, weil er weiß, daß man sich dort 395 : 14 nicht bereiterklärt hat, das gegebene Wort zu halten.
Am 10. November hat der frühere französische Außenminister François-Poncet in „Le Monde" einen sehr interessanten Artikel über die Deutschen geschrieben. Er sagt dabei, es sei wohl die künftige Aufgabe der Franzosen, die deutschen Sozialdemokraten den „Sirenen des Pazifismus und des Nationalneutralismus abspenstig" zu machen.An einer anderen Stelle setzt er hinzu, daß die historischen Ziele des deutschen Sozialismus, nachdem sie durch die Wirtschaftskrise in weite Ferne gerückt worden sind, nun gegen neue Wertvorstellungen ausgewechselt werden, wie sie in der Werkstatt der Pazifisten, der Grünen und der Alternativen geschmiedet werden.Ich frage mich, ob eigentlich die Sozialdemokraten nicht merken, wie weit sie sich selbst tatsächlich bereits isoliert haben, mit welch mißtrauischen Augen man sie betrachtet und wie sehr ihre neue Politik im Bündnis alarmiert.
In Hessen — in Ihrer Heimat, Herr Kollege Voigt — haben Sie im Oktober des letzten Jahres „Verrat" gerufen, und Sie haben die Freien Demokraten gemeint. Jetzt aber haben Sie tatsächlich Ihren früheren Bundeskanzler und die von ihm und von Ihnen früher der ganzen Welt gegenüber vertretene Politik verraten, eine Politik, die Sie hier in diesem Saal über ein Jahrzehnt tausendfältig erklärt und in vielen Abstimmungen bestätigt haben.
Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Brandt hat sich mit dem wahrhaft erstaunlichen Hinweis entschuldigt, er sei j a eigentlich schon immer gegen diese Nachrüstung gewesen, er habe sich aber öffentlich dafür ausgesprochen,
um damit Herrn Schmidt das Weiterregieren zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, Sie können daraus ersehen, was eines solchen Parteiführers Wort wirklich wert ist. Denken Sie auch daran, daß jenen jungen Menschen, die oft an der Aufrichtigkeit von Politikern zweifeln, ein verabscheuungswürdiger Hinweis — ich wiederhole: ein verabscheuungswürdiger Hinweis — auf die Berechtigung ihrer Zweifel geliefert worden ist.
— Ich höre hier von dieser Seite oft Kaschemmenton, aber ich bitte zu verstehen: Ich kann mich auf diese wenig artikulierten und vor allen Dingen dem geistigen Niveau nicht entsprechenden Zwischenrufe nicht einlassen.
Meine Damen und Herren, Herr Brandt ist ja auch Vorsitzender der Sozialistischen Internationale, und er mag sich nun draußen den Scherbenhaufen ansehen, den seine Politik der Anbiederung bei den GRÜNEN provoziert hat. Wenn man auf der europäischen politischen Landkarte herumschaut und dabei einmal von den dänischen und den ohnehin in sich zerstrittenen britischen Sozialisten absieht, wird man bei dem sozialistischen Regierungschef Mario Soares in Portugal, bei dem sozialistischen Regierungschef Felipe Conzáles in Spanien, bei dem sozialistischen Regierungschef Bettino Craxi in Italien und natürlich auch in Frankreich beim sozialistischen Generalsekretär Jospin, beim Ministerpräsidenten Mauroy und beim Staatspräsidenten Mitterrand ein ganz anderes außen- und sicherheitspolitisches Bekenntnis finden,
nämlich für die Einhaltung gegebener Worte, für verläßliche Leistungen im westlichen Verteidigungsbündnis, für die entschlossene Sicherheit in Frieden und Freiheit.Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen gern einige Zitate vortragen, Zitate der eben genannten Politiker, denn ich möchte gern, daß diese Aussagen im Protokoll des Deutschen Bundestages stehen.Der Generalsekretär der französischen sozialistischen Partei, Jospin, sagt, es sei ausgeschlossen,
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2396 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. Marxdaß die UdSSR „ein Vetorecht bei der europäischen Verteidigungspolitik" haben könne, und er fügt hinzu:für uns ist es unakzeptabel, daß die Sowjetunion sich einbildet, durch Druck, Einschüchterung oder auch Schmeichelei— oder auch Schmeichelei! —ein Recht zu erwirken, um festzustellen, wasder Sicherheit der Völker Europas guttut.Ich frage mich, ob der linken Seite dieses Hauses dabei nicht die Ohren klingeln und ob sie ihr nicht bei dem Satz von Edgar Faure klingeln:
Ich bin beunruhigt über das Abgleiten einer Friedenskampagne in eine Kampagne für eine gefährliche Utopie der einseitigen Abrüstung.Der französische Verteidigungsminister Charles Hernu ruft in einem „Welt"-Interview noch einmal seinen deutschen Genossen in Erinnerung — ich zitiere wieder —:Es war die Bundesrepublik Deutschland, die sich unter der Führung des Bundeskanzlers Schmidt und mit der frei geäußerten Zustimmung der SPD zum Vorkämpfer des „Nachrüstungsbeschlusses" vom Dezember 1979 machte.Hernu fährt fort:Wir Franzosen sagen: „Der Wein ist in den Schläuchen, jetzt muß er auch getrunken werden."Aber Hernu wird mit Staunen und Unbehagen erfahren haben: Die deutsche SPD trinkt den von ihr gekelterten Wein nicht. Sie bietet heute das Zuckerwasser ihrer eigenen Illusion.Meine Damen und Herren, Herr Vogel hat heute dem Bundeskanzler vorgeworfen, er habe sich nicht energisch genug für die Einbeziehung von Raketen aus Drittländern eingesetzt. Aber der Bundeskanzler kannte den von beiden Regierungen und beiden Parlamenten in Frankreich und Großbritannien immer wieder geäußerten Wunsch und die dortige Meinung. Ich möchte auch dazu noch einmal Hernu zitieren. Er sagt:Diese französischen atomaren Waffen sind das allerletzte Mittel, um einen potentiellen Angreifer vor einer Aggression, vor einem Angriff auf uns abzuschrecken. Das sind also Waffen zur Verteidigung der lebenswichtigen Interessen unseres Landes. Sie sind von Natur aus nationale Waffen ... Wer könnte aber bezweifeln, daß diese Waffen auch unseren Nachbarn nützen, insbesondere unserem deutschen Nachbarn, weil sie ein Element der Ungewißheit in die Überlegungen eines potentiellen Angreifers im Falle eines Konflikts einbringen würden.Präsident Mitterrand, dessen Rede vom 20. Januar im Deutschen Bundestag eine scharfe Absage an jede Form neutralistischer Schwärmerei und einer falschen Einschätzung der sowjetischen Politik war, hat vor wenigen Tagen in einem Fernsehinterview einige Merksätze gesagt, die das volle Einverständnis mit uns markieren mit einer Politik der Festigkeit und zugleich der Dialog- und Verhandlungsbereitschaft. Ich zitiere Mitterrand:Man muß reduzieren. Bis zu welchem Punkt muß man reduzieren?Er geht dann auf seine Rede hier im Bundestag ein und sagt:Verhandelt auf dem niedrigstmöglichen Niveau der Waffen für eure Sicherheit! Aber bewahrt das Gleichgewicht; denn wenn es kein Gleichgewicht mehr gibt untereinander, dann steht der Krieg vor den Toren.Ich würde sehr wünschen, daß sich viele Sozialdemokraten diesen Satz noch einmal überlegen, noch einmal bedenken. Ich würde damit die Hoffnung verbinden, daß sie dann entsprechende Schlüsse ziehen, die allerdings mit ihrer gegenwärtigen Politik nicht in Übereinstimmung zu bringen wären.Das ist auch klar. Mitterrand hat ebenfalls vor wenigen Tagen einen „erstaunlichen Mangel an Logik" bei den deutschen Sozialdemokraten vorgefunden.
In Belgien — auch das sollten wir heute nicht vergessen — hat die dortige Kammer mit 116 zu 84 Stimmen der Regierung das Recht bestätigt, amerikanische Mittelstreckenraketen aufzustellen.In Italien hat das Parlament mit 351 zu 219 Stimmen ebenfalls einen positiven Beschluß gefaßt, und Craxi hat — in voller Übereinstimmung mit seiner ganzen Regierung, mit Sozialisten, Christlichen Demokraten, Sozialdemokraten, Republikanern und Liberalen —
nachdrücklich das Bekenntnis zum Doppelbeschluß und zur nunmehrigen Stationierung bekräftigt und mit aller Entschiedenheit hinzugefügt, daß sich Italien durch keinerlei Drohung von seiner Auffassung und seinem Wort abbringen lasse.Das britische Parlament hat mit großer Mehrheit die Voraussetzungen für die Stationierung der Marschflugkörper geschaffen.Auch das Europäische Parlament in Straßburg, das wir allesamt deshalb loben sollten, weil es sich endlich einmal einer entscheidenden außenpolitischen Frage nicht nur in Fragestunden, sondern auch in einer gründlichen Debatte angenommen hat,
hat mit starker Mehrheit entschieden. Dort bestand die Mehrheit aus Christlichen Demokraten, Liberalen, britischen Konservativen und zahlreichen Gaullisten. Es gab eine teilweise Stimmenthaltung der französischen und der italienischen Sozialisten. Die Entscheidung fiel gegen die deutschen Sozialdemokraten,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2397
Dr. Marxdie von den Kommunisten und den Einheitsproletariern unterstützt worden sind.Natürlich ist auch von uns hier niemand entzückt — ich muß das nicht noch einmal sagen, aber vielleicht sollte ich es einmal unterstreichen, weil es vor allem der Bundeskanzler in seiner heutigen Regierungserklärung und der Bundesaußenminister heute eindrucksvoll gesagt haben — über Raketen, über ein Mehr von Raketen. Aber, meine Damen und Herren, wir möchten das Arsenal an Vernichtungswaffen, wie Sie wissen, nicht vergrößern, sondern verringern, allerdings nur dann, wenn auf beiden Seiten und gleichzeitig und vergleichbar und gegenseitig kontrolliert diese Abrüstung stattfinden kann.
Da in der Politik der Wille zwar viel zählt, er sich aber nach den Gegebenheiten ausrichten muß, zwingt uns die Intransigenz der Sowjets, zwingt uns deren absurdes Vertrauen auf die psychologische Macht angehäufter Waffen, das Notwendige zur Abschreckung für unsere Sicherheit zu tun.Bevor ich diesen Teil abschließe, möchte ich noch einmal den französischen Ministerpräsidenten zitieren, der vor wenigen Tagen zu einem Journalisten, der ihn gefragt hat, warum er eigentlich auf dieser Position steht, sagte, weil er eingesehen habe, daß sich drüben die Raketen und hier die Pazifisten befänden, und das könne wohl nicht die richtige Mischung für die gemeinsame europäische Sicherheit sein.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine Bemerkung zur sowjetischen Politik machen; denn ich denke, jedermann von uns, der sich seit dem Besuch Gromykos im November 1979 hier in Bonn die sowjetische Presse betrachtet und gehört hat, was jeden Tag in Radio Moskau durch Nowosti, durch TASS usw. gesagt wird, der weiß doch, daß man dort alle Aktionen auf einen einzigen Punkt konzentriert. Dies ist das entscheidende Ziel, und das heißt: Keine einzige neue amerikanische Waffe nach Europa und daraufhin — das ist ein Teil dieses Konzeptes — mehr und mehr die Amerikaner und die Europäer, die Amerikaner und die Deutschen auseinanderdrängen, weil es natürlich leichter ist, mit einem Europa, das erpreßbar ist, fertig zu werden, ohne den amerikanischen Schutz, als mit einem Europa, das sich fest im Bündnis befindet!Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen, man kann sagen: ziemlich genau nach dem verbrecherischen Abschuß der südkoreanischen Verkehrsmaschine, ist die Sprache der Sowjets nicht nur insgesamt noch härter, noch grober, noch ordinärer geworden. Wenn ich höre, daß es im Westen Leute gebe, die ihre Politik nach „kannibalistischen Instinkten" organisieren, dann sehe ich, wes Geistes Kind diese Art Propagandisten sind. Aber diese Sprache ist auch martialischer geworden, und es drängen sich, wie jedermann beobachten kann, immer mehr tonangebend hohe militärische Führer dort in den Vordergrund. Es mag an der bis jetzt ungeklärten Machtverteilung in der obersten Nomenklatura liegen, daß sich die sowjetischen Aktionen im Zusammenhang mit den Genfer Abrüstungsdiskussionen und die sowjetischen Reaktionen auf die zahlreichen amerikanischen Angebote so merkwürdig starr und so wenig flexibel ausnehmen.Herr Kollege Mischnick hat soeben, wie ich glaube, in sehr eindrucksvoller Weise von den vielfältigen Formen von Beeinflussung und Druck gesprochen, denen zahlreiche Abgeordnete dieses Hauses in den letzten Wochen ausgesetzt wurden und die sich gestern und heute in verschärfter Form fortgesetzt haben. Ich spreche, wenn ich Druck sage, nicht von den zahlreichen Briefen und Telegrammen, ich spreche nicht von der Sorge und den Bedenken, die uns viele vortragen und von denen wir ein gerüttelt Teil auch übernehmen. Ich will auch nicht von jenen von fremder Hand vorfabrizierten Schreiben mit ihren gestanzten Angstformeln sprechen, die oft in hysterischen Wendungen das Weltende als unmittelbar bevorstehend wähnen.
Nein, ich will mich an jene wenden, die uns unterstellen, wir bereiteten einen Krieg vor und wir verachteten, wir liebten nicht den Frieden.Ich darf ein persönliches Wort sagen. Ich bin Angehöriger einer Generation, von der es in diesem Hause wohl nicht mehr sehr viele gibt, die Nazizeit und Krieg bewußt erlebt hat. Ich kann mich noch genau erinnern — ich habe das nicht nur in Büchern gelesen —, wie die Nazis mit ihren klopfenden Stiefeln durch unsere Straßen marschierten, wie sie die Menschen tyrannisierten und terrorisierten und wie sie die kaum gewonnene Macht zur sofortigen Errichtung einer rücksichtslosen und brutalen Diktatur und dann eines totalitären Staates nutzten. Ich selbst habe erlebt, wie im Juni 1933 die Wohnung meiner Eltern zerschlagen, mein Vater als „schwarzer Hund" und „Vaterlandsverräter" beschimpft und vom johlenden Pöbel ins Gefängnis begleitet wurde. Ich bitte mir nachzusehen, wenn ich heute bei manchem, was ich draußen höre, notwendigerweise diese Erinnerung aus meiner frühen Jugend wieder in mir fühle.
Ich selbst und meine Schwester haben damals an unserem eigenen Leib Bedrohung erfahren, Schläge, Verfolgungen auf dem Schulhof bis hin zur bösartigen Schikanierung durch beflissene Lehrer, was es, wie man liest, heute hin und wieder auch noch geben soll.
Herr Abgeordneter Dr. Marx, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich gestatte keine Zwischenfrage, weil meine Zeit sonst davonläuft.
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2398 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. MarxMir kommt es darauf an, diese paar Bemerkungen deshalb ungestört zu machen, weil es das erste Mal ist, daß ich mir erlaube, ein Wort von mir selbst, über meine eigene Erinnerung und über das, was mich bis heute quält und bedrängt, zu sagen, und weil ich meine ganze politische Existenz dareinsetzen will, um zu erreichen — ich will Ihnen, meine verehrten Damen und Herren, sagen, daß wir zu diesem Zweck vieles tun müssen —, um nicht wieder zu erleben, was wir bereits erlebt haben. Wir müssen den Anfängen wehren.
Meine Damen und Herren, ich kann auch nicht vergessen, wie mein Vater zurückkam, nachdem er einige Wochen verborgen in den Wäldern gelebt hat, wie er dann, als er erschüttert nach Hause gekommen war, erzählte, daß man ihn mit gezogener Pistole aus seinem Dienstzimmer hinausgejagt hat. Ich kann auch nicht vergessen, daß er dann für längere Zeit suspendiert wurde. Mir fällt das alles heute ein, an einem Tage, an dem in diesem Parlament über eine entscheidende Frage diskutiert wird, sich draußen aber Leute in all der ihnen innewohnenden Arroganz ein Volksparlament nennen und glauben, sie könnten Parlament spielen, wozu ihnen jede moralische, jede materielle und jede geistige Legitimation fehlt.
Der Kollege Mischnick hat ein Wort in den Mund genommen, das ich leider wiederholen muß. Ich tue das nicht gerne. Er hat davon gesprochen, daß es leider verschiedene Formen des Psychoterrors gebe. Wie weit sind wir in diesem freiheitlichen Land gekommen, wenn es heute so ist, daß ein solches Wort von einem Mann, der das Urbild liberalen Denkens und liberalen Verhaltens ist — ich meine den Kollegen Mischnick — in den Mund genommen wird? Wenn er ein solches Wort in den Mund nimmt, dann begreife ich, daß ihn offenkundig — er hat darüber nur sehr zurückhaltend gesprochen — noch viele andere Dinge sehr bedrängen und bedrücken, die wir in einer parlamentarischen, rechtsstaatlich geordneten Demokratie nicht zulassen dürfen.
Da gibt es Leute, die einen Tag und Nacht anrufen,
die Briefe schreiben, Eilbriefe oder eingeschriebene Briefe, die Telegramme schicken.
Ich habe gegen Briefe — das habe ich vorhin gesagt — nichts einzuwenden. Ich werde aber empfindlich, wenn es Leute gibt, die ich gar nicht kenne und die mich an mein eigenes Gewissen erinnern. Mein Gewissen habe ich zur Richtschnur meines eigenen politischen Denkens, Handelns und Entscheidens gemacht. Das hat mich auch hierher gebracht. Ich bestehe darauf, daß ich nach diesem meinem besten Wissen und Gewissen bei allen politischen Entscheidungen handle. Ich lasse mir das einfach nicht von Leuten abnehmen, die solche Briefe schicken, wobei sie sie häufig gar nicht selber geschrieben haben, sondern nur unterschrieben haben, weil sie oft gar nicht wissen, was in ihnen steht.
— Ich habe es auch satt — das muß ich leider sagen —, mir tagaus, tagein über konventionellen Krieg oder über atomare Verbrennung halbgare Vorlesungen halten zu lassen.
Ich bin einer, der nach sechs Verwundungen und zu 90 %, also schwer kriegsbeschädigt, in der Tat weiß, was die Furie des Krieges anrichten kann — an materieller, an seelischer und an moralischer Verwüstung.
— Ich weiß nicht, woher Sie immer noch den Mut nehmen, in diesem Augenblick diese völlig unqualifizierten Zwischenrufe zu machen.
Ich will gar nicht über die fortgesetzten Schmerzen, über die Pein, den Verzicht sprechen, den viele meiner Kameraden — die sind ja nicht freiwillig mit Hurra in den Krieg gezogen! — seit der Kriegszeit haben erleiden müssen. Aber ich verwahre mich ganz entschieden dagegen, daß mir und meinen Freunden der Wille, die politische Leidenschaft für Frieden, für Rechtsstaat und Demokratie abgesprochen oder von einigen in Zweifel gezogen werden. Ich darf sagen: Die Freiheit auszugestalten, ein menschenwürdiges Leben in Frieden mit auf zubauen, das war für mich seit der Zeit im Lazarett entscheidender Anlaß, in die Politik zu gehen; das war die starke Triebfeder, all die Unbilden eines unsteten und keineswegs bequemen Lebens auf mich zu nehmen, das übrigens nicht ohne innere Kämpfe und viele Skrupel abläuft.Aus diesen Erfahrungen kommend, mit diesem Engagement haben wir keine schlechte Politik gemacht; ich meine meine Freunde und mich. Wir haben Deutschland — das sage ich jetzt noch einmal in Richtung auf die sozialdemokratischen Kollegen — um der Interessen unseres Vaterlands willen zu einem geachteten Land emporgeführt, ihm Ansehen und Vertrauen bei Freund und Gegner verschafft, und wir haben im Bündnis — nur im Bündnis! — den Frieden bewahrt. Das wollen wir auch in der Zukunft, denn ohne Freiheit gedeiht kein Friede, und ohne Friede kann man die köstliche Freiheit nicht erfahren.Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich darf schließlich mit einem Wort, das der Bundeskanzler vor wenigen Tagen hier, im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, bei der Gedenkfeier am Volkstrauertag sagte — ich zitiere —:
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2399
Dr. MarxUnser Grundgesetz verbietet uns jeden Angriffskrieg. Für nichts und gegen niemanden werden wir jemals unsere Waffen zum Angriff einsetzen. Dazu haben wir uns gemeinsam mit unseren Partnern und Freunden verpflichtet. Über den Gräbern der Opfer des Krieges und der Gewalt wollen wir uns versöhnen mit allen, die dazu bereit sind, mit allen Menschen guten Willens.Dem ist in der Tat nichts hinzuzufügen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst eine Bemerkung zum Stil machen, und zwar deshalb, weil der Kollege Marx soeben behauptet hat, man könne sehen, was das Wort eines Parteiführers wert sei, als er darüber referiert hat, daß Willy Brandt Bedenken gegen den NATO-Doppelbeschluß geäußert hat.
Meine Damen und Herren, er tut das nicht erst seit einigen Wochen, sondern er hat das schon auf unserem Parteitag im Dezember 1979 getan. Herr Kollege Marx, Sie hätten das nachlesen können. Sie hätten dabei übrigens festgestellt, daß ihm der damalige Bundeskanzler hinsichtlich dieser Bedenken sogar verständnisvoll zugestimmt hat.
Ich sage nur: Hier geht es nicht darum, daß man eine Abteilung für Schmutz und Schlamm und eine Abteilung für ästhetische Politik hat, und der Bundeskanzler schwebt darüber und beklagt mangelnde Gemeinsamkeit. Gemeinsamkeit kann es nicht geben mit Diffamierungen.
Zuvor ein zweites Wort zu dem Versuch, Helmut Schmidt gegen die SPD auszuspielen. Wir haben das heute wieder mehrfach erlebt. Ich möchte dazu dreierlei sagen:Erstens. Wir wären bereit, darüber zu diskutieren, wenn Sie sich alle zuvor die Versäumnisse, die Helmut Schmidt dieser Bundesregierung vorgeworfen hat, zu eigen machen würden.
Zweitens. Wir warten noch auf ein Zeichen ähnlicher Größe, die darin besteht, öffentlich einen Fehler zu bekennen, wie Helmut Schmidt das im Zusammenhang mit der Pershing II gemacht hat.
Und drittens. Sie haben nicht gehört oder haben nicht verstanden, was es bedeutet, daß Willy Brandt unter der Ovation des Parteitags die Solidarität zwischen der SPD und Helmut Schmidt unterstrichen und erneuert hat.
Wer ihn gegen die SPD benutzen will, wird die ganze SPD gegen sich haben.
Und wenn heute wiederholt der französische Staatspräsident, der Sozialist Mitterrand, gegen die Sozialdemokraten ins Feld geführt werden sollte, dann muß bitte von Ihnen gewürdigt und erwähnt werden, was er gerade gesagt hat: „Frankreich ist der Gegner niemandes." Stellen Sie sich mal vor, Herr Dregger, das hätte ein Sozialdemokrat gesagt!
Und er hat hinzugefügt: „Die heutige Krise auf Grund der Nachrüstung ist die drittschwerste Nachkriegskrise nach Berlin und Kuba."
Das hat jedenfalls mit der Verniedlichung und dem Galoppoptimismus nichts mehr zu tun, mit dem diese Koalition zum Ja zur Stationierung drängt.
Die Entscheidung, die der Deutsche Bundestag am Ende dieser Debatte zu treffen haben wird, ist die Schlußentscheidung über den NATO-Doppelbeschluß vor der Stationierung — nicht mehr und nicht weniger.Zunächst zum „Nicht mehr". Es ist kein Beschluß für oder gegen das Bündnis. Das Ja zum Bündnis steht für die SPD seit 1960 fest.
Auch der Parteitag des letzten Wochenendes hat das bestätigt.
Mehr noch: Es lag nicht ein einziger Antrag zur Abstimmung vor, der dies in Zweifel ziehen wollte.
Die Parteien der Regierungskoalition sollten das anerkennen.
Es liegt jedenfalls weder im Interesse des Bündnisses noch im deutschen Interesse, Zweifel an der
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2400 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bahrdeutschen Zuverlässigkeit oder Zweifel an der sozialdemokratischen Zuverlässigkeit zu verbreiten.
Es wäre falsch, Befürchtungen im Westen oder Hoffnungen im Osten zu nähren. Insofern ist das, was bis in die letzten Tage hinein aus der CDU und aus der CSU geäußert wurde, bösartig gegenüber der SPI! und schädlich gegenüber dem Bündnis.
Es ist schädlich auch gegenüber unserem Staat. Hier wird kein Grundkonsens der bisherigen Sicherheitspolitik aufgekündigt. Wir haben weiß Gott über genug zu streiten. Über die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik haben wir nicht zu streiten. Unser Land bekommt Sicherheit nur im Bündnis und mit dem Bündnis.
Jedenfalls, für eine unabsehbare Zeit bleibt die NATO wichtigstes Instrument unserer Sicherheit, wenngleich nicht Endziel.
Der Enkel wird ja wohl die Äußerung Adenauers nicht zurücknehmen wollen, daß Warschauer Pakt und NATO eines Tages der Vergangenheit angehören werden. Das war eine Auffassung Adenauers, vor dem Deutschen Bundestag formuliert, die ich aufs innigste teile. Wir werden jedenfalls heute darüber nicht zu streiten brauchen, daß das Ziel einer europäischen Friedensordnung, die die Bündnisse überwindet, nur mit den Bündnissen erreichbar ist.
Übrigens: Keine andere NATO-Regierung hat gewagt, das Nein ihrer Opposition zur Stationierung als Nein zum Bündnis zu verdächtigen. Die Bundesregierung hat hier noch einiges an Stil von anderen Regierungen zu lernen.
Worüber wir streiten, ist das Ja oder Nein zur Stationierung. Alle Redner, alle Veröffentlichungen der Bundesregierung, auch heute wieder, gehen davon aus, daß die Bundesrepublik Deutschland schon festgelegt sei. Wenn das so wäre, wäre die Debatte des Deutschen Bundestages überflüssig. Wenn wir international so festgelegt wären, daß wir gar nicht mehr nein sagen dürfen, dann bräuchten wir die heutige Diskussion nicht.Dann hätte es auch die Debatten im Unterhaus oder im italienischen Parlament nicht geben dürfen. Es ist keine Frage: In London und Rom haben nicht Scheinparlamente über etwas debattiert, über das sie gar nichts mehr zu sagen hatten, sondern echte Parlamente, die für ihre Länder Entscheidungen getroffen haben.
Aber keine Regierung, weder in Rom noch in London, hat gewagt, einen solchen Quatsch zu behaupten, daß ein Ja oder Nein über den Fortbestand oder das Ende der NATO entscheidet.
Eine Mehrheit für das Nein hätte für England und Italien gegolten, so wie das Ja für diese Länder gilt. Es geht eben um mehr als nur um einen Vollzug gefaßter Beschlüsse, wie Herr Dregger behauptet hat; es geht um eine Entscheidung. Dasselbe trifft für den Deutschen Bundestag zu: Das Ja wird gelten, das Nein könnte gelten; wir haben dasselbe Recht. Es gibt keinerlei eingeschränkte Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, nicht ebenso nein sagen zu können wie jedes andere Land, in dem Raketen aufgestellt werden sollen.
Ob die Mehrheit das will, ob sie die Kraft dazu hat, das ist eine ganz andere Frage. Aber festgehalten werden muß: Die Verantwortung für die Stationierung und ihre Folgen wird von dieser Bundesregierung und ihrer Mehrheit zu tragen sein.
Natürlich muß der Einwand bedacht werden, ob das rechtlich unbezweifelbar mögliche Nein politisch möglich und vertretbar ist. Das ist der Einwand, ob ein Nein Schaden für die NATO bedeuten würde. Wer das vermutet, erhebt schwere Beschuldigungen gegen die niederländische Regierung. Die Niederlande sind eben nicht festgelegt, obwohl auch sie für die Stationierung von Cruise Missiles vorgesehen sind. Der christdemokratische Ministerpräsident hat dem Bundeskanzler erläutert, daß und warum er die erkennbare Ablehnung der Mehrheit der niederländischen Bevölkerung respektiert.
Der deutsche Bundeskanzler hat ihm seinen Respekt dafür zugesagt. Es wäre dem deutschen Bundeskanzler nicht verboten, ebensoviel Respekt vor dem erkennbaren Mehrheitswillen der deutschen Bevölkerung zu haben.
Was für Den Haag erlaubt ist, ist für Bonn nicht verboten. Was in Den Haag NATO-gemäß ist, wäre in Bonn kein NATO-Bruch.Bleibt der Einwand, daß sich die NATO nicht so verhalten darf, daß sie der Sowjetunion damit ein Vetorecht über das einräumt, was der Westen für seine Sicherheit für notwendig hält. Ein solches Vetorecht dürfen wir der Sowjetunion nie geben; sie tut das umgekehrt auch nicht. Ich sehe niemanden — jedenfalls nicht bei der SPD —, der das verlangt. Jede Seite ist frei, so viel zu rüsten, wie sie kann oder für nötig hält; das war schon in der Vergangen-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2401
Bahrheit so. Aber gerade deshalb sind wir doch in diese Rüstungsspirale gekommen, deren Ende noch nicht abzusehen ist.Es geht nicht um ein Vetorecht für die Sowjetunion, sondern es geht um beiderseits verabredete kontrollierbare Begrenzungen. Jede Rüstungskontrolivereinbarung bedeutet doch einen Vertrag, der beide Seiten bindet. Niemand nimmt hin — jedenfalls kein Sozialdemokrat —, daß die Sowjetunion auf ihrem unannehmbar hohen Stand von SS 20 bleibt und wir auf unserer Seite Null haben.
Wenn gesagt wird: Ein Nein zur Nachrüstung schafft keine einzige SS 20 weg, so ist das richtig. Aber ein Ja zur Nachrüstung schafft auch keine einzige SS 20 weg.
Im Gegenteil: Ein Ja zur Nachrüstung gestattet Moskau, weitere SS 20 zu produzieren und aufzustellen — und neue Raketen, SS 22, noch dazu.
Das kann doch nicht im Interesse des Westens liegen!
Herr Abgeordneter Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ronneburger?
Es tut mir schrecklich leid, im Augenblick nicht.
Nur im Augenblick nicht oder generell nicht? — Generell nicht. — Bitte sehr.
Die Bundesregierung hat das politische Gewicht unseres Landes in dem einen Jahr ihrer Tätigkeit gemindert; Helmut Schmidt hat schon darauf hingewiesen. Das begann in dem Augenblick, als sie ohne Not die Möglichkeit des deutschen Nein aus der Hand gab. Das hat zwar in Washington das Klima verbessert, aber nicht die Beachtung deutscher Argumente erhöht.
Die Willfährigkeit, mit der die Bundesregierung jeder Änderung der amerikanischen Politik folgt, ist erschreckend.
Solange die SPD auf die Berücksichtigung der Flugzeugsysteme drängte, wurde sie „Handlanger der Sowjetunion" genannt. In dem Augenblick, in dem Amerika das akzeptierte, hat die Bundesregierung diesen Vorwurf natürlich nicht mehr gegen Washington erhoben, sondern findet das seither auch richtig. Als wir kritisierten, daß in Europa nicht der Ausgleich gegen die in Asien stationierten SS 20 gefunden werden sollte, wurden wir attakkiert. Seit Reagan dies vorschlägt, wird es als der Weisheit letzter Schluß betrachtet.Es war doch heute fast eine unfreiwillige Komik des Herrn Bundeskanzlers, als er von drei substantiellen Vorschlägen sprach, die während seiner Regierungszeit unterbreitet worden sind. Zwei davon, Herr Bundeskanzler, die Sie sich jetzt zugute halten, waren solche, die vorher aus Moskau gemacht worden sind. Vorsicht, damit Sie nicht zum Handlanger beider werden!
Aber es geht weiter. Als es in Amerika einen Vorschlag gab, der die Pershing II überflüssig gemacht hätte, hat die Bundesregierung darauf bestanden, uns in diese singuläre Lage zu bringen. Bald werden wir wohl erleben, daß die deutsche Entwicklungspolitik sinngemäß die Reagansche Linie übernimmt, daß niemand mehr Geld bekommt, der in den Vereinten Nationen falsch abstimmt.
Man kann zuversichtlich sein: wenn Amerika auf der Linie dessen, was der amerikanische Vizepräsident Bush schon geäußert hat, die britischen und französischen Systeme zu berücksichtigen beginnt, wird dies dann bestimmt von der Bundesregierung auch unterstützt werden.
Was alles in diesem Jahr verlorengegangen ist, ergibt sich aus der Ankündigung Präsident Mitterrands, die beiden Supermächte wieder an einen Tisch bringen zu helfen, wenn das notwendig sein sollte. Von Bonn ist da nicht mehr die Rede. Wo ist denn der deutsche Vorschlag zur Rettung der Verhandlungen?
Amerikanische Senatoren und Mitglieder des Repräsentantenhauses — wir sind ja gar nicht isoliert, wie Sie immer glauben — haben sich an den amerikanischen Präsidenten gewendet, in der letzten Woche, um in letzter Minute vor einem Beginn der Stationierung zu warnen, die zu Lasten des Bündnisses, zu Lasten der europäischen Verbündeten gehen würde. Die Stationierung, nämlich das Nein zur Stationierung, es kann zu Lasten des Bündnisses gehen, meine Herren von der Opposition, sagen Amerikaner.
Diese Amerikaner haben einen zeitlich begrenzten Stopp vorgeschlagen, verbunden mit dem Beginn der sowjetischen Abrüstung. Ich bin der Auffassung, daß dies auch unseren Interessen nützen würde. Aber es ist schlimm, daß wir auf amerikanische Anregungen mehr als auf deutsche hoffen müssen.Warum hat der Bundeskanzler nicht einen solchen Versuch unternommen? Warum hat der Bundeskanzler nicht zu einem Gespräch mit den führenden Vertretern der demokratischen Parteien zusammengerufen? Vielleicht hätte es die Möglichkeit
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Bahreines gemeinsamen deutschen Vorschlages zur Rettung der Verhandlungen gegeben.
Daß nichts Dergleichen geschah, außer der stereotypen Wiederholung „Die Stationierung beginnt jetzt", einen lumpigen Tag später als vorgesehen, das bleibt ein schweres Versäumnis.
Ich wollte darauf nicht eingehen, aber nachdem der Kollege Genscher es erwähnt hat,
will ich doch darauf hinweisen, daß es am letzten Wochenende ein Zwischenspiel gab, bei dem Bonn eine Möglichkeit zu einer Einigung der letzten Minute indiskretionierte. Der Bundeskanzler verkündete einen sowjetischen Vorschlag. Die Ente lebte nur einen Abend. Am nächsten Tag war klar: Die Amerikaner lehnten den sowjetischen Vorschlag ab. Die Sowjets erklärten: es gibt gar keinen. Und das Ganze war der Erfolg des Bundeskanzlers.
— Diese fabelhafte Kurzfassung stammt von Horst Ehmke. Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken.
Aber der Bundeskanzler konnte sich nicht einmal aufraffen, seine eigene Beurteilung zu geben, ob denn wenigstens diese von ihm als sowjetische Anregung charakterisierte Möglichkeit von ihm als positiv bewertet wird, ob er sich für die Annahme wenigstens als Ausgangspunkt in Washington eingesetzt hat. Da gab es keine deutsche Stellungnahme; jedenfalls nicht, solange es keine aus Washington gab.
Wenigstens in dem Punkt ist die Wende klar: Solange Willy Brandt und Helmut Schmidt Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland waren, mußte man in Ost und West einen eigenen Standpunkt in Bonn erwarten. Jetzt kann man in Ost und West mit dem Bonner Echo auf Washington rechnen. Das ist der Unterschied.
Das ist nicht die Art von Berechenbarkeit, die wir brauchen.Es hat von allem Anfang Gegner des Doppelbeschlusses gegeben, die der Auffassung waren, es müsse erst stationiert werden, bevor verhandelt werden könne. Das war der „Geburtsfehler"; diese Formulierung von Herrn Strauß ist erwähnt worden. Herr Dregger hat heute im Prinzip das gleiche gesagt und Herr Wörner damals schon. Für solche Gegner des NATO-Doppelbeschlusses wurden die Verhandlungen das Mittel, die Zeit bis zur Stationierung zu überbrücken. Sie können sich rückblikkend sagen: Nicht ein Tag ist für die Stationierung verlorengegangen. — Es war technisch gar nicht möglich, schneller zu stationieren, als das jetzt erfolgen soll. Da war keine große westliche Vorleistung. Wir konnten doch gar nicht vorher. Dabei ist noch nicht einmal sicher, ob es sich um technisch ausgereifte Systeme handelt, die jetzt kommen.
Die Befürworter sahen in dem Doppelbeschluß die Chance, neue Raketen überflüssig zu machen. Die Verhandlungen waren für die einen das Instrument, zu den Raketen zu kommen, für die anderen das Instrument, die Raketen zu verhindern. Unter diesem Grunddissens stand der Doppelbeschluß von allem Anfang an.
Die, die hier, und die, die in Amerika vor allem die Raketen wollten und wollen, setzen sich jetzt durch und übernehmen damit die Verantwortung für die Folgen. Wenn eine neue amerikanische Regierung zunächst überhaupt nicht verhandeln wollte, wenn ihr erster Außenminister Alexander Haig kürzlich erklärt, die USA brauchen diese Waffen in jedem Falle, auch wenn es keine einzige SS 20 gäbe, dann spricht das neben vielem anderen für den Verdacht, daß wichtige Leute in Washington die Geschäftsgrundlage des Doppelbeschlusses verlassen haben und jedenfalls die Stationierung wollen.
Das praktische Verhalten hätte dann nicht anders sein können: Eine Reagansche Null-Lösung, wirklichkeitsfremd, wie Strauß — anders als Herr Dregger noch heute oder die Bundesregierung — sagt, unannehmbar für die Sowjetunion, für jeden objektiven Betrachter, aber in der politischen Werbung erstklassig zu verkaufen.Es war erschreckend, Herr Bundeskanzler, in welcher Weise Sie Vorschläge übernehmen, von denen jeder Fachmann weiß, daß sie unseriös sind. Sie haben von dem Vorschlag gesprochen, daß Washington und Moskau auf alle landgestützten Systeme verzichten sollen. Aber wissen Sie denn nicht, daß die USA zwei Drittel ihrer strategischen Systeme seegestützt hat und daß die Sowjetunion zwei Drittel ihrer strategischen Systeme landgestützt hat?
Das ist doch die Ursache für die bleibende sichere strategische Überlegenheit der Vereinigten Staaten. Wer diesen Vorschlag ernstlich will, will Überlegenheit, und das ist hoffnungslos.
Der damalige Bundeskanzler hat zu Recht von Maximalpositionen gesprochen, von denen beide herunter müßten. Helmut Schmidt hatte im Amt nicht mehr die Möglichkeit, operativ darauf einzu-
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Bahrwirken. Er setzte seine Hoffnungen auf das entscheidende Verhandlungsjahr 1983, und er war fest überzeugt, daß sich die Sowjetunion bewegen werde, wenn wir keinen Zweifel an unserer Entschlossenheit lassen,
andernfalls zu stationieren. Er hat freilich gegenüber den Amerikanern nie die Möglichkeit aus der Hand gegeben, nein sagen zu können zur Stationierung, anders als sein Nachfolger.
Wenn der Bundesaußenminister darauf hingewiesen hat, daß wir am 6. März diese Entscheidung noch nicht getroffen, sondern offengehalten haben, so hätte er uns dafür loben müssen. Wir haben mit großer Konsequenz und großer Härte vor vier Jahren gesagt: Wir werden in vier Jahren entscheiden; bis dahin ist unsere Entscheidung offen. Das war konsequent. Aber jetzt haben wir die Entscheidung getroffen.
Insofern, meine Damen und Herren, ist es doch völlig klar: Die Rechnung, die damals aufgemacht wurde, ging auf. Die Sowjetunion hat sich doch zu einer bedeutenden Reduktion ihrer Raketen unter das Niveau dessen, was sie 1978 hatte, zur Zerstörung der überzähligen Raketen, zu entsprechenden Kontrollen an Ort und Stelle bereiterklärt. Wenn Breschnew 1979 angeboten hätte, was Andropow 1983 angeboten hat, hätte es den Doppelbeschluß nie gegeben.
In diesem Angebot liegt übrigens das Zugeständnis der bisherigen sowjetischen Überrüstung auf diesem Gebiet. Denn bedeutende Reduktionen sind nötig, um das Gleichgewicht herzustellen, und möglich, ohne die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion zu verletzen.Der ungebremste Aufwuchs der sowjetischen Mittelstreckenrüstung, der den Doppelbeschluß ausgelöst hat, könnte rückgängig gemacht werden, wenn die Vorschläge Andropows zum Ausgangspunkt dafür genommen worden wären, in den Verhandlungen genau auszuloten, was das an Ziffern im einzelnen bedeutet. Dann hätte der Doppelbeschluß seinen Zweck erfüllt. Die Weigerung Washingtons, nach zwei Jahren Nicht-Verhandlung, nach einem Jahr der Unbeweglichkeit sich Zeit zu nehmen, die Solidität des sowjetischen Vorschlags zu überprüfen, hat einen möglichen Erfolg des NATO-Doppelbeschlusses verhindert.Schon einmal ist unterlassen worden, die Ernsthaftigkeit eines sowjetischen Vorschlags zu überprüfen — gegen den Rat der SPD. Die damalige Bundesregierung meinte, Wiederbewaffnung, NATO-Eintritt und eine Politik der Stärke würden die Wiedervereinigung leichter machen. Das hat sich als größte Illusion der deutschen Nachkriegsgeschichte erwiesen.
Die Hoffnungen der heutigen Bundesregierung, die neuen Raketen würden die Verhandlungen erleichtern, die Sowjetunion flexibler machen, werden sich genauso als falsch erweisen.
Die Entscheidung von damals ist unrevidierbar. Die Entscheidung von heute muß politisch revidiert werden, damit uns ein neuer Streit über verpaßte Chancen erspart bleibt.
Ich begrüße, daß der Bundeskanzler die Grundlagen des Harmel-Berichts noch einmal unterstrichen hat. Das war j a wohl eher als eine Mahnung an Amerika zu verstehen.
Das ist auch nötig. Sicherheit und Entspannung müssen Grundlage bleiben. Wir haben das auf unserem Parteitag eben noch einmal unterstrichen.Aber der Doppelbeschluß wäre nur dann eine konkrete Ausformung des Harmel-Berichts, wenn jetzt in Genf die Möglichkeit zur Abrüstung, also zu einem Ergebnis, erprobt werden würde. Was uns Sorge macht, ist, daß die Amerikaner vom HarmelBericht weglaufen. Erklärungen des amerikanischen Präsidenten, die ganze Wirtschaftskraft der USA einzusetzen und neue Rüstungsprogramme zu beschließen, sind doch eher eine Erklärung des Kalten Krieges als Entspannung.
Air-land-battle 2000 oder Führbarkeit und Gewinnbarkeit eines auf Europa begrenzten Krieges — das ist doch nicht Harmel. Es gibt heute eben eine andere amerikanische Politik als zu der Zeit, als wir den NATO-Doppelbeschluß gefaßt haben.
Unser Nein zur Stationierung ist auch ein Aufruf und damit ein Mittel, zur beschlossenen Politik zurückzufinden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang, weil ich gerade über die neuen amerikanischen Ankündigungen eines Wirtschaftskrieges gesprochen habe, ein Wort zu einem Zwischenfall der heutigen Vormittagsdebatte sagen. Es war kein Heldenstück, daß man es Hans-Jochen Vogel unmöglich gemacht hat, zweimal durch Zwischenfragen seine Quellen klarzustellen, die er hier oben nicht mit in seinen Redeunterlagen hatte.
Was die Sache selbst angeht, so haben die „Kieler Nachrichten" und die „Lübecker Nachrichten" am 9. Oktober — Sie sollen j a zu Ihrem Recht kommen — berichtet, daß Herr Wörner gesagt habe, „dafür gebe es nicht nur Anzeichen im Westen, sondern auch von seiten der Sowjetunion, die schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr lange wettrü-
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Bahrsten könne". Die „Frankfurter Rundschau" hat unter dem 11. Oktober dasselbe mit der Formulierung berichtet: „Wörner äußerte die Ansicht, die Sowjetunion werde nicht mehr lange in der Lage sein, beim Wettrüsten mit den USA Schritt zu halten."
Wenn Worte einen Sinn machen, heißt das, daß man die Sowjetunion durch Wettrüsten überwinden kann.
Das entspricht ja auch ganz dem, was der amerikanische Präsident Reagan am Freitag, dem 11. November 1983, in Tokio gesagt hat: „Entweder sie" — die Sowjetunion — „macht bei unseren Abrüstungsvorschlägen mit, oder sie muß sich darauf einstellen, daß wir unsere Wirtschaft benutzen werden, um die notwendige Stärke aufzubauen, um sie für immer davon abzuhalten, einen Krieg zu beginnen."
Herr Abgeordneter Bahr, hätten Sie nun, entgegen Ihrer Erklärung, in diesem Zusammenhang die Absicht, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Würzbach zuzulassen?
Bitte sehr.
Herr Kollege Bahr, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß das Zitat, das von Ihrem Kollegen Vogel unserem Verteidigungsminister Manfred Wörner unterstellt wurde, von Ihnen — ich hoffe, nicht bewußt — mißinterpretiert wird und Manfred Wörner mit seiner Aussage genau das Gegenteil hat ausdrücken wollen, indem er nämlich seine Hoffnung auf Abrüstung mit der Ohnmacht der Sowjetunion gegenüber dem ständigen Weiterrüsten hat begründen wollen?
Hochverehrter Herr Kollege Würzbach, wir brauchen uns darüber nicht zu streiten, denn es gibt eine Bandaufzeichnung. Wir werden feststellen, was der Kollege Wörner wirklich gemeint hat.
Wenn das anders ist, werde ich nicht zögern, das zu korrigieren.
Herr Dregger hat ein Schreckensbild davon gemalt, wie stark die Sowjetunion sei.
Wenn das so ist, dann ist doch erstaunlich, daß die NATO 1 400 Atomsprengköpfe einseitig und ohne Gegenleistung abzieht. Kein Sprecher der Regierung und der Koalition haben heute daran gerührt. Diese Entscheidung des Bündnisses wurde als Beweis des Abrüstungswillens ausgegeben. Okay. Aber diese einseitige Maßnahme ist doch möglich, ohne unsere Sicherheit zu gefährden. Der Westenhat zuviel davon, jedenfalls mehr, als wir brauchen. So dicke ist es da drüben im Osten eben nicht.Das führt zu dem Argument der Erpressung.
Es ist — offen gestanden — überhaupt ein bißchen komisch: Solange wir Sozialdemokraten in der Regierung waren, gab es weder Erpressung noch Angst davor. Kaum kommen Sie an die Regierung, haben Sie Angst, erpreßt zu werden. Ich habe mich in den letzten 20 Jahren, also während der ganzen Zeit, in der die Sowjetunion nach Auffassung der Union ein Monopol an Mittelstreckenwaffen hatte, sicher gefühlt. Wir waren und wir sind sicher, weil uns eben Teile der amerikanischen strategischen Streitkräfte abdecken. Es hat übrigens während dieser zurückliegenden 20 Jahre mit dem angeblichen Monopol der Sowjetunion keinen Versuch der Erpressung gegeben.
Ich will im Augenblick nicht über die französischen und britischen Systeme sprechen. Das wird noch in anderem Zusammenhang zu tun sein. Aber eines ist klar:
Wir wissen, daß es ohne den unbegrenzten Aufwuchs der SS 20 keinen NATO-Doppelbeschluß gegeben hätte. Militärisch werden die Pershing II und die Cruise Missiles nicht gegen die SS 20 reichen; politisch werden sie nicht zur Ankoppelung reichen. Die Stationierung ist deshalb nach meiner Auffassung ein Schritt auf dem Wege, der Deutschland zum Schlachtfeld machen könnte. Nicht nur McNamara hat gesagt, er würde sie ablehnen, wenn er Deutscher wäre.Die Sowjetunion will dagegen SS 22 aufstellen, die dann nur noch zweieinhalb Minuten fliegen. Das macht militärisch nur Sinn, wenn diese Waffen benutzt werden, bevor die Pershings und Cruise Missiles auf dem Wege sind. Wir nähern uns der Situation, in der die Rechnung aufgemacht wird, ob der Ersteinsatz Vorteile bringt. Dies wird eine lebensgefährliche Situation im Falle von Spannungen, menschlichem Versagen oder technischen Fehlern.
Angesichts dieser Situation abzulehnen, etwas mehr Zeit für Verhandlungen zu haben, ist unbegreiflich und unverantwortlich von seiten der Bundesregierung. Das muß bei vielen Menschen Abscheu und Erbitterung über diese Politik wecken.
Politisch können wir einen weiteren Faktor nicht übersehen. Jetzt beginnt die Nachrüstung. Die sowjetische Antwort besteht politisch in einer Verstärkung des Bedrohungspotentials gegen West-
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Bahreuropa. Die SS 22 wird alle Stationierungsplätze der neuen Raketen, auch in Großbritannien, erreichen können. Wenn die Sowjetunion auf die Stationierung mit Maßnahmen antworten würde, die allein gegen das amerikanische Festland gerichtet sind, so könnte man davon sprechen, daß sie den Befehlsträger unter zusätzliche Bedrohung bringen will. Aber die Europäer, die über diese Waffen nicht verfügen, unter zusätzliche potentielle Bedrohung zu bringen heißt sie als Geiseln zu behandeln. Ich kann weder übersehen noch verschweigen, daß die zusätzlichen Raketen gegen Westeuropa auch politisch die Lage erschweren.
Erste Stimmen werden bald laut werden, was denn gegen diese neue Bedrohung getan werden muß. So wird die Perspektive auf immer weitere Rüstung mit immer weiter wachsender Gefahr geöffnet.
Niemand kann mir sagen, daß die sowjetische Politik nicht differenzierter reagieren könnte.
Niemand braucht hier zu fürchten, sie wolle damit einen Keil zwischen die Europäer und die Amerikaner treiben. Ihre neue Aufrüstung erneuert den Kitt der NATO, den Reagan brüchig macht.Die Auffassung, daß sich die NATO nicht als Papiertiger erweisen darf, ist heute eine schwache Entschuldigung für eine Haltung, die man im 19. oder bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts haben konnte. Sie ist im atomaren Zeitalter nicht mehr erlaubt.
Jeder hat natürlich das Recht, einen Fehler zu machen, aber doch nicht die Pflicht. Wer jedoch erkennt, daß seine Entscheidung ein Fehler war, hat die Pflicht, ihn zu korrigieren, selbst mit Prestigeverlust.
Denn der Verlust an Prestige wiegt weniger als der Verlust an Sicherheit.
Wenn es ein Fehler war, die Singularität der Bedrohung zu übersehen, die in der Singularität der Pershing II in unserem Lande liegt, so komme ich zu der Folgerung, daß man diesen Fehler eben wieder gutmachen muß.
Das wäre durch das Ergebnis des Waldspaziergangs geschehen. Das könnte heute noch durch ein Nein zur Stationierung erreicht werden.
Was wird geschehen, wenn der Bundestag morgen keine Mehrheit zum Nein findet? Die Verhandlungen in Genf werden beendet sein, ob in dieser oder in der nächsten Woche, das spielt politisch keine Rolle. Die Nach-Nachrüstung wird beginnen. Das Ergebnis wird eine verschlechterte Lage für Europa sein. Erst danach wird es neue Verhandlungen geben. Natürlich, was denn sonst? Das uralte Spiel „erst rüsten, dann verhandeln" wird weitergespielt, obwohl es nicht nötig gewesen wäre.
Ich werfe der Sowjetunion vor, daß sie nicht mit einseitigen Reduktionen ihrer Überrüstung begonnen hat,
aber ich erhebe größere Vorwürfe an die eigene Seite, weil mich das Fehlen der eigenen Klugheit mehr schmerzt.
Meine Damen und Herren, der Kollege Rühe hat kürzlich zu den Genfer Verhandlungen erklärt: Der Ausgang wird im positiven wie im negativen Sinne die Ost-West-Beziehungen auf Jahre hinaus prägen. — Er hat recht. Der negative Ausgang wird die Rüstungsspirale in Gang setzen. Aber es ist unverkennbar, daß sich die Bundesregierung bemüht, Schadensbegrenzung zu betreiben. Das heißt zunächst einmal, daß durch die Stationierung Schaden entstehen wird, und zwar vermeidbarer Schaden.Die Bundesregierung kann auch künftig auf die Unterstützung der SPD für ihre Bemühungen rechnen, Schaden zu begrenzen, wirtschaftliche Kooperation mit Osteuropa zu entwickeln und das Maximum dessen zu erhalten, was in den zurückliegenden Jahrzehnten an Erfolgen der Entspannungspolitik erreicht wurde. Hier gibt es eine neue Gemeinsamkeit der deutschen Politik, zu der die frühere Opposition gefunden hat und die die heutige Opposition für wertvoll und für pflegebedürftig hält.
Wir erkennen das an, was der Generalsekretär der SED, Erich Honecker, dazu gesagt hat. Wir erkennen seine Erklärung an, neue sowjetische Raketen auf dem Territorium der DDR möglichst zu vermeiden, wobei wir wissen, daß es für ihn schwerer wäre, nein zu sagen, als für uns.
Ich war vor wenigen Wochen in der DDR und habe kein Gespräch vergessen, auch nicht Gespräche mit Menschen kritischer Einstellung gegen die Regierung, auch nicht ihre Hoffnung, daß wir hier die amerikanischen Raketen verhindern, weil sie es ja nicht können, um ihnen das zu ersparen, was dann kommt, und um uns allen die gemeinsame größte Gefährdung zu ersparen. Das war durchgängige Meinung.Nun sind wir lange von der Anmaßung weg, für die „Brüder und Schwestern" handeln zu wollen. Aber davon, für die Menschen in der DDR besorgt
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2406 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bahrzu sein und auf sie zu hören, suspendiert uns kein Grundlagenvertrag.
Auch dies ist in dem Nein der SPD-Fraktion zur Stationierung enthalten.Der Bundeskanzler hat heute früh gesagt: Nur ein Volk, das in Frieden und Freiheit lebt, kann auch wirklich einen Beitrag für den Frieden in der Welt leisten. — Bitte, Herr Bundeskanzler, denken Sie darüber nach, was Sie damit den Menschen in der DDR und in Polen und in der Sowjetunion sagen. Sie haben gesagt: Jenseits der Freiheit ist kein Friede, der diesen Namen verdient. — Unsere Freiheit hier ist uns kostbar. Daß andere diese Freiheit nicht haben, schließt sie vom Frieden nicht aus.
Darüber, ob es für die NATO gut oder schlecht ist, wenn wir zur Stationierung nein sagen, kann man streiten. Darüber, ob alles getan worden ist oder nicht, kann man streiten. Zuletzt entscheidet für mich die Frage, ob wir mit dieser Entscheidung mehr oder weniger Sicherheit bekommen. Deshalb sage ich aus voller Überzeugung nein zur Stationierung.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn Sie, Herr Bahr, in den 70er Jahren mit demselben Engagement gegen die SS-20-Vorrüstung gekämpft hätten, wie Sie heute gegen die Pershing II kämpfen, wären Ihre Argumente wesentlich glaubwürdiger.
Sie und Ihr Fraktionsvorsitzender haben dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl heute mangelnde Flexibilität vorgeworfen, obwohl Sie genau wissen, daß alle entscheidenden Vorschläge und Vorstöße des Westens in den letzten Wochen und Monate auf Initiativen von Bundeskanzler Kohl zurückgegangen sind.Ich finde Ihre Vorwürfe, Herr Bahr und Herr Vogel, deswegen so ungeheuerlich, weil Sie wissen, daß es Bundeskanzler Kohl war, der verhindert hat, daß bereits in diesem Sommer die ersten Pershing stationiert worden sind. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wenn es nach Helmut Schmidt und Hans Apel gegangen wäre, wäre die erste Pershing-Batterie bereits im August/September dieses Jahres in Deutschland aufgestellt worden. Deswegen finde ich es nicht fair, sich hier hinzustellen und dem deutschen Bundeskanzler, der den Verhandlungsrahmen in Genf entscheidend erweitert hat, mangelnde Flexibilität vorzuwerfen.
Sie haben übrigens, sehr geehrter Herr Vogel und sehr geehrter Herr Bahr, heute keinen einzigen überzeugenden Grund dafür genannt, warum die SPD-Fraktion 1979, 1980, 1981 und 1982 geschlossen für den NATO-Doppelbeschluß war
und warum Sie jetzt, im Jahre 1983, in Ihrer überwiegender Mehrheit gegen die Nachrüstung sind, es sei denn, Sie sehen den Verlust der Macht in Bonn als überzeugenden Grund für die Änderung Ihrer Sicherheitspolitik an.Alle Gründe, die Sie heute gegen den NATO-Doppelbeschluß genannt haben, beziehen sich auf die Zeit vor dem Regierungswechsel am 1. Oktober 1982. Wenn es Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, um eine glaubwürdige Sicherheitspolitik gegangen wäre, dann hätten Sie doch schon vor dem Regierungswechsel im Oktober 1982 gegen den NATO-Doppelbeschluß Front machen müssen.Ich finde es gut und richtig und wichtig, wenn sich Politiker auf ihr Gewissen berufen, wie Sie es heute getan haben. Aber ich finde es schlecht, wenn Politiker ihr Gewissen erst nach einer verlorenen Wahl entdecken.
Meine Damen und Herren, ich will nicht verhehlen, daß, abgesehen von einigen unberechtigten Angriffen gegen Bundeskanzler Kohl, manches an der Rede des früheren Bundeskanzlers Schmidt beeindruckend war. Leider ist der heutige Tag ein Tag, der deutlich gemacht hat, daß die Richtlinien der sozialdemokratischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht mehr von Helmut Schmidt, sondern von Egon Bahr bestimmt werden. Das wirft Sie weit hinter Godesberg zurück.Sie haben darüber hinaus in der Frage des NATO-Doppelbeschlusses das den westlichen Verbündeten fest gegebene Wort gebrochen.
Sie haben damit nicht nur der Glaubwürdigkeit Ihrer eigenen Partei geschadet. Sie schaden damit auch den Interessen und der Glaubwürdigkeit unseres Landes, wenn Sie mit Bündnisbeschlüssen so leichtfertig umgehen, wie Sie es auf dem Parteitag in Köln getan haben.
Meine Damen und Herren, der NATO-Doppelbeschluß, den die Sozialdemokratische Partei Deutschlands dieser neuen Regierung und diesem Deutschen Bundestag hinterlassen hat, war nie ein populärer Beschluß, nie ein Beschluß, mit dem man zusätzliche Wählerstimmen gewinnen konnte. Wir wissen das. Wir kennen die Meinungsumfragen mit all ihrer Problematik. Aber die Aufgabe, vor der die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag heute stehen, besteht eben nicht darin, auf Wählerfang zu gehen, sondern darin, unsere Pflicht zu tun und unabhängig von Meinungsumfragen das für die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes Notwendige zu tun.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2407
Dr. TodenhöferDeshalb stimmen wir, die CDU/CSU, im Interesse der Erhaltung des Friedens und der Freiheit unseres Landes der Entscheidung der Bundesregierung zu, entsprechend dem NATO-Doppelbeschluß nunmehr plan- und fristgerecht mit der Stationierung der Pershing II als Gegengewicht gegen die sowjetischen SS-20-Atomraketen zu beginnen.Ich hatte in den vergangenen fünf Wochen zweimal im Auftrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Gelegenheit zu sehr ausführlichen Gesprächen mit Funktionsträgern der Sowjetunion in Moskau. Diese Gespräche waren außerordentlich hart. Aber sie waren trotzdem nützlich und konstruktiv. Mir ist bei diesen mehr als sechstägigen Gesprächen in Moskau vor allem aufgefallen, daß es neben vielen fundamentalen Interessenunterschieden, die man in Diskussionen nicht beseitigen kann, auch eine große Zahl vermeidbarer Mißverständnisse zwischen Ost und West gibt.
Schon deshalb trete ich mit Nachdruck dafür ein, daß der Dialog mit der Sowjetunion auf allen Ebenen weitergeht und intensiviert wird.
Meine Damen und Herren, ein gut Teil Mitschuld an den Fehleinschätzungen, die es zur Zeit in der Sowjetunion gibt, trägt auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die der Sowjetunion in den letzten Monaten ständig die falschen Signale gegeben hat. Ich denke hier an das falsche, das verhängnisvolle Signal des Fraktionsvorsitzenden der SPD, der der Sowjetunion immer wieder signalisiert hat, bei einer bestimmten Reduzierung ihrer SS 20 werde eine westliche Nachrüstung überflüssig, der der Sowjetunion signalisiert hat, die Bundesrepublik Deutschland sei unter bestimmten Umständen bereit, ein SS-20-Raketen-Monopol hinzunehmen.
Ich frage: Woher nimmt eigentlich Herr Vogel das Recht, der Sowjetunion ein SS-20-Raketenmonopol gegen unser Land zuzubilligen?
Genauso gefährlich waren die Signale jener sozialdemokratischen Politiker, die der Sowjetunion immer wieder die lebensgefährliche Torheit signalisierten, der Westen plane einen atomaren Erstschlag, die Pershing II sei eine Erstschlags-, eine Enthauptungswaffe,
und der Westen stelle seine Kriegsverhinderungsstrategie auf eine Kriegsführungsstrategie um. Was Sie damit in der Sowjetunion angerichtet haben und anrichten, können einige von Ihnen offenbar überhaupt nicht beurteilen. Ich sage Ihnen: Sie haben mit Ihren falschen Signalen die Abrüstungschancen des Westens nachhaltig beeinträchtigt, und Sie haben darüber hinaus die ohnehin schon vorhandenen Mißverständnisse zwischen Ost und West in völlig überflüssiger Weise verschärft.
Ich möchte mich daher heute in meinen Ausführungen direkt auch an die Sowjetunion wenden, um einen Beitrag dazu zu leisten, der Sowjetunion die Motive unserer Politik transparent zu machen und um aufzuzeigen, welches aus unserer Sicht die Voraussetzungen für ein konstruktives Miteinander von Ost und West sind. Je offener wir die Bedingungen eines derartigen konstruktiven Miteinander aussprechen, desto größer sind die Chancen, daß sich die Fehleinschätzungen der letzten 13 Jahre nicht wiederholen,
die zu der kritischen Situation geführt haben, in der wir uns heute befinden.Ich appelliere erstens an die Sowjetunion, die Friedensliebe des deutschen Volkes ernster als bisher zu nehmen. Ich appelliere an die Sowjetunion, zur Kenntnis zu nehmen, daß sie es in Deutschland mit einer neuen Generation zu tun hat, die es nicht akzeptiert, von der sowjetischen Propaganda immer wieder und immer noch mit der Generation des Dritten Reiches verglichen zu werden.
Meine Damen und Herren, alle Menschen der Bundesrepublik Deutschland wollen Frieden mit der Sowjetunion, gleichgültig wie alt sie sind, gleichgültig welcher Partei sie angehören, gleichgültig, welche Weltanschauung sie vertreten.
Ich habe in den elf Jahren, die ich dem Deutschen Bundestag angehöre, in der Bundesrepublik Deutschland keinen einzigen Menschen, gleichgültig welchen Alters, keinen Politiker kennengelernt, der bereit gewesen wäre, den Krieg als Mittel der Politik zwischen Ost und West noch zu akzeptieren. Kein Satz wird von der deutschen Bevölkerung so einmütig vertreten wie der Satz: Nie wieder Krieg! Das ist ein Signal, das von Ihrer Seite — gerade von der Seite der GRÜNEN und auch von einem Teil der SPD — in gefährlicher Weise in Frage gestellt wird.
Wenn ich sage: Nie wieder Krieg!, so gilt das nicht nur für einen nuklearen Krieg. Es gilt auch für einen konventionellen Krieg.
Es wird leicht vergessen, daß in Dresden in einer Nacht dreimal mehr Menschen durch konventionelle Waffen ums Leben gekommen sind als in Hiroshima durch nukleare Waffen.
Für unser Land wäre auch ein konventionellerKrieg das Ende unserer Existenz. Deswegen sage
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2408 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. Todenhöferich noch einmal: Für uns scheidet jeder Krieg als Mittel der Politik aus.
Herr Abgeordneter Todenhöfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte, wenn es eine sehr kurze Zwischenfrage ist, Herr Jungmann.
Herr Kollege, darf ich davon ausgehen, daß Sie damit nicht unterstellen, daß Teile der SPD und der GRÜNEN einen konventionellen Krieg befürworten?
Herr Jungmann, ich unterstelle Ihnen mit Nachdruck, daß Sie in der Vergangenheit nicht verhindert haben, daß Ihre Partei und auch Freunde, die Sie innerhalb des grünen Spektrums haben, mehrfach in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt haben, als ändere der Westen seine Strategie und als sei der Westen bereit, von seiner Kriegsverhinderungsstrategie auf eine Kriegsführungsstrategie umzusteigen. Hier liegt mein Vorwurf an Sie.
Unsere Sicherheitspolitik, unsere Verteidigungspolitik — —
— Meine Damen und Herren, ich muß jetzt einmal eine ganz persönliche Bemerkung zu Ihnen, den GRÜNEN, machen. Sie treten hier als Vertreter der Friedensbewegung auf. So unfriedliche und so gehässige Zwischenrufe wie Ihre habe ich in Debatten des Deutschen Bundestages in den 11 Jahren, die ich diesem Hause angehöre, nie erlebt. Ich habe nie etwas so Unfriedliches erlebt wie diese „Friedensbewegung", die da unten sitzt.
Es ist ja allein schon gegen Ihr lautes Geschrei nicht mehr anzukommen. Dieser vokale Terror, den Sie hier inszenieren, ist unerträglich, er ist des deutschen Parlaments völlig unwürdig.
Unsere Sicherheitspolitik, unsere Verteidigungspolitik, unsere Abrüstungspolitik ist Kriegsverhinderungspolitik.
Für uns haben atomare Waffen nur als Kriegsverhinderungswaffen eine Legitimation. Sie haben keine Legitimation als Kriegsführungswaffen, und sie haben auch keine Legitimation als Waffen zur Durchsetzung machtpolitischer Ziele. Unser Ja zurnuklearen Abschreckung beruht auf der Erkenntnis, daß es menschlicher ist, mit unmenschlichen Waffen Kriege zu verhindern, als mit sogenannten menschlichen Waffen Kriege zu führen.
Meine Damen und Herren, ich bin 1940 geboren. Die kleine Stadt Hanau, in der ich während des Krieges gelebt habe, ist am 19. März 1945 in einer Nacht zu 80 % ausgebombt worden.
Mehrere tausend Menschen sind in jener Nacht durch den Einsatz von 8 000 Sprengbomben, 500 Flüssigkeitsbomben und 200 000 Stabbrandbomben getötet worden. Ich bin damals als kleiner Junge aus dem Bombenkeller unseres Hauses am Rande der Stadt Hanau auf die Straße hinausgelaufen, und ich erinnere mich heute noch, als wenn es gestern gewesen wäre, an die brennenden Menschen in der brennenden Stadt meiner Großeltern. Viele Kollegen in diesem Bundestag, viele Menschen in Deutschland haben ähnliches erlebt.Wer uns von der CDU/CSU, wer der FDP, wer diesem Bundeskanzler, wer dieser Bundesregierung unterstellt, sie wolle Krieg oder sie sei bereit, Krieg mindestens als Mittel der Politik in Kauf zu nehmen, hat von der Motivation der heutigen Politikergeneration nichts, aber auch überhaupt nichts verstanden.
Ich habe nie einem Russen etwas zuleide getan, und ich werde auch nie einem Russen etwas zuleide tun. Wir alle hier, Jüngere und Ältere, sind in die Politik gegangen, damit es nie wieder Krieg zwischen Ost und West gibt.
Ich sage als ein vertrauensbildendes Signal an die Adresse der Sowjetunion: Wir werden niemals zulassen, daß von deutschem Boden die Sowjetunion oder ein anderes Land des Warschauer Paktes angegriffen wird. Wir ringen allerdings mit demselben Nachdruck darum, daß auch unser Land niemals das Opfer eines militärischen Angriffes oder einer militärischen Erpressung werden kann.Ich appelliere zweitens an die Sowjetunion, die Sicherheitsinteressen unseres Landes ernster zu nehmen als bisher. Wir können nicht akzeptieren, daß uns die Sowjetunion offenbar nur eine drittklassige Sicherheit zubilligen will. Bei meinen Gesprächen in Moskau ist mir mehrfach erklärt worden, man könne die Pershing II schon deshalb nicht mit der SS 20 vergleichen, weil die Pershing II j a die große Sowjetunion erreiche, während die SS 20 nur Westeuropa und nur die Bundesrepublik Deutschland bedrohe.Meine Damen und Herren, in den Augen führender Sowjets haben wir Europäer offenbar einen ge-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2409
Dr. Todenhöferringeren Anspruch auf Sicherheit als die Sowjetunion und die USA.
Diese Einstellung können wir und werden wir nicht akzeptieren. Ich habe das meinen sowjetischen Gesprächspartnern bei meinen Gesprächen in Moskau auch mit großer Deutlichkeit und Offenheit immer wieder gesagt. Wir nehmen die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion ernst, wir erwarten jedoch von der Sowjetunion, daß sie unsere Sicherheitsinteressen genauso ernst nimmt.Es gibt im Nuklearzeitalter — lassen Sie mich das mit großem Nachdruck sagen — ohnehin keine Alternative zu der Notwendigkeit, die Sicherheitsinteressen der anderen Seite zu respektieren. Ost und West müssen im Nuklearzeitalter ihre Sicherheit gemeinsam erarbeiten. Das macht uns nicht zu „Sicherheitspartnern" im Sinne Egon Bahrs, dessen Konzept letztlich auf die Unterwerfung unseres Landes unter den sowjetischen Hegemonialanspruch in Europa hinausläuft.
Unser Sicherheitspartner sind und bleiben die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie sind nicht nur unser Sicherheitspartner, sie sind unsere Freunde. So wie Herr Bahr soeben über die USA und gegen die USA gesprochen hat, so spricht man nicht mit Sicherheitspartnern, und so spricht man auch nicht mit Freunden!
Die Notwendigkeit, Sicherheit gemeinsam zu erarbeiten, bedeutet, daß der Dialog zwischen Ost und West intensiviert und vertieft werden muß und daß die Chancen einer gemeinsamen Rüstungskontrolle in Zukunft erheblich intensiver genutzt werden müssen als bisher.Von besonderer Bedeutung wird dabei sein, daß Ost und West erheblich mehr Transparenz und Offenheit zeigen müssen, daß sie bereit sein müssen zu einer offeneren Darlegung ihrer militärischen Potentiale, ihrer Rüstungsplanungen, ihrer militärischen Strategien und ihrer militärischen Doktrinen.In der Frage der Offenlegung militärischer Planungen muß vor allem die Sowjetunion dem Westen noch ein großes Stück entgegenkommen. Die sowjetische Entscheidung, die SS 20 gegen Westeuropa, gegen die Bundesrepublik Deutschland in Stellung zu bringen, ist mit großer Geheimhaltung zu einem Zeitpunkt gefällt worden, als Willy Brandt mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew persönliche Freundschaft schloß und als Willy Brandt mit außergewöhnlichem persönlichem Engagement die Aussöhnung unseres Landes mit der Sowjetunion suchte.Die Entscheidung über die Stationierung der SS 20 fiel Anfang der 70er Jahre auf dem Höhepunkt der Entspannungspolitik. Sie fiel nicht nur gegen die Bundesrepublik Deutschland, sie fiel auch gegen Willy Brandt. Die Sowjetunion hat die SS 20 nicht einem CDU-Kanzler vor die Nase gesetzt, sie hat sie einem SPD-Kanzler vor die Nase gesetzt, sie hat sie Willy Brandt vor die Nase gesetzt, der Sicherheitspartner und Freund der Sowjetunion sein wollte.In jenen Tagen hat die Sowjetunion eine ihrer fatalsten sicherheitspolitischen Fehlentscheidungen nach dem Zweiten Weltkrieg getroffen. Diese Entscheidung führte am Ende zum Sturz Bundeskanzler Schmidts und ist heute der Grund für den Beginn der Stationierung der Pershing II und der bodengestützten Marschflugkörper in Westeuropa. Ich frage die Sowjetunion: Gab es damals wirklich nicht die Möglichkeit, eine derart weitreichende Aufrüstungsentscheidung mit dem deutschen Bundeskanzler Willy Brandt offen zu diskutieren? Gab es wirklich nicht die Möglichkeit, die Motive der SS-20-Stationierung gemeinsam zu erörtern, die möglichen Auswirkungen dieser Stationierung auf das deutsch-sowjetische Verhältnis gemeinsam durchzusprechen und gemeinsam mögliche Alternativen für eine so weitreichende sowjetische Rüstungsentscheidung zu erörtern? Gab es wirklich keine Möglichkeit, auf die Sicherheitsinteressen der entspannungs- und versöhnungsbereiten Bundesrepublik Deutschland Rücksicht zu nehmen?Die Sowjetunion wäre sehr gut beraten, wenn sie über die Ursachen dieser Fehlentscheidung intensiv nachdenken würde, um ähnliche Fehlentscheidungen und ihre logischen Konsequenzen in Zukunft zu vermeiden.Ich appelliere drittens an die Sowjetunion, von Abrüstung nicht nur zu reden, sondern endlich mit wirklicher Abrüstung zu beginnen.
Die CDU/CSU schlägt der Sowjetunion den umfassendsten Abrüstungsplan vor, den jemals eine deutsche Regierungspartei der Sowjetunion im Deutschen Bundestag vorgeschlagen hat.Wir treten erstens für drastische Reduzierungen der interkontinentalstrategischen Waffen der Sowjetunion und der USA ein. Wir setzen uns dabei als deutsche Partei dafür ein, daß nicht nur die USA, sondern auch die Sowjetunion eine unverwundbare Zweitschlagsfähigkeit erhält und behält.Wir treten zweitens im Bereich der Mittelstrekkenraketen größerer Reichweite nach wie vor für die weltweite Null-Lösung ein. Jede Pershing II, jeder bodengestützte Marschflugkörper wird abgebaut, wenn die Sowjetunion ihre SS 20 weltweit verschrottet.
Der NATO-Doppelbeschluß wird im übrigen in keinem Fall zu einer Erhöhung der Zahl der Waffen in Westeuropa führen. Im Gegenteil. Wenn es auf Grund der Weigerung der Sowjetunion, ihre SS 20 voll abzurüsten, zur vollen Nachrüstung kommt, wird der Westen entsprechend dem NATO-Doppelbeschluß und auf Grund der Beschlüsse von Montebello, an denen Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner maßgebend mitgewirkt hat, für jeden
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2410 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. Todenhöferneuen Gefechtskopf fünf alte Gefechtsköpfe abziehen.
Wenn die Sowjetunion unserem Beispiel, für jeden neuen Gefechtskopf, Herr Schily, fünf alte Gefechtsköpfe abzubauen, folgen
und unser „5 : 1-Abrüstungsmodell" auch zu Ihrem Abrüstungsmodell machen würde, wären wir unserem Ziel, Frieden zu schaffen, mit immer weniger Waffen, zumindest im quantitativen Bereich ein erhebliches Stück näher.
Drittens. Wir schlagen der Sowjetunion im Bereich atomarer Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite ebenfalls drastische Reduzierungen vor.Viertens. Wir schlagen drastische Reduzierungen im Bereich atomarer Gefechtsfeldwaffen vor.Fünftens. Wir schlagen der Sowjetunion auf der im Januar beginnenden KAE weitreichende vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen vor. Wir schlagen der Sowjetunion bei den Wiener Verhandlungen substantielle Truppenreduzierungen in Mitteleuropa vor. Wir erwarten allerdings, daß diese Truppenreduzierungen überprüfbar sein müssen. Den spektakulären, aber leider nicht überprüfbaren Abzug von 20 000 sowjetischen Soldaten aus der DDR im Jahr 1980 hat die Sowjetunion durch anschließende Verstärkungen ihrer Truppen in Mitteleuropa um 42 000 Mann inzwischen längst wieder ausgeglichen.
Sechstens. Wir schlagen das weltweite überprüfbare Verbot und die Achtung aller chemischen Waffen vor.
Siebtens. Wir schlagen eine verbesserte Kontrolle des Verbots aller biologischen Waffen vor.Achtens. Wir schlagen ein Verbot aller radiologischen Waffen vor.Neuntens. Wir treten dafür ein, daß es zwischen Ost und West zu einem möglichst umfassenden Teststopp für Nuklearwaffen kommt.
Zehntens. Wir fordern das Verbot aller Waffen im Weltraum.
Das einzige Land, das bisher im Weltraum Waffen eingesetzt hat, ist die Sowjetunion, die seit dem Jahr 1968 Killersatelliten im Weltraum erprobt. Wir sind dafür, daß der Rüstungswettlauf im Weltraumbeendet wird, bevor er überhaupt richtig begonnen hat.
Meine Damen und Herren, das ist die umfassendste Abrüstungsinitiative, die eine deutsche Regierungspartei dem Deutschen Bundestag jemals vorgelegt hat. Die Sowjetunion versäumt eine historische Chance, wenn sie diese Abrüstungsoffensive nicht aufgreift.Die CDU/CSU räumt der Abrüstungspolitik einen hohen Stellenwert ein. Aber Abrüstung allein kann die Konflikte dieser Welt nicht lösen. Sie beseitigt nicht die Unterdrückung der Menschen in Osteuropa, und sie beseitigt nicht den Krieg in Afghanistan. Während wir hier debattieren, sterben in Afghanistan pro Woche 100 Zivilpersonen durch sowjetische Bombenangriffe, fliehen noch immer wöchentlich 10 000 Frauen, Kinder und Greise — und da lachen Sie als Vertreter der GRÜNEN an dieser Stelle; das ist das Unerhörte —
nach Pakistan und Iran. 700 000 Menschen sind in diesem fast schon vergessenen Krieg in Afghanistan bisher getötet worden; 4,7 Millionen sind nach Pakistan und Iran geflüchtet. Meine Damen und Herren, das sind die Realitäten des Krieges der hochgerüsteten großen Sowjetunion gegen das ungerüstete kleine Afghanistan.Wenn wir Frieden und Freiheit wollen, müssen wir daher um beides ringen: auf der einen Seite um Abrüstung und auf der anderen Seite um den Abbau der Ursachen der Spannungen und Konflikte zwischen Ost und West. Ich halte diese beiden Aufgaben für die wichtigste Herausforderung aller Menschen in Ost und West. Es kann sein, daß wir zur Lösung dieser Aufgaben viele, viele Jahrzehnte brauchen werden. Aber das gibt uns nicht das Recht, zu resignieren, es gibt uns nicht das Recht, uns unserer Pflicht zu entziehen. Ich bin nicht so pessimistisch wie viele Vertreter der Friedensbewegung, der GRÜNEN und wie viele Vertreter der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Ich bin optimistisch, daß wir diese Aufgaben eines Tages meistern werden, wenn wir sie mit Beharrlichkeit, Entschlossenheit und dem Geist des gegenseitigen Respekts angehen.
Ich bin optimistisch, daß es uns eines Tages gelingen wird, eine freiheitliche, menschenwürdige Friedensordnung für ganz Europa aufzubauen — eine freiheitliche Friedensordnung für Europa! Ich weiß, daß das eine sehr langfristig angelegte Perspektive ist. Aber ich bin und bleibe optimistisch, weil es langfristig im wohlverstandenen Eigeninteresse der Sowjetunion liegt, erstens den Menschen in Osteuropa das Selbstbestimmungsrecht zu geben, zweitens die sowjetische Hochrüstung zu beenden und
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2411
Dr. Todenhöferdrittens die sowjetische Expansionspolitik in der Dritten Welt einzustellen.Das sind sehr klare Bedingungen für eine freiheitliche Friedensordnung in ganz Europa. Das sind sehr klare Bedingungen, die uns sehr klar von Ihnen, Herr Bahr, unterscheiden. Aber ich habe die Hoffnung, und ich habe den Optimismus, daß auch in der Sowjetunion eines Tages eine Politiker-Generation die Verantwortung übernehmen wird, die die objektiven nationalen Interessen ihres Landes den ideologischen Rezepten des 19. Jahrhunderts überordnen wird. Ich bin optimistisch, daß der Tag kommen wird, an dem zwischen jungen Deutschen und jungen Russen eine ebenso selbstverständliche Freundschaft entstehen kann, wie sie heute zwischen Deutschen und Franzosen und Deutschen und Amerikanern besteht. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist kein Tag wie jeder andere. Schon oft hat der Deutsche Bundestag über Rüstung und Nachrüstung debattiert. Aber zum erstenmal werden wir nun in einer Abstimmung über die Stationierung von Atomwaffen in unserem Lande entscheiden.
Rein militärisch gesehen, geht es um eine Gleichgewichtslücke im Bereich landgestützter Mittelstrekkenraketen, die geschlossen werden soll, weil der NATO-Doppelbeschluß zwar Verhandlungen ermöglicht, aber in den vorgesehenen vier Jahren nicht zum Erfolg gebracht hat.Es ist eine bedrückende Debatte angesichts dessen, daß man das Abstimmungsergebnis schon kennt,
und die CDU nicht einmal eines besonderen Parteitages bedurfte, um die jetzige Lage noch einmal zu überdenken.
Es ist auch bedrückend, daß die tatsächliche oder vermeintliche Rüstungslücke auf eine Weise geschlossen wird, die schon aus rein technischer Sicht wieder neue Gleichgewichtsfragen aufwirft, ja bereits aufgeworfen hat.
In Wirklichkeit geht es um die Frage, wie sicher unser Friede ist und ob man ihn durch mehr und modernere Raketen jetzt sicherer macht. Nicht immer, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, ist ein Ja staatstragend gewesen. Manchmal ist einzig das Nein staatserhaltend.
Aus diesem Grund hat der NATO-Doppelbeschluß eine so breite, so engagierte Diskussion ausgelöst, wie wir sie seit 1945 nur zweimal gehabt haben, nämlich in der ersten Atomwaffendebatte und in der Debatte über die Ostverträge. Keiner, der jetzt mitgeredet oder auch nur zugehört hat, wird später sagen können, er habe nichts gewußt.
Der Aufmarsch der Experten erweckt den Eindruck: ein Männerthema wird behandelt. Aber trotz mehrtausendjähriger einschlägiger Erfahrung — dem ist nicht so.
Die Frauen und die Mütter, die jetzt für den Frieden auf die Staße gehen, die uns schreiben, die viele Initiativen gegen das Wettrüsten gegründet haben, fühlen sich nicht nur betroffen. Sie sind betroffen.
Wir waren immer betroffen und still.
Aber jetzt wollen wir nicht mehr schweigen.
— Da habe ich meine Meinung gesagt.Ich gehöre zu der Generation, die der letzte Krieg auf der Schulbank überraschte.
Niemand ahnte damals, daß ein Spuk in wenigen Köpfen 50 Millionen Menschen das Leben kosten würde,
anders als im ersten Weltkrieg sogar mehr Zivilisten als Soldaten. Allein in Deutschland erhielten fast vier Millionen Mütter die Nachricht, daß ihr Sohn gefallen ist. Fast eine Million Frauen wurden Witwe. Über 1,3 Millionen Kinder wurden Waisenkinder. Und viele Frauen verloren den Partner, mit dem sie ihr Leben gestalten wollten. Nichts auf der Welt hat den Tod und die Opfer so vieler Millionen gerechtfertigt. Aber nichts hat sie davor geschützt.
Nun werden einige wieder denken oder sogar sagen, dies sei der Versuch einer Frau, Emotionen zu wecken. Oh nein, das ist die Erinnerung an reale Teilhabe an einem Stück Weltgeschichte, an einem Krieg, der Vater, Bruder, Verwandte, Freunde, Nachbarn an die Front und uns in die doch nicht bombensicheren Keller schickte.Wenn ich mich heute hier als Abgeordnete des Deutschen Bundestages — und das ist ja das deutsche Entscheidungsgremium, das für unser Volk spricht — für meine Entscheidung verantworte, so halte ich es für meine Pflicht, diese Lebenserfahrung eines schrecklichen Krieges einzubringen, die man in so wenigen Sätzen leider nicht eindringlich genug beschreiben kann.
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2412 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Frau HuberEs war ein Krieg — obwohl nicht mehr vergleichbar mit dem ersten Weltkrieg, in dem mein Vater war, der mir davon erzählt hat —, ein zweiter Weltkrieg, den alle Seiten doch noch zu gewinnen hoffen konnten. Aber er kann nur als Vorstufe dessen gelten, was über uns hereinbräche, wenn es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung heute oder morgen käme. Nicht einmal Militärs könnten sich dieses Inferno vorstellen.
Dies ist die Lage. Wer sie ohne Emotionen betrachtet, um mit klarem Kopf zu entscheiden, hat immer noch kein Recht, auf die herabzusehen, deren Ängste wirklich niemand zerstreuen kann.
Die Stadt, in der ich lebe, war zu 75 % zerstört, und dort lebten noch fast eine halbe Million Menschen in den Ruinen. Unser Oberbürgermeister Gustav Heinemann hat die Plakate gesammelt, die damals angeschlagen wurden, um die Bevölkerung zu informieren: über Wasser und Brot.Aber wir lebten nicht in Hiroshima, dieser Wüste der tödlichen Strahlen und unvorstellbaren Opfer. Hiroshima war das Lehrstück der neuen kriegstechnischen Möglichkeiten. So unvorstellbar es uns damals erschien, es wurden auch technische Lehren daraus gezogen.
Welche moralischen, dessen kann man nicht so sicher sein.Ich erinnere mich noch, daß wir etwas später dann keine Wege scheuten, um erstes Theater in einer stehengebliebenen Turnhalle zu erleben. Man gab das Stück „Wir sind noch einmal davongekommen", und jeder übertrug das auf sich selbst und stimmte zu.Sind wir davongekommen?Nach den Hellebarden gab es Gewehre, nach den Gewehren die Kanonen, und nach den Kanonen die Bomben und Raketen. Und nun gibt es Superraketen, die ganze Länder auslöschen können, und Mittelstreckenraketen, die ihre Ziele selber finden. Welch ein menschlicher „Fortschritt"!
Mütter müssen zusehen, wie ihre Kinder hungern, aber die Länder, die es sich leisten können, und auch solche, die es sich nicht leisten können, füttern ihre Waffenarsenale mit immer mehr und immer teureren Mordinstrumenten.Wir sind ungeheuer waffenreich, aber sonst sind wir sehr arm geworden. Die Sowjetunion büßt mit niedrigerem Lebensstandard für hohe Rüstung. Die USA, das reichste Land der Welt, beschließen große neue Waffenproduktionen bei hohem Staatsdefizit, obwohl dort Millionen unter dem Existenzminimum leben. Und auch uns trifft diese Politik wirtschaftlich schwer. Die Entwicklungsländer werden nicht nur ärmer; sie werden bettelarm und aggressiv in einer Welt, die ihnen keine Chancen geben will.Die Menschheit schafft es nicht, meine Damen und Herren, sich ausreichend zu ernähren, zu bilden, die Arbeit einzuteilen, den sozialen Risiken zu steuern. Aber sie würde es leicht schaffen, sich morgen umzubringen, und für diese Möglichkeit gibt sie 170 Milliarden Dollar im Jahr aus. Die Entwicklungshilfe auf der Welt beträgt 35 Milliarden Dollar, das ist der fünfzigste Teil davon.Sieht man von den regionalen Konflikten ab, deren Brisanz aber durchaus nicht unterschätzt werden darf, so sind sich alle einig, daß die großen Rüstungsaufwendungen dem Frieden dienen. Es muß bezweifelt werden, daß das wahr ist.
Ich bin kein Pazifist. Ein Land, das Zentrum zweier Weltkriege war, großer politischer Kämpfe und großer politischer Verirrungen, ist eine freiheitliche Demokratie geworden, ein fortschrittlicher Rechtsstaat, eine soziale Solidargemeinschaft. Es ist unser Land und wert, verteidigt zu werden. Es bedarf nicht großer Auslandsreisen; die täglichen Nachrichten aus aller Welt beweisen, daß es sich lohnt, hier zu leben. Das ist keineswegs nur eine Frage materieller Sicherheit.Wir fühlen uns gut angesichts einer Bundeswehr, die ausschließlich Verteidigungsaufgaben hat, und eines Bündnisses, in dem die westlichen Demokratien miteinander ihr Gebiet und ihre Art zu leben verteidigen wollen.Auch wir Frauen leben in einer realen Welt, und wir wissen, daß bloße Friedenssehnsucht noch keine Sicherheitspolitik ist. Wir haben uns lange Jahre beruhigt bei dem Gedanken, daß der atomare Schirm soviel Abschreckungskraft entfaltet, daß wir, den Lauf der Geschichte durchbrechend, das erste kriegsfreie Halbjahrhundert in Europa feiern würden. Aber nun ist der große Trost atomarer Abschreckung als bloß politischer, für keinen Einsatz bestimmter Waffe einem großen Schrecken gewichen.Den großen strategischen Raketen sind Raketen kurzer und mittlerer Reichweite gefolgt, die das Undenkbare denkbar machen: den atomaren Krieg auf zunächst niedrigem Niveau. Steigerung nicht ausgeschlossen, Hiermit wird spätestens klar, daß der Zweck die Mittel nun nicht mehr heiligt. Was Abschreckung hieß, könnte leicht zur Versuchung werden.
Deshalb ist unsere Herausforderung nicht, noch immer schrecklichere Waffen zu erfinden, sondern sie besteht darin, mit aller Kraft die Umkehr anzustreben. Sie allein ist unsere Lebenschance. Und das ist nicht nur militärisch gemeint.
Es ist richtig, daß die erste, entscheidende Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Sowjetunion stattfand. Mit dem Doppelbeschluß unternahm die NATO den Versuch, die Entwicklung zu bremsen, durch ein angestrebtes Verhandlungsergebnis, das westliches Nachrüsten überflüssig
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2413
Frau Hubermacht, weil östliche SS 20 verschrottet werden. Die vier Jahre sind um, und nun stehen die westlichen Mittelstreckenraketen vor unserer Tür. Aber ich glaube nicht, daß der Bundeskanzler — und die ihn tragende Koalition — die Mehrheit des Volkes hinter sich hat, wenn er sich nun für die neuen Raketen entscheidet, schon gar nicht die Mehrheit der Frauen.
Meine Fraktion wird, wie Sie wissen, die Stationierung mit großer Mehrheit ablehnen; denn es hat Angebote in Genf gegeben, die noch nicht ausgelotet worden sind, Herr Niegel. Wir wollen, daß der Rüstungswahnsinn endlich aufhört und daß darüber weiter verhandelt wird, wie man konkrete Schritte dazu macht.
Ich glaube, daß wir jetzt nicht des Hebels bedürfen, mit dem man Abrüstung kraft neuer Stärke unter Druck erzeugen will. Ich glaube, daß das ein falscher Ansatz ist.Der Kanzler und der Außenminister meinen mit der Regierung Reagan, man müsse seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Aber wir wollen nicht, daß das auf eine Weise geschieht, die unsere Friedensfähigkeit schwächt.
Wir wollen eine neue friedenssichernde Strategie. Und Besonnenheit ist auch Stärke, Herr Todenhöfer.Es wird noch schwerer sein, Raketen, wenn sie erst einmal hier sind, wieder wegzubringen; besonders dann, wenn ihre Funktion sehr verschiedene Bedeutung hat, je nachdem, ob man in Europa lebt oder nicht.
Ihnen von der CDU/CSU und FDP mag es als ein Triumph erscheinen, daß unser früherer Bundeskanzler in diesem Punkt nicht mit uns stimmt. Uns ist es ein Bedürfnis, Ihnen zu sagen, daß er in uns die Hoffnung entfacht hat, die der Verhandlungsteil des Doppelbeschlusses bedeutete. Der Doppelbeschluß wird nun ad acta gelegt. Aber an der Hoffnung halten wir fest.
Es ist die Hoffnung, daß geduldige Friedenspolitik dazu verpflichtet, kaum entdeckte Chancen nicht zu zerstören. Die unkritische Haltung der neuen Bundesregierung zu jenen Kräften in Amerika, die die weltweiten Gefahren nicht sehen, die dauerndes Hochrüsten schon an sich bedeutet, die Kalten Krieg nicht scheuen und ohne Hemmungen in Ländern ihres Umfeldes militärisch agieren, hat diese Chancen gemindert.
Wir, die in der durch einen eventuellen neuen Krieg — wenn das dann noch der richtige Ausdruck ist — am meisten bedrohten Region leben, haben das Recht, unsere Lebensinteressen selbst einzuschätzen und zu vertreten. Amerikaner empfinden nicht dasselbe wie wir, wenn sie auf dem Globus mit dem Finger auf unser Land zeigen. Aber auch ein Bündnis von ungleich Starken ist doch nur dann etwas wert, wenn jeder seine Sicherheitssorgen dort gut aufgehoben weiß.
Wir glauben nicht, daß es unsere Lage und die aller Deutschen, die dort wohnen, wo mein Bruder lebt, sicherer macht, wenn immer noch mehr Waffen auf unserem Boden stehen. Ja, immer mehr Menschen halten sogar einen Krieg aus Versehen nicht mehr für ausgeschlossen und stellen die Frage, wie lange sich solche Technik politisch noch beherrschen läßt. Es geht hier nicht um Brandstifter und Biedermann, um die Benotung ganzer Nationen mit Gut und Böse, was eine groteske Anmaßung ist. Es geht um die Furcht, daß der Mensch nicht mehr friedensfähig bleibt, weil er so viel von seinen Gütern in die Rüstung steckt, weil ihn die Waffentechnik zum Knecht von Experten macht, die keine politische Verantwortung tragen, und weil er das Gefühl dafür verliert, wie er Kräfte und Mittel einsetzen müßte, damit diese Welt nicht nur friedlich, sondern auch lebenswert bleibt oder wird.
Wir fühlen uns mit allen Amerikanern verbunden, die die Gewinnbarkeit eines Atomkrieges nicht testen wollen, weil sie das für Gottesfrevel halten.
Wir glauben uns einig mit vielen Menschen in der Sowjetunion, die unbeschadet ihres von uns nicht geschätzten Systems auch keinen Krieg wollen, nachdem sie ihr zerstörtes Land in Jahrzehnten wiederaufgebaut haben.
Sie haben die Ostverträge begrüßt, nicht als Zeichen unserer Unterwürfigkeit, sondern als Zeichen der Vernunft. — Sie, meine Damen und Herren von der CDU, waren damals dagegen. Heute werfen Sie uns vor, daß wir die Bundesrepublik in die Isolierung trieben.
Aber wir halten an unserer Auffassung fest. Wir halten sie für das Gebot der Vernunft.
Und es ist schon öfter vorgekommen, daß man mit einer vernünftigen Auffassung zunächst alleine war.Aber wir sind gar nicht so sehr allein; auch in anderen Ländern gibt es Friedensbewegungen, ja,
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2414 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Frau Huberes gibt Auffassungen und Beschlüsse im Repräsentantenhaus, die viel fortschrittlicher als das sind, was die deutsche Regierung hier vorträgt.
Daran ändern auch Ihre großen Vorträge nichts, Herr Todenhöfer.Die Kirchen haben sich des Themas Frieden angenommen, aber die christlichen Politiker füllen hier die „allerletzte Galgenfrist" — so nennt es die katholische Kirche —, die uns verblieben ist, mit neuen Raketen, betonen ihre Friedensliebe und sagen, daß die Pershings gar nichts schadeten.In Bonn am Rhein wird heute und morgen in Wirklichkeit der Versuch als gescheitert erklärt, Vernunft an die Stelle der Aggression und Hoffnung an die Stelle der Angst zu setzen.
Nicht wir schwächen das Bündnis, indem wir weitere Verhandlungen statt neuer Waffen verlangen, Sie zerstören — auch wenn die jetzigen Regierungen sich einig sind — seinen inneren Zusammenhalt. Dies ist eine negative historische Stunde.
— Meine Dankbarkeit werde ich hier ausdrücken, aber nicht so, wie Sie gerade meinen.Wir, denke ich, werden viel Kraft brauchen, wenn wir später beweisen wollen, daß wir alle dennoch für eine bessere Welt gearbeitet haben. Aber die Frauen werden dafür sorgen, daß die Mahnungen nicht verstummen, die da lauten: Bekämpft den Wahnsinn und verschrottet den Krieg!
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frau Kollegin Huber hat soeben in bewegten und für jemanden, der die Zeit dieses Krieges miterlebt hat, auch bewegenden Worten das Bild eines mit konventionellen Waffen geführten Krieges noch einmal beschworen. Darf ich Sie einmal fragen, Frau Kollegin Huber, an wen Sie diese Schilderung und diese Warnung eigentlich gerichtet haben?
An diejenigen, die heute mit der Politik, die zu einer Zeit entworfen und konzipiert worden ist, als Sie Mitglied des Bundeskabinetts waren, versuchen einen Krieg zu verhindern?
Oder unterstellen Sie, wir brauchten diese Ermahnung
mit Blick auf das Furchtbare eines Krieges, um alles zu tun, was uns möglich und machbar erscheint, um einen Krieg zu verhindern?
Ich habe noch sehr im Ohr die Zwischenfrage des Kollegen Jungmann an Herrn Todenhöfer, ob er Ihnen eigentlich zutraue, daß Sie einen konventionellen Krieg wollten.
Herr Kollege Jungmann, ich traue das niemandem zu,
aber ich halte es für eine notwendige, für eine unerläßliche Überlegung, was man denn tun kann und tun muß,
um einen konventionellen Krieg ebenso unführbar zu machen wie einen atomaren Krieg. Das ist das, was uns bewegt.
Etwas anderes möchte ich an dieser Stelle noch sagen. Der Kollege Marx hat vorhin vor diesem Hohen Hause die Bundeswehr als die größte und wirkungsvollste Friedensorganisation in unserem Staat bezeichnet, und er hat dafür einen wütenden Buh-Ruf und abfällige Zwischenrufe geerntet. Ich kann Ihnen nur sagen: Daß wir heute hier in diesem Bundestag in aller Offenheit über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, über Gefahren und ihre Abwendung debattieren können, daß draußen demonstriert werden kann, dies ist auch das Verdienst derjenigen, die in der Bundeswehr ihren Dienst tun.
Dies in solcher Form abzuwerten, wie es hier geschehen ist, halte ich für geradezu absurd. Haben wir nicht alle Veranlassung, uns nicht nur zu überlegen, mit welchem Material wir diese Bundeswehr ausstatten, um ihren Verteidigungsauftrag möglich zu machen, haben wir nicht alle Veranlassung, auch die Motivation dieser jungen Männer sicherzustellen und ihnen zu zeigen, daß sie in unserer Gesellschaft nicht allein stehen, sondern daß diese Bundeswehr ein Teil unserer Gesellschaft ist und von uns, doch wohl zumindest von den Abgeordneten dieses Hohen Hauses, mitgetragen wird?
Ich habe mit großer Bestürzung diese Auseinandersetzung vorhin gehört und stehe nicht an, mich hier mit allem Nachdruck entgegenzusetzen.Wir sind in einer Debatte, von der mein Fraktionsvorsitzender gesagt hat, daß es die 37. Auseinandersetzung in diesem Hohen Hause über den
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2415
RonneburgerDoppelbeschluß und die Frage der Nachrüstung gewesen sei.
Wir sind sicherlich alle — das gilt auch für Ihre Fraktion — in der Gefahr, Argumente zu wiederholen, die wir nicht nur in diesen zwei Tagen mehrfach sagen und hören werden, sondern die wir auch in den vergangenen Wochen und Monaten und Jahren vielfältig ausgetauscht haben.
Aber ich bin in dieser Frage in einer sehr komfortablen Situation, wenn ich Ihnen sagen kann, daß meine Fraktion heute unverändert und ohne jede Verrenkung, und ohne daß sie sich bemühen muß, Wechsel der Meinungen und Auffassungen zu begründen, jene Friedens- und Abrüstungspolitik verfolgt, die von ihr über Koalitionen und deren Wechsel hinweg seit je verfolgt worden ist. Kontinuität ist hier mehrfach angesprochen worden. Aber ich sage Ihnen, Kontinuität, an einem Beschluß nur deswegen festzuhalten, weil man ihn einmal gefaßt hat, ist natürlich nicht ausreichend, sondern hier geht es um die Frage, ob wir in der Lage sind, weiter zu denken, zu überlegen und unsere Entscheidungen auch wechselnden Situationen anzupassen.
Aber die Grundlinie muß jedenfalls eingehalten werden, wenn wir als Verhandlungspartner nach außen überhaupt ernst genommen werden wollen.Ich kann nur sagen: Die Schlagzeilen der Presse bei der Berichterstattung über die Parteitage am Wochenende waren teilweise leider geeignet, den Eindruck zu vermitteln, als gäbe es Parteien, die für, und andere, die gegen weitere Raketen in Europa eintreten. In manchen Äußerungen von Politikern der Opposition wurde auch heute und hier im Hause, unbedacht oder vielleicht sogar beabsichtigt, die gleiche Behauptung aufgestellt.Draußen auf der Straße stehen Hunderte, sie blockieren die Hauptverkehrsstraße durch Bonn. Der überwiegende Teil von ihnen sind Angehörige der jungen Generation. Ich meine, wir sollten hier auch in diesem Augenblick ernst nehmen, was sich an Sorge, Bedenken und Gewissensbelastung bei vielen dieser Demonstranten ausdrückt,
auch wenn ein kleiner Teil dort in aggressiver Stimmung gegen die vermeintlichen Raketenbefürworter auftritt. Ob es allerdings zu einer denkbaren Einflußnahme auf das Parlament gehört, Kraftwagen auf der Straße zu zerstören, oder ob hier nicht einfach die Grenze überschritten ist, die nicht überschritten werden darf, ist wohl keine Frage.
Denn, Herr Kollege Vogel, natürlich geht es in den Auseinandersetzungen dieser zwei Tage und sicherlich darüber hinaus auch um die Frage der Aufrechterhaltung unserer demokratischen Ordnung.Bei allem für mich selbstverständlichen Respekt vor Sorge und Angst muß ich an dieser Stelle sagen, daß ein Ausdruck von Angst, ein Ausdruck von Sorge nicht dazu führen darf, daß Gewissen belastet und in Anspruch genommen werden, die jedes einzelnen Abgeordneten und jedes einzelnen Menschen in unserem Lande ureigenste Sache sind.Den Koalitionsfraktionen wird sogar vorgeworfen, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik beschließe der Deutsche Bundestag mit der Mehrheit der Koalition gegen den ausdrücklichen, gegen den erkennbaren Willen der Mehrheit der Bevölkerung ein Ja zur weiteren Aufrüstung.
Glauben Sie eigentlich, daß ich mich, wenn mir ein solcher Fragebogen vorgelegt würde, für mehr Raketen und nicht für weniger Raketen aussprechen würde! Was unterstellen Sie uns eigentlich?
Seien wir vorsichtig in der Beurteilung solcher Meinungsumfragen.Mich veranlaßt alles, was dort geschieht und dargelegt wird, sehr deutlich zu sagen: Es gibt einen Konsens unter den Fraktionen dieses Hauses; es gibt einen Konsens in der Bevölkerung der Bundesrepublik, und das ist der Wunsch, keiner Bedrohung ausgesetzt zu sein, keine atomare oder andere Rüstung für ein friedliches Zusammenleben in Freiheit überhaupt zu benötigen. Wenn man mit solchen Meinungsumfragen wirklich redlich umgeht, dann sind gerade sie der Beweis für diese Gemeinsamkeit. Bei allen Unterschieden in der Sicht, wie dieses gemeinsame Ziel zu erreichen sei, darf doch diese Gemeinsamkeit nicht Gegenstand oppositioneller Pflichtübungen derer werden, die eben diese Gemeinsamkeit verneinen. Das wäre nicht Opposition, sondern Obstruktion.Ich füge hinzu, und ich meine das sehr ernst: Eine Diffamierung der Friedensbewegung darf es nicht geben. Sie werden von meinen Freunden und von mir eine solche Diffamierung weder in der Vergangenheit gehört haben noch in Zukunft hören.
Die berechtigten Auseinandersetzungen hier und in der Öffentlichkeit beziehen sich nur auf den richtigen Weg zu dem gemeinsamen Ziel. Daß es hier unterschiedliche Auffassungen gibt, wer wollte das leugnen und wer wollte das für schädlich halten! Die Opposition nimmt sich — und dies muß ich an die Adresse der SPD-Fraktion sagen — das ihr natürlich zustehende Recht, für diesen Weg Wünsche zu formulieren, mit denen man Friedenswillen unterstreichen will, mit denen man aber zugleich die steinige, mit Hindernissen übersäte Realität nicht in Ansatz bringt. Das unterscheidet eine Regierungskoalition von einer Opposition.
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2416 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
RonneburgerEs ist hier ein vielleicht öffentlichkeitswirksamer Vorteil der Opposition, daß sie es dabei bewenden lassen kann,
weil sie nicht dem Zwang der tatsächlichen Verantwortung unterliegt und, Herr Kollege Voigt, weil sie nicht durchführen muß oder kann, was sie vorschlägt.
Diejenigen, die Verantwortung für die praktische Regierungspolitik tragen, können sich nicht mit Wunschdenken begnügen. Sie müssen einen begehbaren Weg zum Ziel aufzeigen, der auch in allen Etappen Risiko und Gefahr nach Möglichkeit ausschließt
und der doch ohne den Mut zur Entscheidung nicht gegangen und nicht mit Erfolg gegangen werden kann.
Aber ich füge etwas anderes hinzu: Mut zum Risiko in der Sicherheitspolitik für die Bundesrepublik Deutschland kann nicht und wird nicht Bestandteil einer von uns mitgetragenen Regierungspolitik sein. Wenn es heißt, wir müssen den ersten Schritt wagen, dann darf auch dieser erste Schritt kein Wagnis mit unbestimmtem Ausgang werden, was niemand verantworten könnte.Meine Damen und Herren, die SPD hat auf ihrem Parteitag in Köln ein bedingungsloses Nein zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik beschlossen. Sie hat das getan, obwohl in Genf noch verhandelt wird, obwohl neue Vorschläge auf dem Tisch liegen, die noch nicht abschließend behandelt sind und somit eine Ergebnislosigkeit der Verhandlungen nicht mit absoluter Sicherheit angenommen werden kann, in einer Situation also — ich möchte das noch einmal schildern —, in der rund 360 SS 20 in der Sowjetunion aufgestellt, mehr davon mehr produziert und zum größten Teil auf Westeuropa gerichtet sind, Raketen, deren Abbau wir erreichen wollen. In einer solchen Situation beschließt die SPD ein bedingungsloses Nein zur Durchführung des Doppelbeschlusses. Das ist das Nichtzurkenntnisnehmen der Realität, von der ich eben gesprochen habe. Das ist der Mut zum Risiko, das Wagnis, das ich für eine verantwortungsvolle Regierungspolitik eben ausgeschlossen habe.Herr Bahr, ich hätte gerne hier von Ihnen als dem bekannt scharfen Analytiker gesprochen, aber einige Ihrer Bemerkungen, die Sie heute gemacht haben, hindern mich leider daran, das so — auch auf Grund gemeinsamer politischer Arbeit in der Vergangenheit — auszusprechen. Sie haben gesagt, Herr Bahr, die NATO sei Instrument unserer Sicherheitspolitik. Gut, soweit stimme ich zu. Aber ist diese NATO für uns nicht auch Aufgabe und Pflicht und Verantwortung? Wir sind nicht allein in diesemVerteidigungsbündnis. Entscheidungen, die wir hier treffen, betreffen in ihren Auswirkungen unsere Partner genauso. Was gibt uns eigentlich das Recht, etwa durch desolidarisierende Entscheidungen das Risiko auch für unsere Partner zu vergrößern? Was würde uns das Recht geben, in Zukunft auf die Solidarität eben dieser Partner zu rechnen, wenn wir nicht bereit sind, innerhalb der Solidarität dieses Bündnisses auch unseren Teil an Aufgaben und Pflichten zu übernehmen'?
Herr Bahr, Sie haben gesagt, Nachrüstung beseitige keine SS 20. Ich frage Sie: Wie haben Sie eigentlich je — auch in der Zeit der sozialliberalen Koalition — dem Doppelbeschluß zustimmen können, wenn dies Ihre Überzeugung ist? Was sollte dieser Beschluß eigentlich überhaupt, wenn das richtig wäre, was Sie heute gesagt haben?Sie haben von der Möglichkeit versäumter Chancen gesprochen. Sie haben gesprochen von nicht revidierbaren Entscheidungen. Haben Sie heute den Bundeskanzler und den Bundesaußenminister nicht gehört, die ausdrücklich davon sprachen — und der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen unterstreicht dasselbe —, daß eben diese Entscheidung revidierbar ist. Das ist das Ziel weiterführender Verhandlungen, von denen Sie gesagt haben, der Bundeskanzler habe sie nicht gefordert.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gleich, Herr Präsident.
Eben das ist das Ziel weiterführender Verhandlungen: diese Entscheidung zu revidieren. Denn es ist richtig — Entschuldigung, Herr Bahr, noch einen Satz —, daß mehr Raketen und Waffen nicht unbedingt mehr Sicherheit bringen; aber es ist genauso richtig, daß die Erfahrungen, die wir bisher gemacht haben, uns keine Hoffnung geben, außer mit einer klaren, berechenbaren und konsequenten Politik zu einem tatsächlichen Abbau von Waffen zu gelangen.
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bahr.
Herr Kollege Ronneburger, sind Sie bereit, nachzuvollziehen, daß das Ja zum Doppelbeschluß mit der Erwartung und Hoffnung verbunden war, die SS 20 radikal reduzieren zu können, und daß uns dies jetzt möglich erscheint, wenn man die Vorschläge, die in Genf auf dem Tisch liegen, konstruktiv prüft? Wenn wir uns darin einig sind, daß jetzt die Beschlüsse der Nachrüstung revidiert werden können, warum ist es dann nicht besser, sie erst gar nicht zu fassen, da wir sie dann nicht zu revidieren brauchen?
Es gab in der heutigen Debatte von der Seite Ihrer Fraktion — ich weiß im Augenblick nicht genau, ob Sie es selbst waren, des-
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Ronneburgerwegen möchte ich es nicht personifizieren — eine Bemerkung, die mich allerdings sehr verblüfft hat. Diese lautete: Wenn man jetzt auf den Stationierungstermin verzichten würde, gäbe es eine echte Chance, zu einer Reduzierung der SS 20 zu kommen. Ich frage Sie nun wirklich, Herr Bahr: Was berechtigt denn wohl zu dieser Hoffnung? Seit sechseinhalb Jahren — das sind nicht nur vier Jahre — werden SS 20 stationiert. Sechseinhalb Jahre hat der Westen nicht nachgerüstet, in diesen sechseinhalb Jahren hat er 1 000 Sprengköpfe abgezogen. Sechseinhalb Jahr lang hat die Sowjetunion unter diesen Bedingungen zwar zum Schluß verhandelt, aber immer weiter nachgerüstet. Jetzt auf einmal soll nun die Hoffnung berechtigt sein, wenn ich sage, daß ich jetzt immer noch nicht stationiere, daß sich die Situation verändert? Ich vermag dies nicht zu sehen.
Genausowenig vermag ich der Bemerkung von Ihrer Seite zu folgen, wir seien sozusagen Geiseln der USA. Wo ist denn eigentlich mit der Aufstellung der Mittelstreckenraketen begonnen worden, wo stehen denn diese SS 20, die uns nun zweifellos heute bedrohen? Sie haben von kurzen Vorwarnzeiten gesprochen, die bei aufmerksamem Hinsehen ja wohl durch die Stationierung der SS 20 für uns verkürzt worden sind und die nicht etwa durch die Aufstellung von Pershing II auf diese Kürze herabgedrückt werden.Sie, Herr Bahr, haben von den Gegenmaßnahmen der Sowjetunion mit SS 21 und 22 gesprochen. Sind wir uns eigentlich nicht darüber einig, daß schon, bevor der Doppelbeschluß gefaßt wurde, mit der Entwicklung dieser Waffen begonnen worden sein muß, wenn sie heute einsetzbar oder aufstellbar sind?
Wo ist eigentlich der Zusammenhang zwischen dieser SS 20 — —
— Aber die Pershing II ist jahrelang trotz des von Ihnen, Ihrer Fraktion und unserer Fraktion gemeinsam gefaßten Doppelbeschlusses nicht aufgestellt worden. Nein, ich bin mit vielen der Meinung, mehr Waffen geben nicht unbedingt mehr Sicherheit. Aber Entschlußlosigkeit, Nervosität zur falschen Zeit und das Aus-der-Hand-Geben eines Werkzeugs, wie es dieser Doppelbeschluß auch für die Zukunft sein könnte, führt allerdings auch nicht und schon gar nicht zu mehr Sicherheit.
Herr Kollege Ronneburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Scheer?
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Präsident. Auch meine Zeit ist begrenzt, undSie werden Verständnis dafür haben, daß ich nicht jede Zwischenfrage zulasse.Ich möchte gern darauf hinweisen, daß es nach meiner Meinung ein untauglicher Versuch der SPD geblieben ist und wohl auch bleiben mußte, zu beweisen, daß sie in Kontinuität ihrer Parteitagsbeschlüsse gehandelt hat. Historisch wahr bleibt doch wohl, meine Kollegen, daß die SPD-Fraktion in der Vergangenheit Mehrheitsbeschlüsse gefaßt hat, die Bestandteil der Regierungspolitik wurden. Wahr ist doch wohl auch, daß die SPD schon vor dem September vergangenen Jahres nur noch mühsam an der Politik des von ihr selbst gestützten Bundeskanzlers hat festhalten wollen und können. Historisch wahr ist, daß die SPD auf ihrem Kölner Parteitag eine Abkehr von ihrer früheren Haltung beschlossen hat.Ich würde gerne noch einige Äußerungen des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt hier in diese Debatte einführen.
Ich bin von Ihrer Seite aufgefordert worden, ihn hier nicht als Kronzeugen gegen die SPD anzuführen. Wenn ich mich dieser Bitte nicht verschließe — das allerdings muß ich hinzufügen —, dann aus Respekt vor der klaren und durchgängigen Haltung des ehemaligen Bundeskanzlers und nicht aus Respekt vor dieser Bitte und vor der Haltung Ihrer Fraktion.
Der ehemalige Bundeskanzler hat gesagt, manches an der Begründung des von uns, von den Koalitionsfraktionen, vorgelegten Entschließungsantrages habe ihm nicht gefallen. Dies ärgert mich relativ wenig, meine Kollegen, denn das, was er gesagt hat — noch deutlicher auf Ihrem Parteitag als heute hier im Plenum des Bundestages —, war in weiten Teilen nichts anderes als eine Begründung dieses Entschließungsantrages, den wir morgen zur Abstimmung stellen werden.
Deswegen geht es nicht so sehr um Gefallen oder Nichtgefallen, sondern es geht um die Frage, wie wir eigentlich morgen verfahren und wie wir — jeder von uns — bei der Entscheidung, die wir morgen treffen, mit unserem Gewissen zurechtkommen.Auf einen Zusammenhang möchte ich an dieser Stelle allerdings gern noch hinweisen. Herr Kollege Bahr, Sie haben einiges an der Koalition, an der Bundesregierung, am Bundeskanzler kritisiert. Eines können Sie aber der Entschließung, die die Koalition vorgelegt hat, nicht vorwerfen: daß sie mit dem, was morgen beschlossen werden soll, nämlich dem Festhalten am Doppelbeschluß, sozusagen einen Schlußpunkt setzt. Wenn es in der Entschließung heißt, daß der „Deutsche Bundestag unterstreicht, daß Verständigung und Ausgleich mit der Sowjetunion und den anderen Staaten des Warschauer Paktes nur auf der Grundlage politischer
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RonneburgerGleichberechtigung und der Anerkennung gleicher Sicherheit für alle Staaten erfolgen können", dann ist dies ein Schritt über Genf und über die gegenwärtige Verhandlungsrunde hinaus. In dieser Entschließung steht auch das, was Sie vermißt haben, nämlich die Forderung nach der Weiterführung der Verhandlungen auch nach dem morgigen Datum und nach dem möglichen Beginn der Stationierung, die dann über einen Zeitraum von fünf Jahren laufen würde. Der ehemalige Bundeskanzler hat dies heute hier auch sehr deutlich gesagt.Der letzte Passus dieser Entschließung lautet schließlich:Der Deutsche Bundestag setzt sich dafür ein, den Ost-West-Dialog in allen Bereichen und auf allen Ebenen fortzusetzen und zu vertiefen, um durch Vertrauensbildung und Zusammenarbeit ein Klima zu schaffen, in dem Spannungen abgebaut und gleichgewichtige, überprüfbare Abrüstungsergebnisse erzielt werden können.In diesem Zusammenhang aber füge ich eine weitere Bemerkung an. Die SPD-Fraktion und übrigens auch wir haben uns nicht wenig darauf zugute gehalten, daß es deutschem Einfluß zu danken war, daß die Verhandlungen in Genf begannen. Meine Kollegen in der SPD-Fraktion, sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß ein Einfluß, den die Bundesrepublik, die Bundesregierung ausüben kann — ob in Ost oder West —, immer davon abhängig sein wird, daß wir ein sicherer, ein zuverlässiger und auch anerkannter Partner des westlichen Bündnisses sind? Jede Einflußmöglichkeit auch auf östlicher Seite wäre mit dem Tag zu Ende, an dem wir es an der Solidarität und damit an der Einbindung ins westliche Bündnis fehlen ließen.
Dies ist auch etwas, was mich gerade deswegen bewegt, weil mir an der Deutschlandpolitik sehr viel liegt. Eine bewegliche, mit eigenen Inititativen und Entscheidungen betriebene Deutschlandpolitik — und dies, Herr Kollege Vogel, nicht nur verbal, wie Sie heute morgen gesagt haben — ist ebenfalls nur möglich, wenn wir anerkannte und zuverlässige Partner dieses Bündnisses sind und bleiben. Insofern handeln wir auch im Interesse der Deutschen, die auf der anderen Seite der Grenze leben.Ich sage Ihnen darüber hinaus: Meine Partei und meine Fraktion werden auch in Zukunft über Genf und über das Mittelstreckenraketenproblem hinausdenken. Wir werden, wie wir es in Karlsruhe beschlossen haben, nach gewaltfreien Verfahren und Lösungen der Vernunft im Sinne der UNO-Charta suchen. Wir werden eine entschlossene Verteidigungspolitik betreiben, die die Gewaltanwendung ausdrücklich und im übrigen in Übereinstimmung mit der Verfassung auf das Recht zur staatlichen Notwehr im Sinne des Art. 51 der UNO-Charta begrenzt. Meine Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein kontrolliertes Verbot aller chemischen Waffen, wir wollen den Abzug aller chemischen Waffen aus dem MBFR-Bereich. Wir wollen ein weltweites und überprüfbares Verbot aller Atomwaffentests. Wir fordern als Ergebnis der europäischen Abrüstungskonferenz, die jetzt im Januar beginnen wird, eine vertragliche Bekräftigung des allseitigen Gewaltverzichts. Wir wollen eine Überwindung des Stillstandes bei den Wiener Verhandlungen zum beiderseitigen ausgewogenen Truppenabbau. Wir wollen den schrittweisen beiderseitigen Abzug aller nuklearen Kurzstreckensysteme aus Europa, die wir für den gefährlichsten Punkt des Beginns einer Eskalation, einer Auseinandersetzung halten.Lassen Sie mich schließen mit dem Satz, mit dem auch die Karlsruher Entscheidung schließt:Wir wollen die Lasten und Gefahren der Rüstung schrittweise mindern und unseren Kindern eine Zukunft in gesicherter Freiheit und in Frieden bereiten. Wir wollen Frieden bewahren mit immer weniger Gefahren. Wir wollen die Kräfte der Menschheit auf die Zukunftsaufgabe richten: Sicherheit der natürlichen Lebensgrundlage weltweit und Überwindung von Hunger, Not und Krankheit in der ganzen Welt.Meine Kolleginnen und Kollegen, auch wir leben, wie wir es in einer früheren Entschließung einmal gesagt haben, mit dem Dissens, weniger Rüstung zu wollen und dies noch nicht erreicht zu haben, mehr Hilfe für die Dritte Welt geben zu wollen und doch die Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt weiter auseinanderklaffen zu sehen. Wir haben eine Aufgabe, und wir werden mit Entschiedenheit und nach sorgfältiger Überlegung — wir haben es uns nicht leicht gemacht — morgen eine Entscheidung treffen, von der wir glauben, daß sie zu diesem Ziel führen kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verlauf der Debatte, insbesondere was einige Episoden zu Beginn heute morgen angeht, hat mich betroffen gemacht. Ich möchte mich deshalb auf zwei Punkte beziehen.Herr Bundesaußenminister Genscher hat die Demonstranten, die heute an der Bannmeile
— an der Bannmeile — eine Sitzblockade gemacht haben, als Gewalttäter bezeichnet.
Ich möchte mich hier nicht auf die juristischen Unterschiede spezialisieren. Aber ich möchte doch feststellen, daß ich das hier als eine Verleumdung dieser Freunde, die dort diese gewaltfreien Aktionen machen, empfunden habe.
Ich habe dies auch so ausgedrückt, ohne den HerrnBundesaußenminister persönlich herabsetzen zu
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Vogt
wollen. Wie Sie wissen, hat dies zu einem Ordnungsruf geführt, den ich allerdings verschmerzen will.Zweitens. Der Herr Kollege Bastian, der Kollege Bastian — Entschuldigung! —, der Kollege Bastian hat hier folgendes ausgeführt:
— Ich sage das sehr gern und sehr oft, weil ich mich freue, daß dieser Kollege in unseren Reihen ist.
Herr Bastian hat in dem Zusammenhang der Informationen, die uns bis zu diesem Zeitpunkt bekannt waren, nämlich daß eine solche Sitzblockade an einer Straßenkreuzung mit Tränengas und mit Wasserwerfern weggetrieben worden ist,
von der Unangemessenheit des Polizeieinsatzes gesprochen. Ich zitiere jetzt wörtlich aus dem Protokoll:Ebenso wird die offensichtliche Unangemessenheit des Polizeieinsatzes in dieser Stadt
am heutigen Tag zurückgewiesen.
Das Protokoll fährt fort:
Ich sage das, um auch mal auf Ihren Stil einzugehen.Wir danken— so sagt Gert Bastian weiter — unseren Freunden dort draußen
für ihr persönliches Engagement und für ihr demonstratives Bekenntnis gegen die beabsichtigte Stationierung von Atomwaffen.
Daraufhin Herr Präsident Dr. Barzel:Herr Abgeordneter Bastian, ich erkläre hiermit: Der Präsident des Deutschen Bundestages dankt den Ordnungskräften, die diese freie Debatte und Entscheidung möglich machen.
Dann fügt er hinzu:Ich bitte Sie, sich zu mäßigen.
Der Kollege Bastian, der also auf die Zweck-MittelReaktion hingewiesen hat, auf die Gewalt, die nun zweifellos von einem solchen Wasserwerfer ausgeht — ich habe das selber schon mehrmals erlebt, auch bei gewaltfreien Aktionen —,
mit anderen Worten auf das Nichteinhalten der Zweck-Mittel-Relation, der soll sich mäßigen.
— Jawohl! Das erinnert mich an eine weitere Situation.
Herr Kollege Vogt, ich muß Sie unterbrechen. Auch Sie müssen die Geschäftsordnung kennen, die besagt, daß Kritik am Präsidenten eine Verfahrensweise ist, die mit unserem Parlamentsverständnis nicht in Übereinstimmung ist.
Ich muß Ihnen für diesen Vorgang einen Ordnungsruf erteilen. Ich bitte Sie, zur Sache zu kommen.
Ich habe den Präsidenten nicht kritisiert, sondern ich habe aus dem Protokoll zitiert. Und ich hoffe, daß man in diesem Haus noch diesen feinen Unterschied ertragen kann, meine Damen und Herren. Ich werde natürlich Einspruch gegen diese Art von Ordnungsruf einlegen.
— Wenn das bloße Verlesen eines Protokolls hier sozusagen schon eine Majestätsbeleidigung des Präsidenten ist, wo kommen wir denn da hin!
Herr Kollege Vogt, Sie haben nicht nur aus dem Protokoll vorgelesen, ich habe sehr genau abgewartet, bis Sie
— Herr Kollege Vogt, ich muß Sie erneut zur Ordnung rufen.
— Sie wissen, daß der zweite Ordnungsruf mit der Ankündigung verbunden ist, daß ein dritter Ordnungsruf dazu führt, daß Ihnen für diese Aussprache nicht mehr das Wort erteilt werden kann.
Ich überlasse es den Kollegen und den Zuhörern und Zuschauern, festzustellen, ob hier sowohl der jetzige Präsident
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Vogt
als auch der Präsident von heute morgen seiner schiedsrichterlichen Rolle gefolgt ist oder nicht.
Das überlasse ich ausdrücklich der Beurteilung durch das Publikum. So!
Ich werde einen weiteren Präsidenten zitieren, den Landtagspräsidenten Martin aus Rheinland-Pfalz, der neulich in einer Nachrüstungsdebatte gesagt hat, der militärische Überfall auf Grenada sei aus seiner Sicht keine Gewalt gewesen. Er hat dann später in derselben Diskussion die Friedensdemonstranten zur Mäßigung und zur Rückkehr zur Argumentation ermutigt. Ich möchte auch hier auf das Verhältnis der Maßstäbe, die man an unterschiedliche Tatbestände anlegt, hinweisen. Ich möchte einmal in Ihr Bewußtsein bringen, welche unterschiedlichen Maßstäbe Sie anlegen, und auch die Frage stellen, ob es hier von der Struktur her nicht genauso ist, wenn die USA Maßstäbe an die Sowjetunion anlegen und diese Maßstäbe immer dann, wenn es um eigene Interventionen geht, zerbrochen werden; das ist doch der Punkt!
Das mindeste, was man in einer zivilisierten Diskussion erwarten kann, ist doch das Bemühen um Maßstabgerechtigkeit.
— Ich rede zur Doppelmoral, Herr Kollege.
Der Doppelbeschluß hat sicher auch sehr viel mit Doppelmoral zu tun.
Wir haben uns sachkundig gemacht: Ich als Mitglied des Unterausschusses Abrüstung und Rüstungskontrolle war dabei; weiter waren die Herren Kollegen Todenhöfer, Bahr und andere dabei. Wir waren in Moskau, wir waren in Washington, und wir waren schließlich in Genf. Überall sind wir zu einem deprimierenden Befund gekommen.Das erste ist, daß die in der Abrüstungsgeschichte in der Tat neuartige Formel, die mit dem Beschluß vom 12. Dezember 1979 verbunden wird und die da lautet, Androhung von neuartigen, technologisch überlegenen Waffen, um die andere Seite zur Abrüstung zu bewegen, gescheitert ist, sollte sie je ernstgemeint gewesen sein.
Die Schlußfolgerung daraus, nun gefälligst andere Annäherungen an wirkliche Abrüstung zu suchen, wird in der Praxis weder in der Sowjetunion noch in den USA gezogen.Zweite Bemerkung und zweites Resultat unserer Erkundungsreise: Im vollen Bewußtsein, eine schlimme Situation schlimmer zu machen, leiten die USA und die Sowjetunion eine neue Rüstungsrunde ein.Weitere Beobachtung: Die Akteure auf beiden Seiten — und unter unseren Geprächspartnern waren hochrangige Funktionäre, die auch Verantwortung tragen — scheinen mehr damit beschäftigt zu sein, Schuldzuweisungen vorzunehmen als Auswege zu suchen. Hier kann ich Günter Graß zustimmen, wenn er in seinem Brief an die Bundestagsabgeordneten sagt, dies seien infantile Haltungen.Ferner: Die Führungsriegen der beiden Supermächte sind in ihrer weltumspannenden Rivalität so sehr aufeinander fixiert, daß sie darüber für die Folgen ihres Tuns blind und gefühllos geworden sind. Schon gar nicht werden sie der Verantwortung für ihre Bündnispartner und für das Schicksal der Menschheit gerecht. Die für uns schon zur zweiten Natur gewordene Erkenntnis in der Ökologie- und Friedensbewegung, die von Rudi Dutschke stammt, nämlich daß Gattungsfragen vor Klassenfragen gehen, findet in der globalen Konkurrenz der BlockVormächte USA und Sowjetunion nicht die erforderliche Beachtung.Ich meine auch, daß beide Mächte einen reduzierten Friedensbegriff haben; für sie bedeutet Frieden das Fernhalten eines Krieges vom eigenen Territorium. Aber, Herr Kollege Todenhöfer, ich würde jetzt nicht so weit gehen, der Sowjetunion hier bewußt ein Mißverständnis anzulasten. Wenn etwa in der Diskussion die Überlegung auftaucht, daß „bloß" die BRD von den SS 20 erreicht werden würde, dann meinen sie damit nicht eine Geringschätzung des Lebens in der Bundesrepublik Deutschland, sondern sie meinen im Rahmen einer an sich schon perversen Diskussion, daß diese Raketen das internationale strategische Gleichgewicht zwischen den Großmächten nicht stören. Das sollte hier dann nicht — wir haben die Bemerkung ja beide gehört — so verkürzt dargestellt werden. Ich glaube, das wird den Gesprächspartnern dort nicht gerecht.Schließlich: Das Streben nach militärischem Gleichgewicht — hier stimme ich der vortrefflichen Analyse, die Gräfin Dönhoff in der „Zeit" angestellt hat, zu —, das offiziell als Motiv für die Weiterrüstung auf beiden Seiten genannt wird, steht bisher jedem Abrüstungsfortschritt entgegen; das hat sich sozusagen als Aufrüstungsmotor erwiesen.Eine weitere interessante Beobachtung in Washington: Wir haben öfter gehört, es werde nie wieder einen Doppelbeschluß geben.
— Von Richard Burt u. a. — Ich meine, daß die Formel, Androhung von mehr Rüstung, um den anderen zur Abrüstung zu bewegen, die ja gescheitert ist, eine Nebenwirkung gehabt hat. Sie hat die Nebenwirkung gehabt, daß immerhin in den Völkern, in denen eine demokratische Diskussion möglich ist, erstmalig in der Nachkriegsgeschichte und erstmalig seit den unseligen 50er Jahren, wo die atomare Rüstung auf deutschem Gebiet geduldet wor-Vogt
den ist, eine demokratische Diskussion, eine öffentliche Debatte auch über das Undenkbare, über den Nuklearkrieg und über die Nuklearkriegsplanungen stattgefunden hat. Diese Debatte ist zu dem Ergebnis gekommen, daß es nie einen Konsensus in der Bevölkerung gab, die diese Vergeltungswaffen akzeptiert hätte. Deshalb, Herr Ex-Bundeskanzler Schmidt, ist dies keine neue Akzeptanzdiskussion, sondern eine leider unterbliebene Akzeptanzdiskussion. Sie hat erbracht, wie auch Kurt Biedenkopf festgestellt hat, daß es einen Konsensbruch gibt. Dieser Konsensbruch ist öffentlich bewußt geworden.
Nun klammert sich die Regierung an die Mehrheitsentscheidung des 6. März und tut so, als habe sie bei der letzten Bundestagswahl einen Freibrief bekommen, der Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles zuzustimmen. Dem ist aber nicht so. Gemessen an der Grundfrage, die Erich Fromm gestellt hat — „Haben oder Sein?" —, hat sich die Mehrheit der Wähler am 6. März wohl für das Haben ausgesprochen. Die Wendewähler haben sich von der Verheißung, CDU/CSU und FDP brächten den Aufschwung und damit wirtschaftliche Stabilität zustande, beeindrucken lassen. Sie haben also der materiellen Sicherheit zunächst den Vorrang gegeben — ein Vorgang, den ich hier nicht werten will, den man in einer Wirtschaftsdebatte werten muß. Die Meinungsumfragen des Herbstes aber, wonach 75 % der Wähler sich gegen die Raketenstationierung aussprechen, weist darauf hin, daß viele Mehrheitsbeschaffer des 6. März ihre Wahlentscheidung in dieser Frage gerne korrigieren möchten.
Das Votum für Ihre Koalition hat für sie nicht bedeutet, daß ihnen die Seinsfrage gleichgültig ist.
In dem Maße, wie sie gespürt haben, daß ihre Existenz als Lebewesen auf dem Spiel steht, möchten sie ihre Entscheidung vom 6. März gerne ändern. Sie wollen nicht „haben oder sein", sie wollen, wenn es sich machen läßt, „haben und sein", also überleben und das Überleben ihrer Kinder sichern. Die Mehrheit im Bundestag hätte diese Korrektur zulassen können, indem sie dem Gesetzentwurf der GRÜNEN auf Durchführung einer konsultativen Volksbefragung zugestimmt hätte. Sie kann das immer noch tun.
Der Respekt vor dem Volk als Souverän gebietet dann allerdings, daß vor Durchführung der Volksbefragung nicht stationiert wird.Mein Vorschlag geht in praktischer Hinsicht dahin, die Volksbefragung mit den Wahlen zum Europäischen Parlament am 17. Juni zu verbinden. Damit ist auch klargestellt, daß die Durchführung der Volksbefragung ohne allzu großen finanziellen und verwaltungsmäßigen Aufwand möglich ist. Es ist doch in einer Demokratie nicht ehrenrührig, in einer Schicksalsfrage das Volk zu Rate zu ziehen.
In der Friedensbewegung wird bereits erwogen, in einer Art Ersatzvornahme — und im Sinne der gewaltfreien Aktion, Herr Dr. Marx, nennt man das auch „zivile Usurpation" — die Volksbefragung in eigener Regie durchzuführen, und zwar ebenfalls am 17. Juni, sollte der entsprechende Gesetzesvorschlag von der Mehrheit dieses Hauses aus Angst vor der wirklichen Mehrheit des Volkes abgelehnt werden. Die GRÜNEN werden diesen Akt der zivilen Usurpation unterstützen.
Es ist gesagt worden, angesichts der bevorstehenden Stationierung sei die Friedensbewegung von Ratlosigkeit befallen. Unsere Gegner und einige ihrer professionellen Beobachter liegen auf der Lauer und warten, wann und wie die Friedensbewegung auseinanderbreche. Gemeinsamer Nenner, so sagen sie, einigender Kitt sozusagen einer ansonsten auseinanderstrebenden Bewegung, sei der Kampf gegen die NATO-Nachrüstung gewesen. Werde nun tatsächlich stationiert, dann müsse eine neue gemeinsame Grundlage erst gefunden werden, oder die Friedensbewegung breche auseinander. Diese Spekulation ist doppelt falsch.Erstens. Der Kampf gegen die Aufstellung der Cruise Missiles und der Pershing II wird nach der Entscheidung dieses Parlaments verstärkt werden.
Aber der Aktionswiderstand wird durch einen Strukturwiderstand ergänzt. Strukturwiderstand bedeutet: Wir gehen über von den bloßen Protestaktionen zu einschneidenderen Maßnahmen, die direkt auf das System einwirken, das zerstörerische Wirkung hat.
Herr Abgeordneter Vogt, ich muß Sie unterbrechen. Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Ich komme zum Schluß.Dieses Vernichtungssystem kann nämlich nur in Gang gehalten werden, wenn das Volk ihm Wählerstimmen, Soldaten und Rüstungsarbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler, seine Produktivkraft und Steuern gibt.Deshalb rufen wir hier zu einer Kampagne der Verweigerung einschließlich der Steuerverweigerung auf.
Ich weise darauf hin, daß bereits drei Abgeordnete der GRÜNEN erklärt haben, daß sie sich an dieser Kampagne beteiligen werden.Danke schön.
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2422 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, muß ich, Herr Kollege Vogt, noch zu der Bemerkung, die Sie hier über den ersten Ordnungsruf heute morgen gemacht haben, eine Anmerkung machen. Sie mögen in Ihrem Beitrag Ihrer Anmerkung von heute morgen einen anderen Inhalt geben wollen und ihn vielleicht auch so in Erinnerung haben. Auf Grund der Niederschrift unserer Stenographen wurde festgestellt, daß der Ordnungsruf des damals amtierenden Präsidenten voll zu Recht gegeben wurde. Ich möchte jetzt nicht weiter auf die Sache eingehen. Sie kann Gegenstand der Nachprüfung sein.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute wende ich mich ausnahmsweise nicht ausschließlich an die Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause, sondern auch ganz besonders an die Frauen und Männer, die mir in letzter Zeit sehr persönliche Briefe geschrieben haben, an diejenigen, die mich in Versammlungen angesprochen haben, und an die, die mit mir im Freundes- und Familienkreis diskutiert haben, sowie an die jungen Leute, die mir noch am Samstagnachmittag eine Unterschriftenliste gegen die Nachrüstung übergeben haben. Alle haben mich gebeten, mir meine Entscheidung über den NATO-Doppelbeschluß doch nochmals ganz genau zu überlegen.
In all den Briefen und Gesprächen kam die Sorge zum Ausdruck, daß die Stationierung neuer Waffen in Europa den Krieg wahrscheinlicher machen könnte; ich als Abgeordnete und Mutter hätte für die Zukunft unserer Kinder Sorge zu tragen und müsse mir dieser Verantwortung bewußt sein.
Wenn ich jetzt mein Ja zur Nachrüstung begründen werde, eben aus der Überzeugung heraus, daß damit die Zukunft unserer Kinder am besten gesichert ist,
dann hoffe ich, daß auch diejenigen, die anderer Meinung sind, meine Gründe respektieren werden.
In diesem Hause gibt es heute mit Sicherheit niemanden, der sich nicht seiner großen Verantwortung für die Zukunft unseres Landes bewußt ist. Es gibt auch sicher manche — zu diesen gehöre auch ich —, denen die Entscheidung in dieser wichtigen Frage nicht leichtgefallen ist. Wer könnte denn gleichgültig bleiben bei der Vorstellung eines nuklearen Infernos auf unserer Erde und angesichts des riesigen Waffenarsenals, das in Ost und West aufgetürmt ist? Wer könnte zufrieden sein über die Tatsache, daß auf unserer Welt Milliarden für die Rüstung ausgegeben werden, während Hunderttausende verhungern?
Diese Ängste und Befürchtungen dürfen uns jedoch nicht den Blick verstellen auf die Entscheidung, um die es hier heute eigentlich geht. Wir wollen mit unserer Entscheidung unter allen Umständen den Krieg verhindern, die Freiheit sichern und endlich Abrüstung auf beiden Seiten erreichen.
Die Schwierigkeiten, die sich auf dem Weg zur Lösung dieser drei Probleme auftürmen, sind nie treffender beschrieben worden als in den Heidelberger Thesen der Evangelischen Kirche von 1959. Dort heißt es in der These 2:
Der rational geplante Friede hat die Zweideutigkeit, die sich z. B. darin zeigt, daß er mit der rational geplanten Sklaverei Hand in Hand gehen könnte.
Frau Kollegin Geiger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vahlberg?
Es tut mir leid. Ich habe zuwenig Zeit.
Heute ist die Menschheit hin und her gerissen zwischen der Angst vor dem Kriege, die sie in Versuchung führt, sich der Sklaverei zu ergeben, und der Angst vor der Sklaverei, die sie in Versuchung führt, den Krieg, zu dem sie gerüstet ist, ausbrechen zu lassen.Der Westen vertraut bei seiner Friedensplanung auf die Strategie der Abschreckung, eine Bezeichnung, die nicht sehr glücklich gewählt ist. Die Franzosen haben für diese Strategie das viel bessere Wort gewählt: dissuasion, was soviel wie Ausreden oder Abraten bedeutet. Der Westen setzt im Rahmen dieser Strategie auch auf Nuklearwaffen, weil er verhindern will und muß, daß sie eingesetzt werden. Weil der Gegner befürchten muß, mit derselben schrecklichen Waffe getroffen zu werden, wird er sie nicht einsetzen.
Die Abschreckungsstrategie ist also allein dazu da, die Anwendung der Atomwaffen zu verhindern, solange das erwünschte Ziel, die Atomwaffen ganz zu beseitigen, nicht erreichbar ist.
Die Abschreckung hindert Atommächte daran, gegeneinander Krieg zu führen.Es ist heute schon oft gesagt worden, aber ich möchte es nochmals betonen: Von unserem Land darf niemals wieder Krieg ausgehen.
Die Bundesrepublik hat dem Krieg als Mittel der Politik ein für allemal abgeschworen. Auch die NATO wird ihre Waffen niemals als erste einsetzen. Sie ist für einen Angriffskrieg auch nicht gerüstet. Unsere Soldaten werden nicht ausgebildet, um anzugreifen. Sie werden allein ausgebildet für die Ver-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2423
Frau Geigerteidigung ihrer Familien, ihres Vaterlandes und der Freiheit.
Die Bundeswehr hat größten Anteil an der erfolgreichen Friedenssicherung während der vergangenen Jahrzehnte.
Die Strategie der Abschreckung funktioniert jedoch nur dann auch weiterhin, wenn beide Seiten ungefähr gleich stark sind. Als die UdSSR begann, die SS-20-Raketen aufzustellen, gab es im Westen keine gleichwertigen Waffen. Es gibt sie bis heute nicht.
Mit dem NATO-Doppelbeschluß sollte durch Verhandlungen erreicht werden, daß die SS-20-Raketen abgebaut werden und daß damit im Westen keine Waffe dieser Art aufgestellt werden muß.Sie wissen alle, die hitzige Debatte in unserem Land dauert nunmehr seit vier Jahren an. In Genf verhandeln die Diplomaten seit fast zwei Jahren mit sehr wenig Erfolg. Nun geht die Frist zu Ende. Während der Westen verhandelt hat, wurden in der Sowjetunion Woche für Woche neue Raketen aufgestellt. Wir haben debattiert, die UdSSR hat weiter gerüstet. Wenn wir immer weiter tatenlos der östlichen Aufrüstung zusähen, wie könnten wir den Sowjets klarmachen, daß es uns ernst ist mit der beiderseitigen Abrüstung?
Wie könnten wir sie zwingen, ihre Raketen abzubauen oder ihre Zahl wenigstens zu reduzieren?Diese Auffassung hat noch 1981 die überwältigende Mehrheit in diesem Parlament vertreten, auch Sie, Frau Huber. Inzwischen hat sich nichts geändert, oder vielmehr doch: Die Zahl der auf Westeuropa gerichteten atomaren Sprengköpfe hat sich rapide vergrößert.Der Verzicht auf die Nachrüstung käme einer einseitigen Abrüstung gleich. Viele Menschen würden aus Angst vor den Folgen eines befürchteten Atomkriegs diesen Weg gehen. Aber haben sie wirklich alle Folgen bedacht? Die Sowjetunion will ebensowenig wie wir das Risiko der Selbstvernichtung eingehen. Und sie will auch Deutschland nicht zerstören. Was sie aber erreichen will, das ist der politische Sieg über die westliche freiheitliche Demokratie.
Der Aufruf zur Weltrevolution gilt auch heute noch; er wurde von den Kommunisten nie zurückgenommen.
Der Verlust der Freiheit scheint manchem in unserem Land im Vergleich zu einem eventuellen Atomschlag das kleinere Übel zu sein. Aber um diese Alternative geht es doch überhaupt nicht. Es geht der Sowjetunion darum, die Bundesrepublik so einzuschüchtern und zu ängstigen, daß sie gefügig gegenüber dem Machtstreben Moskaus wird.
Der Sowjetmarschall Sokolowski schrieb im Jahre 1969: „Die Nuklearwaffen sind nicht dazu da, verwendet zu werden, sondern um den Gegner einzuschüchtern und gefügig zu machen."
In der logischen Folgerung daraus wurde Westeuropa mit einem gigantischen Propagandafeldzug und mit einem unverantwortlichen Spiel mit der verständlichen Angst der Menschen vor dem Atomtod überzogen.
In unserem Land war dies besonders erfolgreich. Viele Menschen fürchten sich auf einmal vor Waffen, die wir in ähnlicher Art schon seit vielen Jahren zu unserem Schutz im Lande haben, und übersehen ganz das Risiko des Verlusts der Freiheit.Wie sehr die Menschen unter Unfreiheit und unter dem Joch von menschenverachtenden Regimen leiden, das zeigten die Widerstandskämpfer im Dritten Reich,
das zeigen die Freiheitskämpfer vom Archipel Gulag und aus vielen anderen Diktaturen. Mit der Freiheit, meine sehr verehrten Damen und Herren, scheint es in der freiheitlichen Demokratie ähnlich zu sein wie mit dem täglichen Brot in unserer Überflußgesellschaft: Erst wenn das Brot einmal ausgeht, merkt man, wie dringend man es braucht.
Es ist aber auch noch ein anderer Gedanke dabei: Wir können, so sehr wir das auch wünschen würden, die atomare Unschuld, wie es einmal ausgedrückt wurde, nicht wiedergewinnen. Selbst wenn wir jetzt einseitig auf Atomwaffen verzichteten, gäbe es sie doch überall auf der Welt weiterhin. Wir werden mit diesen schrecklichen Waffen leben müssen, weil wir die Fähigkeit zur Konstruktion der Atomwaffen nicht mehr aus den Köpfen der Menschen radieren können.Deutschland ist keine Insel. Wir können uns nicht aus dem Geschehen um uns herum ausklinken. Wir müssen aber unseren ganzen Verstand und unser Wissen benutzen, um den Einsatz dieser Waffen zu verhindern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Burgmann?
Nein.
Sie haben von Ihrer Fraktion noch fünf Minuten Redezeit dazubekommen.
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2424 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Trotzdem nicht. Danke schön.
Es kann nicht allein Aufgabe der Politik sein, für Aufklärung und Beruhigung der Menschen zu sorgen. In der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland „Frieden wahren, fördern und erneuern" steht der Satz:
Die christliche Kirche hat die Aufgabe, die Hoffnung des Glaubens zu stärken, angesichts der Ängste, die in der heutigen weltpolitischen Lage überall aufbrechen.
Die ganz überwiegende Zahl der Geistlichen hält sich sicher an diese Maxime. Aber es gibt auch Pfarrer, zu viele, die wissentlich oder unwissentlich ihre Hauptaufgabe darin sehen, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen.
Von Kind auf sind wir gewöhnt, mit unseren Kümmernissen, Ängsten und Nöten zur Kirche zu kommen und dort Trost zu finden. Sollte dies heute nicht mehr überall gelten?
Im Gegensatz zu vielem, was dazu gesagt wurde, lehnen sowohl die Evangelische als auch die katholische Kirche die Strategie der Abschreckung und den Schutz durch Atomwaffen nicht rundweg ab. Die Heidelberger Thesen sprechen davon, daß der Versuch, durch die Anwesenheit von Atomwaffen den Frieden in Freiheit zu sichern, heute noch als mögliche christliche Handlungsweise anerkannt werden muß. Es wird jedoch darauf hingewiesen, daß dies nur eine vorläufige und zeitlich begrenzte Strategie sein kann.
Auch Papst Johannes Paul II. hat vor der UNOKommission in New York gesagt:
Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann eine auf dem Gleichgewicht beruhende Abschreckung natürlich nicht als ein Ziel an sich, sondern als ein Abschnitt auf dem Weg einer fortschreitenden Abrüstung noch für moralisch annehmbar gehalten werden.
Ich bejahe die Nachrüstung, weil ich fest davon überzeugt bin, daß die UdSSR erst bei einem ungefähren Gleichgewicht der Kräfte bereit sein wird, ernsthaft zu verhandeln, und daß es erst dann zu einer gleichmäßigen Verringerung der Rüstungspotentiale in Ost und West kommen kann.
Ich bin aber auch davon überzeugt, daß in unserem atomaren Zeitalter Waffen nur noch eine politische Funktion haben dürfen, und auch in dieser Funktion müssen sie an Bedeutung verlieren.
Johannes Paul II. hat es am 14. Juni 1983 in New York so ausgedrückt: Die Herstellung und der Besitz von Waffen sind die Folge einer ethischen Krise, die an der Gesellschaft in allen ihren Dimensionen — der politischen, der sozialen und der wirtschaftlichen — nagt.
Die echte Abrüstung, also die, die den dauernden Frieden in Freiheit zwischen den Völkern garantiert, wird nur durch die Lösung dieser vom Papst angesprochenen ethischen Krise zustande kommen. Solange auf dieser Erde die krassen Gegensätze zwischen armen und reichen Völkern weiterbestehen, solange es auf dieser Erde den unversöhnlichen ideologischen Gegensatz zwischen den westlichen Demokratien und den östlichen totalitären Systemen gibt, kann es immer wieder zu Konflikten kommen. Unsere wichtigste Aufgabe muß es daher sein, in unserem Bemühen nicht lockerzulassen, Abrüstung in Ost und West zu erreichen. Wir müssen uns aber auch weit stärker für die Lösung der Probleme der Dritten Welt engagieren. Wir müssen versuchen, Mißverständnisse abzubauen und um Vertrauen zu werben.
Es sollte auch möglich sein, daß zur Erreichung dieser Ziele wieder alle Gruppen in unserem Lande zusammenwirken, daß Befürworter und Gegner des NATO-Doppelbeschlusses Achtung vor den Argumenten der jeweils anderen Seite haben.
Auch heute noch sollten die Sätze der Spandauer Synode der EKD von 1958 gelten: „Die unter uns bestehenden Gegensätze in der Beurteilung der atomaren Waffen sind tief. Sie reichen von der Überzeugung, daß schon die Herstellung und Bereithaltung von Massenvernichtungsmitteln aller Art Sünde vor Gott sind, bis zu der Überzeugung, daß Situationen denkbar sind, in denen in der Pflicht zur Verteidigung der Widerstand mit gleichwertigen Waffen vor Gott verantwortet werden kann. Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen uns um die Überwindung dieser Gegensätze."
Ich hoffe, daß es uns möglich sein wird, in diesem Hohen Hause und im ganzen Land auch unter dem Grundgesetz zusammenzubleiben, um uns um die Überwindung dieser Gegensätze zu bemühen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Geiger, Sie sind die erste Sprecherin der Regierungskoalition, bei der ich den Eindruck habe, daß Sie die Entscheidung rührt, die Sie zu treffen haben, und daß Sie sie nicht nur kalt begründen. Ich respektiere das, auch wenn ich Ihre Meinung nicht teilen kann, Ihre Schlußfolgerungen bestreiten muß.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2425
GanselWer sich im Streit von heute an die 70er Jahre zurückerinnert, hat den Eindruck, daß es damals geradezu eine idyllische Übereinstimmung über die Prinzipien der westlichen Sicherheitspolitik gab. So meinte Bundeskanzler Kohl heute morgen in seiner Rede, diese Sicherheitspolitik habe über Jahrzehnte Zustimmung in unserem Volk und in den demokratischen Parteien gefunden.Bundeskanzler Kohl hat sich in mehrfacher Weise vertan; denn zur Sicherheit gehört nicht nur die Verteidigungspolitik, sondern auch die Außenpolitik. Es hat damals einen erbitterten Streit über den außenpolitischen Teil unserer Sicherheit gegeben, einen Streit über die Politik, durch Entspannung gegenüber dem Osten Feindschaften und Interessengegensätze abzubauen, um einen friedlichen Ausgleich an die Stelle gegenseitiger Bedrohung zu setzen — mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit.
Wir müssen heute feststellen, daß dieser Versuch auf halbem Wege steckengeblieben ist, vielleicht deshalb, weil wir ihn nicht energisch genug betrieben haben — vielleicht haben wir nicht genug Entspannung gewagt —, aber gewiß auch deswegen, weil die Sowjetunion durch die Aufstellung der SS20-Systeme, durch den Druck auf die Demokratisierungsbewegung in Polen und durch den Einmarsch in Afghanistan rücksichtslos ihre eigenen Macht- und Sicherheitsinteressen verfolgt und bei uns neue Bedrohungsgefühle ausgelöst hat. Dennoch war und bleibt unsere Politik der Entspannung richtig, weil sie die einzige Alternative zu kaltem Krieg und gar Schlimmerem ist.
Die CDU/CSU hat diese Politik auf eine heftige und zum Teil schäbige Art und Weise bekämpft.
Wir werden Ihnen Ihr Gerede vom „Ausverkauf deutscher Interessen" und vom „Verrat" so lange nicht vergeben können, wie es einem Herrn Zimmermann als Regierungsmitglied erlaubt ist, mit leichtfertigem Gerede von den Grenzen von 1937 das Gespenst des deutschen Revanchismus zu beleben.
Im Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen heißt es:Die Vertragsparteien — ich zitiere —bekräftigen die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben diese Verträge mit Polen, mit der Sowjetunion und mit der CSSR damals bekämpft. Sie waren gegen die Normalisierung mit der DDR. Sie waren gegen den Beitritt zur UNO. Auf einer vonIhnen beantragten Sondersitzung des Deutschen Bundestages im Sommer 1975 haben Sie die Helsinki-Konferenz abgelehnt. Es gab damals keine Partei in Europa, die Sie unterstützte, außer den italienischen Faschisten und den albanischen Kommunisten.
Jetzt kommt die Konsequenz, Graf Huyn. Ich frage Sie: Wo stünde die Bundesrepublik Deutschland heute, wenn Sie damals die Macht gehabt hätten, diese Verträge zu verhindern?
Was würde die Stationierung von Pershing-II-Raketen
in der Bundesrepublik Deutschland für den Frieden bedeuten, wenn es eine Bundesregierung gäbe, die noch weiter die Revision der bestehenden Grenzen in Europa fordern könnte?
Sie haben sich auf den Boden der bestehenden Verträge gestellt. Wir begrüßen das. Aber wir appellieren an Sie: Zerstören Sie nicht den Geist, von dem diese Verträge leben müssen, mit dem wir alle überleben müssen.
Jener Streit über die Entspannungspolitik verdeckte, daß der militärische Teil der Sicherheitspolitik schon in den 70er Jahren Gegenstand kritischer Fragen und Diskussionen war. Schließlich galt schon in den 70er Jahren, was auch heute noch richtig — eigentlich aber falsch — ist und was ich mit nüchternen Worten beschreiben will:Durch die Produktion atomarer Massenvernichtungsmittel hat die Menschheit die Fähigkeit erworben, sich auszulöschen, ja, sie kann es rechnerisch sogar mehrfach tun.Kriegsverhütung durch gegenseitige Abschrekkung bietet keine absolute Zuverlässigkeit.Ein Versagen der Abschreckung führt zum Ende Deutschlands durch konventionelle Waffen in wenigen Wochen, durch atomare Waffen in wenigen Tagen oder nur Stunden.Durch die Konkurrenz der Supermächte um Einflußzonen, durch die Exporte von Kriegswaffen und Rüstungsgütern und durch die Militarisierung der Dritten Welt werden neue Konfliktherde geschaffen und soziale Entwicklungen zerstört.Auch in den entwickelten Ländern werden die sozialen Kosten der Aufrüstung immer drückender, die wirtschaftlichen Probleme werden durch sie mitverursacht.Alle Rüstungskontrollverhandlungen und -vereinbarungen haben den Rüstungswettlauf nicht stoppen können.
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2426 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
GanselBeide Supermächte haben Zweifel daran entstehen lassen, daß sie fähig und überhaupt bereit sind, den Rüstungswettlauf zu beenden.In der Bundesrepublik selbst, auch bei uns, den Politikern, wachsen die Zweifel daran, ob der militärisch-industrielle Komplex, das Zusammenwirken rein militärischer Sicherheitsmaximierung und privater wirtschaftlicher Gewinnmaximierung, unter voller politischer Kontrolle steht.
Es steigen die Zweifel, ob unter diesen Bedingungen die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik von der Mehrheit der Bevölkerung überhaupt noch akzeptiert werden. Eine solche Akzeptanz, von der Helmut Schmidt heute morgen sprach, ist nicht nur ein Erfordernis im demokratischen Staat, sondern auch die Voraussetzung unserer Verteidigungsbereitschaft und damit der Glaubwürdigkeit der Abschreckung.
Weltweit wird mit mehr Waffen weniger Sicherheit produziert, weniger Sicherheit zu höheren Preisen. Objektiv und im Bewußtsein der Menschen. Die Furcht steigt und das Vertrauen in die Politik sinkt. Immer mehr Menschen fragen sich: Was kann ich selber für den Frieden und das Überleben der Menschheit noch tun?Da ist es nicht verwunderlich, daß es in der Bundesrepublik eine Friedensbewegung gibt. Verwunderlich ist nur, daß es sie erst jetzt gibt.
Wir akzeptieren sie, auch wenn sie zum Teil im Protest gegen uns entstanden ist und uns zu schaffen macht.
Viele Jahre hat die SPD stellvertretend für die Gesellschaft die Diskussion über unsere Sicherheitspolitik geführt. Jetzt gibt es zwar eine gesellschaftliche Diskussion, aber im parteipolitischen Bereich ist die SPD die einzige große und mehrheitsprägende Partei, die sich der Herausforderung für eine neue friedens- und sicherheitspolitische Strategie stellt.
Auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD haben wir 1977 Entwicklung und Produktion der Neutronenwaffe abgelehnt. Wir haben uns gegen die mechanistische Anhebung der Rüstungsausgaben innerhalb der NATO gewehrt.
Die Bundeswehr ist unter drei sozialdemokratischen Verteidigungsministern zu einer der bestausgerüsteten und bestausgebildeten Armeen der Welt geworden. Wir haben das nicht gemacht, um damit drohen oder auch nur um darauf stolz sein zu können nach dem Motto: Wir sind wieder wer, sondern wir haben dadurch die konventionelle Verteidigungsfähigkeit für den nicht ausschließbaren Fall des Versagens der atomaren Abschreckung erhöht. Wir haben in der Zeit der Entspannungspolitik unsere militärische Sicherheit entsprechend dem Harmel-Bericht der NATO nicht vernachlässigt, aber für den atomaren Rüstungswettlauf hat sich die SPD nicht hergegeben, und sie wird es niemals tun.
Auf dem Berliner Parteitag von 1979 haben wir uns nach einer langen Diskussion dafür entschieden, auf die sowjetischen SS-20-Systeme mit dem Angebot zu reagieren: Verhandlung vor Rüstung. Der NATO-Doppelbeschluß barg von Anfang an die Gefahr in sich, automatisch in eine neue Runde des Wettrüstens überzuleiten. Deshalb hat die SPD nie den Automatismus der Raketenaufstellung nach Ablauf des für Verhandlungen vorgesehenen Zeitraums akzeptiert.
Wir haben noch als Regierungspartei auf dem Münchener Parteitag im April 1982 bekräftigt, daß es keinen Automatismus der Aufstellung geben darf. Wir haben dort festgelegt, daß auf einem außerordentlichen Parteitag im Herbst 1983 entschieden werden sollte, welche Folgerungen wir aus dem bis dahin erreichten Verhandlungsstand für die Frage der Stationierung ziehen müssen. Dieser Parteitag hat am Wochenende in Köln entschieden: Wir sagen nein zum automatischen Vollzug des Rüstungsteils des NATO-Doppelbeschlusses. Wir sagen nein zur Aufstellung neuer amerikanischer Mittelstreckensysteme in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sagen nein zu einer Politik der Bundesregierung, die der Rüstung den Vorrang vor Verhandlungen gibt. Und wir sagen nein, weil eine Stationierung zusätzlicher amerikanischer Raketen in der Bundesrepublik unsere Sicherheit nicht erhöhen, sondern verringern wird.Denn die SS 20 wirkt destabilisierend, und auch die Pershing II wirkt destabilisierend. Destabilisierung auf beiden Seiten schafft aber kein Gleichgewicht, sondern zusätzliche Unsicherheit.
Deshalb, Kollege Ronneburger, hat sich auch die schleswig-holsteinische FDP, Ihre Partei, gegen landgestützte Raketensysteme in Westeuropa ausgesprochen. Wenn Sie jetzt dem NATO-Doppelbeschluß automatisch zustimmen, dann ist das nicht Ihre Überzeugung, sondern der Preis für die Regierungsbeteiligung.Wir sagen nein als Ergebnis einer langen und gründlichen Diskussion.Die CDU/CSU hat uns diese Diskussion immer zum Vorwurf gemacht. Aber wir sind darauf stolz. Demokratie ist Diskussion und die Möglichkeit, aus Diskussion zu lernen und zu neuen Entscheidungen zu kommen. Man kann die Entscheidung für falsch oder für richtig halten, aber nur Entscheidungen, die auf Diskussion beruhen, sind in der Demokratie legitim.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2427
GanselWir Sozialdemokraten sind daran gewöhnt, Diskussionen auch stellvertretend für die Gesellschaft zu führen, wenn andere sich daraus ausschließen. Wo gibt es solche Diskussionen in der CDU/CSU? Wo gibt es bei Ihnen die Bereitschaft zu diskutieren? Wo finden Sie die Kraft zur Kritik des Bestehenden und zur Entwicklung des Neuen?
Sie schaffen es nur, über Regierungsposten zu diskutieren und zu streiten. Ob Strauß in München oder in Bonn „stationiert" wird, ist für Ihr Parteileben wichtiger als die Frage, wie uns die Stationierung neuer Atomraketen erspart bleiben kann.
Wie die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken kontrolliert werden kann, hat Sie nie so bewegt wie die Frage, ob Kohl oder Strauß der Kanzlerkandidat sein sollte. Nein, im Meinungsstreit um die wirklichen Existenzfragen unseres Volkes ist die CDU/CSU immer einstimmig, und eine solche Partei ist nicht glaubwürdig.
Es gibt viele Wähler und Mitglieder in der CDU/ CSU, die mit dem Wettrüsten nicht weniger Befürchtungen verbinden als wir. Ich glaube, der Beitrag von Frau Geiger war ein Beispiel dafür. Aber was folgt bei Ihnen daraus? Welchen Beitrag leistet Ihre Partei für eine politische Willensbildung, die zu mehr Sicherheit führen kann?
— Das, Herr Marx, ist keine rhetorische Frage, wie Sie dazwischen rufen.
Denn im Grundgesetz dieser Bundesrepublik heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." — Das ist ein Recht der Parteien, das z. B. auch im Verhältnis Partei und Bundestagsfraktion eine Rolle spielt, ohne daß es gleich zum imperativen Mandat führt.Die Parteien haben auch kein Monopol, und mit Recht kann sich die Friedensbewegung darauf berufen. Aber diese Grundgesetzbestimmung bedeutet auch, daß die Parteien einen konstruktiven Beitrag zur politischen Willensbildung zu leisten haben, wenn sie nicht zum Wahlverein verkommen wollen. Wo sind die Diskussionsbeiträge der CDU/ CSU zur politischen Willensbildung über die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik? Diskutiert wird in den Kirchen, in den Gewerkschaften, bei den Schriftstellern, bei den Ärzten, bei den katholischen Pfadpfindern,
bei der deutschen Sportjugend, nur nicht in der CDU/CSU.
Und wenn es Herr Biedenkopf und Herr Alt versuchen, dann werden sie behandelt wie Dissidenten.
Die SPD stellt sich nicht nur der Diskussion, sie löst sie auch aus. Der Zwischenbericht unserer Kommission „Neue Strategie" ist dafür ein Beispiel. Er wird Thema unseres nächsten Parteitages im Mai sein. Wir sind bereit, aus diesen Diskussionen zu lernen und Schlußfolgerungen zu ziehen. Das gilt für unsere innerparteiliche Diskussion wie für die gesellschaftliche Diskussion, an der wir uns beteiligen. Wir alle, und auch Sie, wenn Sie ehrlich sind, wir alle wissen heute mehr als vor vier Jahren über die tatsächlichen Gegebenheiten und über die Gefahren und Chancen unserer Sicherheitspolitik. Lernen zu können ist keine Prinzipienlosigkeit.Aber Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes heißt für die Parteien auch, Einsichten und Überzeugung zu vermitteln und politische Lösungen aufzuzeigen. Ich gebe dafür fünf Beispiele.Erstens. Die Abschreckung bleibt ein entscheidendes Mittel zur Kriegsverhütung, solange es die Gefahr kriegerischen Austragens politischer Konflikte gibt. Atomare Abschreckung kann nur durch eine Politik des Sichvertragens und kontrollierter Abrüstung ersetzt werden. Aber sie muß auch ersetzt werden. Das ist unser Ziel, und das ist der Kern unseres Konzepts der Sicherheitspartnerschaft. Dazu dürfen die Staaten in Ost und West nicht regierungsunfähig gemacht werden, sondern ihre Regierungen müssen verhandlungsfähig gemacht werden.Zweitens. Entspannung, Zusammenarbeit und Abrüstung schließen offene, ideelle und politische Auseinandersetzungen nicht aus. Neutralität in Fragen der Humanität, der Freiheit und der Demokratie kann es für uns Sozialdemokraten nicht geben,
weder in Polen noch in der Türkei.Das ist keine Position der Äquidistanz. Die USA und die Bundesrepublik sind durch gemeinsame Tradition und gemeinsame Werte der Menschenrechte und der Demokratie miteinander verbunden. Das kommunistische System der UdSSR ist dagegen für Sozialdemokraten unannehmbar. Aber wir nehmen uns die Freiheit, für die Rechte anderer Völker einzutreten, wo sie von einer Supermacht verletzt werden, in Afghanistan wie in Grenada.
Wir stehen zu unserer Ordnung. Deshalb werden wir sie bewahren und weiterentwickeln und, wenn es nottut, auch verteidigen.Drittens. Nur in der NATO hat die Bundesrepublik ein Mindestmaß von Sicherheit vor der UdSSR und von Einfluß auf die USA. Für die SPD steht daher nicht die Mitgliedschaft in der NATO zur Diskussion, wohl aber ihre Politik und Strategie.
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2428 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
GanselViertens. Außenpolitisch ist die Bundeswehr unser Beitrag zu einem Verteidigungsbündnis. Die Soldaten und Wehrpflichtigen, die dem Friedensauftrag des Grundgesetzes dienen, haben unsere Unterstützung, und sie haben sie nötig.
Innenpolitisch sind demokratische Kontrolle einer Armee und gesellschaftliche Integration des Soldaten keine Selbstverständlichkeiten. Ein Feindbild Bundeswehr könnte zum Vorzeichen des Weges in einen autoritären Staat werden — nicht unregierbar, aber undemokratisch.
Die Friedensbewegung darf deshalb keine AntiBundeswehr-Bewegung werden.
Fünftens. Die SPD steht bedingungslos zum Recht des einzelnen auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, ein Grundrecht, das durch die Gesetzgebung immer noch nicht voll verwirklicht ist. Der ethische und der religiöse Pazifismus hat in der SPD immer Schutz und Wirkungsraum gehabt; aber er ist nicht ihr Programm.Die SPD bejaht die Landesverteidigung. Sie trifft sich mit dem politischen Pazifismus in der Perspektive — und ich zitiere aus dem Godesberger Programm —, „eine allgemeine und kontrollierte Abrüstung und eine mit Machtmitteln ausgestattete internationale Rechtsordnung herbeizuführen, die die nationale Landesverteidigung ablösen wird". Diese Zielvorstellung aus dem Godesberger Programm galt lange Zeit bei sogenannten Realpolitikern, die die Atombombe als Weiterentwicklung der Artillerie betrachteten, als eine überlebte Utopie. Heute, im Zeitalter mehrfachen atomaren Overkills ist sie eine Überlebensutopie für Realisten.
Nur wenn wir sie verwirklichen, wird die Menschheit das Wettrüsten beenden und überleben können. Nur wenn wir sie wagen, werden wir sicherer.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Müller .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einigen sehr persönlichen Bemerkungen beginnen. Ich bin seit 1961 Mitglied des Deutschen Bundestages und stehe im 68. Lebensjahr. Also gehöre ich zu den Ältesten in diesem Hohen Hause. Wir, d. h. meine Generation, sind die Zeugen eines von Kriegen, Revolutionen und Diktaturen geprägten Zeitalters, in dem Millionen von Menschen schrecklichen Wahnideen und menschenverachtenden Ideologien zum Opfer gefallen sind. Meine Altersgenossen und ich wurden im Ersten Weltkrieg geboren, als unsere Väter an der Front standen und die Schrecken der Materialschlacht erlebten. Unsere Mütter darbten mit uns Kindern in der Heimat.In den Wirren der Zeit zwischen den Weltkriegen sind wir groß geworden. Ich war 16 Jahre alt, als die Weimarer Republik am 30. Januar 1933 dem Ansturm einer totalitären Bewegung erlag. Weder die sozialistischen noch die christlichen Gewerkschaften haben damals dem Angriff auf die Verfassung ernsthaften Widerstand entgegensetzen können. Ihre trügerischen Hoffnungen, durch Wohlverhalten einen Restbestand gewerkschaftlicher Arbeit in einer von der faschistischen Diktatur verschonten Nische der Gesellschaft retten zu können, fand bereits am 2. Mai 1933 ein jähes Ende. Damals wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt, zahlreiche führende Gewerkschaftler verhaftet und in die ersten bereits existierenden Konzentrationslager gebracht.Am 1. November 1933, also vor 50 Jahren, bin ich als damals 17jähriger in die deutsche Kolpingfamilie eingetreten. Die Pöbeleien und tätlichen Angriffe von fanatischen Angehörigen der Hitler-Jugend gehören zu den bedrückenden Erinnerungen meiner Jugendzeit, und die darauf bald folgende Einberufung zum Wehrdienst bewahrte mich vor schlimmeren Repressalien.Ich war acht Jahre Soldat. Den Zweiten Weltkrieg habe ich bis zu seinem katastrophalen Ende miterlebt. Mir braucht niemand den Schrecken des Krieges vor Augen zu führen.
Ich habe meine Kameraden leiden und qualvoll sterben sehen. Ich sah, ja ich roch die verbrannte Erde Rußlands, und ich kenne die Trostlosigkeit der Ruinen zerbombter Großstädte. Ich erinnere mich der angstvollen Gesichter von Zivilisten, von Frauen und Kindern, die den Schrecken des totalen Krieges und der Willkür des Siegers ausgeliefert waren.Weil diese schrecklichen Bilder des Krieges, des Mißbrauchs und der Zerstörung der Schöpfung und auch der sittlichen Verrohung der Menschen in mir noch immer tief nachwirken, weiß ich mich einig mit dem millionenfachen Wunsch nach Frieden. Ich glaube, darin eint uns Deutsche ein gemeinsamer Wille.Im Zeitalter atomarer Massenvernichtung gewinnt diese Forderung eine besondere Dringlichkeit. Besonders die junge Generation, die die Zukunft noch vor sich hat, verleiht dieser Sehnsucht einen ihrem Alter und ihrem Lebensgefühl gemäßen Ausdruck. Ich begreife es sehr wohl, daß denkende und fühlende Menschen vom Rüstungswettlauf zutiefst verängstigt sind und von uns Politikern nachdrücklich ein Anhalten der Rüstungsspirale fordern. Für mich als Angehörigen der älteren Generation, Vater und Großvater, ist deshalb die kategorische Forderung, Frieden ohne Waffen zu schaffen, ein verständlicher, ein emotional begründeter Wunsch. Als Realist und als ein von den Erfahrungen einer leidvollen deutschen Geschichte geprägter Politiker halte ich ihn jedoch für eine gefährliche Illusion. Wir erfahren es doch täglich durch die Medien, daß wir in einer friedlosen Zeit leben. Aggressive und nach Vorherrschaft strebende Staaten zumeist totalitären Charakters überziehen ihre
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2429
Müller
Nachbarn mit Krieg. Sie erziehen die Menschen systematisch zum Haß auf das Phantombild eines seiner Menschlichkeit entkleideten Feindes.Als langjährig an führender Stelle des Landesverbandes des DGB in Nordrhein-Westfalen für den sozialen Frieden tätig gewesener christlich sozialer Gewerkschaftler kann ich zu der für die Sicherheit meines Landes schicksalhaften Frage der Nachrüstung nicht schweigen.Ich bekenne mich ohne Einschränkung zu den sicherheitspolitischen Aussagen der Bundesregierung und meiner Partei, denn auch ein dem Ideal einer sozialen Gerechtigkeit verpflichteter friedliebender Staat darf niemals den lebenswichtigen Aspekt der äußeren Sicherheit aus dem Auge verlieren.
Im Einklang mit der Friedenspolitik der Bundesregierung möchten wir christlich-sozialen Gewerkschaftler als Repräsentanten von Millionen Arbeitnehmern, die uns am 6. März 1983 die Stimme gegeben haben, die gefährliche Eskalation von Rüstung und Nachrüstung in Ost und West beenden. Eine Politik der gemeinsamen Abrüstung muß an ihre Stelle treten. Um der Erhaltung des Friedens willen darf aber das Prinzip des Gleichgewichts nicht vernachlässigt werden. Ein sowjetisches Raketenmonopol von 243 auf uns gerichteten eurostrategischen Mittelstreckenwaffen macht den Frieden nicht sicherer, im Gegenteil, es kann die sowjetische Führung zu politischen Erpressungsmanövern gegenüber unserem Land verleiten.Wir haben genügend Gründe für die Annahme, daß die Sowjetführer keine Abenteurer und Selbstmörder sind. Seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 haben sie der leninistischen Doktrin von der Unvermeidbarkeit des Krieges zwischen den sozialistischen und den kapitalistischen Staaten auch formal abgeschworen. Vor allem in Europa verfolgt die Sowjetunion seitdem eine wesentlich subtilere und, wie es scheint, erfolgreichere politische Strategie, in der Lockung und Drohung einander abwechseln. Mit dieser Strategie hofft sie die Bundesrepublik Deutschland aus ihrer festen Verankerung im westlichen Bündnis herauslösen zu können. Mit einer von ihren westlichen Verbündeten isolierten, insbesondere den Vereinigten Staaten entfremdeten Bundesrepublik Deutschland würde die Sowjetunion in der Tat leichtes Spiel haben. Ich bin überzeugt: Die Sowjetunion will nicht den Krieg, aber sie will den politischen Sieg durch Unterwerfung ohne Krieg.
Bundeskanzler Helmut Kohl hat die überzeugende Antwort auf diese sicherheitspolitische Herausforderung durch die Sowjetunion gegeben. Wir christlich-sozialen Gewerkschaftler in der Union stehen zu ihm und zu seiner Politik. Es gibt zu ihr keine von uns zu verantwortende Alternative.Wenn wir die freiheitliche Struktur unseres Sozialstaates im Innern erhalten und ausbauen wollen, müssen wir durch ausreichende Verteidigungsanstrengungen dafür sorgen, daß die schreckliche Geißel des Krieges unser Land nicht verwüsten und keine ausländische Macht uns mit der Drohung der Brandstiftung ihren Willen aufzwingen kann. Unser Land bedarf heute dringender denn je des Schutzes vor äußerer Bedrohung, damit wir unsere Kräfte darauf konzentrieren können, die aus der wirtschaftlichen Krise unseres Gemeinwesens drohenden Risiken für den sozialen Frieden zu bannen. Hier liegen die Schwerpunktaufgaben der Politik der kommenden Jahre.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den über 20 Jahren meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag habe ich an großen Debatten über entscheidende außen- und innenpolitische Weichenstellungen teilgenommen. Ich nenne stellvertretend für viele die Auseinandersetzung über die Notstandsgesetzgebung, den Grundlagenvertrag, die Ostverträge, die Mitbestimmung und die Reform des § 218. Diese kontroversen Auseinandersetzungen wurden in der Sache stets hart und in der Form oft polemisch geführt. Immer jedoch haben wir im Streit um die richtige Politik die Regeln der parlamentarischen Demokratie eingehalten. Auch in Fragen von nationaler Tragweite, beispielsweise bei den Kontroversen um die Ostverträge, war die überstimmte Minderheit bereit, sich dem Votum der Mehrheit letztlich zu beugen. Die Entscheidung fand, wie dies eine repräsentative Demokratie auszeichnet, hier im Deutschen Bundestag und nicht auf der Straße und nicht unter dem Druck der Straße statt. Niemand kann behaupten, daß uns politische Leidenschaft und ehrliche Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen politischen Standpunktes gefehlt hätten.Das Wertesystem unserer repräsentativen, d. h. parlamentarischen Demokratie ist in der überwältigenden Mehrheit unseres Volkes zum Glück fest verankert. Bonn ist nicht Weimar, und Bonn wird auch nicht den Weg von Weimar gehen,
wenn überzeugte Demokraten und mutige Anhänger des Rechtsstaates wachsam bleiben und den Anfängen wehren.Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist das in der Verfassung verankerte „Recht auf Widerstand" von politischen Demagogen in so skrupelloser Weise falsch interpretiert und als politische Waffe gegen legitime politische Entscheidungen der Verfassungsorgane und rechtmäßige Maßnahmen der Staatsgewalt mißbraucht worden.In welchem erschreckenden Maße bei einer zum politischen Dauerprotest entschlossenen Minderheit das Unterscheidungsvermögen zwischen rechtmäßiger Handlung und strafbarem Unrecht verlorengegangen scheint, zeigt die vorsätzliche Verletzung von Rechtsvorschriften, die ausschließlich dem Schutze anderer Menschen dienen.
Herr Kollege Müller, würden Sie eine Zwischenfrage zulassen?
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2430 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Nein. Ich lasse keine Zwischenfragen zu.
Da wird beschönigend von „begrenzten Regelverletzungen" und „bürgerlichem Ungehorsam" dahergeredet, als ob es sich bei der strafbaren Nötigung eines Mitmenschen, bei der Beschädigung fremden Eigentums oder bei Hausfriedensbruch um harmlose Kavaliersdelikte handele.
Man maßt sich an, von „gewaltfreiem Widerstand" zu sprechen, weil man, wie man in eitlem Selbstlob verkündet, großzügig auf Körperverletzungen und vorsätzliche Sachbeschädigung verzichtet hat.
Tatsache ist jedoch, daß solche Zerrbilder friedlicher Demonstrationen die verfassungsmäßigen Rechte anderer friedlicher Bürger verletzen.
Arbeitende Menschen werden an der Ausübung ihres Berufes gehindert oder sehen sich erheblichen Belästigungen oder Gefährdungen beim Weg zur oder von der Arbeitsstätte ausgesetzt.
Es ist deprimierend, mit anzusehen, wie einzelne Repräsentanten intellektueller Schichten und meinungsbildender Berufe der drohenden Zerstörung des Rechtsbewußtseins durch Entschuldigungsgründe und Verharmlosungsversuche noch Vorschub leisten.
Menschen, die kraft ihres Intellekts und ihrer Lebenserfahrung eigentlich wissen müßten, wohin permanente Verletzungen des allgemeinen Rechtsfriedens durch die Mißachtung des staatlichen Gewaltmonopols führen müssen, laden deshalb eine schwere sozial-ethische Verantwortung auf sich.
Von Vertretern der sogenannten Friedensbewegung wird uns immer wieder der ungeheuerliche Vorwurf entgegengeschleudert, mit der Durchsetzung des Nachrüstungsteils des NATO-Doppelbeschlusses führten wir unser Volk planmäßig dem Untergang entgegen. Die Regierung Kohl handele „verbrecherisch", weil sie unser Volk einem von ihr provozierten Präventivschlag der Sowjetunion aussetze. Das unmittelbar gefährdete Recht auf Leben rechtfertige den Widerstand auch mit illegalen Mitteln.
Mit dieser auf die Erzeugung von Angstgefühlen abzielenden absurden Behauptung haben sich bereits meine für die Außen- und Sicherheitspolitik zuständigen Kollegen überzeugend auseinandergesetzt. Neben der Leichtfertigkeit und Rigorosität, mit der ein solcher Vorwurf gegen die Friedenspolitik der Bundesregierung erhoben wird, schreckt mich die geistige Verwandtschaft mit der Agitation des Nationalsozialismus.
Mit diesen Argumenten bekämpfte er schon das ihm verhaßte System der Weimarer Republik:
Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsmacht ein Volk dem Untergang entgegengeführt wird,
— so wörtlich Adolf Hitler in „Mein Kampf" —
ist Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht. Menschenrecht bricht Staatsrecht.
Die Propagandisten des Widerstandsrechts müssen es sich gefallen lassen, daß ihnen dieses Zitat als entlarvender Spiegel vorgehalten wird.
So wie ich meinen Abscheu vor Gewalt und Rechtsbruch als Ausdruck einer extremistischen Gesinnung hier offen artikuliere, so gilt mein Respekt uneingeschränkt allen Bürgern, die sich in ernster Sorge um den Frieden friedlich, sei es unter freiem Himmel oder in geschlossenen Veranstaltungen, versammeln. Die Gewährleistung der Demonstrationsfreiheit ist ein Gütesiegel unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Wenn sich friedliebende Bürger versammeln, um ihrer politischen Meinung, ihrer Besorgnis um den Frieden symbolisch Ausdruck zu verleihen, dann ist das für mich als freigewählten Abgeordneten ein dringender Appell, meine persönliche Entscheidung erst nach besonders sorgfältiger Abwägung der voraussehbaren Chancen und Risiken zu treffen.
Die pazifistische Grundhaltung mancher Bürger unseres Landes muß ich, ein dem Toleranzgebot verpflichteter Christ, als sozial-ethisch einwandfrei respektieren. Wer aber als Politiker Verantwortung für das Leben von Millionen Menschen trägt, muß die Folgen seines Tuns oder Unterlassens für andere in seine politische Entscheidung mit einbeziehen.
Als katholischer Christ orientiere ich mich an den Friedensaussagen meiner Kirche, insbesondere dem Hirtenwort der katholischen Bischöfe vom 18. April 1983. Frieden ist immer ein Werk der Gerechtigkeit. Weder Gewalt noch naive Gesinnungsethik können diesen gerechten Frieden schaffen.
Meine Damen und Herren, ich habe mir meine Entscheidung nicht leicht gemacht. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, daß ich damit dem Frieden in Freiheit und Gerechtigkeit diene, und stimme der Nachrüstung daher zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Klose.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir fällt auf, daß die Debatte, die wir heute führen, sehr einer Bundestagsdebatte aus dem Jahre 1958 ähnelt,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2431
Klosedie ich zur Vorbereitung auf den heutigen Tag noch einmal nachgelesen habe. Ich finde diese Ähnlichkeit verblüffend und bisweilen bedrückend, weil hier ganz deutlich erkennbar wird, wie sehr wir seit der Wende auf dem Weg zurück in die 50er Jahre sind — bis hin zu den Sprach-, Denk- und Handlungsschemata des Kalten Krieges.
Von Entspannungspolitik, meine Damen und Herren, wird ja nach der Regierungwende nicht mehr viel geredet; jedenfalls wird sie nicht praktiziert. Der Harmel-Bericht, der „Verteidigungsbereitschaft und Verständigungsbereitschaft gleich Entspannung" zur Leitlinie des Bündnisses machte, gilt offenbar mit dieser Betonung nicht mehr. Die Betonungen sind jedenfalls eindeutig verschoben worden. Die CDU/CSU setzt vorrangig auf Waffen und weniger auf Ausgleich.
Zum Beleg: Als der Außenminister Genscher in diesem Sommer den „Waldspaziergang" als eine Kompromißmöglichkeit ins Gespräch brachte, wurden er und übrigens auch der Bundeskanzler von dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Dregger, sofort zurückgepfiffen: man wolle unbedingt den Waffenmix, man wolle jedenfalls auch die Pershing II. Damit hat sich die Union eindeutig in den Kreis derer eingereiht, die glauben, daß sie mit mehr amerikanischen Raketen hier bei uns besser dran sind als mit weniger sowjetischen Raketen.
Da der Herr Kollege Dr. Dregger von Schuldzuweisungen gesprochen hat, muß ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Dieses Verhalten hat wesentlich zum Scheitern der Genfer Verhandlungen beigetragen. Dieses, muß ich Herrn Dr. Dregger sagen, ist seine Schuld.Dem Herrn Bundeskanzler muß ich entgegenhalten, daß auch er niemals eine wirkliche Null-Lösung angestrebt hat. Nach seinen eigenen Worten kann er dies nicht, wie ich aus einem von ihm geschriebenen Kommentar der „Augsburger Allgemeinen" vom 27. März 1981 entnehme. Aus diesem Artikel zitiere ich nur eine Passage:Die Vorstellung, die Nachrüstung könne durch erfolgreiche Verhandlungen mit Moskau am Ende gänzlich hinfällig werden, war von Anfang an nicht richtig gewesen. Diese Illusion hat auch der Bundeskanzler leichtfertigerweise immer genährt. Die Verhandlungen— hören Sie gut zu —sind kein Ersatz für eine angemessene nukleare Anstrengung.Das war die Position des Bundeskanzlers,
und das hat zum Scheitern in Genf beigetragen.Im übrigen, da wir gerade bei Schuldzuweisungen sind und da Sie so ausführlich und offenbar mit großem Vergnügen sich mit dem sozialdemokratischen Bundesparteitag beschäftigt haben,
was ich verstehen kann — das ist ein klarer Fall —: mir erscheint es merkwürdig, daß bei einer so wichtigen Frage, die von vielen Menschen als Gewissensfrage beschrieben wird, die CDU/CSU es offenbar nicht nötig hat, ihren Parteitag vorher zu befragen. Das finde ich in der Tat sehr, sehr merkwürdig.
Darf ich noch einmal zurückkommen auf die Debatte 1958. In dieser Debatte hat auch Gustav Heinemann gesprochen.
Er hat dabei u. a. aus einem Brief zitiert, den er 1954 dem damaligen Bundeskanzler geschrieben habe. In diesem Brief stand, es werde die Zeit kommen, „wo das deutsche Volk Ihnen in die letzten Konsequenzen Ihrer Politik nicht mehr folgen wird, und dann werden die Amerikaner die Getäuschten sein, und hier wird sich die politische Grundlage als brüchig erweisen". Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle: „Widerspruch bei der CDU/CSU", einen Zuruf „Das ist ein Irrtum", und einen Zwischenruf des Abgeordneten Kiesinger: „Sie werden sich genauso täuschen, wie Sie sich früher getäuscht haben!"Zugegeben, Gustav Heinemann hat sich damals getäuscht, zumindest was den Zeitpunkt angeht. Ob er sich aber in seiner Einschätzung der Politik und in der Einschätzung der Gefühle und Friedenssehnsüchte der Menschen getäuscht hat,
das ist eine heute immer noch offene Frage.Ich will hier nicht, wie das viele tun, über Meinungsumfragen spekulieren, obwohl ich weiß, daß Regierungen an Meinungsumfragen in der Regel außerordentlich interessiert sind. Mir scheint es offensichtlich für jedermann, der Ohren hat zu hören, daß die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Stationierung dieser Raketen ist.
Was Sie stört, ist, daß diese Mehrheit nicht mehr eine schweigende Mehrheit ist, sondern daß sie sich nachdrücklich zu Wort meldet. Ich weiß, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie mögen die Friedensbewegung nicht. Aber das ändert nichts daran: es gibt sie. Es gibt sie bei uns, in den USA, in fast allen westlichen Ländern, auch im Osten, zumal in der DDR. Es handelt sich um eine Massenbewegung bisher nicht gekannter Größenordnung, und eine solche Bewegung, so vielgestaltig sie sein
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2432 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Klosemag, hat Anspruch, ernstgenommen zu werden, angehört zu werden,
und sie hat Anspruch, auf ernsthafte Fragen Antworten zu erhalten.Wie lauten die Antworten der CDU/CSU? Herr Dr. Dregger hat heute morgen wieder das Spielchen mit der „sogenannten Friedensbewegung" gespielt,
das ihm Heiner Geißler schon vor einiger Zeit, im August dieses Jahres, vorgespielt hat. Der hat erstmals von der „sogenannten Friedensbewegung" gesprochen und zur Begründung wörtlich erklärt — ich zitiere —:Ich sage „sogenannte Friedensbewegung", weil ich denjenigen, die sich zu dieser Friedensbewegung zählen, den Willen zum Frieden absprechen will.So Herr Geißler.Ähnlich hat sich Herr Spranger geäußert, überhaupt das Bundesinnenministerium. Da gibt es eine unfaßbare „Bürger-Information", versehen mit dem Bundesadler, so daß man denken könnte, das sei was Anständiges, Offizielles, mit der ernsthaft „bewiesen" werden soll, daß die ganze Friedensbewegung, all die vielen Millionen, die demonstriert haben, die Tausende, die uns besorgt geschrieben haben, in Wahrheit gar nicht selber denken, sondern ferngesteuert sind unmittelbar von der KPdSU, also Kommunisten sind oder mindestens „nützliche Idioten".Ich frage Sie: Was soll das eigentlich? Was wollen Sie damit erreichen? Aufklärung? — Nein, Sie wollen ein innenpolitisches Freund-Feind-Verhältnis schaffen, das dem außenpolitischen Freund-Feind-Denken entspricht.
Das alles geschieht, wenn ich mir erlauben darf, Ihnen das zu sagen, auf einem denkbar niedrigen geistig-politischen Niveau.
Ein Kommentator im Deutschlandfunk hat dazu geschrieben — ich zitiere das wiederum wörtlich —.Die Aggressivität, mit der diese Bundesregierung — allen voran die Verantwortlichen im Innenministerium — die Friedensbewegung geradezu bekämpfen — kritische Auseinandersetzung kann man das nicht mehr nennen —, diese Mischung aus Diffamierung und Verteufelung hat in der jüngsten Zeitgeschichte kein Beispiel ... Daß die Regierung sich mit einem gesellschaftspolitischen Gegenüber — hier also der Friedensbewegung mit allen ihren demokratischen, parteiischen und christlichen Gruppierungen — in dieser grobschlächtigen Manier anlegt, das läßt auf einen geistig-politischen Niedergang schließen, wie man ihn kaum für möglich gehalten hätte.
Diesen Kommentar, meine Damen und Herren, mache ich mir ausdrücklich zu eigen.
Ich will an dieser Stelle, um redlich zu sein, nicht leugnen, daß auch wir Sozialdemokraten unsere Schwierigkeiten mit der Friedensbewegung hatten und bisweilen noch haben,
obwohl schon immer Sozialdemokraten an ihr beteiligt waren. Wir akzeptieren durchaus nicht alles, was dort gesagt und gefordert wird, manches erscheint uns einseitig, ungerecht und wenig realistisch. Aber wir teilen die Friedenssehnsucht der Menschen, die Angst vor dem möglichen Atomkrieg, die wachsende Besorgnis angesichts einer immer stärker nach oben gedrehten Rüstungsspirale.Wir verstehen und teilen die Forderung, die an Ost und West — ausdrücklich an Ost und West — gerichtete Forderung, diesen Rüstungswahnsinn endlich zu beenden und zu fair ausgehandelten Abrüstungsschritten zu kommen. In diesem Sinne — ich wiederhole ein Wort meines Fraktionsvorsitzenden — sind die Mitglieder der Friedensbewegung für uns Bundesgenossen.
Die Ängste und Sorgen, die man dort antrifft, drücken sich auch in den vielen Briefen aus, die wir bekommen haben; sehr sorgenvolle, manchmal drängende, sachlich gut fundierte, manchmal schlicht fragende Briefe wie jener einer 12jährigen Schülerin, die ganz einfache Fragen stellt: Warum werden Atomraketen gebaut? Wofür werden sie gebraucht?Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich frage uns alle: Können wir diese Frage guten Gewissens mit „zu Verteidigungszwekken" beantworten, wenn man z. B. nachliest, was der frühere Präsident der Vereinigten Staaten, Nixon, dem „Stern" gegenüber erklärt hat? Er hat ausdrücklich gesagt: Diese Raketen werden nicht nur hingestellt zum Ausgleich für sowjetische Raketen in Europa, sondern damit man mit diesen Mittelstreckensystemen auch Nordafrika, Libyen und den Nahen Osten unter Kontrolle halten kann.
Wie bewerten Sie das? Was empfinden Sie eigentlich — sagen Sie uns das doch einmal —, wenn Sie einen offiziellen Regierungssprecher in Washington nach der Grenada-Invasion folgendes sagen hören — er hat englisch gesprochen —:What good are maneuvers and shows of force, if you never use it?
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KloseDas ist nach der „New York Times" zitiert.
Oder was sagen Sie, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten Reagan in der Nacht zum 28. Oktober dieses Jahres nach der Grenada-Invasion im Fernsehen folgendes erklärt:„Wir sind ein Land mit globaler Verantwortung. Wir sind nicht irgendwo in der Welt, um irgend jemandes Interessen zu schützen. Wir sind dort, um uns selbst zu schützen." Die nationale Sicherheit der USA könne im Unterschied zu früher aber „heute auch an weit entfernten Plätzen bedroht werden". Die Welt habe sich verändert, sagte Reagan. „Es liegt an uns", die strategische Bedeutung solcher Plätze zu erkennen und zu bestimmen.Was sagen Sie dazu? Was empfinden Sie eigentlich, wenn der mächtigste Mann der Welt darüber nachdenkt, ob nicht möglicherweise dies die Zeit sei, in der die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse geschlagen werde? Wundert es Sie wirklich, daß angesichts solcher Irrationalitäten die Ängste der Menschen wachsen? Wundert Sie das?Da ich gerade bei Ängsten bin, muß ich einen Beitrag des Kollegen Waigel von heute vormittag aufgreifen. Er hat gesagt: Ängste verhindern rationale Entscheidungen. Höre ich da richtig? Ist es nicht so, daß die ganze Politik der CDU/CSU auf Angst gründet?
Ist es nicht in Wahrheit so, daß Sie den Menschen nur vorwerfen, nicht die richtige Angst, nämlich Angst vor den Russen zu haben, sondern ganz einfach Angst vor dem Krieg? Ja, die Menschen haben Angst vor dem Krieg, und diese Angst wächst.
Weil sie wächst, wächst auch die Friedensbewegung. Sie wird auch nach der Stationierung — da bin ich mit dem Kollegen Vogt einig — weiter wachsen. Ich halte das nicht für einen Rückschritt, sondern für einen Fortschritt, weil ich die moralische Kraft der Friedensbewegung anders als Sie hoch einschätze. Weil das so ist, werden wir Sozialdemokraten die Friedensbewegung gegen Versuche der Diffamierung und Kriminalisierung in Schutz nehmen.
In diesem Zusammenhang will ich eine Anmerkung hinzufügen. Ich gebe allerdings zu, daß sich unter dem Dach der Friedensbewegung auch das eine oder andere versammelt, was ich so ohne weiteres zur Friedensbewegung nicht zählen würde. Ich finde, auch das muß ausgesprochen werden. Es sind sehr wenige — aber es gibt sie —, denen es in Wahrheit nicht um den Frieden geht, sondern, wie sie selber sagen, um Gewaltanwendung gegen dieses „Schweinesystem". Ich sage das, um ganz deutlich zu machen: Das sind nicht unsere Bundesgenossen. Aber sie gehören nach unserer Meinung auch nicht zur Friedensbewegung;
denn die ganz große Mehrheit der Friedensbewegung will und praktiziert Gewaltfreiheit. Das halte ich für einen Beitrag zur Entwicklung von politischer Kultur.
Ich habe der Friedensbewegung keine Ratschläge zu erteilen. Nur diesen: Die überzeugende Stärke der Friedensbewegung liegt in ihrer Friedfertigkeit. Sie sollte sich auch weiter an dieses Prinzip halten. Weil das so ist, bitte ich auch um Vorsicht beim Umgang mit dem Wort Widerstand, ein Wort, das ich persönlich vermeide. Helmut Schmidt hat dazu heute morgen einiges gesagt. Ich unterstütze ausdrücklich, was er gesagt hat.Ich gebe zu, die Rüstungsfrage ist von grundsätzlicher Bedeutung. Es kann eine Gewissensfrage sein, ja eine Überlebensfrage. Aber die Entscheidung, die morgen hier getroffen wird, ist die Entscheidung eines Parlamentes. Es ist eine Entscheidung, die revidierbar ist. Eine solche Entscheidung kann man kritisieren und mit allen demokratischen Mitteln bekämpfen. Ein Widerstandsrecht im Sinne des Grundgesetzes gibt es dagegen nicht. Ich finde — ich sage das in Richtung der Fraktion der GRÜNEN —, auch Sie sollten mit diesem Wort sorgfältiger umgehen und nicht andere zu Aktionen auffordern, für die Sie nicht die Folgen zu tragen haben. Die müssen nämlich jene tragen, die dann Ihren Ratschlägen folgen. Das zu sagen ist ein Gebot der Fairneß.
Da ich gerade bei den GRÜNEN bin und Sie und Ihre Bundesversammlung noch gar nicht richtig gewürdigt worden sind — Sie haben wahrscheinlich das Gefühl, das sei eine Mißachtung —, möchte ich Sie von diesem Gefühl befreien.
Ich habe den Medien entnommen, daß Sie sich in Duisburg — dort war es wohl —
wieder einmal als die Partei der Friedensbewegung, als die parlamentarische Spitze der Friedensbewegung dargestellt, profiliert haben. Also, ich akzeptiere, daß Sie das so sehen. Aber es wird Sie nicht erstaunen, daß ich diesem Selbstbewußtsein widerspreche. Ich sehe Sie durchaus als Teil der Friedensbewegung, aber ich sehe Sie nicht als Spitze der Friedensbewegung mit parlamentarischem Alleinvertretungsanspruch. Das halte ich für falsch.
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2434 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Ich halte das dem Interesse der Friedensbewegung, um deren Zusammenhalt sich der Kollege Voigt doch Sorgen macht, für nicht dienlich.
— Ich weiß, Sie haben Schwierigkeiten, sich ein paar Wahrheiten anzuhören. Insofern ist das mit den Parallelitäten, die hier gezogen worden sind, gar nicht so falsch.Da ich gerade einmal bei dem Punkt bin, möchte ich gern noch etwas hinzufügen: Die GRÜNEN gefallen sich sehr gern und sehr oft in sehr handfesten Attacken gegenüber Sozialdemokraten und führenden Sozialdemokraten. Ich frage Sie: Was soll das eigentlich, wenn es um die Sache des Friedens geht, und was wollen Sie damit erreichen?
Um es einmal anders herum und ganz deutlich zu formulieren, auch wenn die Kollegin Kelly nicht anwesend ist: Willy Brandt hat es nicht nötig, sich von Petra Kelly Ratschläge über die richtige Friedenspolitik anhören zu müssen — damit das ganz klar ist.
Und dann will ich auch etwas zu Ihrem Antrag sagen, damit Sie über unser Abstimmungsverhalten morgen nicht überrascht sind.
— Sie, Herr Fischer, haben mit der Demokratie offenbar auch Schwierigkeiten; denn Sie reden auch sehr viel dazwischen. Hören Sie doch einmal zu, und hören Sie sich auch einmal Dinge an, die Ihnen nicht gefallen.Also zu Ihrem Antrag: Der Antragstext enthält in fünf Punkten Forderungen, denen — sage ich mal— auch Sozialdemokraten, nicht alle, aber viele, zustimmen könnten, wenn, j a, wenn das so gemeint wäre, wie es dort aufgeschrieben ist. Sehen Sie, da habe ich meine leichten Zweifel. Wenn ich nämlich die Begründung zu Ihrem Antrag lese, dann glaube ich, daß es Ihnen in Wahrheit doch um etwas ganz anderes geht, nämlich um das, was der Kollege Schily in einer sehr gut ausgearbeiteten Rede heute morgen auch ganz klar gesagt hat, um das Ausscheiden der Bundesrepublik Deutschland aus der NATO. Bundesrepublik raus aus der NATO, so haben Sie es in Duisburg beschlossen. Und dazu sage ich Ihnen: Genau das trennt uns.
Auch in der SPD gibt es mancherlei Kritik gegenüber der NATO,
— schreien Sie, schreien Sie, Sie werden damit immer glaubhafter — gegenüber deren Strategien, gegen die Art und Weise, wie die USA mit ihren Verbündeten umspringen.
Diese Kritik soll man deutlich vortragen; denn Bündnistreue — ich wiederhole mich — heißt nicht Unterwerfung, heißt nicht, alles akzeptieren, was die westliche Führungsmacht USA will. Aber wir entscheiden uns für die Kritik im Bündnis. Wir wissen, daß wir auf das Bündnis angewiesen sind,
weil wir bei aller Kritik an unserer Führungsmacht nicht übersehen können — ich jedenfalls kann das nicht —, daß die Sowjetunion, wie Helmut Schmidt heute morgen richtig formuliert hat, eine expansionistische Macht ist. Und wir werden deshalb auf das Bündnis angewiesen bleiben, solange es uns nicht gelingt, eine andere, bessere Friedensordnung in Europa und für Europa aufzubauen. — Grüne Friedenspolitik mit dem Ziel „Raus aus der NATO" wird deshalb unsere Zustimmung nicht finden.
— Gerade weil Sie es nicht reingeschrieben haben, macht mich das so stutzig. Ich vermute dahinter natürlich Taktik, zumal, wenn Herr Schily dann hier einen ganz anderen Text als den spricht, der ausgedruckt ist.
Und nun muß ich Ihnen noch eines sagen: In dem Duisburger Beschluß zur grünen Friedenspolitik heißt es — ich bin sofort am Ende, wenn Sie mir vielleicht noch zwei Minuten gönnten, Frau Präsidentin — —
Ja, wenn Ihre Fraktion Ihnen die noch gibt, bitte sehr.
Im Duisburger Beschluß zur grünen Friedenspolitik heißt es mit Zielrichtung auf SPD und DKP: Sie — die Friedenspolitik — könne konstruktiv nicht mit Organisationen vorangetrieben werden, die mit mindestens einem Bein in Washington oder in Moskau stehen. Ich will jetzt nicht unnötig heftig werden, aber dies muß ich als schlichte Beleidigung bezeichnen. Es ist beleidigend in zweierlei Weise. Erstens beleidigt uns die Gleichsetzung von SPD und DKP, von demokratischen mit nichtdemokratischen Sozialisten.
Zweitens können wir die Unterstellung nicht akzeptieren, die SPD sei eine mindestens teilweise von Washington ferngesteuerte Partei, so, wie die DKP von Moskau ferngesteuert ist. Das weise ich mit Nachdruck zurück. Das kann ich nicht akzeptieren.
Auf dieser Grundlage ist „aktionsbezogene Zusammenarbeit", wie Sie das formuliert haben, mit uns nicht zu machen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2435
KloseSchlußbemerkung. Vertreter der Koalition verdächtigen uns Sozialdemokraten immer wieder, Wanderer zwischen Ost und West zu sein, und konfrontieren uns mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus. Ich weise auch das ausdrücklich zurück. Wir wissen, auf welcher Seite wir stehen. Wir fühlen uns dem amerikanischen Volk freundschaftlich verbunden. Aber das nimmt uns nicht das Recht, die amerikanische Regierung zu kritisieren, wenn deutsche Rationalität dies erfordert.
Im übrigen sind es nicht nur deutsche Sozialdemokraten, die die Rüstungspolitik der USA, die Sie kritiklos übernehmen, kritisieren; zu den Kritikern gehören auch Amerikaner, amerikanische Patrioten, denen man Sachverstand nicht bestreiten kann, etwa Paul Warnke, früherer Chef der Abrüstungsbehörde. Er hat kürzlich mit dem Westdeutschen Rundfunk gesprochen. Ein Zitat aus diesem Gespräch:Das ist das wirkliche Problem: daß wir die Rüstungskontrolle vernachlässigt haben und dem Rüstungswettlauf freie Bahn ließen. Wieder einmal haben wir es zugelassen, daß der technologische Rüstungsfortschritt die Bemühungen zunichte gemacht hat, die Rüstungstechnologie zu kontrollieren. Das war der grundlegende Fehler.Der schon erwähnte Robert McNamara hat gesagt: Die Deutschen bereiten, wenn sie an diesen Strategien der NATO festhalten, die Verwüstung ihres eigenen Landes vor.Wir Sozialdemokraten teilen solche Befürchtungen. Wir wissen, daß zusätzliche Waffen den Frieden nicht sicherer machen, sondern weitere NachNachrüstungsmaßnahmen nach sich ziehen werden. Zur Stabilisierung des Friedens trägt das alles mit Sicherheit nicht bei. Im Gegenteil: Wir fürchten, daß immer neue Waffen, die defensiv begründet werden, die aber offensiv einsetzbar sind,
in Ost und West den Konflikt wahrscheinlicher machen. Wir müssen uns in aller Brutalität klarmachen, daß für uns der atomare Konfliktfall gleichbedeutend ist mit dem Vernichtungsfall.
Da vor mir ein Gewerkschafter gesprochen hat, schließe ich mit dem Wort eines anderen Gewerkschafters, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Ernst Breit. Er hat auf unserem Parteitag in Köln gesagt:Alles in allem: Wenn das sogenannte „Gleichgewicht des Schreckens" weiterhin Grundlage politischen Handels bleibt, erscheint der atomare Holocaust vorprogrammiert. Wir können den Frieden nicht errüsten, auch wenn wohl viele nicht ohne Grund glauben, daß es die teuflischen Mechanismen der Abschreckung sind, die bislang den großen Krieg verhindert haben. Wir müssen uns in der Tat entscheiden: Geht der Weg weiter in die totale Kernbewaffnung mit dem wachsendem Risiko einer totalen Katastrophe, oder entscheiden wir uns für eine Politik des größtmöglichen Vertrauens in die Gegenseite?
Ja, meine Damen und Herren, wir müssen uns entscheiden. Meine Entscheidung lautet: Nein.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Göhner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir seien dabei, uns zurück in die 50er Jahre zu begeben, hat Herr Klose zu Beginn seiner Ausführungen gesagt. Sie sprachen von „wir". Das ist auch berechtigt, Herr Kollege Klose; denn Ihre Ausführungen haben doch eindrucksvoll belegt, wie sehr Sie und Ihre Partei zu den sicherheitspolitischen Vorstellungen Ihrer Partei vor Godesberg zurückgekehrt sind.
Sie haben den Gegensatz Ihrer Politik zu der, die Helmut Schmidt hier heute noch vertreten hat, eindrucksvoll dokumentiert und dabei deutlich gemacht, daß die Grundlage der Sicherheitspolitik der vergangenen Jahre, deren Konsens verlorengegangen ist,
aus — diesen Eindruck muß ich jedenfalls haben — vordergründigen parteitaktischen Erwägungen — Stichwort: hessische Verhältnisse — aufgekündigt worden ist. Das ist der Grund Ihrer Politik!
Meine Damen und Herren, daß außerordentlich große Interesse, das die Bevölkerung dieser Debatte entgegenbringt, ist sicher eine positive Auswirkung des großen friedenspolitischen Engagements vieler Menschen in unserem Lande. Herr Klose, hören Sie genau zu: Ich sage hier sehr offen, daß dies ein Verdienst der Friedensbewegung ist. Ich stehe überhaupt nicht an, anzuerkennen, daß diese Bewegung für alle in unserem Land auch positive Seiten hat.
Aber wir dürfen und wir wollen doch auch nicht verschweigen, was z. B. Heinrich Böll über die Einflüsse und den Organisationskomitees dieser Friedensbewegung gesagt hat und was das Innenministerium in dem von Ihnen kritisierten Faltblatt auch herausgestellt hat.
Es gibt auch eine Pflicht der Bundesregierung, darüber zu informieren, welche Kenntnisse dieser Art sie hat, und diese Informationen zu verbreiten.
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2436 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. GöhnerDa Sie den Inhalt dieses Faltblattes hier kritisiert haben, möchte ich Ihnen sagen: Jede Angabe, die in diesem Faltblatt steht, können Sie in den Verfassungsschutzberichten der Vorjahre wiederfinden, die von der von der SPD geführten Bundesregierung verantwortet wurden.
Es gibt nicht eine einzige Aussage in diesem Faltblatt, die falsch wäre; Sie haben auch hier keine konkret kritisiert.
Sie können ja nun nicht so tun, als ob das sozusagen die einzige Publikation der Bundesregierung zur Diskussion über Friedenspolitik wäre. Sehen Sie das im Zusammenhang mit der gesamten Aufklärungsarbeit der Bundesregierung, die — das sage ich noch einmal — auch die Pflicht beinhaltet, die Bürger darüber aufzuklären, welche Einflüsse mehrheitlich in Organisationskomitees herrschen, was Herr Böll bestätigt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fischer ?
Bitte sehr.
Herr Göhner, nach dem Faltblatt wird die Friedensbewegung sozusagen von Andropow gesteuert. Gehen Sie davon aus, daß auch ich von Andropow gesteuert werde?
Herr Kollege Fischer, ich empfehle Ihnen, dieses Faltblatt sehr genau zu studieren. Aufgezeichnet sind doch die Einflüsse und die Zusammensetzung der Organisationen, die im Organisationskomitee vertreten sind. Wenn Ihnen das auch nicht paßt: Es gehört eben auch dazu, daß dies zum Teil kommunistische Organisationen sind, die auch Einflüssen Moskaus unterliegen.
Meine Damen und Herren, in der friedenspolitischen Diskussion liegt, so meine ich, auch die Chance, wieder zu einem Konsens zurückzukehren. Ich denke und hoffe, jeder von uns versteht die Sorgen, die viele — auch und vor allem junge — Menschen bewegen. Wen quält nicht, daß Milliarden für Rüstung vergeudet werden, während Millionen hungern? Wer könnte gleichgültig gegenüber der Vorstellung eines atomaren Holocaust bleiben?Helmut Schmidt hat in Köln auf dem Parteitag und auch hier heute nachmittag auf das Problem hingewiesen, daß die Akzeptanz für unsere Antworten auf diese Fragen in der Bevölkerung zunehmend schwieriger wird. Ich teile diese Beobachtung. Aber, meine Damen und Herren, die Akzeptanz der Grundlagen unserer Friedenssicherung wird nun nicht dadurch erleichtert, daß Sie den bisherigen Konsens über diese Grundlagen einseitig aufkündigen.Das Vertrauen der Jugend in unseren Staat muß doch Schaden nehmen, wenn der Vorsitzende der größeren der früheren Regierungsparteien der Sache nach erklärt, er habe in dieser fundamental bedeutsamen Frage die frühere Regierung vorwiegend aus taktischen Gründen getragen, aber nicht aus Überzeugung.
Wer in so verantwortlicher Position die Bürger jahrelang über seine wahre Haltung getäuscht hat, der muß sich doch über mangelnde Akzeptanz seiner Politik nicht wundern.
Meine Damen und Herren, wer die Anhänger einer berechenbaren, verläßlichen Sicherheitspolitik der Kontinuität in seiner eigenen Partei so in die Isolation treibt, wie es auf Ihrem Parteitag geschehen ist, der versucht doch, die Akzeptanz dessen zu zerstören, was Inhalt seiner eigenen früheren Regierungspolitik war.Ich verkenne nicht, daß die Friedensbewegung besonders in der jungen Generation viel Zustimmung gefunden hat. Das politische Bewußtsein meiner Generation ist in einer Zeit des Friedens in Westeuropa geprägt worden. Die Berlin-Blockade dagegen, der 17. Juni, Ungarn 1956 und zum Teil auch Prag 1968 kennen viele nur aus den Geschichtsbüchern, soweit diese Ereignisse dort behandelt werden.
Mir ist allerdings unerklärlich, wieso Afghanistan und Polen von manchen ignoriert werden. Ein wesentlicher Grund für mangelnde Kenntnisnahme zeitgeschichtlicher Vorgänge muß nach meiner Überzeugung darin gesehen werden, daß wir in den letzten Jahren versäumt haben, über die Notwendigkeit der Grundlagen unserer Sicherheit zu informieren.Wir beklagen, daß sich die Kultusministerkonferenz bis heute nicht auf gemeinsame Empfehlungen zur Friedenssicherung in den Schulen einigen konnte.
Die Versäumnisse in den Schulen auf diesem Gebiet sind ohne jeden Zweifel groß. Dort muß deutlich gemacht werden, daß unverzichtbare Voraussetzung für die Friedenssicherung das Gleichgewicht der militärischen Kräfte ist
und daß der Dienst in der Bundeswehr Friedensdienst ist.
„Es muß den ganzen Unterricht im Geiste durchziehen, daß der junge Mensch erst dann ein vollwertiger Bürger ist, wenn er die Freiheit nach innen und außen zu verteidigen bereit ist."
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2437
Dr. GöhnerDas war, meine Damen und Herren, ein wörtliches Zitat von Heinz Kühn.
Ich vermisse eigentlich einen Sozialdemokraten, z. B. einen Kultusminister, der das heute noch genauso sagen würde wie Heinz Kühn vor acht Jahren.
Meine Damen und Herren, zur Friedenssicherung muß auch die Frage gehören, wodurch Frieden denn gefährdet werden kann. Der Frieden ist nicht allein, nicht primär durch die Existenz von Waffen gefährdet, sondern er ist bedroht, weil es Mächte gibt, die Waffen zum Zwecke politischer Erpressung oder gar des Angriffs einzusetzen bereit sein könnten.
Spannungen sind nicht in Raketen begründet, sondern in der Unvereinbarkeit von Freiheit und Diktatur.
Die eigentliche Bedrohung des Friedens liegt darin, daß Völker wie das unsrige gewaltsam getrennt, Menschenrechte mit Füßen getreten werden und Freiheit mit Gewalt verhindert wird.
Dazu kann man sicher auch viel in dem hören, was junge Leute in der DDR sagen. Herr Bahr hat hier heute nachmittag über seine Eindrücke berichtet. Ich möchte nur sagen, daß ich in Gesprächen mit jungen Leuten, die in der Kirche der DDR engagiert sind, erfahren habe, daß sie nicht verstehen, warum sich die Friedensbewegung bei uns nicht zumindest auch mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl beschäftigt.
Ich möchte allen Kollegen, die als Abgeordnete in die DDR reisen und mit Vertretern der dortigen Friedensbewegung publizitätsträchtig sprechen, eines sagen, gerade Herrn Bahr, der hier berichtet hat, er habe durchgehend die Hoffnung der Menschen dort gespürt und angetroffen, wir sollten hier bei uns die Aufstellung der Raketen von Amerikanern verhindern.
Ich habe bei sehr vielen Gesprächen mit jungen Bekannten bei meinem letzten DDR-Besuch gelegentlich auch solches gehört. Aber sehr oft habe ich Fragen gehört, die ich nicht beantworten konnte und die sicher auch Herrn Bahr gestellt worden sind. Ich wurde gefragt: Warum demonstriert eure Friedensbewegung nicht für eine Nullösung, damit weder bei uns noch bei euch Mittelstreckenraketen aufgestellt werden?
Warum wird bei euch gegen die demonstriert, die euch das Recht zur Demonstration überhaupt ermöglichen: NATO, USA und Bundeswehr?
Warum demonstriert ihr nicht dagegen, daß bei uns Wehrdienstverweigerung praktisch unmöglich ist, daß wir in der Schule praktisch zu Wehrübungen gezwungen werden und daß uns Verhaftung droht, wenn wir dagegen demonstrieren?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jungmann?
Bitte sehr.
Herr Kollege Göhner, nachdem Sie hier ausgeführt haben, welche wichtige Funktion der Wehrdienst hat, darf ich Sie fragen, ob Sie Grundwehrdienst geleistet haben.
Herr Kollege, ich gehöre zu denen, die sich bei der Bundeswehr verpflichten wollten, um ihr Studium zu finanzieren. Ich sage Ihnen: Ich habe damals bedauert, daß ich nach der Musterung wegen gesundheitlicher Mängel nicht den Friedensdienst leisten konnte.
Aber ich will Ihnen sagen, daß die Bereitschaft derer, die bereit sind, Friedensdienst in der Bundeswehr zu leisten und die diesen Dienst tatsächlich leisten, die Anerkennung aller hier im Hause verlangt. Deshalb kann das Berichten über die Bundeswehr und durch die Bundeswehr in der Schule beispielsweise nicht mit der Diskussion von Wehrdienstverweigerungsorganisationen gleichgesetzt werden, wie Ihre Kultusminister in der Kultusministerkonferenz das wollen.
Ich habe bei Gesprächen in der DDR die Überzeugung gewonnen, daß dies einige der Fragen sind, die von einem sehr großen Teil der Jugend in der DDR gestellt werden. Diese Fragen geben ein Stück politischer Hoffnung, ein wenig Vision, wie sich eines — zugegeben fernen — Tages durch eine politische Friedensordnung der Freiheit und der Menschenrechte eine Friedenssicherung ergeben könnte.Noch nie hat es einen Krieg zwischen demokratischen Staaten gegeben. Darin liegt doch ein Stück politischer Hoffnung.Wer von Frieden redet, der sollte die Völker zueinander führen, sollte menschliche Begegnungen zwischen Ost und West fördern und Menschenrechte sichern. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die verstärkten Anstrengungen der Bundesregierung zur Intensivierung eines Jugendaustausches
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2438 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Dr. Göhnerzwischen Ost und West. Auch das ist ein Stück Friedenspolitik.
Zu diesem Stück Völkerverständigung kann jeder von uns, kann jeder Bürger beitragen. Ich finde, Reisen in die DDR zu Verwandten, zu Bekannten sollten zur Pflicht eines jeden Staatsbürgers gehören.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Frau Fuchs .
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Herr Kollege Göhner, ich habe mir vorgenommen, Ihnen in der nächsten Sitzung des Petitionsausschusses ein Godesberger Programm zu überreichen;
denn es erscheint mir dringend nötig, daß Sie darin lesen, um die SPD besser interpretieren zu lernen. Das ist Ihnen nämlich heute in Ihrer Rede trotz intensivster Bemühungen überhaupt nicht gelungen.
Ich zitiere: „Nicht zu beschreibende Sorge, ja Angst um unser und unserer Nachkommen Überleben treiben uns um ...". So beginnt einer von Hunderten von Briefen, die auch ich in den letzten Wochen von Frauen aus Kirchen, aus Friedensinitiativen, von jungen und alten Frauen aus der ganzen Bundesrepublik bekommen habe. Alle enthielten drängende und bohrende Fragen. Von dieser Stelle möchte ich all diesen Frauen sagen, daß ich von ihren Appellen zutiefst betroffen bin. Ich möchte hier für sie sprechen, und ich möchte einige ihrer Fragen aufnehmen und einige ihrer Argumente vortragen.Ich greife eine Frage auf, die die „Frauen für den Frieden" in der Evangelischen Frauenhilfe Bremen gestellt haben. Diese Frage konnte mir niemand, weder im Verteidigungsausschuß noch sonstwo, zufriedenstellend beantworten. Die Frage lautet:Fühlen Sie sich kompetent, eine persönliche Garantie dafür zu übernehmen, daß es bei einer derart immensen Vermehrung atomaren Sprengstoffs niemals zu einem „Atomkrieg aus Versehen" kommen wird, daß also niemals durch menschliches oder technisches Versagen eine atomare Apokalypse entfacht werden könnte?
Meine Herren und Damen von der CDU/CSU, wie würden Sie diese Frage denn beantworten?Auf eine ähnliche Frage anläßlich der Sondersitzung der Nordatlantischen Versammlung am 13. Juni dieses Jahres antwortete Verteidigungsminister Wörner, der Einsatz von Nuklearwaffen sei eine politische Entscheidung, die in keinem Falle einem Computer überlassen bleibe. Hat der Verteidigungsminister bei dieser Antwort bedacht, wie abhängig der Mensch bei politischen Entscheidungen von einem Frühwarnsystem ist, das die vielfältigsten Aufgaben hat — von der Feindbeobachtung, der Frühwarnung vor einem Angriff über die Weiterleitung der Informationen an denjenigen, der die Entscheidung trifft, nämlich den amerikanischen Präsidenten, bis zur Übermittlung des Gegenschlagbefehls an die Raketenbasen oder U-Boote, von wo aus letztlich der Gegenschlag ausgeführt wird?Wie sicher kann irgend jemand sein, daß bei der Erfassung von Primärdaten über fliegende Objekte keine Störung vorliegt, daß sich bei der Auswertung dieser Daten in den beteiligten Computern oder bei den Mannschaften, die sie bedienen, keine Irrtümer einschleichen? Wer will dafür garantieren, daß bei der Informationsübermittlung an den Präsidenten der Vereinigten Staaten oder gar bei dessen Bewertung dieser Informationen kein Fehler unterläuft? Und ist es völlig ausgeschlossen, daß bei dér Übermittlung des Gegenschlagbefehls oder bei der Ausführung des Präsidentenbefehls eine Panne passiert, weder eine menschliche noch eine technische?Wir wissen doch alle, daß Computerfehler vorgekommen sind, so z. B. im US-Frühwarnsystem NORAD. Senator Gary Hart führte zusammen mit seinem Kollegen Barry Goldwater 1980 eine Untersuchung im Auftrag des Senats durch, wie er wörtlich sagt — ich zitiere —, „wegen der fortgesetzten schwerwiegenden Computerprobleme im US-Frühwarnsystem. Wie entdecken, daß in einem Zeitraum von 18 Monaten 151 Fehlalarme aufgetaucht sind; einer dauerte volle sechs Minuten lang, also die Hälfte der Zeit, die eine U-Boot-Rakete braucht, um ihr Ziel zu erreichen." Senator Hart sagt weiter:Es gibt keine Garantie dafür, daß in Zukunft Fehlalarme nicht vorkommen werden. Sie werden auftreten, und wir müssen uns auf das kollektive Urteil der Mannschaft an den Systemen verlassen, Fehlalarme als solche zu erkennen und damit richtig umzugehen.Glaubt Herr Minister Wörner wirklich, ein „Atomkrieg aus Versehen" sei angesichts der Tatsache ausgeschlossen, daß allein im WWMCCS, dem World Wide Military Communication and Command System, diesem riesigen weltweiten Frühwarnsystem, 35 Rechner mit einem Programmvolumen von 17 Millionen Codezeilen existieren? Wie verhalten sich Menschen in einer so belastenden Situation, in der innerhalb weniger Minuten unter Umständen über das Schicksal unseres Planeten entschieden werden muß?Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses in den Vereinigten Staaten hat das so erlebt. Er sagt:Als wir den Fehlalarm hatten, das müssen sechs Minuten gewesen sein, obwohl es uns wie Stunden vorkam, brach einfach Panik aus!
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2439
Frau Fuchs
Wie reagiert denn ein Präsident, der in fünf Minuten oder weniger über das Schicksal von Millionen von Menschen zu entscheiden hat, wenn er mitten in der Nacht aufgeweckt werden muß oder sonst irgendwie indisponiert ist? Daß diese Fehlalarme — obwohl sie zum Teil bis zur Alarmstufe 2 führten — letztlich keine militärischen Konsequenzen hatten, liegt vor allem daran, daß genügend Zeit verblieb, innerhalb Raketenflugzeiten zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von ca. 30 Minuten die Fehler zu finden und zu eliminieren.
Wie aber wird sich die Situation darstellen, wenn Pershing II bei uns stationiert sind? Das Gefährliche an dieser Rakete ist doch, daß sie bei kürzester Warnzeit gehärtete Ziele treffen und zerstören kann, Ziele, die speziell gegen die Wirkungen einer Atomexplosion verstärkt sind, wie z. B. Kommandozentralen, Führungsbunker und Raketensilos.
Und ich befürchte, meine Herren und Damen, mit vielen besorgten Briefschreibern, aber nicht nur mit ihnen, sondern auch mit vielen sehr informierten und bekannten Wissenschaftlern, daß es technisch auf diese Waffe nur eine Antwort gibt, nämlich „launch on warning"; das heißt: Abschuß, sobald die Frühwarnsysteme den Anflug der Waffen melden.
Ich fürchte, daß im sowjetischen Entscheidungsprozeß Menschen durch Computer ersetzt werden. Da sicher niemand bezweifeln wird, daß westliche Computertechnologie der sowjetischen bei weitem überlegen ist, zwingt das zu dem Schluß, daß sowjetische Systeme zumindest so unzuverlässig sind wie die westlichen.
Das heißt: Computerfehler können nicht ausgeschlossen werden. Aber jeder Fehler eines sowjetischen Computers würde zumindest für Mitteleuropa die Katastrophe bedeuten.
Können Sie, Herr Bundeskanzler, angesichts dieser Aussichten noch Ihren Satz von heute morgen aufrechterhalten: Waffen sind Gegenstände, sie bedrohen niemanden.Meine Herren und Damen, die Tatsache, daß menschliches und technisches Versagen prinzipiell nicht ausgeschlossen werden können, ist ein Grund für viele Sozialdemokraten, die atomare Abschrekkung für eine dauerhafte Sicherung des Friedens als untauglich abzulehnen.
Die Abschreckung mit Atomwaffen und ein vordergründiger Gleichgewichtsbegriff werden durch die rasante Entwicklung der Waffentechnologie immer mehr zum Motor eines Rüstungswettlaufs, der dieGrundlagen eben dieser Abschreckungspolitik zerrüttet und die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen herabsetzt.
Deswegen wollen wir mit der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, daß nicht noch mehr Atomwaffen bereitgestellt werden,
sondern daß letztendlich alle Atomwaffen aus Europa abgezogen werden.
Deswegen stehen wir Sozialdemokraten mitten in der internationalen Diskussion darüber, wie Verteidigungspolitik neu organisiert werden kann. Mit vielen Menschen sind wir der Meinung, daß Verteidigungspolitik an den existentiellen Bedürfnissen der Bürger orientiert sein und das Sicherheitsbedürfnis und die Ängste des möglichen Gegners in Rechnung stellen muß,
daß Verteidigungspolitik nicht auf Androhung gegenseitiger Vernichtung beruhen darf und daß sie nichtaggressiven Charakter haben muß; das heißt: Jeder potentielle Gegner muß erkennen können, daß Bewaffnung und Organisation der Verteidigung einen Angriffskrieg ausschließen.
All dies setzt voraus, daß an der Aufrüstungsschraube jetzt nicht weiter gedreht wird,
daß Pershing II und Cruise Missiles nicht bei uns aufgestellt werden. An Ihrem Abstimmungsverhalten, meine Herren und Damen von der CDU/CSU und FDP, liegt es, ob sie aufgestellt werden oder nicht.
Ich hoffe inständig, daß die Mitarbeiter in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel nicht recht behalten, wenn sie in ihrem Brief schreiben:Wir sind gelähmt von der Ahnung, daß kein Argument, kein Aufschrei, keine Handlung mehr ein wirklich hinhorchendes Ohr, geschweige denn ein offenes Herz und einen unvoreingenommenen Verstand erreichen wird.Wenn ich allerdings die Reaktionen hier heute betrachte und mir einige Bemerkungen des Kollegen Marx und auch des Kollegen Müller in Erinnerung rufe, dann habe ich den Eindruck, daß Sie, meine Herren und Damen von der Regierungskoalition, überhaupt nicht gewillt sind, sich mit den Sorgen und Argumenten all derer auseinanderzusetzen, die sich in häufig langen und bewegten Briefen an uns alle gewandt und uns ihre
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2440 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Frau Fuchs
Sorgen mitgeteilt haben — und die uns im übrigen auch gewählt haben.
Ich will dennoch einmal aus einem Brief der evangelischen Frauen für den Frieden zitieren. Sie sagen:Unsere Hoffnung auf eine Zukunft ohne Bedrohung und Angst hängt jetzt auch von der Klugheit, dem Verantwortungsbewußtsein und der Gewissenhaftigkeit Ihrer Entscheidung ab. Nach der voraussichtlich namentlichen Abstimmung in dieser Überlebensfrage werden die Wähler ihren Abgeordneten genau kennenlernen und für die Zukunft einzuschätzen wissen. Verzweifelt appellieren wir an Sie: Stimmen Sie gegen die Stationierung der vorgesehenen Atomraketen, damit wir, unsere Kinder und unsere Enkel leben können.Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hellwig.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine ganz persönliche Bemerkung zu Beginn. Mein Vater, ein selbständiger Handwerksmeister und überzeugter, leidenschaftlicher Demokrat, sah es als seine wichtigste Aufgabe an, uns Kindern die dringende Mahnung mit auf den Weg zu geben, diese freiheitliche Demokratie mit ganzer Kraft und ganzem Einsatz zu tragen und zu bewahren. Er war kein Held, wie er von sich selbst immer betonte. Er hat die Nazi-Diktatur überlebt, aber er hat die ganzen Jahre furchtbar unter dem Gespinst aus Verstellung, Mißtrauen, Ungerechtigkeit, Lüge und Angst gelitten. Das Leben unter einer Diktatur verkrüppelt jeden normal, gerecht empfindenden Menschen, auch den, der sich nur in sein Privatleben zurückziehen will und gar nichts mit Politik zu tun haben will.Er beschwor uns: Bewahrt unser Volk vor einer neuen Diktatur. Wir haben damals die Weimarer Republik verloren, noch ehe wir zur Besinnung kamen. Demokratien sind immer gefährdet, von innen und von außen. — Und er erzählte uns immer wieder: Es war wie ein Rausch, der unser Volk erfaßt hatte, eine einzige einigende Gefühlsaufwellung für das Wahre, das Echte, das Gute, das Schöne, die große vaterländische Idee, die uns aus der Knechtschaft der Siegermächte befreien sollte und uns hinauftrug in das Licht des wahrhaft nationalen und sozialen „Dritten Reiches". Der Einzelne wuchs über sich hinaus, war ein Teil der Bewegung. Diese Bewegung erhob sich moralisch weit über das niedrige Parteiengezänk und die mühselige parlamentarische Demokratie, und die Bewegung fegte beides hinweg.
Als auf den Rausch die Ernüchterung folgte, war es für die Deutschen zu spät, sich aus der selbstgewählten Fessel einer braunen Diktatur wieder zu befreien. Mein Vater warnte uns aber auch, wachsam zu sein vor der Gefahr, die der Demokratie von außen droht. Menschen in Demokratien neigen dazu, Diktaturen in ihrer Gefährlichkeit zu unterschätzen.
Demokratische Regierungen wollen gute Nachbarschaft und unterstellen Diktaturen dasselbe. Nach meines Vaters Meinung hatten die Westmächte Hitler unterschätzt. Ihr, sagte er damals zu uns, werdet in ein paar Jahren, bequem geworden und gewöhnt an die Demokratie, den kommunistischen Machtblock unterschätzen. Keiner im Westen hat in den 30er Jahren Hitlers „Mein Kampf" gelesen. Ihr werdet vergessen, das Kommunistische Manifest zu lesen.In der heutigen Zeit wird soviel von Angst gesprochen. Ich habe auch ein beklemmendes Gefühl, wenn ich heute spüre, wie recht mein Vater damals hatte. Wie unrecht tat ich ihm damals! Ich habe ihn ausgelacht, weil ich seine Sorge, wir könnten unser freiheitlich-demokratisches System jemals wieder verlieren oder gar freiwillig aufgeben, für völlig übertrieben, für die Sorge eines pessimistisch gewordenen alten Mannes hielt.In Erinnerung an seine Meinung zitiere ich heute aus dem Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion von 1961:Der Erfolg des Kampfes der Arbeiterklasse für den Sieg der Revolution wird davon abhängen, inwiefern sie und ihre Partei es erlernen, sich aller Formen des Kampfes zu bedienen, der friedlichen wie der nicht friedlichen, der parlamentarischen wie der außerparlamentarischen, und ob sie zur schnellsten und überraschendsten Ersetzung einer Kampfform durch die andere bereit sind.Niemand sage, er habe es nicht wissen können!
Ich beobachte mit großer Sorge, wie in der Friedensbewegung die Illusion immer mehr um sich greift, die UdSSR sei inzwischen eine friedliche, nur auf die Verteidigung ihres eigenen Territoriums konzentrierte Macht geworden,
die nur so lange aggressiv sei, solange sie sich bedroht fühle; wenn Westeuropa neutral wäre, könnees friedlich im Windschatten der sich_ gegenseitig
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2441
Frau Dr. Hellwigmißtrauenden Weltmächte ein von Atomwaffen befreites Leben führen.
Mein zehnjähriger Neffe hat mir dieses Bild aus seiner Schule mitgebracht. Das Mädchen in der Klasse wurde belobigt, das nach Meinung des grünen Lehrers das schönste Bild über die Ziele der Friedensbewegung gezeichnet hatte: Rechts im Bild ein dunkler waffenstarrender Fleck mit dem Namen UdSSR, und links im Bild ein ebenso dunkler waffenstarrender Fleck mit dem Namen USA; und in der Mitte ein helles Licht, eine Friedenstaube mit dem Namen Deutschland, klein darunter: Europa.So einfach ist das, meine Damen und Herren! Europa segelt auf der Friedenstaube aus dem ideologisch-militärischen Schlachtfeld zwischen Ost und West davon,
verabschiedet sich ganz einfach von seiner eigenen Geschichte, ohne den anderen Mitspielern noch umständlich Adieu zu sagen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen?
Nein, im Moment nicht.In Europa wurde die Idee der modernen Demokratie geboren. Hier liegt die Geburtsstätte des Kommunismus, und selbst die Atombombe ist ein europäisches Produkt. Angesichts der explosiven Mischung, die sich aus all dem ergeben hat, war es schon an der Zeit für Europa, wieder einmal etwas Neues zu erfinden: die Friedensbewegung. Jetzt haben wir für die Welt eine neue Heilslehre parat.
Schön ware es, wenn das Aussteigen aus der Geschichte so einfach wäre wie das Aussteigen aus der Pferdekutsche und das anschließende Einsteigen ins Auto.
Nach Meinung der GRÜNEN können wir Deutschen wieder einmal alles besser als die anderen.
Wir erklären einfach die UdSSR und die USA für etwa gleich schlecht oder gleich gut und gehen zu beiden gleichermaßen auf Distanz.
Die Meinung bereitet sich aus, Frieden sei wichtiger als Freiheit.In dieses Bild paßt natürlich nicht das Bewußtsein von den schrecklichen Lebensbedingungen unter einer sowjetischen kommunistischen Diktatur. Ein seltsames Angstgemisch greift immer mehr um sich. Die Angst vor den russischen Raketen wird immer größer, so groß, daß amerikanische Raketen nicht mehr stationiert werden dürfen, weil sie russische zum Angriff provozieren könnten. Gleichzeitig wird die Angst vor der Gefahr, durch die Aufgabe unserer Verteidigungsbereitschaft unter kommunistische Herrschaft zu fallen, immer geringer.
Viele, allzu viele Nachrüstungsgegner haben schon unser freiheitliches System auf dem Altar des Friedens geopfert. Wenn die SPD mit der gleichen Geschwindigkeit,
mit der sie vom NATO-Doppelbeschluß zum absoluten Raketen-Nein gekommen ist, in derselben Richtung weiterfährt, ist sie nächstes Jahr im Herbst bei Lafontaine und der unbewaffneten Neutralität angekommen.
Noch vor der einseitigen atomaren hat hier eine einseitige geistige Abrüstung stattgefunden.
Wer so denkt, hat auch schon den geistigen Kampf um den Frieden in Freiheit aufgegeben.
Er hat sich darniedergelegt, um das Hereinbrechen eines sogenannten Friedens unter kommunistischer Herrschaft über sich ergehen zu lassen.Ich verstehe die Angst vor den Atomwaffen.
Auch ich habe Angst vor den Atomwaffen. Alle Menschen in Ost und West einschließlich der Militärs in der UdSSR und in den USA, haben Angst vor den Atomwaffen. Gott sei Dank haben sie Angst vor ihnen. Wenn sie nicht so große Angst davor hätten, wäre die Welt vielleicht schon anläßlich einer der vielen Krisen in einem atomaren Inferno untergegangen. Ich verstehe auch die Angst der Deutschen, gerade ihr Gebiet könnte der Zielort eines russischen Atomschlages werden. Ich verstehe aber nicht den utopischen Fluchtweg, den man aus Panik in dieser Angst ergreifen will.
Wenn wir im Falle eines Krieges als Aufmarschgebiet geeignet sind, hilft uns die Flucht in die Neu-
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2442 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Frau Dr. Hellwigtralität überhaupt nichts. Belgien und Holland mußten dies im letzten Weltkrieg erfahren.
Glaubt irgend jemand ernsthaft, die UdSSR werde im Fall des Konfliktes mit den USA ein neutrales Deutschland sorgfältig umgehen? Wer den Deutschen eine solche Sicherheitnische vorgaukelt, treibt sie von der heutigen Angst in die noch größere Angst von morgen. Als Neutrale könnten wir nur noch aus der Zeitung entnehmen, welche Abkommen oder Krisen zwischen NATO oder Warschauer Pakt gerade aktuell sind.
Dann erst hätten wir das Gefühl, hilfloser Spielball der Weltpolitik zu sein.
Oder glauben etwa die Vertreter einer ganz neuen grün-deutschen Großmachtspolitik,
die Weltmächte würden uns dann die Rolle einer Art Weltschiedsrichter zugestehen,
sich also freiwillig jeweils unserem weisen Schiedsspruch unterwerfen?
Wie sieht es aus, falls diese Neutralität nicht zu halten ist und sich unsere Befürchtung, die Sowjets könnten ein neutrales, unbewaffnetes Westeuropa dem kommunistischen Block einverleiben, als realistisch erweist?
Glauben Sie ernsthaft, die Sowjets würden dann ihre Raketen als Feindlinie gegen die USA nur in Polen, der CSSR und der DDR stationieren und nicht auch in Westdeutschland?
Ist für Sie der Gedanke wirklich beruhigender, SS20-Raketen auf unserem Gebiet stationiert zu haben als Pershing II?
Frau Fuchs, jetzt kann ich Ihnen auch Ihre Frage beantworten, ob ich mich kompetent fühle, den Friedensfrauen zu garantieren, daß ein Atomkrieg garantiert nie ausbrechen wird. Ich kann nur die Angst vor der atomaren Bewaffnung in Ost und West mit der Hoffnung verbinden, daß diese Angst ausreicht, daß es zu keinem Einsatz dieser Waffen kommt.
Garantieren kann das aber niemand. Sie können das ebensowenig. Denn Sie werden immer an dem Schnittpunkt des Ost-West-Konfliktes bleiben, ganz gleich, ob die Grenze zwischen Ost und West an unserer Ostgrenze oder an unserer Westgrenze verläuft. Das ist unsere tragische Situation in der Mitte Europas. Je realistischer wir sie ins Auge fassen, um so wirkungsvoller werden unsere Friedensinitiativen sein.
Gibt es also keine Befreiung von dem bedrohlich auf uns lastenden Alptraum vom möglichen Atomkrieg?
Es gibt nur den Weg der beiderseitigen Abrüstung mit dem Ziel des Einfrierens der Waffen auf einem möglichst niedrigen Niveau.
Trotz des heutigen Nachrüstungsbeschlusses bleibt das Angebot der NATO aufrechterhalten, bei atomaren Mittelstreckenraketen doch noch zu einer Null-Lösung zu kommen, wenn die UdSSR bereit ist, ihre SS-20-Raketen voll abzubauen. Pershing II und Marschflugkörper wären nicht die ersten westlichen Waffen, die erst aufgebaut und dann wieder abgeräumt würden.Lassen Sie mich noch ein Wort zu unserem Verhältnis zur Friedensbewegung sagen.
Soweit die Friedensbewegung mit Nachdruck und Objektivität nach beiden Seiten ihre Forderung nach Minderung der Waffen vertritt, ist sie aus meiner Sicht sogar hilfreich, wenn sie in Richtung Sowjetunion mahnend fragt, ob vergleichbare Zugeständnisse wie die vom Westen angeboten werden. Insoweit befürworte ich sie.
Teile von ihr sind leider zu einäugig. Die damalige Diskussion in Bonn hat gezeigt, daß sie sich zu einseitig auf die Pershing II konzentriert hat und unsere Forderung nach einer Nulloption in Ost und West nicht übernommen hat.Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich mich noch an die vielen gegen den Nachrüstungsbeschluß engagierten Christen wenden, die diesen Abrüstungsweg, den ich hier beschrieben habe, als unzulänglich ablehnen, weil er ihrer Meinung nach noch zu sehr von machtpolitischem Denken geprägt ist.Sie befürworten den Weg des Mutes zum Risiko. Jeder dieser engagierten Christen ist für sich persönlich bereit, um des Friedens willen auf die mili-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2443
Frau Dr. Hellwigtärische Verteidigung zu verzichten, um dann unter kommunistischer Herschaft
den Weg der sogenannten sozialen Verteidigung auf sich zu nehmen.
Diesen Christen möchte ich heute einen Vorschlag machen. Die Christen in der DDR befürchten nach den teilweisen Erleichterungen im LutherJahr jetzt wieder den kommunistischen Alltag mit all seinen kleinen und großen Schikanen für Christen unter einem kommunistischen System.
Wer hier im Westen für sich beschlossen hat, notfalls den Rest seines Lebens unter kommunistischer Herrschaft zu verbringen,
und damit bereit ist, sein Christentum einer Feuertaufe auszusetzen, wie mir immer gesagt wurde,
der sollte eigentlich meinen jetzigen Vorschlag nicht für unzumutbar halten. Wer einen ganz persönlichen ernsthaften Beitrag zum Frieden in Freiheit erbringen will, der sollte hier und heute beschließen, für ein Jahr in die DDR zu gehen, dort zu leben,
und mit seinem persönlichen mutigen Eintreten für Menschenrechte und Christenfreiheit helfen, die Lebensbedingungen der DDR-Bürger zu verbessern.
Ab morgen schon könnten tausende engagierter westdeutscher Christen — ich hoffe mindestens auf 10 000 — Einreiseanträge stellen
und für den Fall ihrer Ablehnung, der leider wahrscheinlichen Ablehnung, wenigstens maximale Besucherzeiten von 6 bis 8 Wochen ausschöpfen. Immer wieder, wenn einer gehen muß, sollten andere ihm folgen.
Wagen Sie es, wenigstens ein Jahr Ihres Lebens auch unter persönlichen und materiellen Opfern — ich rede zu Idealisten; ich rede nicht zu Ihnen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN —
ganz in den Dienst der sozialen Verteidigung unter einer kommunistischen Diktatur zu stellen.
Prüfen Sie sich selbst ein Jahr lang auf Ihre persönliche Wahrhaftigkeit, auf Ihre Glaubensstärke und Ihre Standhaftigkeit!
Seien Sie bereit, notfalls auf Grund einer friedlichen Friedensdemonstration in der DDR dort ins Gefängnis zu wandern! Ihr brüderlich-praktisch gelebtes Mitleiden wird die Christen in der DDR ermutigen. Es wird die Bande zwischen beiden Teilen Deutschlands fester knüpfen und eröffnet Ihnen den Weg für einen handfesten Beitrag zur friedlichen Überwindung des Ost-West-Gegensatzes.
Noch immer gibt es zwischen den beiden Teilen Deutschlands den Eisernen Vorhang. Ihn von Ost nach West zu durchbrechen ist heute so gut wie unmöglich.
Ihn von West nach Ost zu durchbrechen könnte eine wirkungsvolle Friedensinitiative westdeutscher Christen sein. — Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Schwenninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde der Dritten Welt! Gestatten Sie mir anfangs eine Bemerkung, die nicht unbedingt zum Thema gehört. Mir fällt auf, daß die Männerparteien zur späten, fernsehlosen Stunde die Frauen ins Rennen schicken. Das fällt auf.
Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas mehr Ruhe. Der Redner kann j a gar nicht zu Wort kommen.
Am Tag der internationalen Solidarität innerhalb der Herbstaktionswoche zog eine Gruppe von jungen Leuten vor die Bonner Niederlassung der Rüstungsfirma Heckler & Koch — einige Hundert Meter von diesem Hohen Haus entfernt —, um vor dem mit Polizeikräften stark gesicherten Hause symbolische Erschießungen von Menschen in der Dritten Welt durchzuführen. Ein makabrer Scherz? Keineswegs. Diese Dritte-Welt-Gruppen, die vor der Rüstungsfirma Heck-
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2444 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Schwenningerler & Koch gegen den weltweiten Export des G-3Gewehres demonstriert haben, drücken auch heute ihren Widerstand gegen die Raketenstationierung aus; denn in der Dritten Welt fallen die Bomben schon heute, wird der Krieg jedes Jahr allein mit 40 Millionen Hungertoten bezahlt.
Die Friedensbewegung hat den direkten Zusammenhang zwischen der weiteren Aufrüstung durch die Raketenstationierung und der wachsenden Kriegsgefahr der Bevölkerung vor Augen geführt. Die Solidaritätsgruppen haben den Zusammenhang zwischen Aufrüstung und dem Hunger in der Dritten Welt klargemacht. Heute drücken beide, Friedens- und Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung, ihren Widerstand gegen die Stationierung neuer Atomraketen und gegen die bundesdeutschen Rüstungsexporte aus.
Wie sieht es nun mit den Rüstungsexporten in die Dritte Welt aus? Alle bisherigen Bundesregierungen stellen die Bundesrepublik als ein besonders friedfertiges Land dar, das sich zu einer restriktiven Rüstungsexportpolitik bekennt. So wird in dem Verteidigungsweißbuch aus dem Jahre 1979 geschrieben — Zitat —:Der Export von Rüstungsgütern in Staaten der Dritten Welt bleibt grundsätzlich problematisch. Der Transfer großer Mengen an Waffen und Kriegsmaterial vergrößert das Konfliktpotential und gefährdet den Frieden. Die ohnehin knappen wirtschaftlichen Ressourcen in der Dritten Welt werden statt für den Aufbau des eigenen Landes für die militärische Rüstung verwendet. Dies hemmt den Abbau des NordSüd-Gef älles.
Durchaus richtige Erkenntnisse!
Aber nach Berechnungen der Rüstungskontrollbehörde der US-Regierung ACDA ist die Bundesrepublik der viertgrößte Rüstungsexporteur der Welt. Rund 80 % der deutschen Rüstungsexporte gehen in Länder der Dritten Welt. Mit mehr als 70 Entwicklungsländern hatte die Bundesrepublik Ende der 70er Jahre rüstungswirtschaftliche Beziehungen.
So werden ganz legal mit Genehmigung der Bundesregierung z. B. folgende Waffen geliefert — hören Sie zu —: Leopard-Panzer an die Türkei, U-Boote an Chile, Indonesien, Indien und Peru,
Fregatten an Argentinien, Minenkampfboote an Südafrika
— kann ich, obwohl mir das Lächeln vergeht, wennich mir das Apartheidsregime in Südafrika vorAugen halte —, sensitive Atomtechnologie nach Südafrika, Brasilien, Argentinien und Pakistan,
Militärfahrzeuge in den Irak und ebenfalls nach dem rassistischen Südafrika, Alpha-Jets nach Ägypten, Marokko und Nigeria, Bo-105-Hubschrauber in den Sudan, nach Brunei und Peru, TransallFlugzeuge nach Indonesien und Tunesien.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Schoppe?
Schwenninger [GRÜNE]: Bitte schön.
Frau Schoppe [GRÜNE]: Walter, kannst du bitte mal die Frau Präsidentin fragen, warum sie bei Deinem Beitrag nicht für Ruhe sorgt, wie das sonst üblich ist?
Schwenninger [GRÜNE]: Ich danke für diesen Impuls.
Herr Abgeordneter, fahren Sie bitte fort.
Die eingangs erwähnte Firma Heckler & Koch produziert das Schnellfeuergewehr G-3 in vielen Ländern der Dritten Welt in Lizenz. Es wurde und wird in über 40 Kriegen, Bürgerkriegen oder bei der Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt,
so wie jetzt z. B. im Golf-Krieg oder in der Provinz Ayacucho in Peru im Kampf gegen den Sendero Luminoso. Die Bundesregierung scheut sich also nicht, Waffen an menschenverachtende Regime zu liefern.
Ebenso kann nicht von einer restriktiven Rüstungsexportpolitik gesprochen werden; denn kein Land hat in den 70er Jahren seine Rüstungsexporte mehr gesteigert als die Bundesrepublik. Das Anpreisen deutscher Waffen in aller Welt — ich nenne hier nur Saudi-Arabien durch Bundeskanzler Kohl, unterstützt durch seinen Koalitionspartner, wird diese Tendenz noch verstärken. Deutsche Panzermotoren sollen neuerdings auch nach Südkorea geliefert werden, wenn ich die „Zeit" richtig gelesen habe.
Von Beschränkungen bei Waffengeschäften kann also keine Rede sein.Das Grundgesetz jedoch verpflichtet die Regierung, ,,... dem Frieden der Welt zu dienen .. ", erklärt die Achtung der Menschenrechte zur Grund-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2445
Schwenningerlage staatlichen Handelns und stellt „Handlungen, die geeignet sind ..., das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören ..." als „verfassungswidrig" unter Strafe. Müßte die jetzige Bundesregierung — wie auch ihre Vorgängerin — angesichts ihrer Genehmigungspraxis bei Rüstungsexporten nicht bestraft werden, weil sie verfassungswidrig gehandelt hat?
Wo werden in der Türkei, in Argentinien, in Südafrika, in Chile, in Peru oder in Südkorea die Menschenrechte geachtet?
Und in diesem Zusammenhang will ich auf die Äußerungen von Herrn Kohl von heute morgen eingehen, als er den Hunger in der Dritten Welt angesichts des Rüstungswettlaufs beklagte: Wenn dies wirklich ein Anliegen wäre — und ich bezweifle dies —, dann müßte Herr Kohl auch politisch anders handeln.
Hier weiß doch die Rechte nicht, was die Linke tut.
In einem Buch, das Ihnen nicht ganz unbekannt sein dürfte, wird dieses Verhalten den Pharisäern zugeschrieben.Die GRÜNEN klagen diese Unterstützung von Menschrechtsverletzungen an und wenden sich entschieden gegen diese Politik.
Waffenexporte an unterdrückerische Regime in der Dritten Welt
mißachten die Menschrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Rüstungsexporte dienen nicht der Entwicklung der Dritten Welt. Im Gegenteil, sie verschärfen die Konflikte, verschlingen wertvolle Ressourcen und schaffen neue Abhängigkeiten von den Industrieländern.
Rüstungsexporte lösen die Probleme der Länder der Dritten Welt nicht; vielmehr steigt ihre Verschuldung, die inneren Spannungen verschärfen sich, und Kriege und Bürgerkriege werden wahrscheinlicher. Und vor allem: Rüstung tötet. Rüstung tötet nicht nur im Krieg, sondern auch im Frieden; denn durch Aufrüstung werden die Ursachen von Hunger, Krankheit und Fehlentwicklung nicht beseitigt.
Ich möchte das, was ich gesagt habe, an einem konkreten Beispiel belegen: Diesen Sommer hielt ich mich in Peru auf, einem Schwerpunktland bundesrepublikanischer Entwicklungs- und leider auchMilitärhilfe. Unter anderem wurden dorthin bisher sechs U-Boote verkauft, Militärfahrzeuge en masse, Hubschrauber und das vorhin erwähnte G-3-Gewehr geliefert. Milliardenkosten!Wie sieht die Kehrseite dieser Waffenkäufe für die peruanische Bevölkerung aus? Da der Staat die Provinzen vernachlässigt, strömen immer noch täglich Tausende in die Randsiedlungen von Lima.
In den Slums wird die Situation immer schlimmer. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 80 %. Die Hälfte der Kinder stirbt im Alter von bis zu fünf Jahren.
Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal.Kinder wühlen in den Abfallhaufen nach Eßbarem.
— Aber sicher —. Arbeiter holen unter menschenunwürdigen Bedingungen die Metalle aus den Bergwerken, die anschließend zu Schleuderpreisen in die Industrieländer exportiert werden. Campesinos hungern, während auf den besten Böden Baumwolle für den Export produziert wird. Die von den Arbeitern und Campesinos erwirtschafteten Devisen werden in die für die Entwicklung des Landes sinnlosen und teuren Rüstungskäufe gesteckt.
Wie würde eine am Frieden orientierte Politik aussehen? Die ausländischen Rüstungslieferungen müßten gestoppt und die entsprechenden Gelder für den Kampf gegen den Hunger eingesetzt werden.
Der innere Frieden in Peru und in den anderen Ländern der Dritten Welt wäre eher hergestellt, wenn unsere Rüstungsexporte ein Ende hätten. Dieser Gesichtspunkt muß mit eingebracht werden, wenn wir am heutigen Tag gegen die Raketen in unserem Lande zu Felde ziehen. Kein Frieden ohne die Dritte Welt! Rüstung tötet auch ohne Krieg!
Diesen Zusammenhang haben die vielen DritteWelt-Gruppen in unserem Land erkannt. Wir wollen sie hiermit auffordern, noch konsequenter und noch deutlicher Rüstungsexporte in die Dritte Welt anzuklagen und zu bekämpfen.
Auch in den Gewerkschaften wird die Diskussion über die Rüstungskonversion vorangetrieben. Wir sehen hier schon ganz hoffnungsvolle Zeichen.
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2446 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
SchwenningerDie Kirchen erheben immer mehr ihre mahnende Stimme. Ich erwähne nur die Erklärung von Vancouver.Zum Schluß möchte ich den Bischof Calderón von Puno in Peru, dem derzeitigen Dürrekatastrophengebiet, zu Wort kommen lassen. In seinem Brief an uns nimmt er gegen die Aufstellung der Raketen Stellung und bringt diese in Zusammenhang mit der Hungersnot in seiner Diözese, in der es zwei Jahre lang nicht geregnet hat und der die Regierung von Lima nicht hilft:Ihr, wie viele Bürger der entwickelten Länder, übersatt an Gütern des Lebens, seid damit auf der Suche nach dem Tod. Wir dagegen sind ausgehend von unserem Glauben auf der Suche nach dem Leben, wir, die nichts haben als Not und Elend. Wir wollen das Leben verteidigen gegen den Krieg, gegen die Ungerechtigkeit, den Egoismus, die Aufrüstung. Wie eure Bewegung fordern wir Brot statt Waffen, Freiheit statt Terror, Frieden statt Gewalt, Leben statt Tod.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Schwenninger außerordentlich dankbar, daß er das Thema Dritte Welt angesprochen hat, weil ich bei aller Bedeutung der Frage, über die wir heute und morgen beraten, doch der Meinung bin, daß Not, Hunger und Unterdrückung in der Dritten Welt viel mehr Kriegsgefahren für die Welt insgesamt und auch für uns in sich bergen als die Frage, über die wir heute und morgen beraten und zu entscheiden haben.
Das relativiert aber nicht die Bedeutung der Entscheidung, über die wir debattieren und über die wir zu entscheiden haben.
Ich möchte auf einige der Argumente eingehen, die die Koalitionsparteien gegen die SPD ins Feld geführt haben. Da ist zuerst das Argument des Bündnisses. Die Koalitionsparteien — dies interessanterweise genauso wie eine Minderheit innerhalb der Friedensbewegung — versuchen den falschen Eindruck zu erwecken, als sei die Entscheidung über die Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen gleichzeitig eine Entscheidung für oder gegen das westliche Bündnis, gegen die NATO.
Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Stationierung ab.
Die Mehrheit der Bevölkerung aber unterstützt das westliche Bündnis und unsere Mitgliedschaft im westlichen Bündnis.
Ich meine, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien aus kurzfristigen taktischen Erwägungen den Versuch machen, die Mehrheit für das Bündnis zu nutzen, um die Mehrheit gegen die Stationierung zu verkleinern oder sogar in ihr Gegenteil zu verkehren. Das ist taktisch verständlich, objektiv aber politisch verantwortungslos.
Es ist deshalb politisch verantwortungslos, weil diese Art von Argumentation von einem fälschlich behaupteten engen Zusammenhang zwischen der Stationierungsentscheidung und der Bündnisfrage von einem Teil der Friedensbewegung aufgegriffen wird. Allerdings führt ihre Schlußfolgerung diese dann nicht zu einem Ja zur Stationierung, sondern zu einem Nein zum Bündnis. Insofern trägt die Bundesregierung für diese Diskussion eine politische Mitverantwortung.
Es ist deshalb kein Zufall, daß die GRÜNEN am letzten Wochenende als Reflex dieser Argumentation der Bundesregierung die Forderung, aus der NATO auszutreten, beschlossen haben. Die Bundesregierung ruft zwar jetzt „Haltet den Dieb!", aber sie hat selber die Begründungen geliefert, mit denen heute die Gegner der NATO-Mitgliedschaft argumentieren.
Oder will die Bundesregierung etwa ernsthaft behaupten, daß, wer j a zur NATO sagt — —
— Nein, Oskar Lafontaine hat diesen Punkt aufgegriffen. Ich gehe gern auf Ihren Zwischenruf ein, denn ich habe ihm damals widersprochen. Er hat auf die Argumentation reagiert, mit der Sie operieren. Sie sagen nämlich, diese Stationierung und diese Reagan-Strategie seien notwendiger Bestandteil der NATO. Das hat er übernommen und hat gesagt:
Wenn das der Fall ist, komme ich zu einer kritischen Bilanz, zu einer kritischen Einstellung zur militärischen Integration der Bundesrepublik in die NATO.
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Voigt
Ich sage: Das ist nicht der Fall! Aber Sie leisten diesen Argumenten Vorschub, und dem müssen wir im Interesse der NATO widersprechen.
Hat denn etwa Norwegen die Bereitschaft erklärt, Pershing II zu stationieren? Und ist es nicht ein treues Mitglied der NATO? Und wie verhält es sich mit Frankreich? Frankreich ist für die Stationierung von Pershing II, aber nicht bei uns.
Es warnt vor einem deutschen Neutralismus. Aber ist Frankreich in die NATO militärisch integriert? Im Gegensatz zu uns ist es das nicht. Wir bejahen unsere militärische Integration.
Ist es etwa nicht verständlich, wenn große Teile der Offentlichkeit bei uns den Eindruck haben, dieses Bekenntnis der Franzosen zur Stationierung sei weniger eine Konsequenz ihrer atlantischen Treue als ein Ausdruck des Vorrangs ihrer eigenen nationalen Sicherheits- und Verteidigungspolitik?Ich möchte ein Argument an unsere französischen Freunde, die hier häufig zitiert werden, richten: Wenn Frankreich das Wiedererwachen eines künftigen deutschen Nationalismus nicht will, muß es seinen gegenwärtigen Nationalismus in der Verteidigungspolitik im Interesse Europas und der atlantischen Gemeinschaft überwinden.
Die Bundesregierung hat heute wiederholt versucht, mit dem Begriff des sowjetischen Monopols bei landgestützten Mittelstreckenwaffen den falschen Eindruck zu erwecken, die NATO sei wehrlos, wenn den sowjetischen SS-20-Raketen nicht mit der Gegendrohung von Pershing II und Cruise missiles entgegnet würde. Diese Panikmache ist militärisch unbegründet und politisch irreführend.
Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß selbst führende Militärs bei uns und in den Vereinigten Staaten die militärische Bedeutung des Monopols in einer einzigen Kategorie von Nuklearwaffen bezweifeln, zumal alle künftigen Ziele von Pershing II und Cruise missiles bereits heute durch Nuklearwaffen der USA bedroht werden.In Wirklichkeit geht es bei unserem Streit nicht vorrangig um Waffentechnologien. Das ist zwar auch der Fall, aber es geht vielmehr um den Streit um die richtige Politik im Bündnis und um die richtige Politik des Bündnisses.
Die Stationierung von Pershing II und Cruise missiles, so wurde gesagt, soll die Risikoverkoppelungzwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa festigen. In Wirklichkeit hat die Auseinandersetzung über die Stationierungsfrage aber zur psychologischen Entkoppelung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten beigetragen.Die Friedensbewegung ist nicht Ursache, sondern Ergebnis einer Vertrauenskrise.
Die Befürchtung, daß die Schutzgarantie der Vereinigten Staaten nicht mehr glaubwürdig sei, ist keine Erfindung der Friedensbewegung.
— Nein, nicht nur von Strauß. Seitdem die USA selber durch Raketen der Sowjetunion bedroht werden können, sind doch führende westliche Politiker und Militärs immer wieder zu der Frage veranlaßt worden, ob die amerikanische Schutzgarantie glaubwürdig sei. Und wie anders ist denn de Gaulles Antwort mit der „force de frappe" zu verstehen? Wie anders ist die „flexible response" zu verstehen? Und es ist doch überhaupt keine Frage, daß Helmut Schmidts Rede vor dem Londoner Institut 1977 zuerst eine Kritik an den Vereinigten Staaten war, weil er meinte, daß sie in ihrer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion die europäischen Interessen nicht genügend beachtet hätten.Heute ist es eine Tatsache, daß die Reagan-Administration in ihrer Konfrontation mit der Sowjetunion westeuropäische Interessen nicht genügend beachtet.Ich will es einmal bildlich sagen: Für den Rasen ist es ziemlich egal, ob sich zwei Elefanten balgen oder lieben. In beiden Fällen muß der Rasen -- der europäische Rasen sind wir — darauf achten, daß seine Interessen gegenüber diesen beiden Elefanten durchgesetzt werden.
Der verteidigungspolitische Teil des NATO-Doppelbeschlusses, ursprünglich als Instrument der Risikoverkoppelung zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa gedacht, wird auf Grund der Politik der Reagan-Administration heute von der Friedensbewegung als Instrument zur regionalen Begrenzung des Atomkrieges verstanden. Diesem Verständnis der Friedensbewegung kann man widersprechen. Aber man kann es nicht mit letzter Gewißheit widerlegen, weil die NATO-Doktrin der „flexible response" in sich selber ambivalent ist.
Die gleichen militärischen Instrumente können sowohl zur Begrenzung eines regionalen Krieges wie auch zur Vermeidung eines solchen verstanden werden.Welche Deutung man der „flexible response" bzw. ihrer militärischen Instrumentierung jeweils gibt, hängt von dem Vertrauen in denjenigen ab, der über den Einsatz der „flexible response" entscheidet, und das ist der amerikanische Präsident. Deshalb ist die gegenwärtige Diskussion über die Möglichkeit zur Begrenzung eines Nuklearkrieges auf
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2448 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
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Europa primär eine Mißtrauenserklärung an den amerikanischen Präsidenten Reagan.Da seine bisherige Politik nicht durch einen Mangel, sondern durch ein Übermaß an Rüstung, an militärischen Drohgebärden und militärischen Interventionen geprägt ist, kann das Vertrauen zur Führung der USA doch nicht durch die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen noch verstärkt oder wieder bewirkt werden. Im Gegenteil, eine größere Kompromißbereitschaft der USA würde ihre friedenspolitische Glaubwürdigkeit und damit gleichzeitig die politische Koppelung zwischen den USA und Westeuropa erneut festigen.
Der Beginn der Stationierung schadet beiden Zielen und damit auch der NATO. Das ist unsere politische Begründung für unser Nein zum Beginn der Stationierung.
Sie meinen, daß Entschlossenheit gegenüber der Sowjetunion und Durchsetzungsfähigkeit gegenüber der Friedensbewegung durch die NATO unter Beweis gestellt werden muß. Wo wir Sozialdemokraten dem Kompromißwillen in der Außenpolitik und der Versöhnung in der Innenpolitik den Vorrang geben, setzen Sie auf militärische Stärke und politische Härte. Dieser Gegensatz trennt Sozialdemokraten und Christdemokraten seit den 50er Jahren.
Wir bleiben dabei: diese Politik militärischer Stärke ist Ausdruck politischer Schwäche, und bei manchen ist sie auch Ausdruck psychologischer Schwäche. Denn nicht anders kann ich die Fixierung von Franz Josef Strauß und Alfred Dregger auf die Pershing II verstehen. Ich verstehe sie als eine Kompensation ihrer Spenglerschen Visionen vom inneren Zerfall, der äußeren ErpreBbarkeit und vom drohenden Untergang des Abendlandes.Liebe Kollegin Hellwig, Ihre Rede war, um es ironisch zu formulieren, zwar ein gelungener Beitrag zur Abschreckung,
aber Ihre äußere Aggressivität war in Wirklichkeit Ausdruck von Angst, Angst vor der, Sowjetunion, Angst vor dem Kommunismus und Angst vor dem innenpolitischen Gegner. Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Wenn Sie der Friedensbewegung Angst vorwerfen, dann sage ich Ihnen: Ihre Politik ist von Angst geprägt und aus Angst geboren.
Wir halten eine ausreichende Verteidigungsfähigkeit der NATO für erforderlich, aber wir hoffen ebenso wie die holländische Gesangsgruppe „bots" auf das weiche Wasser, das den harten Stein bricht. Denn was hat die Politik der militärischen Stärke in den 50er Jahren für Europa gebracht?
— Sie sagen „sehr gut", aber nach meiner Einschätzung waren die Ergebnisse negativ. Positiv sind demgegenüber die sogenannten Ergebnisse einer weichen Politik, nämlich der Entspannungspolitik, der Friedenspolitik, der Versöhnungspolitik nach 1969.
Ich sage darüber hinaus: Wer immer im Ost-West-Konflikt nach nuklearer Überlegenheit strebt, wird erleben, daß nukleare Überlegenheit in der einen oder anderen Waffenkategorie angesichts der bereits vorhandenen wechselseitigen nuklearen Vernichtungsdrohungen politisch kein Machtinstrument in die Hand gibt. Dies ist gut so, und es gilt, diese Einsicht zu beschleunigen.Wir vertreten das Konzept der Sicherheitspartnerschaft, das Konzept der gemeinsamen Sicherheit. Wir vertreten es nicht etwa, weil wir leugnen, daß es einen Macht- und Systemkonflikt zwischen Ost und West gibt, sondern wir wollen, daß mit diesem Macht- und Systemkonflikt anders als bisher umgegangen wird. Wir wissen, daß NATO und Warschauer Pakt weiter potentielle militärische Gegner sind. Insofern müssen nicht nur irrationale Sicherheitsängste abgebaut, sondern es müssen auch Sicherheitsprobleme gelöst werden. Ich gehe davon aus, daß die Sowjetunion nicht beabsichtigt, uns anzugreifen; aber selbstverständlich ist es so, daß die Sowjetunion, solange sie in ihrem Einflußbereich gesellschaftlichen Pluralismus nicht achtet, respektieren muß, daß wir uns vor ihrem Einflußbereich schützen müssen, im Namen unserer Freiheit, zum Schutze unserer Freiheit und auch zum Schutze vor ihren Machtinteressen.
— Mit einer ausreichenden Verteidigungsfähigkeit. Damit Sie den Freiheitsbegriff nicht wieder so verengen, wie Sie es gern machen, füge ich hinzu: Freiheitsrechte und kapitalistische Marktwirtschaft sind nicht dasselbe.
Innerhalb der demokratischen Grundordnung ist der Streit darüber, welche Wirtschaftsordnung demokratischer und sozialer ist, welche Zweckbestimmung der Wirtschaft z. B. im Spannungsfeld zwischen persönlichem Gewinnstreben und Umweltschutz humaner ist, legitim und notwendig. Innerhalb dieses demokratischen Streites und demokratischen Konsenses bewegen sich trotz aller sonstiger Meinungsverschiedenheiten alle Parteien des Bundestages, auch die GRÜNEN.
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— Innerhalb dieses demokratischen Grundkonsenses.
Um es zusammenzufassen: Unsere Perspektive für das Jahr 2000 ist nicht das „air-land-battle 2000", sondern es ist eine europäische Friedensordnung für das Jahr 2000, und diese europäische Friedensordnung kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, den Macht- und Systemkonflikt zwischen Ost und West zunehmend zu entmilitarisieren. Dies scheint heute noch utopisch zu sein. Es ist dies aber eine notwendige Perspektive, um Frieden in Europa nicht nur erhalten, sondern auch gestalten zu können.Ich akzeptiere die Forschungsleistung von Konrad Lorenz, aber ich teile nicht sein pessimistisches Weltbild. Der Mensch ist schließlich keine Graugans.
Es steht nirgendwo geschrieben, daß der Mensch zwar Technik revolutionieren kann, sich im zwischenmenschlichen und zwischenstaatlichen Verhalten aber weiterhin wie ein Raubtier verhalten muß. Ich sage das deshalb, weil Bundeskanzler Kohl in seiner Rede heute von einem prinzipiell pessimistischen Menschenbild ausging.
Nach diesem Menschenbild muß der Mensch sich weiterhin wie ein Wolf gegenüber dem Mitmenschen verhalten.
Wenn Bundeskanzler Kohl sagt, daß die Bergpredigt keine Aufforderung sei, die Wirklichkeit zu verleugnen, hat er zwar recht, aber wenn er nicht hinzufügt, daß die Bergpredigt eine Aufforderung ist, die Welt zu verändern, ist das das entscheidende Manko seines Beitrags und die entscheidende Lücke der gesamten CDU/CSU-Politik.Angesichts der vorhandenen Massenvernichtungswaffen — das begreifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, offensichtlich nicht — muß der Mensch, wenn er noch Zukunft haben will, seine bisherige kriegerische Vergangenheit hinter sich lassen. Diese kriegerische Vergangenheit hinter sich zu lassen, heißt auch, mit den Atomwaffen nicht mehr so umzugehen, als seien es herkömmliche Waffen,
und sie nicht als Fatum, als etwas Gegebenes, als etwas Unabwendbares im Ost-West-Konflikt hinzunehmen. Es gilt, die nukleare Bedrohung schrittweise zu überwinden und Wege zur gewaltfreien Friedensordnung zu bahnen. Es geht im übertragenen Sinne heute darum, zwischen Ost und West einen neuen Religionsfrieden zu organisieren, ohne das vorher Macht- und Systemkonflikte zum Krieggeführt haben. In diesem Haus gibt es Katholiken und Protestanten.
— Auch Heiden. Es ist noch besser, wenn es alle drei gibt. Demnächst gibt es vielleicht auch noch einige, die dem Islam angehören.Solche Konflikte sind früher mit bewaffneter Gewalt ausgetragen worden. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis man gelernt hat, daß solche Konflikte, die als Überzeugungskonflikte weiterbestehen, ohne bewaffnete Gewalt ausgetragen werden können. Dieser Lernprozeß hat deshalb nicht zufälligerweise in Europa zur Idee der Toleranz und zur Idee des politischen Pluralismus geführt.
Warum soll es nicht möglich sein, solche Regeln und solches Verhalten schrittweise auch im Macht-und Systemkonflikt zwischen Ost und West zu vereinbaren und zu erlernen?
Gibt es nicht erste Ansätze zu einer solchen Friedensordnung im KSZE-Prozeß? Würden nicht die Bestimmungen der KSZE-Schlußakte, wenn sie konsequent verwirklicht sind, wie ein Toleranzedikt eines 20. Jahrhunderts wirken? Innerstaatliche Toleranz und zwischenstaatliche Vertrauensbildung haben bei früheren gesellschaftlichen Konflikten lange gebraucht, ehe sie sich durchgesetzt haben. Dies ist ein Lernprozeß. Diesen Lernprozeß kann man aber nur beginnen, wenn man in der Sowjetunion nicht nur das Böse sieht, sondern wenn man in ihr den zukünftigen Partner sieht, wenn man nicht nur in den Russen Menschen sieht,
sondern wenn man auch in der sowjetischen kommunistischen Führung Menschen und Leute sieht, die auch den Frieden wollen.
Das heißt nicht, ihre Interessen zu akzeptieren. Das heißt nicht, ihre Machtinstinkte einfach hinzunehmen. Das heißt nicht, sich gegenüber ihren Drohpotentialen zu beugen. Es heißt aber, gegenüber der Wirklichkeit, die heute Europa prägt, die künftige Wirklichkeit einer europäischen Friedensordnung zu eröffnen, in der NATO und Warschauer Pakt ihre Funktionen verlieren. Es sollte die Politik der NATO sein und die NATO-Politik wieder werden, sich selber überflüssig zu machen.Die NATO ist kein Grundwert, sondern sie ist nur das wert, was sie zum Schutz unserer Grundwerte beiträgt.
Wenn dieser Schutz unserer Grundwerte ohne NATO möglich ist, dann brauchen wir auch keine NATO mehr. Dies ist die Hoffnung und die Perspektive für eine Überwindung der Spaltung Europas und eine Überwindung der Spaltung Deutschlands. Dies entspricht unseren Zielen, dies entspricht unseren Interessen.
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2450 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
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Aber aussteigen aus unserer geographischen Lage können wir nicht.
Es würde deutschen Interessen widersprechen, wenn wir den Versuch machen sollten, aus der NATO auszusteigen. Blockgegensätze überwinden: ja; bei Fortbestehen der Blockgegensätze aus der NATO aussteigen: nein.
Aussteigen aus der NATO heißt heute faktisch: Renationalisierung der Sicherheitspolitik. Renationalisierung der Sicherheitspolitik ist kein erster Schritt zu einer europäischen Friedensordnung. Renationalisierung der Sicherheitspolitik wäre ein Rückschritt, kein Fortschritt.
Deshalb ist es nicht zufällig, daß gerade das Grundgesetz sehr viele Möglichkeiten eröffnet, nationale Souveränität auf internationale Einrichtungen zu übertragen. Das ist die Lehre unserer Geschichte. Deshalb sollten Deutsche im Bündnis, im KSZEProzeß, in der UNO, in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, in der EG und in der gesamteuropäischen Zusammenarbeit den Gegensatz zwischen Ost und West zu überwinden versuchen. Sie sollten versuchen, eine europäische Friedensordnung zu gestalten.Aber ich sage Ihnen — dies ist jetzt direkt an die Adresse der GRÜNEN gerichtet —: Die gleichen, die die deutsche Friedensbewegung im Ausland unterstützen, vielleicht sogar diejenigen, die für sich selber mit dem Gedanken spielen, aus der NATO auszutreten, sind daran interessiert, den Faktor deutsche Sicherheitspolitik in Ost und West weiter unter Kontrolle zu halten. Wer vom Zweiten Weltkrieg und seinen Ergebnissen spricht, wer von Holocaust spricht, der darf nicht verschweigen, daß deutsche nationale Sicherheitspolitik zweimal entweder zu einem Weltkrieg beigetragen hat oder direkt zum Weltkrieg geführt hat. Deshalb haben europäische Nachbarn in Ost und West einen legitimen Anspruch, über unsere Sicherheitspolitik mitentscheiden zu wollen.
Dies ist in der Vier-Mächte-Verantwortung für Berlin symbolisiert, aber dies entspricht darüber hinaus auch der realen Interessenlage unserer Nachbarn in Ost und West.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Ich sage meinen Schlußsatz, vielleicht danach.
— Gut, bitte sehr, Herr Stratmann, wenn ich noch einen Schlußsatz anfügen darf.
Herr Voigt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Forderung der GRÜNEN und eines Teils der Friedensbewegung nach Austritt aus der NATO und Auflösung beider Blöcke mit der langfristigen Zielsetzung einer sozialen Verteidigung einhergeht und daß Ihr Schreckgespenst „Austritt aus der NATO" mit einer nationalistischen Militärpolitik einhergehen könnte, die vielleicht Ihren eigenen Ängsten entspricht, aber nicht unserer friedenspolitischen Perspektive und auch nicht der friedenspolitischen Perspektive eines Teils der Friedensbewegung?
Herr Stratmann, wenn es so einfach wäre, wie Sie sagten, würde ich mich freuen, aber es gibt neben einem gesunden Patriotismus, den ich bejahe, auch einen wiedererwachenden naiven Nationalismus von links, nicht nur von rechts. Rudolf Bahro ist ein Beispiel dafür.
Wenn er sagt — so ist das im Kern —: Besatzungsmächte in Ost und West raus aus Deutschland, laßt die Deutschen ihre Sache wieder selber in die Hände nehmen!, dann ist das geschichtslos.
Es ist völlig klar, daß eine solche Politik unsere Nachbarn nicht mit Freude erfüllt, auch wenn sie für die Friedensbewegung sind. Es erfüllt sie mit Ängsten. Deutsche werden Friedenspolitik nur in dem Maße gestalten können und dürfen, in dem sie die Interessen und Ängste unserer Nachbarn in Ost und West berücksichtigen und sie diese Interessen und Ängste in ihre Politik einfließen lassen. Das ist ein freiwilliger Verzicht auf Souveränität, eine freiwillige Zurücknahme in dem Prozeß der Durchsetzung unserer eigenen Interessen. Aber diese freiwillige Zurücknahme ist die notwendige Konsequenz unserer eigenen Geschichte.
Das Wort hat der Abgeordnete Höffkes.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Zunächst darf ich mich einmal herzlich dafür bedanken, daß Sie nach 14 Stunden Debatte hier noch aushalten. Danke schön.
Ich möchte meinen, daß kein Thema die öffentliche Diskussion im politischen wie auch im kirchlichen Bereich so stark wie die Frage der Friedenssicherung bewegt. Seit dem NATO-Doppelbeschluß im Dezember 1979 ist auch der Öffentlichkeit deutlich geworden, daß die Entspannung, an die fast über ein Jahrzehnt hinweg geglaubt wurde, zusammengebrochen ist. Durch den NATO-Doppelbeschluß ist der Öffentlichkeit deutlich geworden, daß die Sowjetunion die Phase der Entspannung dazu benutzt hat, einseitig aufzurüsten und insbesondere im Bereich der Mittelstreckenraketen eine
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Höffkesneue Bedrohung für die westeuropäischen Staaten entstehen zu lassen.Kurioserweise ist jedoch nicht diese Vorrüstung in die Kritik der Rüstungsgegner geraten, sondern der Doppelbeschluß der NATO, der beinhaltet, daß erst dann nachgerüstet werden soll, wenn sich die Sowjetunion auf dem Verhandlungsweg nicht dazu bereit erklärt, ihre einseitig aufgestellten SS 20 zu beseitigen.
Mit tiefer Sorge sehen wir, daß sich die Furcht wie ein giftiger Nebel über der Menschheit ausbreitet.
Zum erstenmal ist weiten Teilen der Bevölkerung das Ausmaß der Gefahr bewußt geworden, die durch die Atomkraft die Welt bedroht. Zugleich ist offenbar geworden, daß bis zur Stunde kein Mensch einen Ausweg aus dieser Not sieht.Ich meine, wir handeln unchristlich, wenn wir an die Stelle der Furcht vor Gott die Angst vor der entfesselten Atomkraft treten lassen.
Wir dürfen unser Vertrauen nicht auf eine selbstgeschaffene Sicherheit setzen, weder auf den Besitz von Atomwaffen, noch auf den Verzicht auf diese Waffen.Daß die Menschheit über die Kräfte des Atoms Macht gewonnen hat, entspricht dem Schöpfungsauftrag. Und damit ist dem Menschen eine ungeheure Verantwortung auferlegt.
Die christlichen Kirchen haben unablässig gemahnt, die Atomkraft nicht zum Werkzeug der Zerstörung zu machen. Es geht um den Menschen. Es gilt, nicht die Akte der Schöpfung zu ächten, sondern dem Menschen in den Arm zu fallen, der diese Akte mißbrauchen will. Und das muß bei allen Völkern geschehen.Niemals hat sich der Mensch so ohnmächtig gezeigt wie in dieser Stunde seiner großen Macht. Er steht vor zwei unheimlichen Möglichkeiten: entweder die Freiheit und Würde des Menschen im Kampf der weltpolitischen Machtblöcke zu verlieren oder es geschehen zu lassen, daß in dem apokalyptischen Schrecken eines Atomkriegs die physische Existenz von Millionen ausgelöscht wird, oder als Alternative hierzu die These der atomaren Abschreckung durch Aufrechterhaltung des annähernden Gleichgewichts der Kräfte als Friedenssicherung zu akzeptieren.Auf den Staatsmännern, die heute die Geschicke der Völker bestimmen, ruht eine beispiellose Verantwortung, somit auch auf Regierung, Parlament und Parteien, die bei uns Verantwortung tragen.
Es ist ein Verstoß gegen diese Verantwortung, wenn die Atomfrage und damit der NATO-Doppelbeschluß als bloßes parteipolitisches Kalkül oder Taktik zur Machtgewinnung mißbraucht werden.
Die Meinungsbildung beschränkt sich nicht auf den politischen Bereich, sondern hat längst Eingang in die Diskussion der Kirchen gefunden. Im Bereich der evangelischen Kirche haben sich sehr unterschiedliche Stellungnahmen herauskristallisiert, die sich kontrovers gegenüberstehen.Es gibt vier wesentliche Aussagen: die der Reformierten Kirche und des Ökumenischen Rates, die gemeinsame Erklärung der Evangelischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, die der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und die der Konferenz Bekennender Gemeinschaften.Die Friedensthesen des Reformierten Bundes fanden große Aufmerksamkeit. In den Grundthesen wurden sie u. a. von Franz Alt in „Frieden ist möglich — die Politik der Bergpredigt" verarbeitet. Wer sich weiter orientieren will, möge einmal Manfred Hättich „Weltfrieden durch Friedfertigkeit"
oder Trutz Rendtorff „Mit der Bergpredigt regieren?" lesen.Die Beschlußvorlage beinhaltet ein bedingungsloses Nein gegen alle Massenvernichtungsmittel und verurteilt die Entwicklung, Produktion, Aufstellung und Anwendung atomarer, bakteriologischer und chemischer Waffen. Die Tatsache, daß derartige Massenvernichtungsmittel entwickelt und produziert werden, wird als Sünde und als „offenkundige Verleugnung Gottes" bezeichnet. Die Mitgliedskirchen werden aufgefordert, bei ihren Regierungen auf einseitige Abrüstungsschritte zu drängen. Damit hat sich der Reformierte Bund gegen eine Abschreckungsstrategie gewendet, die in Wirklichkeit ein Gleichgewicht des Schreckens sei. Es heißt:Unsere Einstellung gegenüber Massenvernichtungsmitteln muß von unserem Glauben bestimmt sein.Es handelt sich dabei „um eine Bekräftigung oder Verleugnung des Evangeliums".In seinen Anregungen und Empfehlungen fordert der Reformierte Weltbund seine Mitgliedskirchen auf, dafür einzutreten, daß atomwaffenfreie Zonen errichtet werden und daß unabhängig von Verhandlungen Maßnahmen zur Abrüstung ergriffen werden.Das besonders Herausragende, was vor allem Widersprüche provoziert hat, ist, daß es in den Friedensthesen heißt:Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist für uns der status confessionis— die Bekenntnisfrage —
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2452 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Höffkesgegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.Hier gehe es um die unaufgebbare Substanz des Glaubens und auch um die Frage der Einheit der evangelischen Kirche.Drei wesentliche Behauptungen: Erstens. Die Politik der Aufrüstung und der vorhandenen Waffenarsenale bedeutet „die tägliche Androhung von Terror und Massenmord".Zweitens. Die Entwicklung, Herstellung und Bereitstellung von ABC-Waffen — nicht erst ihre Anwendung — sind unvereinbar mit dem Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer und Erhalter der Welt.Drittens. Das christliche Bekenntnis ist mit der Bejahung oder auch nur Duldung eines „Sicherheitssystems" unvereinbar, das — wie das unsrige — auf Kosten der Hungernden und Elenden der Erde um den Preis ihres Todes erhalten wird.Der soeben vorgetragenen Meinung des sogenannten Reformierten Moderamens und des ÖRK wird von allen anderen großen protestantischen Gemeinschaften massiv widersprochen.Die Kirchenleitung der VELKD bestreitet, daß es nur einen denkbaren politischen Weg zur Erhaltung des Friedens gibt. Sie weiß sich mit allen Politikern verbunden, die sich im politischen Alltag von ihrem christlich gebundenen Gewissen die Maßstäbe setzen lassen und dabei möglicherweise bei unterschiedlichen Erfahrungen und Einsichten auch zu verschiedenen Entscheidungen kommen. Sie kann verantwortlichen Frauen und Männern die Last der Verantwortung nicht abnehmen. Diese sollen jedoch wissen, daß erwartet wird, daß sie allein das tun, was dem Frieden dient.Wir können dem Aufruf des reformierten Moderamens nicht zustimmen politische Entscheidungen, selbst solche auf Leben und Tod, zu Bekenntnisfragen der Kirchen zu erklären.
Die Kirche steht und fällt mit ihrem Bekenntnis. Allein im Glauben entscheiden sich Heil oder Unheil der Menschen. Es ist falsch, den völligen Verzicht auf atomare Verteidigung zur einzigen christlich vertretbaren und zu rechtfertigenden Handlungsweise zu erklären. Das Neue ist, daß es für die reformierten Brüder nur noch einen denkbaren politischen Weg zum Frieden gibt, nämlich den des Nuklearpazifismus. Sie sagen, der Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, kann nicht länger als eine christlich vertretbare und zu rechtfertigende Handlungsweise anerkannt werden. Es geht den Reformierten nämlich nicht allein um den Frieden. Da gibt es unter Christen überhaupt keine Meinungsverschiedenheit. Es geht ihnen um die einzelnen militärischstrategischen und politischen Schritte auf dem Wege dahin.Die Bekenntnisfrage ist anläßlich der geplanten Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa angesprochen. Denn, so sagen sie, damit laufen politische und strategische Pläne darauf hinaus,den Atomkrieg führbar zu machen, die Chance des Erstschlages zur „Entwaffnung" des Gegners zu ermöglichen und das Risiko der nuklearen Vernichtung zu begrenzen. Der NATO-Nachrüstungsbeschluß bringe das Faß zum Überlaufen und mache darum das Bekenntnis gegen jede Art von Nuklearverteidigung nötig.Schon Luther hat Verkündigung und Leben strikt unterschieden, und zwar um des Lebens willen. Bekennen kann man nur die Ehre Gottes und die eigene Schuld. Bekennen heißt demnach auch, daran festzuhalten, daß Gott — und nicht wir — der Herr der Geschichte bleibt. Das hat Karl Barth nicht anders gesehen als Luther:Hat man nur Ansichten und Überzeugungen zur Hand, dann mag man die äußern oder nicht äußern, zum Bekenntnis aber ist man dann tatsächlich nicht reif.Wir wenden uns auch gegen eine Theologie der Angst, obwohl wir selber, menschlich gesehen, verzweifelt sind über das Ausmaß der nuklearen Bedrohung. Angst hat aber keine Offenbarungsqualität.
Werft euer Vertrauen nicht weg. Es gibt eine Zukunft, weil unser Leben in besseren Händen als in unseren eigenen liegt. Es gibt eine Hoffnung. Das hat uns Luther heute zu sagen.Luther war ein Realist. Er wußte: vor Gott kann kein Mensch bestehen. Wir können die Menschen nicht aus unserem eigenen Wesen heraus spontan und umfassend lieben, wie es unsere Bestimmung wäre. Das Vertrauen auf Gott ruft uns aus der Zukunftsangst und aus der Furcht der empfindlichen Gewissen heraus. Dies ist die Aktualität für ratlose, zukunftsbesorgte, sich ungeborgen fühlende Menschen. Wissenschaftlich verstehendes Denken und unsere Welterfahrung erreichen nie die ganze Wirklichkeit. Daraus entstehen Nöte und Krisen unserer Epoche.Mit der Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche sehen wir den kirchlichen Beitrag zum Frieden vor allem darin, der Politik und den politisch Verantwortlichen den Raum zu schaffen, in dem vernünftige und sachgerechte Lösungen möglich werden. Die Generalsynode sagt, daß Christen, auch wenn sie bei verantwortlichem Handeln in Beruf und Gesellschaft zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen, in einer Kirche beieinander bleiben. Die VELKD meint:Außer der Schrift gibt es keine weitere Autorität, auf deren Weisung sich die Christen unbedingt verlassen könnten und die ihr Handeln bestimmen dürften. Dadurch bleiben sie vor der Meinung bewahrt, als gebe es bei verantwortlichen Entscheidungen immer nur eine Handlungsform, die die ganze Wahrheit für sich hat.Eine Theologie, die den Anschein erweckt, das Christentum sei hauptsächlich eine politische Verhaltenslehre, kann sich kaum auf Luther berufen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2453
HöffkesLuther hat auch einer Theologie der Revolution eine Absage erteilt, wenn er schreibt:Aufruhr hat keine Vernunft und geht gemeiniglich mehr über die Unschuldigen denn über die Schuldigen ... Aus Übel wird Ärgeres.Luther setzte sich bereits 1523 eingehend mit den Folgerungen der Bergpredigt für die Politik auseinander, die jetzt so viele bewegen. Das Gebot, dem Übel nicht zuwiderstreben, ist nach ihm für den einzelnen Christen gegenüber anderen Christen, nicht aber in gleicher Weise für das weltliche Regiment verbindlich. Ich zitiere:Darum ein ganzes Land oder die Welt mit dem Evangelio zu regieren sich unterfangen, das ist ebenso, als wenn ein Hirt in einem Stall zusammentäte Wölfe, Löwen, Adler, Schafe und ließ sie jegliches frei unter den anderen gehen ... Hier würden die Schafe wohl Frieden halten und sich friedlich also lassen weiden und regieren. Aber sie würden nicht lange leben, noch ein Tier vor dem anderen bleiben.
Wir sehen Luthers Verhalten als ein Vorbild für die Art und Weise, wie der einzelne Christ auch in einer einsamen Situation Einfluß auf das Weltgeschehen nimmt und zugleich denen, die konkret zu entscheiden haben, Mut macht, zu ihrer Entscheidung zu stehen.Luther rief seiner Zeit zu:Du darfst nicht denken, daß dir der Friede nachlaufen wird; im Gegenteil: Zorn, Unfrieden und Rache werden dir nachlaufen.Man muß daher aktiv für den Frieden eintreten und darf nicht glauben, daß sich dieser durch einseitige Abrüstung von selbst einstellt.
Die Bischofskonferenz der VELKD stellt fest:Die Kirche ist kein Leitbild für den Staat. Lösungen politischer Fragen können nicht unmittelbar aus dem Worte Gottes abgelesen werden.Es ist die Pflicht der Christenheit, mit allen ihr gegebenen Mitteln dafür einzutreten, daß ein Atomkrieg abgewendet wird, und an der Verhinderung von Kriegen und an der organisatorischen Sicherung des Weltfriedens mitzuarbeiten.
Weiter stellt die VELKD fest:
Theologische, politische oder moralische Erklärungen, die in unverbindlicher Allgemeinheit gehalten sind, müssen wirkungslos bleiben.
Der Appell an die Angst vermehrt nur die Panik in der Welt. Vorschläge, die die Sachlage in unzulässiger Weise vereinfachen und keine Wege zur praktischen Durchführung weisen, können dem christlichen Gewissen nicht genügen.Es gehört nicht zum Amt der Kirche, aus Gottes Wort verbindliche politische Einzelanweisungen für die Durchführung der Abrüstung zu geben.Die Generalsynode sagt uns:Auf ein Wort der Ermutigung, aber auch der Orientierung warten heute viele junge Menschen und ihre Eltern, Angehörige der Bundeswehr und Zivildienstleistende, politisch Verantwortliche sowie alle, die sich diesen Fragen stellen müssen.Der Friede, in dem wir leben, ist immer ein Friede über dem Abgrund. Er bleibt umgeben von Risiken und Gefahren unvorstellbaren Ausmaßes. Auch wenn vollkommener Friede auf Erden nicht möglich ist, dürfen wir uns in unserem Eintreten für denselben nicht beirren lassen.
Der Wehrdienst wird bejaht, weil er entsprechend dem Grundgesetz der Verteidigung dient, den Frieden sichern will und einen Raum zur Gestaltung des Friedens offenhält. Die Gewissensentscheidung dessen, der den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, bedarf in gleicher Weise der Achtung und unserer Zuwendung.
Doch muß der Kriegsdienstverweigerer anerkennen, daß andere zu einer anderen Gewissensentscheidung kommen.
Keine der beiden Entscheidungen kann für sich beanspruchen, die allein dem Evangelium gemäße zu sein und einen Weg zu gehen, der ohne Schuld ist und der Vergebung nicht bedarf.Grundlage aller Bemühungen um den Frieden ist wachsendes Vertrauen zwischen den Menschen und Völkern. Darum muß es unsere erste Aufgabe sein, auch mit kleinsten Schritten Vertrauen zu wecken und zu erhalten.
Dazu gehört auch, daß wir Zeichen der Friedensbereitschaft setzen
und zugleich verdeutlichen, wo wir uns zur Wahrung eigenen Rechtes genötigt sehen.
Nur so bleibt die Bereitschaft zum Frieden für den anderen erkennbar und kalkulierbar.Abbau von Ängsten und Verzicht auf Feindbilder sind ebenso erforderlich wie die Klarheit der eigenen Position.
Noch stärker als bisher sollten sich Menschen über Grenzen hinweg einzeln und in Gruppen besuchen, kennen- und verstehen lernen.
Das Exekutiv-Komitee des Lutherischen Weltbundes bekräftigt, daß Frieden nicht nur Abwesen-
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2454 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Höffkesheit von Krieg ist, sondern ein Zustand, bei dem soziale Gerechtigkeit durchgesetzt wird und die Menschenrechte geschützt werden,
daß es keinen dauerhaften Frieden geben kann, solange Menschen hungern, Ungerechtigkeit herrscht und Menschen wegen ihres Glaubens, ihrer Weltanschauung, ihrer Rasse oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit unterdrückt, verfolgt oder diskriminiert werden,
daß in lutherischen Kirchen unterschiedliche Ansichten von Christen über die Methoden zur Förderung des Friedens bestehen und daß Achtung, Dialog und Zusammenarbeit zwischen allen mit unterschiedlichen Auffassungen von wesentlicher Bedeutung sind.
Sie weiß um den Auftrag, auch im politischen Raum die Gewissen zu schärfen. Sie hat aber nicht das Mandat, anderen ihre Gewissensentscheidung abzunehmen oder ihre Gewissensentscheidung zu verwerfen.Mit erheblichen Bedenken sehe ich u. a., daß mancher meint, durch Verstöße gegen das geltende Recht der Forderung nach Frieden Nachdruck verleihen zu wollen. Ich denke auch an den heutigen Tag draußen. Wer sich zu solch einem Schritt entschließt, muß die Folgen seines Handelns tragen.
Ich halte es für unverantwortlich, wenn junge Menschen auf sogenannte Regelverletzungen vorbereitet oder dazu ermuntert werden, obwohl sie oft gar nicht in der Lage sind, die Folgen eines solchen Handelns abzusehen und die Konsequenzen zu tragen.
Ein Recht auf Widerstand nach Art. 20 Abs. 4 GG ist in unserer Situation nicht gegeben.
Wir meinen — und damit komme ich zum Ende, meine Damen und Herren —, die Freiheit ist ein verteidigungswertes Ziel. Der zentrale Punkt der heutigen Diskussion ist, ob man bedingungslosen Frieden — Frieden um jeden Preis, auch den der Unfreiheit — will oder Frieden in Freiheit anstrebt. Deutlich bekennt sich die Konferenz bekennender Gemeinschaften zum Frieden in Freiheit. Sie führt aus, daß angesichts des erklärten Trachtens ideologisch motivierter Großmächte nach Weltherrschaft die einseitige Abrüstung der freien Völker den Frieden und die Freiheit schwer gefährden würden. Gleichzeitig warnt sie vor falschen Friedenspropheten. Es sei vermessen und aussichtslos, das ewige Friedensreich auf dieser Erde aufrichten zu wollen. Wer das versucht, läuft Gefahr, dem totalitären Zwangsfrieden des Antichristen den Weg zu bereiten.
Diese Stellungnahme, meine Damen und Herren, nennt klar die Bedrohung dieses Friedens durch totalitäre Systeme und wendet sich unmißverständlich gegen alle Formen der Unterwerfung. Den Weg zu einem Frieden in Freiheit müssen wir nach bestem Wissen und Gewissen finden. Schrift und Bekenntnis sollen uns als Kompaß dienen. Den richtigen Weg müssen wir selbst finden. — Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die wirklich letzte Wortmeldung heute: Herr Abgeordneter Peter, zehn Minuten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich zunächst, daß ich noch einmal für zehn Minuten das Wort bekomme. Ich hatte zwar vor, länger zu reden, aber ich werde deshalb schneller sprechen.
Die heutige Debatte hat eine außenpolitische und eine sicherheitspolitische Seite, sie hat aber auch eine tief in das demokratische Selbstverständnis unseres Volkes gehende Seite. Das ist in vielen Einzelbeiträgen heute abend deutlich geworden. Tausende, ja Millionen verfolgen unsere Debatte am Fernsehschirm, am Radio mit heißem Herzen, mit Hoffnung, ihr eigenes vielfältiges Engagement könne im Parlament über die Parteigrenzen hinweg noch etwas bewegen. Diese Erwartung vieler Bürger gibt uns Verantwortung, Mitverantwortung für das Hinterher. Resignation gegenüber den politischen Institutionen, gegenüber den Parteien, Ausstieg aus demokratischer Teilhabe sind mögliche schlimme Konsequenzen, aber auch bei einer möglichen Eskalation zur Gewalt — der noch schlimmeren Alternative — werden wir uns vor der Antwort auf die Frage der Mitverantwortung nicht drücken können. In diesem Zusammenhang war das Wort des Bundesaußenministers von den Gewalttätern ein böses Wort. Es hat nämlich in seiner Verallgemeinerung die Bürger in der Friedensbewegung insgesamt kriminalisiert. Ich fürchte, daß das Methode hat, da sich der Bundesaußenminister ja gewöhnlich sehr genau überlegt, was er sagt.
Zehntausende, ja Hunderttausende nehmen die parlamentarische Demokratie beim Wort. Sie machen Gebrauch von Art. 17 des Grundgesetzes, dem Petitionsrecht. Sie nehmen Art. 38 wörtlich. Sie wenden sich an uns, weil sie die Hoffnung haben, daß die Abgeordneten tatsächlich das ganze Volk vertreten. Sie wenden sich an uns, weil sie sich nicht vorstellen können, daß an Weisungen nicht gebundene Abgeordnete in einer Existenzfrage, die unsere Zukunft verändern kann, geschlossen nach Fraktionen entscheiden.
Sie wenden sich auch an uns, weil sie ihre Zweifel,ihre Argumente an uns weitergeben wollen, weil sie
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2455
Peter
hoffen, jedem Abgeordneten bei der Prüfung seines Gewissens oder der Wahrhaftigkeit gegenüber dem eigenen Erkenntnisstand zu helfen.Bürger, die sich in solcher Form in die Willensbildung einmischen, sind demokratisch erwünscht. Sie haben mich nicht unter Druck gesetzt. Unter Druck gesetzt kann sich nur der fühlen, der sich seiner Argumente nicht sicher ist, aber sich nicht mehr bewegen darf.
Die Verweigerung gegenüber den vielen Versuchen der Bürger, uns zu erreichen, ist Ausdruck von Angst, von Unsicherheit ihrerseits. Da ist so etwas wie Bunkermentalität entstanden. Wenn man Herrn Kollegen Marx heute hat reden hören, dann weiß man, was ich meine.
Die Beiträge der Kollegin Geiger, der Kollegin Dr. Hellwig, des Kollegen Müller und des Kollegen Dr. Göhner
sind zwar in der Form und auch in der Auswahl der Redner auf die Gruppen eingegangen, die es in der Friedensbewegung gibt. Aber das, was sie vorgetragen haben, war in angenehmer Verpackung das, was ihnen die Friedensbewegung an Fragen nicht stellt. Es war ein Gespensterdialog, bei dem sie Antwort auf Dinge gegeben haben, die sie gar nicht gefragt worden sind.
— Das kommt wahrscheinlich daher, daß ich Lehrer bin
und manchmal auf das achte, was gesagt wird.Die vielen Bürger, die sich in dieser Frage einmischen, sind Teil einer zutiefst demokratisch-republikanischen Bewegung. Sie repräsentieren den politisch mündigen Bürger, den die Demokratie braucht. Das ist ernsthaft gemeint. Das wäre der Dialog, den dieser Bürger von uns erwartet.
Diese Bürger, die Sie als „sogenannte Friedensbewegung" diffamieren, haben es fertiggebracht, sich des Themas Frieden zu bemächtigen. Sie haben die Diskussion über die Militärstrategien und ihre Auswirkungen, über Abrüstungsschritte den Militärexperten in den Stäben, in den Verwaltungen und in den Parlamenten weggenommen. Sie weigern sich, auf deren Argumente einzugehen, obwohl das der Dialog wäre, den Sie ja immer mit dem Bürger führen wollen.
Diese Bürger, die Sie als „sogenannte Friedensbewegung" diffamieren, haben den Freiheitsbegriff, den Sie ständig im Munde führen, mit dem Inhalt der demokratischen Teilhabe gefüllt. Freiheit und Wahrnehmung der politischen Freiheitsrechte gehören zusammen. Wenn Sie die Alternative Frieden oder Freiheit in diesen Zusammenhang stellen, gewinnen Ihre Argumente erstmals mehr an Glaubwürdigkeit.
Diese Bürger, die Sie als „sogenannte Friedensbewegung" diffamieren, repräsentieren die Mehrheit der Bevölkerung. Es sind die sensibelsten Teile dieser Mehrheit, die Sie gern als schweigende Mehrheit hätten, die diesmal aber eine Mehrheit gegen Ihre Meinung und gegen die Stationierung ist.
Dies ist nicht der nach Sprangerscher Zwangsvorstellung ferngesteuerte Teil unseres Volkes, sondern das sind selbständige, aktive Bürger, über Schichten und Parteigrenzen hinweg; das sind Mütter und Väter, die sich um die Zukunft ihrer Kinder, unserer Kinder sorgen und sich nicht fragen lassen wollen: Was habt ihr dagegen getan?, wenn sie im Falle eines Krieges noch einmal gefragt werden könnten. Das sind Christen beider Konfessionen, die die Stationierung mit christlichen Glaubenssätzen nicht für vereinbar halten, beispielsweise die Mehrheit der praktizierenden Pfarrer und Vikare der Landeskirche Kurhessen-Waldeck in einer Petition an den Bundestag, beispielsweise die Delegiertenversammlung von Pax Christi. Das sind Männer und Frauen aus der DDR, die das gemeinsame Interesse der Deutschen gegen Stationierung neuer Raketen in Ost und West ausdrücken und dafür persönliches Risiko auf sich nehmen. Darüber sind wir uns einig.
Ich erinnere Sie an die eindrucksvollen offenen Briefe von DDR-Bürgern, insgesondere an die Dresdener Friedensstafette für das Leben. Nun richten Sie sich auch einmal danach, was dort an Bedürfnissen der DDR-Bürger formuliert wird!
Das sind Gewerkschafter, die wissen, daß Rüstung und Sozialabau zusammenhängen — allerdings anders, als Sie, Herr Kollege Müller, es vorhin definiert haben. Das sind Mitglieder und Funktionsträger der CDU, die sich ihr Selbstbewußtsein und die Aufrichtigkeit gegen ihre Zweifel bewahrt haben.
— Ja, das hören Sie nicht gern! Das kann ich mir vorstellen. — Das sind viele Menschen, die auf Grund ihrer beruflichen Kenntnisse Zweifel haben, ob die Stationierung richtig ist, und wegen ihrer Zweifel nein sagen: Richter und Staatsanwälte, Naturwissenschaftler, Psychologen, Angehörige sozia-
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2456 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983
Peter
ler Berufe, Mediziner, Pädagogen, Pfarrer, Künstler und Schriftsteller.
Das sind viele Einzelpersonen, die für sich und ihre Freunde an uns schreiben, die im Stadtteil Unterschriften gesammelt haben, die große Massenappelle unterschrieben haben. Es sind auch die Bürger, die uns auf den — wie sie es nennen — Parlamenten der Mehrheit zum Nein aufgefordert haben.Sie alle haben ihre Angst, ihre Zweifel, ihre Venunft in demokratische Aktion umgesetzt. Das ist der Unterschied: aus Angst demokratisch handeln und nicht — wie auf der anderen Seite — mit Angst Politik machen lassen!
Die Union wirft diesen Menschen ihre Angst vor. Herr Kollege Waigel hat das heute ausführlich dargestellt.
Ich bin der Meinung, es ist schlimm, wenn dieser Vorwurf von einer Partei kommt, die seit 30 Jahren ihr gesamtes Verteidigungskonzept — und nicht bloß ihr Verteidigungskonzept — nur auf die Angst vor der Sowjetunion und dem Kommunismus aufgebaut hat.
Die CDU findet es deshalb nicht etwa falsch, daß Menschen Angst haben, aber es paßt ihr nicht, daß es nicht die richtige, vorschriftsmäßige, ausbeutbare, für ihre Zwecke verwendbare Angst ist.
Es geht deshalb heute in dieser Debatte um die Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie gegenüber diesen Bürgern. Wir stehen vor einer Herausforderung.
— Herr Bötsch, die Reaktion zeigt, daß das wohl den Kern trifft. Wir stehen vor einer Herausforderung, der sich die Sozialdemokraten in dieser Debatte gestellt haben. Sie haben die Argumente dieser Bürger in der Debatte aufgegriffen.
Bei Ihnen war Fehlanzeige, Fehlanzeige in jeder Beziehung.
Ich sage zum Schluß:
Trotz dieser Situation besteht noch die Chance,
daß Sie sich Ihrer möglichen Zweifel an der Richtigkeit Ihrer Entscheidung bewußt werden. Wenn Sie möglicherweise als Jurist nur irgendwelche Zweifel an der eigenen Rechtsposition haben könnten,
wenn Sie als Naturwissenschaftler nur irgendwelche Ängste vor einem Computerfehler empfinden, wenn Sie als Christ nur irgendwelche Zweifel an Ihrer Glaubensposition haben könnten, wenn Sie als Väter und Mütter irgendwie die Sorgen ihrer Kinder teilen,
wenn Sie, Herr Klein, nur etwas unsicher wären, ob das, was Sie entscheiden, richtig ist,
dann entscheiden Sie sich für die Zweifel und Ängste der Bürger, dann sagen Sie nein zur Stationierung.
Es ist tatsächlich noch nicht zu spät. — Ich danke Ihnen für Ihre Erregung.
Meine Damen und Herren, wir haben alle Wortmeldungen erledigt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Dienstag, den 22. November 1983, 9 Uhr ein. Wir setzen dann die Aussprache fort.
Die Sitzung ist geschlossen.