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ID1003504500

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    Plenarprotokoll 10/35 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 35. Sitzung Bonn, Montag, den 21. November 1983 Inhalt: Verzicht der Abg. Dr. Linde und Grobecker auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag 2321A Eintritt der Abg. Neumann (Bramsche) und Hettling in den Deutschen Bundestag 2321 A Erweiterung der Tagesordnung 2321 B Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen in Verbindung mit Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen — Drucksache 10/617 — in Verbindung mit Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen — Drucksache 10/620 — in Verbindung mit Antrag der Fraktion der SPD NATO-Doppelbeschluß und Stand der INF-Verhandlungen — Drucksache 10/621 — Dr. Kohl, Bundeskanzler 2321 D Burgmann GRÜNE (zur GO) 2332 B Präsident Dr. Barzel 2332 D, 2384 D Porzner SPD (zur GO) 2333 B Dr. Vogel SPD 2333 C Dr. Dregger CDU/CSU 2345 B Vizepräsident Frau Renger 2346 D Genscher, Bundesminister AA 2356 A Schily GRÜNE 2364 C Dr. Waigel CDU/CSU 2368 B Schmidt (Hamburg) SPD 2376 A Mischnick FDP 2384 D Bastian GRÜNE 2390 A Dr. Marx CDU/CSU 2394 A Bahr SPD 2399 A Dr. Todenhöfer CDU/CSU 2406 B Frau Huber SPD 2411A Ronneburger FDP 2414 B Vogt (Kaiserslautern) GRÜNE 2418 D Vizepräsident Westphal 2419C, 2419 D Frau Geiger CDU/CSU 2422 A Gansel SPD 2424 D Müller (Remscheid) CDU/CSU 2428 B Klose SPD 2430 D Dr. Göhner CDU/CSU 2435 C Frau Fuchs (Verl) SPD 2438 A Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 2440 B Schwenninger GRÜNE 2443 D Voigt (Frankfurt) SPD 2446A Höffkes CDU/CSU 2450 D Peter (Kassel) SPD 2454 C Nächste Sitzung 2456 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 2457*A Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2321 35. Sitzung Bonn, den 21. November 1983 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode —35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2457* Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 25. 11. Haehser 25. 11. Immer (Altenkirchen) 25. 11. Kastning 25. 11. Dr. h. c. Lorenz 25. 11. Offergeld 25. 11. Petersen 25. 11. Vogt (Düren) 21. 11. Frau Dr. Wex 25. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Otto Schily


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Vorab werde ich einen einseitigen verbalen Abrüstungsschritt vollziehen: Ich nehme den gegen den Staatssekretär Kollegen Spranger gerichteten Ausdruck „CIA-Agent" zurück.

    (Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und der FDP — Zuruf von der SPD: CIA-Freund!)

    Wir können uns dann gemeinsam darauf verständigen, mit welchem Ausdruck wir den Besuch von Herrn Spranger auf Einladung des CIA in Grenada bezeichnen wollen.
    Der Entschluß der Bundesregierung, den Beginn der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden zuzulassen, ist ein Akt der Unterwerfung unter die zunehmend aggressivere Militärstrategie der gegenwärtigen US-Regierung, eine Kapitulation der Vernunft, ein Fiasko für den Frieden in Europa.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Den Verheerungen der Kriege sind stets Verheerungen im Denken der Menschen, im Denken der politisch Verantwortlichen, der politisch Herrschenden, vorausgegangen. Immer dann, wenn sich die politische Vernunft, die gern im Gewand der Realpolitik daherkommt, unterordnete, war dies das Vorzeichen einer kommenden Katastrophe. Im Jahre 1975 veröffentlichte die Zeitung „Die Welt" einen Artikel unter der Überschrift: „Flucht in den Frieden". Dort hieß es, in Wirklichkeit lasse sich der Krieg weder wegforschen noch wegträumen. Einer ganzen Generation von Friedensforschern und Friedensfreunden sei der Begriff des Krieges abhanden gekommen. Es hat heute den Anschein, daß einer ganzen Generation von Politikern inzwischen der Begriff des Friedens abhanden gekommen ist.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Gewiß, der Krieg läßt sich nicht wegforschen noch wegträumen. Aber sicher ist zugleich, daß der Krieg herbeigeforscht, herbeigedacht, herbeigeplant werden kann.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Das ist angesichts der Tatsache, daß gegenwärtig
    jeder fünfte Wissenschaftler in der Welt damit be-



    Schily
    schäftigt ist, immer perfektere Tötungsinstrumente herzustellen, und daß sich der militärisch-industrielle Komplex in den Vereinigten Staaten sowie der militärisch-bürokratische Komplex in der UdSSR jeweils zu den beherrschenden gesellschaftlichen Kräften entwickelt haben, eine sehr reale Gefahr.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Die Sie herbeigeredet haben!)

    Es ist die ins Aberwitzige übersteigerte Machtpolitik, die sich in den Atomwaffenarsenalen materialisiert und der sich auch die Bundesregierung verschrieben hat. Ihre Beteuerungen, ihr Verhalten diene der Friedenssicherung in Europa, sind nicht glaubhaft. Die Bundesregierung beruft sich auf ein Konzept der Kriegsverhinderung durch Abschrekkung. Dieses Konzept ist trügerisch. Es ist ein Vabanquespiel mit dem Untergang Europas, mit dem Weltuntergang. Das Zerstörungspotential der wechselseitigen Bedrohung hat inzwischen eine Größenordnung von 1 Million Hiroshima erreicht. Wenn Politik ihren letzten Sinn in der Erhaltung des Friedens hat, wie kann sie sich dann auf die Alternative des „Alles oder Nichts" oder genauer: des „Etwas oder Nichts" einlassen? Freiheit oder Weltuntergang, das kann niemals eine sinnvolle Alternative sein.
    Herr Bundeskanzler, Sie haben heute vormittag gesagt, der Friede im nuklearen Zeitalter sei nur so sicher wie die Gefahr des Untergangs für den, der ihn bricht. Das ist leider allenfalls die halbe Wahrheit. Herr Kollege Dr. Vogel ist darauf schon eingegangen. Es ist ein Beweis für die Selbsttäuschungen, in denen Sie befangen sind. Denn die Gefahr des Untergangs besteht im Nuklearzeitalter für uns alle, die wir Geiseln der Supermächte sind. Wissen Sie wirklich nicht, daß die prekäre Scheinsicherheit der Abschreckung der Weltuntergang auf Abruf ist? Daß wir längst unser Schicksal, das Schicksal der Menschheit der Erbarmungslosigkeit von Computern anvertraut haben? Was ist daran noch christlich, frage ich Sie.
    Sie drohen mit dem Weltuntergang wie ein Polizist mit dem Bußgeld. Kann aber der Weltuntergang die Sanktion für irgendeinen Vorgang in dieser Welt sein? Haben Sie wirklich keine Ahnung, mit welchen grauenvollen Eventualitäten solche Drohungen belastet sind?

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    Lesen Sie doch einmal nach in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 11. November 1981, was sie über die Atompolitik schreibt. Ich zitiere:
    Nun ist aber Atompolitik eine Kunst, die mit lauter Unbekannten arbeiten muß. Nichts ist hier beweisbar. Ausgangspunkt ist die Vernunft. Der Verstand sagt, daß niemand den Untergang will. Strategisch ist das jedoch keine Tatsache. Es ist eine Hoffnung. Das hat die amerikanischen Analytiker dazu getrieben, zahlreiche Modelle eines möglichen Krieges zu entwerfen. Der Sinn dieser Entwürfe ist, die Gewalt der atomaren Kraft zu mäßigen, die Atomwaffen nur als politische Waffen zu nutzen und vielleicht partielle Vernichtung der totalen Vernichtung vorzuschalten. Eines dieser Modelle ist die flexible response — zugegebenermaßen voller Fehler, Hypothesen und Fiktionen.
    Ende des Zitats. — Der Weltuntergang, abhängig von Fehlern, Hypothesen und Fiktionen. Läßt Sie das nicht innehalten, meine Damen und Herren Kollegen?
    Von Hannah Arendt stammt der Satz:
    Die technische Entwicklung der Gewaltmittel hat in den letzten Jahrzehnten den Punkt erreicht, an dem sich kein politisches Ziel mehr vorstellen läßt, das ihrem Vernichtungspotential entspräche oder ihren Einsatz in einem bewaffneten Konflikt rechtfertigen könnte.
    Die Eiferer der Abschreckung wollen uns weismachen, dies eben sei ihre Überzeugung, auch sie wollten den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln verhindern. Deshalb seien die Vorbereitung und die Androhung von Massenvernichtungsmitteln notwendig.
    Aber Sie befinden sich damit in einem unauflöslichen und unheilvollen Widerspruch. Wer Kriegsverhinderung durch Abschreckung bewirken will, kann dem Dilemma nicht entrinnen, daß er den atomaren Holocaust dadurch unmöglich machen will, daß er ihn möglich macht. Auf exakt dieser paradoxen Denkweise beruht das sicherheitspolitische Konzept der Bundesregierung: Kriegsverhinderung durch Kriegsführungsoptionen, so lautet die Parole.
    Im Nuklearzeitalter aber — das sollten Sie begreifen — ist Bedrohung des Gegners immer zugleich Bedrohung für uns selbst.

    (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Selbstverständlich!)

    Kriegsführungsoptionen, die im Zusammenhang mit der geplanten Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen für das sogenannte europäische Nuklearkriegstheater entwickelt werden, taugen schon deshalb nicht zur Kriegsverhinderung, weil sie mit untragbaren, unüberschaubaren Risiken verbunden sind und weil nicht — jedenfalls nicht deutlich — erkennbar ist, ob sie offensiven oder defensiven Absichten entsprechen. Welches Vertrauen will die Bundesregierung in dieser Hinsicht eigentlich für sich, vor allem aber für die gegenwärtige US-Regierung beanspruchen?
    Im Sommer 1978 hielten sich eine Reihe von Militärexperten der CDU/CSU, darunter der heutige Verteidigungsminister Wörner,

    (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Der Sogenannte!)

    in den Vereinigten Staaten auf. Über die Vorstellungen, die sie seinerzeit entwickelt haben, wird folgendes berichtet: Die Vereinigten Staaten sollten ihre strategischen Streitkräfte direkter mit ihren Angriffsoptionen — Angriffsoptionen! — für europäische Kriegspläne integrieren. In diesem Zusammenhang wurde Bezug auf die Strategie der direk-



    Schily
    ten chirurgischen Schläge gegen sowjetische Gebiete genommen. Die deutschen Teilnehmer argumentierten, die USA müßten alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um die glaubwürdige Option, zuerst in einem europäischen Krieg — in einem europäischen Krieg! — Kernwaffen einzusetzen, am Leben zu erhalten. — Zuerst in einem europäischen Krieg! — Sollte es der Sowjetunion gelingen, diese Option zu durchkreuzen, könnte dies das Ende der Allianz sein. Sie betonten den politischen und psychologischen Wert gerade von sichtbaren landstationierten Systemen in Europa. Sie betonten auch das Abschreckungsparadox, daß bis zu einem gewissen Punkt gerade die Verwundbarkeit der Waffen — ich erinnere an unsere Großen Anfragen — den Willen stärkt, schon früh in einem militärischen Konflikt auf Kernwaffen zurückzugreifen.
    Soweit der Bericht über die damaligen Äußerungen von CDU/CSU-Politikern.
    Angeblich soll durch diese Senkung der Nuklearschwelle Europa stärker an die atomare Vergeltungsdrohung der Vereinigten Staaten angekoppelt werden. In Wahrheit tritt genau das Gegenteil ein. Nach den Vorstellungen der amerikanischen Militärplaner schaffen sich die USA die Option auf einen atomaren Enthauptungsschlag gegen die Sowjetunion. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Strategie der horizontalen Eskalation, d. h. der Verknüpfung verschiedener Krisengebiete in der Welt, führt das zu einer schroffen Destabilisierung der Lage in Europa.
    Die Bundesregierung will uns beruhigen. Sie versichert, es gebe kein Konzept dieser Art. Aber wie verträgt sich die Auskunft mit der Tatsache, daß dieses Konzept des Enthauptungsschlages in dem geheimen Leitlinien-Dokument 1984 bis 1988 der US-Regierung enthalten ist, das 1982 in der „New York Times" veröffentlicht wurde? Und hat nicht der Vordenker der US-Regierung Colin S. Gray das folgende Szenario entworfen:
    Nehmen wir an, — so schrieb er —
    es handelt sich um hundert Ziele. Wenn wir alle diese hundert Ziele treffen könnten, würden wir jedes Mitglied des Politbüros erwischen, jedes Mitglied des Zentralkomitees. Wir würden alle entscheidend wichtigen Bürokraten töten. Wir würden also dem sowjetischen Huhn den Kopf abschlagen.

    (Zuruf von den GRÜNEN: Unglaublich!)

    Muß es uns nicht alarmieren, daß der ehemalige US-Admiral La Roque erklärt hat, daß die Amerikaner davon ausgingen, der dritte Weltkrieg werde ebenso wie der Erste und Zweite in Europa ausgefochten werden? Ist Kissinger irgendwer, wenn er äußert:
    Ich glaube nicht, daß die Sowjetunion, wenn Nuklearwaffen auf eine begrenzte Weise gegen sie eingesetzt würden, in jedem Fall mit einem weltweiten Atomkrieg antworten würde.
    Es mag eine Illusion sein, aber es wäre nicht das erste Mal, daß eine Illusion in die Katastrophe eines Krieges führt.
    Müssen wir nicht aufwachen, wenn der französische Admiral Sanguinetti berichtet, daß ihm amerikanische NATO-Offiziere in aller Offenheit erklärt hätten, die Amerikaner müßten eines Tages über die Zerstörung Europas nachdenken? Der Trick, wenn sie Europa zerstören müßten, wäre der, die andere Seite dazu zu bringen, den Krieg anzufangen.
    Und welche unauffällige Botschaft hat der amerikanische Präsident Reagan in einem unscheinbaren Satz untergebracht, als er in einer Rede am 18. November 1981 erklärte:
    Mit sowjetischem Einverständnis könnten wir gemeinsam die schreckliche Gefahr eines Atomkrieges, die über den Völkern Europas schwebt, wesentlich vermindern.
    Die Gefahr eines Atomkrieges, die schreckliche Gefahr — das läßt uns der amerikanische Präsident wissen —, schwebt über den Völkern Europas. Wohlgemerkt: über den Völkern Europas.
    In letzter Zeit ist sehr viel von Stimmungen die Rede. Welche Stimmung kommt eigentlich darin zum Ausdruck, wenn in einem Leserbrief, den die „New York Times" veröffentlichte, die Frage gestellt wird:
    Warum sind die Deutschen nicht bereit, ein Opfer zu bringen? Die Menschen von Hiroshima haben es auch erbracht, und viele von ihnen leben noch.
    Und welche hintergründige Voraussage will uns eigentlich der den Amerikanern jedenfalls nicht fernstehende Kommentator des „Tagesspiegel" vermitteln, der am 13. Oktober 1981 schrieb:
    Das deutsche Volk hat einmal bis zur letzten Patrone und bis zum letzten Mann sich für sein diktatorisches System geschlagen. Die Demonstranten
    — er meinte die Friedensdemonstration in Bonn —
    von Bonn scheinen nicht bereit zu sein, für ein demokratisches System und für den Verbund der demokratischen Völker der Welt ein Risiko einzugehen.
    Sollen wir uns da beruhigen? Sollten wir nicht eher die Warnung des früheren US-Verteidigungsministers McNamara ernstnehmen, der kürzlich gesagt hat:
    Worüber sich die Westdeutschen klarwerden müssen, das ist, daß ihr Kulturkreis völlig verwüstet wird, wenn sie sich weiterhin an die NATO-Strategie halten.
    Diese Warnung ernstnehmen, bedeutet, daß wir an einer Grenzlinie angelangt sind.
    Herr Dr. Dregger, Sie haben in der vergangenen Woche und auch heute in der Debatte erklärt — in Übereinstimmung mit dem Bundesaußenminister —, ein Nein zur Stationierung neuer amerika-



    Schily
    nischer Mittelstreckenraketen sei ein Votum gegen die NATO. Dem scheinen die Annahme und die Absicht zugrunde zu liegen, ein Ja zur Stationierung werde das NATO-Bündnis festigen. Sie täuschen sich.
    Wirkungen und Gegenwirkungen in der Geschichte unterliegen nicht den Gesetzen einer politischen Mechanik. Wenn Sie Ihre Macht dazu ausnutzen, den Weg für die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen auf dem Boden der Bundesrepublik freizugeben, wenn Sie den Mehrheitswillen der Deutschen in beiden deutschen Staaten mit dieser Entscheidung mißachten,

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    wenn Sie Verfassung und Völkerrecht beiseiteräumen und Europa an den Rand des Abgrunds rükken, dann setzen Sie selber die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zum NATO-Bündnis auf die politische Tagesordnung;

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    denn was kann ein Bündnis wert sein, das bereit ist, die Existenz unseres Volkes zu opfern, das zu schützen es vorgibt?
    In einem bereits 1977 veröffentlichten Artikel hat die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter Hinweis auf Ausführungen des damaligen Oppositionspolitikers Dregger in einer Bundestagsdebatte hervorgehoben, daß sich die Bundesrepublik nicht mit einer Bündnisstrategie zufrieden geben könne, die ihre totale Vernichtung im Verteidigungsfall einplane, bei konventioneller wie atomarer Kriegführung. Im vorigen Jahrhundert hätte sich aus dieser Gefährdung — so schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" — selbstverständlich die Überprüfung der Bündnisfrage ergeben. In Bonn — so stellte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" damals fest — sei man diesen Fragen bisher aus dem Weg gegangen, und auch Dregger habe sie nur so angesprochen, daß man sie weiter liegenlassen könne. Der Grund liege auf der Hand. Befriedigende Antworten seien nicht in Sicht, ein Umstand, der auch die Zurückhaltung der Union erkläre. Schließlich wäre man um eine gute Antwort ebenso verlegen wie die derzeitige Regierung, sollte man die Rollen tauschen. — In der Tat, der Rollentausch ist vollzogen, und gute Antworten hinsichtlich der Überlebenschancen unseres Volkes im sogenannten Verteidigungsfall bleiben aus wie früher.
    Und vielleicht erinnern Sie sich auch des Satzes eines Mannes, der sich wahrlich nicht scheut, Tabus anzugehen. Rudolf Augstein hat in einem Artikel im „Spiegel" vom 19. April 1982 folgendes bemerkt:
    Wenn wir dann aber noch hören, „vom strikt nationalen Standpunkt der USA" bestehe keine Notwendigkeit, Mittelstreckenraketen auf europäischem Boden zu dislozieren, man könne sie ebensogut auf Schiffe tun, wie Kissinger meint. Nun, warum tut man sie dann nicht auf Schiffe? Die Antwort fällt recht heikel aus: Weil Westeuropa ... nicht nur die Geisel der Sowjets, sondern auch die der USA sein soll.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Welchen Wert soll schließlich aber auch das NATOBündnis für uns haben, wenn es die Entscheidung über Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes, der europäischen Völker überhaupt, in die Hand des amerikanischen Präsidenten Reagan legt, der mit der Wahnidee umgeht, es sei die Zeit des Armageddon, die Zeit des apokalyptischen Endkampfes zwischen Gut und Böse?
    Wir Europäer müssen uns auf einen anderen Weg begeben. Insbesondere wir Deutschen sollten aus unserer dunklen Vergangenheit gelernt haben. Das Streben nach militärischer Macht und Übermacht hat die Deutschen in den letzten hundert Jahren immer wieder ins Verderben gestürzt. Konstantin Frantz, der davon überzeugt war, daß das zentralistische Experiment in Deutschland in einer Katastrophe enden müßte, blieb im vergangenen Jahrhundert ungehört. Er schrieb seinerzeit:
    Mit der Staatsidee ist da von vornherein nicht auszukommen, wo es sich vielmehr um das Verflochtensein Deutschlands mit den europäischen Verhältnissen handelt. Im Gegenteil: Je mehr Deutschland dazu berufen ist — und diesen Beruf auch ausfüllen will —, einen organischen Zusammenhang des europäischen Völkerlebens zu begründen, um so weniger darf es sich selbst zu einem abgeschlossenen und zentralistischen Staatskörper gestalten wollen, der nach allen Seiten hin nur abstoßend wirken würde. Bloße Macht hilft hier nicht.
    Ist es nicht einen Augenblick des Nachdenkens wert, daß ausgerechnet in der Geburtsstunde des Doppelbeschlusses der scheinbare Eintritt der Bundesrepublik in den Club der Großmächte gefeiert wurde? Wir müssen uns auf uns selbst besinnen, auf unsere Identität, die zugleich und vornehmlich eine europäische ist und sein muß. Auflösung der Blökke,

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Auflösen der GRÜNEN!)

    Verbindung der europäischen Interessen, Neutralisierung Mitteleuropas als ein Anfang, Ersetzung der militärischen durch politische Sicherheitselemente — das sind die Perspektiven, auf die wir hinarbeiten müssen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wahre christliche Nächstenliebe, kulturelle Beziehungen leisten für die Sicherheit mehr, als es jede Waffe je tun konnte.

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Jedes Kind, dem wir eine Schüssel Reis überreichen, soll mir mehr wert sein als Ihre Glanzpapierproklamation über Freiheit und ähnliches,

    (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Bravo!)

    die Sie hier mit Atomwaffen und dem Weltuntergang verteidigen wollen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Von einem Freund, der in der unabhängigen Friedensbewegung der DDR aktiv ist, habe ich einen Satz im Gedächtnis behalten, der uns gut als Leitli-



    Schily
    nie dienen kann: Frieden schaffen durch die Kraft der Schwachen.
    Eine Neutralisierung Mitteleuropas, eine Neutralisierung der Völker Europas, eine Auflösung der Blöcke ist sicherlich nicht ohne Risiken. Diese sind jedoch unvergleichbar geringer als das Risiko der atomaren Vernichtung, das uns das NATO-Bündnis aufbürdet.
    Eine Auflösung der Blöcke liegt nicht zuletzt im wohlverstandenen Interesse des amerikanischen Volkes und der Völker der Sowjetunion. Die Machtteilung in Europa auf der Grundlage von Jalta ist geschichtlich überholt. Das sagen wir auch und nicht zuletzt an die Adresse der Sowjetunion und der osteuropäischen Staaten. Insbesondere die Sowjetunion wird sich zu der Wahrnehmung befähigen müssen, daß die Friedensbewegung in Westeuropa ein bedeutender politischer Sicherheitsfaktor geworden ist, und sie sollte daraus Folgerungen für ihr Handeln ziehen.
    Den sogenannten Realpolitikern, die die von uns angestrebte Überwindung der Blöcke als Wunschtraum abtun, antworte ich mit den Worten Albert Schweitzers aus dem Jahre 1958: Wir haben die Wahl zwischen zwei Risiken. Das eine besteht in der Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens, in Atomwaffen und der damit gegebenen Gefahr eines unvermeidlichen Atomkrieges, das andere in dem Verzicht auf Atomwaffen und in dem Hoffen, daß Amerika, die Sowjetunion und die mit ihnen in Verbindung stehenden Völker es fertigbringen werden, in Verträglichkeit und Frieden nebeneinander zu leben. Das erste enthält keine Möglichkeit einer gedeihlichen Zukunft, das zweite tut es. Wir müssen das zweite wagen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)



Rede von Richard Wurbs
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Waigel.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Theodor Waigel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich am Anfang auf einige Bemerkungen des Oppositionsführers Dr. Vogel eingehen.
    Herr Dr. Vogel, es war nicht erträglich und ein sehr unzulässiger Vergleich, den Bundeskanzler und Honecker bei der Bewertung der Friedensbewegungen von drüben und hier gleichzustellen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Nicht zugehört! — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Nicht verstanden!)

    — Ich habe zugehört!

    (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Und nichts verstanden!)

    Wer wie Sie so empfindlich ist wie kein anderer, wer nur im Geben stark, im Nehmen aber schwach ist, sollte mit solchen gefährlichen Vergleichen und Unterstellungen vorsichtig sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wenn Sie, Herr Vogel, zur politischen Kultur in unserem Lande etwas beitragen wollen, dann bitte ich Sie, einmal mit den Jungsozialisten zu sprechen und sich das Flugblatt, das ich in meiner Hand halte, anzusehen, auf dem fünf Kollegen von uns bildlich dargestellt werden und darunter eine explodierende Atombombe zu sehen ist.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Pui!)

    Das ist eine unglaubliche Beleidigung und eine Unterstellung hinsichtlich der persönlichen und politischen Haltung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie haben hier behauptet, die Mehrheit in der Bundesrepublik Deutschland stünde hinter Ihrer Politik. Herr Kollege Vogel, das ist die Unwahrheit. Sie sind in diesen Wahlkampf gegangen und haben eine Mehrheit gegen Raketen gefordert. Uns haben Sie wider besseres Wissen unterstellt, wir wollten eine Mehrheit für Raketen, was nicht stimmte. Trotz dieser Argumentation hat sich das deutsche Volk in einer freien Abstimmung gegen Sie und gegen Ihre Partei entschieden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Nur als einen Beitrag zum politischen Humor oder zur politischen Groteske kann ich es ansehen, wenn Sie die Defizitpolitik der amerikanischen Regierung mit dem NATO-Vertrag in Verbindung bringen wollen. Wer selber so lange in einer Regierung saß und einen Finanzminister gestellt hat, der 13 Jahre nach dem Motto „Mach dich fit durch Defizit" gehandelt hat, der soll sich doch nicht wegen Defiziten in anderen Völkern und auf anderen Kontinenten aufspielen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mit großem Engagement, Kollege Vogel, gebrauchen Sie Äußerungen der Kirche. Es wäre schön gewesen, wenn Sie sich auch als Justizminister beim Thema „§ 218" der Ratschläge der Kirche so bedient hätten.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Es war auch eine schwache Leistung eines Oppositionsführers und Einserjuristen, dem Bundesverteidigungsminister eine Aussage zu unterstellen und dann das Zitat nicht bringen zu können und dann nicht einmal eine Zwischenfrage des Ministers zuzulassen, der die Sache hier entsprechend klarstellen wollte und Ihnen bewiesen hätte, daß Sie mit dieser Unterstellung nicht recht gehabt haben.