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    Plenarprotokoll 10/35 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 35. Sitzung Bonn, Montag, den 21. November 1983 Inhalt: Verzicht der Abg. Dr. Linde und Grobecker auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag 2321A Eintritt der Abg. Neumann (Bramsche) und Hettling in den Deutschen Bundestag 2321 A Erweiterung der Tagesordnung 2321 B Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen in Verbindung mit Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen — Drucksache 10/617 — in Verbindung mit Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen — Drucksache 10/620 — in Verbindung mit Antrag der Fraktion der SPD NATO-Doppelbeschluß und Stand der INF-Verhandlungen — Drucksache 10/621 — Dr. Kohl, Bundeskanzler 2321 D Burgmann GRÜNE (zur GO) 2332 B Präsident Dr. Barzel 2332 D, 2384 D Porzner SPD (zur GO) 2333 B Dr. Vogel SPD 2333 C Dr. Dregger CDU/CSU 2345 B Vizepräsident Frau Renger 2346 D Genscher, Bundesminister AA 2356 A Schily GRÜNE 2364 C Dr. Waigel CDU/CSU 2368 B Schmidt (Hamburg) SPD 2376 A Mischnick FDP 2384 D Bastian GRÜNE 2390 A Dr. Marx CDU/CSU 2394 A Bahr SPD 2399 A Dr. Todenhöfer CDU/CSU 2406 B Frau Huber SPD 2411A Ronneburger FDP 2414 B Vogt (Kaiserslautern) GRÜNE 2418 D Vizepräsident Westphal 2419C, 2419 D Frau Geiger CDU/CSU 2422 A Gansel SPD 2424 D Müller (Remscheid) CDU/CSU 2428 B Klose SPD 2430 D Dr. Göhner CDU/CSU 2435 C Frau Fuchs (Verl) SPD 2438 A Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 2440 B Schwenninger GRÜNE 2443 D Voigt (Frankfurt) SPD 2446A Höffkes CDU/CSU 2450 D Peter (Kassel) SPD 2454 C Nächste Sitzung 2456 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 2457*A Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2321 35. Sitzung Bonn, den 21. November 1983 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode —35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2457* Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 25. 11. Haehser 25. 11. Immer (Altenkirchen) 25. 11. Kastning 25. 11. Dr. h. c. Lorenz 25. 11. Offergeld 25. 11. Petersen 25. 11. Vogt (Düren) 21. 11. Frau Dr. Wex 25. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments
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    Rede von Michaela Geiger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Trotzdem nicht. Danke schön.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    Es kann nicht allein Aufgabe der Politik sein, für Aufklärung und Beruhigung der Menschen zu sorgen. In der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland „Frieden wahren, fördern und erneuern" steht der Satz:
    Die christliche Kirche hat die Aufgabe, die Hoffnung des Glaubens zu stärken, angesichts der Ängste, die in der heutigen weltpolitischen Lage überall aufbrechen.
    Die ganz überwiegende Zahl der Geistlichen hält sich sicher an diese Maxime. Aber es gibt auch Pfarrer, zu viele, die wissentlich oder unwissentlich ihre Hauptaufgabe darin sehen, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen.

    (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Die Angst vor der Hölle ist das Prinzip, das die Leute in die Kirche bringt!)

    Von Kind auf sind wir gewöhnt, mit unseren Kümmernissen, Ängsten und Nöten zur Kirche zu kommen und dort Trost zu finden. Sollte dies heute nicht mehr überall gelten?
    Im Gegensatz zu vielem, was dazu gesagt wurde, lehnen sowohl die Evangelische als auch die katholische Kirche die Strategie der Abschreckung und den Schutz durch Atomwaffen nicht rundweg ab. Die Heidelberger Thesen sprechen davon, daß der Versuch, durch die Anwesenheit von Atomwaffen den Frieden in Freiheit zu sichern, heute noch als mögliche christliche Handlungsweise anerkannt werden muß. Es wird jedoch darauf hingewiesen, daß dies nur eine vorläufige und zeitlich begrenzte Strategie sein kann.
    Auch Papst Johannes Paul II. hat vor der UNOKommission in New York gesagt:
    Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann eine auf dem Gleichgewicht beruhende Abschreckung natürlich nicht als ein Ziel an sich, sondern als ein Abschnitt auf dem Weg einer fortschreitenden Abrüstung noch für moralisch annehmbar gehalten werden.
    Ich bejahe die Nachrüstung, weil ich fest davon überzeugt bin, daß die UdSSR erst bei einem ungefähren Gleichgewicht der Kräfte bereit sein wird, ernsthaft zu verhandeln, und daß es erst dann zu einer gleichmäßigen Verringerung der Rüstungspotentiale in Ost und West kommen kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Burgmann [GRÜNE]: Bis dahin sind Sie Großmutter!)

    Ich bin aber auch davon überzeugt, daß in unserem atomaren Zeitalter Waffen nur noch eine politische Funktion haben dürfen, und auch in dieser Funktion müssen sie an Bedeutung verlieren.

    (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Leider haben sie auch eine militärische!)

    Johannes Paul II. hat es am 14. Juni 1983 in New York so ausgedrückt: Die Herstellung und der Besitz von Waffen sind die Folge einer ethischen Krise, die an der Gesellschaft in allen ihren Dimensionen — der politischen, der sozialen und der wirtschaftlichen — nagt.
    Die echte Abrüstung, also die, die den dauernden Frieden in Freiheit zwischen den Völkern garantiert, wird nur durch die Lösung dieser vom Papst angesprochenen ethischen Krise zustande kommen. Solange auf dieser Erde die krassen Gegensätze zwischen armen und reichen Völkern weiterbestehen, solange es auf dieser Erde den unversöhnlichen ideologischen Gegensatz zwischen den westlichen Demokratien und den östlichen totalitären Systemen gibt, kann es immer wieder zu Konflikten kommen. Unsere wichtigste Aufgabe muß es daher sein, in unserem Bemühen nicht lockerzulassen, Abrüstung in Ost und West zu erreichen. Wir müssen uns aber auch weit stärker für die Lösung der Probleme der Dritten Welt engagieren. Wir müssen versuchen, Mißverständnisse abzubauen und um Vertrauen zu werben.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Burgmann [GRÜNE]: Wie oft ist das schon gesagt worden, und was ist getan worden? — Dr. Marx [CDU/CSU]: Mehr als durch alle euere Freunde im Ostblock!)

    Es sollte auch möglich sein, daß zur Erreichung dieser Ziele wieder alle Gruppen in unserem Lande zusammenwirken, daß Befürworter und Gegner des NATO-Doppelbeschlusses Achtung vor den Argumenten der jeweils anderen Seite haben.

    (Schlaga [SPD]: Sagen Sie das Herrn Geißler!)

    Auch heute noch sollten die Sätze der Spandauer Synode der EKD von 1958 gelten: „Die unter uns bestehenden Gegensätze in der Beurteilung der atomaren Waffen sind tief. Sie reichen von der Überzeugung, daß schon die Herstellung und Bereithaltung von Massenvernichtungsmitteln aller Art Sünde vor Gott sind, bis zu der Überzeugung, daß Situationen denkbar sind, in denen in der Pflicht zur Verteidigung der Widerstand mit gleichwertigen Waffen vor Gott verantwortet werden kann. Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen uns um die Überwindung dieser Gegensätze."
    Ich hoffe, daß es uns möglich sein wird, in diesem Hohen Hause und im ganzen Land auch unter dem Grundgesetz zusammenzubleiben, um uns um die Überwindung dieser Gegensätze zu bemühen.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.

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    Rede von Norbert Gansel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Geiger, Sie sind die erste Sprecherin der Regierungskoalition, bei der ich den Eindruck habe, daß Sie die Entscheidung rührt, die Sie zu treffen haben, und daß Sie sie nicht nur kalt begründen. Ich respektiere das, auch wenn ich Ihre Meinung nicht teilen kann, Ihre Schlußfolgerungen bestreiten muß.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)




    Gansel
    Wer sich im Streit von heute an die 70er Jahre zurückerinnert, hat den Eindruck, daß es damals geradezu eine idyllische Übereinstimmung über die Prinzipien der westlichen Sicherheitspolitik gab. So meinte Bundeskanzler Kohl heute morgen in seiner Rede, diese Sicherheitspolitik habe über Jahrzehnte Zustimmung in unserem Volk und in den demokratischen Parteien gefunden.
    Bundeskanzler Kohl hat sich in mehrfacher Weise vertan; denn zur Sicherheit gehört nicht nur die Verteidigungspolitik, sondern auch die Außenpolitik. Es hat damals einen erbitterten Streit über den außenpolitischen Teil unserer Sicherheit gegeben, einen Streit über die Politik, durch Entspannung gegenüber dem Osten Feindschaften und Interessengegensätze abzubauen, um einen friedlichen Ausgleich an die Stelle gegenseitiger Bedrohung zu setzen — mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Wir müssen heute feststellen, daß dieser Versuch auf halbem Wege steckengeblieben ist, vielleicht deshalb, weil wir ihn nicht energisch genug betrieben haben — vielleicht haben wir nicht genug Entspannung gewagt —, aber gewiß auch deswegen, weil die Sowjetunion durch die Aufstellung der SS20-Systeme, durch den Druck auf die Demokratisierungsbewegung in Polen und durch den Einmarsch in Afghanistan rücksichtslos ihre eigenen Macht- und Sicherheitsinteressen verfolgt und bei uns neue Bedrohungsgefühle ausgelöst hat. Dennoch war und bleibt unsere Politik der Entspannung richtig, weil sie die einzige Alternative zu kaltem Krieg und gar Schlimmerem ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Die CDU/CSU hat diese Politik auf eine heftige und zum Teil schäbige Art und Weise bekämpft.

    (Graf Huyn [CDU/CSU]: Zu Recht!)

    Wir werden Ihnen Ihr Gerede vom „Ausverkauf deutscher Interessen" und vom „Verrat" so lange nicht vergeben können, wie es einem Herrn Zimmermann als Regierungsmitglied erlaubt ist, mit leichtfertigem Gerede von den Grenzen von 1937 das Gespenst des deutschen Revanchismus zu beleben.

    (Beifall bei der SPD — Graf Huyn [CDU/ CSU]: Das ist die Verfassung! Das steht im Grundgesetz!)

    Im Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen heißt es:
    Die Vertragsparteien — ich zitiere —
    bekräftigen die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.
    Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben diese Verträge mit Polen, mit der Sowjetunion und mit der CSSR damals bekämpft. Sie waren gegen die Normalisierung mit der DDR. Sie waren gegen den Beitritt zur UNO. Auf einer von
    Ihnen beantragten Sondersitzung des Deutschen Bundestages im Sommer 1975 haben Sie die Helsinki-Konferenz abgelehnt. Es gab damals keine Partei in Europa, die Sie unterstützte, außer den italienischen Faschisten und den albanischen Kommunisten.

    (Zustimmung bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Was soll denn das?)

    Jetzt kommt die Konsequenz, Graf Huyn. Ich frage Sie: Wo stünde die Bundesrepublik Deutschland heute, wenn Sie damals die Macht gehabt hätten, diese Verträge zu verhindern?

    (Graf Huyn [CDU/CSU]: Besser!)

    Was würde die Stationierung von Pershing-II-Raketen

    (Dr. Miltner [CDU/CSU]: Der Frieden wäre sicherer!)

    in der Bundesrepublik Deutschland für den Frieden bedeuten, wenn es eine Bundesregierung gäbe, die noch weiter die Revision der bestehenden Grenzen in Europa fordern könnte?

    (Zustimmung bei der SPD — Graf Huyn [CDU/CSU]: Eine realistischere Politik, Herr Gansel!)

    Sie haben sich auf den Boden der bestehenden Verträge gestellt. Wir begrüßen das. Aber wir appellieren an Sie: Zerstören Sie nicht den Geist, von dem diese Verträge leben müssen, mit dem wir alle überleben müssen.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Jener Streit über die Entspannungspolitik verdeckte, daß der militärische Teil der Sicherheitspolitik schon in den 70er Jahren Gegenstand kritischer Fragen und Diskussionen war. Schließlich galt schon in den 70er Jahren, was auch heute noch richtig — eigentlich aber falsch — ist und was ich mit nüchternen Worten beschreiben will:
    Durch die Produktion atomarer Massenvernichtungsmittel hat die Menschheit die Fähigkeit erworben, sich auszulöschen, ja, sie kann es rechnerisch sogar mehrfach tun.
    Kriegsverhütung durch gegenseitige Abschrekkung bietet keine absolute Zuverlässigkeit.
    Ein Versagen der Abschreckung führt zum Ende Deutschlands durch konventionelle Waffen in wenigen Wochen, durch atomare Waffen in wenigen Tagen oder nur Stunden.
    Durch die Konkurrenz der Supermächte um Einflußzonen, durch die Exporte von Kriegswaffen und Rüstungsgütern und durch die Militarisierung der Dritten Welt werden neue Konfliktherde geschaffen und soziale Entwicklungen zerstört.
    Auch in den entwickelten Ländern werden die sozialen Kosten der Aufrüstung immer drückender, die wirtschaftlichen Probleme werden durch sie mitverursacht.
    Alle Rüstungskontrollverhandlungen und -vereinbarungen haben den Rüstungswettlauf nicht stoppen können.

    (Zustimmung bei der SPD)




    Gansel
    Beide Supermächte haben Zweifel daran entstehen lassen, daß sie fähig und überhaupt bereit sind, den Rüstungswettlauf zu beenden.
    In der Bundesrepublik selbst, auch bei uns, den Politikern, wachsen die Zweifel daran, ob der militärisch-industrielle Komplex, das Zusammenwirken rein militärischer Sicherheitsmaximierung und privater wirtschaftlicher Gewinnmaximierung, unter voller politischer Kontrolle steht.

    (Beifall bei der SPD)

    Es steigen die Zweifel, ob unter diesen Bedingungen die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik von der Mehrheit der Bevölkerung überhaupt noch akzeptiert werden. Eine solche Akzeptanz, von der Helmut Schmidt heute morgen sprach, ist nicht nur ein Erfordernis im demokratischen Staat, sondern auch die Voraussetzung unserer Verteidigungsbereitschaft und damit der Glaubwürdigkeit der Abschreckung.

    (Beifall bei der SPD)

    Weltweit wird mit mehr Waffen weniger Sicherheit produziert, weniger Sicherheit zu höheren Preisen. Objektiv und im Bewußtsein der Menschen. Die Furcht steigt und das Vertrauen in die Politik sinkt. Immer mehr Menschen fragen sich: Was kann ich selber für den Frieden und das Überleben der Menschheit noch tun?
    Da ist es nicht verwunderlich, daß es in der Bundesrepublik eine Friedensbewegung gibt. Verwunderlich ist nur, daß es sie erst jetzt gibt.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir akzeptieren sie, auch wenn sie zum Teil im Protest gegen uns entstanden ist und uns zu schaffen macht.

    (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Zum guten Teil!)

    Viele Jahre hat die SPD stellvertretend für die Gesellschaft die Diskussion über unsere Sicherheitspolitik geführt. Jetzt gibt es zwar eine gesellschaftliche Diskussion, aber im parteipolitischen Bereich ist die SPD die einzige große und mehrheitsprägende Partei, die sich der Herausforderung für eine neue friedens- und sicherheitspolitische Strategie stellt.

    (Beifall bei der SPD)

    Auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD haben wir 1977 Entwicklung und Produktion der Neutronenwaffe abgelehnt. Wir haben uns gegen die mechanistische Anhebung der Rüstungsausgaben innerhalb der NATO gewehrt.

    (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Da haben Sie aber zugestimmt!)

    Die Bundeswehr ist unter drei sozialdemokratischen Verteidigungsministern zu einer der bestausgerüsteten und bestausgebildeten Armeen der Welt geworden. Wir haben das nicht gemacht, um damit drohen oder auch nur um darauf stolz sein zu können nach dem Motto: Wir sind wieder wer, sondern wir haben dadurch die konventionelle Verteidigungsfähigkeit für den nicht ausschließbaren Fall des Versagens der atomaren Abschreckung erhöht. Wir haben in der Zeit der Entspannungspolitik unsere militärische Sicherheit entsprechend dem Harmel-Bericht der NATO nicht vernachlässigt, aber für den atomaren Rüstungswettlauf hat sich die SPD nicht hergegeben, und sie wird es niemals tun.

    (Beifall bei der SPD)

    Auf dem Berliner Parteitag von 1979 haben wir uns nach einer langen Diskussion dafür entschieden, auf die sowjetischen SS-20-Systeme mit dem Angebot zu reagieren: Verhandlung vor Rüstung. Der NATO-Doppelbeschluß barg von Anfang an die Gefahr in sich, automatisch in eine neue Runde des Wettrüstens überzuleiten. Deshalb hat die SPD nie den Automatismus der Raketenaufstellung nach Ablauf des für Verhandlungen vorgesehenen Zeitraums akzeptiert.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir haben noch als Regierungspartei auf dem Münchener Parteitag im April 1982 bekräftigt, daß es keinen Automatismus der Aufstellung geben darf. Wir haben dort festgelegt, daß auf einem außerordentlichen Parteitag im Herbst 1983 entschieden werden sollte, welche Folgerungen wir aus dem bis dahin erreichten Verhandlungsstand für die Frage der Stationierung ziehen müssen. Dieser Parteitag hat am Wochenende in Köln entschieden: Wir sagen nein zum automatischen Vollzug des Rüstungsteils des NATO-Doppelbeschlusses. Wir sagen nein zur Aufstellung neuer amerikanischer Mittelstreckensysteme in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sagen nein zu einer Politik der Bundesregierung, die der Rüstung den Vorrang vor Verhandlungen gibt. Und wir sagen nein, weil eine Stationierung zusätzlicher amerikanischer Raketen in der Bundesrepublik unsere Sicherheit nicht erhöhen, sondern verringern wird.
    Denn die SS 20 wirkt destabilisierend, und auch die Pershing II wirkt destabilisierend. Destabilisierung auf beiden Seiten schafft aber kein Gleichgewicht, sondern zusätzliche Unsicherheit.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb, Kollege Ronneburger, hat sich auch die schleswig-holsteinische FDP, Ihre Partei, gegen landgestützte Raketensysteme in Westeuropa ausgesprochen. Wenn Sie jetzt dem NATO-Doppelbeschluß automatisch zustimmen, dann ist das nicht Ihre Überzeugung, sondern der Preis für die Regierungsbeteiligung.
    Wir sagen nein als Ergebnis einer langen und gründlichen Diskussion.
    Die CDU/CSU hat uns diese Diskussion immer zum Vorwurf gemacht. Aber wir sind darauf stolz. Demokratie ist Diskussion und die Möglichkeit, aus Diskussion zu lernen und zu neuen Entscheidungen zu kommen. Man kann die Entscheidung für falsch oder für richtig halten, aber nur Entscheidungen, die auf Diskussion beruhen, sind in der Demokratie legitim.

    (Beifall bei der SPD)




    Gansel
    Wir Sozialdemokraten sind daran gewöhnt, Diskussionen auch stellvertretend für die Gesellschaft zu führen, wenn andere sich daraus ausschließen. Wo gibt es solche Diskussionen in der CDU/CSU? Wo gibt es bei Ihnen die Bereitschaft zu diskutieren? Wo finden Sie die Kraft zur Kritik des Bestehenden und zur Entwicklung des Neuen?

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Sie schaffen es nur, über Regierungsposten zu diskutieren und zu streiten. Ob Strauß in München oder in Bonn „stationiert" wird, ist für Ihr Parteileben wichtiger als die Frage, wie uns die Stationierung neuer Atomraketen erspart bleiben kann.

    (Beifall bei der SPD)

    Wie die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken kontrolliert werden kann, hat Sie nie so bewegt wie die Frage, ob Kohl oder Strauß der Kanzlerkandidat sein sollte. Nein, im Meinungsstreit um die wirklichen Existenzfragen unseres Volkes ist die CDU/CSU immer einstimmig, und eine solche Partei ist nicht glaubwürdig.

    (Beifall bei der SPD — Eigen [CDU/CSU]: Reiner Polemiker! Pfui! — Zuruf von der CDU/CSU: Sie politischer Narzißt!)

    Es gibt viele Wähler und Mitglieder in der CDU/ CSU, die mit dem Wettrüsten nicht weniger Befürchtungen verbinden als wir. Ich glaube, der Beitrag von Frau Geiger war ein Beispiel dafür. Aber was folgt bei Ihnen daraus? Welchen Beitrag leistet Ihre Partei für eine politische Willensbildung, die zu mehr Sicherheit führen kann?

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Welch rhetorische Frage!)

    — Das, Herr Marx, ist keine rhetorische Frage, wie Sie dazwischen rufen.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Das ist sie doch!)

    Denn im Grundgesetz dieser Bundesrepublik heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." — Das ist ein Recht der Parteien, das z. B. auch im Verhältnis Partei und Bundestagsfraktion eine Rolle spielt, ohne daß es gleich zum imperativen Mandat führt.
    Die Parteien haben auch kein Monopol, und mit Recht kann sich die Friedensbewegung darauf berufen. Aber diese Grundgesetzbestimmung bedeutet auch, daß die Parteien einen konstruktiven Beitrag zur politischen Willensbildung zu leisten haben, wenn sie nicht zum Wahlverein verkommen wollen. Wo sind die Diskussionsbeiträge der CDU/ CSU zur politischen Willensbildung über die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik? Diskutiert wird in den Kirchen, in den Gewerkschaften, bei den Schriftstellern, bei den Ärzten, bei den katholischen Pfadpfindern,

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Jeden Abend in meinem Kreisverband!)

    bei der deutschen Sportjugend, nur nicht in der CDU/CSU.

    (Beifall bei der SPD)

    Und wenn es Herr Biedenkopf und Herr Alt versuchen, dann werden sie behandelt wie Dissidenten.

    (Beifall bei der SPD)

    Die SPD stellt sich nicht nur der Diskussion, sie löst sie auch aus. Der Zwischenbericht unserer Kommission „Neue Strategie" ist dafür ein Beispiel. Er wird Thema unseres nächsten Parteitages im Mai sein. Wir sind bereit, aus diesen Diskussionen zu lernen und Schlußfolgerungen zu ziehen. Das gilt für unsere innerparteiliche Diskussion wie für die gesellschaftliche Diskussion, an der wir uns beteiligen. Wir alle, und auch Sie, wenn Sie ehrlich sind, wir alle wissen heute mehr als vor vier Jahren über die tatsächlichen Gegebenheiten und über die Gefahren und Chancen unserer Sicherheitspolitik. Lernen zu können ist keine Prinzipienlosigkeit.
    Aber Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes heißt für die Parteien auch, Einsichten und Überzeugung zu vermitteln und politische Lösungen aufzuzeigen. Ich gebe dafür fünf Beispiele.
    Erstens. Die Abschreckung bleibt ein entscheidendes Mittel zur Kriegsverhütung, solange es die Gefahr kriegerischen Austragens politischer Konflikte gibt. Atomare Abschreckung kann nur durch eine Politik des Sichvertragens und kontrollierter Abrüstung ersetzt werden. Aber sie muß auch ersetzt werden. Das ist unser Ziel, und das ist der Kern unseres Konzepts der Sicherheitspartnerschaft. Dazu dürfen die Staaten in Ost und West nicht regierungsunfähig gemacht werden, sondern ihre Regierungen müssen verhandlungsfähig gemacht werden.
    Zweitens. Entspannung, Zusammenarbeit und Abrüstung schließen offene, ideelle und politische Auseinandersetzungen nicht aus. Neutralität in Fragen der Humanität, der Freiheit und der Demokratie kann es für uns Sozialdemokraten nicht geben,

    (Beifall bei der SPD)

    weder in Polen noch in der Türkei.
    Das ist keine Position der Äquidistanz. Die USA und die Bundesrepublik sind durch gemeinsame Tradition und gemeinsame Werte der Menschenrechte und der Demokratie miteinander verbunden. Das kommunistische System der UdSSR ist dagegen für Sozialdemokraten unannehmbar. Aber wir nehmen uns die Freiheit, für die Rechte anderer Völker einzutreten, wo sie von einer Supermacht verletzt werden, in Afghanistan wie in Grenada.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir stehen zu unserer Ordnung. Deshalb werden wir sie bewahren und weiterentwickeln und, wenn es nottut, auch verteidigen.
    Drittens. Nur in der NATO hat die Bundesrepublik ein Mindestmaß von Sicherheit vor der UdSSR und von Einfluß auf die USA. Für die SPD steht daher nicht die Mitgliedschaft in der NATO zur Diskussion, wohl aber ihre Politik und Strategie.

    (Beifall bei der SPD)




    Gansel
    Viertens. Außenpolitisch ist die Bundeswehr unser Beitrag zu einem Verteidigungsbündnis. Die Soldaten und Wehrpflichtigen, die dem Friedensauftrag des Grundgesetzes dienen, haben unsere Unterstützung, und sie haben sie nötig.

    (Beifall bei der SPD)

    Innenpolitisch sind demokratische Kontrolle einer Armee und gesellschaftliche Integration des Soldaten keine Selbstverständlichkeiten. Ein Feindbild Bundeswehr könnte zum Vorzeichen des Weges in einen autoritären Staat werden — nicht unregierbar, aber undemokratisch.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Friedensbewegung darf deshalb keine AntiBundeswehr-Bewegung werden.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Sehr gut! — Zuruf von den GRÜNEN)

    Fünftens. Die SPD steht bedingungslos zum Recht des einzelnen auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, ein Grundrecht, das durch die Gesetzgebung immer noch nicht voll verwirklicht ist. Der ethische und der religiöse Pazifismus hat in der SPD immer Schutz und Wirkungsraum gehabt; aber er ist nicht ihr Programm.
    Die SPD bejaht die Landesverteidigung. Sie trifft sich mit dem politischen Pazifismus in der Perspektive — und ich zitiere aus dem Godesberger Programm —, „eine allgemeine und kontrollierte Abrüstung und eine mit Machtmitteln ausgestattete internationale Rechtsordnung herbeizuführen, die die nationale Landesverteidigung ablösen wird". Diese Zielvorstellung aus dem Godesberger Programm galt lange Zeit bei sogenannten Realpolitikern, die die Atombombe als Weiterentwicklung der Artillerie betrachteten, als eine überlebte Utopie. Heute, im Zeitalter mehrfachen atomaren Overkills ist sie eine Überlebensutopie für Realisten.

    (Beifall bei der SPD)

    Nur wenn wir sie verwirklichen, wird die Menschheit das Wettrüsten beenden und überleben können. Nur wenn wir sie wagen, werden wir sicherer.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD)