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    Plenarprotokoll 10/35 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 35. Sitzung Bonn, Montag, den 21. November 1983 Inhalt: Verzicht der Abg. Dr. Linde und Grobecker auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag 2321A Eintritt der Abg. Neumann (Bramsche) und Hettling in den Deutschen Bundestag 2321 A Erweiterung der Tagesordnung 2321 B Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen in Verbindung mit Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen — Drucksache 10/617 — in Verbindung mit Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen — Drucksache 10/620 — in Verbindung mit Antrag der Fraktion der SPD NATO-Doppelbeschluß und Stand der INF-Verhandlungen — Drucksache 10/621 — Dr. Kohl, Bundeskanzler 2321 D Burgmann GRÜNE (zur GO) 2332 B Präsident Dr. Barzel 2332 D, 2384 D Porzner SPD (zur GO) 2333 B Dr. Vogel SPD 2333 C Dr. Dregger CDU/CSU 2345 B Vizepräsident Frau Renger 2346 D Genscher, Bundesminister AA 2356 A Schily GRÜNE 2364 C Dr. Waigel CDU/CSU 2368 B Schmidt (Hamburg) SPD 2376 A Mischnick FDP 2384 D Bastian GRÜNE 2390 A Dr. Marx CDU/CSU 2394 A Bahr SPD 2399 A Dr. Todenhöfer CDU/CSU 2406 B Frau Huber SPD 2411A Ronneburger FDP 2414 B Vogt (Kaiserslautern) GRÜNE 2418 D Vizepräsident Westphal 2419C, 2419 D Frau Geiger CDU/CSU 2422 A Gansel SPD 2424 D Müller (Remscheid) CDU/CSU 2428 B Klose SPD 2430 D Dr. Göhner CDU/CSU 2435 C Frau Fuchs (Verl) SPD 2438 A Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 2440 B Schwenninger GRÜNE 2443 D Voigt (Frankfurt) SPD 2446A Höffkes CDU/CSU 2450 D Peter (Kassel) SPD 2454 C Nächste Sitzung 2456 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 2457*A Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2321 35. Sitzung Bonn, den 21. November 1983 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode —35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2457* Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 25. 11. Haehser 25. 11. Immer (Altenkirchen) 25. 11. Kastning 25. 11. Dr. h. c. Lorenz 25. 11. Offergeld 25. 11. Petersen 25. 11. Vogt (Düren) 21. 11. Frau Dr. Wex 25. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Nein, ich möchte weiterreden.

    (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das ist genauso halbwahr wie damals nach Gromyko!)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht jetzt um die Frage, wie wir auf dem von der Bundesrepublik Deutschland, auf dem vom westlichen Bündnis eingeschlagenen Weg nun weitergehen. Viele unserer Mitbürger im Lande und in der ganzen Welt beschäftigt die Frage, wie es mit den Verhandlungen weitergehen soll. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, wir, die westlichen Staaten, haben vier Jahre lang nach dem NATO-Doppelbeschluß unsere Bereitschaft erklärt und auch bewiesen, trotz fortschreitender sowjetischer Vorrüstung weiter zu verhandeln. Diese Haltung gibt uns den Anspruch — „uns" heißt: den Regierungen dieser Länder, unseren Völkern, allen Völkern Europas —, auch von der Sowjetunion zu erwarten, daß sie zur Fortsetzung der Verhandlungen bereit ist, um ein Verhandlungsergebnis zu erzielen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Solche Verhandlungen an dem jetzt gegebenen Tisch oder einem anderen liegen im Interesse der Sowjetunion und ihrer Verbündeten genauso wie in unserem Interesse. Wir werden vom Verhandlungstisch nicht aufstehen. Wir werden an jeden Verhandlungstisch hingehen, der an anderer Stelle aufgebaut wird. Wir werden alles tun, um in den Jahren des Stationierungsvorgangs — jetzt geht es um den Beginn — mit aller Kraft auf ein konkretes Verhandlungsergebnis hinzuarbeiten.
    Die Erklärung des westlichen Bündnisses steht: Jede einzelne amerikanische Mittelstreckenrakete, die jetzt aufgestellt wird, kann als Ergebnis späterer Verhandlungen wieder beseitigt werden. Nichts ist unwiderruflich.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Reents [GRÜNE]: Es macht uns sehr hoffnungsfroh, was Sie sagen!)

    Wir werden alles tun, daß die Verhandlungen zu einem solchen Ergebnis führen.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, das werden wir dann erreichen, wenn wir unsere Politik in allen Teilen — bei der Durchsetzung des Doppelbeschlusses der NATO genauso wie in den anderen Elementen unserer Friedenspolitik — verwirklichen. Diese anderen Elemente der Friedenspolitik gehen über den NATO-Doppelbeschluß hinaus, aber sie sind nicht denkbar ohne diesen Teil unserer Außen- und Sicherheitspolitik.
    Herr Kollege Dr. Vogel hat heute auch die Frage nach der Strategie des westlichen Bündnisses aufgeworfen. Das ist die Frage nach der Tauglichkeit, der Beständigkeit und den Perspektiven der westlichen Abschreckungsstrategie. Wenn wir von Abschreckung sprechen, so müssen wir die Frage stellen: Von was abschrecken? — Abschrecken vom Kriege, meine Damen und Herren; den Krieg in Europa nicht mehr führbar machen; den Krieg verhindern. Diese Strategie ist Kriegsverhinderungsstrategie. Deshalb sagen wir ja dazu.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wer langfristig den Frieden gewinnen will, was weit mehr ist als Nichtkrieg, der muß zuallererst durch seine Politik

    (Reents [GRÜNE]: Alkoholismus durch Schnaps bekämpfen! — Weiterer Zuruf von den GRÜNEN: Nein, der muß aufrüsten!)

    den Krieg unter allen Umständen vermeiden. Da wissen wir, meine Damen und Herren, daß es hier in diesem hochgerüsteten und dicht besiedelten Europa darum geht, jede Form von Krieg zu verhindern.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Unsere Kriegsverhinderungsstrategie hat bisher und wird auch in Zukunft den atomaren Krieg genauso verhindern wie den konventionellen Krieg. Wenn wir Gewaltverzicht meinen, dann heißt das: Verzicht auf jede Form der Gewaltanwendung, der atomaren und der konventionellen Gewaltanwendung.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Herr Kollege Dregger hat auf die Erfahrung einer Generation hingewiesen, die die Schrecken des Zweiten Weltkrieges erlebt hat. Wir dürfen niemals in den Hintergrund treten lassen: Auch ein konventionell geführter Krieg in Europa ohne Einsatz von Atomwaffen wäre tausendmal schrecklicher als der Zweite Weltkrieg, den wir alle so bitter in Erinnerung haben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Schneider [Berlin] [GRÜNE])

    Und deshalb müssen wir alles tun, um jede Form des Krieges zu verhindern und zu vermeiden. Das ist unsere Strategie.
    Und da wissen wir, daß die Strategie der Abschreckung nicht die letzte Antwort auf die Frage nach dauerhaftem Frieden in ganz Europa sein kann. Aber sie wird es so lange bleiben müssen, solange wir nicht politische Rahmenbedingungen geschaffen haben, in denen der Nichtkrieg durch Abschreckung abgelöst werden kann durch eine Friedensordnung, die auf Vertrauen gegründet ist. Das ist die Aufgabe unserer Friedenspolitik. Das ist eine Aufgabe, die wir nicht nur bei den Verhandlungen über Mittelstreckenraketen erfüllen müssen — wie es überhaupt gefährlich ist, die Frage der Friedenssicherung, des West-Ost-Verhältnisses auf diese eine Frage zu reduzieren.
    Das ist eine Aufgabe, die wir zu erfüllen haben bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen und im UNO-Abrüstungsausschuß, bei den Verhandlungen über Truppenreduzierung in Mitteleuropa. Es ist eine Aufgabe, die wir bei der im Januar des kommenden Jahres beginnenden europäischen Abrüstungskonferenz zu erfüllen haben, wo es vor allem darum geht, in der ersten Phase Vertrauen zu bilden, Vertrauen in ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural, und, von Vertrauensbildung beginnend,



    Bundesminister Genscher
    auch auf ein konventionelles Gleichgewicht in ganz Europa hinzuarbeiten.

    (Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Wie wollen Sie das denn machen, wenn Sie jetzt durch die Stationierung alles Porzellan zerschlagen?)

    Und konventionelles Gleichgewicht in ganz Europa wollen wir durch Abrüstung erreichen. Das heißt, daß die Sowjetunion bereit sein muß, auch hier ihre konventionelle Überlegenheit abzubauen.
    Wir werden diesen Weg einer besonnenen und realistischen Friedenspolitik zusammen mit unseren Verbündeten konsequent weitergehen. Wir werden durch Zusammenarbeit, Zusammenarbeit in allen Bereichen, Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten, Zusammenarbeit mit der DDR, durch die Mitwirkung in den internationalen Konferenzen alles tun,

    (Zuruf des Abg. Reents [GRÜNE])

    damit die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die wir brauchen, damit in Europa eine Ordnung geschaffen werden kann, die den Begriff Friedensordnung verträgt, die den Begriff Friedensordnung verdient.
    Hier müssen wir erkennen, daß wir in unserer Lage im Herzen Europas eine besondere Verantwortung zu erfüllen haben. Wir erfüllen diese Verantwortung durch die Berechenbarkeit unserer Außenpolitik, durch die Erhaltung der Übereinstimmung unserer Politik mit den Auffassungen und den gemeinsam erarbeiteten Zielen der Friedenspolitik aller unserer Nachbarn und Verbündeten im Westen und durch den aufrichtigen Willen, mit den Staaten des Ostens, mit den Völkern des Ostens den Weg zu gehen, der mit zunehmendem Abbau von Spannungen, Vertrauensbildung und Abrüstung eben diese Friedensordnung schafft.
    Wir wissen, und wir werden es uns bei jeder Entscheidung neu fragen, wie die Auswirkungen jeder einzelnen dieser Entscheidungen auch auf das deutsch-deutsche Verhältnis sind. Deshalb haben wir dieser Aufgabe der Gestaltung der deutschdeutschen Beziehungen ein solches Gewicht und eine solche Bedeutung zugemessen.
    Herr Kollege Dr. Vogel, Sie haben heute, und das zu Recht, eine auch mich beeindruckende Ansprache bei der Feier in Worms erwähnt. Ich denke, daß wir uns bei der Entscheidung, die jetzt vor uns steht, davor hüten sollten, unsere Mitbürger in der DDR für die eine oder für die andere Auffassung in Anspruch zu nehmen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Fischer [Frankfurt] [GRÜNE])

    Wie sie in dieser Frage stehen, konnten sie — im Gegensatz zu uns — in freier Entscheidung nicht bekunden. Unsere Aufgabe ist etwas anderes: Unsere Aufgabe ist es

    (Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Die Kontrolle über die Raketen nicht verlieren!)

    — als Regierung, als Parlament, als Menschen in einem Staat, der nur einen Teil des eigenen Volkes repräsentiert —, alles zu tun, damit auch die Interessen der anderen unseres Volkes — und als Europäer: der anderen Europäer — gewahrt werden. Diese Verantwortung bedeutet in unserem Verständnis, daß wir für uns alle in West und Ost den Frieden bewahren. Sie bedeutet in unserem Verständnis aber auch die Einsicht, daß wir den Frieden der anderen nicht dadurch sichern, daß wir für uns die Freiheit aufs Spiel setzen würden. — Ich danke Ihnen.

    (Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rede von Richard Wurbs
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort hat der Abgeordnete Schily.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Otto Schily


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Vorab werde ich einen einseitigen verbalen Abrüstungsschritt vollziehen: Ich nehme den gegen den Staatssekretär Kollegen Spranger gerichteten Ausdruck „CIA-Agent" zurück.

    (Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und der FDP — Zuruf von der SPD: CIA-Freund!)

    Wir können uns dann gemeinsam darauf verständigen, mit welchem Ausdruck wir den Besuch von Herrn Spranger auf Einladung des CIA in Grenada bezeichnen wollen.
    Der Entschluß der Bundesregierung, den Beginn der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden zuzulassen, ist ein Akt der Unterwerfung unter die zunehmend aggressivere Militärstrategie der gegenwärtigen US-Regierung, eine Kapitulation der Vernunft, ein Fiasko für den Frieden in Europa.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Den Verheerungen der Kriege sind stets Verheerungen im Denken der Menschen, im Denken der politisch Verantwortlichen, der politisch Herrschenden, vorausgegangen. Immer dann, wenn sich die politische Vernunft, die gern im Gewand der Realpolitik daherkommt, unterordnete, war dies das Vorzeichen einer kommenden Katastrophe. Im Jahre 1975 veröffentlichte die Zeitung „Die Welt" einen Artikel unter der Überschrift: „Flucht in den Frieden". Dort hieß es, in Wirklichkeit lasse sich der Krieg weder wegforschen noch wegträumen. Einer ganzen Generation von Friedensforschern und Friedensfreunden sei der Begriff des Krieges abhanden gekommen. Es hat heute den Anschein, daß einer ganzen Generation von Politikern inzwischen der Begriff des Friedens abhanden gekommen ist.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Gewiß, der Krieg läßt sich nicht wegforschen noch wegträumen. Aber sicher ist zugleich, daß der Krieg herbeigeforscht, herbeigedacht, herbeigeplant werden kann.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Das ist angesichts der Tatsache, daß gegenwärtig
    jeder fünfte Wissenschaftler in der Welt damit be-



    Schily
    schäftigt ist, immer perfektere Tötungsinstrumente herzustellen, und daß sich der militärisch-industrielle Komplex in den Vereinigten Staaten sowie der militärisch-bürokratische Komplex in der UdSSR jeweils zu den beherrschenden gesellschaftlichen Kräften entwickelt haben, eine sehr reale Gefahr.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Die Sie herbeigeredet haben!)

    Es ist die ins Aberwitzige übersteigerte Machtpolitik, die sich in den Atomwaffenarsenalen materialisiert und der sich auch die Bundesregierung verschrieben hat. Ihre Beteuerungen, ihr Verhalten diene der Friedenssicherung in Europa, sind nicht glaubhaft. Die Bundesregierung beruft sich auf ein Konzept der Kriegsverhinderung durch Abschrekkung. Dieses Konzept ist trügerisch. Es ist ein Vabanquespiel mit dem Untergang Europas, mit dem Weltuntergang. Das Zerstörungspotential der wechselseitigen Bedrohung hat inzwischen eine Größenordnung von 1 Million Hiroshima erreicht. Wenn Politik ihren letzten Sinn in der Erhaltung des Friedens hat, wie kann sie sich dann auf die Alternative des „Alles oder Nichts" oder genauer: des „Etwas oder Nichts" einlassen? Freiheit oder Weltuntergang, das kann niemals eine sinnvolle Alternative sein.
    Herr Bundeskanzler, Sie haben heute vormittag gesagt, der Friede im nuklearen Zeitalter sei nur so sicher wie die Gefahr des Untergangs für den, der ihn bricht. Das ist leider allenfalls die halbe Wahrheit. Herr Kollege Dr. Vogel ist darauf schon eingegangen. Es ist ein Beweis für die Selbsttäuschungen, in denen Sie befangen sind. Denn die Gefahr des Untergangs besteht im Nuklearzeitalter für uns alle, die wir Geiseln der Supermächte sind. Wissen Sie wirklich nicht, daß die prekäre Scheinsicherheit der Abschreckung der Weltuntergang auf Abruf ist? Daß wir längst unser Schicksal, das Schicksal der Menschheit der Erbarmungslosigkeit von Computern anvertraut haben? Was ist daran noch christlich, frage ich Sie.
    Sie drohen mit dem Weltuntergang wie ein Polizist mit dem Bußgeld. Kann aber der Weltuntergang die Sanktion für irgendeinen Vorgang in dieser Welt sein? Haben Sie wirklich keine Ahnung, mit welchen grauenvollen Eventualitäten solche Drohungen belastet sind?

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    Lesen Sie doch einmal nach in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 11. November 1981, was sie über die Atompolitik schreibt. Ich zitiere:
    Nun ist aber Atompolitik eine Kunst, die mit lauter Unbekannten arbeiten muß. Nichts ist hier beweisbar. Ausgangspunkt ist die Vernunft. Der Verstand sagt, daß niemand den Untergang will. Strategisch ist das jedoch keine Tatsache. Es ist eine Hoffnung. Das hat die amerikanischen Analytiker dazu getrieben, zahlreiche Modelle eines möglichen Krieges zu entwerfen. Der Sinn dieser Entwürfe ist, die Gewalt der atomaren Kraft zu mäßigen, die Atomwaffen nur als politische Waffen zu nutzen und vielleicht partielle Vernichtung der totalen Vernichtung vorzuschalten. Eines dieser Modelle ist die flexible response — zugegebenermaßen voller Fehler, Hypothesen und Fiktionen.
    Ende des Zitats. — Der Weltuntergang, abhängig von Fehlern, Hypothesen und Fiktionen. Läßt Sie das nicht innehalten, meine Damen und Herren Kollegen?
    Von Hannah Arendt stammt der Satz:
    Die technische Entwicklung der Gewaltmittel hat in den letzten Jahrzehnten den Punkt erreicht, an dem sich kein politisches Ziel mehr vorstellen läßt, das ihrem Vernichtungspotential entspräche oder ihren Einsatz in einem bewaffneten Konflikt rechtfertigen könnte.
    Die Eiferer der Abschreckung wollen uns weismachen, dies eben sei ihre Überzeugung, auch sie wollten den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln verhindern. Deshalb seien die Vorbereitung und die Androhung von Massenvernichtungsmitteln notwendig.
    Aber Sie befinden sich damit in einem unauflöslichen und unheilvollen Widerspruch. Wer Kriegsverhinderung durch Abschreckung bewirken will, kann dem Dilemma nicht entrinnen, daß er den atomaren Holocaust dadurch unmöglich machen will, daß er ihn möglich macht. Auf exakt dieser paradoxen Denkweise beruht das sicherheitspolitische Konzept der Bundesregierung: Kriegsverhinderung durch Kriegsführungsoptionen, so lautet die Parole.
    Im Nuklearzeitalter aber — das sollten Sie begreifen — ist Bedrohung des Gegners immer zugleich Bedrohung für uns selbst.

    (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Selbstverständlich!)

    Kriegsführungsoptionen, die im Zusammenhang mit der geplanten Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen für das sogenannte europäische Nuklearkriegstheater entwickelt werden, taugen schon deshalb nicht zur Kriegsverhinderung, weil sie mit untragbaren, unüberschaubaren Risiken verbunden sind und weil nicht — jedenfalls nicht deutlich — erkennbar ist, ob sie offensiven oder defensiven Absichten entsprechen. Welches Vertrauen will die Bundesregierung in dieser Hinsicht eigentlich für sich, vor allem aber für die gegenwärtige US-Regierung beanspruchen?
    Im Sommer 1978 hielten sich eine Reihe von Militärexperten der CDU/CSU, darunter der heutige Verteidigungsminister Wörner,

    (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Der Sogenannte!)

    in den Vereinigten Staaten auf. Über die Vorstellungen, die sie seinerzeit entwickelt haben, wird folgendes berichtet: Die Vereinigten Staaten sollten ihre strategischen Streitkräfte direkter mit ihren Angriffsoptionen — Angriffsoptionen! — für europäische Kriegspläne integrieren. In diesem Zusammenhang wurde Bezug auf die Strategie der direk-



    Schily
    ten chirurgischen Schläge gegen sowjetische Gebiete genommen. Die deutschen Teilnehmer argumentierten, die USA müßten alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um die glaubwürdige Option, zuerst in einem europäischen Krieg — in einem europäischen Krieg! — Kernwaffen einzusetzen, am Leben zu erhalten. — Zuerst in einem europäischen Krieg! — Sollte es der Sowjetunion gelingen, diese Option zu durchkreuzen, könnte dies das Ende der Allianz sein. Sie betonten den politischen und psychologischen Wert gerade von sichtbaren landstationierten Systemen in Europa. Sie betonten auch das Abschreckungsparadox, daß bis zu einem gewissen Punkt gerade die Verwundbarkeit der Waffen — ich erinnere an unsere Großen Anfragen — den Willen stärkt, schon früh in einem militärischen Konflikt auf Kernwaffen zurückzugreifen.
    Soweit der Bericht über die damaligen Äußerungen von CDU/CSU-Politikern.
    Angeblich soll durch diese Senkung der Nuklearschwelle Europa stärker an die atomare Vergeltungsdrohung der Vereinigten Staaten angekoppelt werden. In Wahrheit tritt genau das Gegenteil ein. Nach den Vorstellungen der amerikanischen Militärplaner schaffen sich die USA die Option auf einen atomaren Enthauptungsschlag gegen die Sowjetunion. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Strategie der horizontalen Eskalation, d. h. der Verknüpfung verschiedener Krisengebiete in der Welt, führt das zu einer schroffen Destabilisierung der Lage in Europa.
    Die Bundesregierung will uns beruhigen. Sie versichert, es gebe kein Konzept dieser Art. Aber wie verträgt sich die Auskunft mit der Tatsache, daß dieses Konzept des Enthauptungsschlages in dem geheimen Leitlinien-Dokument 1984 bis 1988 der US-Regierung enthalten ist, das 1982 in der „New York Times" veröffentlicht wurde? Und hat nicht der Vordenker der US-Regierung Colin S. Gray das folgende Szenario entworfen:
    Nehmen wir an, — so schrieb er —
    es handelt sich um hundert Ziele. Wenn wir alle diese hundert Ziele treffen könnten, würden wir jedes Mitglied des Politbüros erwischen, jedes Mitglied des Zentralkomitees. Wir würden alle entscheidend wichtigen Bürokraten töten. Wir würden also dem sowjetischen Huhn den Kopf abschlagen.

    (Zuruf von den GRÜNEN: Unglaublich!)

    Muß es uns nicht alarmieren, daß der ehemalige US-Admiral La Roque erklärt hat, daß die Amerikaner davon ausgingen, der dritte Weltkrieg werde ebenso wie der Erste und Zweite in Europa ausgefochten werden? Ist Kissinger irgendwer, wenn er äußert:
    Ich glaube nicht, daß die Sowjetunion, wenn Nuklearwaffen auf eine begrenzte Weise gegen sie eingesetzt würden, in jedem Fall mit einem weltweiten Atomkrieg antworten würde.
    Es mag eine Illusion sein, aber es wäre nicht das erste Mal, daß eine Illusion in die Katastrophe eines Krieges führt.
    Müssen wir nicht aufwachen, wenn der französische Admiral Sanguinetti berichtet, daß ihm amerikanische NATO-Offiziere in aller Offenheit erklärt hätten, die Amerikaner müßten eines Tages über die Zerstörung Europas nachdenken? Der Trick, wenn sie Europa zerstören müßten, wäre der, die andere Seite dazu zu bringen, den Krieg anzufangen.
    Und welche unauffällige Botschaft hat der amerikanische Präsident Reagan in einem unscheinbaren Satz untergebracht, als er in einer Rede am 18. November 1981 erklärte:
    Mit sowjetischem Einverständnis könnten wir gemeinsam die schreckliche Gefahr eines Atomkrieges, die über den Völkern Europas schwebt, wesentlich vermindern.
    Die Gefahr eines Atomkrieges, die schreckliche Gefahr — das läßt uns der amerikanische Präsident wissen —, schwebt über den Völkern Europas. Wohlgemerkt: über den Völkern Europas.
    In letzter Zeit ist sehr viel von Stimmungen die Rede. Welche Stimmung kommt eigentlich darin zum Ausdruck, wenn in einem Leserbrief, den die „New York Times" veröffentlichte, die Frage gestellt wird:
    Warum sind die Deutschen nicht bereit, ein Opfer zu bringen? Die Menschen von Hiroshima haben es auch erbracht, und viele von ihnen leben noch.
    Und welche hintergründige Voraussage will uns eigentlich der den Amerikanern jedenfalls nicht fernstehende Kommentator des „Tagesspiegel" vermitteln, der am 13. Oktober 1981 schrieb:
    Das deutsche Volk hat einmal bis zur letzten Patrone und bis zum letzten Mann sich für sein diktatorisches System geschlagen. Die Demonstranten
    — er meinte die Friedensdemonstration in Bonn —
    von Bonn scheinen nicht bereit zu sein, für ein demokratisches System und für den Verbund der demokratischen Völker der Welt ein Risiko einzugehen.
    Sollen wir uns da beruhigen? Sollten wir nicht eher die Warnung des früheren US-Verteidigungsministers McNamara ernstnehmen, der kürzlich gesagt hat:
    Worüber sich die Westdeutschen klarwerden müssen, das ist, daß ihr Kulturkreis völlig verwüstet wird, wenn sie sich weiterhin an die NATO-Strategie halten.
    Diese Warnung ernstnehmen, bedeutet, daß wir an einer Grenzlinie angelangt sind.
    Herr Dr. Dregger, Sie haben in der vergangenen Woche und auch heute in der Debatte erklärt — in Übereinstimmung mit dem Bundesaußenminister —, ein Nein zur Stationierung neuer amerika-



    Schily
    nischer Mittelstreckenraketen sei ein Votum gegen die NATO. Dem scheinen die Annahme und die Absicht zugrunde zu liegen, ein Ja zur Stationierung werde das NATO-Bündnis festigen. Sie täuschen sich.
    Wirkungen und Gegenwirkungen in der Geschichte unterliegen nicht den Gesetzen einer politischen Mechanik. Wenn Sie Ihre Macht dazu ausnutzen, den Weg für die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen auf dem Boden der Bundesrepublik freizugeben, wenn Sie den Mehrheitswillen der Deutschen in beiden deutschen Staaten mit dieser Entscheidung mißachten,

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    wenn Sie Verfassung und Völkerrecht beiseiteräumen und Europa an den Rand des Abgrunds rükken, dann setzen Sie selber die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zum NATO-Bündnis auf die politische Tagesordnung;

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    denn was kann ein Bündnis wert sein, das bereit ist, die Existenz unseres Volkes zu opfern, das zu schützen es vorgibt?
    In einem bereits 1977 veröffentlichten Artikel hat die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter Hinweis auf Ausführungen des damaligen Oppositionspolitikers Dregger in einer Bundestagsdebatte hervorgehoben, daß sich die Bundesrepublik nicht mit einer Bündnisstrategie zufrieden geben könne, die ihre totale Vernichtung im Verteidigungsfall einplane, bei konventioneller wie atomarer Kriegführung. Im vorigen Jahrhundert hätte sich aus dieser Gefährdung — so schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" — selbstverständlich die Überprüfung der Bündnisfrage ergeben. In Bonn — so stellte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" damals fest — sei man diesen Fragen bisher aus dem Weg gegangen, und auch Dregger habe sie nur so angesprochen, daß man sie weiter liegenlassen könne. Der Grund liege auf der Hand. Befriedigende Antworten seien nicht in Sicht, ein Umstand, der auch die Zurückhaltung der Union erkläre. Schließlich wäre man um eine gute Antwort ebenso verlegen wie die derzeitige Regierung, sollte man die Rollen tauschen. — In der Tat, der Rollentausch ist vollzogen, und gute Antworten hinsichtlich der Überlebenschancen unseres Volkes im sogenannten Verteidigungsfall bleiben aus wie früher.
    Und vielleicht erinnern Sie sich auch des Satzes eines Mannes, der sich wahrlich nicht scheut, Tabus anzugehen. Rudolf Augstein hat in einem Artikel im „Spiegel" vom 19. April 1982 folgendes bemerkt:
    Wenn wir dann aber noch hören, „vom strikt nationalen Standpunkt der USA" bestehe keine Notwendigkeit, Mittelstreckenraketen auf europäischem Boden zu dislozieren, man könne sie ebensogut auf Schiffe tun, wie Kissinger meint. Nun, warum tut man sie dann nicht auf Schiffe? Die Antwort fällt recht heikel aus: Weil Westeuropa ... nicht nur die Geisel der Sowjets, sondern auch die der USA sein soll.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Welchen Wert soll schließlich aber auch das NATOBündnis für uns haben, wenn es die Entscheidung über Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes, der europäischen Völker überhaupt, in die Hand des amerikanischen Präsidenten Reagan legt, der mit der Wahnidee umgeht, es sei die Zeit des Armageddon, die Zeit des apokalyptischen Endkampfes zwischen Gut und Böse?
    Wir Europäer müssen uns auf einen anderen Weg begeben. Insbesondere wir Deutschen sollten aus unserer dunklen Vergangenheit gelernt haben. Das Streben nach militärischer Macht und Übermacht hat die Deutschen in den letzten hundert Jahren immer wieder ins Verderben gestürzt. Konstantin Frantz, der davon überzeugt war, daß das zentralistische Experiment in Deutschland in einer Katastrophe enden müßte, blieb im vergangenen Jahrhundert ungehört. Er schrieb seinerzeit:
    Mit der Staatsidee ist da von vornherein nicht auszukommen, wo es sich vielmehr um das Verflochtensein Deutschlands mit den europäischen Verhältnissen handelt. Im Gegenteil: Je mehr Deutschland dazu berufen ist — und diesen Beruf auch ausfüllen will —, einen organischen Zusammenhang des europäischen Völkerlebens zu begründen, um so weniger darf es sich selbst zu einem abgeschlossenen und zentralistischen Staatskörper gestalten wollen, der nach allen Seiten hin nur abstoßend wirken würde. Bloße Macht hilft hier nicht.
    Ist es nicht einen Augenblick des Nachdenkens wert, daß ausgerechnet in der Geburtsstunde des Doppelbeschlusses der scheinbare Eintritt der Bundesrepublik in den Club der Großmächte gefeiert wurde? Wir müssen uns auf uns selbst besinnen, auf unsere Identität, die zugleich und vornehmlich eine europäische ist und sein muß. Auflösung der Blökke,

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Auflösen der GRÜNEN!)

    Verbindung der europäischen Interessen, Neutralisierung Mitteleuropas als ein Anfang, Ersetzung der militärischen durch politische Sicherheitselemente — das sind die Perspektiven, auf die wir hinarbeiten müssen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wahre christliche Nächstenliebe, kulturelle Beziehungen leisten für die Sicherheit mehr, als es jede Waffe je tun konnte.

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Jedes Kind, dem wir eine Schüssel Reis überreichen, soll mir mehr wert sein als Ihre Glanzpapierproklamation über Freiheit und ähnliches,

    (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Bravo!)

    die Sie hier mit Atomwaffen und dem Weltuntergang verteidigen wollen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Von einem Freund, der in der unabhängigen Friedensbewegung der DDR aktiv ist, habe ich einen Satz im Gedächtnis behalten, der uns gut als Leitli-



    Schily
    nie dienen kann: Frieden schaffen durch die Kraft der Schwachen.
    Eine Neutralisierung Mitteleuropas, eine Neutralisierung der Völker Europas, eine Auflösung der Blöcke ist sicherlich nicht ohne Risiken. Diese sind jedoch unvergleichbar geringer als das Risiko der atomaren Vernichtung, das uns das NATO-Bündnis aufbürdet.
    Eine Auflösung der Blöcke liegt nicht zuletzt im wohlverstandenen Interesse des amerikanischen Volkes und der Völker der Sowjetunion. Die Machtteilung in Europa auf der Grundlage von Jalta ist geschichtlich überholt. Das sagen wir auch und nicht zuletzt an die Adresse der Sowjetunion und der osteuropäischen Staaten. Insbesondere die Sowjetunion wird sich zu der Wahrnehmung befähigen müssen, daß die Friedensbewegung in Westeuropa ein bedeutender politischer Sicherheitsfaktor geworden ist, und sie sollte daraus Folgerungen für ihr Handeln ziehen.
    Den sogenannten Realpolitikern, die die von uns angestrebte Überwindung der Blöcke als Wunschtraum abtun, antworte ich mit den Worten Albert Schweitzers aus dem Jahre 1958: Wir haben die Wahl zwischen zwei Risiken. Das eine besteht in der Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens, in Atomwaffen und der damit gegebenen Gefahr eines unvermeidlichen Atomkrieges, das andere in dem Verzicht auf Atomwaffen und in dem Hoffen, daß Amerika, die Sowjetunion und die mit ihnen in Verbindung stehenden Völker es fertigbringen werden, in Verträglichkeit und Frieden nebeneinander zu leben. Das erste enthält keine Möglichkeit einer gedeihlichen Zukunft, das zweite tut es. Wir müssen das zweite wagen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)