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    Plenarprotokoll 10/35 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 35. Sitzung Bonn, Montag, den 21. November 1983 Inhalt: Verzicht der Abg. Dr. Linde und Grobecker auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag 2321A Eintritt der Abg. Neumann (Bramsche) und Hettling in den Deutschen Bundestag 2321 A Erweiterung der Tagesordnung 2321 B Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen in Verbindung mit Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen — Drucksache 10/617 — in Verbindung mit Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen — Drucksache 10/620 — in Verbindung mit Antrag der Fraktion der SPD NATO-Doppelbeschluß und Stand der INF-Verhandlungen — Drucksache 10/621 — Dr. Kohl, Bundeskanzler 2321 D Burgmann GRÜNE (zur GO) 2332 B Präsident Dr. Barzel 2332 D, 2384 D Porzner SPD (zur GO) 2333 B Dr. Vogel SPD 2333 C Dr. Dregger CDU/CSU 2345 B Vizepräsident Frau Renger 2346 D Genscher, Bundesminister AA 2356 A Schily GRÜNE 2364 C Dr. Waigel CDU/CSU 2368 B Schmidt (Hamburg) SPD 2376 A Mischnick FDP 2384 D Bastian GRÜNE 2390 A Dr. Marx CDU/CSU 2394 A Bahr SPD 2399 A Dr. Todenhöfer CDU/CSU 2406 B Frau Huber SPD 2411A Ronneburger FDP 2414 B Vogt (Kaiserslautern) GRÜNE 2418 D Vizepräsident Westphal 2419C, 2419 D Frau Geiger CDU/CSU 2422 A Gansel SPD 2424 D Müller (Remscheid) CDU/CSU 2428 B Klose SPD 2430 D Dr. Göhner CDU/CSU 2435 C Frau Fuchs (Verl) SPD 2438 A Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 2440 B Schwenninger GRÜNE 2443 D Voigt (Frankfurt) SPD 2446A Höffkes CDU/CSU 2450 D Peter (Kassel) SPD 2454 C Nächste Sitzung 2456 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 2457*A Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2321 35. Sitzung Bonn, den 21. November 1983 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode —35. Sitzung. Bonn, Montag, den 21. November 1983 2457* Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 25. 11. Haehser 25. 11. Immer (Altenkirchen) 25. 11. Kastning 25. 11. Dr. h. c. Lorenz 25. 11. Offergeld 25. 11. Petersen 25. 11. Vogt (Düren) 21. 11. Frau Dr. Wex 25. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Norbert Gansel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Geiger, Sie sind die erste Sprecherin der Regierungskoalition, bei der ich den Eindruck habe, daß Sie die Entscheidung rührt, die Sie zu treffen haben, und daß Sie sie nicht nur kalt begründen. Ich respektiere das, auch wenn ich Ihre Meinung nicht teilen kann, Ihre Schlußfolgerungen bestreiten muß.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)




    Gansel
    Wer sich im Streit von heute an die 70er Jahre zurückerinnert, hat den Eindruck, daß es damals geradezu eine idyllische Übereinstimmung über die Prinzipien der westlichen Sicherheitspolitik gab. So meinte Bundeskanzler Kohl heute morgen in seiner Rede, diese Sicherheitspolitik habe über Jahrzehnte Zustimmung in unserem Volk und in den demokratischen Parteien gefunden.
    Bundeskanzler Kohl hat sich in mehrfacher Weise vertan; denn zur Sicherheit gehört nicht nur die Verteidigungspolitik, sondern auch die Außenpolitik. Es hat damals einen erbitterten Streit über den außenpolitischen Teil unserer Sicherheit gegeben, einen Streit über die Politik, durch Entspannung gegenüber dem Osten Feindschaften und Interessengegensätze abzubauen, um einen friedlichen Ausgleich an die Stelle gegenseitiger Bedrohung zu setzen — mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Wir müssen heute feststellen, daß dieser Versuch auf halbem Wege steckengeblieben ist, vielleicht deshalb, weil wir ihn nicht energisch genug betrieben haben — vielleicht haben wir nicht genug Entspannung gewagt —, aber gewiß auch deswegen, weil die Sowjetunion durch die Aufstellung der SS20-Systeme, durch den Druck auf die Demokratisierungsbewegung in Polen und durch den Einmarsch in Afghanistan rücksichtslos ihre eigenen Macht- und Sicherheitsinteressen verfolgt und bei uns neue Bedrohungsgefühle ausgelöst hat. Dennoch war und bleibt unsere Politik der Entspannung richtig, weil sie die einzige Alternative zu kaltem Krieg und gar Schlimmerem ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Die CDU/CSU hat diese Politik auf eine heftige und zum Teil schäbige Art und Weise bekämpft.

    (Graf Huyn [CDU/CSU]: Zu Recht!)

    Wir werden Ihnen Ihr Gerede vom „Ausverkauf deutscher Interessen" und vom „Verrat" so lange nicht vergeben können, wie es einem Herrn Zimmermann als Regierungsmitglied erlaubt ist, mit leichtfertigem Gerede von den Grenzen von 1937 das Gespenst des deutschen Revanchismus zu beleben.

    (Beifall bei der SPD — Graf Huyn [CDU/ CSU]: Das ist die Verfassung! Das steht im Grundgesetz!)

    Im Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen heißt es:
    Die Vertragsparteien — ich zitiere —
    bekräftigen die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.
    Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben diese Verträge mit Polen, mit der Sowjetunion und mit der CSSR damals bekämpft. Sie waren gegen die Normalisierung mit der DDR. Sie waren gegen den Beitritt zur UNO. Auf einer von
    Ihnen beantragten Sondersitzung des Deutschen Bundestages im Sommer 1975 haben Sie die Helsinki-Konferenz abgelehnt. Es gab damals keine Partei in Europa, die Sie unterstützte, außer den italienischen Faschisten und den albanischen Kommunisten.

    (Zustimmung bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Was soll denn das?)

    Jetzt kommt die Konsequenz, Graf Huyn. Ich frage Sie: Wo stünde die Bundesrepublik Deutschland heute, wenn Sie damals die Macht gehabt hätten, diese Verträge zu verhindern?

    (Graf Huyn [CDU/CSU]: Besser!)

    Was würde die Stationierung von Pershing-II-Raketen

    (Dr. Miltner [CDU/CSU]: Der Frieden wäre sicherer!)

    in der Bundesrepublik Deutschland für den Frieden bedeuten, wenn es eine Bundesregierung gäbe, die noch weiter die Revision der bestehenden Grenzen in Europa fordern könnte?

    (Zustimmung bei der SPD — Graf Huyn [CDU/CSU]: Eine realistischere Politik, Herr Gansel!)

    Sie haben sich auf den Boden der bestehenden Verträge gestellt. Wir begrüßen das. Aber wir appellieren an Sie: Zerstören Sie nicht den Geist, von dem diese Verträge leben müssen, mit dem wir alle überleben müssen.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Jener Streit über die Entspannungspolitik verdeckte, daß der militärische Teil der Sicherheitspolitik schon in den 70er Jahren Gegenstand kritischer Fragen und Diskussionen war. Schließlich galt schon in den 70er Jahren, was auch heute noch richtig — eigentlich aber falsch — ist und was ich mit nüchternen Worten beschreiben will:
    Durch die Produktion atomarer Massenvernichtungsmittel hat die Menschheit die Fähigkeit erworben, sich auszulöschen, ja, sie kann es rechnerisch sogar mehrfach tun.
    Kriegsverhütung durch gegenseitige Abschrekkung bietet keine absolute Zuverlässigkeit.
    Ein Versagen der Abschreckung führt zum Ende Deutschlands durch konventionelle Waffen in wenigen Wochen, durch atomare Waffen in wenigen Tagen oder nur Stunden.
    Durch die Konkurrenz der Supermächte um Einflußzonen, durch die Exporte von Kriegswaffen und Rüstungsgütern und durch die Militarisierung der Dritten Welt werden neue Konfliktherde geschaffen und soziale Entwicklungen zerstört.
    Auch in den entwickelten Ländern werden die sozialen Kosten der Aufrüstung immer drückender, die wirtschaftlichen Probleme werden durch sie mitverursacht.
    Alle Rüstungskontrollverhandlungen und -vereinbarungen haben den Rüstungswettlauf nicht stoppen können.

    (Zustimmung bei der SPD)




    Gansel
    Beide Supermächte haben Zweifel daran entstehen lassen, daß sie fähig und überhaupt bereit sind, den Rüstungswettlauf zu beenden.
    In der Bundesrepublik selbst, auch bei uns, den Politikern, wachsen die Zweifel daran, ob der militärisch-industrielle Komplex, das Zusammenwirken rein militärischer Sicherheitsmaximierung und privater wirtschaftlicher Gewinnmaximierung, unter voller politischer Kontrolle steht.

    (Beifall bei der SPD)

    Es steigen die Zweifel, ob unter diesen Bedingungen die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik von der Mehrheit der Bevölkerung überhaupt noch akzeptiert werden. Eine solche Akzeptanz, von der Helmut Schmidt heute morgen sprach, ist nicht nur ein Erfordernis im demokratischen Staat, sondern auch die Voraussetzung unserer Verteidigungsbereitschaft und damit der Glaubwürdigkeit der Abschreckung.

    (Beifall bei der SPD)

    Weltweit wird mit mehr Waffen weniger Sicherheit produziert, weniger Sicherheit zu höheren Preisen. Objektiv und im Bewußtsein der Menschen. Die Furcht steigt und das Vertrauen in die Politik sinkt. Immer mehr Menschen fragen sich: Was kann ich selber für den Frieden und das Überleben der Menschheit noch tun?
    Da ist es nicht verwunderlich, daß es in der Bundesrepublik eine Friedensbewegung gibt. Verwunderlich ist nur, daß es sie erst jetzt gibt.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir akzeptieren sie, auch wenn sie zum Teil im Protest gegen uns entstanden ist und uns zu schaffen macht.

    (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Zum guten Teil!)

    Viele Jahre hat die SPD stellvertretend für die Gesellschaft die Diskussion über unsere Sicherheitspolitik geführt. Jetzt gibt es zwar eine gesellschaftliche Diskussion, aber im parteipolitischen Bereich ist die SPD die einzige große und mehrheitsprägende Partei, die sich der Herausforderung für eine neue friedens- und sicherheitspolitische Strategie stellt.

    (Beifall bei der SPD)

    Auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD haben wir 1977 Entwicklung und Produktion der Neutronenwaffe abgelehnt. Wir haben uns gegen die mechanistische Anhebung der Rüstungsausgaben innerhalb der NATO gewehrt.

    (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Da haben Sie aber zugestimmt!)

    Die Bundeswehr ist unter drei sozialdemokratischen Verteidigungsministern zu einer der bestausgerüsteten und bestausgebildeten Armeen der Welt geworden. Wir haben das nicht gemacht, um damit drohen oder auch nur um darauf stolz sein zu können nach dem Motto: Wir sind wieder wer, sondern wir haben dadurch die konventionelle Verteidigungsfähigkeit für den nicht ausschließbaren Fall des Versagens der atomaren Abschreckung erhöht. Wir haben in der Zeit der Entspannungspolitik unsere militärische Sicherheit entsprechend dem Harmel-Bericht der NATO nicht vernachlässigt, aber für den atomaren Rüstungswettlauf hat sich die SPD nicht hergegeben, und sie wird es niemals tun.

    (Beifall bei der SPD)

    Auf dem Berliner Parteitag von 1979 haben wir uns nach einer langen Diskussion dafür entschieden, auf die sowjetischen SS-20-Systeme mit dem Angebot zu reagieren: Verhandlung vor Rüstung. Der NATO-Doppelbeschluß barg von Anfang an die Gefahr in sich, automatisch in eine neue Runde des Wettrüstens überzuleiten. Deshalb hat die SPD nie den Automatismus der Raketenaufstellung nach Ablauf des für Verhandlungen vorgesehenen Zeitraums akzeptiert.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir haben noch als Regierungspartei auf dem Münchener Parteitag im April 1982 bekräftigt, daß es keinen Automatismus der Aufstellung geben darf. Wir haben dort festgelegt, daß auf einem außerordentlichen Parteitag im Herbst 1983 entschieden werden sollte, welche Folgerungen wir aus dem bis dahin erreichten Verhandlungsstand für die Frage der Stationierung ziehen müssen. Dieser Parteitag hat am Wochenende in Köln entschieden: Wir sagen nein zum automatischen Vollzug des Rüstungsteils des NATO-Doppelbeschlusses. Wir sagen nein zur Aufstellung neuer amerikanischer Mittelstreckensysteme in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sagen nein zu einer Politik der Bundesregierung, die der Rüstung den Vorrang vor Verhandlungen gibt. Und wir sagen nein, weil eine Stationierung zusätzlicher amerikanischer Raketen in der Bundesrepublik unsere Sicherheit nicht erhöhen, sondern verringern wird.
    Denn die SS 20 wirkt destabilisierend, und auch die Pershing II wirkt destabilisierend. Destabilisierung auf beiden Seiten schafft aber kein Gleichgewicht, sondern zusätzliche Unsicherheit.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb, Kollege Ronneburger, hat sich auch die schleswig-holsteinische FDP, Ihre Partei, gegen landgestützte Raketensysteme in Westeuropa ausgesprochen. Wenn Sie jetzt dem NATO-Doppelbeschluß automatisch zustimmen, dann ist das nicht Ihre Überzeugung, sondern der Preis für die Regierungsbeteiligung.
    Wir sagen nein als Ergebnis einer langen und gründlichen Diskussion.
    Die CDU/CSU hat uns diese Diskussion immer zum Vorwurf gemacht. Aber wir sind darauf stolz. Demokratie ist Diskussion und die Möglichkeit, aus Diskussion zu lernen und zu neuen Entscheidungen zu kommen. Man kann die Entscheidung für falsch oder für richtig halten, aber nur Entscheidungen, die auf Diskussion beruhen, sind in der Demokratie legitim.

    (Beifall bei der SPD)




    Gansel
    Wir Sozialdemokraten sind daran gewöhnt, Diskussionen auch stellvertretend für die Gesellschaft zu führen, wenn andere sich daraus ausschließen. Wo gibt es solche Diskussionen in der CDU/CSU? Wo gibt es bei Ihnen die Bereitschaft zu diskutieren? Wo finden Sie die Kraft zur Kritik des Bestehenden und zur Entwicklung des Neuen?

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Sie schaffen es nur, über Regierungsposten zu diskutieren und zu streiten. Ob Strauß in München oder in Bonn „stationiert" wird, ist für Ihr Parteileben wichtiger als die Frage, wie uns die Stationierung neuer Atomraketen erspart bleiben kann.

    (Beifall bei der SPD)

    Wie die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken kontrolliert werden kann, hat Sie nie so bewegt wie die Frage, ob Kohl oder Strauß der Kanzlerkandidat sein sollte. Nein, im Meinungsstreit um die wirklichen Existenzfragen unseres Volkes ist die CDU/CSU immer einstimmig, und eine solche Partei ist nicht glaubwürdig.

    (Beifall bei der SPD — Eigen [CDU/CSU]: Reiner Polemiker! Pfui! — Zuruf von der CDU/CSU: Sie politischer Narzißt!)

    Es gibt viele Wähler und Mitglieder in der CDU/ CSU, die mit dem Wettrüsten nicht weniger Befürchtungen verbinden als wir. Ich glaube, der Beitrag von Frau Geiger war ein Beispiel dafür. Aber was folgt bei Ihnen daraus? Welchen Beitrag leistet Ihre Partei für eine politische Willensbildung, die zu mehr Sicherheit führen kann?

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Welch rhetorische Frage!)

    — Das, Herr Marx, ist keine rhetorische Frage, wie Sie dazwischen rufen.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Das ist sie doch!)

    Denn im Grundgesetz dieser Bundesrepublik heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." — Das ist ein Recht der Parteien, das z. B. auch im Verhältnis Partei und Bundestagsfraktion eine Rolle spielt, ohne daß es gleich zum imperativen Mandat führt.
    Die Parteien haben auch kein Monopol, und mit Recht kann sich die Friedensbewegung darauf berufen. Aber diese Grundgesetzbestimmung bedeutet auch, daß die Parteien einen konstruktiven Beitrag zur politischen Willensbildung zu leisten haben, wenn sie nicht zum Wahlverein verkommen wollen. Wo sind die Diskussionsbeiträge der CDU/ CSU zur politischen Willensbildung über die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik? Diskutiert wird in den Kirchen, in den Gewerkschaften, bei den Schriftstellern, bei den Ärzten, bei den katholischen Pfadpfindern,

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Jeden Abend in meinem Kreisverband!)

    bei der deutschen Sportjugend, nur nicht in der CDU/CSU.

    (Beifall bei der SPD)

    Und wenn es Herr Biedenkopf und Herr Alt versuchen, dann werden sie behandelt wie Dissidenten.

    (Beifall bei der SPD)

    Die SPD stellt sich nicht nur der Diskussion, sie löst sie auch aus. Der Zwischenbericht unserer Kommission „Neue Strategie" ist dafür ein Beispiel. Er wird Thema unseres nächsten Parteitages im Mai sein. Wir sind bereit, aus diesen Diskussionen zu lernen und Schlußfolgerungen zu ziehen. Das gilt für unsere innerparteiliche Diskussion wie für die gesellschaftliche Diskussion, an der wir uns beteiligen. Wir alle, und auch Sie, wenn Sie ehrlich sind, wir alle wissen heute mehr als vor vier Jahren über die tatsächlichen Gegebenheiten und über die Gefahren und Chancen unserer Sicherheitspolitik. Lernen zu können ist keine Prinzipienlosigkeit.
    Aber Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes heißt für die Parteien auch, Einsichten und Überzeugung zu vermitteln und politische Lösungen aufzuzeigen. Ich gebe dafür fünf Beispiele.
    Erstens. Die Abschreckung bleibt ein entscheidendes Mittel zur Kriegsverhütung, solange es die Gefahr kriegerischen Austragens politischer Konflikte gibt. Atomare Abschreckung kann nur durch eine Politik des Sichvertragens und kontrollierter Abrüstung ersetzt werden. Aber sie muß auch ersetzt werden. Das ist unser Ziel, und das ist der Kern unseres Konzepts der Sicherheitspartnerschaft. Dazu dürfen die Staaten in Ost und West nicht regierungsunfähig gemacht werden, sondern ihre Regierungen müssen verhandlungsfähig gemacht werden.
    Zweitens. Entspannung, Zusammenarbeit und Abrüstung schließen offene, ideelle und politische Auseinandersetzungen nicht aus. Neutralität in Fragen der Humanität, der Freiheit und der Demokratie kann es für uns Sozialdemokraten nicht geben,

    (Beifall bei der SPD)

    weder in Polen noch in der Türkei.
    Das ist keine Position der Äquidistanz. Die USA und die Bundesrepublik sind durch gemeinsame Tradition und gemeinsame Werte der Menschenrechte und der Demokratie miteinander verbunden. Das kommunistische System der UdSSR ist dagegen für Sozialdemokraten unannehmbar. Aber wir nehmen uns die Freiheit, für die Rechte anderer Völker einzutreten, wo sie von einer Supermacht verletzt werden, in Afghanistan wie in Grenada.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir stehen zu unserer Ordnung. Deshalb werden wir sie bewahren und weiterentwickeln und, wenn es nottut, auch verteidigen.
    Drittens. Nur in der NATO hat die Bundesrepublik ein Mindestmaß von Sicherheit vor der UdSSR und von Einfluß auf die USA. Für die SPD steht daher nicht die Mitgliedschaft in der NATO zur Diskussion, wohl aber ihre Politik und Strategie.

    (Beifall bei der SPD)




    Gansel
    Viertens. Außenpolitisch ist die Bundeswehr unser Beitrag zu einem Verteidigungsbündnis. Die Soldaten und Wehrpflichtigen, die dem Friedensauftrag des Grundgesetzes dienen, haben unsere Unterstützung, und sie haben sie nötig.

    (Beifall bei der SPD)

    Innenpolitisch sind demokratische Kontrolle einer Armee und gesellschaftliche Integration des Soldaten keine Selbstverständlichkeiten. Ein Feindbild Bundeswehr könnte zum Vorzeichen des Weges in einen autoritären Staat werden — nicht unregierbar, aber undemokratisch.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Friedensbewegung darf deshalb keine AntiBundeswehr-Bewegung werden.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Sehr gut! — Zuruf von den GRÜNEN)

    Fünftens. Die SPD steht bedingungslos zum Recht des einzelnen auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, ein Grundrecht, das durch die Gesetzgebung immer noch nicht voll verwirklicht ist. Der ethische und der religiöse Pazifismus hat in der SPD immer Schutz und Wirkungsraum gehabt; aber er ist nicht ihr Programm.
    Die SPD bejaht die Landesverteidigung. Sie trifft sich mit dem politischen Pazifismus in der Perspektive — und ich zitiere aus dem Godesberger Programm —, „eine allgemeine und kontrollierte Abrüstung und eine mit Machtmitteln ausgestattete internationale Rechtsordnung herbeizuführen, die die nationale Landesverteidigung ablösen wird". Diese Zielvorstellung aus dem Godesberger Programm galt lange Zeit bei sogenannten Realpolitikern, die die Atombombe als Weiterentwicklung der Artillerie betrachteten, als eine überlebte Utopie. Heute, im Zeitalter mehrfachen atomaren Overkills ist sie eine Überlebensutopie für Realisten.

    (Beifall bei der SPD)

    Nur wenn wir sie verwirklichen, wird die Menschheit das Wettrüsten beenden und überleben können. Nur wenn wir sie wagen, werden wir sicherer.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat Herr Abgeordneter Müller (Remscheid).

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Adolf Müller


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einigen sehr persönlichen Bemerkungen beginnen. Ich bin seit 1961 Mitglied des Deutschen Bundestages und stehe im 68. Lebensjahr. Also gehöre ich zu den Ältesten in diesem Hohen Hause. Wir, d. h. meine Generation, sind die Zeugen eines von Kriegen, Revolutionen und Diktaturen geprägten Zeitalters, in dem Millionen von Menschen schrecklichen Wahnideen und menschenverachtenden Ideologien zum Opfer gefallen sind. Meine Altersgenossen und ich wurden im Ersten Weltkrieg geboren, als unsere Väter an der Front standen und die Schrecken der Materialschlacht erlebten. Unsere Mütter darbten mit uns Kindern in der Heimat.
    In den Wirren der Zeit zwischen den Weltkriegen sind wir groß geworden. Ich war 16 Jahre alt, als die Weimarer Republik am 30. Januar 1933 dem Ansturm einer totalitären Bewegung erlag. Weder die sozialistischen noch die christlichen Gewerkschaften haben damals dem Angriff auf die Verfassung ernsthaften Widerstand entgegensetzen können. Ihre trügerischen Hoffnungen, durch Wohlverhalten einen Restbestand gewerkschaftlicher Arbeit in einer von der faschistischen Diktatur verschonten Nische der Gesellschaft retten zu können, fand bereits am 2. Mai 1933 ein jähes Ende. Damals wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt, zahlreiche führende Gewerkschaftler verhaftet und in die ersten bereits existierenden Konzentrationslager gebracht.
    Am 1. November 1933, also vor 50 Jahren, bin ich als damals 17jähriger in die deutsche Kolpingfamilie eingetreten. Die Pöbeleien und tätlichen Angriffe von fanatischen Angehörigen der Hitler-Jugend gehören zu den bedrückenden Erinnerungen meiner Jugendzeit, und die darauf bald folgende Einberufung zum Wehrdienst bewahrte mich vor schlimmeren Repressalien.
    Ich war acht Jahre Soldat. Den Zweiten Weltkrieg habe ich bis zu seinem katastrophalen Ende miterlebt. Mir braucht niemand den Schrecken des Krieges vor Augen zu führen.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Ich habe meine Kameraden leiden und qualvoll sterben sehen. Ich sah, ja ich roch die verbrannte Erde Rußlands, und ich kenne die Trostlosigkeit der Ruinen zerbombter Großstädte. Ich erinnere mich der angstvollen Gesichter von Zivilisten, von Frauen und Kindern, die den Schrecken des totalen Krieges und der Willkür des Siegers ausgeliefert waren.
    Weil diese schrecklichen Bilder des Krieges, des Mißbrauchs und der Zerstörung der Schöpfung und auch der sittlichen Verrohung der Menschen in mir noch immer tief nachwirken, weiß ich mich einig mit dem millionenfachen Wunsch nach Frieden. Ich glaube, darin eint uns Deutsche ein gemeinsamer Wille.
    Im Zeitalter atomarer Massenvernichtung gewinnt diese Forderung eine besondere Dringlichkeit. Besonders die junge Generation, die die Zukunft noch vor sich hat, verleiht dieser Sehnsucht einen ihrem Alter und ihrem Lebensgefühl gemäßen Ausdruck. Ich begreife es sehr wohl, daß denkende und fühlende Menschen vom Rüstungswettlauf zutiefst verängstigt sind und von uns Politikern nachdrücklich ein Anhalten der Rüstungsspirale fordern. Für mich als Angehörigen der älteren Generation, Vater und Großvater, ist deshalb die kategorische Forderung, Frieden ohne Waffen zu schaffen, ein verständlicher, ein emotional begründeter Wunsch. Als Realist und als ein von den Erfahrungen einer leidvollen deutschen Geschichte geprägter Politiker halte ich ihn jedoch für eine gefährliche Illusion. Wir erfahren es doch täglich durch die Medien, daß wir in einer friedlosen Zeit leben. Aggressive und nach Vorherrschaft strebende Staaten zumeist totalitären Charakters überziehen ihre



    Müller (Remscheid)

    Nachbarn mit Krieg. Sie erziehen die Menschen systematisch zum Haß auf das Phantombild eines seiner Menschlichkeit entkleideten Feindes.
    Als langjährig an führender Stelle des Landesverbandes des DGB in Nordrhein-Westfalen für den sozialen Frieden tätig gewesener christlich sozialer Gewerkschaftler kann ich zu der für die Sicherheit meines Landes schicksalhaften Frage der Nachrüstung nicht schweigen.
    Ich bekenne mich ohne Einschränkung zu den sicherheitspolitischen Aussagen der Bundesregierung und meiner Partei, denn auch ein dem Ideal einer sozialen Gerechtigkeit verpflichteter friedliebender Staat darf niemals den lebenswichtigen Aspekt der äußeren Sicherheit aus dem Auge verlieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Im Einklang mit der Friedenspolitik der Bundesregierung möchten wir christlich-sozialen Gewerkschaftler als Repräsentanten von Millionen Arbeitnehmern, die uns am 6. März 1983 die Stimme gegeben haben, die gefährliche Eskalation von Rüstung und Nachrüstung in Ost und West beenden. Eine Politik der gemeinsamen Abrüstung muß an ihre Stelle treten. Um der Erhaltung des Friedens willen darf aber das Prinzip des Gleichgewichts nicht vernachlässigt werden. Ein sowjetisches Raketenmonopol von 243 auf uns gerichteten eurostrategischen Mittelstreckenwaffen macht den Frieden nicht sicherer, im Gegenteil, es kann die sowjetische Führung zu politischen Erpressungsmanövern gegenüber unserem Land verleiten.
    Wir haben genügend Gründe für die Annahme, daß die Sowjetführer keine Abenteurer und Selbstmörder sind. Seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 haben sie der leninistischen Doktrin von der Unvermeidbarkeit des Krieges zwischen den sozialistischen und den kapitalistischen Staaten auch formal abgeschworen. Vor allem in Europa verfolgt die Sowjetunion seitdem eine wesentlich subtilere und, wie es scheint, erfolgreichere politische Strategie, in der Lockung und Drohung einander abwechseln. Mit dieser Strategie hofft sie die Bundesrepublik Deutschland aus ihrer festen Verankerung im westlichen Bündnis herauslösen zu können. Mit einer von ihren westlichen Verbündeten isolierten, insbesondere den Vereinigten Staaten entfremdeten Bundesrepublik Deutschland würde die Sowjetunion in der Tat leichtes Spiel haben. Ich bin überzeugt: Die Sowjetunion will nicht den Krieg, aber sie will den politischen Sieg durch Unterwerfung ohne Krieg.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Bundeskanzler Helmut Kohl hat die überzeugende Antwort auf diese sicherheitspolitische Herausforderung durch die Sowjetunion gegeben. Wir christlich-sozialen Gewerkschaftler in der Union stehen zu ihm und zu seiner Politik. Es gibt zu ihr keine von uns zu verantwortende Alternative.
    Wenn wir die freiheitliche Struktur unseres Sozialstaates im Innern erhalten und ausbauen wollen, müssen wir durch ausreichende Verteidigungsanstrengungen dafür sorgen, daß die schreckliche Geißel des Krieges unser Land nicht verwüsten und keine ausländische Macht uns mit der Drohung der Brandstiftung ihren Willen aufzwingen kann. Unser Land bedarf heute dringender denn je des Schutzes vor äußerer Bedrohung, damit wir unsere Kräfte darauf konzentrieren können, die aus der wirtschaftlichen Krise unseres Gemeinwesens drohenden Risiken für den sozialen Frieden zu bannen. Hier liegen die Schwerpunktaufgaben der Politik der kommenden Jahre.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den über 20 Jahren meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag habe ich an großen Debatten über entscheidende außen- und innenpolitische Weichenstellungen teilgenommen. Ich nenne stellvertretend für viele die Auseinandersetzung über die Notstandsgesetzgebung, den Grundlagenvertrag, die Ostverträge, die Mitbestimmung und die Reform des § 218. Diese kontroversen Auseinandersetzungen wurden in der Sache stets hart und in der Form oft polemisch geführt. Immer jedoch haben wir im Streit um die richtige Politik die Regeln der parlamentarischen Demokratie eingehalten. Auch in Fragen von nationaler Tragweite, beispielsweise bei den Kontroversen um die Ostverträge, war die überstimmte Minderheit bereit, sich dem Votum der Mehrheit letztlich zu beugen. Die Entscheidung fand, wie dies eine repräsentative Demokratie auszeichnet, hier im Deutschen Bundestag und nicht auf der Straße und nicht unter dem Druck der Straße statt. Niemand kann behaupten, daß uns politische Leidenschaft und ehrliche Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen politischen Standpunktes gefehlt hätten.
    Das Wertesystem unserer repräsentativen, d. h. parlamentarischen Demokratie ist in der überwältigenden Mehrheit unseres Volkes zum Glück fest verankert. Bonn ist nicht Weimar, und Bonn wird auch nicht den Weg von Weimar gehen,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    wenn überzeugte Demokraten und mutige Anhänger des Rechtsstaates wachsam bleiben und den Anfängen wehren.
    Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist das in der Verfassung verankerte „Recht auf Widerstand" von politischen Demagogen in so skrupelloser Weise falsch interpretiert und als politische Waffe gegen legitime politische Entscheidungen der Verfassungsorgane und rechtmäßige Maßnahmen der Staatsgewalt mißbraucht worden.
    In welchem erschreckenden Maße bei einer zum politischen Dauerprotest entschlossenen Minderheit das Unterscheidungsvermögen zwischen rechtmäßiger Handlung und strafbarem Unrecht verlorengegangen scheint, zeigt die vorsätzliche Verletzung von Rechtsvorschriften, die ausschließlich dem Schutze anderer Menschen dienen.