Protokoll:
18191

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 191

  • date_rangeDatum: 23. September 2016

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:02 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/191 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 191. Sitzung Berlin, Freitag, den 23. September 2016 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Ulrich Petzold und Wilfried Lorenz . . 19025 A Tagesordnungspunkt 38: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be- richt der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungs- freiheit Drucksache 18/8740 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19025 B Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 19025 C Dr . Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 19027 A Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19028 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19030 A Dr . Maria Böhmer, Staatsministerin AA . . . . . 19031 C Angelika Glöckner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 19032 C Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 19033 D Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . 19034 B Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19035 A Thomas Silberhorn, Parl . Staatssekretär BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19036 C Dr . Heribert Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 19037 C Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Özcan Mutlu, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Britische Staatsangehörige rasch und unkompli- ziert einbürgern Drucksache 18/9669 . . . . . . . . . . . . . . . . . 19038 D b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Özcan Mutlu, Luise Amtsberg, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Einbürgerung und zur Ermöglichung der mehrfachen Staatsangehörigkeit Drucksache 18/5631 . . . . . . . . . . . . . . . . . 19039 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19039 A Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 19040 C Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 19043 B Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19044 C Dr . Tim Ostermann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 19045 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 19046 D Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) . . . . . . . . . . 19047 D Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19049 B Marian Wendt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 19050 B Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19051 B Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19052 C Barbara Woltmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 19052 D Tagesordnungspunkt 40: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsge- setz – PSG III) Drucksache 18/9518 . . . . . . . . . . . . . . . . . 19054 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016II b) Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Pflege teilhabe- orientiert und wohnortnah gestalten Drucksache 18/8725 . . . . . . . . . . . . . . . . . 19054 C c) Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedingungen für eine nutzerori- entierte Versorgung schaffen Drucksache 18/9668 . . . . . . . . . . . . . . . . . 19054 D Ingrid Fischbach, Parl . Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19054 D Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 19056 A Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 19057 B Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . 19058 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19059 A Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 19060 A Heike Baehrens (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19061 B Erich Irlstorfer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 19062 A Tagesordnungspunkt 41: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Deutsches En- gagement beim Einsatz von Polizistinnen und Polizisten in internationalen Friedens- missionen stärken und ausbauen Drucksache 18/9662 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19063 A Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . . 19063 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 19064 B Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 19065 B Dr . Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19067 D Dr . Ole Schröder, Parl . Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19069 A Thorsten Frei (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 19070 A Tagesordnungspunkt 42: Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wo- chenhöchstarbeitszeit begrenzen und Ar- beitsstress reduzieren Drucksache 18/8724 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19071 B Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 19071 B Uwe Lagosky (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 19072 C Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19074 B Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19075 B Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU) . . . 19076 C Helga Kühn-Mengel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 19078 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19079 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 19081 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19081 D (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19025 191. Sitzung Berlin, Freitag, den 23. September 2016 Beginn: 9 .01 Uhr
  • folderAnlagen
    Helga Kühn-Mengel (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19081 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 23 .09 .2016 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23 .09 .2016 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 23 .09 .2016 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 23 .09 .2016 Fischer (Karlsruhe- Land), Axel E . CDU/CSU 23 .09 .2016 Gabriel, Sigmar SPD 23 .09 .2016 Gohlke, Nicole DIE LINKE 23 .09 .2016 Heiderich, Helmut CDU/CSU 23 .09 .2016 Held, Marcus SPD 23 .09 .2016 Hellmich, Wolfgang SPD 23 .09 .2016 Hendricks, Dr . Barbara SPD 23 .09 .2016 Hintze, Peter CDU/CSU 23 .09 .2016 Junge, Frank SPD 23 .09 .2016 Karawanskij, Susanna DIE LINKE 23 .09 .2016 Krellmann, Jutta DIE LINKE 23 .09 .2016 Kudla, Bettina CDU/CSU 23 .09 .2016 Lach, Günter CDU/CSU 23 .09 .2016 Launert, Dr . Silke CDU/CSU 23 .09 .2016 Lemke, Steffi BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23 .09 .2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 23 .09 .2016 Leyen, Dr . Ursula von der CDU/CSU 23 .09 .2016 Lips, Patricia CDU/CSU 23 .09 .2016 Mast, Katja SPD 23 .09 .2016 Obermeier, Julia CDU/CSU 23 .09 .2016 Özoğuz, Aydan SPD 23 .09 .2016 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Rachel, Thomas CDU/CSU 23 .09 .2016 Ramsauer, Dr . Peter CDU/CSU 23 .09 .2016 Rix, Sönke SPD 23 .09 .2016 Rützel, Bernd SPD 23 .09 .2016 Ryglewski, Sarah SPD 23 .09 .2016 Schlecht, Michael DIE LINKE 23 .09 .2016 Schmelzle, Heiko CDU/CSU 23 .09 .2016 Schmidt (Aachen), Ulla SPD 23 .09 .2016 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 23 .09 .2016 Steinbrück, Peer SPD 23 .09 .2016 Steinmeier, Dr . Frank- Walter SPD 23 .09 .2016 Tank, Azize DIE LINKE 23 .09 .2016 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23 .09 .2016 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 23 .09 .2016 Widmann-Mauz, Annette CDU/CSU 23 .09 .2016 Willsch, Klaus-Peter CDU/CSU 23 .09 .2016 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mitge- teilt, dass sie den Antrag Beteiligung des Bundestages im Vorfeld der Genehmigung der vorläufigen Anwen- dung des Handelsabkommens mit Kanada (Compre- hensive Economic and Trade Agreement – CETA) auf Drucksache 18/9038 zurückzieht . Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 201619082 (A) (C) (B) (D) Haushaltsausschuss Drucksache 18/8936 Nr . A .15 Ratsdokument 9303/16 Drucksache 18/8936 Nr . A .16 Ratsdokument 9307/16 Drucksache 18/8936 Nr . A .17 Ratsdokument 9310/16 Drucksache 18/9141 Nr . A .7 Ratsdokument 10383/16 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 18/7934 Nr . A .13 EP P8_TA-PROV(2016)0041 Drucksache 18/7934 Nr . A .18 Ratsdokument 6227/16 Drucksache 18/8771 Nr . A .4 EP P8_TA-PROV(2016)0223 Drucksache 18/8936 Nr . A .18 EP P8_TA-PROV(2016)0236 Drucksache 18/9141 Nr . A .10 EP P8_TA-PROV(2016)0250 Drucksache 18/9141 Nr . A .11 Ratsdokument 9911/16 Drucksache 18/9141 Nr . A .13 Ratsdokument 9966/16 Drucksache 18/9141 Nr . A .14 Ratsdokument 9969/16 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/9141 Nr . A .17 EP P8_TA-PROV(2016)0271 Drucksache 18/9141 Nr . A .18 EP P8_TA-PROV(2016)0272 Drucksache 18/9141 Nr . A .20 Ratsdokument 10133/16 Verteidigungsausschuss Drucksache 18/9141 Nr . A .22 EP P8_TA-PROV(2016)0267 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 18/419 Nr . C .41 Ratsdokument 14493/12 Drucksache 18/419 Nr . C .42 Ratsdokument 14499/12 Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 191. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 38 Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit TOP 9 Erleichterung der Einbürgerung TOP 40 Drittes Pflegestärkungsgesetz TOP 41 Polizeikräfteeinsatz in Friedensmissionen TOP 42 Wochenhöchstarbeitszeit Anlagen Anlage 1 Anlage 2
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819100000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich zur letzten Plenarsitzung in dieser Woche .

Der Bundestag ist nicht nur, aber auch deswegen heu-
te Morgen zusammengetreten, um dem Kollegen Ulrich
Petzold zu seinem heutigen 65 . Geburtstag zu gratulieren


(Beifall)


und nachträglich dem Kollegen Wilfried Lorenz, der in
der vergangenen Woche seinen 74 . Geburtstag gefeiert
hat . Ihnen beiden alle guten Wünsche des Hauses für das
neue Lebensjahr .


(Beifall)


Wir rufen jetzt den Tagesordnungspunkt 38 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht der Bundesregierung zur weltweiten
Lage der Religions- und Weltanschauungs-
freiheit

Drucksache 18/8740
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Das ist offen-
kundig einvernehmlich . Also können wir so verfahren .

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/
CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg . Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1819100100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Schon vor fast 20 Jahren hat die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion das Erstellen eines Berichts über Religionsfrei-
heit und die Verfolgung von religiösen Minderheiten im
Deutschen Bundestag thematisiert . Das war unter der
Regierung Schröder . Die Regierung Schröder sah da-
mals keine Veranlassung, feststellen zu lassen, dass es
eine nennenswerte Verfolgung vor allem von Christen in
der ganzen Welt gibt . Heute diskutieren wir erneut über
einen Bericht der Bundesregierung . Dieser Bericht zur
weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungs-
freiheit ist erstmals aufgrund eines Antrages aus diesem
Parlament entstanden . Zunächst einmal muss man sagen,
dass wir dafür dankbar sind, dass die Bundesregierung
diesen Bericht verfasst hat und wir heute die Möglich-
keit haben, über dieses Thema, über das wohl wichtigste
Menschenrecht überhaupt, das Recht auf Religionsfrei-
heit, miteinander zu diskutieren .

In diesem Bericht wird an mehreren Beispielsfällen
der Frage nachgegangen, was die typischen Verfolgungs-
muster sind . Wobei in diesem Bericht auch klargestellt
wird, dass es unterschiedliche Formen der Verfolgung
gibt: Es gibt zum Beispiel die Ausgrenzung . Es gibt aber
auch schwere Strafen für Vergehen gegen die Vorgaben
eines Staates, dass nur bestimmte Religionen zugelassen
werden .

Dieser Bericht widmet ein besonderes Kapitel einem
Thema, das zunehmend Anlass für Unterdrückung und
Verfolgung ist, nämlich die Frage der Konversion . In Ar-
tikel 18 der Menschenrechtscharta der Vereinten Natio-
nen steht nämlich nicht nur expressis verbis, dass jeder
das Recht hat, seine Religion frei und öffentlich zu leben,
sondern dort steht auch, dass jeder das Recht hat – weil
dies zur Religionsfreiheit gehört –, seine Religion zu
wechseln oder auch nichts zu glauben . Es gibt eine ganze
Reihe von Staaten – vor allem islamische Staaten und
Staaten, in denen Muslime die Mehrheit darstellen –, in
denen der Wechsel vor allem aus der islamischen Religi-
on mit Strafen, teilweise mit harten Strafen bedroht wird .
Selbst in den Ländern, in denen die Religionsfreiheit in
der Verfassung garantiert wird, gibt es in Gesetzen und
Strafgesetzbüchern harte Sanktionen bei einem Wechsel,






(A) (C)



(B) (D)


immer wieder auch mit dem Hinweis darauf, dass er dann
bestraft wird, wenn er öffentliches Aufsehen erregt hat.
Aber wer entscheidet darüber, was „öffentliches Aufse-
hen“ bedeutet? Wenn jemand die Religion wechselt und
dies in einem kleinen Dorf bekannt wird, kann das natür-
lich zu Aufsehen führen, weil die Angehörigen der Re-
ligion, von der man gewechselt ist, dies publik machen .
Diesem Punkt wird eine besondere Aufmerksamkeit zu-
gewendet .

Allerdings stellt der Bericht ein gewisses Problem für
uns, die wir uns schon seit vielen Jahren und Jahrzehn-
ten mit diesem Thema befassen, dar . Es wird nämlich
vom klassischen Muster der sogenannten Länderberich-
te abgewichen . Jetzt kann man sagen: Gut, man kann ja
ein neues Darstellungsverfahren wählen . – Aber warum
gerade hier und beispielsweise nicht in dem Bericht zur
Menschenrechtslage, der auch regelmäßig vorgelegt
wird und in dem Beschreibungen nach Länderkategori-
en oder zumindest nach regionalen Kategorien erfolgen?
Das führt dazu, dass man intensiv nachschauen muss,
wo bzw . in welchen Kapiteln die entsprechenden Länder
aufgeführt sind, und dann zusammentragen muss, was
die Bundesregierung dazu meint, wie schlimm, wie tra-
gisch oder wie auffällig die Verfolgungssituation in den
verschiedenen Ländern ist . Das hat zur Folge, dass – si-
cher aus Versehen – auch das eine oder andere vergessen
wird .

Ein Beispiel . Alle, die sich intensiv mit diesem The-
ma befassen, wissen, dass vor allem Pakistan mit seinen
Blasphemiegesetzen eine besondere Sanktion im Bereich
der Religionsfreiheit – in Anführungsstrichen – vorsieht .
Schaue ich mir nun in diesem Bericht die verschiedenen
Stellen an, an denen Pakistan aufgeführt wird, stelle ich
fest: Dort steht, dass in Pakistan vor allem muslimische
Minderheiten verfolgt werden . Es steht dort kein einziges
Wort darüber, dass in Pakistan Christen verfolgt werden,
und dies vor dem Hintergrund – das muss ich der Bundes-
regierung schon sagen –, dass wir alle seit Jahren, auch
hier in diesem Haus, mit großer Sorge das Schicksal von
Asia Bibi verfolgen, die mit ihren fünf Kindern noch im-
mer im Gefängnis sitzt . Das letzte Urteil ist noch immer
nicht gesprochen . Wir müssen immer noch bangen, dass
das Todesurteil gegen sie nicht doch vollstreckt wird .
Dass in dem Bericht im Zusammenhang mit Pakistan das
Thema „Christen und Asia Bibi“ nicht erwähnt wird, ist
nicht akzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Wir finden in diesem Bericht auch neue Begrifflich-
keiten, die im Menschenrechtsbericht nicht auftauchen,
etwa „antimuslimischer Rassismus“ . Gleichzeitig wird
die sogenannte Christianophobie, die im Menschen-
rechtsbericht noch ausdrücklich benannt wird, in diesem
Bericht gar nicht aufgeführt . Der Hinweis auf antimus-
limischen Rassismus ist außerordentlich schwierig . Bei
der Einführung dieses Begriffs hätte man zumindest ei-
nen Hinweis auf die sehr intensive Diskussion über die-
sen Begriff – ob man so etwas überhaupt sagen kann –
erwarten können .

Ein Letztes . Wenn wir uns anschauen, was in dieser
Welt passiert, dann sehen wir, dass Angehörige von Min-
derheiten bis hin zum Tod verfolgt werden . Ich denke da-
bei beispielsweise auch an Muslime im Irak . Allerdings
steht in diesem Bericht nur relativ wenig – um nicht zu
sagen: fast nichts – darüber, dass die Christen die größte
verfolgte Gruppe in der ganzen Welt sind – mindestens
100 Millionen Menschen –, und er enthält beispielsweise
auch keine Hinweise auf Boko Haram in Afrika . Das zeigt
schon, dass wir uns in der Diskussion im Ausschuss mit
diesem Punkt noch einmal ausdrücklich befassen müs-
sen . Hier reicht der Hinweis auf den Bericht der beiden
großen Kirchen, der evangelischen und der katholischen
Kirche – und ich füge hinzu: auch der jährliche Bericht
von Open Doors zu diesem Thema wurde wahrscheinlich
vergessen –, nicht .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Man fragt sich, ob es in dieser Frage nicht doch not-
wendig wäre, dem Beispiel anderer Staaten zu folgen .
Die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und Nor-
wegen beispielsweise haben bzw . hatten einen Sonder-
botschafter für Religionsfreiheit . Bisher wurde dies aus
der Bundesregierung immer mit dem Hinweis abgelehnt:
Wir haben ja einen Menschenrechtsbeauftragten . – Aber
man sieht deutlich, dass Menschenrechte im Allgemei-
nen und Religionsfreiheit im Besonderen unterschiedli-
che Ansatzpunkte haben . Gerade deshalb, weil wir jetzt
erleben, dass Religion zu einem dramatischen Thema
politischer Auseinandersetzungen wird – bis hin zu der
Frage von Krieg und Frieden –, würde ich mir wünschen,
dass wir uns mit dieser Frage noch einmal ausführlich
beschäftigen .

Wir hatten in der letzten Woche eine große internatio-
nale Parlamentarierkonferenz zum Thema Religionsfrei-
heit hier in Berlin in unserem Fraktionssitzungssaal . Alle
Religionen waren dort vertreten, und wir haben teilweise
dramatische Berichte von Abgeordneten gehört, die Min-
derheiten angehören . Besonders dramatisch war der Be-
richt einer Kollegin aus Pakistan, die dargelegt hat, wie
es in diesem Land aussieht . Deswegen sollten wir uns,
glaube ich, in den Beratungen des Ausschusses noch ein-
mal ausführlich mit dieser Frage befassen .

Ich fasse zusammen: Wir sind dankbar, dass die Bun-
desregierung diesen Bericht erstmals vorgelegt hat . Ich
weiß aus vielen Besuchen bei deutschen Botschaften in
der ganzen Welt, dass sie unglaublich gute Informationen
über die konkrete Situation im jeweiligen Land haben
und uns darüber auch sehr pointiert berichten . Ich würde
mir wünschen, dass in einem neuen Bericht darüber mehr
zu lesen wäre .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg . Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819100200

Der nächste Redner ist Gregor Gysi für die Fraktion

Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)


Volker Kauder






(A) (C)



(B) (D)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819100300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-

nächst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass
ich nach der Rede leider gehen muss, weil ich auf einer
Europakonferenz meiner Fraktion zu sprechen habe .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bleiben Sie lieber hier!)


Es handelt sich also nicht darum, dass mich das nicht in-
teressiert, und ich verspreche Ihnen auch: Alle Reden zu
diesem Debattenpunkt werde ich anschließend lesen .

Wenn wir über Religions- und Glaubensfreiheit dis-
kutieren, müssen wir auch die europäische Geschichte
betrachten . Sie alle wissen: Im Mittelalter, vom 11 . bis
zum 13 . Jahrhundert, gab es entsetzliche Kreuzzüge .
Gewaltsam wurde das Christentum durchgesetzt . Wenn
heute über Flüchtlinge gesprochen wird, sollten wir auch
an andere Teile der europäischen Geschichte denken: Es
waren die Europäerinnen und Europäer, die Nord-, Mit-
tel- und Südamerika besetzten und die indigene Bevölke-
rung zum Teil grausam umbrachten und unterdrückten .
Sie brachten ihre Sprachen – Englisch, Spanisch, Portu-
giesisch – auf den amerikanischen Kontinent und setzten
ihre Sprachen, ihre Kultur und ihre Religion durch . Es
waren Europäerinnen und Europäer, die Australien be-
setzten und ihre Sprache, Kultur und Religion gegenüber
den Aborigines gewaltsam durchsetzten . Und die Kolo-
nien?

Trotz der gegenteiligen Unkenrufe von ganz rechts:
Eine solche Gefahr besteht für Europa gegenwärtig über-
haupt nicht .


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nach den demokratischen Revolutionen in Europa wur-
de die Religions- und Glaubensfreiheit zu einem wichti-
gen Gut – allerdings mit wesentlichen Einschränkungen,
wenn ich an die zahllosen Pogrome gegen Menschen
jüdischen Glaubens in vielen europäischen Ländern und
die millionenfache Ermordung von Jüdinnen und Juden
durch Nazideutschland denke . In der Allgemeinen Erklä-
rung der Menschenrechte der Vereinten Nationen wurde
die Religions- und Glaubensfreiheit nach 1945 als allge-
meines Menschenrecht weltweit gefordert . Dazu gehört
auch, dass Religion freiwillig ist – wie Sie es gesagt ha-
ben, Herr Kauder –, man sich also auch entscheiden darf,
nicht religiös zu sein .


(Beifall bei der LINKEN)


In vielen Verfassungen wird seit dieser Zeit die Reli-
gions- und Glaubensfreiheit garantiert . Aber die Praxis
sah und sieht anders aus . Die staatssozialistischen Länder
zum Beispiel benachteiligten einen Teil der gläubigen
Menschen und gewährten ihnen keine Chancengleich-
heit . Unvergleichlich und viel schlimmer erleben wir die
Verhältnisse heute: Al-Qaida und der „Islamische Staat“
verfolgen und jagen Schiiten, also andere Muslime, Je-
sidinnen und Jesiden sowie Christinnen und Christen .
Ich hätte wirklich nicht geglaubt, in meinem Leben eine
solche Verfolgung von Christinnen und Christen noch zu

erleben; aber sie geschieht auf barbarische und brutale
Art und Weise .

Die Welt ist aber gelegentlich verkehrt gestrickt . Wenn
Sie auch mit Assad nicht reden: Er schützt die Christin-
nen und Christen, während andere in Syrien sie jagen und
verfolgen . – Und in Europa? In Europa gibt es eine im-
mer stärkere Diskreditierung von Menschen islamischen
Glaubens . Das widerspricht klar dem Stand unserer de-
mokratischen und kulturellen Zivilisation .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen die Religions- und Glaubensfreiheit auch für
Menschen islamischen Glaubens garantieren . Allerdings
wird der Islam auch von Extremisten missbraucht, um
Gewalt zu rechtfertigen . Diesen Missbrauch hat es vor
einigen Jahrhunderten, wie dargestellt, auch im Hinblick
auf das Christentum gegeben . Schon deshalb müssen wir
entschieden gegen diesen Missbrauch der Religion auf-
treten .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich wünsche mir, dass gerade die Organisationen fried-
licher Muslime in Deutschland sich so entschieden wie
möglich in Verlautbarungen, auf Demonstrationen und
Kundgebungen von diesem Missbrauch ihrer Religion
distanzieren und ihn verurteilen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die AfD erklärt, dass der gesamte Islam nicht zu
Deutschland gehöre . Sie beschränkt sich nicht auf den
politischen Islam, auf den Missbrauch der Religion, son-
dern will eine gesamte Religion ausschließen . Sie will
Minarette, Schleier und Muezzinrufe verbieten . – Zu den
Schleiern werde ich noch etwas sagen . – Außerdem will
sie Spenden aus dem Ausland zum Bau von Moscheen
verbieten . Da nach dem Grundgesetz Menschen, aber
auch Religionsgemeinschaften gleichzubehandeln sind,
bedeutete das auch das Verbot von Spenden für den übri-
gen Kirchenbau . Wenn man allein an das Verhältnis un-
serer katholischen Kirche zum Vatikan oder an das Ver-
hältnis der russisch- und griechisch-orthodoxen Kirchen
zu Russland und Griechenland denkt, wird einem die
Absurdität und Abenteuerlichkeit dieser Idee sofort klar .


(Beifall bei der LINKEN)


Die anderen Forderungen der AfD verletzen eindeutig
und schwer den Artikel 4 Absatz 1 und 2 unseres Grund-
gesetzes . Ich zitiere wörtlich Absatz 1:

Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die
Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Be-
kenntnisses sind unverletzlich .

Absatz 2:

Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleis-
tet .

Stellen Sie sich vor, die AfD käme umfassend an die
Macht . Sie müsste entweder Artikel 4 Absatz 1 und 2
des Grundgesetzes streichen, oder, wie die polnische
Führung das polnische Verfassungsgericht, das Bundes-
verfassungsgericht entmündigen – dieses Gericht würde
Gesetze zur Einschränkung oder zum faktischen Verbot






(A) (C)



(B) (D)


der Ausübung einer Religion immer als grundgesetzwid-
rig aufheben –, oder sie müsste das Bundesverfassungs-
gericht ganz abschaffen. Als nichtreligiöser Mensch sage
ich Ihnen heute: Gott sei Dank wird die AfD einen sol-
chen weitgehenden Einfluss wohl nicht bekommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Eine Bitte an die Medien: Wenn man in den Medien
Muslime sieht und hört, dann rufen sie entweder so laut
nach Allah, dass manche Menschen bei uns Angst be-
kommen, oder sie sprengen sich als Selbstmordattentä-
ter in die Luft . Wie wäre es damit, einmal die Millionen
friedlich betender, arbeitender und gastfreundlicher Mus-
lime zu zeigen, die sich um ihre Kinder, ihre Angehöri-
gen, ihre Freundinnen und Freunde kümmern?


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist keine Nachricht? Ich glaube, es wäre zurzeit eine
besonders wichtige Nachricht .

Noch etwas zur Kleidung . Ich denke an das Kopftuch
und die Burka . Also, wenn es nicht unbedingt nötig ist,
sollte sich der Staat nicht in Kleiderfragen seiner Bürge-
rinnen und Bürger einmischen .


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Mädchen und Frauen ihre Kopftücher tragen wol-
len, dann ist das ihre Angelegenheit . Wenn sie dazu aber
gezwungen werden, dann müssen wir sie schützen .


(Beifall bei der LINKEN)


Dasselbe gilt für die Burka, auch wenn ich Menschen
lieber ins Gesicht sehe . Allerdings muss es hier – auch
wenn die Burka freiwillig getragen wird – Einschränkun-
gen geben: Erzieherinnen, Lehrerinnen, Beschäftigte im
öffentlichen Dienst mit Publikumsverkehr, Richterinnen,
Staatsanwältinnen, Notarinnen, Rechtsanwältinnen und
andere müssen bei ihrer Arbeit ihr Gesicht zeigen: für die
Kinder, für andere Bürgerinnen und Bürger, für die Öf-
fentlichkeit . Außerdem gibt es Kontrollen, bei denen das
Gesicht gezeigt werden muss .

Mit anderen Worten: Das Notwendige müssen wir
regeln und ansonsten die Freiheit der Menschen, ein-
schließlich der Religions- und Glaubensfreiheit sowie
des Rechts auf Freiheit von der Religion, achten .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gilt, diese Freiheit in Deutschland durchzusetzen
und dafür weltweit zu streiten . Für Menschenrechte kann
man sich nicht je nach politischen Gegebenheiten einset-
zen, wie es die Bundesregierung macht . Sie schweigt zu
vielen Menschenrechtsverletzungen von Erdogan, und
in anderen Fällen nutzt sie Menschenrechtsverletzungen
sogar als Begründung für militärische Aktionen . Das ist
höchst unglaubwürdig .


(Beifall bei der LINKEN)


Für Menschenrechte muss man sich immer und gegen-
über jedermann einsetzen, sonst wird man diesbezüglich
unglaubwürdig .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819100400

Frank Schwabe für die SPD-Fraktion ist der nächste

Redner .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1819100500

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich will

mich beim Auswärtigen Amt ausdrücklich dafür bedan-
ken, dass wir diesen Bericht vorliegen haben und ihn
heute debattieren können . Ich will mich gerade deshalb
bedanken, weil er eben nicht im Detail einzelne Vor-
kommnisse in einzelnen Ländern beschreibt – es gibt
nämlich ganz viele solcher Berichte –, sondern weil er
uns – ich glaube, das gibt uns viel mehr Gelegenheit, in
der Tiefe zu diskutieren – die Systematik von Verletzun-
gen des Menschenrechts auf Religionsfreiheit oder auf
Freiheit von Religion deutlich macht .

Diese Systematik fällt nicht vom Himmel, vielmehr
basiert sie maßgeblich auf der Arbeit von Herrn Profes-
sor Heiner Bielefeldt, die er seit sechs Jahren als Son-
derberichterstatter der Vereinten Nationen für Religions-
und Weltanschauungsfreiheit geleistet hat, im Übrigen
unterstützt und mitfinanziert durch die Bundesrepublik
Deutschland . Er hat, wie gesagt, maßgeblich an diesem
Bericht mitgewirkt . Ich glaube, dieser Bericht gibt eine
neue Tiefe, eine neue Schärfe und uns eine neue Mög-
lichkeit, uns mit der Frage der Religionsfreiheit ausei-
nanderzusetzen . Ich will an dieser Stelle, vielleicht im
Namen des ganzen Hauses, Herrn Professor Bielefeldt
für diese Arbeit ganz herzlich danken .


(Beifall im ganzen Hause)


Ich will mich aber auch bei den Fraktionen bedanken,
die sich in unterschiedlicher Art und Weise eingebracht
haben . Dass es diesen Bericht der Bundesregierung gibt,
basiert auf einem Antrag und einem Beschluss des Bun-
destags . Ich will mich auch bei denjenigen bedanken, die
in den einzelnen Fraktionen für Kirchenfragen zuständig
sind: bei Herrn Dr . Jung von der Union, bei Volker Beck,
der gleich noch sprechen wird, aber auch bei Kerstin
Griese, die heute leider nicht hier sein kann, weil sie in
Kirchenfragen unterwegs ist . Es gab einen konstruktiven
Dialog über die Frage, wie der Bericht von denjenigen,
die in den Fraktionen für Kirchenpolitik zuständig sind,
und denjenigen, die sich hier im Bundestag auf umfas-
sende Weise für Menschenrechtsfragen zuständig fühlen,
erstellt werden soll .

Es handelt sich um einen hochinteressanten Bericht,
weil er, wie gesagt, nicht enumerativ die Situation in den
einzelnen Ländern aufzeigt . Vielmehr gibt er Einblick
darin, dass Religionsfreiheit immer etwas mit der allge-
meinen Lage in den einzelnen Ländern zu tun hat . In den
betreffenden Ländern ist nämlich nicht nur die Religions-
freiheit gefährdet . Vielmehr hat das auch etwas mit den

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


Grundstrukturen der Einschränkung von Menschenrech-
ten zu tun; das macht dieser Bericht deutlich . Der Be-
richt macht im Übrigen auch deutlich – es ist spannend,
sich mit dieser Frage zu befassen; das ist die Aufgabe
von Heiner Bielefeldt in den letzten sechs Jahren gewe-
sen –, wie unterschiedliche Grund- und Menschenrechte
sich überschneiden und miteinander kollidieren können .
So werden gelegentlich im Namen der Religionsfreiheit
andere Rechte, zum Beispiel die Rechte von Frauen in
den Bereichen Gleichberechtigung und Meinungsfrei-
heit, infrage gestellt . Hier einen Ausgleich herzustellen,
darüber zumindest zu reden und das zu problematisieren,
das leistet der vorliegende Bericht eben auch .

Noch einmal: Religionsfreiheit kann nicht isoliert be-
trachtet werden . Vielmehr hängt sie mit Menschenrechts-
fragen und dem Menschenrechtsklima in den Ländern
zusammen . Deswegen wünsche ich mir für die Zukunft,
dass Menschenrechtsberichte der Bundesregierung oder
von Institutionen genau diese Abwägung vornehmen und
eine Frage, beispielsweise die Religionsfreiheit, nicht
isoliert betrachten, sondern im Zusammenhang darstel-
len .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Christen stellen zweifellos die größte Gruppe dar und
sind am meisten von Verfolgung betroffen. Aber in der
Tat sind alle Religionen von Verfolgung betroffen, wenn
auch auf unterschiedliche Art und Weise . Das hängt von
der spezifischen Situation in den jeweiligen Ländern ab.
Ich will ausdrücklich sagen: Es ist falsch, nur auf das
Christentum zu fokussieren, wie es gerade in Ungarn
geschieht. Dort soll eine Behörde geschaffen werden,
die sich um den Schutz verfolgter Christen in der Welt
kümmert . Das ist richtig, ganz zweifellos richtig . Aber
es hilft auch verfolgten Christen nicht so sehr, wenn man
nur darauf fokussiert . Es hilft auch Christen, wenn wir
Verfolgung aus religiösen Gründen weltweit in den Blick
nehmen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Man muss zudem deutlich machen, dass es im Kern häu-
fig gar nicht um religiöse Auseinandersetzungen geht.
Vielmehr geht es oft um machtpolitische Auseinander-
setzungen. Ländern werden religiöse Konflikte geradezu
aufgedrückt . Auch das zu erwähnen, gehört zur Debatte .


(Beifall bei der SPD)


Worum es überhaupt nicht geht – das behauptet hier
auch niemand, aber das wird ja gelegentlich draußen im
Land behauptet –, das ist die Frage, ob es einen Kampf
zwischen dem Christentum und dem Islam gibt . Wenn
man sich die Lage realistisch anschaut, dann stellt man
fest, dass es sich bei vielen Konflikten eher um inner­
islamische Konflikte handelt oder es um Fragen der
Glaubensauslegung geht . Zweifellos werden Christen
in Nordkorea verfolgt . Aber ich selber habe im letzten
Jahr gesehen, dass buddhistische Mönche in Myanmar
gegen die muslimische Minderheit der Rohingya hetzen;
das hätte ich mir zuvor nicht vorstellen können . Es gibt

hinduistische Eiferer in Indien, die gegen Muslime und
Christen hetzen . Alles das gibt es leider .

Es ist wichtig, das zu betrachten, aber es fällt auch re-
lativ leicht, nach außen zu schauen, zu gucken, was in
der Welt los ist und welche Probleme die einzelnen Län-
der mit der Religionsfreiheit haben . Viel schwieriger ist
jedoch, sich mit der Situation im eigenen Land – zum
Glück in anderer Ausprägung – auseinanderzusetzen . In
Deutschland gibt es Debatten darüber, die Religionsfrei-
heit möglicherweise einzuschränken . Es ist schwierig,
sich damit auseinanderzusetzen, weil es Mechanismen,
bei denen die Frage der Religionsausübung für machtpo-
litische Konflikte benutzt wird, in jedem Land der Welt,
also auch in Deutschland, gibt . Die größte Minderheit in
Deutschland sind – darauf hat Herr Gysi gerade hinge-
wiesen – die Muslime . Man muss nicht besonders da-
rauf hinweisen, dass in Zeiten von Terrorgefahren eine
hochkritische Debatte über das Recht von Muslimen auf
Religionsausübung geführt wird . In Deutschland gibt es
zum Glück das Grund- und Menschenrecht auf Religi-
onsfreiheit . Das heißt – das müssen wir dann aber auch
deutlich sagen –, dass alle Menschen in diesem Land das
Recht haben, zum Beispiel Gotteshäuser zu bauen . Dazu
gehören auch Moscheen, und das sind dann Moscheen
mit Minaretten .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit überhaupt nicht vereinbar – da wundere ich mich
über manche aktuelle Debatte – ist die Überlegung, Quo-
ten für Flüchtlinge nach religiöser Zugehörigkeit einzu-
führen . Das sind Vorstellungen, die mit der Religionsfrei-
heit in diesem Land überhaupt nicht vereinbar sind .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr . Karamba Diaby [SPD]: Verfassungsfeindlich!)


Ich wünsche mir, dass dieser wirklich hervorragende
Bericht, der, glaube ich, auch für andere Länder dieser
Welt wegweisend ist, Anlass gibt, über Religionsfreiheit
in der Welt nachzudenken, und uns ermuntert, aufzuste-
hen und sich, wenn man in anderen Ländern der Welt
unterwegs ist, zu Wort zu melden und laut dafür einzutre-
ten, wie zum Beispiel Herr Kauder das tut . Ich wünsche
mir auch, dass er Anlass ist, einmal innezuhalten und
darüber nachzudenken, was Religionsfreiheit gerade im
Zusammenhang mit den aktuellen Fragen auch für dieses
Land bedeutet . Es geht eben nicht nur um Kämpfe gegen-
einander, sondern es geht darum, zu erkennen, dass es in
manchen Ländern bestimmte Strukturen gibt, die die Re-
ligionsfreiheit, aber auch die Menschenrechte insgesamt
gefährden . Das zusammen zu sehen, ist, glaube ich, die
große Stärke dieses Berichts .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819100600

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält der

Kollege Volker Beck das Wort .

Frank Schwabe






(A) (C)



(B) (D)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1819100700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Religi-

onsfreiheit ist immer die Freiheit der Andersgläubigen,
der religiösen Minderheiten, der Religionsfreien und der
Minderheiten in großen Religionsgemeinschaften und re-
ligiösen Gruppierungen . Die Religionsfreiheit ist in Arti-
kel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,
im UN-Zivilpakt und in Artikel 4 unseres Grundgesetzes
verankert .

Oft wird vergessen, dass die Religionsfreiheit drei Di-
mensionen hat, die alle gleichermaßen für die Gewähr-
leistung der Freiheit von Gesellschaften und der Freiheit
der Individuen von großer Bedeutung sind . Das ist zum
einen die positive Religionsfreiheit des Einzelnen . Das
ist die Religionsfreiheit von Gemeinschaften der Gläu-
bigen, und es ist die negative Religionsfreiheit, von den
Vorstellungen im religiösen Bereich anderer unbelästigt
seine freiheitliche Lebensgestaltung verwirklichen zu
können . Nur alle drei Dimensionen zusammen konstitu-
ieren eine freiheitliche Politik für eine freiheitliche Ge-
sellschaft .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dies ist weltweit in Gefahr . Da, wo die Menschen-
rechtslage schwierig ist, ist es meistens auch um die Reli-
gionsfreiheit nicht besonders gut bestellt . Deshalb glaube
ich, dass die Diskussion um diesen Bericht und das The-
ma „Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ auch eine
Chance für die Menschenrechtspolitik international und
vor allen Dingen in Genf ist .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Jede Religion weltweit ist irgendwo in der Minderheit .
Manche sind auch irgendwo in der Mehrheit . Aber da, wo
man in der Minderheit ist, ist man immer darauf angewie-
sen, dass die religiösen Mehrheiten einem diese Freiheit
gewähren und die Entfaltung der Persönlichkeitsrechte
respektieren .

Ich denke, dieser Bericht, der ein guter Ansatz ist, weil
er die verschiedenen Dimensionen und Konfliktfelder
von Religions- und Weltanschauungsfreiheit aufzeich-
net, bleibt hier ein bisschen hinter seinen Möglichkeiten
zurück . Der Kollege Kauder hat es schon angesprochen,
und ich teile diese Auffassung. Ich denke, wenn wir die
Chance nutzen wollen, auf dem internationalen Parkett
Entwicklungen bei der Beschränkung der Religionsfrei-
heit rechtzeitig zu erkennen und darauf außenpolitisch
und entwicklungspolitisch zu reagieren, dann brauchen
wir länder- und regionenscharf einen Hinweis darauf, wo
etwas besser ist, was wir unterstützen können, und wo
sich etwas zum Unguten entwickelt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)


Der Bericht zeigt zu Recht auf, dass mancher Kon-
flikt, der unter der Flagge „Kampf zwischen Religionen“
daherkommt, oftmals andere Ursachen hat: regionale,
lokale Verteilungskonflikte, Konflikte zwischen Regio-
nen und Ethnien . Es ist oftmals ein Alarmsignal für das

Fortschreiten eines Konfliktes und das Umschlagen von
Auseinandersetzungen in heiße kriegerische Auseinan-
dersetzungen, wenn die Konfliktlage religiös­ideologisch
überwölbt wird . Ungleiche Machtverhältnisse ökonomi-
scher und sozialer Art werden in dem Bericht benannt .
Die Religion dient hier nur als Begründungszusammen-
hang, um bestehende Verhältnisse aufrechtzuerhalten
oder Verteilungskonflikte zu legitimieren. Ich glaube,
ein anders aufgestellter Religionsbericht der Bundesre-
gierung könnte in Zukunft, wenn wir einen solchen Be-
richt regelmäßig erstellen, auch ein Seismograf für Fehl-
entwicklungen auf dieser Welt sein und uns frühzeitig
alarmieren, um konfliktpräventiv auch politisch zu inter-
venieren, und er könnte damit vielleicht den Menschen
auf dieser Welt manches Elend ersparen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich rate auch dazu, das Thema nicht für falsche Polarisie-
rungen zu nutzen . Der Wettbewerb um die Frage, welche
Minderheit auf dieser Welt am stärksten religiös verfolgt
ist, bringt uns nicht weiter . Er ist zum Teil auch banal .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Christen sind die größte religiöse Gruppe auf die-
ser Welt . Deshalb ist es nicht besonders verwunderlich,
dass sie auch unter den Religionsverfolgten die größte
Gruppe darstellen . Eine Gruppe wie die Bahai, die welt-
weit nur wenige Millionen Mitglieder hat, aber eine ei-
genständige Weltreligion ist, kann mit den Zahlen der
Christen selbstverständlich nicht mithalten . Aber schau-
en wir uns an, wo die meisten Bahai leben, im Iran und
in Ägypten, dann sehen wir, dass diese Gruppe von den
staatlichen Stellen am intensivsten verfolgt wird, weil
sie unter das Apostasieverbot des Islam fällt und oftmals
sozial-bürgerrechtlich überhaupt nicht zur Kenntnis ge-
nommen wird .

Herr Kauder, Sie selber waren wegen der Kopten in
Ägypten . Sie haben sicher auch Bahai-Vertreter getrof-
fen . Die haben oftmals keine Geburtsurkunden, sie kön-
nen am wirtschaftlichen Leben nicht teilnehmen, weil sie
formalrechtlich nicht existent sind und keine Unterlagen
über ihre Existenz bekommen . Obwohl sie gut ausgebil-
dete Leute sind, sind sie völlig ausgeschlossen und müs-
sen immer fürchten, Opfer von Gewalttätigkeiten randa-
lierender Banden zu werden .

Es bringt nichts, dahin zu schauen und zu sagen: Das
ist aber eine kleine Gruppe, die Christen sind eine große
Gruppe . – Wir müssen uns um jeden und jede Einzelne
kümmern, deren Religionsfreiheit in Gefahr ist,


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


ob das die Rohingya in Myanmar oder ob das christli-
che Gruppierungen im Iran sind . Es gibt nämlich das
Problem, dass in manchen Ländern, gerade im Iran, wo
die Rechte von althergebrachten orthodoxen kirchlichen
Gruppierungen durchaus respektiert werden, neue religi-
öse Erscheinungsformen im Christentum, insbesondere
aus dem evangelikalen Bereich – das gilt auch für die






(A) (C)



(B) (D)


zentralasiatischen Staaten – oftmals brutalster Verfol-
gung ausgesetzt sind . Deshalb ist da Präzision und ge-
naues Hinschauen erforderlich . Ich glaube, auch im
weltweiten Dialog hört man uns nur zu, wenn wir für das
Prinzip der Religionsfreiheit streiten und es verteidigen,
nicht wenn wir uns nur um unsere Glaubensbrüder und
Glaubensschwestern in anderen Teilen der Welt bemü-
hen, zumal das auch nicht besonders christlich wäre .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es gibt auch die negative Religionsfreiheit; das habe
ich vorhin angesprochen. Ich finde es sehr gut und mu-
tig – da ist der Bericht vergleichbaren internationalen Be-
richten deutlich voraus –, dass man erkannt hat, dass es
bei der negativen Religionsfreiheit auch um Dinge geht,
die nicht in erster Linie im Blick sind, wenn wir über
Religionsfreiheit reden . Wenn religiöse Vorstellungen
das Familienrecht und das Strafrecht eines Landes prä-
gen, wenn es um die Rechte von Frauen geht, das Recht
auf Scheidung, das Recht auf Wiederverheiratung, das
Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt, oder wenn es um
die Rechte von Homosexuellen und Transsexuellen geht,
geht es auch um die Frage der negativen Religionsfrei-
heit bzw . darum, die Möglichkeit zu haben, nicht so sein
bzw . leben zu müssen, wie die Mehrheit glaubt, dass es
ihnen ihr Gott vorgeschrieben hat .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darauf zu achten und darüber zu reden, ermöglicht es
uns vielleicht auch, in Genf mit Ländern ins Gespräch zu
kommen, bei denen wir sonst beim Thema Frauen- und
LGBT-Rechte gleich abblitzen, wenn wir das auch nur
erwähnen .

Wir sollten einen umfassenden Religionsdialog star-
ten und sagen, dass es um die Freiheit der verschiedenen
Haltungen und Gemeinschaften geht . Wir sollten sagen:
So, wie wir eure mehrheitliche Haltung respektieren wol-
len, so erwarten wir, dass ihr in euren Ländern unsere und
andere Haltungen in gleicher Weise rechtlich schützt . Ich
würde unsere Diskussion gerne in diese Richtung voran-
treiben und hoffe, dass wir uns in den Fachausschüssen
zumindest unter den Fraktionen, die diesen Bericht mit-
getragen haben, darauf verständigen können, zu sagen:
Wir wollen einen Bericht der Bundesregierung zur welt-
weiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit
als regelmäßige Institution . Damit wir als Parlamentari-
erinnen und Parlamentarier aber besser damit arbeiten
können, sollte er länder­ und entwicklungsspezifisch auf-
geschlüsselt sein; denn nur dann macht ein regelmäßiger
Bericht Sinn .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Johannes Paul II . hat gesagt:

Das Recht auf Religionsfreiheit … stellt so etwas
wie die Existenzgrundlage für die anderen funda-
mentalen Freiheiten des Menschen dar .

Ich weiß nicht, ob er das im Sinne des eben von mir Ge-
sagten im Hinblick auf die drei Dimensionen meinte .

Wenn man es aber so versteht, wird ein Schuh daraus,
und es wird uns als Bundesrepublik Deutschland viel-
leicht gelingen, in Genf eine neue Initiative für eine bes-
sere und fundamentalere Auseinandersetzung über die
Grundlagen der Menschenrechte zu starten .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819100800

Für die Bundesregierung erhält nun die Staatsministe-

rin Maria Böhmer das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Dr . Karamba Diaby [SPD])


D
Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1819100900


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung hat diesen Bericht auf
Antrag des Bundestages vorgelegt . Darin werden die
weltweite Lage sowohl der Religionsfreiheit als auch der
Weltanschauungsfreiheit erfasst . Dies geschieht in der
Überzeugung, dass der Religions- und Weltanschauungs-
freiheit eine große Bedeutung als Eckpfeiler einer stabi-
len und friedlichen Ordnung zukommt . Religionsfreiheit
und ein friedliches Zusammenleben bedingen einander .

Unser Grundgesetz, die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte der Vereinten Nationen und der VN-Zi-
vilpakt, den 168 Staaten der Welt ratifiziert haben, schüt-
zen das Grundrecht auf Gewissens- und Religionsfreiheit .
Keine Frage: Die Religions- und Weltanschauungsfrei-
heit ist ein universelles Menschenrecht, und sie wird in
immer mehr Staaten prinzipiell rechtlich abgesichert . Die
Wirklichkeit aber sieht oft dramatisch anders aus .

Millionen von Menschen werden weltweit Tag für
Tag in ihrer Religions- und Weltanschauungsfreiheit
eingeschränkt . Viele werden verfolgt, gedemütigt und
kommen zu Tode . Religion wird missbraucht, um Un-
terdrückung, Gewalt und Unrecht zu legitimieren, wie
wir es in erschreckender Weise im Irak oder in Syrien
erleben . In diesen Urgebieten des Christentums sind es
besonders häufig Christen, die unter Repressionen, Ge-
walt und Vertreibung leiden müssen . Aber auch Jesiden
und Muslime sind Opfer des brutalen und menschenver-
achtenden IS-Terrors geworden . In dieser verzweifelten
Situation gilt es den Menschen zur Seite zu stehen . Zu-
nehmend ist zu beobachten, dass schwache Staatlichkeit,
Korruption und schwierige wirtschaftliche Bedingungen
den mangelnden Schutz von Religionsgemeinschaften
mit verursachen .

Über den Stand der Religions- und Weltanschauungs-
freiheit liegt uns eine Reihe von nationalen und interna-
tionalen Berichten vor . Dabei handelt es sich in der Re-
gel um Länderberichte . Im Auswärtigen Amt haben wir
uns daher sehr intensiv die Frage gestellt: Was könnte
der Mehrwert eines solchen Berichtes sein, den wir dem
Deutschen Bundestag vorlegen? Wir haben uns für einen
neuen, strukturellen Ansatz entschieden . In diesem Be-

Volker Beck (Köln)







(A) (C)



(B) (D)


richt wird anhand konkreter Länderbeispiele eine Typo-
logie der Rechtsverletzungen entwickelt .

Ich halte es für wichtig, dass wir über diesen Ansatz
ebenso diskutieren wie über die Inhalte des Berichts .
Wir geben uns bei diesem Bericht nicht nur mit einer
Situationsbeschreibung und einer Analyse zufrieden .
Der Bericht zeigt konkrete Ansatzpunkte auf, um gegen
die Verletzungen vorgehen zu können: erstens bei der
Rechtsetzung, zweitens bei der Schaffung von Strukturen
und drittens in vielen Einzelfällen . Lassen Sie mich En-
gagement und konkretes Handeln der Bundesregierung
für Religions- und Weltanschauungsfreiheit anhand die-
ser drei Punkte zusammenfassen .

Erstens . Wo Rechtsetzung nötig ist, unterstützt die
Bundesregierung diese Prozesse . So konnten in der
EU-Ratsarbeitsgruppe Menschenrechte bereits 2013 um-
fassende Leitlinien zur Förderung und zum Schutz der
Religionsfreiheit beschlossen werden . Wir unterstützen
die Arbeit des OSZE-Büros für demokratische Institu-
tionen und Menschenrechte . Wir entsenden Personal und
finanzieren Projekte.

Zweitens . Wir wollen dauerhafte Strukturen für den
Dialog, insbesondere für den religiösen Dialog, fördern .
Wenn die Kenntnisse über andere Religionen wachsen,
wenn Menschen miteinander reden, dann entwickeln sie
Respekt und Verständnis füreinander . In Deutschland
haben wir Erfahrungen mit der Deutschen Islam-Konfe-
renz gesammelt . Sie ist jetzt zehn Jahre alt . Sie könnte
ein Beispiel für andere Länder sein, wie man aufeinander
zugeht und wie man eine solche Plattform schafft.

Wir bringen in vielen Ländern geistliche Führer und
Menschen unterschiedlicher Religionen zusammen . Das
ist kein leichtes Unterfangen . Aber ich bin davon über-
zeugt, dass sich solche Vorurteile und Gegensätze nur
im Dialog überwinden lassen und so ein friedliches Mit-
einander möglich ist . Die deutsche Präsidentschaft im
VN-Menschenrechtsrat haben wir vielfach für Religi-
onsfreiheit genutzt, und wir haben die Fortsetzung des
sogenannten Istanbul-Prozesses unterstützt .

Drittens . In vielen Einzelfällen, etwa wenn es um
grausame Strafen oder sogar um drohende Todesstrafen
geht, setzen sich das Auswärtige Amt und seine Bot-
schaften unmittelbar für die Betroffenen ein. Sie wissen:
Um die Opfer nicht unnötig zu gefährden, werden solche
Demarchen oft nicht öffentlich gemacht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnen
sprechen auf ihren Auslandsreisen die Verletzungen der
Religionsfreiheit gezielt an und treffen sich mit Men-
schen, die unter religiöser Verfolgung leiden . Ihr Einsatz
ist mehr als hilfreich, und ich möchte Ihnen dafür sehr
herzlich danken .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Religion kann wunderbare positive Kräfte und Ener-
gien entwickeln . Sie ist eine Kraft des Guten, aber nur,
wenn sie frei ausgeübt, ihre Ausübung geschützt und eine
Instrumentalisierung verhindert wird . Der Staat ist dazu
verpflichtet, einen Rahmen für diese freie Ausübung zu
schaffen. Doch gerade den Religionsgemeinschaften

selbst kommt eine zentrale Verantwortung für ein fried-
liches Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher
Religion zu . Außenpolitik hat hier eine unterstützende
Funktion . Unser Einsatz für Religions- und Weltanschau-
ungsfreiheit dient der Krisenprävention und der Stabili-
sierung .

Die Begegnung mit der Internationalen Parlamentari-
ergruppe für Religionsfreiheit vergangene Woche und die
heutige Debatte empfinde ich als eine große Ermutigung
auf dem zugegebenermaßen oft steinigen Weg .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819101000

Angelika Glöckner erhält nun das Wort für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Angelika Glöckner (SPD):
Rede ID: ID1819101100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir beraten heute über den Bericht der
Bundesregierung zur Lage der Religions- und Weltan-
schauungsfreiheit weltweit. Ich finde, das ist gut so; denn
gerade mit Blick auf die vielen weltweiten Krisen und
Konflikte ist dies von besonderer Bedeutung. Mein Dank
geht ebenfalls an das Auswärtige Amt und allen voran an
Herrn Außenminister Frank-Walter Steinmeier für diesen
umfassenden Bericht .

In Deutschland ist die Religions- und Glaubensfrei-
heit ein Rechtsgut von höchstem Rang . Danach steht es
dem Individuum frei, seinen Glauben zu bilden, danach
zu leben, ihn zu äußern, und ebenso steht es ihm frei, sich
danach zu verhalten, oder auch, sich keinem Glauben zu-
zuwenden . Außerdem steht es dem Individuum frei, den
Glauben zu wechseln . Das alles zeigt, wie umfassend der
Schutzzweck dieser Norm ist und was es heißt, seine Re-
ligions- und Glaubensfreiheit ausüben zu können .

Der Bericht hebt deutlich hervor, dass aufgrund der
Universalität dieses Menschenrechts der Schutz in der
ganzen Welt gelten muss . Aber dem ist mitnichten so . In
vielen Teilen dieser Welt ist Religionsfreiheit schlicht-
weg nicht existent oder im besten Fall bedroht . Daher
finde ich es gut, dass wir heute darüber diskutieren, wie
Lebenssituationen betroffener Menschen verändert wer-
den können. Ich finde den Bericht in seiner Gesamtheit
sehr aufklärend . Es sind sehr viele gute Ergebnisse ent-
halten . Ich will auf zwei Punkte besonders eingehen .

Erstens wird darauf hingewiesen, dass es ganz un-
terschiedliche Formen von Verletzungen des Rechts auf
Religionsfreiheit gibt . Diese können sich zeigen im er-
schwerten Zugang zu Bildung, zu öffentlichen Ämtern
bzw . Mandaten oder in der Verweigerung, eine Natio-
nalität anzuerkennen oder Pässe auszustellen . Es kann
einen Verstoß aus Familien geben, bis hin zu Folter,
Vertreibung und im schlimmsten Fall sogar Tod . Men-
schenrechtsverletzungen finden in allen Systemen, in
allen Regionen weltweit statt . Das zeigt aber auch, wie

Staatsministerin Dr. Maria Böhmer






(A) (C)



(B) (D)


folgerichtig es ist, dass der Bericht dieses Thema so dif-
ferenziert beleuchtet; denn so verschieden die Formen
der Menschenrechtsverletzungen ausfallen, so unter-
schiedlich muss ihnen entgegengewirkt werden .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens erfolgt der Hinweis, dass Religionen von
Regimen oft missbraucht werden, um den eigenen
Machtanspruch zu untermauern und Minderheiten zu un-
terdrücken . Wir kennen das von den Rohingya-Muslimen
in Myanmar oder auch von der Gewalt gegen Christen
und Muslime in Indien . Es kommt auch vor, dass Staaten
ihre Bevölkerung nicht vor Menschenrechtsverletzun-
gen schützen können oder wollen, etwa weil das Staats-
system sehr zerbrechlich ist – Syrien, Irak, Nordafrika
und die Länder der Sahelzone sind gute Beispiele – oder
weil anstelle von Staatlichkeit Korruption und Willkür
vorherrschen, so wie es in Saudi-Arabien oder Iran der
Fall ist . All diesen Gewalttaten und Einschränkungen
ist gemein, dass die Religion meist nur als Argument in-
strumentalisiert wird und eben nicht ursächlich ist für
Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung .

Gemein ist all diesen Verbrechen aber auch, dass sie
fast immer in Staaten vorkommen, in denen auch weite-
re Menschen- und Freiheitsrechte nicht garantiert sind .
Deshalb darf Religionsfreiheit nicht losgelöst von ande-
ren Menschenrechten betrachtet werden . Wir müssen uns
dafür einsetzen, dass Staaten sich allen Menschenrechten
verpflichtet fühlen. Das gilt insbesondere für Freiheits-
rechte wie die Meinungsfreiheit oder die Pressefreiheit
und eben auch die Religions- und Weltanschauungs-
freiheit . Wie stark sich Deutschland bereits heute dafür
macht, zeigt der Einsatz in vielen Gremien, etwa den Ver-
einten Nationen, der EU, der OSZE oder dem Europarat .
Wir sind in vielen Ländern an Projekten zur Förderung
von Bildung und einer effektiven Justiz beteiligt sowie an
Projekten im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit,
die Vertrauen zwischen religiösen Gruppen schaffen und
Vorbehalte abbauen .

Meine Damen und Herren, ich finde, das ist ein ganz
wesentlicher Punkt; denn es kommt, wenn wir über Reli-
gions- und Weltanschauungsfreiheit reden, sehr maßgeb-
lich darauf an, dass es gelingt, unterschiedliche Religi-
onsgemeinschaften zusammenleben zu lassen .


(Beifall bei der SPD)


Ganz besonders gilt es aber auch, den Dialog mit den
Verantwortlichen und Machthabern dieser Welt nicht ab-
reißen zu lassen und immer nach politischen Lösungen
zu suchen . Ich bin unserem Außenminister Frank-Walter
Steinmeier sehr dankbar, dass er ein vehementer Ver-
fechter des ständigen Dialogs und politischer Lösungen
ist und zu jeder Zeit in allen Krisengebieten dieser Welt
unterwegs ist .

Bei allem, was wir tun, um Religionsfreiheit in der
Welt voranzubringen, müssen wir aber auch die Situati-
on im eigenen Land und in Europa immer wieder selbst
reflektieren. Die Situation in Deutschland in Bezug auf
die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist gut . Wir
haben eine exzellent funktionierende Rechtsstaatlichkeit .
Alle Menschen in unserem Land unterstehen dem Schutz

des Artikels 4 unseres Grundgesetzes und haben das
Recht, ihre Religion oder Weltanschauung frei zu entfal-
ten . Wenn sie sich darin beeinträchtigt fühlen, können sie
ihr Recht ohne Angst vor Repressionen einklagen . Wir
müssen alles dafür tun, dass dies auch so bleibt .

Gerade in den letzten Monaten wurden immer wieder
Vorschläge in die öffentliche Diskussion eingebracht, die
mich mit Blick auf die Religions- und Glaubensfreiheit
betroffen machen. Wir selbst wollen in unserem Land
frei leben . Wenn wir dies selbst wollen, dann müssen
wir dies aber auch für andere gelten lassen . Es gibt kein
Gleich und Gleicher; auch das gebietet unser Grundge-
setz . Forderungen wie die, Zuwanderer aus dem christ-
lich-abendländischen Kulturkreis vorzuziehen, haben
nach den Grundsätzen, über die wir heute sprechen, hier
keinen Platz .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich wünsche mir, dass auch der Koalitionspartner mit
Blick auf die heutige Diskussion noch einmal darüber
nachdenkt . Genau so, auf Basis dieser Werte und einge-
bunden in eine feste Wertegemeinschaft mit den europäi-
schen Partnerstaaten, ist es uns gelungen, Deutschland zu
dem zu machen, was es heute ist: ein sehr wohlhabendes
und hochangesehenes Land, ein Land, auf das man stolz
sein kann . Darüber sollte man nachdenken, bevor man
jenen nacheifert, die ebendiese Werte infrage stellen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819101200

Das Wort erhält nun die Kollegin Erika Steinbach von

der CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1819101300

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Religion ist ein elementarer Teil der Identität von
Gläubigen unterschiedlichster Konfessionen . Aufgrund
von Forschungen wissen wir, dass Religiosität von An-
fang an Menschen in ihrer Identitätsbildung unterstützt
und ihnen hilft, die Fragen der eigenen Existenz und zum
Platz im Leben und in der Welt zu beantworten . Darum
ist es so unverzichtbar, den eigenen Glauben artikulieren
und leben zu dürfen . Deshalb ist es richtig, dass Religi-
onsfreiheit ein ganz zentrales Menschenrecht ist .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Leider müssen wir erkennen, dass die Unterdrückung
von Religionen und damit die Unterdrückung von Men-
schen in den letzten Jahren beständig zugenommen hat,
wobei insbesondere Religionsgemeinschaften, die in ih-
rem Land zu einer Minderheit gehören, davon betroffen
sind . Diese Einschränkungen der Religionsfreiheit sind
häufig Ergebnis gezielter Politik, etwa wenn die Mehr-
heitsreligion ihren Wahrheitsanspruch staatlich verankert
hat und auf jeden Fall durchsetzen will . Aber auch das
Aufkommen extremistischer und terroristischer Orga-

Angelika Glöckner






(A) (C)



(B) (D)


nisationen in Verbindung mit schwacher Staatlichkeit
führt – für uns deutlich erkennbar – zu religiös begründe-
ten Gewaltexzessen . Das können wir im Nahen Osten auf
tragische Weise beobachten .

Unsere Fraktion, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
setzt sich seit vielen Jahren im Rahmen ihrer wertege-
leiteten Außenpolitik für das Menschenrecht auf Religi-
onsfreiheit ein: für die Christen im Nahen und Mittleren
Osten genauso wie für die Jesiden im Irak, die Bahai im
Iran, die Tibeter in China oder die bedrängten Christen
und Muslime in Indien, wobei die meisten nicht wissen,
dass es dort eine Bedrängung gibt . Von der Anzahl her
sind Christen weltweit besonders häufig von Unterdrü-
ckung und Verfolgung betroffen.

Der Zustand der Religionsfreiheit ist ein deutlicher In-
dikator für die allgemeine Menschenrechtslage in einem
Staat . Das kann man in allen Staaten dieser Welt verfol-
gen . Wo es keine Religionsfreiheit gibt, sind in der Regel
auch die anderen zentralen Freiheits- und Menschenrech-
te in Gefahr oder schon nicht mehr vorhanden .


(Beifall des Abg . Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU])


Der Bericht der Bundesregierung zeichnet ein glo-
bales, aber durchaus noch nicht ganz vollständiges Bild
der Herausforderungen für die Religionsfreiheit; Volker
Kauder hat darauf mit gutem Recht hingewiesen .

Für Deutschland müssen wir darüber hinaus registrie-
ren und erkennen, dass als Folge der großen Migrations-
bewegungen global zu beobachtende Defizite religiöser
Intoleranz inzwischen auch verstärkt bei uns spürbar
sind . So sind vor allem in den letzten Jahren Menschen
aus Gesellschaften nach Europa und nach Deutschland
gekommen, in denen sie ohne religiöse Toleranz aufge-
wachsen sind und sie gar nicht kennen; sie wissen gar
nicht, was religiöse Toleranz ist . Als Folge davon müssen
wir in Deutschland schon mit Sorge die Zunahme antise-
mitischer Strömungen und unverhohlener Aggressivität
gegenüber Christen, Jesiden und auch gegenüber Kon-
vertiten in deutschen Asylunterkünften registrieren .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819101400

Frau Steinbach, darf die Kollegin Buchholz eine Zwi-

schenfrage stellen?


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1819101500

Aber gerne .


Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819101600

Frau Steinbach, Sie sprechen hier von „religiöser Into-

leranz“ . Ich will das einmal zusammen mit der Aussage
von Herrn Kauder betrachten, der bezweifelt hat, dass es
in Deutschland antimuslimischen Rassismus gibt, wie
das ja im Bericht der Bundesregierung vermerkt ist . Ich
frage Sie: Wenn sich eine junge Frau viermal öfter be-
werben muss, um einen Job zu bekommen, wenn sie ein
Kopftuch trägt, als wenn sie kein Kopftuch trägt, haben
wir es nicht dann mit einem Rassismus gegen Muslime

zu tun? Ist es nicht so, dass sich Religionsfreiheit nicht
daran misst, wie die Mehrheit behandelt wird, sondern
inwieweit die Minderheiten gleiche Rechte haben? Ich
würde Sie sehr bitten, darauf einzugehen, wie es hier um
die Minderheit der Muslime und andere religiöse Min-
derheiten in Deutschland bestellt ist, und eher vor der
eigenen Haustür zu kehren, bevor Sie den Blick in die
große, weite Welt schweifen lassen .


(Beifall der Abg . Sabine Leidig [DIE LINKE])



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1819101700

Frau Kollegin, ich nehme ja gerade die Situation vor

der eigenen Haustür, nämlich Deutschland, in den Blick,
das ja in dem Bericht praktisch nicht vorkommt . Vor dem
Hintergrund wissen wir: Die Würde eines jedes Men-
schen ist nach unserer Verfassung unantastbar .

Berichte über Spannungen zwischen verschiedenen
religiösen Gruppen in Flüchtlingsunterkünften, selbst
zwischen Angehörigen unterschiedlicher muslimischer
Glaubensrichtungen wie Sunniten, Schiiten oder Alevi-
ten, zeigen uns, dass das religiöse Konfliktpotenzial hier
in Deutschland angekommen ist und uns vor erhebliche
Herausforderungen stellt und stellen muss . Wir dürfen
diese Situation nicht ignorieren, und wir dürfen die Pro-
blematik auch nicht unterschätzen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Verkennen dürfen wir auch nicht, dass es bei uns in
Deutschland inzwischen islamistische Versuche gibt –
nicht Versuche des Islam –, Religion als politisches Ve-
hikel zu missbrauchen und zum Beispiel das Tragen aus-
grenzender Kleidung wie Burka oder Nikab als religiös
zu begründen, obwohl dem so nicht ist .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein Mitglied des Hohen Geistlichen Rates der Al- Azhar-
Universität in Kairo hat deutlich gesagt: Der Nikab scha-
det dem Islam . –


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das sollten wir uns hier in Deutschland dann auch einmal
vor Augen führen . Gesellschaftspolitische Vorstellungen
mithilfe von solchen extremistischen Bekleidungsvor-
schriften umzusetzen – ich glaube, wir sollten darüber
nachdenken, ob das unserem Land guttut .

Insgesamt macht der Bericht der Bundesregierung
deutlich, dass die Herausforderung des Menschenrechts
auf Religions- und Glaubensfreiheit sehr verschiedene
Facetten hat . Der Bericht ist in dieser Form eine Mo-
mentaufnahme, die durchaus noch verbesserungsfähig
ist, aber es ist eine gute Grundlage. Wir erhoffen uns
weitere Berichte, eine Kontinuität der Berichterstattung,
bei der dann auch die angeführten Lücken gefüllt wer-
den . Denn eines ist uns allen deutlich – wir können es
weltweit beobachten –: Religiös motivierte Spannungen
nehmen leider zu .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Erika Steinbach






(A) (C)



(B) (D)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819101800

Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Nietan für

die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1819101900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich bin der festen Überzeugung, dass der uns
von der Bundesregierung vorgelegte Bericht zur welt-
weiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit
eine große Chance bietet, weil er es ermöglicht, mit einem
anderen Blick sehr differenziert und deutlich Typologien
und Wirkungsweisen der Verletzung des Rechts auf Re-
ligions- und Weltanschauungsfreiheit herauszuarbeiten .
Deshalb wäre es aus meiner Sicht nicht zielführend, in
eine Diskussion über ein Entweder-oder einzusteigen:
Muss das jetzt eine Staatenliste werden, oder kann er so
bleiben, wie er ist? Sehen wir es so, wie Frau Staatsmi-
nisterin Böhmer es zu Recht gesagt hat: Er bringt einen
Mehrwert, weil er uns neue Aspekte für unseren Kampf
für Religions- und Weltanschauungsfreiheit liefert .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage das an dieser Stelle auch als jemand, der sich
als Christ in einer besonderen Weise berührt fühlt, wenn
Schwestern und Brüder in der Welt verfolgt werden .

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein Problem
bekommen, wenn wir Menschenrechtsverletzungen im
Bereich der Religionsfreiheit je nach Glaubensrichtung,
die betroffen ist, je nach Anzahl der Betroffenen, je nach-
dem, welche handelnden Staaten mit welchem politi-
schen System es sind, unterschiedlich intensiv bewerten .
Dann laufen wir Gefahr, direkt die Axt an den universel-
len Charakter der Menschenrechte anzulegen . Deshalb
muss für uns gelten: Jeder Mensch, dessen Würde mit
Füßen getreten wird, ist uns gleich wichtig, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es darf nicht der Eindruck entstehen – das will ich
hier niemandem unterstellen –, dass ein Parlament oder
eine Regierung sich zum Anwalt einer bestimmten Reli-
gion macht . Es darf keinen Zweifel daran geben: Wir alle
machen uns vielmehr zum Anwalt jedes einzelnen Men-
schen, dem ein elementares Grundrecht genommen wird .
Ich glaube, wir können den Menschen nur helfen, wenn
wir diesen Ansatz konsequent weiterverfolgen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu gehört zum Beispiel auch, dass wir bei der Auf-
nahme von Flüchtlingen keine Opfergruppen bevorzugen
oder zumindest den Anschein erwecken, als würden wir
eine Opfergruppe bevorzugen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Warum betone ich diese Punkte? Ich will darauf hin-
weisen, dass wir möglicherweise mit einer starken Zu-

wendung hin zum Problemkreis der verfolgten Christin-
nen und Christen, der ohne Zweifel der größte ist, das
Gegenteil erreichen, nämlich dass ihre Verfolger unsere
Hinwendung als Vorwand nutzen, sie weiter zu stig-
matisieren . Denn was heißt „Boko Haram“? Das heißt
übersetzt: Westliche Bildung ist Sünde . Wir sollten nicht
den Eindruck erwecken, als seien die dort Verfolgten die
fünfte Kolonne des Westens, weil wir aus dem Westen
sagen: Wir kümmern uns besonders um Christen, liebe
Kolleginnen und Kollegen .

Es geht aber auch um die Glaubwürdigkeit des Ein-
satzes für Religionsfreiheit als ein universelles Men-
schenrecht . Denn gerade diejenigen, die intolerant sind,
die Religionsfreiheit mit Füßen treten, berufen sich oft
darauf und sagen, dass die Menschenrechte ein Herr-
schaftsinstrument des Westens seien . So wollen sie die
Menschenrechte diskreditieren . Deshalb sollten wir
immer wieder deutlich machen, dass wir keine Gruppe
bevorzugen, dass es uns wirklich darum geht, ein univer-
selles Menschenrecht überall auf der Welt, auch bei uns,
durchzusetzen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist hier schon öfter angesprochen worden: Wichtig
im Kampf für die Menschenrechte ist immer die eigene
Glaubwürdigkeit; denn diejenigen, die die Menschen-
rechte mit Füßen treten, versuchen alles, um unsere
Glaubwürdigkeit zu hinterfragen . Deshalb müssen wir
in den Debatten, die wir jetzt im eigenen Land erleben,
deutlich machen – daran darf kein Zweifel aufkommen –,
dass der Garant von Religionsfreiheit, auch bei uns, ein
säkularer, weltanschaulich neutraler Staat ist und nicht
ein christlicher oder ein muslimisch geprägter Staat . Nur
der säkulare Staat, der weltanschaulich neutral ist, kann
ein glaubwürdiger Verfechter des Rechtes auf Religions-
freiheit sein .


(Beifall bei der SPD)


Ich betone das auch deshalb, weil es nicht nur um den
Kampf für das individuelle Menschenrecht geht, sondern
weil wir uns, auch im eigenen Land, in einem Kampf um
die offene Gesellschaft befinden. Natürlich müssen wir
die Dinge offen ansprechen. Natürlich ist es nicht akzep-
tabel, wenn es immer noch Moscheen in Deutschland
gibt, in denen jeden Freitag der Hass gegen die offene
Gesellschaft gepredigt wird . Darüber darf man nicht hin-
wegsehen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir dürfen aber auch in unserer Außenpolitik nicht da-
rüber hinwegsehen, dass es zum Beispiel bei unserem
Nachbarn Russland eine unheilige Allianz von Staat und
orthodoxer Kirche gibt, die gegenüber Schwulen und
Lesben mittlerweile eine Politik an den Tag legt, die po-
gromhafte Züge hat . Auch das muss gesagt werden .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Ja, wir brauchen Toleranz, und wir brauchen vor al-
len Dingen Respekt gegenüber glaubenden Menschen,
auch wenn sie einen Glauben vertreten, den wir ganz
und gar nicht teilen können . Wir dürfen Toleranz aber
nicht mit Relativismus und Gleichgültigkeit verwech-
seln. Zur Toleranz gehört, dass wir zu Fragen der offe-
nen Gesellschaft, der Demokratie, der Meinungsfreiheit,
der Gleichberechtigung von Mann und Frau einen klaren
Standpunkt haben, und diesen klaren Standpunkt müssen
wir immer wieder deutlich machen . Es darf nicht sein,
dass wir aus Angst, wir würden religiöse Gefühle ande-
rer verletzen, schweigen, wenn zum Beispiel unter dem
Vorwand der Religion Frauenrechte mit Füßen getreten
werden . Da müssen wir dann auch klar und deutlich sein .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, wie
es in diesem Land insgesamt um die Toleranz gegenüber
religiösen Minderheiten steht . Es ist nicht akzeptabel,
dass jüdische Mitbürger es sich zweimal überlegen, ob
sie eine Kippa in der Öffentlichkeit tragen, weil das dazu
führt, dass sie sich nicht sicher fühlen können . Es kann
auch nicht sein – auch das will ich an dieser Stelle sagen;
denn auch da beginnt Intoleranz gegenüber dem Reli-
giösen –, dass sich zum Beispiel eine junge Studentin,
eine Christin, die sich in einer Mensa, also im öffentli-
chen Raum, vor dem Essen bekreuzigt, von Teilen der
Mehrheitsgesellschaft anhören muss, sie sei mittelalter-
lich und rückschrittlich und so etwas passe nicht . Es darf
nicht sein, dass sich Menschen beim Ausüben ihrer Re-
ligion in der Öffentlichkeit verletzt fühlen und Teile der
Mehrheitsgesellschaft fordern, Religion als Privatsache
zu behandeln und sie im öffentlichen Raum nicht mehr
zu zeigen . Auch da müssen wir deutlich machen: Religi-
on hat ihren Platz auch im öffentlichen Raum. Wenn das
Zeigen von Religion im öffentlichen Raum nicht mehr
möglich sein sollte, beginnt die Religionsfeindlichkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Dies ist ein
wichtiges Thema . Deshalb bin ich dankbar, dass wir
uns in einer, wie ich finde, sehr differenzierten Debatte
mit diesem Thema auseinandersetzen . Ich möchte zum
Schluss um eines bitten: Wir alle wissen, wie das mit der
parteipolitischen Brille ist . Wir sind Politikerinnen und
Politiker . Wir alle schauen hin und wieder durch diese
parteipolitische Brille . Für die Religionsfreiheit und die
offene Gesellschaft tun wir aber am meisten, wenn wir
hinsichtlich unserer Empörungsbereitschaft und Kritik
nicht selektiv sind .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819102000

Herr Kollege .


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1819102100

Es ist kein Widerspruch – im Gegenteil: es gehört zu-

sammen –, wenn wir uns genauso klar, wie wir gegen
Hassprediger in Moscheen vorgehen, äußern, wenn eine

Partei wie die AfD den Islam als Religion diskriminiert,
verallgemeinernd als Gefahr darstellt und damit den Zu-
sammenhalt in unserem Land gefährdet . Beides muss
gesagt werden . Wir sollten an dieser Stelle nicht selektiv
sein . Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir die Ver-
fehlungen der einen verschweigen, während wir bei den
Verfehlungen der anderen besonders laut sind . Wenn wir
an dieser Stelle Glaubwürdigkeit zeigen, dann, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, ist das die beste Waffe für eine
offene Gesellschaft und mehr Religionsfreiheit.

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819102200

Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die Bun-

desregierung als Parlamentarischer Staatssekretär in ei-
nem der beteiligten Ministerien . – Bitte schön .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Th
Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1819102300


Vielen Dank, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Drei Viertel der Menschheit lebt in Staaten, in
denen die Religionsfreiheit und Weltanschauungsfreiheit
nicht gewährleistet wird oder erheblich eingeschränkt ist .
Die Repressalien sind vielfältig . Sie reichen von admi-
nistrativen Hindernissen, etwa kein Zugang zu öffentli-
chen Ämtern, über soziale Stigmatisierungen bis hin zu
drakonischen Strafen, etwa der Todesstrafe bei Wechsel
der Religion .

Wir setzen uns in der Entwicklungspolitik dafür ein,
dieses Menschenrecht auf Religions- und Weltanschau-
ungsfreiheit zu schützen und die Gesellschaften zu stär-
ken, die für Toleranz und ein friedliches Miteinander
eintreten; denn wir wollen und wir brauchen eine Welt,
in der wir alle im gegenseitigen Respekt und in Achtung
vor Kulturen und Religionen ein friedliches Auskommen
haben .

Der Schutz und die Gewährleistung der Religions-
und Weltanschauungsfreiheit haben genauso wie alle
anderen Menschenrechte einen festen Platz in unserer
Entwicklungspolitik . Dafür wollen wir die Religionsge-
meinschaften als Partner gewinnen . Wir dürfen das Feld
nicht den Extremisten und den Fanatikern überlassen, die
Terror predigen, denen es nicht um Glauben geht, son-
dern die Religion für ihre politischen Zwecke missbrau-
chen .

Wir müssen deshalb auch die religiösen Führer und die
Gläubigen stärken, die sich in ihren Gesellschaften für
Toleranz und für Freiheit einsetzen . Ich möchte an dieser
Stelle an die Worte erinnern, die vor wenigen Tagen der
marokkanische König Mohammed VI . gefunden hat, als
er sich in einem eindringlichen Appell an alle Muslime
gewandt hat . Er hat ausdrücklich alle Formen des Ter-
rorismus, Extremismus und Radikalismus verurteilt . Er
verurteilt die Prediger – ich zitiere –, „die junge Muslime
benutzen, speziell in Europa, . . . um ihre Irrlehren und ab-

Dietmar Nietan






(A) (C)



(B) (D)


wegigen Versprechen zu verbreiten und Gesellschaften
anzugreifen, die Freiheit, Offenheit und Toleranz wol-
len“. Ich finde, das ist ein außerordentlich beeindrucken-
des Statement des marokkanischen Königs . Stimmen wie
diese sollten wir in unseren internationalen Beziehungen
stärker beachten und in unsere Arbeit einbeziehen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen das positive Potenzial von Religionsge-
meinschaften in unsere internationale Zusammenarbeit
einbeziehen . Deshalb haben wir im Februar dieses Jahres
zum ersten Mal überhaupt für unser Ministerium eine in-
ternational vielbeachtete neue Strategie zum Thema „Re-
ligionen als Partner in der Entwicklungszusammenar-
beit“ vorgestellt . Wir haben sie zusammen mit Vertretern
aller Weltreligionen, der Wissenschaft, der Zivilgesell-
schaft aus dem In- und Ausland erarbeitet . Sie wird von
vielen internationalen Akteuren als Vorbild genommen .
Wir wollen damit zeigen, dass Religion ein Katalysator
für Entwicklung sein kann .

Meine Damen und Herren, religiöse Gemeinschaf-
ten sind in vielen Ländern oft näher an den Menschen
dran als Politiker . In vielen Ländern wären die Gesund-
heitsversorgung und das Bildungswesen überhaupt nicht
funktionsfähig, wenn es nicht das breite Engagement von
vielen Religionsgemeinschaften gäbe . 80 Prozent der
Weltbevölkerung gehören einer Religionsgemeinschaft
an – 80 Prozent! Das kann Politik nicht ignorieren, wenn
wir die Lebenswirklichkeit einer großen Mehrheit der
Weltbevölkerung wirklich erfassen wollen . Wir sehen
das in vielen unserer Partnerländer . In Gesprächen vor
Ort merken wir natürlich auch, dass Religionsfreiheit oft
ein höchst sensibles Thema ist . Deswegen setzen wir auf
den Dialog der Religionen und starten gezielt neue Vor-
haben, die diesen interreligiösen Dialog fördern .

Wir wollen dazu ausdrücklich religiöse Autoritäten
einbeziehen; denn sie haben großen Einfluss. In vielen
Regionen kennt man keine Regierungsvertreter, aber die
religiösen Führer aus der Nachbarschaft . Wenn diese in
ihren Gemeinden zu gegenseitigem Respekt und zu To-
leranz ermutigen, dann hat das ein viel größeres Gewicht
als alle anderen Stimmen . Deswegen setzen wir auf die-
sen Dialog .

Ich will Ihnen gern einige Beispiele nennen: Auf den
Philippinen fördern wir den Dialog zwischen Christen,
Muslimen und Vertretern indigener Gemeinschaften . In
Ägypten bringen wir christliche und muslimische Geist-
liche mit Publizisten, Künstlern und Lehrern zusammen .
Im Tschad unterstützen wir ein Kulturzentrum für christ-
liche und muslimische Vereinigungen . In Jordanien för-
dern wir die soziale Teilhabe von Flüchtlingen . Ich hatte
Kontakt mit einem katholischen Bischof und einem mus-
limischen Stammeshäuptling aus Nigeria, die im Norden
des Landes, wo Boko Haram wütet, ein positives Bei-
spiel für Toleranz und friedliches Miteinander setzen .

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch die zahl-
reichen Aktivitäten der kirchlichen Hilfswerke aus

Deutschland nennen, die wir seit vielen Jahren unterstüt-
zen und die vor Ort segensreich wirken .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wo Dialog stattfindet, kann
Vertrauen entstehen, und wo Vertrauen geschaffen wird,
kann das Zusammenleben gelingen . Dass in vielen Län-
dern der Weg dorthin noch weit ist, das legt der Bericht
der Bundesregierung in aller Deutlichkeit dar . Aber da-
raus müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen, und wir
sollten uns nicht entmutigen lassen . Wir müssen mit Ver-
tretern der Religionsgemeinschaften enger zusammen-
arbeiten . Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen,
dass wir der weltweiten Verfolgung und Diskriminierung
von Menschen aufgrund von Religion und Weltanschau-
ung ein Ende setzen können .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819102400

Letzter Redner in der Debatte zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist der Kollege Heribert Hirte für die CDU/
CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Heribert Hirte (CDU):
Rede ID: ID1819102500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werfen Sie einmal einen Blick auf die Uhr: Es ist jetzt
gleich halb elf . Das ist sozusagen die Primetime in den
Plenardebatten . Dass wir hier heute im Deutschen Bun-
destag an so prominenter Stelle über die Religions- und
Glaubensfreiheit reden können, und das, um im Bild zu
bleiben, fast in voller Spielfilmlänge, das freut mich.
Es freut mich als Christ, es freut mich als Vorsitzender
des Stephanuskreises, und es freut mich auch als Jurist .
Denn es zeigt: Wir sehen das Menschenrecht der Reli-
gions- und Glaubensfreiheit nicht als bloße Rechtsgrund-
lage, die in zahlreichen internationalen und regionalen
Menschenrechtskonventionen und natürlich in unserer
eigenen Verfassung verankert ist, nein, wir sehen die Re-
ligionsfreiheit als ein Freiheitsrecht jedes Einzelnen an,
ein Freiheitsrecht, das besonders lebendig in einer Ge-
sellschaft gelebt werden kann, wenn wir es in die Hand
nehmen und so wie hier heute in die Höhe halten .

Für uns ist das selbstverständlich . Aber Religions- und
Glaubensfreiheit ist kein Thema, das irgendeine Region
dieser Welt auf ihrer To-do-Liste abhaken könnte, selbst
wenn wir nicht Gegenstand des vorliegenden Berichts
sind . Angesichts einer religiös und kulturell vielfältiger
werdenden Gesellschaft spüren wir es deutlich: Die Re-
ligionsfreiheit ist ein umkämpftes Recht . Dabei ist nach
meiner Einschätzung in unserem christlich geprägten
Deutschland das, was uns ernsthaft zu schaffen macht,
vor allen Dingen die religiöse Bildungslücke in unserer
eigenen Gesellschaft . Immer mehr junge Menschen kön-
nen auf den lieben Gott ganz gut verzichten, aber nicht
auf das Internet . Doch eine Gesellschaft, die ihre eige-
nen religiösen Wurzeln nicht mehr kennt, teilweise sogar
bewusst ignoriert, kann kaum Verständnis für Menschen

Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn






(A) (C)



(B) (D)


aufbringen, die offen und mit Nachdruck für ihren eige-
nen Glauben eintreten,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


seien es zu uns geflüchtete Muslime, Christen oder Ange-
hörige anderer Religionsgruppen .

Um das an dieser Stelle gleich klar zu sagen: Bei uns
in Deutschland und in ganz Europa ist die Religions- und
Glaubensfreiheit besser umgesetzt als in vielen anderen
Regionen dieser Welt . Deshalb haben wir eine besondere
Vorbildfunktion und Verantwortung . Wir Parlamentarier
sind in der Lage, mit dem Finger auf Missstände in an-
deren Ländern zu zeigen – das tun wir hier jetzt gerade
auch –, aber dieser Fingerzeig sollte vor allen Dingen als
Handreichung dienen, damit Parlamentarier aus anderen
Staaten von uns lernen können und umgekehrt wir auch
von ihnen .

Ein gelungenes Beispiel für dieses gegenseitige An-
die-Hand-Nehmen ist die Parlamentarierkonferenz, die
letzte Woche hier in Berlin zur Religionsfreiheit statt-
gefunden hat . Auf Einladung der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion konnten wir hier in Berlin über 100 Par-
lamentarier verschiedenster Glaubensrichtungen, aller
Glaubensrichtungen, aus über 50 Ländern dieser Welt
begrüßen . Wir werden und wollen uns auch in Zukunft
regelmäßig treffen. Wir werden weiter den Finger in die
Wunde legen, und wir werden weiter gemeinsame Appel-
le an die Regierungen richten, die die Religionsfreiheit
missachten . Wir werden nicht aufhören, dieses Freiheits-
recht weiter einzufordern, so lange, bis es für alle gilt .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Je enger wir uns international vernetzen und je en-
ger wir zusammenarbeiten, desto erfolgreicher sind wir .
Denn – das muss man klar sagen – öffentlicher Druck
von allen Seiten hilft . Kein Staat der Welt, auch nicht
Nordkorea, möchte ewig am Pranger stehen . Das zweite
Land, das in diesem Zusammenhang zu nennen ist, ist
Saudi-Arabien .

Unsere Fraktion setzt sich mit Volker Kauder an der
Spitze bereits seit vielen Jahren engagiert für die Religi-
onsfreiheit in aller Welt ein .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und für Panzer nach Saudi-Arabien!)


Seit dieser Legislaturperiode leite ich den Stephanus-
kreis, an dem sich ein Drittel unserer Fraktion aktiv be-
teiligt . Hier legen wir den Fokus auf Christen, die auf-
grund ihres Glaubens diskriminiert und verfolgt werden .
Wir laden diese Menschen zu uns ein . Wir reisen zu ih-
nen in die verschiedenen Regionen der Welt und zeigen
ihnen so: Wir sind für euch da . Wir hören euch und sehen
euer Leid . Wir setzen uns für euch ein .

Wenn wir den Fokus auf die Christen richten, dann
heißt das aber nicht, dass wir andere Religionsgruppen
benachteiligen . Wenn wir für die Rechte von Christen
kämpfen, dann kämpfen wir für alle religiösen Minder-
heiten, damit alle ihren Glauben frei und offen leben

können . Denn überall dort, wo Religionsfreiheit fehlt –
Volker Beck hat das eben deutlich gesagt –, sind auch
Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfrei-
heit beeinträchtigt und die Freiheit von Mann und Frau
in Gefahr .

Unsere effizienteste Waffe im Kampf für die Religi-
onsfreiheit – ich kann das nicht oft genug sagen – ist das
Wort. Der interreligiöse Dialog öffnet Türen, die einem
durch Drohungen und Sanktionen verschlossen bleiben;
das hat Kollege Silberhorn eben schon angesprochen .

Wir sind dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerin
auf ihren vielen Reisen auch dieses Themenfeld immer
wieder anspricht . Auch die Entwicklungspolitik unserer
Regierung besteht zu einem erheblichen Teil aus dem
Eintreten für die Religions- und Weltanschauungsfrei-
heit . Aber die Frage ist: Wie soll es weitergehen? Ein
wichtiges Signal ist, dass auf unsere Initiative der eu-
ropäische Sonderbotschafter Figel bestellt wurde . Aber
ich glaube, wir müssen noch einen Schritt weitergehen –
Volker Kauder hat es angesprochen –: Wir müssen über
eine ähnliche Institution auch bei der Bundesregierung
nachdenken .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben einen
umfassenden Bericht der Bundesregierung vorliegen, der
deutlich macht, welche Maßnahmen unternommen wur-
den und welche Aufgaben noch vor uns liegen . Deshalb
müssen wir unseren Worten Taten folgen lassen, damit
Christen, Muslime, Juden, Aleviten, Jesiden, Bahai und
die vielen anderen unterdrückten Religionsgruppen end-
lich so leben können – da zitiere ich den Kölner Kardinal
Woelki –, „wie es Gott gefällt: aufrecht und frei“ .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für den Kardinal kriegen Sie immer Applaus!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819102600

Ich schließe die Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 18/8740 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . – Dazu darf ich Ihr
Einvernehmen feststellen . Also ist die Überweisung so
beschlossen .

Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 9 a
und 9 b:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Özcan Mutlu, Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Britische Staatsangehörige rasch und unkom-
pliziert einbürgern

Drucksache 18/9669

Dr. Heribert Hirte






(A) (C)



(B) (D)


Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Özcan Mutlu, Luise Amtsberg,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erleichterung der Einbür-
gerung und zur Ermöglichung der mehrfa-
chen Staatsangehörigkeit

Drucksache 18/5631
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch diese Aussprache soll nach einer interfraktionel-
len Vereinbarung 77 Minuten dauern . – Auch dazu sehe
ich keinen Widerspruch . Also verfahren wir so .

Ich eröffne die Aussprache und erteile Volker Beck für
die antragstellende Fraktion das Wort .


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1819102700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wol-

len heute darüber reden, wie wir beim Thema „Integra-
tion und Einbürgerung“ besser vorankommen . Dazu
haben wir zwei Initiativen vorgelegt . Zum einen geht es
um eine umfassende Liberalisierung des Staatsangehö-
rigkeitsrechts unter der Überschrift „Wir wollen mehr
Mehrstaatigkeit wagen“, zum anderen wollen wir eine
Antwort auf die Auswirkungen der anstehenden Bre-
xit-Verhandlungen auf die britischen Bürger geben .

Der italienische Regierungschef Renzi hat hierzu
vorgeschlagen, dass die Briten, die in den europäischen
Staaten leben, schnell eingebürgert werden sollen . Das
haben wir in einem Antrag aufgeschrieben . Schon das
gegenwärtige Recht erlaubt es, europäische Staatsbürger,
die sich kürzer als sechs Jahre hier in Deutschland aufhal-
ten, unter Hinnahme der Doppelstaatigkeit einzubürgern .
Dies sollten wir hier tun, auch wenn die Anwendungs-
hinweise des Bundesinnenministers etwas anderes besa-
gen . Wir sollten das Signal setzen: Die Briten gehören zu
Europa; die Briten sind uns in Deutschland willkommen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nach Auskunft der Bundesregierung betrifft das
107 000 britische Staatsbürger, die gegenwärtig in
Deutschland leben . Davon haben wir in den vergangenen
Jahren 5 000 eingebürgert . Wir schlagen vor, auch den
anderen etwa 100 000 Briten dieses Angebot zu machen .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist das mit dem britischen Botschafter abgesprochen?)


Dann wären alle Fragen, die sich aus den Verhandlungen
über den Austritt Großbritanniens aus der EU womöglich
ergeben, zumindest für diese Menschen geklärt . Sie hät-
ten dann gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten, und
sie wären Teil unseres Landes .

Herr Gabriel hat das ja auch gefordert, und ich rechne
deshalb damit, dass zumindest die SPD-Fraktion mit der
Linken dafür sorgt, dass das hier eine Mehrheit findet. Da

wir uns vorhin bei der Religionsfreiheit so gut verstanden
haben, hoffe ich aber, dass die gesamte Große Koalition
diesen Schritt mit uns gemeinsam gehen wird .

Der Bundesrat diskutiert heute über ein Einwan-
derungsgesetz . Wir haben in der letzten Woche unter
Führung von Katrin Göring-Eckardt eine umfassende
Anhörung zu dem Thema durchgeführt, wie ein moder-
nes Einwanderungsrecht aussehen muss . Zu einem mo-
dernen Einwanderungsland gehört nicht nur die Ermög-
lichung, nach Deutschland zu kommen, sondern es gilt
auch, gerade für die hochgebildeten und gut qualifizier-
ten Menschen eine attraktive Atmosphäre auszustrahlen,
und dazu gehört das Staatsangehörigkeitsrecht .

Deshalb schlagen wir Ihnen heute vor, im jetzigen
Staatsangehörigkeitsrecht ganz wesentliche Veränderun-
gen vorzunehmen:

Wir wollen von dem Prinzip der Vermeidung der
Mehrstaatigkeit grundsätzlich abrücken . Wir halten das
in einer globalisierten Welt nicht für zeitgemäß . Sprin-
gen Sie über Ihren Schatten! Ein Pass bzw . eine Staats-
angehörigkeit ist kein Religionsbekenntnis, sondern die
Ermöglichung der gleichberechtigten Teilhabe für die
Menschen, die hier arbeiten, leben und Steuern zahlen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Wir wollen die Fristen bei der Anspruchseinbürgerung
herabsetzen . Wir wollen, dass fortan Menschen, die ei-
nen Aufenthaltstitel oder eine Niederlassungserlaubnis
haben, einen leichteren Zugang erhalten .

Wir wollen bei jungen Menschen, die gerade ihre
Ausbildung beendet haben und bei uns zur Schule, zur
Universität gegangen sind, vielleicht aber noch nicht so
viel verdienen, Ausnahmen beim Nachweis der Lebens-
unterhaltssicherung machen . Das soll kein Hinderungs-
grund dafür sein, hier von Anfang an gleichberechtigt als
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Bundesrepublik
Deutschland mitzuwirken . Ähnliches wollen wir für äl-
tere Menschen, die aufgrund des Eintritts ins Rentenalter
nicht mehr so leicht die entsprechenden Anforderungen
erfüllen können .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei den Kenntnissen der deutschen Sprache wollen
wir grundsätzlich keine Abstriche machen . Für Men-
schen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung oder
Alter die erforderlichen Sprachniveaus nicht erreichen
können, wollen wir aber ein Auge zudrücken und sagen:
Das hindert nicht daran, dass sie als gleichberechtig-
te Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mitmischen
können .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist ja sehr großzügig!)


Der Einbürgerungstest ist umstritten .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den schaffen nicht einmal die Bayern!)


Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


Ich habe bei seiner Einführung nicht viel davon gehalten .
Wir schlagen Ihnen vor, dass zumindest Menschen, die
hier Abitur gemacht, zur Universität gegangen sind, nicht
mit so etwas Albernem konfrontiert werden .


(Dr . Tim Ostermann [CDU/CSU]: Werden sie auch nicht!)


Das ist ein schlechtes Signal, ein Misstrauenssignal . Hier
wollen wir mehr Liberalität wagen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren von der Union, wir hatten in
diesem Jahr angesichts der Demonstrationen für Erdogan
in meiner Heimatstadt Köln eine Diskussion darüber, ob
die deutsch-türkischen Doppelstaatler ein Loyalitätspro-
blem mit unserem Land haben .


(Marian Wendt [CDU/CSU]: Gute Frage!)


Ich muss Ihnen sagen: Bei der Anzahl der Doppelstaat-
ler liegen die Menschen aus der Russischen Föderation
vorne . Die Türken liegen an dritter oder vierter Stelle bei
der Anzahl der Personen, die von der Doppelstaatigkeit
Gebrauch machen durften .

Wir wissen nicht, wer da demonstriert hat, ob das wel-
che mit türkischem Pass, mit deutschem Pass oder mit
einem deutschen und einem türkischen Pass waren, und
selbstverständlich muss es doch durchaus auch möglich
sein, sich zu den Verhältnissen im Herkunftsland der El-
tern politisch zu artikulieren .

Wer sich da artikuliert hat und wie sie sich artikuliert
haben: Damit habe ich auch einen Dissens . Das gehört
aber zu einer Auseinandersetzung in einer demokra-
tischen Einwanderungsgesellschaft dazu . Nicht alle
Migranten sind gleich . Nicht alle denken das Gleiche –
genauso wie die Leute, die schon seit Generationen hier
leben, auch nicht alle das Gleiche denken .

Ich habe mit einem AfDler den gleichen Dissens wie
mit einem AKPler . Beide Formen des Nationalismus sind
mir zuwider, und ich will als Demokrat auch politisch
dagegen argumentieren . Das tue ich aber nicht über das
Staatsangehörigkeitsrecht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Man muss sich schon einmal die Frage stellen, was
geschähe, wenn der Satz richtig wäre, dass jemand, der
von woanders herkommt, sich in politische Debatten sei-
ner Herkunftsregion nicht mehr einmischen sollte . Wol-
len wir allen Ernstes, dass ein deutsch-britischer Doppel-
staatler hier in Deutschland nicht dafür wirbt, dass die
Entscheidung für den Brexit falsch ist und dass Groß-
britannien besser in der Europäischen Union aufgeho-
ben wäre? Wollen wir allen Ernstes einem deutsch-fran-
zösischen Doppelstaatler sagen, es wäre falsch, dass er
seine Regierung unterstützt, wenn sie sich gegen rechts-
radikale und antisemitische Politiker in ihrem Lande
wendet? Wollen wir einem deutsch-costa-ricanischen
Doppelstaatler untersagen, dass er seine Regierung da-
bei unterstützt, wenn sie sich für Biodiversität und erneu-
erbare Energien einsetzt? Was wollen wir sagen, wenn

ein deutsch-kolumbianischer Doppelstaatler die kolum-
bianische Regierung unterstützt, wenn diese sich für den
Ausgleich und für Friedensverhandlungen mit der FARC
einsetzt?


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819102800

Lieber Herr Beck – –


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1819102900

Niemand käme auf diese Idee . Dann sollten wir es

aber auch bei den Türken nicht anders diskutieren und
das als Argument für ein ewiges No-Go bei der Liberali-
sierung des Staatsangehörigkeitsrechtes verwenden .

Vielen Dank, meine Damen und Herren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819103000

Stephan Mayer ist nun der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1819103100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-

nen! Sehr geehrte Kollegen! Man könnte es sich leicht
machen oder lapidar sagen: „olle Kamellen“ oder „alter
Wein in neuen Schläuchen“ . Die Grünen legen einen
Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Staatsangehörig-
keitsrechts vor und sprechen sich für die generelle An-
erkennung der Mehrstaatigkeit aus . Aber, meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen, so leicht möchte
ich es mir nicht machen, weil aus meiner Sicht insbeson-
dere dieser Gesetzentwurf, den Sie heute in erster Lesung
vorlegen, auf eine parteipolitische, aber auch eine gesell-
schaftspolitische Geisterfahrt führt . Es geht nicht nur um
Detailregelungen, die Sie im Staatsangehörigkeitsrecht
ändern wollen, sondern – dieser festen Überzeugung bin
ich – Ihr Ansatz hat eine gesellschaftspolitische Dimen-
sion .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Integration!)


Sie, die Grünen, wollen sich ein neues Staatsvolk schaf-
fen . Wenn man in die Begründung zu Ihrem Gesetzent-
wurf blickt, erkennt man, dass Sie sehr unverblümt Ihr
Ansinnen offenbaren. Sie wollen eine „größtmögliche
Kongruenz“ – so schreiben Sie – zwischen dem Staats-
volk und der Bevölkerung .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Ich sage Ihnen ganz offen: Dafür wird Ihnen die CDU/
CSU nicht die Hand reichen . Dafür sind wir nicht zu ha-
ben .


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Leider! – Dr . Eva Högl [SPD]: Das ist sehr bedauerlich!)


Volker Beck (Köln)







(A) (C)



(B) (D)


Die Grünen wollen generell den Grundsatz der Mehr-
staatigkeit anerkennen und sich insoweit von der bisheri-
gen, bewährten rechtlichen Grundlage abkehren, dass die
Mehrstaatigkeit die Ausnahme ist. Sie offenbaren dies
sehr verräterisch in Ihrer Begründung, indem Sie ganz
dezidiert von einer Einbürgerungsoffensive sprechen.
Sie wollen in Deutschland eine Einbürgerungsoffensive
vornehmen . Ich bin der felsenfesten Überzeugung: Der
überwiegende Teil, der Großteil der deutschen Bevölke-
rung will dies nicht . Wir brauchen keine Einwanderungs-
offensive.

Gerade in einer Zeit, in der wir ohnehin in schwie-
rigem Fahrwasser sind, in der sich unsere Gesellschaft
ohnehin eher auseinanderdividiert, in der wir eine Polari-
sierung unserer Gesellschaft erleben,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Sie betreiben! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Scheuer und AfD, das ist die Polarisierung!)


in der die Zentrifugalkräfte, die Fliehkräfte in unserer
Gesellschaft zunehmen, wäre es genau kontraproduktiv,
wenn wir jetzt, wie von Ihnen intendiert und gefordert,
eine Einwanderungsoffensive vornähmen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Einbürgerungsoffensive!)


Der Gesetzentwurf, den Sie vorlegen, würde genau
das Gegenteil dessen bewirken, was er Ihnen zufolge
bewirken würde: Er wirkt nicht integrationsfördernd; er
wirkt integrationshemmend . Wenn die Regelungen so
umgesetzt würden, wie Sie sie vorschlagen, würde genau
das Gegenteil entstehen; es würden nämlich Parallelge-
sellschaften gefördert und in ihrer Gegensätzlichkeit in-
tensiviert werden .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie in Bayern, meinen Sie? – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ein Beleg! Ein Beleg, nicht nur behaupten!)


Ich darf Ihnen einige Beispiele nennen . Sie wollen
generell auf das Erfordernis des Nachweises der Siche-
rung des Lebensunterhalts bei jungen Menschen, die in
Ausbildung sind, verzichten . Was bedeutet das? Dass ein
junger Mensch, der gerade in der Ausbildung ist,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der hier geboren, hier aufgewachsen ist, das Recht auf Staatsbürgerschaft haben sollte!)


im Hinblick auf die Einbürgerung nicht mehr nachwei-
sen muss, dass er seinen eigenen Lebensunterhalt selbst
generieren kann . Das wäre genau kontraproduktiv . Wir
wollen doch, dass die jungen Menschen in die Lage ver-
setzt werden, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst be-
streiten können . Wir wollen keine Einwanderung in die
Sozialsysteme . Genau das würde eintreten, wenn Ihr Ge-
setzentwurf umgesetzt würde . Sie würden der Einwan-
derung in die Sozialsysteme Vorschub leisten . Ich sage
Ihnen hier ganz offen: Dafür hat auch die deutsche Be-

völkerung kein Verständnis. Dies findet in der deutschen
Bevölkerung auch keine Akzeptanz .

Des Weiteren wollen Sie bei einigen Personengruppen
auf den Nachweis von Deutschkenntnissen verzichten .
Dafür gilt das Gleiche . Auch diese Regelung wäre nicht
integrationsfördernd, sondern integrationshindernd . Wir
wollen doch gerade, dass Menschen, die zu uns kom-
men, möglichst schnell Deutsch lernen . Das Erlernen
der deutschen Sprache ist die Grundvoraussetzung, um
in Deutschland Fuß zu fassen, um in Deutschland erfolg-
reich zu sein, um sich einen Freundeskreis aufzubauen,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dagegen hat keiner was gesagt!)


um in bestimmte soziale Schichten aufsteigen zu können,
um Arbeit zu finden.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie vermischen da die Themen, glaube ich!)


Sie wollen genau das Gegenteil . Sie wollen bei bestimm-
ten Personengruppen auf den Nachweis von Deutsch-
kenntnissen verzichten, wenn es darum geht, ob diese
Person eingebürgert werden kann .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie nicht zugehört, was er gesagt hat?)


Damit würden Sie der Integration einen Bärendienst er-
weisen .

Ich möchte hier auch betonen, dass in den letzten
Jahren gerade auf Druck der CDU/CSU die Ausgaben
für Deutsch- und Integrationskurse deutlich erhöht wur-
den . Im Jahr 2015 hat der Bund 260 Millionen Euro für
Deutsch- und Integrationskurse ausgegeben . Wir haben
die Mittel für die Kurse von 2015 auf 2016 mehr als ver-
doppelt, nämlich auf 570 Millionen Euro in diesem Jahr .
Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf noch
einmal 40 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie mal zum Antrag!)


Im nächsten Jahr werden mindestens 610 Millionen Euro
für Sprach- und Integrationskurse ausgegeben . Das ist
richtig verstandene Integration, nicht der von Ihnen vor-
geschlagene Weg .


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das Thema ist nicht Integration, sondern Einbürgerung!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, darüber hi-
naus wollen Sie, dass eine Anspruchseinbürgerung be-
reits nach fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland mög-
lich ist . Sie wollen also die Frist von acht auf fünf Jahre
reduzieren . Was hinzukommt – das ist aus meiner Sicht
völlig unlogisch und nicht nachvollziehbar –: Sie würden
Flüchtlinge und ihnen gleichgestellte Personen noch ein-
mal dadurch privilegieren, dass bei Flüchtlingen allein
schon ein dreijähriger Aufenthalt ausreichen würde, um
die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen und daneben
die bisherige Staatsbürgerschaft beibehalten zu können .

Stephan Mayer (Altötting)







(A) (C)



(B) (D)


Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg . Dafür sind wir
in keiner Weise zu haben .

Das Gleiche gilt für Ihren Vorschlag, auf den Ein-
bürgerungstest zu verzichten . Sie, Herr Kollege Volker
Beck, haben gesagt: Na ja, der Einbürgerungstest ist um-
stritten . – Der Test wird von Ihnen nicht anerkannt .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich gar nicht gesagt!)


Aber ich sage hier ganz deutlich: Der Einbürgerungstest
hat sich bewährt .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich streite es ja gar nicht ab!)


Es ist gut, wenn vor der Einbürgerung ein entspre-
chender Nachweis in Form einer Prüfung erbracht wer-
den muss, um zu beweisen, dass man zumindest Grund-
kenntnisse der deutschen Geschichte, des deutschen
Sozialaufbaus und des deutschen Staatsgefüges besitzt .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von jemandem, der hier Abitur gemacht hat, von jemandem, der hier Politik oder Geschichte studiert hat?)


Darauf jetzt zu verzichten, wäre aus meiner Sicht der völ-
lig falsche Weg und wäre vollkommen kontraproduktiv .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie mal den Test selber!)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
haben in dieser Legislaturperiode unser Staatsangehö-
rigkeitsrecht bereits grundlegend geändert . Ich mache
keinen Hehl daraus: Es war nicht der Wunsch der CDU/
CSU, in Teilen auf das Optionsmodell zu verzichten . Wir
haben aber aus meiner Sicht einen verträglichen Kom-
promiss dahin gehend gefunden, dass das Optionsmodell
nur in den Fällen obsolet ist und nicht mehr angewandt
wird, in denen konkrete Nachweise erbracht sind, dass
eine Person in Deutschland Fuß gefasst hat,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war doch nur eine absolute Mogelpackung! Da hat die SPD mitgemacht!)


wenn sie sich also mindestens acht Jahre in Deutschland
aufgehalten hat, wenn sie sechs Jahre in Deutschland zur
Schule gegangen ist oder wenn sie in Deutschland einen
erfolgreichen Schulabschluss oder einen erfolgreichen
Berufsschulabschluss vorweisen kann . Das sind ganz
konkrete Indizien dafür, dass jemand in Deutschland
angekommen ist und sich in die deutsche Gesellschaft
erfolgreich integriert hat, sodass aus meiner Sicht unter
diesen Voraussetzungen auf das Optionsmodell verzich-
tet werden kann . Weiter gehende Wünsche im Hinblick
auf eine Liberalisierung werden wir auf jeden Fall nicht
mittragen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die angesprochenen Loyalitätskonflikte gibt es natür-
lich .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt! Bayern meinen Sie jetzt, oder was?)


Sie haben die Deutschen aus Russland angesprochen .
Wir haben doch gerade in diesem Jahr erlebt, wie die
Deutschen aus Russland vom Putin-Regime teilweise in-
strumentalisiert werden . Es geht darum, dass sie in erster
Linie Russia Today und nicht deutsches Fernsehen sehen .

Ich erinnere an den Fall Lisa, der sich hier in Berlin
im Januar dieses Jahres ereignet hat . Es hat nur wenige
Stunden gedauert, bis in über 100 Städten Deutschlands
angeblich spontane Demonstrationen von Deutschen aus
Russland stattgefunden haben . Mir macht keiner weis,
dass die Deutschen aus Russland, losgelöst und unkoor-
diniert, in über 100 Städten in wenigen Stunden von allei-
ne auf die Straße gegangen sind . Das war natürlich, mei-
ne sehr verehrten Damen und Herren, von langer Hand
geplant . Da sieht man doch genau an diesem konkreten
Fall, wie es dann bei Anerkennung der doppelten Staats-
bürgerschaft zu Loyalitätskonflikten kommen kann.

Ich möchte auf einen weiteren konkreten Fall der Pra-
xis zu sprechen kommen, bei dem sich ebenfalls Loyali-
tätskonflikte zeigen könnten – wohlgemerkt: könnten –,
der aber noch nicht endgültig ausermittelt ist . Seit dem
Putschversuch in der Türkei im Juli dieses Jahres befin-
den sich sechs deutsche Staatsangehörige in der Türkei in
Haft . Ob zu Recht oder zu Unrecht, steht mir nicht zu zu
bewerten . Es ist noch nicht klar, ob diese neben der deut-
schen die türkische Staatsangehörigkeit haben . Ich neh-
me an, dass es dem Erdogan-Regime ziemlich egal ist, ob
die Betreffenden, wenn sie die türkische Staatsangehörig-
keit haben, auch die deutsche Staatsangehörigkeit besit-
zen; denn allein das Vorhandensein der entsprechenden
Staatsangehörigkeit reicht für viele Staaten auf der Welt
aus – so auch die Türkei –, die betreffenden Personen als
ihre Staatsangehörigen zu behandeln . Diesen Personen
bringt es in einem Konfliktfall überhaupt nichts, auch die
deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Entscheidung können Sie diesen Bürgern schon selber überlassen! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht nur das Problem der Türkei!)


Es gibt überhaupt keinen Grund, nun einer weiteren
Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts näherzu-
treten . Wir fordern in Teilen sogar eine Verschärfung, ins-
besondere wenn es darum geht, potenziellen IS-Kämp-
fern oder Kämpfern, die sich in Kampfhandlungen des
Dschihad engagieren, die deutsche Staatsangehörigkeit
zu entziehen, sofern sie über eine weitere Staatsangehö-
rigkeit verfügen .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da ist die Verfassung vor!)


Wir von der Union werden Ihnen von der SPD sehr bald
einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen . Ich bitte
Sie eindringlich, diesem wichtigen und sachgerechten
Anliegen näherzutreten .

Stephan Mayer (Altötting)







(A) (C)



(B) (D)


Zum Schluss noch ein kurzes Wort zu Ihrem Antrag,
britische Staatsangehörige rasch und unkompliziert ein-
zubürgern . Ich habe mich in meiner Funktion als Vor-
sitzender der Deutsch-Britischen Parlamentariergruppe
nach dem Referendum vom 23 . Juni dahin gehend ge-
äußert, dass es wünschenswert ist – demgegenüber sind
wir aufgeschlossen –, dass britische Staatsangehörige in
Deutschland auch die deutsche Staatsangehörigkeit be-
antragen . Man kann das aber derzeit mit Gelassenheit
sehen . Zum einen sind die Verhandlungen bezüglich des
Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union
noch gar nicht angelaufen . Zum anderen besteht aus mei-
ner Sicht überhaupt kein Grund für eine Zwangsgerma-
nisierung der Briten in Deutschland .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn für ein Argument? Das ist doch Wahnsinn, was Sie sagen! Lesen Sie erstmal unseren Antrag, bevor Sie einen solchen Schwachsinn erzählen!)


Ich glaube, wir sollten das alles mit britischer Gelassen-
heit sehen . Für das in Ihrem Antrag geäußerte Ansinnen
besteht überhaupt kein Anlass . Briten in Deutschland ha-
ben ohnehin aufgrund ihrer britischen Staatsangehörig-
keit alle Rechte, bis auf das Wahlrecht bei Bundestags-
und Landtagswahlen . Deswegen ist Ihr Antrag völlig
überflüssig. Er wird dementsprechend unsere Ablehnung
erfahren .

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819103200

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin

Dağdelen das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819103300

Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und

Kollegen! Herr Mayer, die allermeisten in Deutschland
lebenden Migrantinnen und Migranten sind loyaler ge-
genüber dieser Gesellschaft und dem Grundgesetz


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als die Bayern!)


als der Nazimob, der Flüchtlinge durch die Straßen jagt
und Unterkünfte in Brand steckt, oder CSU-Politiker,
die über ministrierende, fußballspielende Senegalesen in
unserer Gesellschaft schwadronieren . Das ist nicht loyal
gegenüber unserer Gesellschaft, Herr Kollege Mayer .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die spalten die Gesellschaft! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Entschuldigen Sie sich dafür!)


Zur Redlichkeit gehört, zum Thema zu sprechen . Wa-
rum sprechen Sie, wenn mein Kollege Volker Beck von
Einbürgerungsoffensive spricht, von Einwanderungsof-
fensive? Sie bauen hier einen Pappkameraden auf, um

Stimmung gegen das Thema Einbürgerung zu machen .
Hören Sie mit solchen unfairen Sachen auf!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Rüdiger Veit [SPD] – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Nein, das ist falsch!)


Wir sprechen hier über Einbürgerung . Das Gleiche gilt für
Ihre Stimmungsmache gegen Russlanddeutsche . Wahr-
scheinlich wissen Sie gar nicht, worüber wir hier reden .
Wir sprechen über Einbürgerung . Russlanddeutsche sind
doch gar nicht eingebürgert worden . Wo leben Sie über-
haupt? Haben Sie überhaupt Ahnung von diesem Thema?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unerträgliche Arroganz!)


Russlanddeutsche haben die deutsche Staatsangehörig-
keit bekommen . Da spielt Einbürgerung keine Rolle .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Fangen Sie noch mal neu an, und lassen Sie die Arroganz weg! Unglaublich!)


Lernen Sie dazu, bevor Sie über dieses Thema sprechen,
und machen Sie nicht einfach Stimmung gegen dieses
Thema!

Sie haben gesagt, dass die deutsche Sprache erlernt
werden muss . Ich kann Sie beruhigen: Sie sind seit 2005
in der Bundesregierung, nicht wir .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)


Gemäß der Schlagzeile in der heutigen Ausgabe der Süd-
deutschen Zeitung hat nicht einmal jeder Zweite einen
Platz in einem Integrationskurs .

Das ist Ihre desaströse Bilanz in der Integrationspolitik .
Sie sind es, die die Plätze nicht zur Verfügung stellen . Wir
haben seit 2005 die Integrationskurse, und seit 2005 gibt
es mehr Anfragen nach diesen Kursen, als es Plätze gibt,
und das wissen Sie. Also schaffen Sie ausreichend Plätze,
wenn Sie von den Menschen möchten, dass sie die deut-
sche Sprache erlernen! Machen Sie hier keine Stimmung!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch etwas zum Thema Loyalität und Lo-
yalitätsappelle hinzufügen. Ich finde es wirklich absurd:
Während die Bundeskanzlerin von den hier lebenden
Deutschtürken Loyalität fordert, macht sie gemeinsame
Sache mit dem türkischen Despoten Erdogan, der mithil-
fe seines Netzwerks alles tut, um die Integration hier le-
bender Deutschtürken zu hintertreiben . Fragen Sie doch
lieber Ihre Kanzlerin, was sie dafür tut, um die Integrati-
on hier zu hintertreiben!


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was erzählen Sie denn da? Also lieber Flüchtlinge im Mittelmeer sterben lassen und Flüchtlingskriminalität zulassen? Das ist doch lächerlich, was Sie hier erzählen! Sie haben doch keine Ahnung!)


Stephan Mayer (Altötting)







(A) (C)



(B) (D)


Sie sollte damit aufhören, mit Erdogan gemeinsame
Sache zu machen, weil es sein Netzwerk ist, das die Men-
schen hier von der Integration abhält und dagegen Stim-
mung macht . Das wäre ein Beitrag zur Integration statt
der Zusammenarbeit mit einem Despoten . Hören Sie auf
mit Appellen zur Loyalität, während Sie das Ganze da-
durch hintertreiben, dass Sie gemeinsame Sache machen!

Wir, die Linksfraktion, jedenfalls unterstützen den
vorliegenden Antrag der Grünen, weil die Erleichterung
der Einbürgerung in dieser Gesellschaft längst überfällig
ist .


(Beifall bei der LINKEN)


Wer auf Dauer in Deutschland lebt, soll auch gleichbe-
rechtigt am politischen Leben teilhaben können und darf
im Berufsleben nicht benachteiligt werden . Hier lebende
Migrantinnen und Migranten dürfen nicht länger Bürge-
rinnen und Bürger zweiter Klasse sein, egal seit wann sie
hier leben und arbeiten . Wer hier lebt und arbeitet, wer
hier zur Schule geht oder gegangen ist, eine Ausbildung
gemacht oder eine Universität besucht hat, aber keinen
deutschen Pass hat, darf beispielsweise nicht verbeam-
tet werden oder ein Schöffenamt übernehmen. Das sind
nur zwei Diskriminierungsbeispiele dafür, warum die er-
leichterte Einbürgerung längst überfällig ist .

Die Integrationsbeauftragte Ihrer Bundesregierung,
Aydan Özoğuz, schätzt, dass fast drei Viertel der 7,6 Mil-
lionen Ausländer einen deutschen Pass beantragen kön-
nen . Allein, das ist nicht gewollt, und die Hürden werden
bewusst hoch gelegt, etwa indem unsinnigerweise gefor-
dert wird, je nach Herkunft die Herkunftsstaatsangehö-
rigkeit abzugeben .

Die Einbürgerungsquote in Deutschland liegt unter
dem Durchschnitt der Europäischen Union . Wenn Sie
dieses Land europäisieren wollen, dann müssen Sie auch
die Einbürgerung erleichtern . Im vergangenen Jahr sind
gerade einmal 107 000 Menschen rechtlich gleichgestellt
worden . Schweden, Ungarn, Portugal, Spanien, Polen
und sogar die Niederlande: Sie alle liegen in diesem Be-
reich punkteweit vor Deutschland .

Wenn Sie einen Schritt zu mehr Europa wollen – wenn
Sie schon Europa mit der Europäischen Union gleichset-
zen, wie es, meiner Meinung nach fälschlicherweise,
oftmals getan wird –


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und wenn Sie dieses Land europäisieren wollen, dann
müssen Sie die Einbürgerung erleichtern . Das wäre ein
Schritt zu mehr Integration, aber nicht diese Stimmungs-
mache in diesem Haus .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Barbara Woltmann [CDU/CSU]: Wer macht denn hier Stimmung? Das sind ja wohl Sie! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dazu haben Sie mächtig beigetragen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819103400

Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1819103500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist kein Versehen, dass ich mich zweimal auf die Redner-
liste habe setzen lassen, aber eigentlich braucht der Ge-
genstand der Debatte nicht so viele Worte, dass ich dafür
eine Redezeit von 16 Minuten bräuchte. Ich hoffe, es geht
kürzer, aber möglicherweise ergibt sich die Notwendig-
keit – das hängt von den weiteren Rednern ab –, noch
einmal etwas zu dem zu sagen, was in der Zwischenzeit
von diesem Pult aus geäußert worden ist .

Es geht hier und heute nicht um eine Zwangsgerma-
nisierung von Briten, lieber Stephan Mayer – das war,
glaube ich, ein verbaler Ausrutscher –,


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein! Das hat er ernst gemeint! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Kein Ausrutscher!)


sondern es gilt der Satz von Volker Beck, dass Briten uns
grundsätzlich sehr willkommen sind – da macht sicher-
lich auch die Union keine Ausnahme – und es damit im
Prinzip wünschenswert wäre, wenn sich viele von ihnen,
die die Voraussetzungen erfüllen, bei uns einbürgern las-
sen . Ich glaube, das ist ein Ziel, das uns eint .

Es wird Sie nicht wundern, dass wir Sozialdemokraten
dem grundsätzlich offen gegenüberstehen. Denn schließ-
lich war es unser Parteivorsitzender, der das Urheber-
recht für diese Idee in Anspruch nehmen kann .


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was?)


– In der Tat, Claudia Roth . Ich habe das Zitat in meinen
Unterlagen . Ich kann es gerne noch einmal heraussuchen
und dir geben . Er hat das in der Tat vorgeschlagen, und
es ist richtig: grundsätzlich und für alle diejenigen, die
schon in Deutschland leben .

Aber es bedarf hier weder einer Rechtsänderung – das
haben die Grünen richtig erkannt – noch irgendwelcher
Beschlüsse des Bundestages oder irgendwelcher Initiati-
ven des Bundesinnenministers, weil nach den vorläufigen
Verwaltungsvorschriften sehr wohl die Möglichkeit be-
steht, jedenfalls im Rahmen der Ermessenseinbürgerung,
schon heute die Voraufenthaltszeiten von sieben bzw .
acht Jahren auf drei Jahre deutlich zu verkürzen . Das ist
ein Angebot, das jetzt schon für alle Briten auf dem Tisch
liegt . Ich kann mir vorstellen, dass alle Einbürgerungs-
behörden so vernünftig sind, auf diese besondere Situ-
ation, die nach dem Brexit entstanden ist, entsprechend
zu reagieren und dann auch Ermessenseinbürgerungen
auszusprechen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir könnten durch einen Beschluss klarstellen, dass die Anwendungshinweise so zu verstehen sind!)


Sevim Dağdelen






(A) (C)



(B) (D)


Die geltende Rechtslage und auch die hierzu ergange-
nen Verwaltungsvorschriften, übrigens auch die vorläufi-
gen Anwendungshinweise aus dem letzten Jahr, müssen
nicht noch einmal gesondert klargestellt werden .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie mal die Antwort von Herrn de Maizière auf unsere Kleine Anfrage!)


Da reicht es im Übrigen auch völlig aus, wenn die Ein-
bürgerungsbehörden bei ihren gelegentlichen Zusam-
menkünften sich inhaltlich austauschen .

Ich will Ihnen aber auch sagen, wo nach meinem Da-
fürhalten ein bisschen Vorsicht angebracht ist . Ich habe
eben gesagt: Für die bereits hier lebenden Briten sollten
wir ein Angebot machen und eine flexible Lösung finden.
Wovon ich aber nichts halte – das ist meine persönliche
Auffassung –, ist, etwa über die Dauer eines dann vollzo-
genen Brexits hinaus den Briten Sonderrechte gegenüber
allen anderen Europäern zu gewähren . Das wäre pädago-
gisch, glaube ich, der falsche Ansatz .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hatte der Kollege Mayer nicht verstanden! – Gegenruf des Abg . Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das hat der schon verstanden!)


Das würde einen Anreiz in die falsche Richtung bieten .

Stattdessen wäre es wesentlich besser – Augenblick,
ich komme jetzt zu eurem Antrag; hier grenze ich mich
deutlich von Stephan Mayer ab, der für die Union ge-
sprochen hat –,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)


wenn wir insgesamt im Staatsbürgerschaftsrecht weite-
re Erleichterungen generell vornehmen würden, so wie
es euer Gesetzentwurf, wie ich finde, richtigerweise an
sehr vielen Stellen vorschlägt: genereller Verzicht auf das
Verbot von Mehrstaatlichkeit, Verkürzung des Voraufent-
haltes, Anrechnung von Voraufenthaltszeiten, Erleichte-
rungen für Junge und Alte im Bereich der Notwendig-
keit, den Lebensunterhalt zu bestreiten, und dergleichen
Dinge mehr .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Alles, was in eurem Gesetzentwurf steht, ist aus der
Sicht von Sozialdemokraten grundsätzlich zu unterstüt-
zen .


(Beifall des Abg . Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn wir denn gekonnt hätten, hätten wir das nicht schon
1999, sondern vielleicht auch in der Folgezeit gemacht .
Wenn wir denn gekonnt hätten heißt, wenn wir dafür die
entsprechenden Mehrheiten hier in diesem Haus und im
Bundesrat gehabt hätten . Das war aber leider nicht so .
Ich setze die Geschichte als bekannt voraus und muss das
jetzt nicht endlos wiederholen .

Jetzt ist es nicht unbedingt so, dass mich schon der
beginnende Schmerz über die Trennung von dieser Ko-
alition überkommt, wenn ich an das nächste Jahr denke .
Aber eines muss klar sein: Wenn sich die Mehrheitsver-
hältnisse hier in diesem Haus nicht ändern und wenn es
keine tragfähige Mehrheit gibt, die auch gegenüber ei-
ner Reform des Staatsbürgerschaftsrechts offen ist, dann
wird sich, jedenfalls mit der Union, nichts ändern lassen .

Wir haben – um das klipp und klar zu sagen – im
Rahmen der Koalitionsvereinbarungen bekanntlich er-
reicht und hier entsprechend umgesetzt, dass das Opti-
onsrecht liberalisiert worden ist, wenigstens für die hier
in Deutschland geborenen Kinder und Jugendlichen . Das
betrifft roundabout, so schätze ich, 95 Prozent. Mehr war
mit der Union nicht zu machen .

Umgekehrt, Stephan Mayer, werden auch wir nicht
von Vorschlägen der Union zur Änderung des Staatsbür-
gerschaftsrechts – Stichwort „Terrorbekämpfung“ –, die
über das, was in der Koalitionsvereinbarung steht, hi-
nausgehen, begeistert sein . Auch das muss klar sein .

Aber um diesen Teil meiner Rede abzuschließen: Wir
alle, die wir später noch im Parlament sitzen und im
nächsten Jahr den Wahlkampf vor uns haben, müssen
dafür sorgen, dass es die parlamentarischen Mehrheiten
und eine darauf gestützte Regierung beim nächsten Mal
gibt, um derartige Vorschläge, wie sie die Grünen jetzt
gemacht haben, umsetzen zu können . In der derzeitigen
Koalition geht das leider nicht . Ich betone das Wort „lei-
der“, aber ich setze als bekannt voraus, dass wir dem Ko-
alitionsvertrag bis zum Schluss treu sein müssen .

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Heiterkeit der Abg . Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819103600

Tim Ostermann ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Tim Ostermann (CDU):
Rede ID: ID1819103700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Ge-
setzentwurf und in dem Antrag der Grünen werden im
Wesentlichen drei Dinge gefordert: erstens eine gene-
relle Ermöglichung der Mehrstaatlichkeit, zweitens ein
Aufweichen der Einbürgerungsregeln und drittens eine
besonders unkomplizierte Einbürgerung hier ansässiger
Briten, weil es die ja derzeit angeblich nicht geben wür-
de . Zu diesen drei Forderungen möchte ich in meinem
Debattenbeitrag Stellung nehmen .

Zunächst zur Mehrstaatlichkeit: Es wird Sie nicht
überraschen – Stephan Mayer hat das auch schon zum
Ausdruck gebracht –, dass die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion nach wie vor


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im 20 . Jahrhundert ist!)


Rüdiger Veit






(A) (C)



(B) (D)


es konsequent ablehnt, die doppelte Staatsbürgerschaft
zum Regelfall zu machen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte kurz auf die letzte Debatte – solche Debatten
wurden in diesem Hause ja häufiger geführt – zu spre-
chen kommen, die wir zum Thema Staatsangehörigkeits-
recht geführt haben . In dieser Debatte hat die damalige
Kollegin Christina Kampmann – sie ist mittlerweile Lan-
desministerin in NRW – gesagt, zugegebenermaßen mit
einer anderen Intention: Für die meisten Menschen ist die
Staatsangehörigkeit viel mehr als ein Pass . – Genau das
ist der Punkt . Die Staatsangehörigkeit drückt die Loyali-
tät zur Gesellschaft und den in ihr vorhandenen Werten
und Regeln aus . Damit ist sie Ausdruck einer ganz be-
sonderen Verbundenheit . Und diese Verbundenheit ist für
uns als Union nicht teilbar .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen wir mit den AfDlern? Wollen Sie die ausbürgern?)


Die Folge ist, dass wir Mehrstaatlichkeit zulassen, aber
eben nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, die auch
jetzt schon geregelt sind . Für eine Abkehr von diesem
Prinzip stehen wir nicht zur Verfügung .

Was die Aufweichung der Einbürgerungsregeln an-
geht, sind es vor allem zwei Dinge, mit denen Sie die
Einbürgerung erleichtern wollen . Zum einen wollen Sie
sämtliche Arten an Aufenthaltserlaubnissen gleichstel-
len . Das soll zum Beispiel auch für Fälle von vollzieh-
bar Ausreisepflichtigen gelten, nachdem es also ein Ver-
waltungsverfahren gab, das BAMF festgestellt hat, dass
es hier keinen Aufenthaltsstatus gibt, und Gerichte das
meistens auch bestätigt haben . Selbst in den Fällen, wo
es nur aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaub-
nis gibt, soll eine Gleichstellung erfolgen . So etwas ist
mit uns nicht zu machen .

Sie sprachen die Einbürgerungstests an . Unter be-
stimmten Voraussetzungen soll das Erfordernis, einen
solchen Test durchzuführen, wegfallen, etwa wenn in
Deutschland ein Berufs- oder Schulabschluss gemacht
worden ist .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch vernünftig, oder?)


– Das ist absolut nachvollziehbar und vernünftig . Da-
rum wird das auch jetzt schon so gemacht, Herr Beck .
Es ist auch jetzt schon so geregelt, dass bei einem Schul-
abschluss – dazu gehört ebenfalls ein Berufsschulab-
schluss, also eine abgeschlossene Berufsausbildung – auf
den Einbürgerungstest verzichtet wird . Das ist gängige
Praxis . Und darum ist Ihr Gesetzentwurf in diesem Punkt
kalter Kaffee.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich komme zuletzt zu Ihrer Forderung nach Einbür-
gerung der in Deutschland lebenden Briten . Sie fordern
ja, dass die Einbürgerung unkompliziert erfolgen müsse,
und erwecken damit den Anschein, dass britische Bür-
ger derzeit nicht schnell und unkompliziert eingebürgert
würden . Das entspricht nicht den Tatsachen . Sie schrei-
ben ja selbst in Ihrem Antrag, dass Großbritannien bis auf

Weiteres Mitglied der Europäischen Union sein wird . Es
ist noch kein Austrittsgesuch eingegangen . Hier in die-
sem Saal wird niemand sagen können, wann das der Fall
sein wird, also wann es dieses Austrittsgesuch gibt und
vor allem wann dieses Austrittsgesuch wirksam wird .
Das ist in keiner Weise absehbar . Darum besteht für uns
jetzt nicht der Bedarf, hier an dieser Stelle tätig zu wer-
den .

In meinem Wahlkreis – dem Kreis Herford und der
Stadt Bad Oeynhausen – hat es viele britische Soldaten
gegeben . Die Streitkräfte sind mittlerweile größtenteils
abgezogen . Nicht wenige Soldaten sind trotzdem bei uns
geblieben . Einige von ihnen interessieren sich – gerade
nach dem Referendum in Großbritannien – dafür, einge-
bürgert zu werden . Ich habe bisher von keinem einzigen
Betroffenen gehört, dass es hier Probleme – lange War-
tezeiten usw . – gibt . Die Problemlage, auf die Sie ver-
suchen hinzuweisen, gibt es einfach nicht . Darum sagen
wir: Man muss nicht schon jetzt auf hypothetische Fol-
gen eines in der Zukunft liegenden ungewissen Ereignis-
ses reagieren . Bloßen Aktionismus halten zumindest wir
in der Union selten für ein Erfolgsrezept .

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
wollen mit Ihrem Gesetzentwurf das Prinzip der Mehr-
staatlichkeit in unserer Rechtsordnung verankern und die
Voraussetzungen für den Erhalt der deutschen Staatsbür-
gerschaft verbessern . Gleichzeitig greifen Sie mit Ihrem
Antrag ein Problem auf, das es überhaupt nicht gibt .
Daher wird es Sie nicht überraschen, dass wir als Uni-
on Ihren Antrag und auch Ihren Gesetzentwurf ablehnen
werden .

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1819103800

Das Wort erhält nun die Kollegin Ulla Jelpke für die

Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819103900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht

sollte man für die Öffentlichkeit noch einmal festhalten:
Wir reden hier jetzt nicht über Geflüchtete, die im ver-
gangenen oder im vorletzten Jahr gekommen sind, son-
dern wir reden hier über Menschen, die in diesem Land
zum Teil viele Jahre leben und arbeiten und endlich das
Recht haben müssen, eingebürgert zu werden, damit sie
in dieser Gesellschaft wirklich gleichgestellt sind . Darum
geht es .


(Beifall bei der LINKEN)


Man muss einfach noch einmal festhalten, dass im
vergangenen Jahrzehnt gerade einmal 2 Prozent der
hier in Deutschland lebenden Migranten einen Antrag
auf Einbürgerung gestellt haben . Diese blamabel gerin-
ge Quote kann und darf nicht, Herr Mayer, als Zeichen
mangelnder Integrationsbereitschaft gewertet werden,
sondern sie ist vielmehr die Folge – das gilt auch im Ver-
gleich mit anderen EU-Staaten – besonders restriktiver

Dr. Tim Ostermann






(A) (C)



(B) (D)


Einbürgerungskriterien, hoher bürokratischer und vor al-
len Dingen auch finanzieller Hürden. Dass daran bisher
nichts geändert wurde, daran sind vor allen Dingen Ihre
Fraktion, die Union und die Regierung schuld . Das ist
wirklich ein Skandal .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will einfach einmal ein paar Unterschiede zu an-
deren EU-Staaten nennen . Im Unterschied zur Bundes-
republik akzeptieren 12 EU-Staaten grundsätzlich die
Mehrstaatlichkeit . 11 verlangen keinen Nachweis auf
eigenständige Lebensunterhaltssicherung . In 15 Staaten
beträgt die Mindestaufenthaltsdauer fünf Jahre oder we-
niger . In 16 EU-Staaten gibt es keinen Einbürgerungstest .
7 verzichten auf Einbürgerungsgebühren oder verlangen
nur einen symbolischen Beitrag . Die Kollegen von der
Union sollten angesichts solcher Vergleichszahlen wirk-
lich einmal einfach in sich gehen


(Beifall der Abg . Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


und nicht immer auf angeblich einbürgerungsunwilli-
ge Migranten zeigen . Sie sollten sich vielmehr an ihren
eigenen Kopf fassen und fragen, wie so etwas zustande
kommt .

Meine Damen und Herren, von den Betroffenen wird
immer wieder gesagt, dass für sie die Kosten für die Ein-
bürgerung ein großes Hemmnis sind . Diese betragen im
Schnitt 500 Euro einschließlich der Gebühren für Über-
setzungen, Urkunden usw ., die sie aus den Herkunftslän-
dern beschaffen müssen. Das ist zum Beispiel für eine
Familie nicht wenig . Die Senkung der Einbürgerungs-
gebühren wäre wirklich ein symbolisches Zeichen; so
könnte man Familien, die wenig Geld haben, hier die
Einbürgerung ermöglichen .

Zwei Drittel derjenigen, die keinen Einbürgerungsan-
trag stellen, haben dafür zum Beispiel den Grund angege-
ben, dass sie ihre alte Staatsbürgerschaft nicht verlieren
wollen, aber auch die deutsche gerne hätten .


(Marian Wendt [CDU/CSU]: Ich kann auch nicht zwei Frauen haben! – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg . Marian Wendt [CDU/CSU]: Mehrfachehen sind verboten!)


– Herr Wendt, ich habe Ihren Zwischenruf leider nicht
verstanden .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzgebirgischer Wahnsinn!)


Das hat übrigens eine Studie des BAMF ergeben . Die-
se Entscheidung ist in der Regel eben keine Frage der Lo-
yalität zu diesem oder jenem Staat . Vielmehr gibt es ganz
pragmatische Hintergründe dafür, warum Menschen ihre
alte Herkunftsstaatlichkeit behalten wollen . Es geht zum
Beispiel um Rentenansprüche, um Vermögensansprüche .
Es handelt sich also um ganz einfache Gründe . Diese Re-
alität will die Union hier einfach nicht akzeptieren . Man
muss wirklich sagen: Anstatt sich ständig mit Argumen-
ten aus der Mottenkiste gegen die generelle Möglichkeit

der Mehrstaatlichkeit zu sträuben, sollten Sie wirklich
einfach einmal ein modernes Einbürgerungsrecht schaf-
fen .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Grünen haben anlässlich ihres Antrags zur Einbür-
gerung britischer Staatsbürger darauf hingewiesen, dass
das geltende Recht Handlungsmöglichkeiten für eine er-
leichterte Einbürgerung bietet . Das ist richtig . Die Linke
hat bereits seit 2013 hier im Bundestag immer wieder ge-
fordert, dass solche vorhandenen Handlungsspielräume
konsequent umgesetzt werden . Aber auch dazu braucht
es einfach den politischen Willen der Verantwortlichen
in der Bundesregierung und in den entsprechenden Frak-
tionen . Dafür will ich gerne noch zwei Beispiele bringen .

Hier geborene Flüchtlingskinder könnten im Regel-
fall ab dem dritten Lebensjahr eingebürgert werden,
um ihnen ein gleichberechtigtes Leben, beispielsweise
an den Schulen, in den Kitas usw ., zu ermöglichen . Das
schreibt im Übrigen auch die UN-Kinderrechtskonven-
tion vor . Aber die Bundesregierung hat sich in diesem
Punkt schon immer über die UN-Kinderrechtskonventi-
on hinweggesetzt, und es interessiert sie überhaupt nicht,
welche Rechte die Kinder haben . Gerade hier fordere ich
Sie auf, endlich etwas zu tun .


(Beifall bei der LINKEN)


Wichtig wäre es beispielsweise auch, Menschen, die
Sozialhilfeempfänger sind, hier aber seit vielen Jahren
leben, großzügiger einzubürgern . Ich halte es wirklich
für einen Skandal, dass man im Grunde genommen die
Erlangung gleicher Rechte durch Einbürgerung vom Ein-
kommen abhängig macht und die soziale Lage nicht be-
rücksichtigt . Das kann einfach nicht gehen .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819104000

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819104100

Ja, ich komme zu meinem letzten Satz . – Ich möchte

abschließend einfach noch einmal sagen: Ein deutscher
Pass ist weder ein Integrations- noch ein Demokratie-
zeugnis . Es geht hier schlicht um eine demokratische
Selbstverständlichkeit . Deswegen: Erleichtern Sie end-
lich die Einbürgerung für Menschen, die hier seit vielen
Jahren leben .

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819104200

Als nächster Redner hat Detlef Müller von der

SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Detlef Müller (SPD):
Rede ID: ID1819104300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, natürlich erkennen wir

Ulla Jelpke






(A) (C)



(B) (D)


die lobenswerte Zielrichtung Ihres Antrages zur raschen
Einbürgerung britischer Staatsbürger . Sie wären nicht die
Grünen und wir wären keine Sozialdemokraten, hätten
wir im Rahmen der Brexit-Debatte nicht gerade auch das
Los der Menschen im Auge, die von der unseligen Bre-
xit­Entscheidung direkt betroffen sind, nämlich derjeni-
gen, die darauf vertraut haben, dass sie sich auf Dauer
in Europa frei bewegen und niederlassen können, derje-
nigen, die darauf vertraut haben, dass sie ihr Leben als
Europäerinnen und Europäer planen und leben können .
Von jetzt an gerechnet in etwa zwei Jahren hätten wir in
diesem Hohen Haus einen Antrag von Ihnen in ähnlicher
Form gerne unterstützt . Aber heute, am 23 . September
2016, ist Ihr Antrag, mit Verlaub, Theaterdonner und Be-
schäftigungstherapie .


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was?)


Ihr Antrag ist außerdem handwerklich ungenau . Mit
großer Geste schreiben Sie, die Bundesregierung solle
darauf hinwirken,

dass in Deutschland lebende britische Staatsangehö-
rige rasch und unkompliziert eingebürgert werden,
wenn sie es beantragen; …

und

dass britische Staatsangehörige auch bei einer Auf-
enthaltsdauer von weniger als sechs Jahren einge-
bürgert werden, wenn sie die sonstigen Vorausset-
zungen für die Einbürgerung erfüllen; …

Weiterhin solle die Bundesregierung

im Rahmen ihrer Informationspolitik verstärkt da-
rauf aufmerksam … machen, dass die Einbürgerung
britischer Staatsangehöriger unter Beibehaltung der
britischen Staatsangehörigkeit erfolgt .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir die-
sen Antrag heute hier beschließen würden: Gut gemeint
ist halt noch nicht gut gemacht .


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es besser!)


Nur hinwirken und informieren würde bei einer so kom-
plexen Materie eben nicht ausreichen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie Ihre Rede mit der von Herrn Veit eben abgestimmt? Der Herr Veit hat die besseren Referenten! Peinlich, Herr Müller!)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen,
noch hat Großbritannien nicht einmal nach Artikel 50
EU-Vertrag seinen Austritt aus der Europäischen Union
angezeigt . Wir stehen aber schon jetzt vor einem Berg
von Fragen, die im kommenden Austrittsprozess geregelt
werden müssen . Und dabei wissen wir noch nicht einmal,
wann dieser mindestens zweijährige Prozess denn je be-
ginnen wird .

Sie wissen genau wie ich, dass erst in einem fortge-
schrittenen Stadium der Verhandlungen endgültig ge-
löst werden kann, wie mit der Staatsangehörigkeit und

Einbürgerung britischer Staatsbürger umzugehen ist, die
schon bisher in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebten .

Sie wissen genau wie ich, dass die SPD natürlich alles
dafür tun wird, hier menschliche, europäische Lösungen
im besten Sinne zu finden, nämlich den hier lebenden
Britinnen und Briten zu ermöglichen, auch weiter mit
weitestgehenden Rechten und Pflichten unter uns zu le-
ben .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir würden gut daran tun, dieses Problem schon
gleich zu Beginn der Verhandlungen auf den Tisch zu
legen und möglichst früh zu lösen, und zwar im Sinne
eines fairen Deals . Wenn unsere Bürger in Großbritanni-
en bleiben können, dürfen Britinnen und Briten auch bei
uns bleiben .

Und Sie wissen genau wie ich, dass wir vor extrem
komplizierten Verhandlungen stehen, in denen es darum
gehen wird, Großbritannien möglichst eng an die EU und
den Binnenmarkt zu binden, aber Großbritannien gleich-
zeitig auch Pflichten aufzuerlegen.

Man hat den Eindruck, dass manche britischen Re-
gierungsvertreter bzw . Austrittsbefürworter momentan
mit großen Kinderaugen erkennen, wie unendlich kom-
pliziert dieser Austrittsprozess werden wird, und wie
schwierig es werden wird, die hochtrabenden Verspre-
chen aus dem Referendumswahlkampf zu erfüllen, auch
wenn das Boris Johnson, blond und blauäugig, anders
sieht . Theresa May hat bisher nicht erkennen lassen, dass
die britische Regierung überhaupt schon eine grundsätz-
liche Strategie für die Austrittsverhandlungen gefunden
hat . Allerdings werden wir uns an dieser neuen „Eisernen
Lady“ möglicherweise noch die Zähne ausbeißen .

Es ist gut und richtig, dass Deutschland und die EU
sich jetzt noch nicht auf Vorverhandlungen einlassen
wollen . Die EU wird das Vereinigte Königreich kommen
lassen; denn Großbritannien muss sich darüber klar wer-
den, wie sein Verhältnis zur EU und zum Binnenmarkt
sein soll . Großbritannien muss sich darüber klar werden,
welchen Preis es bereit ist zu zahlen, dass es sich aus
dem Geltungsbereich der Grundfreiheiten zurückzieht .
Die Personenfreizügigkeit als eine der vier Grundfreihei-
ten bildet eine der Säulen des Binnenmarktes der Euro-
päischen Union . Nimmt man diese Säule weg, bricht das
Gebäude Europäische Union, wie wir es kennen, zusam-
men .

Tun Sie uns also bitte den Gefallen und verschleu-
dern Sie nicht Ihre parlamentarische Energie in Anträge,
von denen Sie wissen, dass sie das Problem nicht lösen .
Verschleudern Sie nicht Ihre Argumente, die Sie und wir
noch dringend brauchen werden . Sparen Sie sich Ihre
Energie für die schwierigen Verhandlungen und Debat-
ten, die noch kommen werden . Wir wollen kein kaltes
Europa mit neuen Grenzen . Wir wollen kein Europa, das
sich nur über die Zollfreiheit definiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen kein Europa aus eifersüchtigen Einzelstaaten,
die sich nur deswegen regelmäßig an einen Tisch setzen,
um über Handelsquoten und Fördermittel zu feilschen .

Detlef Müller (Chemnitz)







(A) (C)



(B) (D)


Stichwort „Eifersucht“: Ja, der Brexit ist schon so et-
was wie eine Ehescheidung . Wir sind enttäuscht, fühlen
uns unverstanden, hintergangen . Wir wissen, dass wir
uns scheiden lassen werden, dass wir uns scheiden las-
sen müssen . Aber der Scheidungsantrag ist noch nicht
gestellt . Trotzdem darf es nicht zu einem Rosenkrieg
kommen . Wir sollten also alles vermeiden, was den
Scheidungsprozess beeinflussen, erschweren oder sogar
vergiften könnte .

Es waren 43 gute Ehejahre – mit Höhen und Tiefen
und nicht ohne Konflikte; aber so ist das eben in einer
Ehe . Und nun geht sie zu Ende, der Partner will sich
trennen . Aber wir haben noch immer Respekt vor dem
Partner, und, ja, wir schauen auch noch etwas wehmütig
auf die gemeinsamen Jahre zurück . Deswegen sollten wir
uns so trennen, dass wir uns danach trotzdem noch in die
Augen schauen und sagen können: Ach komm, lass uns
Freunde bleiben!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819104400

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin – sorry –, als

nächster Redner hat Özcan Mutlu von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort .


(Heiterkeit – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der größte Macho unserer Fraktion wird hier als Rednerin angekündigt!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819104500

Das wird er verkraften, wie ich ihn kenne .


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1819104600

Das werden wir noch bereden müssen . Ich habe jetzt

Gesprächsbedarf mit meiner Fraktionsvorsitzenden .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819104700

Nein, Sie haben einen Freibrief, mich einmal mit

„Herr“ anzureden .


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1819104800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Im Jahre 2000 haben wir unter Rot-Grün Schluss
gemacht mit dem wilhelminischen Staatsangehörigkeits-
recht, das auf dem Blutsrecht aufgebaut war . Die dama-
ligen rot-grünen Reformvorschläge zur Liberalisierung
des Staatsangehörigkeitsrechts waren überfällig . Leider
wurden damals aber unsere Reformvorschläge durch die
Koch’sche „Ausländer raus!“-Unterschriftenkampagne
und die schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit in weiten
Teilen verhindert . Seither haben wir auch die Debatte
um die doppelte Staatsbürgerschaft . Sie haben das im
Jahr 2000 verhindert . Aber das ist heute für uns immer
noch wichtig .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute, 16 Jahre danach, sehen wir alle, dass weiterhin
großer Reformbedarf besteht . Daran hat auch die Mogel-

packung der Großen Koalition aus dem Jahr 2014 nichts
geändert, als Sie die leidige Optionspflicht leicht libera-
lisiert haben . Nach wie vor ist die doppelte Staatsbürger-
schaft nur in Ausnahmefällen möglich . Deshalb verstehe
ich auch die ganze Hysterie nicht, die Sie von der CDU/
CSU in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft in diesem
Sommer verbreitet haben . Ich verstehe nicht, wie die
CDU/CSU etwas abschaffen will, was de jure gar nicht
existiert . Wir haben keine doppelte Staatsbürgerschaft in
diesem Land . Es gibt nur Ausnahmefälle . Das sollten Sie
als Abgeordnete dieses Hohen Hauses, als Gesetzgeber,
bestens wissen . Ich sage Ihnen, Kolleginnen und Kolle-
gen von der CDU/CSU: Hören Sie auf, Angst zu schüren!
Hören Sie auf, das Klima des Zusammenlebens in die-
sem Land zu vergiften!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Mit dieser Kampagne, die Sie in diesem Sommer ge-
fahren haben, fördern Sie nämlich nur eines: die Des-
integration . Mit dieser Kampagne und Ihrem Kampf
gegen die doppelte Staatsbürgerschaft verhindern Sie
auch, dass Deutschland Heimat wird für Millionen von
Migrantinnen und Migranten . Sie reden auch in diesem
Zusammenhang ständig von den Türkinnen und Türken
oder der Türkei und zeichnen ein Schreckensszenario
nach dem anderen an die Wand . Sie schwadronieren von
Loyalität und Loyalitätskonflikten und stellen Hundert-
tausende Menschen, die aus der Türkei stammen, die
unserem Land gegenüber loyal sind und das Grundge-
setz anerkennen, unter Generalverdacht . Im Übrigen: Ich
stamme auch aus der Türkei und diene dem deutschen
Volk und allen Menschen, die in diesem Land leben . Sie
sollten das endlich mal akzeptieren


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und damit aufhören, diese Menschen zu denunzieren und
unter Generalverdacht zu stellen .


(Barbara Woltmann [CDU/CSU]: Wer spricht denn hier von „Generalverdacht“? Quatsch!)


Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, erreichen mit
diesen Kampagnen genau das, was Sie eigentlich verhin-
dern wollen . Sie lassen nicht zu, dass diese Menschen in
unserem Land ankommen . Sie treiben damit viele Tür-
kinnen und Türken in die Hände von Erdogan, weil Sie
nicht zulassen, dass diese Menschen sich endlich mit un-
serem Land identifizieren können. Das ist schädlich, und
das ist schäbig, liebe Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Ich schaue insbesondere in die Reihen der CDU/CSU
und sage nochmals: Es geht hier um staatsbürgerschaft-
liche Rechte .


(Marian Wendt [CDU/CSU]: Genau!)


Es geht zum Beispiel um das elementare Bürgerrecht des
Wahlrechts . Hier in Berlin waren vor fünf Tagen Wahlen .
Mein Vater, der seit 50 Jahren in diesem Land lebt, durfte
nicht einmal mitentscheiden, wer im Bezirk Mitte, wer
im Bezirk Kreuzberg den Bürgermeister oder die Bürger-

Detlef Müller (Chemnitz)







(A) (C)



(B) (D)


meisterin stellt . Im Übrigen sind es demnächst in beiden
Fällen Grüne . Darauf sind wir stolz .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marian Wendt [CDU/CSU]: Er hätte doch Deutscher werden können, wenn er seit 50 Jahren hier ist!)


Sie haben mit Ihren Restriktionen verhindert, dass
mein Vater, der eine besondere Identifikation auch mit
der Türkei hat, obwohl sein Sohn die deutsche Staatsbür-
gerschaft besitzt und MdB ist, die deutsche Staatsbürger-
schaft kriegen kann .


(Marian Wendt [CDU/CSU]: Das hat er verhindert!)


– Sie haben verhindert, dass er Deutscher werden kann,


(Marian Wendt [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


weil Sie fordern, dass er die türkische Staatsbürgerschaft
aufgibt .


(Marian Wendt [CDU/CSU]: Ja, das ist halt so!)


Er will sie nicht aufgeben . Akzeptieren Sie, dass für eine
bestimmte Bevölkerungsgruppe die doppelte Staatsbür-
gerschaft ein Angebot ist, und lassen Sie uns gemeinsam
dieses Angebot machen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Dr . Eva Högl [SPD])


Mein Appell an Sie: Hören Sie mit den Scheindebat-
ten auf! Hören Sie auf, mit populistischen Forderungen
der AfD nachzueifern! Lassen Sie uns stattdessen ein
modernes Staatsbürgerschaftsrecht für unser Land eta-
blieren, damit sich jeder hier zu Hause fühlen kann und
damit jeder in unserem Land, der schon eine bestimm-
te Zahl an Jahren in unserem Land lebt, endlich staats-
bürgerschaftliche Rechte bekommt! Um nicht mehr und
nicht weniger geht es hierbei .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819104900

Als nächster Redner hat Marian Wendt von der CDU/

CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jetzt mal das Beispiel mit den zwei Frauen, bitte!)



Marian Wendt (CDU):
Rede ID: ID1819105000

Mit den zwei Ehefrauen . – Sehr geehrte Frau Präsi-

dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was nichts
kostet, ist auch nichts wert .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Lexikon der Binsenweisheiten geblättert! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Wenn die deutsche Staatsangehörigkeit immer leichter zu
haben ist, dann ist auch ihr Inhalt, die damit verbunde-

ne Verantwortung und die Identifikation damit nicht von
Substanz .


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So ein Quatsch!)


Eine Staatsangehörigkeit ist kein Bonbon, das man ein-
fach mal so nebenbei mitnimmt .


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Wendt! Mensch!)


Auch wenn der Druck bzw . die Nachfrage danach groß
sein mag, so sollten wir dies nicht als Grund sehen, unse-
re Standards für eine Einbürgerung zu senken . Es sollte
eher Bestärkung sein, hohe Standards für den Erwerb der
deutschen Staatsangehörigkeit zu setzen


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Standards! Das sind Hürden! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie meinen Hürden, nicht Standards!)


und diesen wenigstens ein kleines bisschen zeremoniell
zu gestalten .

Die Beantragung und die Erlangung der deutschen
Staatsbürgerschaft sind für mich schließlich ein Symbol
des finalen Ankommens in unserem Land.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht mitgekriegt, dass heutzutage Wanderungsbewegungen nicht final sind, sondern weitergehen! Das Leben endet nicht in Deutschland!)


Gegen die sehr pragmatische Überlegung „Ich nehme
einfach den Pass, der mir die größte Freiheit bietet“ weh-
re ich mich . Denn das entspricht nicht dem, was eine
Staatsbürgerschaft für mich ausmacht . Eine Staatsbür-
gerschaft ist ein Ausweis der Verantwortung, die man für
ein Land – in diesem Fall für unser Land – übernimmt .
Einbürgerung dient eben nicht nur der Herstellung ei-
ner größtmöglichen Übereinstimmung zwischen der in
Deutschland lebenden Bevölkerung und dem wahlbe-
rechtigten Staatsvolk .

Das Argument der Grünen, Menschen wären von po-
litischer Teilhabe ausgeschlossen, obwohl sie hier schon
lange leben, ist meiner Meinung nach Unsinn .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Fakt! Haben Sie mir nicht zugehört? Die dürfen doch nicht wählen, Mann! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört! Was ist denn das für ein Unsinn?)


Es ist erstens auf vielen Ebenen möglich, sich direkt
zu beteiligen .

Zweitens ist politische Teilhabe, die eine Staatsbür-
gerschaft voraussetzt, auch mit Bedacht und mit Recht
dieser Hürde unterworfen . Denn die notwendige Identi-
fikation mit Deutschland, die mit der deutschen Staats-
bürgerschaft einhergehen muss, und die entsprechende

Özcan Mutlu






(A) (C)



(B) (D)


Verantwortung sind eben auch Voraussetzung für die Be-
teiligung an politischen Prozessen .


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das kann man sich kaum anhören!)


Denn nur wer unsere Grundwerte teilt und achtet, sollte
auch politisch hier teilhaben .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt für die Sachsen auch! Für Bautzen ebenso! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schauen Sie nach Augsburg!)


Außerdem – und hier schließt sich der Kreis – besteht
ja die Möglichkeit, sich um die Staatsbürgerschaft zu be-
mühen . Wenn sie dann erworben wurde – ich wiederhole
für die Grünen: erworben –, dann ist sie die Eintrittskar-
te für Mitbestimmung auf größerer Ebene . Wer 20 Jah-
re in unserem Land lebt, der hätte schon seit 12 Jahren,
wenn er möchte, deutscher Staatsbürger sein können . Wir
schaffen ja die Voraussetzungen, aber er muss sich auch
entscheiden und bekennen, zu welchem Land er gehört .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn „Land“ für ein Bekenntnis? Gehen Sie in die Kirche, dann wissen Sie, was ein Bekenntnis ist! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit Iranern?)


Die deutsche Staatsangehörigkeit ist ein Anreiz zur
Integration gemäß unserer Philosophie des Förderns und
Forderns gegenüber Menschen, die neu in unserem Land
leben . Diesen Anreiz dürfen und wollen wir nicht aus der
Hand geben . Eine weitere Vereinfachung des Erlangens
wäre nämlich ein Vorschuss auf Integrationsleistungen,
und einen solchen Vorschuss dürfen wir nicht geben .


(Abg . Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Frau Präsidentin, der Kollege Mutlu möchte eine Zwi-
schenfrage stellen . Bitte .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819105100

Herr Kollege Mutlu, Sie dürfen .


Marian Wendt (CDU):
Rede ID: ID1819105200

Ach so, Entschuldigung!


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819105300

Das macht nichts . Wenn Sie Ja sagen, dann kann der

Kollege Mutlu seine Zwischenfrage stellen .


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat bestimmt eine Bemerkung!)



Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1819105400

Herr Kollege Wendt, danke, dass Sie die Frage zulas-

sen . Ich habe eine ganz simple Frage: Ist Ihnen bekannt,
dass die Bundrepublik Deutschland mit 53 Ländern die-

ser Erde sogenannte Doppelstaatsbürgerschaftsabkom-
men abgeschlossen hat


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


und dass in unserem Land bereits über 4 Millionen Men-
schen eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, von
denen keine Gefahr für unser Land ausgeht? Außer mit
den 53 Partnerländern haben wir auch ein „Abkommen“
mit dem Iran . Hier müssen wir die doppelte Staatsbürger-
schaft de facto akzeptieren, weil der Iran nicht ausbür-
gert . Ist Ihnen all das bekannt? Wo sehen Sie in diesem
Zusammenhang die Gefahr für unser Land?


Marian Wendt (CDU):
Rede ID: ID1819105500

Herr Kollege, mir ist bekannt, dass es doppelte Staats-

bürgerschaften in unserem Land gibt und dass es diese
Abkommen gibt . Wir haben aber einen Grundsatz, und
davon gibt es, wie es manchmal im Recht der Fall ist,
Ausnahmen .

Wir sollten aber erstens an dem Grundsatz festhalten,
dass es grundsätzlich eine Staatsbürgerschaft geben soll-
te . Das ist, glaube ich, auch für die Menschen einfacher .
Und der Iran – Sie haben es selber erwähnt – bürgert
nicht aus, auch wenn Iraner nicht mehr Staatsbürger des
Iran sein wollen . Solche Gegebenheiten müssen wir ak-
zeptieren, auch wenn sie nicht unserer Rechtsauffassung
entsprechen .

Ich finde es zweitens wichtig, daran festzuhalten, dass
die deutsche Staatsbürgerschaft etwas bedeutet, dass sie
nicht nur ein Stück Papier ist, nicht nur ein Stück Reise-
freiheit, sondern dass dahinter auch Werte stehen, eine
Kultur, eine Idee . Ich werde dazu noch ausführen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn die Idee des Deutschtums? Dazu wollen wir doch einmal einen Vortrag hören!)


– Es geht bei der Idee um unsere Grundwerte . Ich werde
gleich darauf eingehen, Herr Beck, immer mit der Ruhe .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das deutsche Wesen!)


Der Grundsatz des Förderns und Forderns, den wir im
Integrationsgesetz als Prämisse unserer Bemühungen um
eine bessere Integration festgelegt haben, ist genau des-
halb so viel wert, weil sich eigene Leistung lohnt . Und
Integration lohnt sich . Aktives persönliches Bemühen
um Integration lohnt sich für jeden Menschen, der legal
zu uns kommt . Für Menschen, die sich nicht integrieren,
muss die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft
unmöglich sein . Hier gibt es ein Abstandsgebot, schon
allein aus Gründen der Gerechtigkeit .

Mit dem Integrationsgesetz haben wir genau den rich-
tigen Weg eingeschlagen, Anreize für Integration zu ge-
ben . Eine erfolgreiche Integration kann dann auch mit
der deutschen Staatsbürgerschaft belohnt werden . Ver-
einfachungen bei der Erlangung der deutschen Staatsbür-
gerschaft, wie hier gefordert – frei nach dem Motto: wir
geben dir die Staatsbürgerschaft in der Hoffnung, dass

Marian Wendt






(A) (C)



(B) (D)


du dich gut integrierst –, liefen diesem Zweck zuwider
und sind daher schlicht abzulehnen . Das kann nicht unser
Weg sein; denn wir müssen ja bedenken, dass die Ein-
bürgerung unumkehrbar ist . Wenn sich jemand nach Er-
langung der deutschen Staatsbürgerschaft nicht integriert
hat, dann können wir nach zehn Jahren nicht sagen: Wir
nehmen sie dir wieder weg . – Von daher wäre es fatal, so
vorzugehen .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe schon abgeschaltet! Deshalb kommen keine Zwischenrufe mehr!)


– Das ist vielleicht manchmal auch gut .

Wir sollten die Verleihung unserer Staatsbürgerschaft
also nicht als Vorschuss auf Integration handhaben, son-
dern genau andersherum . Denn sonst würde der Druck
fehlen, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren . Und
Integration bedeutet für mich dabei die Anerkennung
unserer christlich-jüdischen Werte, die Anerkennung der
besonderen Geschichte unseres Landes und die Annahme
der Verantwortung, die wir mit ihr tragen, und selbstver-
ständlich auch die Anerkennung unserer deutschen Leit-
kultur .


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Au!)


Noch ein paar Gedanken zu dem Antrag zur einfache-
ren Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft für bri-
tische Staatsangehörige . Jetzt für britische Bürger eine
Sonderregelung, eine Lex Britannica, wie an verschiede-
nen Stellen zu lesen war, einzuführen, halte ich für einen
Fehler .

Erstens: Wie wäre diese Ungleichbehandlung gegen-
über anderen EU-Bürgern zu rechtfertigen?


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben schon mitgekriegt, dass wir keine Rechtsänderung vorschlagen?)


Zweitens gibt es bereits heute ausreichend rechtliche
Möglichkeiten für alle Unionsbürger, sich um die deut-
sche Staatsbürgerschaft zu bemühen . Der dritte Grund:
Es kann nicht sein, dass der Wunsch, am Flughafen nicht
in der langen Schlange derer stehen zu müssen, die nicht
dem Schengen-Raum angehören, dazu führt, die deut-
sche Staatsangehörigkeit zu beantragen .

Die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens haben
demokratisch darüber entschieden, dass sie nicht Teil
dieser Europäischen Union bleiben möchten . Diese Ent-
scheidung haben wir zu akzeptieren . Deswegen sind Ihre
Anträge nicht zuvorderst und nicht in einfacher Weise zu
behandeln .

Der Antrag der Grünen und ihr Gesetzentwurf sind
abzulehnen, nicht nur, weil sie eine vernünftige Überzeu-
gung davon vermissen lassen, was Staatsangehörigkeit
bedeutet .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Bekenntnis zum deutschen Wald fehlt, was?)


Staatsangehörigkeit ist mehr als der deutsche Pass . Ihre
Vorschläge laufen auch den Maßnahmen zuwider, die wir

zur Bewältigung der Herausforderungen, die sich aus der
Vielzahl von Flüchtlingen ergeben, beschlossen haben .

Für die CDU/CSU-Fraktion ist Integration der Weg
und Einbürgerung das Ziel, nicht andersherum .

Vielen Dank .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819105600

Als nächster Redner hat Rüdiger Veit von der

SPD-Fraktion das Wort .


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1819105700

Frau Präsidentin! Das war eine vorsorgliche Wortmel-

dung für den Fall, dass sich die Notwendigkeit aus der
weiteren Debatte ergeben hätte . Diese Notwendigkeit
sehe ich nicht, sodass wir alle hier neun Minuten mehr
von unserer Lebensarbeitszeit haben .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819105800

Das ist ungewöhnlich, aber akzeptabel .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gab es noch nie!)


Frau Barbara Woltmann von der CDU/CSU-Fraktion
hat dann das Wort .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1819105900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Präsidentin hat schon gesagt, dass das sehr
ungewöhnlich war; aber ich fand es schon ungewöhnlich,
dass Sie zweimal auf der Rednerliste standen, Herr Veit .
Die Begründung war sehr interessant . Nun gut .

Wir haben eine recht lange Debattenzeit für dieses
Thema vorgesehen . 77 Minuten – ich bin die letzte Red-
nerin zu diesem Thema – sind schon eine lange Zeit . Wir
diskutieren über das Einbürgerungsrecht hier nicht zum
ersten Mal . Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass wir
dabei nicht einer Meinung sind, dass die Opposition ein
sehr viel offeneres Herangehen für richtig hält.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die SPD auch! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir sind weltoffen!)


– Ja, in der Tat haben wir in den Koalitionsverhandlun-
gen hart um die Optionsregelung gerungen . Wir haben
dann eine Lösung gefunden und gleich zu Beginn dieser
Legislaturperiode, 2014, das Staatsangehörigkeitsrecht
geändert . Wir sehen – das wird Sie von der Opposition
nicht wundern – keine Notwendigkeit, jetzt wieder eine
Änderung in Angriff zu nehmen.

Die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, wer Deut-
scher im Sinne des Gesetzes ist . Wir haben im Staatsan-
gehörigkeitsgesetz in immerhin 42 Paragrafen sehr de-
tailliert geregelt, wie man deutscher Staatsbürger werden
kann, wenn man es nicht von Geburt an ist .

Marian Wendt






(A) (C)



(B) (D)


Das Optionsrecht hatte ich schon angesprochen . In
der Tat hätten wir das, wenn wir alleine hätten entschei-
den können, nicht so geändert . Wir hätten das nicht ins
Gesetz geschrieben; aber wir hatten das mit der SPD so
ausgehandelt, und wir verhalten uns – Herr Veit hat es
schon gesagt – natürlich vertragstreu . Daher haben wir
das Recht entsprechend geändert .

Eine weitere Veränderung lehnen wir aber ab . Deswe-
gen, liebe Kollegen von den Grünen, wird es Sie nicht
wundern, dass wir Ihren Antrag und Ihren Gesetzentwurf
ablehnen . Wir haben einfach eine ganz andere Vorstel-
lung davon, wer wann wie deutscher Staatsbürger wer-
den kann, der es noch nicht ist, der aber den Wunsch hat,
Deutscher zu werden .

Ihre Intention scheint mehr zu sein, die Türen für eine
Einbürgerung für alle weit zu öffnen, indem Sie die Min-
destaufenthaltsdauer bei der Anspruchseinbürgerung auf
fünf Jahre senken; bei anerkannten Flüchtlingen wollen
Sie die Mindestaufenthaltsdauer auf drei Jahre senken .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


Sie machen auch keinen Unterschied mehr zwischen
den verschiedenen Aufenthaltstiteln; Hauptsache, es gibt
überhaupt einen Titel . Also, Sie wollen die Tür sehr weit
öffnen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So schaut ein liberalisiertes modernes Staatsbürgerschaftsrecht aus!)


Ihren Hinweis auf die globalisierte und mobile Welt,
der sich unser Staatsangehörigkeitsgesetz anpassen müs-
se, halte ich für völlig fehl am Platze . Sie scheinen sich
damit – so kommt mir das vor – einem Mainstream be-
stimmter Gruppen anschließen zu wollen, ihm vielleicht
auch nachlaufen zu wollen – nach dem Motto: Wir alle
sind Weltbürger und brauchen die Bindung an unseren
Heimatstaat nicht mehr . – Da, glaube ich, verkennen
Sie die Bindungswirkung einer Staatsangehörigkeit . Die
meisten Menschen nennen das „Heimat“ .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Pass ist keine Heimat! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Heimat ist Europa!)


Das ist ihnen auch sehr wichtig . Das sollte nicht der Be-
liebigkeit anheimgegeben werden . Von daher gesehen –
ich darf es wiederholen – lehnen wir das ab .

Genau das Umgekehrte ist doch der Fall . In einer glo-
balisierten Welt braucht man Bindung, Zugehörigkeits-
gefühl


(Marian Wendt [CDU/CSU]: Orientierung!)


und nicht in allen Lebensbereichen grenzenlose Unge-
bundenheit .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie setzen mit der von Ihnen gewünschten Gesetzgebung
ein völlig falsches Signal, gerade in der heutigen Zeit, da
durch Ihre Vorschläge weitere Pull­Effekte, die wir nicht
wollen, zu erwarten sind .

Des Weiteren besteht auch keinerlei Notwendigkeit,
britischen Staatsangehörigen – meine Vorredner haben
schon auf Ihren Antrag dazu hingewiesen – eine Sonder-
behandlung zuteilwerden zu lassen, weil sie auch jetzt
schon alle Rechte genießen, die jedem europäischen –
oder Schweizer – Staatsbürger in Deutschland bezüglich
einer Einbürgerung eingeräumt worden sind . Das gilt
zumindest so lange, wie ihr Land Mitglied der Europä-
ischen Union ist .

Im Moment wissen wir auch noch gar nicht, wann der
Antrag gestellt wird, wie er gestellt wird . Dass er gestellt
wird, davon können wir ausgehen, weil die britische Pre-
mierministerin das noch einmal deutlich gemacht hat .
Wenn der Antrag gestellt wird, schließen sich noch zwei-
jährige Verhandlungen an. Auch insofern finde ich: Ihr
Antrag ist überflüssig, vergebene Liebesmüh.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist die Vorbereitung! Vorbeugende Gesetzgebung! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Rede war weitgehend überflüssig!)


Es ist von Vorrednern schon darauf hingewiesen
worden, dass es auch eine Ermessensentscheidung ge-
ben kann, um die Zeit von sechs Jahren, die ein Brite in
Deutschland leben und arbeiten muss – das ist die Vo-
raussetzung –, eventuell zu verkürzen;


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten es wie Herr Veit halten sollen!)


er hätte dann nach § 12 Absatz 2 Staatsangehörigkeits-
gesetz die Möglichkeit, Deutscher zu werden . Insofern
sehen wir gar keinen Handlungsbedarf für eine Privile-
gierung in Europa; das wäre nur der Einstieg für eine ge-
nerelle Öffnung, und das wollen wir nicht.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen das!)


Wir halten das nicht für notwendig .

Nur noch ein kleiner Einschub, wenn wir schon über
den Brexit sprechen . Von der Opposition wurde schon
vorgeschlagen, weitere direktdemokratische Elemente
in die Verfassung einzuführen . Wir haben im Juni die
entsprechende Debatte gehabt . Wir haben das seinerzeit
abgelehnt . Wozu es führen kann, wenn man solche Ele-
mente einführt – ich kann das hier nur noch einmal wie-
derholen –, haben wir gesehen . Scharlatane versuchen,
auch mit falschen Informationen, die Leute zu einer
Entscheidung zu bringen, die letztendlich nicht gut für
das Land – in dem Fall für Großbritannien – und für die
Menschen dort ist . Insofern bin ich froh, dass wir das in
unserer Verfassung so haben, wie wir es haben . Unsere
parlamentarische Demokratie ist da sehr stabil, und das
wollen wir auch so erhalten .

Das Staatsangehörigkeitsrecht haben wir, wie gesagt,
durch eine maßvolle Anpassung der Optionspflicht für
in Deutschland aufgewachsene Kinder geändert . Herr
Mutlu, es ist auch nicht so – das möchte ich noch einmal
deutlich sagen –, wie Sie es gerade geschildert haben,
dass Ihr Vater nicht Deutscher werden kann . Er kann na-

Barbara Woltmann






(A) (C)



(B) (D)


türlich Deutscher werden, aber das ist eben damit ver-
knüpft, dass er dann seine türkische Staatsangehörigkeit
abgeben muss .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das wollen wir eben abschaffen! Das nennt man eine Meinungsverschiedenheit!)


Das wollen Sie nicht; das ist uns schon klar . Da haben wir
eine ganz andere Auffassung von unserem Staatsangehö-
rigkeitsrecht und sagen: Wer Deutscher werden möchte,
sollte sich auch voll und ganz zu diesem Land bekennen .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut er doch! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was beinhaltet ein Bekenntnis zu einem Land?)


Ich glaube auch nicht, dass es hilft, wenn wir sagen:
Jeder darf eine doppelte Staatsbürgerschaft haben . – Für
eine bestimmte Anzahl von Ländern ist das möglich; da
haben wir das geregelt . Aber wir wollen – akzeptieren Sie
es doch nun einfach einmal – nicht diese völlige Öffnung,
sondern wir wollen bei der Einstaatlichkeit bleiben; denn
die Staatsangehörigkeit ist ein besonderes Band zu dem
Staat, dem ich angehöre . Die lege ich nicht einfach wie
ein Kleidungsstück an oder auch wieder ab .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um Loyalität zum Grundgesetz! Nicht mehr und nicht weniger! Punkt!)


Es hat doch eine Bedeutung, ob ich sage, dass ich jetzt
Deutsche werden möchte, oder ob ich sage, dass ich
Schweizerin werden möchte . Das unterliegt doch nicht
der Beliebigkeit . Vielmehr geht es um ein klares Be-
kenntnis zu dem Staat, in dem ich leben möchte, in dem
ich Teil der Gesellschaft sein möchte, in dem ich wählen
kann . Das alles gehört zusammen . Das unterliegt doch
nicht der Beliebigkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch selbst etliche doppelte Staatsbürger in Ihren Reihen! Ist das ein Problem?)


– Ja, wir haben einige . Das dann aber auch mit gutem
Grund .

Wir wollen eben nicht eine völlige Freigabe, sondern
wir wollen, dass die doppelte Staatsbürgerschaft wei-
terhin die Ausnahme bleibt . Die deutsche Staatsange-
hörigkeit soll ein klares Bekenntnis zur Bundesrepublik
Deutschland beinhalten . Dadurch soll der Zusammenhalt
in unserer Gesellschaft gestärkt werden .

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819106000

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die De-

batte .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/9669 und 18/5631 an die in der

Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Stärkung der pflegerischen Versorgung
und zur Änderung weiterer Vorschriften

(Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III)


Drucksache 18/9518
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah ge-
stalten

Drucksache 18/8725
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,
Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedingun-
gen für eine nutzerorientierte Versorgung
schaffen

Drucksache 18/9668
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin in die-
ser Aussprache hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ingrid Fischbach für die Bundesregierung das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)


I
Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1819106100


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, ich verkünde nichts Neues, wenn ich sage:
Die Pflege steht in dieser Legislaturperiode prioritär ganz
oben auf unserer Tagesordnung . Wir haben mit unseren
Pflegestärkungsgesetzen schon einiges Gutes auf den
Weg gebracht. Mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz ha-

Barbara Woltmann






(A) (C)



(B) (D)


ben wir die Pflegeleistungen erheblich ausgeweitet, die
Leistungen – das war ein besonderer Punkt; das war uns
ganz wichtig – flexibler nutzbar gemacht und natürlich
die Hilfen für die pflegenden Angehörigen deutlich ver-
bessert .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz haben wir
dann den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und das da-
zugehörige Begutachtungsverfahren eingeführt . Ab dem
1. Januar werden fünf Pflegegrade die überholten drei
Pflegestufen ablösen. Niemand wird dabei benachteiligt.
Im Gegenteil: Für sehr viele Menschen werden sich die
Leistungen ab Januar nächsten Jahres erhöhen .

Das PSG III, das Dritte Pflegestärkungsgesetz, das wir
heute einbringen, ist sozusagen der letzte Baustein, um
das Ganze abzurunden . Das heißt, wir müssen jetzt die
Maßnahmen ergreifen, die vor Ort benötigt werden . Mit
dem Dritten Pflegestärkungsgesetz stärken wir die Rolle
der Kommunen in der Pflege. Die zu pflegenden Perso-
nen und ihre Angehörigen benötigen eine gute Unterstüt-
zung und vor allen Dingen eine, die maßgeschneidert ist .
Die Strukturen und Rahmenbedingungen der Pflege müs-
sen stimmen, damit sie für die Pflegenden und Angehöri-
gen ein Leben gewährleisten, das in Selbstbestimmtheit
und auch in Würde geführt werden kann .

Dazu müssen die Länder und die Kommunen Hand-
lungsspielräume haben . Diese geben wir ihnen mit dem
PSG III . Wir sorgen dafür, dass wir ein gutes Miteinan-
der von Pflegekassen und kommunalen Strukturen vor
Ort haben . Das war auch die Empfehlung der Bund-Län-
der-Arbeitsgruppe, die dazu getagt hat . Kommunen
können künftig Beratungsleistungen in der Pflege selbst
anbieten. Sie können die Einrichtung weiterer Pflege-
stützpunkte auf den Weg bringen, damit die Menschen,
die Beratung brauchen, entsprechende Anlaufstellen ha-
ben . Die Kommunen haben die Möglichkeit, in 60 Mo-
dellvorhaben neue Formen der Beratung zu erproben,
und sie erhalten die Möglichkeit, die Beratung der Pfle-
gekassen selber zu erbringen .

Das verlangt aber auch, dass die Zusammenarbeit
aller Beteiligten vor Ort verbessert wird . Oft gibt es in
den Kreisen und Kommunen bereits regionale Pflege-
ausschüsse . Wir werden mit dem PSG III dafür sorgen,
dass die Kassen in diesen Pflegeausschüssen verpflich-
tend mitarbeiten, weil wir zum einen wollen, dass sie ihr
Wissen und ihre Erfahrung einbringen, und weil wir zum
anderen wollen, dass sie die Empfehlungen, die die Aus-
schüsse auf den Weg bringen, mittragen und umsetzen .

Vor der Sommerpause, meine Damen und Herren,
war der Abrechnungsbetrug in der Pflege ein wirklich
ausschlaggebendes und bestimmendes Thema . Wenige
schwarze Schafe – das möchte auch ich deutlich sagen –
haben eine ganze Branche in Misskredit gebracht . Betrug
in der Pflege ist wirklich besonders verachtungswürdig,
weil er nicht nur zulasten der Pflegebedürftigen, sondern
auch zulasten der Beitragszahler und vor allen Dingen
zulasten der vielen ehrlichen Anbieter, die wir haben,

geht . Das, glaube ich, sollten wir deutlich sagen . Hier ist
der Gesetzgeber gefordert .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bereits im Rahmen des Zweiten Pflegestärkungsge-
setzes haben wir wichtige Maßnahmen zur Verhinderung
und Entdeckung von Abrechnungsbetrug in der Pflege
auf den Weg gebracht, insbesondere die Verpflichtung
des Medizinischen Dienstes, neben der Qualität regelmä-
ßig auch die Abrechnungen zu prüfen . Die Vorkommnis-
se im Frühjahr dieses Jahres haben aber gezeigt, dass dies
nicht ausreicht . Deswegen wird es nun auch im SGB V
ein systematisches Prüfrecht geben . Künftig werden alle
Pflegedienste regelmäßig geprüft, auch jene, die nur Leis-
tungen der gesetzlichen Krankenversicherung erbringen .
Alle Patienten werden in die Stichproben mit einbezo-
gen, also auch Menschen, die ausschließlich Leistungen
der häuslichen Pflege beziehen.

Darüber hinaus können Abrechnungsprüfungen in Zu-
kunft auch unabhängig von Qualitätsprüfungen durchge-
führt werden. Wir geben der Pflegeselbstverwaltung auf
Landesebene vor, Regelungen zur Verhinderung von Ab-
rechnungsbetrug in die Rahmenverträge aufzunehmen .
Damit kann zum Beispiel vermieden werden, dass sich
betrügerische Pflegedienste unter einem anderen Namen
wieder neu auf den Markt begeben . Das sind die Dinge,
die wir tun können . Aber es müssen weitere Schritte im
Bereich des Strafrechts und der Kriminalitätsbekämp-
fung von den Ländern unternommen werden; auch da
bitten wir um große Unterstützung .

Das PSG III setzt den neuen Pflegebedürftigkeitsbe-
griff auch im Recht der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe
um. Denn Pflegebedürftige, die finanziell bedürftig sind,
müssen auch nach Einführung des neuen Pflegebedürf-
tigkeitsbegriffes die Leistungen und Hilfen bekommen,
die notwendig sind . Deshalb regeln wir im PSG III auch
das Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflegeversi-
cherung. Dies ist notwendig, weil mit dem neuen Pfle-
gebedürftigkeitsbegriff die ambulanten Leistungen der
Pflegeversicherung erweitert werden und wie die Ein-
gliederungshilfe Aspekte der Betreuung beinhalten . Des-
halb brauchen wir gute Regelungen zur Abgrenzung der
beiden Systeme . Das hat der Expertenbeirat bereits in der
letzten Wahlperiode deutlich gemacht .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Weitere Regelungen sind notwendig, weil durch die
geplante Personenzentrierung im Rahmen des Bun-
desteilhabegesetzes ein Anknüpfungspunkt für die Zah-
lung der Pauschalleistungen der Pflegeversicherung für
Bewohnerinnen und Bewohner von stationären Einrich-
tungen der Eingliederungshilfe entfällt . Hier brauchen
wir Anpassungen. Denn sonst würden wir die Pflegever-
sicherung mit Mehrausgaben in Milliardenhöhe belasten,
ohne dass sich – das ist der ausschlaggebende Punkt –
auch nur etwas mehr an den Leistungen für die Men-
schen mit Behinderungen verbessern würde .

Die zu Pflegenden und ihre Angehörigen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, brauchen passgenaue Angebote,
die gut abgestimmt sind und vor Ort von allen Beteiligten

Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach






(A) (C)



(B) (D)


gemeinsam verantwortet werden . Sie müssen sicher sein
können, dass sie bei der Suche nach der richtigen und
wirksamen Unterstützung und Pflege nicht allein gelas-
sen werden . Insofern bildet das PSG III den Abschluss
einer, wie ich finde, wirklich guten Verbesserung für die
Menschen, die Pflege benötigen. Lassen Sie uns jetzt ge-
meinsam in die parlamentarischen Beratungen gehen und
sie zu einem vernünftigen Ergebnis bringen!

Ich danke den Berichterstattern und den Sprechern der
Fraktionen sehr herzlich – wie ich sehe, sind Mechthild
Rawert, Erwin Rüddel und Erich Irlstorfer da –, ich dan-
ke dem Haus für die gute Zuarbeit, und ich wünsche uns
allen, die wir an den Beratungen teilnehmen, dass wir zu
einem guten Ergebnis kommen .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819106200

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Pia

Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819106300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werte Frau Fischbach, das, was Sie uns hier gerade vor-
getragen haben, ist kein Paradigmenwechsel in der Pfle-
ge – auf jeden Fall nicht im positiven Sinne –;


(Mechthild Rawert [SPD]: Na, na, na!)


denn mit dem Pflegestärkungsgesetz III manifestieren
Sie einen weiteren Meilenstein in der Zweiklassenpfle-
ge, und das ist ein weiterer Schritt zur Aushöhlung des
Sozialstaates .


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Sie wissen, dass das nicht stimmt!)


Ihr Pflegegesetz verdient auch nicht den Zusatz „Stär-
kung“, weil es niemanden in der Pflege wirklich stärkt –


(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich! Das ist doch Quatsch!)


nicht die Menschen mit einem Pflegebedarf, nicht die
Pflegekräfte und nicht die pflegenden Angehörigen.

Die Pflege wird noch immer nicht am tatsächlichen
Bedarf und an den individuellen Wünschen, sondern aus-
schließlich an den zur Verfügung gestellten Mitteln ori-
entiert. Die Pflege bleibt markt­ und profitorientiert. Alle
Betroffenen gemeinsam sollen das Geld einsparen, das
Sie den Betreibern und Investoren von Pflegeheimen und
den Pflegeversicherungen versprochen haben.

Dieses Gesetz wird auch niemandem nützen, der auf
professionelle Unterstützung angewiesen ist und dessen
Rente nicht ausreicht, um die Eigenbeteiligung in der
Pflegeversicherung, die steigenden Investitionskosten für
die Pflegeeinrichtungen, die Miete, die Lebenshaltungs-
kosten oder was auch immer zu bezahlen .


(Zuruf von der CDU/CSU: Falsche Pauschalsätze!)


Wer auf Hilfe zur Pflege angewiesen ist – das ist die
schöne Umschreibung für Menschen, die eigentlich So-
zialhilfe benötigen –, wird zukünftig noch stärker auf das
Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen sein, als es
bisher der Fall gewesen ist . Durch dieses Gesetz werden
Menschen, die Hilfe zur Pflege brauchen, gesetzlich ge-
zwungen, ehrenamtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen,
weil ihnen sonst gar keine Unterstützung zusteht . Damit
kommen die Angehörigen nicht nur finanziell für die
Menschen mit Pflegebedarf auf, indem sie ihr Einkom-
men und ihr Vermögen zur Verfügung stellen müssen,
sondern sie sollen auch die Pflegearbeit übernehmen, und
zwar unentgeltlich, in ihrer Freizeit und ohne Anspruch
auf irgendeine Sozialversicherung .

Meine Damen und Herren, Sie können einwenden,
dass es doch mehr Pflegegeld und mehr Sachleistungen
gibt; Frau Fischbach, Sie haben es gesagt . Ich entgegne
Ihnen aber, dass all das nicht gegen die Ohnmacht helfen
wird, wenn der 90-jährige Vater 200 Kilometer entfernt
allein in seiner Wohnung ist und dann vielleicht doch ein-
mal vergisst, den Gasherd abzustellen . Hier würde es hel-
fen, wenn sich die Angehörigen darauf verlassen könn-
ten, dass es Strukturen gibt, innerhalb derer man sich um
ihren Vater kümmert . Es würde helfen, wenn sie wüssten,
dass die Menschen, die sich um ihren Vater kümmern,
gut ausgebildet und anständig bezahlt werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Es würde helfen, zu wissen, dass ihr Vater selbst ent-
scheiden kann, ob er zu Hause oder in einer Einrichtung
versorgt wird, und dass seine Wünsche und Würde res-
pektiert werden .


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir! Wir fragen!)


Dieses Gesetz verspricht solche Strukturen, aber die-
se Versprechen werden nicht gehalten . Die Kommunen
sollen gestärkt werden . Sie sagen, dafür bekommen sie
die Möglichkeit, mehr Beratungsangebote einzurich-
ten . Aber gerade einmal 60 Modellkommunen von über
11 000 Kommunen kommen in den Genuss . Was für ein
Hohn! Außerdem: Eine echte Entscheidung über die Ver-
sorgungsangebote dürfen die Kommunen gar nicht tref-
fen, und Pflegesatzverhandlungen finden weiterhin hinter
verschlossenen Türen statt .

Der neue Pflegebegriff soll für alle Menschen gelten –
sagen Sie. Aber: Alle Menschen, die auf Hilfe zur Pflege
angewiesen sind, werden durch dieses Gesetz strukturell
benachteiligt, weil ihnen nicht die gleichen Leistungen
zustehen . Das ist das, was ich am Anfang schon einmal
gesagt habe: Mit diesem Gesetz verabschiedet sich die
Bundesregierung vom Bedarfsdeckungsprinzip in der
Sozialhilfe .

Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag „Pfle-
ge teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten“ legen
wir realistische Handlungsoptionen vor, die für Gerech-
tigkeit in der Pflege sorgen können. Wir fordern gleich-
wertige Lebensbedingungen in der Pflege für alle Men-
schen mit Pflege­, Unterstützungs­ und Assistenzbedarf

Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach






(A) (C)



(B) (D)


und gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in
allen Regionen .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen die Kommunen tatsächlich in die Lage
versetzen, für Menschen, die Pflege und Unterstützung
brauchen, wohnortnah und individuell passende Angebo-
te bereitzustellen und auch zu finanzieren. Lassen Sie die
Kommunen bitte nicht wieder auf den Kosten sitzen, wie
es so gerne gemacht wird!

Wir wollen vor allen Dingen die Mitbestimmung der
Menschen mit Pflegebedarf und ihrer Angehörigen stär-
ken . Denn diese Menschen wissen doch am besten, was
gewünscht wird und was nötig ist .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen den Pflegemindestlohn erhöhen und die Ar-
beitsbedingungen der Pflegekräfte verbessern, weil nur
so dem Fachkräftemangel entgegengetreten werden
kann . Das ist absolut notwendig .

Unser Ziel ist es auch, meine Damen und Herren, dass
Menschen sich vor Pflege nicht fürchten müssen, weil sie
wissen, dass sie gut versorgt werden . Sie dürfen nicht da-
vor Angst haben, dass sie einmal auf die Unterstützung
von anderen Menschen angewiesen sind, sondern es
muss eine gute Versorgung geben . Es ist auch unser Ziel,
dass sich Freunde, Nachbarn und Familien gerne um ihre
Angehörigen kümmern und füreinander da sind, weil sie
es wollen, und nicht, weil sie es müssen .


(Beifall bei der LINKEN)


Unser Ziel ist es, dass Menschen so leben können, wie
sie es sich wünschen, und nicht, wie es ihr Geldbeutel
erlaubt .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819106400

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Mechthild

Rawert von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1819106500

Liebe Bürgerinnen und Bürger! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Unser Ziel, die Vollendung einer großen
Pflegereform mit ihren zahlreichen Gesetzen, ist in Sicht-
weite, und das ist auch gut so .

An dieser Stelle, Frau Zimmermann, muss ich doch
auf Ihren Beitrag eingehen . Erstens ist heute noch nicht
die Zeit für großes Wahlkampfgetöse . Zweitens empfehle
ich Ihnen, Ihr Recht als Versicherte auf Pflegeberatung –
das haben Sie seit 2009 – auch in Anspruch zu nehmen;
denn dann würden Sie erfahren, wie viel Gutes im PSG I,
wie viel Gutes im PSG II und auch im PSG III steht . Ich
kann sagen: Beratung erhöht das Wissen – und das gilt
für uns alle .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Sagen Sie mal, was Sie vor der letzten Wahl versprochen haben!)


Mit den Pflegestärkungsgesetzen I bis III stellen wir
uns den demografischen Herausforderungen in unserer
immer älter werdenden Gesellschaft . Wir machen Ernst
mit der Aussage „Gute Pflege ist ein Menschenrecht“.
Und das ist auch gut so; denn wir brauchen eine zukunfts-
feste Pflege im Interesse der heute schon über 2,5 Milli-
onen pflegebedürftigen Menschen – mit stark steigender
Tendenz –, im Interesse der pflegenden Angehörigen
inklusive ihrer besseren sozialversicherungsrechtlichen
Absicherung und im Interesse der Hauptamtlichen, die
da, wo es einen Tariflohn gibt, tatsächlich den Tariflohn
bezahlt bekommen . All das haben wir geregelt, und das
ist gut so und stärkt die Pflege.

Beim Pflegestärkungsgesetz III werden wir auf jeden
Fall in diesem Jahr noch die Zielgerade erreichen – das
garantiere ich hier –, obwohl wir im parlamentarischen
Verfahren noch große Baustellen zu bearbeiten haben
und das Struck’sche Gesetz auch hier gilt, das lautet:
„Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie
es eingebracht worden ist .“

Frau Fischbach hat schon ganz verschiedene Bereiche
und Felder dieses Gesetzes erwähnt, auf die ich an dieser
Stelle nicht mehr eingehen möchte .

Neu ist – das wird also noch kommen –: Dieses Gesetz
dient auch als ein Omnibusgesetz . Denn wir senden mit
ihm berufspolitische Signale aus, indem wir vorhandene
Modellklauseln für die Ergotherapeutinnen und Ergothe-
rapeuten, für die Hebammen und Entbindungspfleger, für
die Logopädinnen und Logopäden, für die Masseure und
Physiotherapeuten verlängern. Wir treffen Regelungen
für die Verbesserung der Qualität unter den Heilpraktike-
rinnen und Heilpraktikern .

An dieser Stelle eine Anmerkung von mir als sozialde-
mokratische Gesundheits- und Gleichstellungspolitike-
rin: Ich verstehe nicht, dass wir den Medizinerinnen und
Medizinern rund 1 Milliarde Euro Honorar mehr geben,
aber für die vielen zumeist von Frauen ausgeübten Ge-
sundheitsberufe keine professionelleren Strukturen von
nachhaltigem Bestand schaffen.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen eine Stärkung der Gesundheitsfachberufe .
Das ist auf jeden Fall unser Credo . Dazu sage ich auch:
Das sich ärgerlicherweise immer noch im parlamentari-
schen Verfahren befindliche Pflegeberufereformgesetz
soll dazu dienen, dass wir auch hier zu einer besseren
Qualität kommen. Hier hoffe ich doch auf professionelle
Einsicht in Teilen der Reihen unseres Koalitionspartners .

Eingehen will ich auf einige Punkte zum PSG III . Ein
Thema sind die Hilfen zur Pflege. Das Ziel ist, dass die
Regelungen aus dem PSG II, die wir bis jetzt beschlos-
sen haben, auch für die Menschen Wirklichkeit werden,
die Hilfen zur Pflege laut SGB XII, also dem Sozialhil-
ferecht, erhalten. Das heißt, der neue Pflegebedürftig-
keitsbegriff und das neue Begutachtungsverfahren gelten
auch hier . Weiterhin soll gelten: Körperlich, kognitiv und
psychisch Pflegebedürftige werden gleichgestellt, mit

Pia Zimmermann






(A) (C)



(B) (D)


dem Ergebnis, dass mehr Individualität und Gerechtig-
keit für alle, unabhängig vom Geldbeutel, gelten .


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das kommt dann im Pflegestärkungsgesetz IV, oder was?)


Zum PSG III gehören auch die Stärkung der örtlichen
Pflegeinfrastruktur und der Ausbau der Pflegeberatung;
Fälle, in denen das notwendig ist, habe ich schon er-
wähnt . Mit diesen Punkten setzen wir Forderungen der
SPD aus der letzten Legislaturperiode um . Wir stärken
die kommunale Verantwortung . Wir stärken die Infra-
struktur vor Ort .

Auf eines möchte ich Sie hinweisen: Viele von Ihnen
mögen den Begriff „Pflegestützpunkt“ noch gar nicht ge-
hört haben, aber auch in Ihren Kommunen gibt es diese
Pflegestützpunkte.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht unbedingt!)


Aber es gibt noch nicht genug davon . Hier muss noch
mehr Beratung erfolgen . Daher sind auch die 60 Modell-
vorhaben von so herausragender Bedeutung . Wir wollen
die Vernetzung vor Ort stärken .


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Zum Teil gab es die!)


Wir wollen die individuellen Bedarfe besser abdecken .
Wir wollen natürlich auch dazu beitragen, dass kulturelle
Hintergründe berücksichtigt und alle Menschen über alle
Möglichkeiten vor Ort umfassend informiert werden .

Mit dem PSG III machen wir deutlich: Die Pflegebera-
tung spielt in der Politik eine zentrale Rolle . Wir wollen,
wie gesagt, mehr Pflegeschutzpunkte vor Ort, initiiert
von Kommunen . Wir wollen mehr Qualität durch bessere
Beratung. Dabei soll nicht nur über Angebote der Pflege
beraten werden, sondern auch über Angebote der Alten-
hilfe, der Eingliederungshilfe und auch über die der Pfle-
geversicherung . Es soll eine „Beratung aus einer Hand“
erfolgen .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819106600

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-

legin Zimmermann zu?


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1819106700

Selbstverständlich, ja .


Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819106800

Liebe Mechthild Rawert, ich mache kein Wahlkampf-

getöse, wenn ich Wahrheiten ausspreche . Mir hätte es ei-
gentlich schon gereicht, wenn die Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten das umgesetzt hätten, was sie vor
der letzten Wahl versprochen haben, statt sich durch die
Koalition Fußfesseln anlegen zu lassen .


(Beifall des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE])


Aber meine Frage zielt ganz direkt auf die Beteili-
gung und auf die Beratungsangebote in den Kommunen .
Wir wissen doch ganz genau – Mechthild, auch du weißt

das –, dass viele von diesen Beratungsstellen gar nicht
mehr geöffnet haben. Da muss man sich einmal fragen,
woran das liegt .

Jetzt sollen 60 Modellkommunen von insgesamt über
11 000 Kommunen in unserem Land verstärkt Beratungs-
angebote bereitstellen; das habe ich in meinem Redebei-
trag gesagt . Da frage ich mich: Was ist das für ein An-
satz? Das ist ja Kleckern und nicht Klotzen . Wir müssen
in der Pflege aber klotzen, um einen Paradigmenwechsel
tatsächlich zu erreichen .

Zudem ist für eine Pflegekampagne, mit der wir da-
rauf aufmerksam machen könnten, was wir alles haben –
du hast es so schön gesagt: die Vernetzung soll wieder-
hergestellt werden –, im Haushalt kein Geld eingestellt .
Im Haushalt steht an dieser Stelle eine Null . Wie soll ich
das denn verstehen?


(Beifall bei der LINKEN)



Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1819106900

Es täte mir leid, wenn in Niedersachsen Pflegestütz-

punkte tatsächlich schließen . Ich kann nur sagen: Hier in
Berlin eröffnen wir stetig welche. Ich bin erst vor kurzem
bei der Eröffnung des dritten Pflegestützpunktes in mei-
nem Bezirk gewesen .

Zum Thema Wahlkampfgetöse . Ich bin mir nicht ganz
sicher, ob es nicht doch Wahlkampfgetöse gewesen ist .


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Doch, doch!)


Zum Thema Beratung und Vernetzung . Ja, ich fordere
jede Kommune auf, sich hier starkzumachen . Wie man
weiß, hatten wir hier in Berlin Wahlkampf und auch eine
Wahl . Im Vorfeld habe ich zum Beispiel stetig versucht,
für den Begriff „Ausbau der Pflegeinfrastruktur“ in mei-
ner Partei zu werben, weil wir – dem Ziel stimme ich
zu – eine stärkere Vernetzung brauchen . Wir brauchen
eine Aufhebung der Unterteilung in Bereiche; denn das
Ziel ist eine „Beratung aus einer Hand“ . Mit den Modell-
projekten erproben wir diese Beratung . Sie sind dazu da,
qualitativ bessere Schritte zu gehen und qualitativ besse-
re Strukturen zu etablieren . Das soll dann auf alle Kom-
munen übertragen werden . Ich wünsche mir, dass nach
Abschluss der Modellvorhaben jede der 11 000 Kommu-
nen in Deutschland über ein, zwei Pflegestützpunkte in
guter bis hoher Qualität verfügt . Dazu sind die Modell-
vorhaben gut .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Maria Michalk [CDU/CSU])


Die SPD will eine erstklassige Pflegeinfrastruktur. Mit
den neu einzurichtenden Pflegeausschüssen verzahnen
wir die ambulante und die stationäre, die medizinische
und die pflegerische Versorgung besser miteinander – für
eine lückenlose, wohnortnahe und effektive Versorgung.
Das ist ein großer Fortschritt, liebe Bürgerinnen und Bür-
ger. Wir wollen eine gute und würdige Pflege für alle.
Wir schaffen die Voraussetzungen, dass alle Verbesse-
rungen auch für alle gelten; denn wir wollen in Deutsch-
land gleiche Lebensverhältnisse für alle – unabhängig
vom Wohnort – auch in der Pflege. Wir wollen eine hohe
Versorgungsqualität überall und für jede und jeden, und

Mechthild Rawert






(A) (C)



(B) (D)


das in allen Lebensbereichen, unabhängig davon, ob ein
Mensch über ein eigenes Einkommen verfügt oder Hilfen
zur Pflege empfängt. Dafür setzt sich die SPD im Rah-
men dieses Dritten Pflegestärkungsgesetzes ein. Ich dan-
ke der Koalition, dass das im Wesentlichen gelungen ist .
Die große Pflegereform greift. Über alles andere wird im
weiteren parlamentarischen Verfahren entschieden .

Danke für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819107000

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Elisabeth

Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin
Fischbach! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem
Dritten Pflegestärkungsgesetz wird alles geregelt, was
bisher noch nicht geregelt ist . Was zur Umsetzung des
neuen Pflegebegriffs noch geändert werden muss, steht
im PSG III . Was zur Umsetzung des Bundesteilhabege-
setzes parallel im Bereich der Pflege geändert werden
muss, steht im PSG III . Es gibt zudem diverse Rege-
lungen zur Bekämpfung des Abrechnungsbetrugs in der
Pflege. Das sind viele Baustellen. Da kann man schon
einmal das Wesentliche aus dem Blick verlieren .

Das Wesentliche, also der Kern des Gesetzes, ist näm-
lich die Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege.
Das liegt natürlich nahe; denn die Kommunen sind nä-
her am Menschen als die Pflegeversicherungen. In den
Kommunen weiß man, welche Angebote es vor Ort gibt,
welche Angebote für ambulante und stationäre Pflege,
welche Angebote für Betreuung und für ehrenamtliche
Begleitung vorhanden sind, in welchen Quartieren es
Nachbarschaftstreffs gibt, welche Kirchengemeinde Kaf-
feenachmittage für Ältere anbietet . Man weiß aber auch,
welche Angebote fehlen . Diese Kompetenzen der Kom-
munen werden noch viel zu wenig genutzt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das PSG III will das ändern . Leider wurden bei diesem
Gesetz mehrere Dinge nicht bedacht .

Die Kommunen erhalten ein befristetes Initiativrecht
bei der Einrichtung von Pflegestützpunkten. 60 Modell-
kommunen können neben der Beratung zur Eingliede-
rungshilfe und Hilfe zur Pflege und Altenpflege auch
Pflegeberatung und Pflegekurse anbieten. Beratung rund
um Alter und Pflege aus einer Hand, das sollte eigentlich
selbstverständlich sein .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts der zahlreichen Angebote für pflegebe-
dürftige und ältere Menschen, die zunehmend unüber-
sichtlicher werden, gehört zur Beratung aus einer Hand
eine individuelle Beraterin oder ein individueller Berater .
Wir schlagen übrigens schon seit vielen Jahren vor, die
rechtlichen Grundlagen für einen Anspruch auf ein indi-

viduelles Case Management zu schaffen, das Pflegebe-
dürftige und Angehörige berät und gemeinsam mit ihnen
die Angebote aussucht, die am besten zur jeweiligen Si-
tuation passen; denn jede Pflegesituation ist ganz indivi-
duell . Ein individueller Beratungsanspruch ist gesetzlich
geregelt . Aber es fehlt an Verbindlichkeit . Die Länder le-
gen das dementsprechend sehr unterschiedlich aus . Das
muss anders werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Jeder muss die Möglichkeit haben, sich von einem un-
abhängigen Case Manager oder einer Case Managerin,
die sich sehr gut mit den Angeboten vor Ort auskennen,
umfassend beraten und begleiten zu lassen .

Mehr Kompetenzen allein bei der Beratung aber rei-
chen nicht aus . Die Kommunen brauchen auch mehr
Kompetenzen bei der Pflegeplanung. Sie wissen, welche
Angebote es vor Ort braucht und ob ein neues Pflege-
heim in der Gemeinde wirklich gewünscht ist . Vielleicht
sind barrierefreie Wohnungen in der jeweiligen Region
sehr viel wichtiger .

Kommunen sollen bestehende Angebote vernetzen
und da, wo sie Lücken erkennen, Angebote anstoßen
können . Das sind zusätzliche Aufgaben für die Kommu-
nen, genau wie die im PSG III vorgesehene Übernahme
der Beratung . Dafür ist aber kein zusätzliches Geld vor-
gesehen . So wird das nicht funktionieren . Kommunen
brauchen eine Förderung, um etwas Neues aufzubauen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kommunen brauchen verlässliche Finanzhilfen für Bera-
tung und Pflege sowie Leben und Wohnen im Alter.

Es gibt viele Kommunen, die sich sehr gerne mehr
in diesem Bereich engagieren würden, aber genau da-
für Unterstützung und Beratung bräuchten, weil sie dem
ganzen Pflegesetting noch relativ hilflos gegenüberste-
hen . In einigen Ländern gibt es bereits Beratungsange-
bote, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen oder Rhein-
land-Pfalz . So kann man Kommunen gewinnen, die sich
bisher noch nicht engagiert haben oder sich bisher noch
nicht an dieses umfassende Thema herangetraut haben .

Bei den Modellvorhaben im PSG III ist zwar vorge-
sehen, dass die Hälfte der 60 Modellkommunen keine
mehrjährige Erfahrung in der Beratung haben sollen,
aber ohne Unterstützung für diese Kommunen könnte
es dazu kommen, dass diese Kommunen die statistische
Performance verschlechtern und damit auch das Evalua-
tionsergebnis verzerren werden . Dieses Ergebnis der
Evaluation ist doch die Grundlage für die Überführung
der Modellprojekte in die Regelversorgung .

Besonders absurd bei diesen Modellprojekten finde
ich übrigens die Tatsache, dass der Spitzenverband Bund
der Pflegekassen über die konkreten Voraussetzungen,
Ziele, Inhalte und Durchführung der Modellvorhaben
beschließt . Keine Unterstützung der Kommunen, weder
finanziell noch ideell, keine Definitionen der Ziele der
Modellprojekte und keine Planungskompetenz: So stärkt
man weder die Kommunen noch die Pflegebedürftigen.

Mechthild Rawert






(A) (C)



(B) (D)


Mein Fazit ist: Es ist in den letzten Jahren sehr, sehr
viel im Bereich Pflege gemacht worden – das stimmt –,
aber Veränderungen bedeuten nicht gleichzeitig Verbes-
serungen . Ich denke, wir werden am Ende des Tages die
Koalition nicht an den Veränderungen, sondern an den
Verbesserungen messen .

Danke schön .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Sehr gut! Gutes Kriterium!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819107100

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Erwin Rüddel

von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Mechthild Rawert [SPD])



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1819107200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die Rede, die Frau Zimmermann eben ge-
halten hat, hätte man, denke ich, Anfang der 90er-Jahre
halten können, als es die Pflegeversicherung noch nicht
gab . Jetzt haben wir seit über 20 Jahren den großen Se-
gen einer Pflegeversicherung. Wir haben in dieser Legis-
laturperiode durch unsere bisherige Gesetzgebung die
größte finanzielle Veränderung herbeigeführt, die es in
Deutschland jemals in der Sozialversicherung gegeben
hat . Ich denke, das muss man auch einmal anerkennen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben auch ein großes Defizit hinterlassen! Das muss man auch mal sagen! Ich sage nur: SchwarzGelb!)


Wir haben die Leistungen deutlich verbessert . Wir ha-
ben sie flexibler gemacht. Wir haben Pflegebedürftigkeit
neu definiert. Wir haben Demenzkranke gleichgestellt,
eine große Gerechtigkeitslücke beseitigt und all denen
Bestandsschutz zugesichert, die heute schon pflegebe-
dürftig sind, sodass also niemand schlechtergestellt wird,
aber sehr viele deutlich bessergestellt werden .

Ich denke, wir sind dabei auf einem guten Weg, und
ich möchte, bevor ich in die Details des PSG III einstei-
ge, noch ein Bekenntnis zu den Gesundheitsberufen ab-
geben . Wir stehen hinter der Modellklausel .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Zehn Jahre weiter Modell!)


Wir wollen die Gesundheitsberufe stärken . Ich bin der
festen Überzeugung – und meine Fraktion mit mir –, dass
Kern einer guten Gesundheitsversorgung in der Zukunft
eine gute Vernetzung von Kompetenzen ist . Deshalb
wollen wir die Gesundheitsberufe stärken, und wir ver-
trauen auch auf ihre Kompetenzen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Pflegeberufereform!)


Das PSG II beinhaltet bereits Beratungsaufträge für
die Kassen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eines

PSG III übertragen wir den Kommunen zusätzliche Bera-
tungsaufgaben, indem wir die Ergebnisse der Bund-Län-
der-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Rolle der Kommunen
in der Pflege umsetzen. Zusammen mit den Flexibilisie-
rungen, die wir mit dem PSG I und dem PSG II bereits
geschaffen haben, werden die zusätzlichen Angebote der
Kommunen – hier denke ich an eine gute Vernetzung mit
den Seniorenbeiräten, mit der Altenhilfe, mit den Mehr-
generationenhäusern und den Pflegestützpunkten – eine
aufsuchende und umfassende Beratung für Pflegebedürf-
tige und deren Familien sicherstellen .

Auf diese Weise kann in jedem einzelnen Fall ein in-
dividuelles Paket geschnürt werden, das optimal auf die
Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und deren Familien
zugeschnitten ist . Damit tragen wir zugleich dazu bei,
pflegebedürftigen Menschen so lange wie irgend mög-
lich ihre vertraute Umgebung zu erhalten . Ausdrücklich
begrüße ich auch die zusätzlichen Anreize für niedrig-
schwellige Betreuungs- und Entlastungsleistungen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein klares Wort zu Fragen der Qualitätskontrollen: Sie
dürfen nicht zum Schaden der Pflegeversicherung verhin-
dert werden. Wer Leistungen aus der sozialen Pflegever-
sicherung erhält, muss bereit sein, die erbrachten Leis-
tungen auf ihre Qualität hin überprüfen zu lassen . Wer
solchen Überprüfungen nicht zustimmt, hat sein Recht
verwirkt, Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung
zu erhalten. Wir verschärfen die Kontrollen, damit Pfle-
gebedürftige, ihre Familien und die Pflegekräfte besser
vor betrügerischen Pflegediensten geschützt werden.

Im weiteren Verfahren werden wir ferner darauf zu
achten haben, dass sich die kommunalen Haushalte nicht
zulasten der Pflegeversicherung ihrer Aufgaben aus der
Eingliederungshilfe entledigen . Die Beitragsgelder der
Versicherten sind für gute Pflege gedacht und für nichts
anderes, sie sind nicht dazu da, die kommunalen Haus-
halte zu entlasten . Deshalb bestehen wir auf eindeutigen
Abgrenzungsregelungen an den Schnittstellen zwischen
Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe.

Mit Blick auf die drei Pflegestärkungsgesetze soll nicht
unerwähnt bleiben, dass wir bei allen Gesundheitsgeset-
zen in dieser Legislaturperiode flankierende Regelungen
getroffen haben, um die Pflegelandschaft insgesamt zu
verbessern und rundzuerneuern . Ich erinnere hier an den
Bürokratieabbau, den Pflege­TÜV, die Medikamentensi-
cherheit oder an das Palliativ- und Hospizgesetz .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Durch das E-Health-Gesetz haben gerade Senioren
und Pflegebedürftige ab dem 1. Oktober, also in wenigen
Tagen, einen verbrieften Anspruch auf einen einheitli-
chen Medikationsplan .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst einmal haben die Ärzte einen Anspruch auf zusätzliches Honorar!)


Die Menschen in Deutschland haben Zugang zu einer
spürbar besseren Hospizarbeit und einer flächendecken-
den Palliativversorgung . Wir halten unsere Versprechen
aus dem Koalitionsvertrag ein .

Elisabeth Scharfenberg






(A) (C)



(B) (D)


Mit den gesetzlichen Neuregelungen in Sachen Heil-
und Hilfsmittel stellen wir sicher, dass Pflegebedürftige
Anspruch auf eine anständige Versorgung haben und
nicht länger der schlechten Qualität von Windeln und
Rollstühlen ausgesetzt sind .

Wir haben in der Koalition zu Beginn der Legislatur-
periode mehr Qualität, mehr Geld, mehr Betreuung und
mehr Hände für gute Pflege in unserem Land verspro-
chen, und wir halten Wort .


(Mechthild Rawert [SPD]: Und mehr Verstand!)


Ich wiederhole meine bereits früher getroffenen Fest-
stellungen, dass wir in dieser Legislaturperiode mit allen
Gesetzen im Gesundheitsbereich den Versuch unternom-
men haben – der uns auch gelungen ist –, eine Runder-
neuerung der Pflege sicherzustellen. Das ist eine große
Kraftanstrengung gewesen. Ich finde, darauf können wir
stolz sein; denn es handelt sich über 20 Jahre nach der
Einführung bei dem Gesamtpaket, das wir abgeliefert
haben, um nichts Geringeres als einen Quantensprung
in der sozialen Pflegeversicherung. Ich danke hier auch
dem Ministerium – und ganz besonders der Frau Staats-
sekretärin Ingrid Fischbach –, dass es diesen Quanten-
sprung sozusagen auf den Weg gebracht hat .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819107300

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Heike

Baehrens für die SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Heike Baehrens (SPD):
Rede ID: ID1819107400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Seit Einführung der Pflegeversicherung hat es schon ei-
nige Gesetze zur Änderung und Weiterentwicklung gege-
ben; aber eine so umfassende Reform mit drei Gesetzen
zur Stärkung der Pflege in drei Jahren auf den Weg ge-
bracht zu haben, ist einzigartig .


(Beifall bei der SPD)


Das ist gut für diejenigen, die auf Pflege und Zuwendung
angewiesen sind, und diejenigen, die pflegen. Und es ist
gut für alle, denen eine würdevolle Pflege und Versor-
gung ein Herzensanliegen ist . Es unterstreicht, dass es
dieser Koalition mit der konsequenten Verbesserung der
Rahmenbedingungen in der Pflege ernst ist.


(Beifall bei der SPD)


Umso trauriger ist es, dass wir mit dem heutigen Ge-
setz Regelungen verschärfen müssen, um schwarzen
Schafen im Gesundheitswesen den Boden zu entzie-
hen . Was vor einigen Monaten als Abrechnungsbetrug
in der Pflege durch die Medien ging, hat sich als Form
organisierter Kriminalität entpuppt, an der mehrere un-
lautere Partner beteiligt sind: einzelne Pflegedienste,
intensivpflegebedürftige Patienten, Familienangehörige
und sogar Ärzte . Das zeigt, dass wir mit dem kürzlich in
Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Korruption

im Gesundheitswesen einen richtigen Schritt gegangen
sind . Mit den heute vorliegenden Regelungen machen
wir einen weiteren Schritt, um Missbrauch und Betrug
im konkreten Fall schneller aufdecken und konsequent
verfolgen zu können .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zukünftig werden auch jene Pflegedienste regelmäßig
geprüft, die ausschließlich Leistungen der häuslichen
Krankenpflege erbringen. Wir werden als SPD besonders
darauf achten, ob die neuen Regelungen zielgenau die-
jenigen treffen, die sich auf Kosten anderer bereichern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die allermeisten der rund 13 000 Pflegedienste in unse-
rem Land leisten nämlich eine sehr gute Arbeit . Und es
kann nicht sein, dass einige schwarze Schafe dafür sor-
gen, dass allen mit Misstrauen begegnet wird .


(Beifall bei der SPD)


Im Gesundheitsausschuss haben wir uns am Mittwoch
von Vertretern des Bundeskriminalamtes und der Staats-
anwaltschaft sowie einem Berliner Sozialstadtrat berich-
ten lassen . Dabei ist klar geworden, dass weitergehende
Konsequenzen zu ziehen sind . Denn wer sich an krimi-
nellen Machenschaften beteiligt, die auch zu einer Ge-
fährdung von Leib und Leben führen können, dem muss
der Versorgungsvertrag mit Kranken­ und Pflegekassen
und dauerhaft auch die Gewerbezulassung entzogen wer-
den .

Meine Damen und Herren, parallel zum Dritten Pfle-
gestärkungsgesetz beraten wir im Deutschen Bundestag
auch über die große Reform der Eingliederungshilfe für
Menschen mit Behinderungen, also das sogenannte Bun-
desteilhabegesetz . Es ist gut, dass beide Gesetze prak-
tisch zeitgleich beraten werden; denn mit dem neuen
Pflegebegriff, der noch mehr als bisher auf Selbstbestim-
mung und Teilhabe zielt, entstehen neue Abgrenzungs-
fragen . So müssen Regelungen, die Menschen mit Leis-
tungsansprüchen aus beiden Gesetzbüchern betreffen,
gut aufeinander abgestimmt werden . Dass dieses Thema
Zündstoff enthält, bekommen wir gerade durch so man-
che Briefe und Stellungnahmen übermittelt . So wird in
unserer Fraktion längst intensiv nach Lösungen gesucht .
Leistungen der Pflegeversicherung und teilhabeorientier-
te Leistungen der Eingliederungshilfe dürfen nicht ge-
geneinander ausgespielt werden .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Erwin Rüddel [CDU/CSU])


Denn erklärtes Ziel des Bundesteilhabegesetzes ist es,
dass es für Menschen mit Behinderungen nicht zu Leis-
tungseinschränkungen kommen darf . Dafür werden wir
als SPD uns starkmachen . Ich bin sicher, dass wir da gute
und tragfähige Lösungen finden werden.


(Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da habt ihr noch viel zu tun!)


Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf die
Unkenrufe der Opposition eingehen . Mit der umfassen-

Erwin Rüddel






(A) (C)



(B) (D)


den Reform in drei Schritten und der noch anstehenden
Pflegeberufereform setzen wir Maßstäbe für die Pflege
in Deutschland. Wir laden alle ein, die sich in der Pflege
engagieren: Lasst uns gemeinsam die Zukunft der Pflege
gestalten .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das wird auch nötig sein!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819107500

Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Ausspra-

che hat Erich Irlstorfer von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1819107600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als letzter Redner in dieser Debatte muss ich feststel-
len, dass sich Opposition und Koalition in vielen Din-
gen einig sind . Ich glaube, wir sind uns vor allem darin
einig, dass es in dieser Legislaturperiode viele Verbes-
serungen für pflegebedürftige Menschen, für ihre An-
gehörigen, aber auch für die Pflegekräfte gegeben hat.
Ich glaube auch, dass wir uns einig sind, dass wir mit
dem Ersten Pflegestärkungsgesetz die Leistungen der
Pflegeversicherung deutlich ausgeweitet und noch pass-
genauer gemacht haben und dass wir mit dem Zweiten
Pflegestärkungsgesetz, dessen Kernstück der neue Pfle-
gebedürftigkeitsbegriff war, gute und richtige Dinge auf
den Weg gebracht haben . Mit dem Entwurf eines Dritten
Pflegestärkungsgesetzes, welches wir hier diskutieren,
führen wir den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff nun
auch in die Sozialhilfe ein . Damit stellen wir sicher, dass
künftig auch finanziell schlechtergestellte Menschen
pflegerische Leistungen nach diesen verbesserten Rege-
lungen erhalten . Diese Ausweitung ist alles andere als
trivial; vielmehr stellt sie eine weitreichende sozialpoliti-
sche Errungenschaft dar .

Wir haben schon vom Abrechnungsbetrug gespro-
chen; ich möchte das nicht alles wiederholen . Neu in die-
sem Gesetzentwurf ist, dass ein Recht zur systematischen
Prüfung durch die Krankenkassen auch im Bereich der
häuslichen Krankenpflege gegeben ist. Der Medizini-
sche Dienst der Krankenkassen kann und soll auch hier
künftig regelmäßig die Qualität und die Abrechnungen
von Leistungserbringern kontrollieren . Damit stellen wir
sicher, dass die Beitragsgelder der Versicherten dort an-
kommen, wo sie hingehören . Schließlich sind wir kein
Selbstbedienungsladen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Für mich sind hier noch drei weitere Punkte beden-
kenswert .

Erstens . Das Prüfrecht darf nicht einfach dadurch
unterwandert werden können, dass Betroffene dazu ge-
bracht werden, die Einwilligung zur Datenweitergabe zu
verweigern .

Zweitens . Wir sollten darüber nachdenken, ob wir
nicht vielleicht sogar ein in gleicher Weise gestaltetes
Recht zur Prüfung durch die Träger der Sozialhilfe er-
möglichen .

Drittens . Die Zulassungsvoraussetzungen für die
Gründung von Pflegediensten müssen wir hier verschär-
fen . Ich möchte dem schon jetzt entgegnen, dass man
hier gleich wieder sagt, das, was wir da vorhätten, sei
schädlich für Investitionen und Innovationen . Ich kann
Ihnen nur eins sagen: Es ist einfach unanständig, wenn
Betreiber, denen bereits einschlägige Betrugsdelikte
nachgewiesen wurden, einfach unter einem anderen Na-
men hier wieder Dienste anbieten . Das ist ein Etiketten-
schwindel, und den bekämpfen wir .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ein weiteres Anliegen dieses Gesetzentwurfs ist es,
die Pflegeberatung in Deutschland noch besser verfüg-
bar zu machen . Frau Scharfenberg hat ausgeführt, dass
hierbei die Kommunen unsere Spezialisten vor Ort sind;
das sehen wir genauso . Einen Anfang machen wir mit
60 Modellkommunen . Das Ganze wird ordentlich eva-
luiert, und dann sehen wir auf jeden Fall weiter . Wichtig
ist, dass sich die Länder in diesen Evaluierungsprozess
einbringen, dass man diese Möglichkeiten nutzt . Wir
werden sehen, inwieweit echte Verbesserungen bei der
Beratung der Betroffenen eintreten.

Von Betroffenen sowie von verschiedenen Organisati-
onen und Verbänden wurde ich auch auf Befürchtungen
aufmerksam gemacht, der heute diskutierte Gesetzent-
wurf führe im Verbund mit dem Bundesteilhabegesetz
zu Nachteilen an den Schnittstellen zwischen Pflegever-
sicherung, Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe. Die-
se Hinweise nehmen wir sehr ernst . Laut Gesetzentwurf
sollen die Leistungen der Pflegeversicherung im häusli-
chen Bereich den Eingliederungsleistungen vorgehen, es
sei denn – das ist wichtig –, bei der Leistungserbringung
steht die Erfüllung von Aufgaben der Eingliederungshil-
fe im Vordergrund . Im weiteren gesetzgeberischen Ver-
fahren wird zu klären sein, ob der Blick auf das Ziel der
pflegerischen Leistung – Eingliederung oder Pflege – ein
ausreichendes Unterscheidungsmerkmal darstellt .

Entscheidend ist für mich in diesem Zusammenhang –
das möchte ich zum Schluss noch einmal klar zum Aus-
druck bringen – folgender Gedanke: Wir regeln, dass die
betroffenen Menschen, also die Leistungsempfänger, kei-
nen eigenen Abstimmungsaufwand zu betreiben haben .
Die Abstimmungen zwischen der Pflegeversicherung
und den Sozialhilfeträgern werden gewissermaßen ge-
räuschlos ablaufen müssen, sozusagen hinter den Kulis-
sen, was aber nichts mit mangelnder Transparenz zu tun
hat; das möchte ich sofort in Richtung Opposition sagen .
Neben der verbesserten Beratung ist es für Pflegebedürf-
tige und ihre Angehörigen entscheidend, dass sie bei der
Beantragung keinem übermäßigen bürokratischen Mehr-
aufwand ausgesetzt sind .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Mechthild Rawert [SPD]: Genau! Beratung aus einer Hand!)


Heike Baehrens






(A) (C)



(B) (D)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke,
mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz machen wir heute
vor allem einen Schritt in die richtige Richtung . Ich freue
mich auf konstruktive Diskussionen mit den Pflegebe-
dürftigen, aber auch mit den Menschen mit Behinderung
und mit all denjenigen, die ein Interesse daran haben,
dass wir Verbesserungen schaffen.

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819107700

Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich

schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/9518, 18/8725 und 18/9668 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Deutsches Engagement beim Einsatz von Po-
lizistinnen und Polizisten in internationalen
Friedensmissionen stärken und ausbauen

Drucksache 18/9662

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .

Wenn die Kolleginnen und Kollegen sich gesetzt ha-
ben, können wir mit der Aussprache beginnen .

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Anita Schäfer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1819107800

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag wird
eine Debatte zum Abschluss gebracht, die uns schon in
der vergangenen Legislaturperiode beschäftigt hat . Aus
meiner Sicht ist es erfreulich, dass sich die CDU/CSU
mit der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf den ge-
meinsamen Text einigen konnte . Gerade unter dem Ein-
druck von weltweit 65 Millionen Flüchtlingen kann uns
allen die Entwicklung in anderen Ländern nicht egal sein,
vor allem, wenn eine Vielzahl instabiler Staaten vor un-
serer Haustür liegt . Welche Sprengkraft die Wanderungs-
und Fluchtbewegungen haben, mussten wir in der EU in
den vergangenen Monaten leider erleben . Und die Zahl
der Flüchtlinge wird sicherlich in den kommenden Jah-
ren nicht weniger werden . Mauern werden die Menschen
nicht von der Flucht abhalten . Wir müssen in den Hei-
matländern ansetzen und die Fluchtursachen bekämpfen .

Meine Damen und Herren, für die friedliche und wirt-
schaftlich positive Entwicklung eines Landes und damit
für eine Bekämpfung von Fluchtursachen ist die Rechts-

staatlichkeit von entscheidender Bedeutung . Dabei spielt
insbesondere eine gut ausgebildete Polizei eine wichtige
Rolle . Dies konnte ich unter anderem als Vorsitzende der
Parlamentariergruppe Östliches Afrika bei meinen diver-
sen Besuchen in afrikanischen Ländern immer wieder
feststellen . Gerade deutsche Polizisten mit ihrem rechts-
staatlichen Selbstverständnis und ihren Erfahrungen in
einem föderalen Staatssystem können im Rahmen von
EU- und UNO-Einsätzen einen wichtigen Beitrag für
eine Entwicklung von Staaten im Sinne eines demokrati-
schen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens leisten .

Deutschland genießt in der internationalen Zusam-
men- und Aufbauarbeit ja bereits ein hohes Ansehen .
Und das haben wir nicht zuletzt unseren Polizeibeamten
zu verdanken, die sich über ihren Kernauftrag in der in-
neren Sicherheit hinaus für internationale Einsätze ent-
scheiden, die nicht immer ungefährlich sind . Damit das
aber den gewünschten langfristigen Erfolg hat, bedarf es
aus meiner Sicht nicht nur einer guten Vorbereitung im
Einsatzland und der uneingeschränkten Unterstützung
unserer Polizeikräfte durch die dortige Regierung, son-
dern ebenso wichtig sind auch Ausbildungsstrukturen
und ein positives politisches Klima für die Vorbereitung
in Deutschland, damit die Polizisten guten Gewissens in
den Einsatz gehen können . Damit befasst sich auch der
vorliegende Antrag . Auf einige dieser Aspekte möchte
ich gern näher eingehen .

Grundlage eines jeden erfolgreichen Auslandseinsat-
zes ist eine exzellente, allumfassende Ausbildung . Dabei
ist das polizeiliche Handwerkszeug eine Selbstverständ-
lichkeit . Weitaus wichtiger aber dürften sprachliche und
interkulturelle Kompetenzen sein . Dabei gilt es auch, aus
den Erfahrungen von anderen Ländern, vor allem aber
aus den Erfahrungen, die Beamte in vergangenen Ein-
sätzen gemacht haben, zu lernen und darauf aufzubau-
en . Daher ist es begrüßenswert, wenn es zur Einrichtung
eines Fachgebiets für internationale Polizeimissionen an
der Deutschen Hochschule der Polizei kommt . Damit
wären die Auswertung von Einsatzerfahrung, Forschung
und Ausbildung zentral an einem Ort vereint .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg . Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In diesem Zusammenhang wäre es sicher nicht falsch,
wenn es auch zu einem Erfahrungsaustausch mit der
Bundeswehr kommen würde . Die Universitäten und
Fachschulen der Bundeswehr wären sicher ein guter An-
sprechpartner .

Ein weiterer wichtiger Aspekt – gerade auch aufgrund
der Erfahrungen mit Auslandseinsätzen der Bundes-
wehr – ist das Thema Nachsorge . Trotz noch so guter
Ausbildung können Polizisten im Einsatz körperliche
Verwundungen und Verletzungen davontragen oder Er-
fahrungen im Einsatzland machen, die sie nicht so ein-
fach wegstecken können . Als Stichwort möchte ich hier
nur posttraumatische Belastungsstörungen nennen . Als
Mitglied des Verteidigungsausschusses weiß ich, welche
Probleme wir gerade in diesem Bereich hatten und zum
Teil noch haben . Hier gilt es anzusetzen und ähnliche Lö-
sungen wie bei der Bundeswehr zu finden.

Erich Irlstorfer






(A) (C)



(B) (D)


Uns allen muss klar sein: Polizisten gehen freiwillig
in den Auslandseinsatz . Und ich kann mir nicht vorstel-
len, dass wir auf Dauer Freiwillige finden, wenn es hier
Versorgungslücken gibt . Auch in dieser Hinsicht ist der
Antrag in seiner Forderung nach einer noch besseren
Nachsorge erfreulicherweise eindeutig .

Aber wir sollten nicht nur mögliche Probleme besei-
tigen . Vielmehr sollte ein Engagement in Auslandsein-
sätzen aktiv gefördert werden, indem man Vorteile, etwa
bei Beförderungen, erlangt; denn die Beamten nehmen ja
damit erhebliche Belastungen in Kauf . All das sollte auch
im Interesse der Bundesländer sein, aus deren Polizeien
ein großer Teil dieser Beamten kommt .

Es wäre daher gut, wenn Bund und alle Bundesländer
hier im Sinne der gemeinsamen Aufgabe an einem Strang
zögen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Zwischen beiden Seiten gibt es bereits eine intensive
Zusammenarbeit, ohne die solche komplexen und in der
Vorbereitung sehr aufwendigen Missionen überhaupt
nicht durchzuführen wären . Unser gemeinsamer Antrag
stellt nach meiner Überzeugung eine gute Grundlage für
die weitere Verbesserung dar .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem nun zur
Abstimmung stehenden Antrag werden wir sicherlich
einen großen Schritt machen, um die zivile Unterstüt-
zung von fragilen Staaten durch deutsche Polizisten auf
ein gutes Fundament zu stellen . Ich würde es begrüßen,
wenn ihm das gesamte Haus zustimmen könnte, damit
Bund und Länder mit der Umsetzung der angedachten
Maßnahmen umgehend beginnen können .

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819107900

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion

Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819108000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um hier

gleich Missverständnisse zu vermeiden: Die Linke lehnt
internationale Polizeimissionen und bilaterale Einsätze
nicht per se ab .


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahnsinn! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


– Klatschen Sie nicht zu früh . – Natürlich wollen auch
wir, dass im Ausland Straftaten effektiv verfolgt werden
können, sich Polizisten menschenrechtskonform verhal-
ten . Aber – das sage ich an alle Fraktionen, die diesen
Antrag im Hause mitunterzeichnet haben; es waren alle
außer die Linke –: Ihrem Antrag fehlt die klare Ansage,

dass Regime, die systematisch Menschenrechte verlet-
zen, von deutschen Polizisten künftig keine Unterstüt-
zung mehr zu erwarten haben .


(Beifall bei der LINKEN)


Weil Sie hier von sogenannten Friedensmissionen
reden, will ich eines gleich klarstellen: Es geht in dem
vorliegenden Antrag um die Durchsetzung außenpoliti-
scher Interessen Deutschlands mithilfe von Polizistinnen
und Polizisten . Es geht darum, Bundeswehreinsätze im
Ausland noch umfangreicher mittels Polizeieinsätze zu
ergänzen . Da verlieren Sie kein Wort über Menschen-
rechte, schon gar nicht über die Befugnisse, die der Bun-
destag in diesem Zusammenhang hat . Deswegen wird die
Linke diesen Antrag ablehnen .


(Beifall bei der LINKEN)


Sie führen im Antrag aus, eine gut ausgebildete Poli-
zei sei ein wichtiger Garant für Rechtsstaatlichkeit . Aber
das ist nur die Hälfte der Wahrheit . Immer wieder stehen
Auslandseinsätze der Polizei im Dienste von Diktatoren
und tragen zum Aufbau der Festung Europa bei . Ich darf
Sie zum Beispiel daran erinnern: Seit 2009 sind Bundes-
polizisten in Saudi-Arabien . Während der Rüstungskon-
zern EADS ein Milliardengeschäft mit dem Aufbau von
Grenzanlagen macht, bilden Bundespolizisten den dor-
tigen Grenzschutz aus . Falls Sie es nicht mitbekommen
haben: Saudi-Arabien ist eine feudale Diktatur, in der
Regimekritiker ausgepeitscht oder sogar geköpft werden .
Im Krieg im Jemen werfen saudische Truppen blindlings
Bomben, und einem solchen Regime helfen deutsche Po-
lizisten; sie vermitteln den dortigen Sicherheitskräften
den sicheren Umgang mit dem Sturmgewehr G3 . Das ist
doch echt ein Skandal .


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen fordert die Linke, diesen schändlichen Einsatz
wirklich sofort zu beenden .


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch in Afghanistan gibt es eine Polizeimission . Fak-
tisch leisten dort deutsche Polizisten einen Beitrag zum
Bürgerkrieg; denn die wichtigste Aufgabe afghanischer
Polizisten ist es, als Kanonenfutter im Kampf gegen die
Taliban zu dienen .


(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ach, so ein Blödsinn! Große Unkenntnis!)


Unsere regelmäßigen Quartalsanfragen an die Bun-
desregierung zeigen, dass es häufig um Hilfe für Grenz-
schützer geht, insbesondere auf dem Balkan, aber auch
in Nordafrika . Dort wird der Grenzschutz ausgebildet
und technisch aufgerüstet, um Flüchtlinge an der Flucht
nach Europa zu hindern . Ich muss vor diesem Hinter-
grund sagen, dass ich überhaupt nicht verstehe, warum
die Grünen bei diesem Antrag mitmachen. Ich finde, das
ist wirklich ein Armutszeugnis für eine Partei, die sich
hier eigentlich immer sehr flüchtlingsfreundlich gibt. Es
tut mir echt leid, aber das finde ich unmöglich.


(Beifall bei der LINKEN)


Anita Schäfer (Saalstadt)







(A) (C)



(B) (D)


Ich will einen weiteren Punkt ansprechen . Sie fordern,
dass die Polizeieinsätze noch mehr zum Mittel der Au-
ßenpolitik werden, aber Sie wollen kein Mitspracherecht
des Bundestages .


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Wir fordern doch genau das Gegenteil!)


Die Linke hat hierzu schon vor Jahren den Antrag ein-
gebracht, dass der Bundestag mitentscheiden soll, wenn
bewaffnete Polizisten in die Welt geschickt werden – ge-
nauso wie bei Soldaten .

Es geht hier, wie gesagt, vor allen Dingen um Bür-
gerkriegsszenarien wie in Afghanistan, aber auch um
Kumpanei mit diktatorischen Regimen . Ich will an die-
ser Stelle nebenbei die Türkei nennen, auch wenn ich
das jetzt nicht weiter ausführen kann . Wenn hier in al-
ler Stille solche Einsätze durchgewinkt werden – wie es
ja zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Einsatz in
Saudi-Arabien geschehen ist –, dann können wir da nicht
mitmachen .


(Beifall der Abg . Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Sie sagen in Ihrem Antrag, dass Sie einmal im Jahr
eine Unterrichtung wünschen . Damit fallen Sie hinter die
Position der Gewerkschaft der Polizei zurück, die ganz
klar und zu Recht einen Parlamentsvorbehalt für solche
Einsätze fordert .


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss will ich noch einmal ganz klar die For-
derungen der Linken nennen: Es müssen bei solchen Po-
lizeieinsätzen ein Menschenrechtsvorbehalt, ein strikter
ziviler Charakter und eine effektive Mitsprache des Bun-
destages gewährleistet sein . Das muss die Messlatte für
solche Polizeieinsätze sein . Nichts anderes kann in einer
demokratischen Gesellschaft funktionieren .

Danke schön .


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819108100

Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819108200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Am 1 . Juni, also vor knapp vier Monaten, fand
im Auswärtigen Amt eine wirklich großartige Veranstal-
tung statt . Ich hätte mir gewünscht, liebe Frau Jelpke,
dass Sie an dieser großartigen Veranstaltung teilgenom-
men hätten . Auf dieser Veranstaltung haben wir nämlich
neun Menschen, Polizistinnen und Polizisten, Entwick-
lungshelfer und Juristen, für ihr ganz besonderes Frie-
densengagement ausgezeichnet und geehrt . Wir haben
sie stellvertretend für 4 500 Deutsche ausgezeichnet, die
sich in den Krisenregionen dieser Welt, oft unter Gefähr-
dung ihres eigenen Lebens, einsetzen, engagieren und
dafür arbeiten, dass Konflikte beigelegt und nicht mit Ge-
walt ausgetragen werden, dass Rechtsstaatlichkeit entwi-

ckelt und durchgesetzt wird . Sie setzen sich außerdem
für bessere soziale und wirtschaftliche Bedingungen ein .
Liebe Frau Jelpke, wenn Sie die Berichte dieser Men-
schen gehört hätten, dann hätten Sie heute etwas anderes
gesagt . Ich bitte Sie, den Menschen einmal zuzuhören,
dann wüssten Sie, dass diese Menschen unter härtesten
Bedingungen mit ungeheurem Mut, mit ungeheurem En-
gagement und mit wahnsinnig viel Geduld und Beharr-
lichkeit ihre Arbeit leisten .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das bestreitet doch gar keiner!)


Darunter sind eben auch viele Polizistinnen und Polizis-
ten. Ich finde, sie alle haben unsere Anerkennung und
unseren Dank verdient .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie leisten nämlich eine ungeheuer wichtige Arbeit für
die Menschen in den Krisenregionen, für den Aufbau
und die Entwicklung einer hoffentlich dauerhaften Zivil-
gesellschaft .


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wie in Saudi-Arabien!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe mich bei
Ihrer Rede, Frau Jelpke, wirklich gefragt: Wie wollen Sie
Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Schutz durchsetzen,
wenn Sie keine gut ausgebildete Polizei in den betreffen-
den Ländern haben?


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: In Saudi-Arabien? Wie wollen Sie denn in Saudi-Arabien Menschenrechte durchsetzen?)


In Mali, in Somalia, im Südsudan oder in Teilen der
Ukraine zeigt sich doch überall ein vergleichbares Bild:
Die staatlichen Strukturen sind verfallen,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und woran liegt das?)


unterschiedliche Gruppierungen kämpfen wirklich mit
allen Mitteln der Macht um Privilegien und Besitz,
Amtsmissbrauch und organisierte Kriminalität sind an
der Tagesordnung. In diesen Ländern ist es häufig so,
dass mächtige Clans ihre jeweiligen Regionen im wahrs-
ten Sinne des Wortes ausplündern . Um die Rechte von
Menschen kümmern sie sich überhaupt nicht . Das führt
dazu, dass Sicherheit zu einem Privileg für ganz wenige
wird; wenn sie überhaupt noch existiert .

Es zeigt sich immer deutlicher – auch das kann man
doch nicht verkennen –, dass die vielfältigen Konflikte
und innerstaatlichen Auseinandersetzungen sich nicht al-
lein mit militärischen Mitteln lösen lassen; da werden Sie
mir wahrscheinlich zustimmen . Das geht nicht . Soldaten
können einen Waffenstillstand erzwingen, sie können
manchmal auch Volksgruppen schützen – das ist wich-
tig –, aber sie können keinen Frieden schaffen, und das
wissen die Soldaten selbst am besten .

Die Wiederherstellung staatlicher Strukturen, die
Schaffung von Rechtsstaatlichkeit, gutes Regieren, das
ist doch das, worüber wir hier reden . Die Etablierung
von Zivilgesellschaften, der Schutz von Frauen und Kin-

Ulla Jelpke






(A) (C)



(B) (D)


dern, die Wiederherstellung von Sicherheit und die nach-
haltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen
Lebensbedingungen, das bedarf eben vielfältiger ziviler
Anstrengungen .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Sagen Sie doch einmal, wo Sie das geschafft haben! Wo haben Sie das geschafft?)


Dazu gehört die Polizei, aber das wird sie nicht alleine
leisten können . Deshalb unterstützen wir auch andere
Gruppierungen .


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Auch Diktatoren! Das ist das Problem!)


Der Polizei, und zwar einer funktionierenden, dem
Gesetz und dem Rechtsstaat verpflichteten Polizei und
nicht einer einzelnen Machthabern verpflichteten Polizei,
kommt eine ganz wichtige Bedeutung zu . Die Menschen
können nämlich nur solchen Polizeiorganen wieder ver-
trauen, und das tun sie . Nur so ist es möglich, Korrupti-
on und organisierte Kriminalität effektiv zu bekämpfen.
Dem kommt eine Schlüsselrolle zu . Es geht also nicht
darum, dass Polizei militärische Aufgaben übernimmt –
das kann sie nicht, das soll sie auch nicht –, sondern es
geht darum, Sicherheit in einem umfassenden Sinne für
die Zivilbevölkerung zu schaffen und Rechtsstaatlichkeit
herzustellen .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ausbildung am Sturmgewehr 3?)


Sie haben in der Debatte das Beispiel Saudi-Arabi-
en gebracht . Ich bitte Sie, unseren vorliegenden Antrag
einmal zu lesen . Hätten Sie es getan, dann wüssten Sie,
dass wir vorschlagen, dass wir uns in Zukunft jährlich
umfassend über die Art der Einsätze berichten lassen und
dass wir darüber hier an prominenter Stelle im Deutschen
Bundestag diskutieren. Ich finde, genau das ist überfällig.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: „Berichten lassen“! Sie haben doch Beispiele genug!)


Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie den Antrag unter-
stützen, Frau Jelpke, und hier nicht so destruktiv einfach
Nein sagen . Dann müssen Sie ihn unterstützen und sa-
gen: Ja, genau diese Diskussion wollen wir im Bundestag
führen . – Genau das wollen wir .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie wollen sich berichten lassen!)


Die deutsche Polizei – Frau Schäfer hat das vorhin
gesagt – genießt international ein großes Ansehen . Das
hat Gründe: Die Polizistinnen und Polizisten – das erle-
ben wir immer wieder, wenn wir vor Ort sind – sind her-
vorragend ausgebildet und bestens vorbereitet . Das sind
Stärken, die in den Ländern, in die wir Polizistinnen und
Polizisten entsenden, außerordentlich geschätzt werden .
Darüber hinaus ist die deutsche Polizei – das habe ich
vorhin schon gesagt; ich glaube, das ist ein ganz wichti-
ger Punkt – aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihrer
gesellschaftlichen Einbindung – sie versteht sich nämlich
als Vertreter eines demokratischen Rechtsstaats und be-
greift sich nicht als Durchsetzer von Gewalt – in einer

ganz besonderen Art und Weise geeignet, einen wichti-
gen Beitrag zu einer inklusiven Entwicklung in diesen
Krisenländern zu leisten .

Auch die wirksame Bekämpfung von Korruption, or-
ganisierter Kriminalität und Terrorismus ist zwingend
verbunden mit Rechtsstaatlichkeit, mit der Schaffung
und Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und damit einer
gut arbeitenden Polizei und Justiz . Die Nachfrage nach
Spezialisten – das erleben wir in Gesprächen immer wie-
der –, zum Beispiel nach Forensikern oder Spezialisten
für Datensicherheit oder für die Bekämpfung von organi-
sierter Kriminalität und Korruption, ist gerade in diesen
Ländern ganz besonders groß, und sie wird wahrschein-
lich auch nicht abnehmen .

Wenn einige immer noch fragen – das könnte ja
sein –: „Warum entsenden wir deutsche Polizei in diese
Länder?“, dann sage ich, dass organisierte Kriminalität,
Waffen­ und Drogenschmuggel und Menschenhandel in-
zwischen nicht mehr auf einen Staat begrenzt sind . Die
Gruppen, die das tun, sind international vernetzt, und wir
können sie nur international bekämpfen . Mit diesen Ein-
sätzen helfen wir diesen Ländern; wir helfen auch uns
selbst – das stimmt –, aber wir helfen vor allem diesen
Ländern .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kurz gesagt: Die Männer und Frauen, die wir gemein-
sam am 1 . Juni 2016 geehrt haben, leisten wirklich etwas
Großartiges . Aber ich glaube, wir sind uns alle einig, dass
es nicht ausreicht, die Polizistinnen und Polizisten einmal
im Jahr für ihre Leistungen auszuzeichnen und deutlich
zu machen, was hier geschafft wird, sondern es kommt
darauf an, dass wir die Rahmenbedingungen und Voraus-
setzungen für diese so wichtigen Einsätze noch weiter
verbessern . Ich bin deshalb sehr froh – ich möchte mich
an dieser Stelle bei den Kolleginnen und Kollegen aus
dem Innenausschuss und dem Auswärtigen Ausschuss
ausdrücklich bedanken –, dass wir gemeinsam einen An-
trag erarbeitet haben, der genau das zum Ziel hat .

Ich will nicht alle Punkte dieses Antrags ansprechen,
weil schon einige angesprochen worden sind . Einen
Punkt, der mir ganz besonders wichtig zu sein scheint,
will ich aber hervorheben: In einem Land wie unserem,
in einem föderalen Staat, gibt es einerseits eine klare Zu-
ständigkeit des Bundes für Außenpolitik, internationale
Organisationen und zwischenstaatliche Vereinbarungen
und andererseits eine klare Zuständigkeit der Länder für
die Polizei, bis auf die Bundespolizei . Hieraus ergeben
sich für die Entsendung deutscher Polizeikräfte, weil
ein großer Teil von der Landespolizei entsendet werden
muss und soll – auch in Zukunft –, einige strukturelle
Hürden im Dienstrecht . Sie haben auf das Versorgungs-
recht hingewiesen, auf die Nachsorge . Da haben wir ein
Problem . Deshalb sagen wir: Da wollen wir Angleichun-
gen . Wir wollen nicht zwei unterschiedliche Stufen ha-
ben . Wir wollen ein vergleichbares Recht herstellen, vor
allem auch hinsichtlich der Finanzierung . Solange der
vermehrte Einsatz von Polizistinnen und Polizisten im
Ausland angesichts einer unzureichenden Personalaus-

Edelgard Bulmahn






(A) (C)



(B) (D)


stattung im Inland, also in den Ländern selbst, mit einer
großen zusätzlichen Belastung für die Kolleginnen und
Kollegen vor Ort verbunden ist, wird es keine zufrie-
denstellenden Lösungen geben . Deshalb sagen wir: Der
Bund muss bei dem Auslandseinsatz deutscher Polizei-
kräfte eine deutlich größere Verantwortung übernehmen,
auch eine finanzielle Verantwortung, wenn wir unseren
internationalen Verpflichtungen besser gerecht werden
wollen .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir schlagen deshalb eine umfassende Bund-Län-
der-Vereinbarung vor, mit der die notwendigen dauer-
haften finanziellen Voraussetzungen erfüllt und die or-
ganisatorischen Strukturen geschaffen werden. In dieser
Vereinbarung soll neben der Bereitstellung ausreichen-
der finanzieller Mittel auch die Schaffung eines neuen
Finanzierungsmodells mit einem vom Bund finanzierten
virtuellen Personalpool – Planstellen aufseiten der Lan-
despolizei – geregelt werden . Wir wollen außerdem ge-
meinsame Entwicklungsformate und Inhalte erarbeiten
und entsprechende Änderungen im Dienstrecht zur Ge-
währleistung der Vergleichbarkeit, die Sie angesprochen
haben, vornehmen .

Ich will einmal auf das Beispiel Schweden verweisen .
Schweden entsendet 1 Prozent seiner Polizistinnen und
Polizisten ins Ausland, nicht jedes Jahr; Schweden hält
einen solchen Pool vor . Auf Deutschland übertragen hie-
ße das: 3 000 Polizistinnen und Polizisten . Die Kosten
für diesen Einsatz sollte unserer Auffassung nach ent-
sprechend seiner Zuständigkeit – für die Außenpolitik ist
der Bund zuständig – künftig der Bund übernehmen . Die
Kostenübernahme darf sich nicht allein auf die sogenann-
ten Mehrkosten für den Auslandseinsatz beziehen – das
ist nämlich das Hauptproblem –, sondern sie muss sich
auf die Vorhaltung dieses Personalpools insgesamt bezie-
hen . Nur so kommen wir endlich aus dem Zwiespalt, aus
der Zwickmühle heraus, die ich eben beschrieben habe .

Deshalb ist es ein ganz wichtiger Schritt, den wir hier
machen wollen . Wir wollen durch eine Vereinbarung ge-
nau das erreichen . Wir wollen sicherstellen, dass wir gut
qualifizierte, gut versorgte Polizistinnen und Polizisten
auf Länderebene in ausreichender Zahl haben, damit wir
das Ziel, das wir uns selbst gesetzt haben – wir wollen
nämlich bis zu 910 Polizistinnen und Polizisten, round-
about 1 000, zur Verfügung stellen –, erreichen . Wenn
man Vorsorge und Nachsorge dazunimmt, dann ist man
ungefähr bei einem Personalpool von 3 000 Stellen . Das
ist also keine fiktive Größe, sondern eine sehr realitäts-
nahe Größe .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen darü-
ber hinaus sicherstellen – das ist ein zweiter wichtiger
Vorschlag; ich möchte ihn nur kurz anreißen –, dass die
Erfahrungen, das Wissen, die Kompetenzen, die die Po-
lizistinnen und Polizisten bei ihren Auslandseinsätzen
gewinnen, nicht verloren gehen, sondern systematisch
ausgewertet werden, systematisch gesichert werden und
systematisch auch für die Weiterentwicklung der Kon-
zepte genutzt werden . Deshalb wollen wir – auch da
sind wir uns einig – ein Fachgebiet bei der Hochschule

der Polizei schaffen, mit der entsprechenden personellen
Unterstützung, damit die Wissens- und Kompetenzsi-
cherung auch wirklich dauerhaft stattfindet. Das ist ein
großer Wunsch der Polizistinnen und Polizisten, und ich
finde, da sind wir in der Pflicht. Das werden wir machen,
liebe Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden bei den Haushaltsberatungen einen ent-
sprechenden Antrag einbringen – das ist ein erster wichti-
ger Schritt –, und dann geht es in die Verhandlungen über
die Bund-Länder-Arbeitsgruppe .


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819108300

Frau Kollegin .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1819108400

Ich komme zum Schluss . – Liebe Kolleginnen und

Kollegen, wir können so gemeinsam dazu beitragen, den
berechtigten Wünschen und Anliegen der Polizistinnen
und Polizisten endlich gerecht zu werden . Ich weiß, dass
der Staatssekretär im Innenministerium und das Innen-
ministerium da gute Verbündete sind . Das werden wir
gemeinsam machen . Ich glaube, dass wir damit auch den
Ansprüchen, die wir an uns selbst haben, den Ansprü-
chen des Parlaments, wirklich ein ganzes Stück besser
gerecht werden, und darauf kommt es an . Das wollen wir .
Wir wollen es wirklich besser machen .

Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksam-
keit .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819108500

Das Wort hat die Kollegin Dr . Franziska Brantner für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich möchte an dieser Stelle Frau Almut
Wieland-Karimi begrüßen – Sie alle kennen sie –, die
Vorsitzende des ZIF, des Zentrums für Internationa-
le Friedenseinsätze, die in diesem Bereich sehr viel für
Deutschland leistet . Schön, dass Sie heute bei uns sind!


(Beifall)


Wir haben es schon gehört: Warum diskutieren wir
dieses Thema heute? Uns geht es dabei um Frieden . Wir
wollen in den Ländern der Welt, in denen es leider häufig
nicht friedlich zugeht, einen Beitrag dazu leisten, dass
ein staatliches Gewaltmonopol wieder aufgebaut werden
kann . Das ist die Forderung, die wir damit inhaltlich hin-
terlegen . Es geht uns nicht darum, an sich mehr Polizis-
tinnen und Polizisten ins Ausland zu schicken . Aber: Es
gibt keine funktionierende Staatlichkeit ohne ein Gewalt-
monopol . Wir wollen nicht, dass dieses nur militärisch
gesichert wird, sondern wir wollen, dass es zivil, durch
Polizistinnen und Polizisten, gesichert wird . Dafür brau-

Edelgard Bulmahn






(A) (C)



(B) (D)


chen wir funktionierende Polizeistrukturen in den Län-
dern, die vom Zerfall bedroht sind oder in denen nach ei-
nem Konflikt mit großen Schwierigkeiten versucht wird,
wieder eine Staatlichkeit aufzubauen . Das ist das Ziel .
Dazu wollen wir unseren Beitrag leisten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Vereinten Nationen sind da momentan der größte
Akteur . 13 200 Polizistinnen und Polizisten sind weltweit
im Einsatz der Vereinten Nationen unterwegs . Deutsch-
land stellt von diesen 13 200 genau 24 . 24 Polizistinnen
und Polizisten – für ein großes und reiches Land wie
Deutschland ist das blamabel . Anders kann man das nicht
nennen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir waren zusammen mit dem Unterausschuss bei
den Vereinten Nationen in New York . Dort wurde uns
stark und eindeutig signalisiert, wie sehr deutsche Po-
lizistinnen und Polizisten geschätzt sind, auch weil wir
einen besonderen Ansatz haben und vor Ort häufig prä-
ventiv arbeiten . Unsere Polizisten gehen auch anders mit
Demonstrationen um . Das unterscheidet sich manchmal
vom Vorgehen der Polizisten aus anderen Ländern . Da
haben wir eine wichtige Rolle; darin sind wir uns alle
einig . Deswegen ist es gut, dass wir heute diesen Antrag
gemeinsam stellen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zuruf der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Es ist gut, dass wir gemeinsame Antreiber sind, aber
eigentlich auch traurig, dass wir überhaupt Antreiber
sein müssen . Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag vom
November 2013 – dort finden sich lesenswerte Passagen
über die Vereinten Nationen –:

Wir wollen die rechtlichen, organisatorischen und
finanziellen Voraussetzungen für den Einsatz von
Polizistinnen und Polizisten in Friedensmissionen
verbessern . Hierzu wird die Bundesregierung in der
nächsten Legislaturperiode mit den Bundesländern
eine umfassende Bund-Länder-Vereinbarung ver-
handeln, die der gemeinsamen Verantwortung ge-
recht wird .

Jetzt haben wir das Jahr 2016, es ist nicht mehr ganz
ein Jahr bis zur Wahl, und wir haben immer noch keine
Bund-Länder-Vereinbarung . Da fragen wir uns schon:
Warum kommt das nicht? Die Frage richtet sich auch an
Sie, Herr Schröder . Woran hängt es denn? Wir glauben,
dass dort dringend Handlungsbedarf besteht . Kommen
Sie Ihren eigenen Zusagen endlich nach! Machen Sie
das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition!
Wir brauchen das . Deutschland leistet bis jetzt einfach
zu wenig .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In dem Antrag werden richtige Forderungen zur struk-
turellen Verbesserung gestellt; wir haben es gerade schon

gehört . Dabei geht es um die rechtliche Absicherung,
finanzielle Fragen, Wissenstransfer und ­sicherung und
eine stärkere Einbindung im Parlament . Frau Jelpke, Si-
cherheitsbedenken und Menschenrechte – die Sorge tei-
len wir doch alle .


(Lachen der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE] – Zuruf von der LINKEN: Warum steht das dann nicht im Antrag drin?)


Es ist aber auch ein schwieriges Umfeld, in dem diese
Polizistinnen und Polizisten unterwegs sind .

Klar ist: Wir müssen Einsätze in Zukunft auch ab-
brechen . Das ist gar nicht die Frage . Es wird Einsätze
geben, und es gibt schon heute Einsätze, bei denen wir
sagen: Da müssen wir aufhören . Dort ist es nicht mehr
der richtige Weg . Dort unterstützen wir nicht Frieden und
Rechtsstaatlichkeit, sondern Akteure, die den Menschen-
rechten zuwiderhandeln . Ja, wir werden Einsätze abbre-
chen müssen . Aber das ist doch kein Argument dagegen,
strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir
Polizistinnen und Polizisten in gute Einsätze entsenden
können . Das kann doch kein Argument dagegen sein .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Falsche Einsätze können doch kein Argument gegen gute
Einsätze sein .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE] . Klare Kriterien: Keine Polizeieinsätze im Ausland!)


Das ist das, worum es uns geht . Wir sagen jetzt nicht,
dass wir alle schlechten Einsätze mittragen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
noch einmal: Wir alle wissen, dass eine gute Polizei auch
eine gute Justiz braucht, dass wir ein gutes Umfeld brau-
chen, in dem die Polizei agieren kann . Deswegen hatten
wir noch einen Antrag gestellt, der diesen Bereich behan-
delt . Schade, dass er nicht aufgesetzt wurde . Vielleicht
können wir bei anderer Gelegenheit trotzdem über diesen
Antrag diskutieren; denn wir wissen, dass es zusammen-
gehört . Hier geht es jetzt um einen Teil; andere gehören
dazu .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle wissen auch, dass das, was wir hier fordern,
nicht für umme zu haben ist . Das kostet Geld . Wenn wir
1 Prozent zum Ziel haben, wenn wir einen Lehrstuhl an
der Hochschule der Polizei zum Ziel haben, dann kostet
das Geld . Ich würde mich sehr freuen, wenn wir es in
dem Haushaltsverfahren, das gerade läuft, gemeinsam
schaffen, diese Forderungen nicht auf dem Papier zu be-
lassen, sondern umzusetzen und Geld für den Lehrstuhl,
für das 1 Prozent zur Verfügung zu stellen . Dann haben
wir wirklich etwas erreicht . Das ist der Schritt, den wir
noch gehen können . Dabei brauchen wir nicht auf Sie zu
warten . Das ist in unserer Verantwortung . Lassen Sie uns
diesen Schritt gemeinsam gehen .

Ich danke Ihnen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Franziska Brantner






(A) (C)



(B) (D)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819108600

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär

Dr . Ole Schröder .


(Beifall bei der CDU/CSU)


D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1819108700


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich zunächst, dass der Unterausschuss
für Zivile Krisenprävention einen fraktionsübergreifen-
den Beschlussantrag zum Einsatz von Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamten in internationalen Friedensmissio-
nen vorgelegt hat . Die zehn Punkte des Antrags greifen
wichtige Themen auf . Deren Umsetzung wird unser Po-
lizeiengagement in mandatierten Friedensmissionen und
bilateralen Polizeimissionen stärken .

Gerade angesichts der aktuellen Migrationslage ge-
winnt der Antrag eine besondere Aktualität . Polizeimis-
sionen leisten in den Krisenregionen einen Beitrag zur
Bekämpfung von Fluchtursachen . Polizeiprojekte in Kri-
senstaaten legen die Basis für den Aufbau von Sicher-
heitsstrukturen; dort werden rechtsstaatliche Strukturen
aufgebaut . Sicherheit ist eben auch die Voraussetzung da-
für, dass sich überhaupt wirtschaftliche Prosperität entwi-
ckeln kann. Sicherheit eröffnet den Menschen somit eine
Bleibeperspektive, und damit werden auch die Fluchtur-
sachen bekämpft . Ich bekenne mich an dieser Stelle ein-
deutig zu einem größeren Engagement Deutschlands in
internationalen Polizeieinsätzen .

Wir haben zurzeit – da möchte ich auf das eingehen,
was Frau Brantner eben gesagt hat – 148 Beamtinnen
und Beamte im Einsatz, also nicht nur 22 .


(Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei den Vereinten Nationen!)


Es gibt zwischen Bund und Ländern vereinbarte Leitli-
nien; das ist also geübte Praxis . Aber natürlich kann man
sich auch über konkrete Vereinbarungen unterhalten . Ich
sage nur eines: Das wird an der geübten Praxis nicht viel
ändern . Wichtig ist, dass auch die Länder bereit sind, sol-
che Vereinbarungen einzugehen . An uns soll es jedenfalls
nicht scheitern .

Wenn jetzt allerdings mehr Engagement gefordert
wird, dann müssen wir natürlich auch berücksichtigen,
dass wir eine zivile Polizei haben


(Beifall der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE] – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da kann ich ausnahmsweise mal klatschen!)


und eben keine Gendarmerie oder sonstige robuste Ein-
heiten . Wenn die Grünen jetzt wild entschlossen sind und
sagen: „Wir wollen viel mehr“, dann ist das eine Ansage .
Dann müssen wir uns natürlich auch über die Ausrüstung
der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten Gedanken
machen: Brauchen wir nicht robustere Einheiten, was
bedeutet das für die Abgrenzung von Militär und Polizei
in den Krisenregionen, und was kann unsere zivile Poli-
zei überhaupt leisten? Man darf also nicht nur fordern,

sondern muss auch die konkreten Schlussfolgerungen
berücksichtigen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Ich jedenfalls bedanke mich bei allen Polizeibeamtin-
nen und Polizeibeamten für das großartige Engagement,
das sie in vielen Staaten zeigen . Wir wissen, was das für
jeden Einzelnen bedeutet . Wir wissen, dass die Akzep-
tanz der örtlichen Polizeidienststellen nicht immer so ist,
wie wir sie uns vorstellen . Wir wissen, was das auch für
das gesamte Umfeld und die Familien bedeutet . Vielen
Dank für diesen Einsatz!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Unsere Polizeibeamten tragen dazu bei, dass die Si-
cherheitslage in den Regionen, die von Konflikten,
Krisen und Chaos geprägt sind, stabilisiert wird . Damit
sorgen sie nicht nur für Sicherheit und Ordnung in den
Regionen, sondern mittelbar auch für Sicherheit hier in
Deutschland . Ein Blick auf die Krisenherde der Welt
zeigt, dass wir künftig noch mehr Friedensmissionen und
bilaterale Polizeiprojekte brauchen . Wir müssen aber
auch Rücksicht darauf nehmen, dass wir begrenzte Res-
sourcen haben und zurzeit über eine zivile Polizei ver-
fügen, die dann natürlich auch die Ausrüstung hat, die
gesetzlich vorgegeben ist .

Wir müssen uns daher auf Schwerpunkte konzentrie-
ren . Im Vordergrund stehen für uns solche Gebiete, in
denen die Ursachen von Flucht, Vertreibung und Migra-
tion bekämpft werden können . Zwei Regionen genießen
dabei unsere besondere Aufmerksamkeit .

Zum Ersten geht es um Nordafrika und die Sahelzone .
Wir haben unsere Beteiligung an der Mission der Ver-
einten Nationen in Mali bereits deutlich ausgebaut . Wir
würden sie noch weiter ausbauen . Die Anforderungen,
insbesondere an die Sprachkenntnisse, sind allerdings
sehr, sehr hoch . Wir setzen uns dafür ein, dass sie realis-
tischer ausgelegt werden, insbesondere was die französi-
schen Sprachkenntnisse angeht .

Wir stellen uns auch darauf ein, Polizisten nach Libyen
zu entsenden, sobald die Sicherheitslage es zulässt . Die
Vorbereitungen laufen bereits, und wir engagieren uns im
Rahmen der Vorbereitungen . Wir legen großen Wert da-
rauf, dass ein Kernauftrag dieser Mission die Stärkung
des libyschen Grenz- und Küstenschutzes wird, damit die
Tragödie auf dem Mittelmeer auch von dieser Seite her
beendet werden kann, meine Damen und Herren .

Zum Zweiten kommt nach wie vor Afghanistan eine
besondere Bedeutung zu . Das bilaterale Polizeiprojekt in
Afghanistan haben wir noch stärker auf die Bekämpfung
der Schleuserkriminalität und auf die Bekämpfung der
illegalen Migration ausgelegt .

Unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten leis-
ten – darauf möchte ich zum Schluss eingehen – auch
einen wichtigen Beitrag in Europa . In der Ukraine sind
wir an zwei Missionen der EU und an einer der OSZE
beteiligt . Durch die Teilnahme an diesen Missionen tra-
gen wir dazu bei, dass sich die Situation in der Ukraine






(A) (C)



(B) (D)


stabilisiert und die Polizeibehörden bei ihren Reformen
unterstützt werden . Das ist dringend erforderlich .

Ich bin davon überzeugt, dass der gestellte Antrag uns
bei unseren Bemühungen unterstützen wird, und bedanke
mich für die konstruktive Begleitung aus dem parlamen-
tarischen Raum . Die Linke ist hier natürlich ausgenom-
men .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das, was wir von ihr erleben, ist eher destruktiv, aber ich
denke, das sind wir auch sonst nicht anders gewohnt .

Insofern freue ich mich auf die gemeinsamen Bera-
tungen .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819108800

Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1819108900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte am Ende der Debatte noch einmal zusam-
menfassend sagen, dass es aus meiner Sicht überhaupt
nichts Verwerfliches ist, wenn wir mit der Entsendung
deutscher Polizisten in internationale Friedensmissionen
natürlich auch unsere eigenen Interessen vertreten .

Es ist angesprochen worden: Es geht darum, dem
internationalen, auch islamistischen, Terrorismus, den
Nährboden zu entziehen und Fluchtursachen zu bekämp-
fen . Natürlich ist es richtig, dass eine so internationali-
sierte Gesellschaft und Volkswirtschaft wie unsere, die
mehr als die Hälfte ihres Wohlstandes außerhalb unseres
Landes erwirtschaftet, in besonderer Weise davon profi-
tiert, wenn wir es schaffen, mehr Frieden, mehr Sicher-
heit und mehr Stabilität zu erreichen .

Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir
stehen hier in der Tat nicht an einem Nullpunkt, sondern
wir haben in der Vergangenheit schon messbare Erfolge
verzeichnen können . 1989 wurden deutsche Polizisten
das erste Mal in einer internationalen Friedensmission
eingesetzt, nämlich in Namibia . In der Zwischenzeit ist
unheimlich viel passiert . Ein Meilenstein war hier mit Si-
cherheit auch der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“
aus dem Jahr 2004, aus dem das Zentrum für Interna-
tionale Friedenseinsätze und auch die Bundesakademie
für Sicherheitspolitik hervorgegangen sind . Das waren
Meilensteine . Wir sind vorwärtsgekommen und haben
messbare, nachvollziehbare Erfolge erzielen können .
Heute sind wir der viertgrößte Geber für internationale
Friedensmissionen der Vereinten Nationen .

Trotzdem ist es richtig, dass wir noch nicht an dem
Punkt angekommen sind, an dem wir sein könnten und
auch sein sollten . Deswegen ist richtig, diese Debatte mit
dem vom Auswärtigen Amt initiierten Leitlinienprozess
und auch diesem interfraktionellen Antrag fortzusetzen,
den wir heute hier beraten und hoffentlich auch beschlie-
ßen werden .

Es geht eben nicht nur um Geld – da sind wir schon
sehr gut –, sondern es geht auch darum – das ist von
Vorrednern einige Male erwähnt worden –, das spezielle
Know-how und die speziellen Kenntnisse deutscher Poli-
zistinnen und Polizisten mit den spezifischen Qualitäten,
die sie haben, zum Einsatz zu bringen . Wenn ich mir ein-
mal anschaue, was internationale Polizeimissionen bei
den Vereinten Nationen heute leisten, dann, glaube ich,
tut dies auch wirklich not .

Wie sieht es derzeit aus? Es gibt einen deutlichen Auf-
wuchs an Polizisten in solchen Missionen . 1995 waren
es noch 5 800, heute sind es mehr als 16 000 . Was sind
das für Polizisten, und wo kommen sie her? Sie kommen
aus Ruanda, Indien, Jordanien, Nepal, Burkina Faso . Das
sind die Länder, die die meisten Polizisten stellen . Sie
kommen überwiegend – zu mehr als der Hälfte – aus ge-
schlossenen Verbänden .

Das ist im Zweifel aber nicht das, was die Vereinten
Nationen brauchen, und das ist auch nicht das, was wir
für internationale Polizeieinsätze brauchen . Wir brau-
chen Spezialisten und spezielle Kenntnisse im Bereich
der Beweissicherung, bei der Bekämpfung von Sexual-
straftaten und im Bereich der organisierten Kriminalität .
Solche Kompetenzen werden verlangt, und die können
und die sollten wir liefern . Das ist mehr wert als Geld .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist bereits angesprochen worden, dass wir eine Be-
schlusslage haben: Im Europäischen Rat haben wir im
Jahr 2000 in Santa Maria da Feira gemeinsam vereinbart,
EU-weit 5 000 und aus Deutschland 910 Polizisten be-
reitzustellen . Das muss die Richtgröße sein, an der wir
uns orientieren . Wenn man sich den Entwurf des Bundes-
haushalts für das kommende Jahr anschaut, kann man se-
hen, dass im Bereich des Innenministeriums zusätzliche
Mittel für den Einsatz von Bundespolizisten außerhalb
Deutschlands bereitgestellt sind . Wir haben hier einen
Mittelaufwuchs .

Und auch wenn es zwischen Bund und Ländern ver-
einbarte Leitlinien gibt, ist klar, dass ein Großteil der
Kompetenzen, von denen ich gesprochen habe, nicht
zwingend bei der Bundespolizei vorhanden ist, sondern
in besonderem Maße bei den Länderpolizeien . Deswe-
gen brauchen wir eine noch bessere Auflösung des Ziel-
konfliktes, dass einerseits der Bund für die außenpoliti-
schen Belange zuständig ist, andererseits die Kompetenz
der Polizeien, die in solchen Einsätzen erforderlich ist,
bei den Ländern in sehr viel größerem Maße vorhanden
ist . Dafür brauchen wir vernünftige Regelungen . Es ist
zu wenig, wenn wir nur auf die Enthusiasten setzen, die
in solche Einsätze gehen . Wir brauchen mehr Struktur;
wir brauchen mehr Unterstützung; wir brauchen mehr
rechtliche Rahmenbedingungen, die den Erfordernis-
sen gerecht werden . Dann bin ich überzeugt, dass wir
es schaffen können und einen effektiven Beitrag zu zi-
viler Krisenprävention leisten können . Polizei, Richter,
Staatsanwälte als Rückgrat rechtsstaatlicher Verhältnisse
helfen mit, dass wir Konflikte beilegen können, dass wir
gescheiterte Staaten wiederaufbauen können, und vor al-

Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder






(A) (C)



(B) (D)


len Dingen, dass die Menschen Vertrauen zu ihren Staa-
ten und ihren Regierungen bekommen können: Das ist
die beste Vorsorge, um Fluchtursachen an der Wurzel zu
bekämpfen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819109000

Ich schließe die Aussprache .

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/9662 mit dem Titel „Deut-
sches Engagement beim Einsatz von Polizistinnen und
Polizisten in internationalen Friedensmissionen stärken
und ausbauen“ . Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke angenommen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Wochenhöchstarbeitszeit begrenzen und Ar-
beitsstress reduzieren

Drucksache 18/8724
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .


(Unruhe)


– Wenn alle Kolleginnen und Kollegen, die jetzt noch
herbeigeeilt sind, ein Plätzchen gefunden haben, können
wir die Debatte eröffnen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819109100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es geht um Arbeitszeiten, um Flexibilisierung
der Arbeitszeiten, auch um weniger Stress durch ver-
nünftige Arbeit . Wenn ich mich hier so umschaue, sehe
ich: Es haben sich einige Kolleginnen und Kollegen si-
cher auch schon ins Wochenende verabschiedet .


(Max Straubinger [CDU/CSU]: In die Arbeit verabschiedet!)


Wir als Abgeordnete können das tun, andere nicht,
weil sie sehr starre Arbeitszeitverhältnisse haben, die
teilweise ganz anders aussehen . Aber genau über diese
müssen wir reden .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben in der Bundesrepublik eine Entwicklung,
die nicht in Ordnung ist . Wir haben die Bundesregierung
gefragt, wie sich Arbeitszeiten entwickeln . Sie werden
immer länger . 1,7 Millionen arbeiten inzwischen regel-
mäßig über 48 Stunden in der Woche . Diese Zahl hat
dramatisch zugenommen . Das Institut für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung hat ausgerechnet, dass 1,8 Milliar-
den Überstunden pro Jahr geleistet werden – im Übrigen
würde das mehreren Hunderttausend Beschäftigten ent-
sprechen –, von denen aber nur etwas mehr als die Hälfte
bezahlt wurden .

Immer mehr Beschäftigte müssen nachts arbeiten . 1995
waren noch 2,4 Millionen Beschäftigte nachts tätig, 2015
waren es 3,3 Millionen .

Meine Damen und Herren, ich erinnere mich an eine
Betriebsversammlung bei einem größeren Automobil-
konzern . Dabei ging es um die Durchsetzung von Nacht-
arbeit . Die Beschäftigten haben sich dagegen gewehrt .
Einer von den Kollegen ging aus der Betriebsversamm-
lung raus und sagte: Wenn der Herrgott gewollt hätte,
dass wir nachts arbeiten, dann hätte er uns mit den Augen
auch Glühbirnen in den Kopf gegeben, damit wir etwas
sehen können .


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)


Da ist was dran, liebe Kolleginnen und Kollegen .

Wir wissen alle: Nachtarbeit ist gesundheitsschäd-
lich, und zwar extrem . Immer mehr Beschäftigte arbei-
ten regelmäßig am Wochenende: 8,8 Millionen 2015,
Tendenz steigend . Was auch zunimmt, ist die Sonn- und
Feiertagsarbeit . Das ist deshalb bemerkenswert, weil wir
im Grundgesetz die Sonn- und Feiertage als Tage der
Arbeitsruhe besonders geschützt haben: Sonn- und Fei-
ertagsarbeit ist eigentlich ausgeschlossen . Trotzdem hat
sich die Zahl derer, die regelmäßig sonntags und feier-
tags arbeiten, drastisch erhöht . 1995 waren es 2,9 Milli-
onen, 2015 knapp 5 Millionen Menschen; ein Zuwachs
von mehr als 70 Prozent .

Inzwischen, meine Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, arbeitet jeder Sechste in Schichten .
Ich möchte darauf hinweisen, was das insbesondere in
Familien bedeutet, in denen beide Partner in Schichten
arbeiten . Da spielt sich das Familienleben oft auf Zet-
teln ab . Wenn man sich die Betreuung der Kinder einteilt,
versucht man, dafür zu sorgen, dass einer der Partner zu
Hause ist, während der andere arbeitet . Da läuft das Fa-
milienleben oft so ab, dass der Mann auf einen Zettel
schreibt: Ich komme heute später . – Wenn er dann nach
Hause kommt, findet er einen Zettel seiner Partnerin vor,
auf dem steht: Ich habe es gelesen . – Wir müssen also
aufpassen, was in unserem Land passiert .

Viele Hunderte von Studien belegen: Arbeitszeiten
dieser Art machen krank . Wir haben es mit einer Zu-
nahme von psychischen Erkrankungen durch Arbeit

Thorsten Frei






(A) (C)



(B) (D)


zu tun. Schichtarbeiter zum Beispiel sind häufiger von
Herz­Kreislauf­Erkrankungen betroffen; das alles wissen
Sie .

Auf jeder Zigarettenschachtel stand früher: Rauchen
gefährdet Ihre Gesundheit . – Inzwischen ist diese Formu-
lierung schärfer geworden . Eigentlich müsste auf man-
chem Arbeitsvertrag stehen: Diese Arbeit gefährdet Ihre
Gesundheit .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wissen das. Aber wir haben momentan offen-
sichtlich Hemmungen, das zu ändern . Wir erleben auf
der anderen Seite, dass unter dem Deckmantel von In-
dustrie 4 .0 nun die Arbeitgeberverbände eine weitere
Flexibilisierung der Arbeitszeit wollen . Damit meinen
sie – ich zitiere den Präsidenten des Arbeitgeberverban-
des Gesamtmetall, Dulger –: mehr Arbeitszeitvolumen,
Befristung und Zeitarbeit . – Das ist die Zukunftsvorstel-
lung der Arbeitgeber in dieser Frage .

Auch wir sind dafür, dass Arbeitnehmer flexibel arbei-
ten dürfen, wenn sie das wollen . Das bedeutet aber, dass
wir regeln müssen, welche Rechte die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer haben, um diese Flexibilität an
ihrem Arbeitsplatz durchzusetzen .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Gegenwärtig haben sie diese Rechte kaum, wie wir wis-
sen . Ich könnte Ihnen dazu noch viele Beispiele aus der
Praxis erzählen .

Meine Damen und Herren, die Realität sieht anders
aus . Flexible Arbeitszeit heißt für die Beschäftigten oft
Entgrenzung von Arbeit, Arbeit auf Abruf, übrigens auch
keine Bezahlung mehr von Überstunden, Zunahme von
Stress . Deshalb: Wir brauchen gesetzliche Regelungen,
die den Arbeitnehmer in die Lage versetzen, die von ihm
gewünschte Zeitsouveränität selber durchzusetzen .

Meine Damen und Herren, ein Schlüssel dafür ist das
Arbeitszeitgesetz . Das Arbeitszeitgesetz beschränkt die
tägliche Arbeitszeit eigentlich auf acht Stunden . Aller-
dings macht das bei sechs Tagen in der Woche 48 Ar-
beitsstunden . Das ist eindeutig zu viel .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen über das Arbeitszeitgesetz die Dauer der Ar-
beitszeit ein Stück nach unten bekommen; deshalb unse-
re Forderung . Das Arbeitszeitgesetz selber ist löchrig wie
ein Schweizer Käse . Da gibt es Ausnahmeregelungen für
fast alles . Die Zunahme der Sonntagsarbeit ist dafür ein
Beweis . Auch deshalb müssen wir diese Frage angehen .

Um Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu schüt-
zen, braucht es auch ein Recht auf Nichterreichbarkeit
während der Freizeit .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen eine Anti-Stress-Verordnung, mit der die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschützt wer-
den . Dringend erforderlich ist auch die Ausweitung des
Mitbestimmungsrechts der Betriebsräte bei Fragen der
Zeitsouveränität und des Arbeitsvolumens der Beleg-

schaft . Nur ein kleiner Hinweis . Betriebsräte haben Kün-
digungsschutz und können sich gegen ihren Arbeitgeber
leichter wehren als der Einzelne ohne Kündigungsschutz .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Dem Einzelnen drohen oft Nachteile, wenn er versucht,
seine von ihm gewollte Flexibilität durchzusetzen .

Als Parlamentarier haben wir die Pflicht, uns schüt-
zend vor die Beschäftigten zu stellen und dem Trend,
dass Arbeit zunehmend krankmacht, entgegenzuwirken .
Wir könnten damit anfangen. Ich hoffe, dass unsere De-
batte dazu führt, dass diese Themen tatsächlich parla-
mentarisch aufgegriffen werden.

Ich danke für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819109200

Das Wort hat der Kollege Uwe Lagosky für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Uwe Lagosky (CDU):
Rede ID: ID1819109300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Dauer der Arbeitszeit ist so zu bemessen, dass
dem Arbeitnehmer ausreichend Zeit zur Erholung
und zur Teilnahme am kulturellen Leben zur Verfü-
gung steht . Normalarbeitszeit, Pausen, Freizeit und
Urlaub bedürfen gesetzlicher und tariflicher Rege-
lung nach Maßgabe neuzeitlicher wissenschaftli-
cher Erkenntnisse . Sonntage und gesetzliche Feier-
tage gelten als Ruhetage .

Ich glaube, darüber sind wir uns grundsätzlich einig . Be-
merkenswert ist nur: Woher stammt das, was ich gerade
verlesen habe? Diese Zeilen stammen aus den Düsseldor-
fer Leitsätzen, die die CDU 1949 auf den Weg gebracht
hat .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Da gab es doch auch noch das Ahlener Programm! Das könnten wir hier sofort beschließen!)


Um es ganz deutlich zu sagen, meine Damen und Herren
von der Linken: Da gab es Sie als Partei in dieser Form
noch gar nicht . Wir sind schon weit vor Ihrer Zeit aktiv
geworden .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse – das
ist bis heute so geblieben – wurde das Arbeitszeitgesetz
gestaltet, das als Schutzgesetz im Wesentlichen der Ge-
sundheit der Beschäftigten dient, und zwar sowohl bei
tarifgebundenen als auch bei nicht tarifgebundenen Ar-
beitgebern . Das Arbeitszeitgesetz begrenzt die höchstzu-
lässige Arbeitszeit auf acht Stunden täglich; das haben
Sie ebenfalls gerade ausgeführt . In Ausnahmen dürfen es
auch zehn Stunden sein, aber nur dann, wenn – das haben
Sie nicht gesagt – innerhalb von sechs Kalendermonaten

Klaus Ernst






(A) (C)



(B) (D)


oder innerhalb von 24 Kalenderwochen im Durchschnitt
acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden .

Als weitere wesentliche Punkte werden die Ruhepau-
sen und die Ruhezeiten geregelt . Arbeitnehmer müssen
nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine Ruhezeit
von mindestens elf Stunden haben . Darüber hinaus er-
öffnet das Arbeitszeitgesetz die Möglichkeit für abwei-
chende Regelungen in Tarifverträgen – darauf haben Sie
schon hingewiesen –, allerdings nur dann, wenn es um
Arbeitsbereitschaft bzw . Bereitschaftsdienste geht . Es
gibt eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf acht
bis zehn Stunden, unter anderem deswegen, weil nach
wissenschaftlichen Erkenntnissen die Unfallgefahr nach
acht Stunden deutlich ansteigt . Deshalb werden Tages-
grenzwerte entsprechend festgelegt . Angesichts der Re-
gelung, wonach die tägliche Arbeit auf acht bis zehn
Stunden begrenzt wird, und dem genannten Ausgleichs-
zeitraum ist es möglich, auf acht Stunden pro Tag zu
kommen . Das ist das Ziel der Ausgleichsregelung .

Man wird damit sowohl den Belangen der Gesundheit
der Arbeitnehmer als auch den Ansprüchen der Betriebe
gerecht, die bei wechselnden Auftrags- und Aufgabenla-
gen flexibel reagieren müssen. Das haben Sie in Ihrem
Antrag völlig vergessen . Wenn Sie die Höchstarbeitszeit
in der Woche von 48 auf 40 Stunden senken, sind die
Betriebe nicht mehr flexibel. Wenn die Betriebe nicht
mehr flexibel sind, gehen möglicherweise Arbeitsplätze
in Deutschland verloren . Allein aus diesem Grund kann
man das in der Form nicht machen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es geht erstens darum, den Beschäftigten bestmöglich
vor gesundheitlichen Gefahren zu schützen, und zwei-
tens darum, wirtschaftlich arbeitende Betriebe zu haben .
Wenn die Höchstarbeitszeit in der Woche tatsächlich von
48 auf 40 Stunden gesenkt wird, dann sehe ich für unse-
re Wirtschaft in Deutschland im Vergleich zum Rest der
Welt schwarz .

Nun basiert Ihr Antrag auf einer Antwort der Bundes-
regierung auf eine Anfrage, in der es darum geht, wie
viele abhängig Beschäftigte von überlangen Arbeits-
zeiten betroffen sind, also 49 Stunden und mehr in der
Woche arbeiten . Darauf antwortete die Bundesregie-
rung, dass das rund 2 Millionen abhängig Beschäftigte
sind . Das entspricht einem Anteil von 5,6 Prozent . Die
Daten stammen aus dem vom Statistischen Bundesamt
durchgeführten Mikrozensus und beziehen sich auf das
Jahr 2012 . Damals gab es 35 Millionen Beschäftigte in
Deutschland .

Man muss sich aber die Frage stellen, warum es bei
den Regelungen im Arbeitszeitgesetz, die auf eine durch-
schnittliche Arbeitszeit von acht Stunden pro Tag abzie-
len, zu solchen Ergebnissen kommt . Diese Frage stellen
wir uns auch . Dabei geht es aber um Fragen, auf die der
Mikrozensus keine Antworten liefert: Welche Berufs-
gruppen sind im Wesentlichen betroffen? Wird in Betrie-
ben von Arbeitgebern und Beschäftigten genügend auf
die Arbeitszeitgesetze geachtet? Achten die Aufsichtsbe-
hörden der Länder ausreichend auf die Einhaltung des
Arbeitszeitgesetzes? Welche Ausnahmeregelungen tra-
gen zu diesem Ergebnis bei? – All diese Fragen sollten

wir erst einmal beantworten, bevor wir solche Anträge
einbringen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir können ja beides machen!)


Bedacht werden muss zudem, dass es für die Beschäftig-
ten manchmal auch persönlich wichtig ist, eine Aufgabe
zu erledigen . Das ist in einer Arbeitswoche mit 40 Stun-
den nicht immer möglich . Jedenfalls ist es mir in meinem
Berufsleben so gegangen .

Sich seine Arbeitszeit selbst einzuteilen und Aufga-
ben abzuschließen, kann durchaus motivierend wirken .
Jedoch sollte das nicht über die Schutzvorschriften des
Arbeitszeitgesetzes hinausgehen . Dafür Sorge zu tragen,
ist insbesondere eine Frage der Betriebskultur .

Weiterhin behaupten Sie von der Linksfraktion – das
haben Sie eben wieder getan –, der Arbeitstag kenne für
viele kein Ende mehr . Das mag für den einen oder ande-
ren tatsächlich so sein – darin gebe ich Ihnen, wie schon
gesagt, durchaus recht –; doch das ist schon eine sehr
dramatische Interpretation dessen, was in Deutschland
Realität ist .


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau! Die können nicht anders! Die können nur dramatisch!)


Die Ergebnisse des Statistischen Bundesamts wurden
schon angesprochen; ich möchte das auch tun, nur aus
einem anderen Kontext heraus . 1996 hat ein Vollzeitbe-
schäftigter durchschnittlich 40 Stunden pro Woche gear-
beitet . 2011 waren es 40,7 Stunden und 2015 40,5 Stun-
den . Damit liegen die deutschen Vollzeitbeschäftigten
durchaus im europäischen Durchschnitt, der laut Euro-
stat 2015 bei 40,3 Wochenstunden lag . Damit liegen wir
bezogen auf die Beschäftigten in Europa durchaus im
Mittel .

Zwischenfazit: Wir haben schon ein sehr ausgewoge-
nes Gesetz . Es schützt die Gesundheit der Beschäftigten
durch kluge Leitplanken, trägt in einem ausgewogenen
Maß zur Wirtschaftlichkeit unserer Betriebe bei und
eröffnet Möglichkeiten für sozialpartnerschaftliches
Handeln . Letzteres führt zu vielen Arbeitszeitmodel-
len in den Betrieben, die auch die Zeitsouveränität der
Beschäftigten verbessern . Im Bereich der Schichtarbeit
werden ebenfalls längst Betriebsvereinbarungen abge-
schlossen, die die Bedürfnisse der Mitarbeiter berück-
sichtigen . Das ergab unter anderem eine Kurzauswertung
der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2010 . Kurzum:
Die Linksfraktion läuft nach unserer Auffassung mit ihrer
Forderung dem Trend hinterher . Die Sozialpartnerschaf-
ten sorgen längst für mehr Zeitsouveränität der Beschäf-
tigten .

Nebenbei: Auch der Gesetzgeber leistet seinen Bei-
trag . Stichworte dazu sind das Gesetz zur besseren Ver-
einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, das Teilzeit­
und Befristungsgesetz oder die Regelung im Vierten
Buch Sozialgesetzbuch zu Wertguthaben .

Eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie in Ihrem Antrag
gefordert wird, ist dagegen kein sinnvoller Beitrag . Sie
mag öffentlichkeitswirksam sein und macht etwas her;

Uwe Lagosky






(A) (C)



(B) (D)


das ist keine Frage . Aber bringt sie uns weiter, wenn es
um die Gesundheit der Arbeitnehmer geht? Meine Erfah-
rung ist durchaus eine andere . Es geht in den Betrieben
in erster Linie darum, Mitarbeitergespräche zu führen
und gleichzeitig eine Gefährdungsbeurteilung auf den
Weg zu bringen . Das bringt den besten Erfolg bei der
Vermeidung von psychologischen Belastungen, die mög-
licherweise am Arbeitsplatz entstehen . Berufsbedingte
Belastungen können so frühzeitig erkannt und abgebaut
werden . Gesundes Arbeiten hat viel mit der Betriebskul-
tur zu tun . Entscheidend also sind keine neuen Regelun-
gen . Entscheidend ist, dass wir die bisherigen Regelun-
gen umsetzen, und wir arbeiten daran, das zu tun .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Letzter Werbeblock: Die ehemalige Bundesarbeitsmi-
nisterin Dr . Ursula von der Leyen gab bei der Bundes-
anstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ein Projekt
in Auftrag, das Anfang 2014 unter dem Titel „Psychi-
sche Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche
Standortbestimmung“ startete . Seit Juli dieses Jahres lie-
gen erste Zwischenberichte vor, die den jeweiligen Stand
der Erkenntnis in vier Themenfeldern darlegen . Mit dem
Abschlussbericht und den Handlungsempfehlungen für
betriebliches Gesundheitsmanagement und den Arbeits-
schutz ist für Mitte 2017 zu rechnen .

Wir sind für eine wissenschaftliche Begleitung der
Arbeitsschutzgesetze . Dazu zählt auch das Arbeitszeitge-
setz . Hierfür treten wir als CDU/CSU-Fraktion entschie-
den ein .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819109400

Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Die Arbeitswelt verändert sich, die
Wünsche der Beschäftigten aber auch. Arbeit wird fle-
xibler, die Arbeitsintensität steigt . Es wurden schon viele
Zahlen genannt . Gleichzeitig wünschen sich die Beschäf-
tigten mehr Zeit für sich und für ihre Familie, um nicht
ständig hetzen zu müssen . Die Beschäftigten brauchen
mehr Zeitsouveränität; denn Arbeitszeit ist Lebenszeit .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Etwa in dieser Art habe ich im April meine Rede zu
unserem Antrag „Mehr Zeitsouveränität – Damit Arbeit
gut ins Leben passt“ begonnen . Es freut mich, dass die
Fraktion Die Linke diesen Antrag aufmerksam gelesen
hat und nun einen eigenen Antrag auf den Weg bringt .
Das ist gut . Ich würde mir das auch von den Regierungs-
fraktionen wünschen; denn wir müssen die Entwick-
lungen in der Arbeitswelt und auch die Wünsche der

Beschäftigten an die Arbeitswelt ernst nehmen und poli-
tische Antworten darauf finden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ein paar Aspekte, auch zum Antrag der Linken:
Enorm wichtig gerade für Frauen ist natürlich das Rück-
kehrrecht auf Vollzeit, um befristete Teilzeitphasen zu
ermöglichen . Da sind wir uns einig . Eigentlich steht das
auch im Koalitionsvertrag . Da müssen Sie, die Regie-
rungsfraktionen, endlich liefern .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Uns ist das aber zu wenig . Viele Beschäftigte wollen und
können nicht vorübergehend ihre Arbeitszeit reduzieren .
Aber auch sie brauchen Zeitsouveränität, und zwar in ih-
rem täglichen Arbeitsalltag – für die Kinder, für die al-
ten Eltern . Vielleicht wollen sie einfach auch nur einmal
einen Tag im Homeoffice arbeiten. Deshalb fordern wir,
wie die Linke auch, Betriebsvereinbarungen zu Fragen
der Vereinbarkeit und mehr Zeitsouveränität . Aber auch
das reicht uns nicht aus . Wir wollen, dass auch die Be-
schäftigten ohne Betriebsrat gestärkt werden . Auch sie
sollen mehr Einfluss darauf nehmen können, wann sie
arbeiten und wo sie arbeiten . Flexibilität ist keine Ein-
bahnstraße . Deshalb wollen wir die Arbeitszeit für die
Menschen beweglicher gestalten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Geht es um die Arbeitszeit, dann müssen wir natür-
lich auch die ganz schwierigen Arbeitsformen in den
Blick nehmen . Da ist mir die Arbeit auf Abruf ein ganz
besonderes Anliegen . Bei den Linken wird Arbeit auf
Abruf zwar im Feststellungsteil erwähnt, aber im For-
derungsteil kommt sie nicht mehr vor . Das hat mich ein
bisschen irritiert, zumal der Punkt ganz fehlt . Wir Grüne
stellen in unserem Antrag ganz konkrete Forderungen .
Auch Beschäftigte, die auf Abruf arbeiten, brauchen
Zeitsouveränität . Ihre Arbeitszeit muss deshalb bere-
chenbarer werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Dr . Matthias Bartke [SPD])


Der Wunsch der Beschäftigten nach mehr Zeit wächst
natürlich auch, weil das Arbeitsleben insgesamt Tempo
macht . Notwendig sind Lösungen gegen den steigenden
Stress am Arbeitsplatz . Hier sind wir uns einig . Spannend
in diesem Zusammenhang sind auch die Auswirkungen
der Digitalisierung . Hier wird es sehr ambivalent . In der
digitalen Arbeitswelt erhalten die Menschen natürlich
Freiheit; denn sie können arbeiten, wann und wo sie wol-
len. Aber so entsteht natürlich auch Mehrarbeit, häufig
unbezahlt, und so verschwimmen noch mehr die Grenzen
zwischen Freizeit und Arbeitszeit . Wir fordern deshalb
ein Mitbestimmungsrecht über die Menge der Arbeit,
aber nur bei der Vertrauensarbeitszeit . Sie, die Linken,
haben das jetzt übernommen, fordern dies aber ganz pau-
schal . Ich bin gespannt, zu erfahren, warum die bisherige
Mitbestimmung da nicht mehr ausreichen soll . Das wer-
den wir, glaube ich, im Ausschuss diskutieren müssen .

Uwe Lagosky






(A) (C)



(B) (D)


Zudem fordern Sie das Recht auf Nichterreichbarkeit
und verbindliche Ausgleichsregelungen bei Mehrarbeit .
Sie schreiben aber nicht, wie das gehen soll . Wir setzen
da vor allem auf betriebliche Lösungen . Im Ziel sind wir
uns aber wohl einig . Wir wollen zwar Flexibilität ermög-
lichen, aber nicht grenzenlose Arbeit; denn Zeitsouverä-
nität soll natürlich auch zu mehr Lebensqualität führen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss zu der Forderung, die Wo-
chenhöchstarbeitszeit auf 40 Stunden zu senken . Das leh-
nen wir ab . Mehr Zeitsouveränität und Flexibilität für die
Beschäftigten würden in einem ganz engen und starren
Rahmen nicht funktionieren . Die Beschäftigten brauchen
die Freiheit, in der einen Woche einmal mehr zu arbeiten,
um in der nächsten Woche mehr frei zu haben . Natürlich
brauchen die Beschäftigten den Schutz einer verlässli-
chen Rahmengesetzgebung . Wir wollen die Menschen
aber nicht einschränken, sondern ihnen individuelle Lö-
sungen bei der Arbeitszeit ermöglichen; denn Arbeitszeit
muss in das eigene Leben passen – und nicht umgekehrt .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819109500

Das Wort hat der Kollege Michael Gerdes für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1819109600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Zuschauerinnen und Zuschauer! Erwerbsbiografien ver-
laufen heutzutage auf allen Qualifikationsebenen dyna-
mischer und vielfältiger, als wir es gewohnt waren . Die
Anforderungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
ändern sich immer schneller . Die Digitalisierung – Sie
sprachen es gerade an, Frau Müller-Gemmeke – sprengt
klassische Arbeitszeitmodelle . Ob das allerdings mehr
Freizeit bedeutet? Ich glaube das nicht . Unsicherheit
und Dauerstress drohen . Darauf müssen Unternehmen,
der Gesetzgeber und die Gesellschaft als Ganzes reagie-
ren . Vor diesem Hintergrund bin ich unserer Ministerin
Andrea Nahles sehr dankbar für den Dialogprozess Ar-
beiten 4 .0 . Die Abschlusskonferenz im Dezember wird
sicherlich spannend werden .

Der Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema Ar-
beitsstress enthält gute Analysen, Kollege Klaus Ernst .
Es braucht unterschiedliche, gut durchdachte Ansätze,
um Arbeit und sich wandelnde Lebensmodelle zu ver-
einen . Neben der zeitlichen Komponente wie Wochen-
arbeitszeit und Schichtarbeit – ich weiß im Übrigen aus
eigener Erfahrung, was Schicht- sowie Sonn- und Feier-
tagsarbeit an Belastungen bringt – sollten wir aber auch
auf die Arbeitsprozesse schauen . Arbeitsaufträge müssen
angemessen und in der Arbeitszeit zu schaffen sein. Es ist
nicht gut, wenn Anforderungen ständig steigen .


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!)


Wir als SPD-Fraktion befürworten einen gesetzlichen
Anspruch auf befristete Teilzeitarbeit zur Erleichterung
der Rückkehr in Vollzeit .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dazu wollen wir ein Teilzeitrecht entwickeln . Das wäre
ein erster Schritt in Richtung Zeitsouveränität .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Arbeitsschutz
hat in Deutschland eine lange und gute Tradition . Unsere
technischen Standards sind hoch . Technische Hilfsmit-
tel am Arbeitsplatz verringern die körperliche Belastung
stetig . Es gelingt immer mehr, Unfälle in den Betrieben
zu vermeiden . Sorgen muss uns dagegen die mentale
Gesundheit der Erwerbstätigen machen . Seit Mitte der
90er-Jahre sind die psychischen Arbeitsanforderungen
angestiegen . Sie haben sich auf hohem Niveau stabili-
siert . Gleichzeitig ist eine Zunahme des frühzeitigen
Erwerbsausstiegs und der Arbeitsunfähigkeit aufgrund
psychischer Störungen und Erkrankungen zu beobach-
ten . Stress entsteht zum Beispiel durch das Erledigen
verschiedener Arbeiten zur gleichen Zeit, durch Termin-
druck, häufige Unterbrechungen bei der Arbeit, monoto-
ne Tätigkeiten, fehlende Erholungsmöglichkeiten, stän-
dige Erreichbarkeit oder Informationsfluten auch in der
Freizeit . Letzteres kennen wir als Abgeordnete auch sehr
gut; lieber Klaus Ernst, du hast das ja schon angespro-
chen . Eine gute mentale Gesundheit wird immer mehr
zur Voraussetzung einer dauerhaften sowie erfolgreichen
Teilhabe am Erwerbsleben . Auch bei der Flexirente spielt
die Gesundheit eine große Rolle . Deshalb stärken wir
Präventions- und Rehaleistungen .


(Beifall bei der SPD)


Wir als Parlament können gesunde Arbeitsprozesse
nicht bis ins kleinste Detail regeln . Es bedarf praxistaug-
licher Ansätze direkt im Betrieb . Das Zusammenspiel
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie unter
Kolleginnen und Kollegen ist gefragt . Trotzdem ist die
Forderung nach einer Anti-Stress-Verordnung nicht vom
Tisch . Die SPD-Fraktion ist nach wie vor von dieser Idee
überzeugt, lieber Kollege Uwe Lagosky .


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg . Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Unsere Arbeitswelt braucht Grundregeln zum
Umgang mit mentalen Belastungen . Die vielzitierte
Work-Life-Balance darf kein Modewort ohne Inhalt sein .
Wir müssen anerkennen, dass Menschen unterschiedlich
stark belastet sind und Herausforderungen unterschied-
lich bewältigt werden . Beruf, Privatleben und auch das
Ehrenamt sollen unter einen Hut passen, und dafür brau-
chen wir unterschiedliche Modelle der Arbeitsorganisa-
tion .

Gutes Personalmanagement heißt auch betriebliches
Gesundheitsmanagement .


(Beifall der Abg . Mechthild Rawert [SPD])


Beate Müller-Gemmeke






(A) (C)



(B) (D)


Hierbei ist es wichtig, dass Gesundheitsmanagement
nicht nachgelagert repariert, sondern vorausschauend
Probleme erkennt .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


So wie wir wissen, dass sitzende Tätigkeiten Probleme
für Nacken und Rücken mit sich bringen, so muss in den
Betrieben thematisiert werden, an welcher Stelle Mitar-
beiter psychischem Druck ausgesetzt sind . Dabei sind
Personal- und Betriebsräte als Sozialpartner gefordert .
Mit ihrer Kompetenz spielen sie eine wichtige Rolle auch
bei der Überwachung der Einhaltung des Arbeitszeitge-
setzes .

Unterm Strich geht es beim zeitgemäßen Personal-
und Gesundheitsmanagement um systematische Fürsor-
ge . Psychische Belastungen im Erwerbsleben müssen
raus aus der Tabuzone . Vielerorts werden stressbeding-
te Arbeitsausfälle unterschätzt . Deshalb wäre eine An-
ti-Stress-Verordnung auf jeden Fall das richtige Signal,
um in den Betrieben und aufseiten der Erwerbstätigen ei-
nen professionellen, wertschätzenden Umgang mit Zeit-
und Leistungsdruck anzustoßen . Dabei haben Großbe-
triebe in puncto Prävention und Gefährdungsbeurteilung
logischerweise andere Ressourcen zur Verfügung als
kleine und mittlere Unternehmen . Deshalb müssen wir
verstärkt überlegen, welche Hilfestellung wir Arbeitge-
bern und Arbeitnehmern in kleinen Betrieben anbieten
können .

Mit Blick auf Digitalisierung und Flexibilisierung
kommt der allgemeinen Gesundheitskompetenz jedes
Einzelnen eine höhere Bedeutung zu . Aufklärung und
Sensibilisierung über mentale Gesundheitsgefährdun-
gen machen Sinn . Einmal im Jahr für fünf Minuten vom
Beauftragten für Arbeitsschutz Besuch zu bekommen,
reicht sicherlich nicht aus .


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Stimmt!)


Wir müssen Erwerbstätige zu gesunder Arbeit befähigen;
auch das sollte Teil unserer Strategie sein .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein Letztes . Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin
überzeugt, dass beruflicher Stress anders wahrgenommen
und überwunden wird, wenn der Arbeitsalltag gewisse
Sicherheiten und Chancen mit sich bringt . Damit mei-
ne ich zum Beispiel ein unbefristetes Arbeitsverhältnis .
Wer sicher ist, dass sein Job Perspektiven bietet, und sich
eben nicht im Jahresrhythmus nach einer neuen Arbeits-
stelle umschauen oder sich in immer neuen Probephasen
beweisen muss, hat weniger Stress .


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Auch deshalb sind neue Regeln bei Leiharbeit und Werk-
verträgen eine gute Sache .

Herzlichen Dank und Glück auf!


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819109700

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Schmidt für die

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gabriele Schmidt (CDU):
Rede ID: ID1819109800

Frau Präsidentin! Liebes Präsidium! Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute wieder einmal über Arbeitszeit, Arbeitsschutz, Ar-
beitnehmerrechte . Es scheint überhaupt die Woche des
unterdrückten, geknechteten Proletariats zu sein:


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Was soll denn das?)


gestern die Leiharbeiter und die Menschen mit Behinde-
rung, heute die Vielarbeiter und die Gestressten .


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sehr sachlich! Sie belasten den Stil der Debatte!)


– Sachlich, gerne . – Wir haben zum Glück die Opposi-
tion,


(Beifall des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE])


die sich um kürzere Arbeitszeiten für alle kümmert .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Genau!)


So, jetzt schalte ich den Ironiemodus einmal aus .

Der vorliegende Antrag ist einseitig und blendet die
Realität der Arbeitswelt aus .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Quatsch!)


Arbeit ist keine Einbahnstraße – das versteht die Oppo-
sition eben nicht –; Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben
naturgemäß unterschiedliche Wünsche und Vorstellun-
gen . Um diese auszuhandeln, gibt es aus gutem Grund die
Tarifpartner . Sie kommen ihrer Aufgabe seit fast 70 Jah-
ren nach, mit dem Ergebnis einer florierenden Wirtschaft,
eines partnerschaftlichen Verhältnisses der Akteure und
weitestgehend zufriedener Arbeitnehmer .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht gibt es nebenbei noch ein bisschen Arbeitsrecht? Der Gesetzgeber ist dafür zuständig!)


Die Aufgabe der Politik ist es, Leitplanken zu schaf-
fen, die für beide Seiten passen und den Bedürfnissen der
Arbeitnehmer und Arbeitgeber gerecht werden .


(Uwe Lagosky [CDU/CSU]: So ist das!)


Beide gehören untrennbar zusammen; aber das scheint
die Opposition gerne zu ignorieren .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Gesetzgeber muss nur dort Schutzgesetze erlassen,
wo Arbeitnehmerrechte verletzt werden . Schutzgesetze
gibt es eine ganze Menge; davon haben wir durch den
Kollegen Lagosky schon gehört .

Michael Gerdes






(A) (C)



(B) (D)


Eine zwangsweise Umverteilung der Arbeit und die
Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten gehen an der
Realität vorbei . Auch ich erinnere an die Debatte vom
28 . April dieses Jahres, bei der wir den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen zu mehr Zeitsouveränität
diskutiert haben . Dort wurde zum Beispiel kritisiert, dass
1,35 Milliarden Stunden nicht geleistet werden, weil die
Wünsche der Beschäftigten nach mehr Arbeit nicht be-
rücksichtigt werden . Ja was denn nun? Was stimmt denn
nun? Es gibt Leute, die mehr arbeiten wollen, und es gibt
Menschen, die weniger arbeiten wollen . Wir brauchen
also keine gesetzlichen Vorschriften, wie im Antrag der
Fraktion Die Linke gefordert, sondern größtmögliche
Flexibilität und eine gesunde Balance zwischen Arbeits-
gestaltung und Lebensführung der Arbeitnehmer auf der
einen Seite und den Arbeitgeberinteressen auf der ande-
ren Seite .


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Offenbar gibt es Hürden für diese Flexibilität! Die muss man gesetzlich abbauen!)


Die Opposition unterschlägt – nicht nur heute – die
bereits ergriffenen Maßnahmen,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Opposition? Das ist halt das Problem, wenn man erst eine Rede schreibt und dann zuhört!)


die die Arbeitsbedingungen und damit die Lebenssitua-
tion von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und die
Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Freizeitgestaltung
verbessern . Ich werde deshalb nicht müde, Sie an diese
zu erinnern: an den Ausbau der Kindertagesstätten für die
Versorgung der Kinder während der Arbeitszeiten, an die
Milliarden Euro für Kitas und andere Familieninfrastruk-
turmaßnahmen, an das Elterngeld Plus, an die Familien-
pflegezeit. Das sind die richtigen Antworten.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was machen wir gegen die Sonntagsarbeit, Kollegin? Sagen Sie mal irgendwas Konkretes, nicht nur Blabla!)


– Warten Sie einmal, bis Sie ins Krankenhaus kommen,
Herr Ernst . Dann sind Sie froh, wenn am Sonntag einer
arbeitet .


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum brauchen wir den Deiwel am Sonntag? Warum? – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Mach einfach weiter, Gabriele! Das macht keinen Sinn!)


– Ja, ich mache einfach weiter . Man kann nur warten, bis
es vorbei ist .


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ihnen fehlt es ja schon an Flexibilität bei Ihrer Rede!)


Wir haben die richtigen Antworten auf die Herausfor-
derungen, und wir haben die richtigen Maßnahmen, um
auf individuelle Bedürfnisse der Arbeitnehmer zu reagie-
ren. Wir schaffen den sozialen Ausgleich,


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was wir machen, ist Blabla!)


und der im Koalitionsvertrag vereinbarte Rechtsanspruch
auf Rückkehr aus Teilzeit in die frühere Arbeitszeit wird
folgen .

In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ist die Rede davon, dass insbesondere Frauen „sich oft
unfreiwillig mit einer Teilzeitstelle begnügen“ müssen .
Es scheint einfach nicht in Ihr Weltbild zu passen, dass
sich ganz viele Arbeitnehmer und besonders viele Frauen
freiwillig für Teilzeit entscheiden .


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau!)


Sie reden von der Teilzeitfalle . Das wird durch ständiges
Wiederholen nicht richtiger .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Sie müssen wieder zurückkönnen!)


Was ist denn so schlecht daran, wenn sich Frauen und
Männer auf freiwilliger Basis und in Absprache mit den
Arbeitgebern für Teilzeitarbeit entscheiden, um mehr
Zeit für die Familienarbeit zu haben?

In Ihrem Antrag fordern Sie weiter ein definiertes
Recht auf Nichterreichbarkeit außerhalb der Arbeitszei-
ten . Sehr gut! Laut § 5 des Arbeitszeitgesetzes müssen
Arbeitnehmer nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit
eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stun-
den haben; das haben wir heute schon gehört . Das ist gut
und richtig . Deswegen braucht es keinen neuen Antrag .
Vielleicht müssen wir uns auch einmal selbstkritisch an
die eigene Nase fassen: Wer von uns packt das Smart-
phone am Wochenende weg oder checkt am Sonntag
keine E­Mails? Diese Frage betrifft nicht nur MdBs, son-
dern auch Arbeitnehmer, vielleicht auch unsere eigenen
Mitarbeiter .


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Selbstbestimmtes Arbeiten! Das ist ein Unterschied, Kollegin!)


Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, in seiner Frei-
zeit erreichbar zu sein, von ganz wenigen begründeten
Ausnahmen abgesehen . Und es gibt etliche Firmen, die
ihren Angestellten geradezu verbieten, in der Freizeit zu
arbeiten .

Was mir an diesem Antrag zuwiderläuft, ist erneut
diese Gleichmacherei . Man kann nicht alle über einen
Kamm scheren .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es gibt nicht die Wirtschaft und die Unternehmen . Viel-
mehr gibt es einige Millionen Familienbetriebe und
Kleinunternehmen . Der Mittelstand ist das Rückgrat
unserer Wirtschaft und stellt den größten Teil der Ar-
beitsplätze . Er behandelt seine Arbeitnehmer gut . Jeder
Arbeitgeber hat ein Interesse daran, dass es seinen Ar-
beitnehmern gut geht . Die zwangsweise Umverteilung
der Arbeit wäre ein Rückschritt .

Über Stress haben wir heute auch schon sehr viel ge-
hört . Stress lässt sich aber nicht verallgemeinern .


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ihre Rede ist eigentlich nur peinlich!)


Gabriele Schmidt (Ühlingen)







(A) (C)



(B) (D)


Hier wollen die Linken Ungleiches gleich behandeln .
Stress ist extrem subjektiv . Sie zum Beispiel, Herr Ernst,
scheinen Stress zu haben, wenn ich rede .


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist eher lustig, Kollegin!)


– Ich freue mich, wenn ich Sie erfreuen kann . – Stress
machen wir uns oft auch selbst. Einer empfindet schon
Stress, wenn der Kollege noch locker weiterläuft . Stress
ist übrigens nicht nur durch die Arbeit begründet .

Ich halte eine Anti-Stress-Verordnung für wenig prak-
tikabel . Sie löst das Problem nicht, sorgt aber für mehr
Bürokratie und Belastung der Arbeitgeber . Damit wäre
keinem geholfen . Schon das geltende Arbeitsschutzge-
setz enthält Maßnahmen zum Schutz der psychischen
Gesundheit der Mitarbeiter: Arbeitgeber sind verpflich-
tet, solche Maßnahmen zu treffen; das entspricht § 3 des
Arbeitsschutzgesetzes . Psychische Gesundheitsbeurtei-
lung ist auch geltendes Recht, geregelt in § 5 des Arbeits-
schutzgesetzes . Behörden sind in der Lage, gegenüber
Arbeitgebern Anordnungen zu treffen und Bußgelder zu
verhängen; das steht in den §§ 22 und 25 des Arbeits-
schutzgesetzes . Außerdem gibt es bereits Mitbestim-
mungsrechte des Betriebsrats . – Ich belasse es einmal
dabei .

Das Beste aber habe ich mir für den Schluss aufgeho-
ben – Zitat aus dem Antrag –:

Initiativen für mehr Zeitsouveränität und kollektive
Arbeitszeitverkürzungen

– das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen –

müssen die Arbeitgeber bei der Finanzierung des
Lohnausfalls in die Pflicht nehmen.

Super, ehrlich! Was kommt als Nächstes? Null Arbeits-
zeit bei vollem Lohnausgleich?


(Zuruf von der LINKEN: Gute Idee! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Null Inhalt bei zehn Minuten Redezeit, Kollegin!)


Vor Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Ar-
beitgeber und Arbeitnehmer geschützt werden . Mit Ihrer
Politik zerstören Sie den Mittelstand, und damit ist nie-
mandem geholfen .

Ich wünsche allen ein stress- und arbeitsfreies Wo-
chenende . Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819109900

Das Wort hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1819110000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Vorredner und Vorrednerinnen haben natürlich an
vielen Stellen recht – Kollege Ernst, natürlich, an man-
chen –; Herr Gerdes hat auch schon viel Richtiges gesagt .

Wir wissen aufgrund der guten Daten, wie es den Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht und dass der
Markt an vielen Stellen in Unordnung geraten ist . Wenn
man eines dieser Koalition nicht vorwerfen kann, dann
das, dass sie nicht viel auf den Weg gebracht hat, was für
mehr Sicherheit sorgt .


(Beifall der Abg . Kerstin Tack [SPD])


Die Verkürzung der Arbeitszeit alleine macht nicht
gute Arbeit und gutes Leben aus .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Da sind wir uns einig!)


Insofern ist mit dem Antrag ein wenig monokausal ge-
dacht . Gesundheit setzt sich aus vielen Faktoren zusam-
men: dem Status der Bildung, dem Erholungsverhalten,
den Lebensverhältnissen . Deswegen bleibt Verhältnisprä-
vention eine Aufgabe .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Hier haben wir von der Bildung bis zum Thema „gute
Arbeit“ eine Menge auf den Weg gebracht; die Kollegen
haben das bereits erwähnt .

Wir müssen uns immer wieder Gedanken darüber ma-
chen, warum das untere Fünftel der Einkommensbezie-
her nicht nur eine kürzere Lebenserwartung hat, sondern
sich bei ihnen auch eine Reihe chronischer Erkrankungen
einstellen, die die Lebensqualität beeinträchtigen . Es sind
verlorene Jahre, über die wir hier reden . Das erwähne ich
immer wieder, weil es wichtig ist, einen Blick auf diese
Gruppe zu werfen . Hier setzt nicht zuletzt das Präventi-
onsgesetz im Setting an . Ich komme nur kurz darauf zu
sprechen . Ich habe nur schlappe fünf Minuten Redezeit;
deswegen kann ich nicht alles kommentieren .

Bezogen auf die Arbeitsdauer erleben wir natürlich
beides, Mehrarbeit, die viele machen, auch unbezahlt,
aber auch Teilzeitarbeit . Es gibt natürlich mehr Schicht-
arbeit, mehr Nachtarbeit, auch Frauen betreffend, bei de-
nen durch die Rollenvielfalt ein gesundheitsgefährdender
Faktor hinzukommt . Insofern: Wir haben schon viel ge-
macht; aber es ist auch noch viel zu tun .

Durch den Mindestlohn zum Beispiel, der bei 3,6 Mil-
lionen Arbeitnehmern zu einer Verdoppelung ihres Ein-
kommens geführt hat – das war nur der Anfang –, wird
aufgrund der Dokumentationspflichten vieles aufgedeckt.
Auch das sind Daten, mit denen wir zu arbeiten haben .


(Beifall bei der SPD)


Wenn Sie die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
fragen, was für sie gute Arbeit ausmacht – das ist vom
Bundesamt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin abge-
fragt worden –, dann steht für sie an oberster Stelle die
Sicherheit: der sichere Arbeitsplatz, das sichere, verläss-
liche Einkommen . Arbeit soll abwechslungsreich und
sinnvoll sein . Es geht um die gegenseitige Förderung,
das Miteinander, auch um den Gesundheitsschutz am Ar-
beitsplatz; darauf komme ich noch zu sprechen . Insofern

Gabriele Schmidt (Ühlingen)







(A) (C)



(B) (D)


ist es wichtig, dass wir uns im Moment zum Beispiel mit
der Leiharbeit und den Werkverträgen beschäftigen .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bitte nicht ansprechen! Bitte nicht! Das ist zu schlecht, das Gesetz!)


Gestern wurde ein Gesetz eingebracht, das den Betriebs-
räten hier mehr Verantwortung und mehr Mitsprache-
recht einräumt . All die anderen Gesetze – zur Zeitsouve-
ränität, zur Flexirente – wurden schon erwähnt .

Schade ist, dass wir die Abschaffung der sachgrundlo-
sen Befristung von Arbeitsverhältnissen nicht im Koaliti-
onsvertrag verankern konnten . Das bleibt eine Aufgabe –
ein ganz wichtiger Punkt –, und es deckt sich mit dem,
was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fordern .


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!)


– Ja, das sei Ihnen zugestanden .

Ich will aber auch sagen, dass wir vieles schon haben .
Dazu gehört nicht nur die Gemeinsame Deutsche Arbeits-
schutzstrategie von Bund, Ländern und der gesetzlichen
Unfallversicherung, sondern auch das Präventionsgesetz,
mit dem wir die Betriebsräte und die Betriebsärzte ge-
stärkt haben .

Wir müssen uns natürlich mit den Ursachen von Früh-
verrentung befassen . Erwerbsunfähigkeitsrentner treten
heute im Durchschnitt mit gut 50 Jahren in die Rente ein .

Die Kosten für die Rentenversicherung liegen bei über
15 Milliarden Euro . Das ist eine hohe Summe . Damit
es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besser geht,
müssen wir den Betrieb als Setting – so sagt es das Prä-
ventionsgesetz – jetzt mit allen Möglichkeiten nutzen . Es
gibt dafür mehr Geld . Diesen Bereich können wir stär-
ken, und damit auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1819110100

Ich schließe die Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8724 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 28 . September 2016, 13 Uhr, ein .

Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende .