Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich zur letzten Plenarsitzung in dieser Woche .
Der Bundestag ist nicht nur, aber auch deswegen heu-
te Morgen zusammengetreten, um dem Kollegen Ulrich
Petzold zu seinem heutigen 65 . Geburtstag zu gratulieren
und nachträglich dem Kollegen Wilfried Lorenz, der in
der vergangenen Woche seinen 74 . Geburtstag gefeiert
hat . Ihnen beiden alle guten Wünsche des Hauses für das
neue Lebensjahr .
Wir rufen jetzt den Tagesordnungspunkt 38 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung zur weltweiten
Lage der Religions- und Weltanschauungs-
freiheit
Drucksache 18/8740
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Das ist offen-
kundig einvernehmlich . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Schon vor fast 20 Jahren hat die CDU/CSU-Bundestags-fraktion das Erstellen eines Berichts über Religionsfrei-heit und die Verfolgung von religiösen Minderheiten imDeutschen Bundestag thematisiert . Das war unter derRegierung Schröder . Die Regierung Schröder sah da-mals keine Veranlassung, feststellen zu lassen, dass eseine nennenswerte Verfolgung vor allem von Christen inder ganzen Welt gibt . Heute diskutieren wir erneut übereinen Bericht der Bundesregierung . Dieser Bericht zurweltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungs-freiheit ist erstmals aufgrund eines Antrages aus diesemParlament entstanden . Zunächst einmal muss man sagen,dass wir dafür dankbar sind, dass die Bundesregierungdiesen Bericht verfasst hat und wir heute die Möglich-keit haben, über dieses Thema, über das wohl wichtigsteMenschenrecht überhaupt, das Recht auf Religionsfrei-heit, miteinander zu diskutieren .In diesem Bericht wird an mehreren Beispielsfällender Frage nachgegangen, was die typischen Verfolgungs-muster sind . Wobei in diesem Bericht auch klargestelltwird, dass es unterschiedliche Formen der Verfolgunggibt: Es gibt zum Beispiel die Ausgrenzung . Es gibt aberauch schwere Strafen für Vergehen gegen die Vorgabeneines Staates, dass nur bestimmte Religionen zugelassenwerden .Dieser Bericht widmet ein besonderes Kapitel einemThema, das zunehmend Anlass für Unterdrückung undVerfolgung ist, nämlich die Frage der Konversion . In Ar-tikel 18 der Menschenrechtscharta der Vereinten Natio-nen steht nämlich nicht nur expressis verbis, dass jederdas Recht hat, seine Religion frei und öffentlich zu leben,sondern dort steht auch, dass jeder das Recht hat – weildies zur Religionsfreiheit gehört –, seine Religion zuwechseln oder auch nichts zu glauben . Es gibt eine ganzeReihe von Staaten – vor allem islamische Staaten undStaaten, in denen Muslime die Mehrheit darstellen –, indenen der Wechsel vor allem aus der islamischen Religi-on mit Strafen, teilweise mit harten Strafen bedroht wird .Selbst in den Ländern, in denen die Religionsfreiheit inder Verfassung garantiert wird, gibt es in Gesetzen undStrafgesetzbüchern harte Sanktionen bei einem Wechsel,
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immer wieder auch mit dem Hinweis darauf, dass er dannbestraft wird, wenn er öffentliches Aufsehen erregt hat.Aber wer entscheidet darüber, was „öffentliches Aufse-hen“ bedeutet? Wenn jemand die Religion wechselt unddies in einem kleinen Dorf bekannt wird, kann das natür-lich zu Aufsehen führen, weil die Angehörigen der Re-ligion, von der man gewechselt ist, dies publik machen .Diesem Punkt wird eine besondere Aufmerksamkeit zu-gewendet .Allerdings stellt der Bericht ein gewisses Problem füruns, die wir uns schon seit vielen Jahren und Jahrzehn-ten mit diesem Thema befassen, dar . Es wird nämlichvom klassischen Muster der sogenannten Länderberich-te abgewichen . Jetzt kann man sagen: Gut, man kann jaein neues Darstellungsverfahren wählen . – Aber warumgerade hier und beispielsweise nicht in dem Bericht zurMenschenrechtslage, der auch regelmäßig vorgelegtwird und in dem Beschreibungen nach Länderkategori-en oder zumindest nach regionalen Kategorien erfolgen?Das führt dazu, dass man intensiv nachschauen muss,wo bzw . in welchen Kapiteln die entsprechenden Länderaufgeführt sind, und dann zusammentragen muss, wasdie Bundesregierung dazu meint, wie schlimm, wie tra-gisch oder wie auffällig die Verfolgungssituation in denverschiedenen Ländern ist . Das hat zur Folge, dass – si-cher aus Versehen – auch das eine oder andere vergessenwird .Ein Beispiel . Alle, die sich intensiv mit diesem The-ma befassen, wissen, dass vor allem Pakistan mit seinenBlasphemiegesetzen eine besondere Sanktion im Bereichder Religionsfreiheit – in Anführungsstrichen – vorsieht .Schaue ich mir nun in diesem Bericht die verschiedenenStellen an, an denen Pakistan aufgeführt wird, stelle ichfest: Dort steht, dass in Pakistan vor allem muslimischeMinderheiten verfolgt werden . Es steht dort kein einzigesWort darüber, dass in Pakistan Christen verfolgt werden,und dies vor dem Hintergrund – das muss ich der Bundes-regierung schon sagen –, dass wir alle seit Jahren, auchhier in diesem Haus, mit großer Sorge das Schicksal vonAsia Bibi verfolgen, die mit ihren fünf Kindern noch im-mer im Gefängnis sitzt . Das letzte Urteil ist noch immernicht gesprochen . Wir müssen immer noch bangen, dassdas Todesurteil gegen sie nicht doch vollstreckt wird .Dass in dem Bericht im Zusammenhang mit Pakistan dasThema „Christen und Asia Bibi“ nicht erwähnt wird, istnicht akzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Wir finden in diesem Bericht auch neue Begrifflich-keiten, die im Menschenrechtsbericht nicht auftauchen,etwa „antimuslimischer Rassismus“ . Gleichzeitig wirddie sogenannte Christianophobie, die im Menschen-rechtsbericht noch ausdrücklich benannt wird, in diesemBericht gar nicht aufgeführt . Der Hinweis auf antimus-limischen Rassismus ist außerordentlich schwierig . Beider Einführung dieses Begriffs hätte man zumindest ei-nen Hinweis auf die sehr intensive Diskussion über die-sen Begriff – ob man so etwas überhaupt sagen kann –erwarten können .Ein Letztes . Wenn wir uns anschauen, was in dieserWelt passiert, dann sehen wir, dass Angehörige von Min-derheiten bis hin zum Tod verfolgt werden . Ich denke da-bei beispielsweise auch an Muslime im Irak . Allerdingssteht in diesem Bericht nur relativ wenig – um nicht zusagen: fast nichts – darüber, dass die Christen die größteverfolgte Gruppe in der ganzen Welt sind – mindestens100 Millionen Menschen –, und er enthält beispielsweiseauch keine Hinweise auf Boko Haram in Afrika . Das zeigtschon, dass wir uns in der Diskussion im Ausschuss mitdiesem Punkt noch einmal ausdrücklich befassen müs-sen . Hier reicht der Hinweis auf den Bericht der beidengroßen Kirchen, der evangelischen und der katholischenKirche – und ich füge hinzu: auch der jährliche Berichtvon Open Doors zu diesem Thema wurde wahrscheinlichvergessen –, nicht .
Man fragt sich, ob es in dieser Frage nicht doch not-wendig wäre, dem Beispiel anderer Staaten zu folgen .Die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und Nor-wegen beispielsweise haben bzw . hatten einen Sonder-botschafter für Religionsfreiheit . Bisher wurde dies ausder Bundesregierung immer mit dem Hinweis abgelehnt:Wir haben ja einen Menschenrechtsbeauftragten . – Aberman sieht deutlich, dass Menschenrechte im Allgemei-nen und Religionsfreiheit im Besonderen unterschiedli-che Ansatzpunkte haben . Gerade deshalb, weil wir jetzterleben, dass Religion zu einem dramatischen Themapolitischer Auseinandersetzungen wird – bis hin zu derFrage von Krieg und Frieden –, würde ich mir wünschen,dass wir uns mit dieser Frage noch einmal ausführlichbeschäftigen .Wir hatten in der letzten Woche eine große internatio-nale Parlamentarierkonferenz zum Thema Religionsfrei-heit hier in Berlin in unserem Fraktionssitzungssaal . AlleReligionen waren dort vertreten, und wir haben teilweisedramatische Berichte von Abgeordneten gehört, die Min-derheiten angehören . Besonders dramatisch war der Be-richt einer Kollegin aus Pakistan, die dargelegt hat, wiees in diesem Land aussieht . Deswegen sollten wir uns,glaube ich, in den Beratungen des Ausschusses noch ein-mal ausführlich mit dieser Frage befassen .Ich fasse zusammen: Wir sind dankbar, dass die Bun-desregierung diesen Bericht erstmals vorgelegt hat . Ichweiß aus vielen Besuchen bei deutschen Botschaften inder ganzen Welt, dass sie unglaublich gute Informationenüber die konkrete Situation im jeweiligen Land habenund uns darüber auch sehr pointiert berichten . Ich würdemir wünschen, dass in einem neuen Bericht darüber mehrzu lesen wäre .Vielen Dank .
Der nächste Redner ist Gregor Gysi für die FraktionDie Linke .
Volker Kauder
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dassich nach der Rede leider gehen muss, weil ich auf einerEuropakonferenz meiner Fraktion zu sprechen habe .
Es handelt sich also nicht darum, dass mich das nicht in-teressiert, und ich verspreche Ihnen auch: Alle Reden zudiesem Debattenpunkt werde ich anschließend lesen .Wenn wir über Religions- und Glaubensfreiheit dis-kutieren, müssen wir auch die europäische Geschichtebetrachten . Sie alle wissen: Im Mittelalter, vom 11 . biszum 13 . Jahrhundert, gab es entsetzliche Kreuzzüge .Gewaltsam wurde das Christentum durchgesetzt . Wennheute über Flüchtlinge gesprochen wird, sollten wir auchan andere Teile der europäischen Geschichte denken: Eswaren die Europäerinnen und Europäer, die Nord-, Mit-tel- und Südamerika besetzten und die indigene Bevölke-rung zum Teil grausam umbrachten und unterdrückten .Sie brachten ihre Sprachen – Englisch, Spanisch, Portu-giesisch – auf den amerikanischen Kontinent und setztenihre Sprachen, ihre Kultur und ihre Religion durch . Eswaren Europäerinnen und Europäer, die Australien be-setzten und ihre Sprache, Kultur und Religion gegenüberden Aborigines gewaltsam durchsetzten . Und die Kolo-nien?Trotz der gegenteiligen Unkenrufe von ganz rechts:Eine solche Gefahr besteht für Europa gegenwärtig über-haupt nicht .
Nach den demokratischen Revolutionen in Europa wur-de die Religions- und Glaubensfreiheit zu einem wichti-gen Gut – allerdings mit wesentlichen Einschränkungen,wenn ich an die zahllosen Pogrome gegen Menschenjüdischen Glaubens in vielen europäischen Ländern unddie millionenfache Ermordung von Jüdinnen und Judendurch Nazideutschland denke . In der Allgemeinen Erklä-rung der Menschenrechte der Vereinten Nationen wurdedie Religions- und Glaubensfreiheit nach 1945 als allge-meines Menschenrecht weltweit gefordert . Dazu gehörtauch, dass Religion freiwillig ist – wie Sie es gesagt ha-ben, Herr Kauder –, man sich also auch entscheiden darf,nicht religiös zu sein .
In vielen Verfassungen wird seit dieser Zeit die Reli-gions- und Glaubensfreiheit garantiert . Aber die Praxissah und sieht anders aus . Die staatssozialistischen Länderzum Beispiel benachteiligten einen Teil der gläubigenMenschen und gewährten ihnen keine Chancengleich-heit . Unvergleichlich und viel schlimmer erleben wir dieVerhältnisse heute: Al-Qaida und der „Islamische Staat“verfolgen und jagen Schiiten, also andere Muslime, Je-sidinnen und Jesiden sowie Christinnen und Christen .Ich hätte wirklich nicht geglaubt, in meinem Leben einesolche Verfolgung von Christinnen und Christen noch zuerleben; aber sie geschieht auf barbarische und brutaleArt und Weise .Die Welt ist aber gelegentlich verkehrt gestrickt . WennSie auch mit Assad nicht reden: Er schützt die Christin-nen und Christen, während andere in Syrien sie jagen undverfolgen . – Und in Europa? In Europa gibt es eine im-mer stärkere Diskreditierung von Menschen islamischenGlaubens . Das widerspricht klar dem Stand unserer de-mokratischen und kulturellen Zivilisation .
Wir müssen die Religions- und Glaubensfreiheit auch fürMenschen islamischen Glaubens garantieren . Allerdingswird der Islam auch von Extremisten missbraucht, umGewalt zu rechtfertigen . Diesen Missbrauch hat es voreinigen Jahrhunderten, wie dargestellt, auch im Hinblickauf das Christentum gegeben . Schon deshalb müssen wirentschieden gegen diesen Missbrauch der Religion auf-treten .
Ich wünsche mir, dass gerade die Organisationen fried-licher Muslime in Deutschland sich so entschieden wiemöglich in Verlautbarungen, auf Demonstrationen undKundgebungen von diesem Missbrauch ihrer Religiondistanzieren und ihn verurteilen .
Die AfD erklärt, dass der gesamte Islam nicht zuDeutschland gehöre . Sie beschränkt sich nicht auf denpolitischen Islam, auf den Missbrauch der Religion, son-dern will eine gesamte Religion ausschließen . Sie willMinarette, Schleier und Muezzinrufe verbieten . – Zu denSchleiern werde ich noch etwas sagen . – Außerdem willsie Spenden aus dem Ausland zum Bau von Moscheenverbieten . Da nach dem Grundgesetz Menschen, aberauch Religionsgemeinschaften gleichzubehandeln sind,bedeutete das auch das Verbot von Spenden für den übri-gen Kirchenbau . Wenn man allein an das Verhältnis un-serer katholischen Kirche zum Vatikan oder an das Ver-hältnis der russisch- und griechisch-orthodoxen Kirchenzu Russland und Griechenland denkt, wird einem dieAbsurdität und Abenteuerlichkeit dieser Idee sofort klar .
Die anderen Forderungen der AfD verletzen eindeutigund schwer den Artikel 4 Absatz 1 und 2 unseres Grund-gesetzes . Ich zitiere wörtlich Absatz 1:Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und dieFreiheit des religiösen und weltanschaulichen Be-kenntnisses sind unverletzlich .Absatz 2:Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleis-tet .Stellen Sie sich vor, die AfD käme umfassend an dieMacht . Sie müsste entweder Artikel 4 Absatz 1 und 2des Grundgesetzes streichen, oder, wie die polnischeFührung das polnische Verfassungsgericht, das Bundes-verfassungsgericht entmündigen – dieses Gericht würdeGesetze zur Einschränkung oder zum faktischen Verbot
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der Ausübung einer Religion immer als grundgesetzwid-rig aufheben –, oder sie müsste das Bundesverfassungs-gericht ganz abschaffen. Als nichtreligiöser Mensch sageich Ihnen heute: Gott sei Dank wird die AfD einen sol-chen weitgehenden Einfluss wohl nicht bekommen.
Eine Bitte an die Medien: Wenn man in den MedienMuslime sieht und hört, dann rufen sie entweder so lautnach Allah, dass manche Menschen bei uns Angst be-kommen, oder sie sprengen sich als Selbstmordattentä-ter in die Luft . Wie wäre es damit, einmal die Millionenfriedlich betender, arbeitender und gastfreundlicher Mus-lime zu zeigen, die sich um ihre Kinder, ihre Angehöri-gen, ihre Freundinnen und Freunde kümmern?
Das ist keine Nachricht? Ich glaube, es wäre zurzeit einebesonders wichtige Nachricht .Noch etwas zur Kleidung . Ich denke an das Kopftuchund die Burka . Also, wenn es nicht unbedingt nötig ist,sollte sich der Staat nicht in Kleiderfragen seiner Bürge-rinnen und Bürger einmischen .
Wenn Mädchen und Frauen ihre Kopftücher tragen wol-len, dann ist das ihre Angelegenheit . Wenn sie dazu abergezwungen werden, dann müssen wir sie schützen .
Dasselbe gilt für die Burka, auch wenn ich Menschenlieber ins Gesicht sehe . Allerdings muss es hier – auchwenn die Burka freiwillig getragen wird – Einschränkun-gen geben: Erzieherinnen, Lehrerinnen, Beschäftigte imöffentlichen Dienst mit Publikumsverkehr, Richterinnen,Staatsanwältinnen, Notarinnen, Rechtsanwältinnen undandere müssen bei ihrer Arbeit ihr Gesicht zeigen: für dieKinder, für andere Bürgerinnen und Bürger, für die Öf-fentlichkeit . Außerdem gibt es Kontrollen, bei denen dasGesicht gezeigt werden muss .Mit anderen Worten: Das Notwendige müssen wirregeln und ansonsten die Freiheit der Menschen, ein-schließlich der Religions- und Glaubensfreiheit sowiedes Rechts auf Freiheit von der Religion, achten .
Es gilt, diese Freiheit in Deutschland durchzusetzenund dafür weltweit zu streiten . Für Menschenrechte kannman sich nicht je nach politischen Gegebenheiten einset-zen, wie es die Bundesregierung macht . Sie schweigt zuvielen Menschenrechtsverletzungen von Erdogan, undin anderen Fällen nutzt sie Menschenrechtsverletzungensogar als Begründung für militärische Aktionen . Das isthöchst unglaubwürdig .
Für Menschenrechte muss man sich immer und gegen-über jedermann einsetzen, sonst wird man diesbezüglichunglaubwürdig .
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion ist der nächste
Redner .
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich willmich beim Auswärtigen Amt ausdrücklich dafür bedan-ken, dass wir diesen Bericht vorliegen haben und ihnheute debattieren können . Ich will mich gerade deshalbbedanken, weil er eben nicht im Detail einzelne Vor-kommnisse in einzelnen Ländern beschreibt – es gibtnämlich ganz viele solcher Berichte –, sondern weil eruns – ich glaube, das gibt uns viel mehr Gelegenheit, inder Tiefe zu diskutieren – die Systematik von Verletzun-gen des Menschenrechts auf Religionsfreiheit oder aufFreiheit von Religion deutlich macht .Diese Systematik fällt nicht vom Himmel, vielmehrbasiert sie maßgeblich auf der Arbeit von Herrn Profes-sor Heiner Bielefeldt, die er seit sechs Jahren als Son-derberichterstatter der Vereinten Nationen für Religions-und Weltanschauungsfreiheit geleistet hat, im Übrigenunterstützt und mitfinanziert durch die BundesrepublikDeutschland . Er hat, wie gesagt, maßgeblich an diesemBericht mitgewirkt . Ich glaube, dieser Bericht gibt eineneue Tiefe, eine neue Schärfe und uns eine neue Mög-lichkeit, uns mit der Frage der Religionsfreiheit ausei-nanderzusetzen . Ich will an dieser Stelle, vielleicht imNamen des ganzen Hauses, Herrn Professor Bielefeldtfür diese Arbeit ganz herzlich danken .
Ich will mich aber auch bei den Fraktionen bedanken,die sich in unterschiedlicher Art und Weise eingebrachthaben . Dass es diesen Bericht der Bundesregierung gibt,basiert auf einem Antrag und einem Beschluss des Bun-destags . Ich will mich auch bei denjenigen bedanken, diein den einzelnen Fraktionen für Kirchenfragen zuständigsind: bei Herrn Dr . Jung von der Union, bei Volker Beck,der gleich noch sprechen wird, aber auch bei KerstinGriese, die heute leider nicht hier sein kann, weil sie inKirchenfragen unterwegs ist . Es gab einen konstruktivenDialog über die Frage, wie der Bericht von denjenigen,die in den Fraktionen für Kirchenpolitik zuständig sind,und denjenigen, die sich hier im Bundestag auf umfas-sende Weise für Menschenrechtsfragen zuständig fühlen,erstellt werden soll .Es handelt sich um einen hochinteressanten Bericht,weil er, wie gesagt, nicht enumerativ die Situation in deneinzelnen Ländern aufzeigt . Vielmehr gibt er Einblickdarin, dass Religionsfreiheit immer etwas mit der allge-meinen Lage in den einzelnen Ländern zu tun hat . In denbetreffenden Ländern ist nämlich nicht nur die Religions-freiheit gefährdet . Vielmehr hat das auch etwas mit denDr. Gregor Gysi
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Grundstrukturen der Einschränkung von Menschenrech-ten zu tun; das macht dieser Bericht deutlich . Der Be-richt macht im Übrigen auch deutlich – es ist spannend,sich mit dieser Frage zu befassen; das ist die Aufgabevon Heiner Bielefeldt in den letzten sechs Jahren gewe-sen –, wie unterschiedliche Grund- und Menschenrechtesich überschneiden und miteinander kollidieren können .So werden gelegentlich im Namen der Religionsfreiheitandere Rechte, zum Beispiel die Rechte von Frauen inden Bereichen Gleichberechtigung und Meinungsfrei-heit, infrage gestellt . Hier einen Ausgleich herzustellen,darüber zumindest zu reden und das zu problematisieren,das leistet der vorliegende Bericht eben auch .Noch einmal: Religionsfreiheit kann nicht isoliert be-trachtet werden . Vielmehr hängt sie mit Menschenrechts-fragen und dem Menschenrechtsklima in den Ländernzusammen . Deswegen wünsche ich mir für die Zukunft,dass Menschenrechtsberichte der Bundesregierung odervon Institutionen genau diese Abwägung vornehmen undeine Frage, beispielsweise die Religionsfreiheit, nichtisoliert betrachten, sondern im Zusammenhang darstel-len .
Christen stellen zweifellos die größte Gruppe dar undsind am meisten von Verfolgung betroffen. Aber in derTat sind alle Religionen von Verfolgung betroffen, wennauch auf unterschiedliche Art und Weise . Das hängt vonder spezifischen Situation in den jeweiligen Ländern ab.Ich will ausdrücklich sagen: Es ist falsch, nur auf dasChristentum zu fokussieren, wie es gerade in Ungarngeschieht. Dort soll eine Behörde geschaffen werden,die sich um den Schutz verfolgter Christen in der Weltkümmert . Das ist richtig, ganz zweifellos richtig . Aberes hilft auch verfolgten Christen nicht so sehr, wenn mannur darauf fokussiert . Es hilft auch Christen, wenn wirVerfolgung aus religiösen Gründen weltweit in den Blicknehmen .
Man muss zudem deutlich machen, dass es im Kern häu-fig gar nicht um religiöse Auseinandersetzungen geht.Vielmehr geht es oft um machtpolitische Auseinander-setzungen. Ländern werden religiöse Konflikte geradezuaufgedrückt . Auch das zu erwähnen, gehört zur Debatte .
Worum es überhaupt nicht geht – das behauptet hierauch niemand, aber das wird ja gelegentlich draußen imLand behauptet –, das ist die Frage, ob es einen Kampfzwischen dem Christentum und dem Islam gibt . Wennman sich die Lage realistisch anschaut, dann stellt manfest, dass es sich bei vielen Konflikten eher um innerislamische Konflikte handelt oder es um Fragen derGlaubensauslegung geht . Zweifellos werden Christenin Nordkorea verfolgt . Aber ich selber habe im letztenJahr gesehen, dass buddhistische Mönche in Myanmargegen die muslimische Minderheit der Rohingya hetzen;das hätte ich mir zuvor nicht vorstellen können . Es gibthinduistische Eiferer in Indien, die gegen Muslime undChristen hetzen . Alles das gibt es leider .Es ist wichtig, das zu betrachten, aber es fällt auch re-lativ leicht, nach außen zu schauen, zu gucken, was inder Welt los ist und welche Probleme die einzelnen Län-der mit der Religionsfreiheit haben . Viel schwieriger istjedoch, sich mit der Situation im eigenen Land – zumGlück in anderer Ausprägung – auseinanderzusetzen . InDeutschland gibt es Debatten darüber, die Religionsfrei-heit möglicherweise einzuschränken . Es ist schwierig,sich damit auseinanderzusetzen, weil es Mechanismen,bei denen die Frage der Religionsausübung für machtpo-litische Konflikte benutzt wird, in jedem Land der Welt,also auch in Deutschland, gibt . Die größte Minderheit inDeutschland sind – darauf hat Herr Gysi gerade hinge-wiesen – die Muslime . Man muss nicht besonders da-rauf hinweisen, dass in Zeiten von Terrorgefahren einehochkritische Debatte über das Recht von Muslimen aufReligionsausübung geführt wird . In Deutschland gibt eszum Glück das Grund- und Menschenrecht auf Religi-onsfreiheit . Das heißt – das müssen wir dann aber auchdeutlich sagen –, dass alle Menschen in diesem Land dasRecht haben, zum Beispiel Gotteshäuser zu bauen . Dazugehören auch Moscheen, und das sind dann Moscheenmit Minaretten .
Damit überhaupt nicht vereinbar – da wundere ich michüber manche aktuelle Debatte – ist die Überlegung, Quo-ten für Flüchtlinge nach religiöser Zugehörigkeit einzu-führen . Das sind Vorstellungen, die mit der Religionsfrei-heit in diesem Land überhaupt nicht vereinbar sind .
Ich wünsche mir, dass dieser wirklich hervorragendeBericht, der, glaube ich, auch für andere Länder dieserWelt wegweisend ist, Anlass gibt, über Religionsfreiheitin der Welt nachzudenken, und uns ermuntert, aufzuste-hen und sich, wenn man in anderen Ländern der Weltunterwegs ist, zu Wort zu melden und laut dafür einzutre-ten, wie zum Beispiel Herr Kauder das tut . Ich wünschemir auch, dass er Anlass ist, einmal innezuhalten unddarüber nachzudenken, was Religionsfreiheit gerade imZusammenhang mit den aktuellen Fragen auch für diesesLand bedeutet . Es geht eben nicht nur um Kämpfe gegen-einander, sondern es geht darum, zu erkennen, dass es inmanchen Ländern bestimmte Strukturen gibt, die die Re-ligionsfreiheit, aber auch die Menschenrechte insgesamtgefährden . Das zusammen zu sehen, ist, glaube ich, diegroße Stärke dieses Berichts .Vielen Dank .
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält derKollege Volker Beck das Wort .Frank Schwabe
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Religi-onsfreiheit ist immer die Freiheit der Andersgläubigen,der religiösen Minderheiten, der Religionsfreien und derMinderheiten in großen Religionsgemeinschaften und re-ligiösen Gruppierungen . Die Religionsfreiheit ist in Arti-kel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,im UN-Zivilpakt und in Artikel 4 unseres Grundgesetzesverankert .Oft wird vergessen, dass die Religionsfreiheit drei Di-mensionen hat, die alle gleichermaßen für die Gewähr-leistung der Freiheit von Gesellschaften und der Freiheitder Individuen von großer Bedeutung sind . Das ist zumeinen die positive Religionsfreiheit des Einzelnen . Dasist die Religionsfreiheit von Gemeinschaften der Gläu-bigen, und es ist die negative Religionsfreiheit, von denVorstellungen im religiösen Bereich anderer unbelästigtseine freiheitliche Lebensgestaltung verwirklichen zukönnen . Nur alle drei Dimensionen zusammen konstitu-ieren eine freiheitliche Politik für eine freiheitliche Ge-sellschaft .
Dies ist weltweit in Gefahr . Da, wo die Menschen-rechtslage schwierig ist, ist es meistens auch um die Reli-gionsfreiheit nicht besonders gut bestellt . Deshalb glaubeich, dass die Diskussion um diesen Bericht und das The-ma „Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ auch eineChance für die Menschenrechtspolitik international undvor allen Dingen in Genf ist .
Jede Religion weltweit ist irgendwo in der Minderheit .Manche sind auch irgendwo in der Mehrheit . Aber da, woman in der Minderheit ist, ist man immer darauf angewie-sen, dass die religiösen Mehrheiten einem diese Freiheitgewähren und die Entfaltung der Persönlichkeitsrechterespektieren .Ich denke, dieser Bericht, der ein guter Ansatz ist, weiler die verschiedenen Dimensionen und Konfliktfeldervon Religions- und Weltanschauungsfreiheit aufzeich-net, bleibt hier ein bisschen hinter seinen Möglichkeitenzurück . Der Kollege Kauder hat es schon angesprochen,und ich teile diese Auffassung. Ich denke, wenn wir dieChance nutzen wollen, auf dem internationalen ParkettEntwicklungen bei der Beschränkung der Religionsfrei-heit rechtzeitig zu erkennen und darauf außenpolitischund entwicklungspolitisch zu reagieren, dann brauchenwir länder- und regionenscharf einen Hinweis darauf, woetwas besser ist, was wir unterstützen können, und wosich etwas zum Unguten entwickelt .
Der Bericht zeigt zu Recht auf, dass mancher Kon-flikt, der unter der Flagge „Kampf zwischen Religionen“daherkommt, oftmals andere Ursachen hat: regionale,lokale Verteilungskonflikte, Konflikte zwischen Regio-nen und Ethnien . Es ist oftmals ein Alarmsignal für dasFortschreiten eines Konfliktes und das Umschlagen vonAuseinandersetzungen in heiße kriegerische Auseinan-dersetzungen, wenn die Konfliktlage religiösideologischüberwölbt wird . Ungleiche Machtverhältnisse ökonomi-scher und sozialer Art werden in dem Bericht benannt .Die Religion dient hier nur als Begründungszusammen-hang, um bestehende Verhältnisse aufrechtzuerhaltenoder Verteilungskonflikte zu legitimieren. Ich glaube,ein anders aufgestellter Religionsbericht der Bundesre-gierung könnte in Zukunft, wenn wir einen solchen Be-richt regelmäßig erstellen, auch ein Seismograf für Fehl-entwicklungen auf dieser Welt sein und uns frühzeitigalarmieren, um konfliktpräventiv auch politisch zu inter-venieren, und er könnte damit vielleicht den Menschenauf dieser Welt manches Elend ersparen .
Ich rate auch dazu, das Thema nicht für falsche Polarisie-rungen zu nutzen . Der Wettbewerb um die Frage, welcheMinderheit auf dieser Welt am stärksten religiös verfolgtist, bringt uns nicht weiter . Er ist zum Teil auch banal .
Die Christen sind die größte religiöse Gruppe auf die-ser Welt . Deshalb ist es nicht besonders verwunderlich,dass sie auch unter den Religionsverfolgten die größteGruppe darstellen . Eine Gruppe wie die Bahai, die welt-weit nur wenige Millionen Mitglieder hat, aber eine ei-genständige Weltreligion ist, kann mit den Zahlen derChristen selbstverständlich nicht mithalten . Aber schau-en wir uns an, wo die meisten Bahai leben, im Iran undin Ägypten, dann sehen wir, dass diese Gruppe von denstaatlichen Stellen am intensivsten verfolgt wird, weilsie unter das Apostasieverbot des Islam fällt und oftmalssozial-bürgerrechtlich überhaupt nicht zur Kenntnis ge-nommen wird .Herr Kauder, Sie selber waren wegen der Kopten inÄgypten . Sie haben sicher auch Bahai-Vertreter getrof-fen . Die haben oftmals keine Geburtsurkunden, sie kön-nen am wirtschaftlichen Leben nicht teilnehmen, weil sieformalrechtlich nicht existent sind und keine Unterlagenüber ihre Existenz bekommen . Obwohl sie gut ausgebil-dete Leute sind, sind sie völlig ausgeschlossen und müs-sen immer fürchten, Opfer von Gewalttätigkeiten randa-lierender Banden zu werden .Es bringt nichts, dahin zu schauen und zu sagen: Dasist aber eine kleine Gruppe, die Christen sind eine großeGruppe . – Wir müssen uns um jeden und jede Einzelnekümmern, deren Religionsfreiheit in Gefahr ist,
ob das die Rohingya in Myanmar oder ob das christli-che Gruppierungen im Iran sind . Es gibt nämlich dasProblem, dass in manchen Ländern, gerade im Iran, wodie Rechte von althergebrachten orthodoxen kirchlichenGruppierungen durchaus respektiert werden, neue religi-öse Erscheinungsformen im Christentum, insbesondereaus dem evangelikalen Bereich – das gilt auch für die
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zentralasiatischen Staaten – oftmals brutalster Verfol-gung ausgesetzt sind . Deshalb ist da Präzision und ge-naues Hinschauen erforderlich . Ich glaube, auch imweltweiten Dialog hört man uns nur zu, wenn wir für dasPrinzip der Religionsfreiheit streiten und es verteidigen,nicht wenn wir uns nur um unsere Glaubensbrüder undGlaubensschwestern in anderen Teilen der Welt bemü-hen, zumal das auch nicht besonders christlich wäre .
Es gibt auch die negative Religionsfreiheit; das habeich vorhin angesprochen. Ich finde es sehr gut und mu-tig – da ist der Bericht vergleichbaren internationalen Be-richten deutlich voraus –, dass man erkannt hat, dass esbei der negativen Religionsfreiheit auch um Dinge geht,die nicht in erster Linie im Blick sind, wenn wir überReligionsfreiheit reden . Wenn religiöse Vorstellungendas Familienrecht und das Strafrecht eines Landes prä-gen, wenn es um die Rechte von Frauen geht, das Rechtauf Scheidung, das Recht auf Wiederverheiratung, dasRecht auf Schutz vor sexueller Gewalt, oder wenn es umdie Rechte von Homosexuellen und Transsexuellen geht,geht es auch um die Frage der negativen Religionsfrei-heit bzw . darum, die Möglichkeit zu haben, nicht so seinbzw . leben zu müssen, wie die Mehrheit glaubt, dass esihnen ihr Gott vorgeschrieben hat .
Darauf zu achten und darüber zu reden, ermöglicht esuns vielleicht auch, in Genf mit Ländern ins Gespräch zukommen, bei denen wir sonst beim Thema Frauen- undLGBT-Rechte gleich abblitzen, wenn wir das auch nurerwähnen .Wir sollten einen umfassenden Religionsdialog star-ten und sagen, dass es um die Freiheit der verschiedenenHaltungen und Gemeinschaften geht . Wir sollten sagen:So, wie wir eure mehrheitliche Haltung respektieren wol-len, so erwarten wir, dass ihr in euren Ländern unsere undandere Haltungen in gleicher Weise rechtlich schützt . Ichwürde unsere Diskussion gerne in diese Richtung voran-treiben und hoffe, dass wir uns in den Fachausschüssenzumindest unter den Fraktionen, die diesen Bericht mit-getragen haben, darauf verständigen können, zu sagen:Wir wollen einen Bericht der Bundesregierung zur welt-weiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheitals regelmäßige Institution . Damit wir als Parlamentari-erinnen und Parlamentarier aber besser damit arbeitenkönnen, sollte er länder und entwicklungsspezifisch auf-geschlüsselt sein; denn nur dann macht ein regelmäßigerBericht Sinn .
Johannes Paul II . hat gesagt:Das Recht auf Religionsfreiheit … stellt so etwaswie die Existenzgrundlage für die anderen funda-mentalen Freiheiten des Menschen dar .Ich weiß nicht, ob er das im Sinne des eben von mir Ge-sagten im Hinblick auf die drei Dimensionen meinte .Wenn man es aber so versteht, wird ein Schuh daraus,und es wird uns als Bundesrepublik Deutschland viel-leicht gelingen, in Genf eine neue Initiative für eine bes-sere und fundamentalere Auseinandersetzung über dieGrundlagen der Menschenrechte zu starten .Vielen Dank .
Für die Bundesregierung erhält nun die Staatsministe-
rin Maria Böhmer das Wort .
D
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Bundesregierung hat diesen Bericht aufAntrag des Bundestages vorgelegt . Darin werden dieweltweite Lage sowohl der Religionsfreiheit als auch derWeltanschauungsfreiheit erfasst . Dies geschieht in derÜberzeugung, dass der Religions- und Weltanschauungs-freiheit eine große Bedeutung als Eckpfeiler einer stabi-len und friedlichen Ordnung zukommt . Religionsfreiheitund ein friedliches Zusammenleben bedingen einander .Unser Grundgesetz, die Allgemeine Erklärung derMenschenrechte der Vereinten Nationen und der VN-Zi-vilpakt, den 168 Staaten der Welt ratifiziert haben, schüt-zen das Grundrecht auf Gewissens- und Religionsfreiheit .Keine Frage: Die Religions- und Weltanschauungsfrei-heit ist ein universelles Menschenrecht, und sie wird inimmer mehr Staaten prinzipiell rechtlich abgesichert . DieWirklichkeit aber sieht oft dramatisch anders aus .Millionen von Menschen werden weltweit Tag fürTag in ihrer Religions- und Weltanschauungsfreiheiteingeschränkt . Viele werden verfolgt, gedemütigt undkommen zu Tode . Religion wird missbraucht, um Un-terdrückung, Gewalt und Unrecht zu legitimieren, wiewir es in erschreckender Weise im Irak oder in Syrienerleben . In diesen Urgebieten des Christentums sind esbesonders häufig Christen, die unter Repressionen, Ge-walt und Vertreibung leiden müssen . Aber auch Jesidenund Muslime sind Opfer des brutalen und menschenver-achtenden IS-Terrors geworden . In dieser verzweifeltenSituation gilt es den Menschen zur Seite zu stehen . Zu-nehmend ist zu beobachten, dass schwache Staatlichkeit,Korruption und schwierige wirtschaftliche Bedingungenden mangelnden Schutz von Religionsgemeinschaftenmit verursachen .Über den Stand der Religions- und Weltanschauungs-freiheit liegt uns eine Reihe von nationalen und interna-tionalen Berichten vor . Dabei handelt es sich in der Re-gel um Länderberichte . Im Auswärtigen Amt haben wiruns daher sehr intensiv die Frage gestellt: Was könnteder Mehrwert eines solchen Berichtes sein, den wir demDeutschen Bundestag vorlegen? Wir haben uns für einenneuen, strukturellen Ansatz entschieden . In diesem Be-Volker Beck
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richt wird anhand konkreter Länderbeispiele eine Typo-logie der Rechtsverletzungen entwickelt .Ich halte es für wichtig, dass wir über diesen Ansatzebenso diskutieren wie über die Inhalte des Berichts .Wir geben uns bei diesem Bericht nicht nur mit einerSituationsbeschreibung und einer Analyse zufrieden .Der Bericht zeigt konkrete Ansatzpunkte auf, um gegendie Verletzungen vorgehen zu können: erstens bei derRechtsetzung, zweitens bei der Schaffung von Strukturenund drittens in vielen Einzelfällen . Lassen Sie mich En-gagement und konkretes Handeln der Bundesregierungfür Religions- und Weltanschauungsfreiheit anhand die-ser drei Punkte zusammenfassen .Erstens . Wo Rechtsetzung nötig ist, unterstützt dieBundesregierung diese Prozesse . So konnten in derEU-Ratsarbeitsgruppe Menschenrechte bereits 2013 um-fassende Leitlinien zur Förderung und zum Schutz derReligionsfreiheit beschlossen werden . Wir unterstützendie Arbeit des OSZE-Büros für demokratische Institu-tionen und Menschenrechte . Wir entsenden Personal undfinanzieren Projekte.Zweitens . Wir wollen dauerhafte Strukturen für denDialog, insbesondere für den religiösen Dialog, fördern .Wenn die Kenntnisse über andere Religionen wachsen,wenn Menschen miteinander reden, dann entwickeln sieRespekt und Verständnis füreinander . In Deutschlandhaben wir Erfahrungen mit der Deutschen Islam-Konfe-renz gesammelt . Sie ist jetzt zehn Jahre alt . Sie könnteein Beispiel für andere Länder sein, wie man aufeinanderzugeht und wie man eine solche Plattform schafft.Wir bringen in vielen Ländern geistliche Führer undMenschen unterschiedlicher Religionen zusammen . Dasist kein leichtes Unterfangen . Aber ich bin davon über-zeugt, dass sich solche Vorurteile und Gegensätze nurim Dialog überwinden lassen und so ein friedliches Mit-einander möglich ist . Die deutsche Präsidentschaft imVN-Menschenrechtsrat haben wir vielfach für Religi-onsfreiheit genutzt, und wir haben die Fortsetzung dessogenannten Istanbul-Prozesses unterstützt .Drittens . In vielen Einzelfällen, etwa wenn es umgrausame Strafen oder sogar um drohende Todesstrafengeht, setzen sich das Auswärtige Amt und seine Bot-schaften unmittelbar für die Betroffenen ein. Sie wissen:Um die Opfer nicht unnötig zu gefährden, werden solcheDemarchen oft nicht öffentlich gemacht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnensprechen auf ihren Auslandsreisen die Verletzungen derReligionsfreiheit gezielt an und treffen sich mit Men-schen, die unter religiöser Verfolgung leiden . Ihr Einsatzist mehr als hilfreich, und ich möchte Ihnen dafür sehrherzlich danken .
Religion kann wunderbare positive Kräfte und Ener-gien entwickeln . Sie ist eine Kraft des Guten, aber nur,wenn sie frei ausgeübt, ihre Ausübung geschützt und eineInstrumentalisierung verhindert wird . Der Staat ist dazuverpflichtet, einen Rahmen für diese freie Ausübung zuschaffen. Doch gerade den Religionsgemeinschaftenselbst kommt eine zentrale Verantwortung für ein fried-liches Zusammenleben der Menschen unterschiedlicherReligion zu . Außenpolitik hat hier eine unterstützendeFunktion . Unser Einsatz für Religions- und Weltanschau-ungsfreiheit dient der Krisenprävention und der Stabili-sierung .Die Begegnung mit der Internationalen Parlamentari-ergruppe für Religionsfreiheit vergangene Woche und dieheutige Debatte empfinde ich als eine große Ermutigungauf dem zugegebenermaßen oft steinigen Weg .Herzlichen Dank .
Angelika Glöckner erhält nun das Wort für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir beraten heute über den Bericht derBundesregierung zur Lage der Religions- und Weltan-schauungsfreiheit weltweit. Ich finde, das ist gut so; denngerade mit Blick auf die vielen weltweiten Krisen undKonflikte ist dies von besonderer Bedeutung. Mein Dankgeht ebenfalls an das Auswärtige Amt und allen voran anHerrn Außenminister Frank-Walter Steinmeier für diesenumfassenden Bericht .In Deutschland ist die Religions- und Glaubensfrei-heit ein Rechtsgut von höchstem Rang . Danach steht esdem Individuum frei, seinen Glauben zu bilden, danachzu leben, ihn zu äußern, und ebenso steht es ihm frei, sichdanach zu verhalten, oder auch, sich keinem Glauben zu-zuwenden . Außerdem steht es dem Individuum frei, denGlauben zu wechseln . Das alles zeigt, wie umfassend derSchutzzweck dieser Norm ist und was es heißt, seine Re-ligions- und Glaubensfreiheit ausüben zu können .Der Bericht hebt deutlich hervor, dass aufgrund derUniversalität dieses Menschenrechts der Schutz in derganzen Welt gelten muss . Aber dem ist mitnichten so . Invielen Teilen dieser Welt ist Religionsfreiheit schlicht-weg nicht existent oder im besten Fall bedroht . Daherfinde ich es gut, dass wir heute darüber diskutieren, wieLebenssituationen betroffener Menschen verändert wer-den können. Ich finde den Bericht in seiner Gesamtheitsehr aufklärend . Es sind sehr viele gute Ergebnisse ent-halten . Ich will auf zwei Punkte besonders eingehen .Erstens wird darauf hingewiesen, dass es ganz un-terschiedliche Formen von Verletzungen des Rechts aufReligionsfreiheit gibt . Diese können sich zeigen im er-schwerten Zugang zu Bildung, zu öffentlichen Ämternbzw . Mandaten oder in der Verweigerung, eine Natio-nalität anzuerkennen oder Pässe auszustellen . Es kanneinen Verstoß aus Familien geben, bis hin zu Folter,Vertreibung und im schlimmsten Fall sogar Tod . Men-schenrechtsverletzungen finden in allen Systemen, inallen Regionen weltweit statt . Das zeigt aber auch, wieStaatsministerin Dr. Maria Böhmer
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folgerichtig es ist, dass der Bericht dieses Thema so dif-ferenziert beleuchtet; denn so verschieden die Formender Menschenrechtsverletzungen ausfallen, so unter-schiedlich muss ihnen entgegengewirkt werden .
Zweitens erfolgt der Hinweis, dass Religionen vonRegimen oft missbraucht werden, um den eigenenMachtanspruch zu untermauern und Minderheiten zu un-terdrücken . Wir kennen das von den Rohingya-Muslimenin Myanmar oder auch von der Gewalt gegen Christenund Muslime in Indien . Es kommt auch vor, dass Staatenihre Bevölkerung nicht vor Menschenrechtsverletzun-gen schützen können oder wollen, etwa weil das Staats-system sehr zerbrechlich ist – Syrien, Irak, Nordafrikaund die Länder der Sahelzone sind gute Beispiele – oderweil anstelle von Staatlichkeit Korruption und Willkürvorherrschen, so wie es in Saudi-Arabien oder Iran derFall ist . All diesen Gewalttaten und Einschränkungenist gemein, dass die Religion meist nur als Argument in-strumentalisiert wird und eben nicht ursächlich ist fürGewalt, Verfolgung und Diskriminierung .Gemein ist all diesen Verbrechen aber auch, dass siefast immer in Staaten vorkommen, in denen auch weite-re Menschen- und Freiheitsrechte nicht garantiert sind .Deshalb darf Religionsfreiheit nicht losgelöst von ande-ren Menschenrechten betrachtet werden . Wir müssen unsdafür einsetzen, dass Staaten sich allen Menschenrechtenverpflichtet fühlen. Das gilt insbesondere für Freiheits-rechte wie die Meinungsfreiheit oder die Pressefreiheitund eben auch die Religions- und Weltanschauungs-freiheit . Wie stark sich Deutschland bereits heute dafürmacht, zeigt der Einsatz in vielen Gremien, etwa den Ver-einten Nationen, der EU, der OSZE oder dem Europarat .Wir sind in vielen Ländern an Projekten zur Förderungvon Bildung und einer effektiven Justiz beteiligt sowie anProjekten im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit,die Vertrauen zwischen religiösen Gruppen schaffen undVorbehalte abbauen .Meine Damen und Herren, ich finde, das ist ein ganzwesentlicher Punkt; denn es kommt, wenn wir über Reli-gions- und Weltanschauungsfreiheit reden, sehr maßgeb-lich darauf an, dass es gelingt, unterschiedliche Religi-onsgemeinschaften zusammenleben zu lassen .
Ganz besonders gilt es aber auch, den Dialog mit denVerantwortlichen und Machthabern dieser Welt nicht ab-reißen zu lassen und immer nach politischen Lösungenzu suchen . Ich bin unserem Außenminister Frank-WalterSteinmeier sehr dankbar, dass er ein vehementer Ver-fechter des ständigen Dialogs und politischer Lösungenist und zu jeder Zeit in allen Krisengebieten dieser Weltunterwegs ist .Bei allem, was wir tun, um Religionsfreiheit in derWelt voranzubringen, müssen wir aber auch die Situati-on im eigenen Land und in Europa immer wieder selbstreflektieren. Die Situation in Deutschland in Bezug aufdie Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist gut . Wirhaben eine exzellent funktionierende Rechtsstaatlichkeit .Alle Menschen in unserem Land unterstehen dem Schutzdes Artikels 4 unseres Grundgesetzes und haben dasRecht, ihre Religion oder Weltanschauung frei zu entfal-ten . Wenn sie sich darin beeinträchtigt fühlen, können sieihr Recht ohne Angst vor Repressionen einklagen . Wirmüssen alles dafür tun, dass dies auch so bleibt .Gerade in den letzten Monaten wurden immer wiederVorschläge in die öffentliche Diskussion eingebracht, diemich mit Blick auf die Religions- und Glaubensfreiheitbetroffen machen. Wir selbst wollen in unserem Landfrei leben . Wenn wir dies selbst wollen, dann müssenwir dies aber auch für andere gelten lassen . Es gibt keinGleich und Gleicher; auch das gebietet unser Grundge-setz . Forderungen wie die, Zuwanderer aus dem christ-lich-abendländischen Kulturkreis vorzuziehen, habennach den Grundsätzen, über die wir heute sprechen, hierkeinen Platz .
Ich wünsche mir, dass auch der Koalitionspartner mitBlick auf die heutige Diskussion noch einmal darübernachdenkt . Genau so, auf Basis dieser Werte und einge-bunden in eine feste Wertegemeinschaft mit den europäi-schen Partnerstaaten, ist es uns gelungen, Deutschland zudem zu machen, was es heute ist: ein sehr wohlhabendesund hochangesehenes Land, ein Land, auf das man stolzsein kann . Darüber sollte man nachdenken, bevor manjenen nacheifert, die ebendiese Werte infrage stellen .Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Erika Steinbach von
der CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Religion ist ein elementarer Teil der Identität vonGläubigen unterschiedlichster Konfessionen . Aufgrundvon Forschungen wissen wir, dass Religiosität von An-fang an Menschen in ihrer Identitätsbildung unterstütztund ihnen hilft, die Fragen der eigenen Existenz und zumPlatz im Leben und in der Welt zu beantworten . Darumist es so unverzichtbar, den eigenen Glauben artikulierenund leben zu dürfen . Deshalb ist es richtig, dass Religi-onsfreiheit ein ganz zentrales Menschenrecht ist .
Leider müssen wir erkennen, dass die Unterdrückungvon Religionen und damit die Unterdrückung von Men-schen in den letzten Jahren beständig zugenommen hat,wobei insbesondere Religionsgemeinschaften, die in ih-rem Land zu einer Minderheit gehören, davon betroffensind . Diese Einschränkungen der Religionsfreiheit sindhäufig Ergebnis gezielter Politik, etwa wenn die Mehr-heitsreligion ihren Wahrheitsanspruch staatlich verankerthat und auf jeden Fall durchsetzen will . Aber auch dasAufkommen extremistischer und terroristischer Orga-Angelika Glöckner
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nisationen in Verbindung mit schwacher Staatlichkeitführt – für uns deutlich erkennbar – zu religiös begründe-ten Gewaltexzessen . Das können wir im Nahen Osten auftragische Weise beobachten .Unsere Fraktion, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,setzt sich seit vielen Jahren im Rahmen ihrer wertege-leiteten Außenpolitik für das Menschenrecht auf Religi-onsfreiheit ein: für die Christen im Nahen und MittlerenOsten genauso wie für die Jesiden im Irak, die Bahai imIran, die Tibeter in China oder die bedrängten Christenund Muslime in Indien, wobei die meisten nicht wissen,dass es dort eine Bedrängung gibt . Von der Anzahl hersind Christen weltweit besonders häufig von Unterdrü-ckung und Verfolgung betroffen.Der Zustand der Religionsfreiheit ist ein deutlicher In-dikator für die allgemeine Menschenrechtslage in einemStaat . Das kann man in allen Staaten dieser Welt verfol-gen . Wo es keine Religionsfreiheit gibt, sind in der Regelauch die anderen zentralen Freiheits- und Menschenrech-te in Gefahr oder schon nicht mehr vorhanden .
Der Bericht der Bundesregierung zeichnet ein glo-bales, aber durchaus noch nicht ganz vollständiges Bildder Herausforderungen für die Religionsfreiheit; VolkerKauder hat darauf mit gutem Recht hingewiesen .Für Deutschland müssen wir darüber hinaus registrie-ren und erkennen, dass als Folge der großen Migrations-bewegungen global zu beobachtende Defizite religiöserIntoleranz inzwischen auch verstärkt bei uns spürbarsind . So sind vor allem in den letzten Jahren Menschenaus Gesellschaften nach Europa und nach Deutschlandgekommen, in denen sie ohne religiöse Toleranz aufge-wachsen sind und sie gar nicht kennen; sie wissen garnicht, was religiöse Toleranz ist . Als Folge davon müssenwir in Deutschland schon mit Sorge die Zunahme antise-mitischer Strömungen und unverhohlener Aggressivitätgegenüber Christen, Jesiden und auch gegenüber Kon-vertiten in deutschen Asylunterkünften registrieren .
Frau Steinbach, darf die Kollegin Buchholz eine Zwi-
schenfrage stellen?
Aber gerne .
Frau Steinbach, Sie sprechen hier von „religiöser Into-
leranz“ . Ich will das einmal zusammen mit der Aussage
von Herrn Kauder betrachten, der bezweifelt hat, dass es
in Deutschland antimuslimischen Rassismus gibt, wie
das ja im Bericht der Bundesregierung vermerkt ist . Ich
frage Sie: Wenn sich eine junge Frau viermal öfter be-
werben muss, um einen Job zu bekommen, wenn sie ein
Kopftuch trägt, als wenn sie kein Kopftuch trägt, haben
wir es nicht dann mit einem Rassismus gegen Muslime
zu tun? Ist es nicht so, dass sich Religionsfreiheit nicht
daran misst, wie die Mehrheit behandelt wird, sondern
inwieweit die Minderheiten gleiche Rechte haben? Ich
würde Sie sehr bitten, darauf einzugehen, wie es hier um
die Minderheit der Muslime und andere religiöse Min-
derheiten in Deutschland bestellt ist, und eher vor der
eigenen Haustür zu kehren, bevor Sie den Blick in die
große, weite Welt schweifen lassen .
Frau Kollegin, ich nehme ja gerade die Situation vorder eigenen Haustür, nämlich Deutschland, in den Blick,das ja in dem Bericht praktisch nicht vorkommt . Vor demHintergrund wissen wir: Die Würde eines jedes Men-schen ist nach unserer Verfassung unantastbar .Berichte über Spannungen zwischen verschiedenenreligiösen Gruppen in Flüchtlingsunterkünften, selbstzwischen Angehörigen unterschiedlicher muslimischerGlaubensrichtungen wie Sunniten, Schiiten oder Alevi-ten, zeigen uns, dass das religiöse Konfliktpotenzial hierin Deutschland angekommen ist und uns vor erheblicheHerausforderungen stellt und stellen muss . Wir dürfendiese Situation nicht ignorieren, und wir dürfen die Pro-blematik auch nicht unterschätzen .
Verkennen dürfen wir auch nicht, dass es bei uns inDeutschland inzwischen islamistische Versuche gibt –nicht Versuche des Islam –, Religion als politisches Ve-hikel zu missbrauchen und zum Beispiel das Tragen aus-grenzender Kleidung wie Burka oder Nikab als religiöszu begründen, obwohl dem so nicht ist .
Ein Mitglied des Hohen Geistlichen Rates der Al- Azhar-Universität in Kairo hat deutlich gesagt: Der Nikab scha-det dem Islam . –
Das sollten wir uns hier in Deutschland dann auch einmalvor Augen führen . Gesellschaftspolitische Vorstellungenmithilfe von solchen extremistischen Bekleidungsvor-schriften umzusetzen – ich glaube, wir sollten darübernachdenken, ob das unserem Land guttut .Insgesamt macht der Bericht der Bundesregierungdeutlich, dass die Herausforderung des Menschenrechtsauf Religions- und Glaubensfreiheit sehr verschiedeneFacetten hat . Der Bericht ist in dieser Form eine Mo-mentaufnahme, die durchaus noch verbesserungsfähigist, aber es ist eine gute Grundlage. Wir erhoffen unsweitere Berichte, eine Kontinuität der Berichterstattung,bei der dann auch die angeführten Lücken gefüllt wer-den . Denn eines ist uns allen deutlich – wir können esweltweit beobachten –: Religiös motivierte Spannungennehmen leider zu .Danke schön .
Erika Steinbach
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Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Nietan für
die SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin der festen Überzeugung, dass der unsvon der Bundesregierung vorgelegte Bericht zur welt-weiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheiteine große Chance bietet, weil er es ermöglicht, mit einemanderen Blick sehr differenziert und deutlich Typologienund Wirkungsweisen der Verletzung des Rechts auf Re-ligions- und Weltanschauungsfreiheit herauszuarbeiten .Deshalb wäre es aus meiner Sicht nicht zielführend, ineine Diskussion über ein Entweder-oder einzusteigen:Muss das jetzt eine Staatenliste werden, oder kann er sobleiben, wie er ist? Sehen wir es so, wie Frau Staatsmi-nisterin Böhmer es zu Recht gesagt hat: Er bringt einenMehrwert, weil er uns neue Aspekte für unseren Kampffür Religions- und Weltanschauungsfreiheit liefert .
Ich sage das an dieser Stelle auch als jemand, der sichals Christ in einer besonderen Weise berührt fühlt, wennSchwestern und Brüder in der Welt verfolgt werden .Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein Problembekommen, wenn wir Menschenrechtsverletzungen imBereich der Religionsfreiheit je nach Glaubensrichtung,die betroffen ist, je nach Anzahl der Betroffenen, je nach-dem, welche handelnden Staaten mit welchem politi-schen System es sind, unterschiedlich intensiv bewerten .Dann laufen wir Gefahr, direkt die Axt an den universel-len Charakter der Menschenrechte anzulegen . Deshalbmuss für uns gelten: Jeder Mensch, dessen Würde mitFüßen getreten wird, ist uns gleich wichtig, liebe Kolle-ginnen und Kollegen .
Es darf nicht der Eindruck entstehen – das will ichhier niemandem unterstellen –, dass ein Parlament odereine Regierung sich zum Anwalt einer bestimmten Reli-gion macht . Es darf keinen Zweifel daran geben: Wir allemachen uns vielmehr zum Anwalt jedes einzelnen Men-schen, dem ein elementares Grundrecht genommen wird .Ich glaube, wir können den Menschen nur helfen, wennwir diesen Ansatz konsequent weiterverfolgen .
Dazu gehört zum Beispiel auch, dass wir bei der Auf-nahme von Flüchtlingen keine Opfergruppen bevorzugenoder zumindest den Anschein erwecken, als würden wireine Opfergruppe bevorzugen .
Warum betone ich diese Punkte? Ich will darauf hin-weisen, dass wir möglicherweise mit einer starken Zu-wendung hin zum Problemkreis der verfolgten Christin-nen und Christen, der ohne Zweifel der größte ist, dasGegenteil erreichen, nämlich dass ihre Verfolger unsereHinwendung als Vorwand nutzen, sie weiter zu stig-matisieren . Denn was heißt „Boko Haram“? Das heißtübersetzt: Westliche Bildung ist Sünde . Wir sollten nichtden Eindruck erwecken, als seien die dort Verfolgten diefünfte Kolonne des Westens, weil wir aus dem Westensagen: Wir kümmern uns besonders um Christen, liebeKolleginnen und Kollegen .Es geht aber auch um die Glaubwürdigkeit des Ein-satzes für Religionsfreiheit als ein universelles Men-schenrecht . Denn gerade diejenigen, die intolerant sind,die Religionsfreiheit mit Füßen treten, berufen sich oftdarauf und sagen, dass die Menschenrechte ein Herr-schaftsinstrument des Westens seien . So wollen sie dieMenschenrechte diskreditieren . Deshalb sollten wirimmer wieder deutlich machen, dass wir keine Gruppebevorzugen, dass es uns wirklich darum geht, ein univer-selles Menschenrecht überall auf der Welt, auch bei uns,durchzusetzen .
Es ist hier schon öfter angesprochen worden: Wichtigim Kampf für die Menschenrechte ist immer die eigeneGlaubwürdigkeit; denn diejenigen, die die Menschen-rechte mit Füßen treten, versuchen alles, um unsereGlaubwürdigkeit zu hinterfragen . Deshalb müssen wirin den Debatten, die wir jetzt im eigenen Land erleben,deutlich machen – daran darf kein Zweifel aufkommen –,dass der Garant von Religionsfreiheit, auch bei uns, einsäkularer, weltanschaulich neutraler Staat ist und nichtein christlicher oder ein muslimisch geprägter Staat . Nurder säkulare Staat, der weltanschaulich neutral ist, kannein glaubwürdiger Verfechter des Rechtes auf Religions-freiheit sein .
Ich betone das auch deshalb, weil es nicht nur um denKampf für das individuelle Menschenrecht geht, sondernweil wir uns, auch im eigenen Land, in einem Kampf umdie offene Gesellschaft befinden. Natürlich müssen wirdie Dinge offen ansprechen. Natürlich ist es nicht akzep-tabel, wenn es immer noch Moscheen in Deutschlandgibt, in denen jeden Freitag der Hass gegen die offeneGesellschaft gepredigt wird . Darüber darf man nicht hin-wegsehen .
Wir dürfen aber auch in unserer Außenpolitik nicht da-rüber hinwegsehen, dass es zum Beispiel bei unseremNachbarn Russland eine unheilige Allianz von Staat undorthodoxer Kirche gibt, die gegenüber Schwulen undLesben mittlerweile eine Politik an den Tag legt, die po-gromhafte Züge hat . Auch das muss gesagt werden .
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Ja, wir brauchen Toleranz, und wir brauchen vor al-len Dingen Respekt gegenüber glaubenden Menschen,auch wenn sie einen Glauben vertreten, den wir ganzund gar nicht teilen können . Wir dürfen Toleranz abernicht mit Relativismus und Gleichgültigkeit verwech-seln. Zur Toleranz gehört, dass wir zu Fragen der offe-nen Gesellschaft, der Demokratie, der Meinungsfreiheit,der Gleichberechtigung von Mann und Frau einen klarenStandpunkt haben, und diesen klaren Standpunkt müssenwir immer wieder deutlich machen . Es darf nicht sein,dass wir aus Angst, wir würden religiöse Gefühle ande-rer verletzen, schweigen, wenn zum Beispiel unter demVorwand der Religion Frauenrechte mit Füßen getretenwerden . Da müssen wir dann auch klar und deutlich sein .
Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, wiees in diesem Land insgesamt um die Toleranz gegenüberreligiösen Minderheiten steht . Es ist nicht akzeptabel,dass jüdische Mitbürger es sich zweimal überlegen, obsie eine Kippa in der Öffentlichkeit tragen, weil das dazuführt, dass sie sich nicht sicher fühlen können . Es kannauch nicht sein – auch das will ich an dieser Stelle sagen;denn auch da beginnt Intoleranz gegenüber dem Reli-giösen –, dass sich zum Beispiel eine junge Studentin,eine Christin, die sich in einer Mensa, also im öffentli-chen Raum, vor dem Essen bekreuzigt, von Teilen derMehrheitsgesellschaft anhören muss, sie sei mittelalter-lich und rückschrittlich und so etwas passe nicht . Es darfnicht sein, dass sich Menschen beim Ausüben ihrer Re-ligion in der Öffentlichkeit verletzt fühlen und Teile derMehrheitsgesellschaft fordern, Religion als Privatsachezu behandeln und sie im öffentlichen Raum nicht mehrzu zeigen . Auch da müssen wir deutlich machen: Religi-on hat ihren Platz auch im öffentlichen Raum. Wenn dasZeigen von Religion im öffentlichen Raum nicht mehrmöglich sein sollte, beginnt die Religionsfeindlichkeit .
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Dies ist einwichtiges Thema . Deshalb bin ich dankbar, dass wiruns in einer, wie ich finde, sehr differenzierten Debattemit diesem Thema auseinandersetzen . Ich möchte zumSchluss um eines bitten: Wir alle wissen, wie das mit derparteipolitischen Brille ist . Wir sind Politikerinnen undPolitiker . Wir alle schauen hin und wieder durch dieseparteipolitische Brille . Für die Religionsfreiheit und dieoffene Gesellschaft tun wir aber am meisten, wenn wirhinsichtlich unserer Empörungsbereitschaft und Kritiknicht selektiv sind .
Herr Kollege .
Es ist kein Widerspruch – im Gegenteil: es gehört zu-
sammen –, wenn wir uns genauso klar, wie wir gegen
Hassprediger in Moscheen vorgehen, äußern, wenn eine
Partei wie die AfD den Islam als Religion diskriminiert,
verallgemeinernd als Gefahr darstellt und damit den Zu-
sammenhalt in unserem Land gefährdet . Beides muss
gesagt werden . Wir sollten an dieser Stelle nicht selektiv
sein . Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir die Ver-
fehlungen der einen verschweigen, während wir bei den
Verfehlungen der anderen besonders laut sind . Wenn wir
an dieser Stelle Glaubwürdigkeit zeigen, dann, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, ist das die beste Waffe für eine
offene Gesellschaft und mehr Religionsfreiheit.
Vielen Dank .
Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die Bun-
desregierung als Parlamentarischer Staatssekretär in ei-
nem der beteiligten Ministerien . – Bitte schön .
Th
Vielen Dank, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnen undKollegen! Drei Viertel der Menschheit lebt in Staaten, indenen die Religionsfreiheit und Weltanschauungsfreiheitnicht gewährleistet wird oder erheblich eingeschränkt ist .Die Repressalien sind vielfältig . Sie reichen von admi-nistrativen Hindernissen, etwa kein Zugang zu öffentli-chen Ämtern, über soziale Stigmatisierungen bis hin zudrakonischen Strafen, etwa der Todesstrafe bei Wechselder Religion .Wir setzen uns in der Entwicklungspolitik dafür ein,dieses Menschenrecht auf Religions- und Weltanschau-ungsfreiheit zu schützen und die Gesellschaften zu stär-ken, die für Toleranz und ein friedliches Miteinandereintreten; denn wir wollen und wir brauchen eine Welt,in der wir alle im gegenseitigen Respekt und in Achtungvor Kulturen und Religionen ein friedliches Auskommenhaben .Der Schutz und die Gewährleistung der Religions-und Weltanschauungsfreiheit haben genauso wie alleanderen Menschenrechte einen festen Platz in unsererEntwicklungspolitik . Dafür wollen wir die Religionsge-meinschaften als Partner gewinnen . Wir dürfen das Feldnicht den Extremisten und den Fanatikern überlassen, dieTerror predigen, denen es nicht um Glauben geht, son-dern die Religion für ihre politischen Zwecke missbrau-chen .Wir müssen deshalb auch die religiösen Führer und dieGläubigen stärken, die sich in ihren Gesellschaften fürToleranz und für Freiheit einsetzen . Ich möchte an dieserStelle an die Worte erinnern, die vor wenigen Tagen dermarokkanische König Mohammed VI . gefunden hat, alser sich in einem eindringlichen Appell an alle Muslimegewandt hat . Er hat ausdrücklich alle Formen des Ter-rorismus, Extremismus und Radikalismus verurteilt . Erverurteilt die Prediger – ich zitiere –, „die junge Muslimebenutzen, speziell in Europa, . . . um ihre Irrlehren und ab-Dietmar Nietan
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wegigen Versprechen zu verbreiten und Gesellschaftenanzugreifen, die Freiheit, Offenheit und Toleranz wol-len“. Ich finde, das ist ein außerordentlich beeindrucken-des Statement des marokkanischen Königs . Stimmen wiediese sollten wir in unseren internationalen Beziehungenstärker beachten und in unsere Arbeit einbeziehen .
Wir müssen das positive Potenzial von Religionsge-meinschaften in unsere internationale Zusammenarbeiteinbeziehen . Deshalb haben wir im Februar dieses Jahreszum ersten Mal überhaupt für unser Ministerium eine in-ternational vielbeachtete neue Strategie zum Thema „Re-ligionen als Partner in der Entwicklungszusammenar-beit“ vorgestellt . Wir haben sie zusammen mit Vertreternaller Weltreligionen, der Wissenschaft, der Zivilgesell-schaft aus dem In- und Ausland erarbeitet . Sie wird vonvielen internationalen Akteuren als Vorbild genommen .Wir wollen damit zeigen, dass Religion ein Katalysatorfür Entwicklung sein kann .Meine Damen und Herren, religiöse Gemeinschaf-ten sind in vielen Ländern oft näher an den Menschendran als Politiker . In vielen Ländern wären die Gesund-heitsversorgung und das Bildungswesen überhaupt nichtfunktionsfähig, wenn es nicht das breite Engagement vonvielen Religionsgemeinschaften gäbe . 80 Prozent derWeltbevölkerung gehören einer Religionsgemeinschaftan – 80 Prozent! Das kann Politik nicht ignorieren, wennwir die Lebenswirklichkeit einer großen Mehrheit derWeltbevölkerung wirklich erfassen wollen . Wir sehendas in vielen unserer Partnerländer . In Gesprächen vorOrt merken wir natürlich auch, dass Religionsfreiheit oftein höchst sensibles Thema ist . Deswegen setzen wir aufden Dialog der Religionen und starten gezielt neue Vor-haben, die diesen interreligiösen Dialog fördern .Wir wollen dazu ausdrücklich religiöse Autoritäteneinbeziehen; denn sie haben großen Einfluss. In vielenRegionen kennt man keine Regierungsvertreter, aber diereligiösen Führer aus der Nachbarschaft . Wenn diese inihren Gemeinden zu gegenseitigem Respekt und zu To-leranz ermutigen, dann hat das ein viel größeres Gewichtals alle anderen Stimmen . Deswegen setzen wir auf die-sen Dialog .Ich will Ihnen gern einige Beispiele nennen: Auf denPhilippinen fördern wir den Dialog zwischen Christen,Muslimen und Vertretern indigener Gemeinschaften . InÄgypten bringen wir christliche und muslimische Geist-liche mit Publizisten, Künstlern und Lehrern zusammen .Im Tschad unterstützen wir ein Kulturzentrum für christ-liche und muslimische Vereinigungen . In Jordanien för-dern wir die soziale Teilhabe von Flüchtlingen . Ich hatteKontakt mit einem katholischen Bischof und einem mus-limischen Stammeshäuptling aus Nigeria, die im Nordendes Landes, wo Boko Haram wütet, ein positives Bei-spiel für Toleranz und friedliches Miteinander setzen .Ich möchte in diesem Zusammenhang auch die zahl-reichen Aktivitäten der kirchlichen Hilfswerke ausDeutschland nennen, die wir seit vielen Jahren unterstüt-zen und die vor Ort segensreich wirken .
Meine Damen und Herren, wo Dialog stattfindet, kannVertrauen entstehen, und wo Vertrauen geschaffen wird,kann das Zusammenleben gelingen . Dass in vielen Län-dern der Weg dorthin noch weit ist, das legt der Berichtder Bundesregierung in aller Deutlichkeit dar . Aber da-raus müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen, und wirsollten uns nicht entmutigen lassen . Wir müssen mit Ver-tretern der Religionsgemeinschaften enger zusammen-arbeiten . Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen,dass wir der weltweiten Verfolgung und Diskriminierungvon Menschen aufgrund von Religion und Weltanschau-ung ein Ende setzen können .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Letzter Redner in der Debatte zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist der Kollege Heribert Hirte für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werfen Sie einmal einen Blick auf die Uhr: Es ist jetztgleich halb elf . Das ist sozusagen die Primetime in denPlenardebatten . Dass wir hier heute im Deutschen Bun-destag an so prominenter Stelle über die Religions- undGlaubensfreiheit reden können, und das, um im Bild zubleiben, fast in voller Spielfilmlänge, das freut mich.Es freut mich als Christ, es freut mich als Vorsitzenderdes Stephanuskreises, und es freut mich auch als Jurist .Denn es zeigt: Wir sehen das Menschenrecht der Reli-gions- und Glaubensfreiheit nicht als bloße Rechtsgrund-lage, die in zahlreichen internationalen und regionalenMenschenrechtskonventionen und natürlich in unserereigenen Verfassung verankert ist, nein, wir sehen die Re-ligionsfreiheit als ein Freiheitsrecht jedes Einzelnen an,ein Freiheitsrecht, das besonders lebendig in einer Ge-sellschaft gelebt werden kann, wenn wir es in die Handnehmen und so wie hier heute in die Höhe halten .Für uns ist das selbstverständlich . Aber Religions- undGlaubensfreiheit ist kein Thema, das irgendeine Regiondieser Welt auf ihrer To-do-Liste abhaken könnte, selbstwenn wir nicht Gegenstand des vorliegenden Berichtssind . Angesichts einer religiös und kulturell vielfältigerwerdenden Gesellschaft spüren wir es deutlich: Die Re-ligionsfreiheit ist ein umkämpftes Recht . Dabei ist nachmeiner Einschätzung in unserem christlich geprägtenDeutschland das, was uns ernsthaft zu schaffen macht,vor allen Dingen die religiöse Bildungslücke in unserereigenen Gesellschaft . Immer mehr junge Menschen kön-nen auf den lieben Gott ganz gut verzichten, aber nichtauf das Internet . Doch eine Gesellschaft, die ihre eige-nen religiösen Wurzeln nicht mehr kennt, teilweise sogarbewusst ignoriert, kann kaum Verständnis für MenschenParl. Staatssekretär Thomas Silberhorn
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aufbringen, die offen und mit Nachdruck für ihren eige-nen Glauben eintreten,
seien es zu uns geflüchtete Muslime, Christen oder Ange-hörige anderer Religionsgruppen .Um das an dieser Stelle gleich klar zu sagen: Bei unsin Deutschland und in ganz Europa ist die Religions- undGlaubensfreiheit besser umgesetzt als in vielen anderenRegionen dieser Welt . Deshalb haben wir eine besondereVorbildfunktion und Verantwortung . Wir Parlamentariersind in der Lage, mit dem Finger auf Missstände in an-deren Ländern zu zeigen – das tun wir hier jetzt geradeauch –, aber dieser Fingerzeig sollte vor allen Dingen alsHandreichung dienen, damit Parlamentarier aus anderenStaaten von uns lernen können und umgekehrt wir auchvon ihnen .Ein gelungenes Beispiel für dieses gegenseitige An-die-Hand-Nehmen ist die Parlamentarierkonferenz, dieletzte Woche hier in Berlin zur Religionsfreiheit statt-gefunden hat . Auf Einladung der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion konnten wir hier in Berlin über 100 Par-lamentarier verschiedenster Glaubensrichtungen, allerGlaubensrichtungen, aus über 50 Ländern dieser Weltbegrüßen . Wir werden und wollen uns auch in Zukunftregelmäßig treffen. Wir werden weiter den Finger in dieWunde legen, und wir werden weiter gemeinsame Appel-le an die Regierungen richten, die die Religionsfreiheitmissachten . Wir werden nicht aufhören, dieses Freiheits-recht weiter einzufordern, so lange, bis es für alle gilt .
Je enger wir uns international vernetzen und je en-ger wir zusammenarbeiten, desto erfolgreicher sind wir .Denn – das muss man klar sagen – öffentlicher Druckvon allen Seiten hilft . Kein Staat der Welt, auch nichtNordkorea, möchte ewig am Pranger stehen . Das zweiteLand, das in diesem Zusammenhang zu nennen ist, istSaudi-Arabien .Unsere Fraktion setzt sich mit Volker Kauder an derSpitze bereits seit vielen Jahren engagiert für die Religi-onsfreiheit in aller Welt ein .
Seit dieser Legislaturperiode leite ich den Stephanus-kreis, an dem sich ein Drittel unserer Fraktion aktiv be-teiligt . Hier legen wir den Fokus auf Christen, die auf-grund ihres Glaubens diskriminiert und verfolgt werden .Wir laden diese Menschen zu uns ein . Wir reisen zu ih-nen in die verschiedenen Regionen der Welt und zeigenihnen so: Wir sind für euch da . Wir hören euch und seheneuer Leid . Wir setzen uns für euch ein .Wenn wir den Fokus auf die Christen richten, dannheißt das aber nicht, dass wir andere Religionsgruppenbenachteiligen . Wenn wir für die Rechte von Christenkämpfen, dann kämpfen wir für alle religiösen Minder-heiten, damit alle ihren Glauben frei und offen lebenkönnen . Denn überall dort, wo Religionsfreiheit fehlt –Volker Beck hat das eben deutlich gesagt –, sind auchMeinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfrei-heit beeinträchtigt und die Freiheit von Mann und Frauin Gefahr .Unsere effizienteste Waffe im Kampf für die Religi-onsfreiheit – ich kann das nicht oft genug sagen – ist dasWort. Der interreligiöse Dialog öffnet Türen, die einemdurch Drohungen und Sanktionen verschlossen bleiben;das hat Kollege Silberhorn eben schon angesprochen .Wir sind dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerinauf ihren vielen Reisen auch dieses Themenfeld immerwieder anspricht . Auch die Entwicklungspolitik unsererRegierung besteht zu einem erheblichen Teil aus demEintreten für die Religions- und Weltanschauungsfrei-heit . Aber die Frage ist: Wie soll es weitergehen? Einwichtiges Signal ist, dass auf unsere Initiative der eu-ropäische Sonderbotschafter Figel bestellt wurde . Aberich glaube, wir müssen noch einen Schritt weitergehen –Volker Kauder hat es angesprochen –: Wir müssen übereine ähnliche Institution auch bei der Bundesregierungnachdenken .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben einenumfassenden Bericht der Bundesregierung vorliegen, derdeutlich macht, welche Maßnahmen unternommen wur-den und welche Aufgaben noch vor uns liegen . Deshalbmüssen wir unseren Worten Taten folgen lassen, damitChristen, Muslime, Juden, Aleviten, Jesiden, Bahai unddie vielen anderen unterdrückten Religionsgruppen end-lich so leben können – da zitiere ich den Kölner KardinalWoelki –, „wie es Gott gefällt: aufrecht und frei“ .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf derDrucksache 18/8740 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen . – Dazu darf ich IhrEinvernehmen feststellen . Also ist die Überweisung sobeschlossen .Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 9 aund 9 b:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Özcan Mutlu, Manuel Sarrazin,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBritische Staatsangehörige rasch und unkom-pliziert einbürgernDrucksache 18/9669Dr. Heribert Hirte
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Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Erste Beratung des von den Abgeordneten VolkerBeck , Özcan Mutlu, Luise Amtsberg,weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Erleichterung der Einbür-gerung und zur Ermöglichung der mehrfa-chen StaatsangehörigkeitDrucksache 18/5631Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAuch diese Aussprache soll nach einer interfraktionel-len Vereinbarung 77 Minuten dauern . – Auch dazu seheich keinen Widerspruch . Also verfahren wir so .Ich eröffne die Aussprache und erteile Volker Beck fürdie antragstellende Fraktion das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wol-len heute darüber reden, wie wir beim Thema „Integra-tion und Einbürgerung“ besser vorankommen . Dazuhaben wir zwei Initiativen vorgelegt . Zum einen geht esum eine umfassende Liberalisierung des Staatsangehö-rigkeitsrechts unter der Überschrift „Wir wollen mehrMehrstaatigkeit wagen“, zum anderen wollen wir eineAntwort auf die Auswirkungen der anstehenden Bre-xit-Verhandlungen auf die britischen Bürger geben .Der italienische Regierungschef Renzi hat hierzuvorgeschlagen, dass die Briten, die in den europäischenStaaten leben, schnell eingebürgert werden sollen . Dashaben wir in einem Antrag aufgeschrieben . Schon dasgegenwärtige Recht erlaubt es, europäische Staatsbürger,die sich kürzer als sechs Jahre hier in Deutschland aufhal-ten, unter Hinnahme der Doppelstaatigkeit einzubürgern .Dies sollten wir hier tun, auch wenn die Anwendungs-hinweise des Bundesinnenministers etwas anderes besa-gen . Wir sollten das Signal setzen: Die Briten gehören zuEuropa; die Briten sind uns in Deutschland willkommen .
Nach Auskunft der Bundesregierung betrifft das107 000 britische Staatsbürger, die gegenwärtig inDeutschland leben . Davon haben wir in den vergangenenJahren 5 000 eingebürgert . Wir schlagen vor, auch denanderen etwa 100 000 Briten dieses Angebot zu machen .
Dann wären alle Fragen, die sich aus den Verhandlungenüber den Austritt Großbritanniens aus der EU womöglichergeben, zumindest für diese Menschen geklärt . Sie hät-ten dann gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten, undsie wären Teil unseres Landes .Herr Gabriel hat das ja auch gefordert, und ich rechnedeshalb damit, dass zumindest die SPD-Fraktion mit derLinken dafür sorgt, dass das hier eine Mehrheit findet. Dawir uns vorhin bei der Religionsfreiheit so gut verstandenhaben, hoffe ich aber, dass die gesamte Große Koalitiondiesen Schritt mit uns gemeinsam gehen wird .Der Bundesrat diskutiert heute über ein Einwan-derungsgesetz . Wir haben in der letzten Woche unterFührung von Katrin Göring-Eckardt eine umfassendeAnhörung zu dem Thema durchgeführt, wie ein moder-nes Einwanderungsrecht aussehen muss . Zu einem mo-dernen Einwanderungsland gehört nicht nur die Ermög-lichung, nach Deutschland zu kommen, sondern es giltauch, gerade für die hochgebildeten und gut qualifizier-ten Menschen eine attraktive Atmosphäre auszustrahlen,und dazu gehört das Staatsangehörigkeitsrecht .Deshalb schlagen wir Ihnen heute vor, im jetzigenStaatsangehörigkeitsrecht ganz wesentliche Veränderun-gen vorzunehmen:Wir wollen von dem Prinzip der Vermeidung derMehrstaatigkeit grundsätzlich abrücken . Wir halten dasin einer globalisierten Welt nicht für zeitgemäß . Sprin-gen Sie über Ihren Schatten! Ein Pass bzw . eine Staats-angehörigkeit ist kein Religionsbekenntnis, sondern dieErmöglichung der gleichberechtigten Teilhabe für dieMenschen, die hier arbeiten, leben und Steuern zahlen .
Wir wollen die Fristen bei der Anspruchseinbürgerungherabsetzen . Wir wollen, dass fortan Menschen, die ei-nen Aufenthaltstitel oder eine Niederlassungserlaubnishaben, einen leichteren Zugang erhalten .Wir wollen bei jungen Menschen, die gerade ihreAusbildung beendet haben und bei uns zur Schule, zurUniversität gegangen sind, vielleicht aber noch nicht soviel verdienen, Ausnahmen beim Nachweis der Lebens-unterhaltssicherung machen . Das soll kein Hinderungs-grund dafür sein, hier von Anfang an gleichberechtigt alsStaatsbürgerinnen und Staatsbürger der BundesrepublikDeutschland mitzuwirken . Ähnliches wollen wir für äl-tere Menschen, die aufgrund des Eintritts ins Rentenalternicht mehr so leicht die entsprechenden Anforderungenerfüllen können .
Bei den Kenntnissen der deutschen Sprache wollenwir grundsätzlich keine Abstriche machen . Für Men-schen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung oderAlter die erforderlichen Sprachniveaus nicht erreichenkönnen, wollen wir aber ein Auge zudrücken und sagen:Das hindert nicht daran, dass sie als gleichberechtig-te Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mitmischenkönnen .
Der Einbürgerungstest ist umstritten .
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich habe bei seiner Einführung nicht viel davon gehalten .Wir schlagen Ihnen vor, dass zumindest Menschen, diehier Abitur gemacht, zur Universität gegangen sind, nichtmit so etwas Albernem konfrontiert werden .
Das ist ein schlechtes Signal, ein Misstrauenssignal . Hierwollen wir mehr Liberalität wagen .
Meine Damen und Herren von der Union, wir hatten indiesem Jahr angesichts der Demonstrationen für Erdoganin meiner Heimatstadt Köln eine Diskussion darüber, obdie deutsch-türkischen Doppelstaatler ein Loyalitätspro-blem mit unserem Land haben .
Ich muss Ihnen sagen: Bei der Anzahl der Doppelstaat-ler liegen die Menschen aus der Russischen Föderationvorne . Die Türken liegen an dritter oder vierter Stelle beider Anzahl der Personen, die von der DoppelstaatigkeitGebrauch machen durften .Wir wissen nicht, wer da demonstriert hat, ob das wel-che mit türkischem Pass, mit deutschem Pass oder miteinem deutschen und einem türkischen Pass waren, undselbstverständlich muss es doch durchaus auch möglichsein, sich zu den Verhältnissen im Herkunftsland der El-tern politisch zu artikulieren .Wer sich da artikuliert hat und wie sie sich artikulierthaben: Damit habe ich auch einen Dissens . Das gehörtaber zu einer Auseinandersetzung in einer demokra-tischen Einwanderungsgesellschaft dazu . Nicht alleMigranten sind gleich . Nicht alle denken das Gleiche –genauso wie die Leute, die schon seit Generationen hierleben, auch nicht alle das Gleiche denken .Ich habe mit einem AfDler den gleichen Dissens wiemit einem AKPler . Beide Formen des Nationalismus sindmir zuwider, und ich will als Demokrat auch politischdagegen argumentieren . Das tue ich aber nicht über dasStaatsangehörigkeitsrecht .
Man muss sich schon einmal die Frage stellen, wasgeschähe, wenn der Satz richtig wäre, dass jemand, dervon woanders herkommt, sich in politische Debatten sei-ner Herkunftsregion nicht mehr einmischen sollte . Wol-len wir allen Ernstes, dass ein deutsch-britischer Doppel-staatler hier in Deutschland nicht dafür wirbt, dass dieEntscheidung für den Brexit falsch ist und dass Groß-britannien besser in der Europäischen Union aufgeho-ben wäre? Wollen wir allen Ernstes einem deutsch-fran-zösischen Doppelstaatler sagen, es wäre falsch, dass erseine Regierung unterstützt, wenn sie sich gegen rechts-radikale und antisemitische Politiker in ihrem Landewendet? Wollen wir einem deutsch-costa-ricanischenDoppelstaatler untersagen, dass er seine Regierung da-bei unterstützt, wenn sie sich für Biodiversität und erneu-erbare Energien einsetzt? Was wollen wir sagen, wennein deutsch-kolumbianischer Doppelstaatler die kolum-bianische Regierung unterstützt, wenn diese sich für denAusgleich und für Friedensverhandlungen mit der FARCeinsetzt?
Lieber Herr Beck – –
Niemand käme auf diese Idee . Dann sollten wir es
aber auch bei den Türken nicht anders diskutieren und
das als Argument für ein ewiges No-Go bei der Liberali-
sierung des Staatsangehörigkeitsrechtes verwenden .
Vielen Dank, meine Damen und Herren .
Stephan Mayer ist nun der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Man könnte es sich leichtmachen oder lapidar sagen: „olle Kamellen“ oder „alterWein in neuen Schläuchen“ . Die Grünen legen einenGesetzentwurf zur Liberalisierung des Staatsangehörig-keitsrechts vor und sprechen sich für die generelle An-erkennung der Mehrstaatigkeit aus . Aber, meine sehrverehrten Kolleginnen und Kollegen, so leicht möchteich es mir nicht machen, weil aus meiner Sicht insbeson-dere dieser Gesetzentwurf, den Sie heute in erster Lesungvorlegen, auf eine parteipolitische, aber auch eine gesell-schaftspolitische Geisterfahrt führt . Es geht nicht nur umDetailregelungen, die Sie im Staatsangehörigkeitsrechtändern wollen, sondern – dieser festen Überzeugung binich – Ihr Ansatz hat eine gesellschaftspolitische Dimen-sion .
Sie, die Grünen, wollen sich ein neues Staatsvolk schaf-fen . Wenn man in die Begründung zu Ihrem Gesetzent-wurf blickt, erkennt man, dass Sie sehr unverblümt IhrAnsinnen offenbaren. Sie wollen eine „größtmöglicheKongruenz“ – so schreiben Sie – zwischen dem Staats-volk und der Bevölkerung .
Ich sage Ihnen ganz offen: Dafür wird Ihnen die CDU/CSU nicht die Hand reichen . Dafür sind wir nicht zu ha-ben .
Volker Beck
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Die Grünen wollen generell den Grundsatz der Mehr-staatigkeit anerkennen und sich insoweit von der bisheri-gen, bewährten rechtlichen Grundlage abkehren, dass dieMehrstaatigkeit die Ausnahme ist. Sie offenbaren diessehr verräterisch in Ihrer Begründung, indem Sie ganzdezidiert von einer Einbürgerungsoffensive sprechen.Sie wollen in Deutschland eine Einbürgerungsoffensivevornehmen . Ich bin der felsenfesten Überzeugung: Derüberwiegende Teil, der Großteil der deutschen Bevölke-rung will dies nicht . Wir brauchen keine Einwanderungs-offensive.Gerade in einer Zeit, in der wir ohnehin in schwie-rigem Fahrwasser sind, in der sich unsere Gesellschaftohnehin eher auseinanderdividiert, in der wir eine Polari-sierung unserer Gesellschaft erleben,
in der die Zentrifugalkräfte, die Fliehkräfte in unsererGesellschaft zunehmen, wäre es genau kontraproduktiv,wenn wir jetzt, wie von Ihnen intendiert und gefordert,eine Einwanderungsoffensive vornähmen.
Der Gesetzentwurf, den Sie vorlegen, würde genaudas Gegenteil dessen bewirken, was er Ihnen zufolgebewirken würde: Er wirkt nicht integrationsfördernd; erwirkt integrationshemmend . Wenn die Regelungen soumgesetzt würden, wie Sie sie vorschlagen, würde genaudas Gegenteil entstehen; es würden nämlich Parallelge-sellschaften gefördert und in ihrer Gegensätzlichkeit in-tensiviert werden .
Ich darf Ihnen einige Beispiele nennen . Sie wollengenerell auf das Erfordernis des Nachweises der Siche-rung des Lebensunterhalts bei jungen Menschen, die inAusbildung sind, verzichten . Was bedeutet das? Dass einjunger Mensch, der gerade in der Ausbildung ist,
im Hinblick auf die Einbürgerung nicht mehr nachwei-sen muss, dass er seinen eigenen Lebensunterhalt selbstgenerieren kann . Das wäre genau kontraproduktiv . Wirwollen doch, dass die jungen Menschen in die Lage ver-setzt werden, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst be-streiten können . Wir wollen keine Einwanderung in dieSozialsysteme . Genau das würde eintreten, wenn Ihr Ge-setzentwurf umgesetzt würde . Sie würden der Einwan-derung in die Sozialsysteme Vorschub leisten . Ich sageIhnen hier ganz offen: Dafür hat auch die deutsche Be-völkerung kein Verständnis. Dies findet in der deutschenBevölkerung auch keine Akzeptanz .Des Weiteren wollen Sie bei einigen Personengruppenauf den Nachweis von Deutschkenntnissen verzichten .Dafür gilt das Gleiche . Auch diese Regelung wäre nichtintegrationsfördernd, sondern integrationshindernd . Wirwollen doch gerade, dass Menschen, die zu uns kom-men, möglichst schnell Deutsch lernen . Das Erlernender deutschen Sprache ist die Grundvoraussetzung, umin Deutschland Fuß zu fassen, um in Deutschland erfolg-reich zu sein, um sich einen Freundeskreis aufzubauen,
um in bestimmte soziale Schichten aufsteigen zu können,um Arbeit zu finden.
Sie wollen genau das Gegenteil . Sie wollen bei bestimm-ten Personengruppen auf den Nachweis von Deutsch-kenntnissen verzichten, wenn es darum geht, ob diesePerson eingebürgert werden kann .
Damit würden Sie der Integration einen Bärendienst er-weisen .Ich möchte hier auch betonen, dass in den letztenJahren gerade auf Druck der CDU/CSU die Ausgabenfür Deutsch- und Integrationskurse deutlich erhöht wur-den . Im Jahr 2015 hat der Bund 260 Millionen Euro fürDeutsch- und Integrationskurse ausgegeben . Wir habendie Mittel für die Kurse von 2015 auf 2016 mehr als ver-doppelt, nämlich auf 570 Millionen Euro in diesem Jahr .Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf nocheinmal 40 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt .
Im nächsten Jahr werden mindestens 610 Millionen Eurofür Sprach- und Integrationskurse ausgegeben . Das istrichtig verstandene Integration, nicht der von Ihnen vor-geschlagene Weg .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, darüber hi-naus wollen Sie, dass eine Anspruchseinbürgerung be-reits nach fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland mög-lich ist . Sie wollen also die Frist von acht auf fünf Jahrereduzieren . Was hinzukommt – das ist aus meiner Sichtvöllig unlogisch und nicht nachvollziehbar –: Sie würdenFlüchtlinge und ihnen gleichgestellte Personen noch ein-mal dadurch privilegieren, dass bei Flüchtlingen alleinschon ein dreijähriger Aufenthalt ausreichen würde, umdie deutsche Staatsbürgerschaft erlangen und danebendie bisherige Staatsbürgerschaft beibehalten zu können .Stephan Mayer
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Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg . Dafür sind wirin keiner Weise zu haben .Das Gleiche gilt für Ihren Vorschlag, auf den Ein-bürgerungstest zu verzichten . Sie, Herr Kollege VolkerBeck, haben gesagt: Na ja, der Einbürgerungstest ist um-stritten . – Der Test wird von Ihnen nicht anerkannt .
Aber ich sage hier ganz deutlich: Der Einbürgerungstesthat sich bewährt .
Es ist gut, wenn vor der Einbürgerung ein entspre-chender Nachweis in Form einer Prüfung erbracht wer-den muss, um zu beweisen, dass man zumindest Grund-kenntnisse der deutschen Geschichte, des deutschenSozialaufbaus und des deutschen Staatsgefüges besitzt .
Darauf jetzt zu verzichten, wäre aus meiner Sicht der völ-lig falsche Weg und wäre vollkommen kontraproduktiv .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirhaben in dieser Legislaturperiode unser Staatsangehö-rigkeitsrecht bereits grundlegend geändert . Ich machekeinen Hehl daraus: Es war nicht der Wunsch der CDU/CSU, in Teilen auf das Optionsmodell zu verzichten . Wirhaben aber aus meiner Sicht einen verträglichen Kom-promiss dahin gehend gefunden, dass das Optionsmodellnur in den Fällen obsolet ist und nicht mehr angewandtwird, in denen konkrete Nachweise erbracht sind, dasseine Person in Deutschland Fuß gefasst hat,
wenn sie sich also mindestens acht Jahre in Deutschlandaufgehalten hat, wenn sie sechs Jahre in Deutschland zurSchule gegangen ist oder wenn sie in Deutschland einenerfolgreichen Schulabschluss oder einen erfolgreichenBerufsschulabschluss vorweisen kann . Das sind ganzkonkrete Indizien dafür, dass jemand in Deutschlandangekommen ist und sich in die deutsche Gesellschafterfolgreich integriert hat, sodass aus meiner Sicht unterdiesen Voraussetzungen auf das Optionsmodell verzich-tet werden kann . Weiter gehende Wünsche im Hinblickauf eine Liberalisierung werden wir auf jeden Fall nichtmittragen .
Die angesprochenen Loyalitätskonflikte gibt es natür-lich .
Sie haben die Deutschen aus Russland angesprochen .Wir haben doch gerade in diesem Jahr erlebt, wie dieDeutschen aus Russland vom Putin-Regime teilweise in-strumentalisiert werden . Es geht darum, dass sie in ersterLinie Russia Today und nicht deutsches Fernsehen sehen .Ich erinnere an den Fall Lisa, der sich hier in Berlinim Januar dieses Jahres ereignet hat . Es hat nur wenigeStunden gedauert, bis in über 100 Städten Deutschlandsangeblich spontane Demonstrationen von Deutschen ausRussland stattgefunden haben . Mir macht keiner weis,dass die Deutschen aus Russland, losgelöst und unkoor-diniert, in über 100 Städten in wenigen Stunden von allei-ne auf die Straße gegangen sind . Das war natürlich, mei-ne sehr verehrten Damen und Herren, von langer Handgeplant . Da sieht man doch genau an diesem konkretenFall, wie es dann bei Anerkennung der doppelten Staats-bürgerschaft zu Loyalitätskonflikten kommen kann.Ich möchte auf einen weiteren konkreten Fall der Pra-xis zu sprechen kommen, bei dem sich ebenfalls Loyali-tätskonflikte zeigen könnten – wohlgemerkt: könnten –,der aber noch nicht endgültig ausermittelt ist . Seit demPutschversuch in der Türkei im Juli dieses Jahres befin-den sich sechs deutsche Staatsangehörige in der Türkei inHaft . Ob zu Recht oder zu Unrecht, steht mir nicht zu zubewerten . Es ist noch nicht klar, ob diese neben der deut-schen die türkische Staatsangehörigkeit haben . Ich neh-me an, dass es dem Erdogan-Regime ziemlich egal ist, obdie Betreffenden, wenn sie die türkische Staatsangehörig-keit haben, auch die deutsche Staatsangehörigkeit besit-zen; denn allein das Vorhandensein der entsprechendenStaatsangehörigkeit reicht für viele Staaten auf der Weltaus – so auch die Türkei –, die betreffenden Personen alsihre Staatsangehörigen zu behandeln . Diesen Personenbringt es in einem Konfliktfall überhaupt nichts, auch diedeutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen .
Es gibt überhaupt keinen Grund, nun einer weiterenLiberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts näherzu-treten . Wir fordern in Teilen sogar eine Verschärfung, ins-besondere wenn es darum geht, potenziellen IS-Kämp-fern oder Kämpfern, die sich in Kampfhandlungen desDschihad engagieren, die deutsche Staatsangehörigkeitzu entziehen, sofern sie über eine weitere Staatsangehö-rigkeit verfügen .
Wir von der Union werden Ihnen von der SPD sehr baldeinen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen . Ich bitteSie eindringlich, diesem wichtigen und sachgerechtenAnliegen näherzutreten .Stephan Mayer
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Zum Schluss noch ein kurzes Wort zu Ihrem Antrag,britische Staatsangehörige rasch und unkompliziert ein-zubürgern . Ich habe mich in meiner Funktion als Vor-sitzender der Deutsch-Britischen Parlamentariergruppenach dem Referendum vom 23 . Juni dahin gehend ge-äußert, dass es wünschenswert ist – demgegenüber sindwir aufgeschlossen –, dass britische Staatsangehörige inDeutschland auch die deutsche Staatsangehörigkeit be-antragen . Man kann das aber derzeit mit Gelassenheitsehen . Zum einen sind die Verhandlungen bezüglich desAustritts Großbritanniens aus der Europäischen Unionnoch gar nicht angelaufen . Zum anderen besteht aus mei-ner Sicht überhaupt kein Grund für eine Zwangsgerma-nisierung der Briten in Deutschland .
Ich glaube, wir sollten das alles mit britischer Gelassen-heit sehen . Für das in Ihrem Antrag geäußerte Ansinnenbesteht überhaupt kein Anlass . Briten in Deutschland ha-ben ohnehin aufgrund ihrer britischen Staatsangehörig-keit alle Rechte, bis auf das Wahlrecht bei Bundestags-und Landtagswahlen . Deswegen ist Ihr Antrag völligüberflüssig. Er wird dementsprechend unsere Ablehnungerfahren .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dağdelen das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Herr Mayer, die allermeisten in Deutschlandlebenden Migrantinnen und Migranten sind loyaler ge-genüber dieser Gesellschaft und dem Grundgesetz
als der Nazimob, der Flüchtlinge durch die Straßen jagtund Unterkünfte in Brand steckt, oder CSU-Politiker,die über ministrierende, fußballspielende Senegalesen inunserer Gesellschaft schwadronieren . Das ist nicht loyalgegenüber unserer Gesellschaft, Herr Kollege Mayer .
Zur Redlichkeit gehört, zum Thema zu sprechen . Wa-rum sprechen Sie, wenn mein Kollege Volker Beck vonEinbürgerungsoffensive spricht, von Einwanderungsof-fensive? Sie bauen hier einen Pappkameraden auf, umStimmung gegen das Thema Einbürgerung zu machen .Hören Sie mit solchen unfairen Sachen auf!
Wir sprechen hier über Einbürgerung . Das Gleiche gilt fürIhre Stimmungsmache gegen Russlanddeutsche . Wahr-scheinlich wissen Sie gar nicht, worüber wir hier reden .Wir sprechen über Einbürgerung . Russlanddeutsche sinddoch gar nicht eingebürgert worden . Wo leben Sie über-haupt? Haben Sie überhaupt Ahnung von diesem Thema?
Russlanddeutsche haben die deutsche Staatsangehörig-keit bekommen . Da spielt Einbürgerung keine Rolle .
Lernen Sie dazu, bevor Sie über dieses Thema sprechen,und machen Sie nicht einfach Stimmung gegen diesesThema!Sie haben gesagt, dass die deutsche Sprache erlerntwerden muss . Ich kann Sie beruhigen: Sie sind seit 2005in der Bundesregierung, nicht wir .
Gemäß der Schlagzeile in der heutigen Ausgabe der Süd-deutschen Zeitung hat nicht einmal jeder Zweite einenPlatz in einem Integrationskurs .Das ist Ihre desaströse Bilanz in der Integrationspolitik .Sie sind es, die die Plätze nicht zur Verfügung stellen . Wirhaben seit 2005 die Integrationskurse, und seit 2005 gibtes mehr Anfragen nach diesen Kursen, als es Plätze gibt,und das wissen Sie. Also schaffen Sie ausreichend Plätze,wenn Sie von den Menschen möchten, dass sie die deut-sche Sprache erlernen! Machen Sie hier keine Stimmung!
Ich möchte noch etwas zum Thema Loyalität und Lo-yalitätsappelle hinzufügen. Ich finde es wirklich absurd:Während die Bundeskanzlerin von den hier lebendenDeutschtürken Loyalität fordert, macht sie gemeinsameSache mit dem türkischen Despoten Erdogan, der mithil-fe seines Netzwerks alles tut, um die Integration hier le-bender Deutschtürken zu hintertreiben . Fragen Sie dochlieber Ihre Kanzlerin, was sie dafür tut, um die Integrati-on hier zu hintertreiben!
Stephan Mayer
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Sie sollte damit aufhören, mit Erdogan gemeinsameSache zu machen, weil es sein Netzwerk ist, das die Men-schen hier von der Integration abhält und dagegen Stim-mung macht . Das wäre ein Beitrag zur Integration stattder Zusammenarbeit mit einem Despoten . Hören Sie aufmit Appellen zur Loyalität, während Sie das Ganze da-durch hintertreiben, dass Sie gemeinsame Sache machen!Wir, die Linksfraktion, jedenfalls unterstützen denvorliegenden Antrag der Grünen, weil die Erleichterungder Einbürgerung in dieser Gesellschaft längst überfälligist .
Wer auf Dauer in Deutschland lebt, soll auch gleichbe-rechtigt am politischen Leben teilhaben können und darfim Berufsleben nicht benachteiligt werden . Hier lebendeMigrantinnen und Migranten dürfen nicht länger Bürge-rinnen und Bürger zweiter Klasse sein, egal seit wann siehier leben und arbeiten . Wer hier lebt und arbeitet, werhier zur Schule geht oder gegangen ist, eine Ausbildunggemacht oder eine Universität besucht hat, aber keinendeutschen Pass hat, darf beispielsweise nicht verbeam-tet werden oder ein Schöffenamt übernehmen. Das sindnur zwei Diskriminierungsbeispiele dafür, warum die er-leichterte Einbürgerung längst überfällig ist .Die Integrationsbeauftragte Ihrer Bundesregierung,Aydan Özoğuz, schätzt, dass fast drei Viertel der 7,6 Mil-lionen Ausländer einen deutschen Pass beantragen kön-nen . Allein, das ist nicht gewollt, und die Hürden werdenbewusst hoch gelegt, etwa indem unsinnigerweise gefor-dert wird, je nach Herkunft die Herkunftsstaatsangehö-rigkeit abzugeben .Die Einbürgerungsquote in Deutschland liegt unterdem Durchschnitt der Europäischen Union . Wenn Siedieses Land europäisieren wollen, dann müssen Sie auchdie Einbürgerung erleichtern . Im vergangenen Jahr sindgerade einmal 107 000 Menschen rechtlich gleichgestelltworden . Schweden, Ungarn, Portugal, Spanien, Polenund sogar die Niederlande: Sie alle liegen in diesem Be-reich punkteweit vor Deutschland .Wenn Sie einen Schritt zu mehr Europa wollen – wennSie schon Europa mit der Europäischen Union gleichset-zen, wie es, meiner Meinung nach fälschlicherweise,oftmals getan wird –
und wenn Sie dieses Land europäisieren wollen, dannmüssen Sie die Einbürgerung erleichtern . Das wäre einSchritt zu mehr Integration, aber nicht diese Stimmungs-mache in diesem Haus .Vielen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist kein Versehen, dass ich mich zweimal auf die Redner-liste habe setzen lassen, aber eigentlich braucht der Ge-genstand der Debatte nicht so viele Worte, dass ich dafüreine Redezeit von 16 Minuten bräuchte. Ich hoffe, es gehtkürzer, aber möglicherweise ergibt sich die Notwendig-keit – das hängt von den weiteren Rednern ab –, nocheinmal etwas zu dem zu sagen, was in der Zwischenzeitvon diesem Pult aus geäußert worden ist .Es geht hier und heute nicht um eine Zwangsgerma-nisierung von Briten, lieber Stephan Mayer – das war,glaube ich, ein verbaler Ausrutscher –,
sondern es gilt der Satz von Volker Beck, dass Briten unsgrundsätzlich sehr willkommen sind – da macht sicher-lich auch die Union keine Ausnahme – und es damit imPrinzip wünschenswert wäre, wenn sich viele von ihnen,die die Voraussetzungen erfüllen, bei uns einbürgern las-sen . Ich glaube, das ist ein Ziel, das uns eint .Es wird Sie nicht wundern, dass wir Sozialdemokratendem grundsätzlich offen gegenüberstehen. Denn schließ-lich war es unser Parteivorsitzender, der das Urheber-recht für diese Idee in Anspruch nehmen kann .
– In der Tat, Claudia Roth . Ich habe das Zitat in meinenUnterlagen . Ich kann es gerne noch einmal heraussuchenund dir geben . Er hat das in der Tat vorgeschlagen, undes ist richtig: grundsätzlich und für alle diejenigen, dieschon in Deutschland leben .Aber es bedarf hier weder einer Rechtsänderung – dashaben die Grünen richtig erkannt – noch irgendwelcherBeschlüsse des Bundestages oder irgendwelcher Initiati-ven des Bundesinnenministers, weil nach den vorläufigenVerwaltungsvorschriften sehr wohl die Möglichkeit be-steht, jedenfalls im Rahmen der Ermessenseinbürgerung,schon heute die Voraufenthaltszeiten von sieben bzw .acht Jahren auf drei Jahre deutlich zu verkürzen . Das istein Angebot, das jetzt schon für alle Briten auf dem Tischliegt . Ich kann mir vorstellen, dass alle Einbürgerungs-behörden so vernünftig sind, auf diese besondere Situ-ation, die nach dem Brexit entstanden ist, entsprechendzu reagieren und dann auch Ermessenseinbürgerungenauszusprechen .
Sevim Dağdelen
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Die geltende Rechtslage und auch die hierzu ergange-nen Verwaltungsvorschriften, übrigens auch die vorläufi-gen Anwendungshinweise aus dem letzten Jahr, müssennicht noch einmal gesondert klargestellt werden .
Da reicht es im Übrigen auch völlig aus, wenn die Ein-bürgerungsbehörden bei ihren gelegentlichen Zusam-menkünften sich inhaltlich austauschen .Ich will Ihnen aber auch sagen, wo nach meinem Da-fürhalten ein bisschen Vorsicht angebracht ist . Ich habeeben gesagt: Für die bereits hier lebenden Briten solltenwir ein Angebot machen und eine flexible Lösung finden.Wovon ich aber nichts halte – das ist meine persönlicheAuffassung –, ist, etwa über die Dauer eines dann vollzo-genen Brexits hinaus den Briten Sonderrechte gegenüberallen anderen Europäern zu gewähren . Das wäre pädago-gisch, glaube ich, der falsche Ansatz .
Das würde einen Anreiz in die falsche Richtung bieten .Stattdessen wäre es wesentlich besser – Augenblick,ich komme jetzt zu eurem Antrag; hier grenze ich michdeutlich von Stephan Mayer ab, der für die Union ge-sprochen hat –,
wenn wir insgesamt im Staatsbürgerschaftsrecht weite-re Erleichterungen generell vornehmen würden, so wiees euer Gesetzentwurf, wie ich finde, richtigerweise ansehr vielen Stellen vorschlägt: genereller Verzicht auf dasVerbot von Mehrstaatlichkeit, Verkürzung des Voraufent-haltes, Anrechnung von Voraufenthaltszeiten, Erleichte-rungen für Junge und Alte im Bereich der Notwendig-keit, den Lebensunterhalt zu bestreiten, und dergleichenDinge mehr .
Alles, was in eurem Gesetzentwurf steht, ist aus derSicht von Sozialdemokraten grundsätzlich zu unterstüt-zen .
Wenn wir denn gekonnt hätten, hätten wir das nicht schon1999, sondern vielleicht auch in der Folgezeit gemacht .Wenn wir denn gekonnt hätten heißt, wenn wir dafür dieentsprechenden Mehrheiten hier in diesem Haus und imBundesrat gehabt hätten . Das war aber leider nicht so .Ich setze die Geschichte als bekannt voraus und muss dasjetzt nicht endlos wiederholen .Jetzt ist es nicht unbedingt so, dass mich schon derbeginnende Schmerz über die Trennung von dieser Ko-alition überkommt, wenn ich an das nächste Jahr denke .Aber eines muss klar sein: Wenn sich die Mehrheitsver-hältnisse hier in diesem Haus nicht ändern und wenn eskeine tragfähige Mehrheit gibt, die auch gegenüber ei-ner Reform des Staatsbürgerschaftsrechts offen ist, dannwird sich, jedenfalls mit der Union, nichts ändern lassen .Wir haben – um das klipp und klar zu sagen – imRahmen der Koalitionsvereinbarungen bekanntlich er-reicht und hier entsprechend umgesetzt, dass das Opti-onsrecht liberalisiert worden ist, wenigstens für die hierin Deutschland geborenen Kinder und Jugendlichen . Dasbetrifft roundabout, so schätze ich, 95 Prozent. Mehr warmit der Union nicht zu machen .Umgekehrt, Stephan Mayer, werden auch wir nichtvon Vorschlägen der Union zur Änderung des Staatsbür-gerschaftsrechts – Stichwort „Terrorbekämpfung“ –, dieüber das, was in der Koalitionsvereinbarung steht, hi-nausgehen, begeistert sein . Auch das muss klar sein .Aber um diesen Teil meiner Rede abzuschließen: Wiralle, die wir später noch im Parlament sitzen und imnächsten Jahr den Wahlkampf vor uns haben, müssendafür sorgen, dass es die parlamentarischen Mehrheitenund eine darauf gestützte Regierung beim nächsten Malgibt, um derartige Vorschläge, wie sie die Grünen jetztgemacht haben, umsetzen zu können . In der derzeitigenKoalition geht das leider nicht . Ich betone das Wort „lei-der“, aber ich setze als bekannt voraus, dass wir dem Ko-alitionsvertrag bis zum Schluss treu sein müssen .Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit .
Tim Ostermann ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Ge-setzentwurf und in dem Antrag der Grünen werden imWesentlichen drei Dinge gefordert: erstens eine gene-relle Ermöglichung der Mehrstaatlichkeit, zweitens einAufweichen der Einbürgerungsregeln und drittens einebesonders unkomplizierte Einbürgerung hier ansässigerBriten, weil es die ja derzeit angeblich nicht geben wür-de . Zu diesen drei Forderungen möchte ich in meinemDebattenbeitrag Stellung nehmen .Zunächst zur Mehrstaatlichkeit: Es wird Sie nichtüberraschen – Stephan Mayer hat das auch schon zumAusdruck gebracht –, dass die CDU/CSU-Bundestags-fraktion nach wie vor
Rüdiger Veit
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es konsequent ablehnt, die doppelte Staatsbürgerschaftzum Regelfall zu machen .
Ich möchte kurz auf die letzte Debatte – solche Debattenwurden in diesem Hause ja häufiger geführt – zu spre-chen kommen, die wir zum Thema Staatsangehörigkeits-recht geführt haben . In dieser Debatte hat die damaligeKollegin Christina Kampmann – sie ist mittlerweile Lan-desministerin in NRW – gesagt, zugegebenermaßen miteiner anderen Intention: Für die meisten Menschen ist dieStaatsangehörigkeit viel mehr als ein Pass . – Genau dasist der Punkt . Die Staatsangehörigkeit drückt die Loyali-tät zur Gesellschaft und den in ihr vorhandenen Wertenund Regeln aus . Damit ist sie Ausdruck einer ganz be-sonderen Verbundenheit . Und diese Verbundenheit ist füruns als Union nicht teilbar .
Die Folge ist, dass wir Mehrstaatlichkeit zulassen, abereben nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, die auchjetzt schon geregelt sind . Für eine Abkehr von diesemPrinzip stehen wir nicht zur Verfügung .Was die Aufweichung der Einbürgerungsregeln an-geht, sind es vor allem zwei Dinge, mit denen Sie dieEinbürgerung erleichtern wollen . Zum einen wollen Siesämtliche Arten an Aufenthaltserlaubnissen gleichstel-len . Das soll zum Beispiel auch für Fälle von vollzieh-bar Ausreisepflichtigen gelten, nachdem es also ein Ver-waltungsverfahren gab, das BAMF festgestellt hat, dasses hier keinen Aufenthaltsstatus gibt, und Gerichte dasmeistens auch bestätigt haben . Selbst in den Fällen, woes nur aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaub-nis gibt, soll eine Gleichstellung erfolgen . So etwas istmit uns nicht zu machen .Sie sprachen die Einbürgerungstests an . Unter be-stimmten Voraussetzungen soll das Erfordernis, einensolchen Test durchzuführen, wegfallen, etwa wenn inDeutschland ein Berufs- oder Schulabschluss gemachtworden ist .
– Das ist absolut nachvollziehbar und vernünftig . Da-rum wird das auch jetzt schon so gemacht, Herr Beck .Es ist auch jetzt schon so geregelt, dass bei einem Schul-abschluss – dazu gehört ebenfalls ein Berufsschulab-schluss, also eine abgeschlossene Berufsausbildung – aufden Einbürgerungstest verzichtet wird . Das ist gängigePraxis . Und darum ist Ihr Gesetzentwurf in diesem Punktkalter Kaffee.
Ich komme zuletzt zu Ihrer Forderung nach Einbür-gerung der in Deutschland lebenden Briten . Sie fordernja, dass die Einbürgerung unkompliziert erfolgen müsse,und erwecken damit den Anschein, dass britische Bür-ger derzeit nicht schnell und unkompliziert eingebürgertwürden . Das entspricht nicht den Tatsachen . Sie schrei-ben ja selbst in Ihrem Antrag, dass Großbritannien bis aufWeiteres Mitglied der Europäischen Union sein wird . Esist noch kein Austrittsgesuch eingegangen . Hier in die-sem Saal wird niemand sagen können, wann das der Fallsein wird, also wann es dieses Austrittsgesuch gibt undvor allem wann dieses Austrittsgesuch wirksam wird .Das ist in keiner Weise absehbar . Darum besteht für unsjetzt nicht der Bedarf, hier an dieser Stelle tätig zu wer-den .In meinem Wahlkreis – dem Kreis Herford und derStadt Bad Oeynhausen – hat es viele britische Soldatengegeben . Die Streitkräfte sind mittlerweile größtenteilsabgezogen . Nicht wenige Soldaten sind trotzdem bei unsgeblieben . Einige von ihnen interessieren sich – geradenach dem Referendum in Großbritannien – dafür, einge-bürgert zu werden . Ich habe bisher von keinem einzigenBetroffenen gehört, dass es hier Probleme – lange War-tezeiten usw . – gibt . Die Problemlage, auf die Sie ver-suchen hinzuweisen, gibt es einfach nicht . Darum sagenwir: Man muss nicht schon jetzt auf hypothetische Fol-gen eines in der Zukunft liegenden ungewissen Ereignis-ses reagieren . Bloßen Aktionismus halten zumindest wirin der Union selten für ein Erfolgsrezept .Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Siewollen mit Ihrem Gesetzentwurf das Prinzip der Mehr-staatlichkeit in unserer Rechtsordnung verankern und dieVoraussetzungen für den Erhalt der deutschen Staatsbür-gerschaft verbessern . Gleichzeitig greifen Sie mit IhremAntrag ein Problem auf, das es überhaupt nicht gibt .Daher wird es Sie nicht überraschen, dass wir als Uni-on Ihren Antrag und auch Ihren Gesetzentwurf ablehnenwerden .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort erhält nun die Kollegin Ulla Jelpke für die
Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleichtsollte man für die Öffentlichkeit noch einmal festhalten:Wir reden hier jetzt nicht über Geflüchtete, die im ver-gangenen oder im vorletzten Jahr gekommen sind, son-dern wir reden hier über Menschen, die in diesem Landzum Teil viele Jahre leben und arbeiten und endlich dasRecht haben müssen, eingebürgert zu werden, damit siein dieser Gesellschaft wirklich gleichgestellt sind . Darumgeht es .
Man muss einfach noch einmal festhalten, dass imvergangenen Jahrzehnt gerade einmal 2 Prozent derhier in Deutschland lebenden Migranten einen Antragauf Einbürgerung gestellt haben . Diese blamabel gerin-ge Quote kann und darf nicht, Herr Mayer, als Zeichenmangelnder Integrationsbereitschaft gewertet werden,sondern sie ist vielmehr die Folge – das gilt auch im Ver-gleich mit anderen EU-Staaten – besonders restriktiverDr. Tim Ostermann
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Einbürgerungskriterien, hoher bürokratischer und vor al-len Dingen auch finanzieller Hürden. Dass daran bishernichts geändert wurde, daran sind vor allen Dingen IhreFraktion, die Union und die Regierung schuld . Das istwirklich ein Skandal .
Ich will einfach einmal ein paar Unterschiede zu an-deren EU-Staaten nennen . Im Unterschied zur Bundes-republik akzeptieren 12 EU-Staaten grundsätzlich dieMehrstaatlichkeit . 11 verlangen keinen Nachweis aufeigenständige Lebensunterhaltssicherung . In 15 Staatenbeträgt die Mindestaufenthaltsdauer fünf Jahre oder we-niger . In 16 EU-Staaten gibt es keinen Einbürgerungstest .7 verzichten auf Einbürgerungsgebühren oder verlangennur einen symbolischen Beitrag . Die Kollegen von derUnion sollten angesichts solcher Vergleichszahlen wirk-lich einmal einfach in sich gehen
und nicht immer auf angeblich einbürgerungsunwilli-ge Migranten zeigen . Sie sollten sich vielmehr an ihreneigenen Kopf fassen und fragen, wie so etwas zustandekommt .Meine Damen und Herren, von den Betroffenen wirdimmer wieder gesagt, dass für sie die Kosten für die Ein-bürgerung ein großes Hemmnis sind . Diese betragen imSchnitt 500 Euro einschließlich der Gebühren für Über-setzungen, Urkunden usw ., die sie aus den Herkunftslän-dern beschaffen müssen. Das ist zum Beispiel für eineFamilie nicht wenig . Die Senkung der Einbürgerungs-gebühren wäre wirklich ein symbolisches Zeichen; sokönnte man Familien, die wenig Geld haben, hier dieEinbürgerung ermöglichen .Zwei Drittel derjenigen, die keinen Einbürgerungsan-trag stellen, haben dafür zum Beispiel den Grund angege-ben, dass sie ihre alte Staatsbürgerschaft nicht verlierenwollen, aber auch die deutsche gerne hätten .
– Herr Wendt, ich habe Ihren Zwischenruf leider nichtverstanden .
Das hat übrigens eine Studie des BAMF ergeben . Die-se Entscheidung ist in der Regel eben keine Frage der Lo-yalität zu diesem oder jenem Staat . Vielmehr gibt es ganzpragmatische Hintergründe dafür, warum Menschen ihrealte Herkunftsstaatlichkeit behalten wollen . Es geht zumBeispiel um Rentenansprüche, um Vermögensansprüche .Es handelt sich also um ganz einfache Gründe . Diese Re-alität will die Union hier einfach nicht akzeptieren . Manmuss wirklich sagen: Anstatt sich ständig mit Argumen-ten aus der Mottenkiste gegen die generelle Möglichkeitder Mehrstaatlichkeit zu sträuben, sollten Sie wirklicheinfach einmal ein modernes Einbürgerungsrecht schaf-fen .
Die Grünen haben anlässlich ihres Antrags zur Einbür-gerung britischer Staatsbürger darauf hingewiesen, dassdas geltende Recht Handlungsmöglichkeiten für eine er-leichterte Einbürgerung bietet . Das ist richtig . Die Linkehat bereits seit 2013 hier im Bundestag immer wieder ge-fordert, dass solche vorhandenen Handlungsspielräumekonsequent umgesetzt werden . Aber auch dazu brauchtes einfach den politischen Willen der Verantwortlichenin der Bundesregierung und in den entsprechenden Frak-tionen . Dafür will ich gerne noch zwei Beispiele bringen .Hier geborene Flüchtlingskinder könnten im Regel-fall ab dem dritten Lebensjahr eingebürgert werden,um ihnen ein gleichberechtigtes Leben, beispielsweisean den Schulen, in den Kitas usw ., zu ermöglichen . Dasschreibt im Übrigen auch die UN-Kinderrechtskonven-tion vor . Aber die Bundesregierung hat sich in diesemPunkt schon immer über die UN-Kinderrechtskonventi-on hinweggesetzt, und es interessiert sie überhaupt nicht,welche Rechte die Kinder haben . Gerade hier fordere ichSie auf, endlich etwas zu tun .
Wichtig wäre es beispielsweise auch, Menschen, dieSozialhilfeempfänger sind, hier aber seit vielen Jahrenleben, großzügiger einzubürgern . Ich halte es wirklichfür einen Skandal, dass man im Grunde genommen dieErlangung gleicher Rechte durch Einbürgerung vom Ein-kommen abhängig macht und die soziale Lage nicht be-rücksichtigt . Das kann einfach nicht gehen .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ja, ich komme zu meinem letzten Satz . – Ich möchte
abschließend einfach noch einmal sagen: Ein deutscher
Pass ist weder ein Integrations- noch ein Demokratie-
zeugnis . Es geht hier schlicht um eine demokratische
Selbstverständlichkeit . Deswegen: Erleichtern Sie end-
lich die Einbürgerung für Menschen, die hier seit vielen
Jahren leben .
Ich danke Ihnen .
Als nächster Redner hat Detlef Müller von der
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen derFraktion Bündnis 90/Die Grünen, natürlich erkennen wirUlla Jelpke
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die lobenswerte Zielrichtung Ihres Antrages zur raschenEinbürgerung britischer Staatsbürger . Sie wären nicht dieGrünen und wir wären keine Sozialdemokraten, hättenwir im Rahmen der Brexit-Debatte nicht gerade auch dasLos der Menschen im Auge, die von der unseligen Bre-xitEntscheidung direkt betroffen sind, nämlich derjeni-gen, die darauf vertraut haben, dass sie sich auf Dauerin Europa frei bewegen und niederlassen können, derje-nigen, die darauf vertraut haben, dass sie ihr Leben alsEuropäerinnen und Europäer planen und leben können .Von jetzt an gerechnet in etwa zwei Jahren hätten wir indiesem Hohen Haus einen Antrag von Ihnen in ähnlicherForm gerne unterstützt . Aber heute, am 23 . September2016, ist Ihr Antrag, mit Verlaub, Theaterdonner und Be-schäftigungstherapie .
Ihr Antrag ist außerdem handwerklich ungenau . Mitgroßer Geste schreiben Sie, die Bundesregierung solledarauf hinwirken,dass in Deutschland lebende britische Staatsangehö-rige rasch und unkompliziert eingebürgert werden,wenn sie es beantragen; …unddass britische Staatsangehörige auch bei einer Auf-enthaltsdauer von weniger als sechs Jahren einge-bürgert werden, wenn sie die sonstigen Vorausset-zungen für die Einbürgerung erfüllen; …Weiterhin solle die Bundesregierungim Rahmen ihrer Informationspolitik verstärkt da-rauf aufmerksam … machen, dass die Einbürgerungbritischer Staatsangehöriger unter Beibehaltung derbritischen Staatsangehörigkeit erfolgt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir die-sen Antrag heute hier beschließen würden: Gut gemeintist halt noch nicht gut gemacht .
Nur hinwirken und informieren würde bei einer so kom-plexen Materie eben nicht ausreichen .
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen,noch hat Großbritannien nicht einmal nach Artikel 50EU-Vertrag seinen Austritt aus der Europäischen Unionangezeigt . Wir stehen aber schon jetzt vor einem Bergvon Fragen, die im kommenden Austrittsprozess geregeltwerden müssen . Und dabei wissen wir noch nicht einmal,wann dieser mindestens zweijährige Prozess denn je be-ginnen wird .Sie wissen genau wie ich, dass erst in einem fortge-schrittenen Stadium der Verhandlungen endgültig ge-löst werden kann, wie mit der Staatsangehörigkeit undEinbürgerung britischer Staatsbürger umzugehen ist, dieschon bisher in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebten .Sie wissen genau wie ich, dass die SPD natürlich allesdafür tun wird, hier menschliche, europäische Lösungenim besten Sinne zu finden, nämlich den hier lebendenBritinnen und Briten zu ermöglichen, auch weiter mitweitestgehenden Rechten und Pflichten unter uns zu le-ben .
Wir würden gut daran tun, dieses Problem schongleich zu Beginn der Verhandlungen auf den Tisch zulegen und möglichst früh zu lösen, und zwar im Sinneeines fairen Deals . Wenn unsere Bürger in Großbritanni-en bleiben können, dürfen Britinnen und Briten auch beiuns bleiben .Und Sie wissen genau wie ich, dass wir vor extremkomplizierten Verhandlungen stehen, in denen es darumgehen wird, Großbritannien möglichst eng an die EU undden Binnenmarkt zu binden, aber Großbritannien gleich-zeitig auch Pflichten aufzuerlegen.Man hat den Eindruck, dass manche britischen Re-gierungsvertreter bzw . Austrittsbefürworter momentanmit großen Kinderaugen erkennen, wie unendlich kom-pliziert dieser Austrittsprozess werden wird, und wieschwierig es werden wird, die hochtrabenden Verspre-chen aus dem Referendumswahlkampf zu erfüllen, auchwenn das Boris Johnson, blond und blauäugig, anderssieht . Theresa May hat bisher nicht erkennen lassen, dassdie britische Regierung überhaupt schon eine grundsätz-liche Strategie für die Austrittsverhandlungen gefundenhat . Allerdings werden wir uns an dieser neuen „EisernenLady“ möglicherweise noch die Zähne ausbeißen .Es ist gut und richtig, dass Deutschland und die EUsich jetzt noch nicht auf Vorverhandlungen einlassenwollen . Die EU wird das Vereinigte Königreich kommenlassen; denn Großbritannien muss sich darüber klar wer-den, wie sein Verhältnis zur EU und zum Binnenmarktsein soll . Großbritannien muss sich darüber klar werden,welchen Preis es bereit ist zu zahlen, dass es sich ausdem Geltungsbereich der Grundfreiheiten zurückzieht .Die Personenfreizügigkeit als eine der vier Grundfreihei-ten bildet eine der Säulen des Binnenmarktes der Euro-päischen Union . Nimmt man diese Säule weg, bricht dasGebäude Europäische Union, wie wir es kennen, zusam-men .Tun Sie uns also bitte den Gefallen und verschleu-dern Sie nicht Ihre parlamentarische Energie in Anträge,von denen Sie wissen, dass sie das Problem nicht lösen .Verschleudern Sie nicht Ihre Argumente, die Sie und wirnoch dringend brauchen werden . Sparen Sie sich IhreEnergie für die schwierigen Verhandlungen und Debat-ten, die noch kommen werden . Wir wollen kein kaltesEuropa mit neuen Grenzen . Wir wollen kein Europa, dassich nur über die Zollfreiheit definiert.
Wir wollen kein Europa aus eifersüchtigen Einzelstaaten,die sich nur deswegen regelmäßig an einen Tisch setzen,um über Handelsquoten und Fördermittel zu feilschen .Detlef Müller
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Stichwort „Eifersucht“: Ja, der Brexit ist schon so et-was wie eine Ehescheidung . Wir sind enttäuscht, fühlenuns unverstanden, hintergangen . Wir wissen, dass wiruns scheiden lassen werden, dass wir uns scheiden las-sen müssen . Aber der Scheidungsantrag ist noch nichtgestellt . Trotzdem darf es nicht zu einem Rosenkriegkommen . Wir sollten also alles vermeiden, was denScheidungsprozess beeinflussen, erschweren oder sogarvergiften könnte .Es waren 43 gute Ehejahre – mit Höhen und Tiefenund nicht ohne Konflikte; aber so ist das eben in einerEhe . Und nun geht sie zu Ende, der Partner will sichtrennen . Aber wir haben noch immer Respekt vor demPartner, und, ja, wir schauen auch noch etwas wehmütigauf die gemeinsamen Jahre zurück . Deswegen sollten wiruns so trennen, dass wir uns danach trotzdem noch in dieAugen schauen und sagen können: Ach komm, lass unsFreunde bleiben!Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin – sorry –, als
nächster Redner hat Özcan Mutlu von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Das wird er verkraften, wie ich ihn kenne .
Das werden wir noch bereden müssen . Ich habe jetzt
Gesprächsbedarf mit meiner Fraktionsvorsitzenden .
Nein, Sie haben einen Freibrief, mich einmal mit
„Herr“ anzureden .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Im Jahre 2000 haben wir unter Rot-Grün Schlussgemacht mit dem wilhelminischen Staatsangehörigkeits-recht, das auf dem Blutsrecht aufgebaut war . Die dama-ligen rot-grünen Reformvorschläge zur Liberalisierungdes Staatsangehörigkeitsrechts waren überfällig . Leiderwurden damals aber unsere Reformvorschläge durch dieKoch’sche „Ausländer raus!“-Unterschriftenkampagneund die schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit in weitenTeilen verhindert . Seither haben wir auch die Debatteum die doppelte Staatsbürgerschaft . Sie haben das imJahr 2000 verhindert . Aber das ist heute für uns immernoch wichtig .
Heute, 16 Jahre danach, sehen wir alle, dass weiterhingroßer Reformbedarf besteht . Daran hat auch die Mogel-packung der Großen Koalition aus dem Jahr 2014 nichtsgeändert, als Sie die leidige Optionspflicht leicht libera-lisiert haben . Nach wie vor ist die doppelte Staatsbürger-schaft nur in Ausnahmefällen möglich . Deshalb versteheich auch die ganze Hysterie nicht, die Sie von der CDU/CSU in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft in diesemSommer verbreitet haben . Ich verstehe nicht, wie dieCDU/CSU etwas abschaffen will, was de jure gar nichtexistiert . Wir haben keine doppelte Staatsbürgerschaft indiesem Land . Es gibt nur Ausnahmefälle . Das sollten Sieals Abgeordnete dieses Hohen Hauses, als Gesetzgeber,bestens wissen . Ich sage Ihnen, Kolleginnen und Kolle-gen von der CDU/CSU: Hören Sie auf, Angst zu schüren!Hören Sie auf, das Klima des Zusammenlebens in die-sem Land zu vergiften!
Mit dieser Kampagne, die Sie in diesem Sommer ge-fahren haben, fördern Sie nämlich nur eines: die Des-integration . Mit dieser Kampagne und Ihrem Kampfgegen die doppelte Staatsbürgerschaft verhindern Sieauch, dass Deutschland Heimat wird für Millionen vonMigrantinnen und Migranten . Sie reden auch in diesemZusammenhang ständig von den Türkinnen und Türkenoder der Türkei und zeichnen ein Schreckensszenarionach dem anderen an die Wand . Sie schwadronieren vonLoyalität und Loyalitätskonflikten und stellen Hundert-tausende Menschen, die aus der Türkei stammen, dieunserem Land gegenüber loyal sind und das Grundge-setz anerkennen, unter Generalverdacht . Im Übrigen: Ichstamme auch aus der Türkei und diene dem deutschenVolk und allen Menschen, die in diesem Land leben . Siesollten das endlich mal akzeptieren
und damit aufhören, diese Menschen zu denunzieren undunter Generalverdacht zu stellen .
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, erreichen mitdiesen Kampagnen genau das, was Sie eigentlich verhin-dern wollen . Sie lassen nicht zu, dass diese Menschen inunserem Land ankommen . Sie treiben damit viele Tür-kinnen und Türken in die Hände von Erdogan, weil Sienicht zulassen, dass diese Menschen sich endlich mit un-serem Land identifizieren können. Das ist schädlich, unddas ist schäbig, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Ich schaue insbesondere in die Reihen der CDU/CSUund sage nochmals: Es geht hier um staatsbürgerschaft-liche Rechte .
Es geht zum Beispiel um das elementare Bürgerrecht desWahlrechts . Hier in Berlin waren vor fünf Tagen Wahlen .Mein Vater, der seit 50 Jahren in diesem Land lebt, durftenicht einmal mitentscheiden, wer im Bezirk Mitte, werim Bezirk Kreuzberg den Bürgermeister oder die Bürger-Detlef Müller
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meisterin stellt . Im Übrigen sind es demnächst in beidenFällen Grüne . Darauf sind wir stolz .
Sie haben mit Ihren Restriktionen verhindert, dassmein Vater, der eine besondere Identifikation auch mitder Türkei hat, obwohl sein Sohn die deutsche Staatsbür-gerschaft besitzt und MdB ist, die deutsche Staatsbürger-schaft kriegen kann .
– Sie haben verhindert, dass er Deutscher werden kann,
weil Sie fordern, dass er die türkische Staatsbürgerschaftaufgibt .
Er will sie nicht aufgeben . Akzeptieren Sie, dass für einebestimmte Bevölkerungsgruppe die doppelte Staatsbür-gerschaft ein Angebot ist, und lassen Sie uns gemeinsamdieses Angebot machen .
Mein Appell an Sie: Hören Sie mit den Scheindebat-ten auf! Hören Sie auf, mit populistischen Forderungender AfD nachzueifern! Lassen Sie uns stattdessen einmodernes Staatsbürgerschaftsrecht für unser Land eta-blieren, damit sich jeder hier zu Hause fühlen kann unddamit jeder in unserem Land, der schon eine bestimm-te Zahl an Jahren in unserem Land lebt, endlich staats-bürgerschaftliche Rechte bekommt! Um nicht mehr undnicht weniger geht es hierbei .
Als nächster Redner hat Marian Wendt von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Mit den zwei Ehefrauen . – Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was nichtskostet, ist auch nichts wert .
Wenn die deutsche Staatsangehörigkeit immer leichter zuhaben ist, dann ist auch ihr Inhalt, die damit verbunde-ne Verantwortung und die Identifikation damit nicht vonSubstanz .
Eine Staatsangehörigkeit ist kein Bonbon, das man ein-fach mal so nebenbei mitnimmt .
Auch wenn der Druck bzw . die Nachfrage danach großsein mag, so sollten wir dies nicht als Grund sehen, unse-re Standards für eine Einbürgerung zu senken . Es sollteeher Bestärkung sein, hohe Standards für den Erwerb derdeutschen Staatsangehörigkeit zu setzen
und diesen wenigstens ein kleines bisschen zeremoniellzu gestalten .Die Beantragung und die Erlangung der deutschenStaatsbürgerschaft sind für mich schließlich ein Symboldes finalen Ankommens in unserem Land.
Gegen die sehr pragmatische Überlegung „Ich nehmeeinfach den Pass, der mir die größte Freiheit bietet“ weh-re ich mich . Denn das entspricht nicht dem, was eineStaatsbürgerschaft für mich ausmacht . Eine Staatsbür-gerschaft ist ein Ausweis der Verantwortung, die man fürein Land – in diesem Fall für unser Land – übernimmt .Einbürgerung dient eben nicht nur der Herstellung ei-ner größtmöglichen Übereinstimmung zwischen der inDeutschland lebenden Bevölkerung und dem wahlbe-rechtigten Staatsvolk .Das Argument der Grünen, Menschen wären von po-litischer Teilhabe ausgeschlossen, obwohl sie hier schonlange leben, ist meiner Meinung nach Unsinn .
Es ist erstens auf vielen Ebenen möglich, sich direktzu beteiligen .Zweitens ist politische Teilhabe, die eine Staatsbür-gerschaft voraussetzt, auch mit Bedacht und mit Rechtdieser Hürde unterworfen . Denn die notwendige Identi-fikation mit Deutschland, die mit der deutschen Staats-bürgerschaft einhergehen muss, und die entsprechendeÖzcan Mutlu
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Verantwortung sind eben auch Voraussetzung für die Be-teiligung an politischen Prozessen .
Denn nur wer unsere Grundwerte teilt und achtet, sollteauch politisch hier teilhaben .
Außerdem – und hier schließt sich der Kreis – bestehtja die Möglichkeit, sich um die Staatsbürgerschaft zu be-mühen . Wenn sie dann erworben wurde – ich wiederholefür die Grünen: erworben –, dann ist sie die Eintrittskar-te für Mitbestimmung auf größerer Ebene . Wer 20 Jah-re in unserem Land lebt, der hätte schon seit 12 Jahren,wenn er möchte, deutscher Staatsbürger sein können . Wirschaffen ja die Voraussetzungen, aber er muss sich auchentscheiden und bekennen, zu welchem Land er gehört .
Die deutsche Staatsangehörigkeit ist ein Anreiz zurIntegration gemäß unserer Philosophie des Förderns undForderns gegenüber Menschen, die neu in unserem Landleben . Diesen Anreiz dürfen und wollen wir nicht aus derHand geben . Eine weitere Vereinfachung des Erlangenswäre nämlich ein Vorschuss auf Integrationsleistungen,und einen solchen Vorschuss dürfen wir nicht geben .
Frau Präsidentin, der Kollege Mutlu möchte eine Zwi-schenfrage stellen . Bitte .
Herr Kollege Mutlu, Sie dürfen .
Ach so, Entschuldigung!
Das macht nichts . Wenn Sie Ja sagen, dann kann der
Kollege Mutlu seine Zwischenfrage stellen .
Herr Kollege Wendt, danke, dass Sie die Frage zulas-
sen . Ich habe eine ganz simple Frage: Ist Ihnen bekannt,
dass die Bundrepublik Deutschland mit 53 Ländern die-
ser Erde sogenannte Doppelstaatsbürgerschaftsabkom-
men abgeschlossen hat
und dass in unserem Land bereits über 4 Millionen Men-
schen eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, von
denen keine Gefahr für unser Land ausgeht? Außer mit
den 53 Partnerländern haben wir auch ein „Abkommen“
mit dem Iran . Hier müssen wir die doppelte Staatsbürger-
schaft de facto akzeptieren, weil der Iran nicht ausbür-
gert . Ist Ihnen all das bekannt? Wo sehen Sie in diesem
Zusammenhang die Gefahr für unser Land?
Herr Kollege, mir ist bekannt, dass es doppelte Staats-bürgerschaften in unserem Land gibt und dass es dieseAbkommen gibt . Wir haben aber einen Grundsatz, unddavon gibt es, wie es manchmal im Recht der Fall ist,Ausnahmen .Wir sollten aber erstens an dem Grundsatz festhalten,dass es grundsätzlich eine Staatsbürgerschaft geben soll-te . Das ist, glaube ich, auch für die Menschen einfacher .Und der Iran – Sie haben es selber erwähnt – bürgertnicht aus, auch wenn Iraner nicht mehr Staatsbürger desIran sein wollen . Solche Gegebenheiten müssen wir ak-zeptieren, auch wenn sie nicht unserer Rechtsauffassungentsprechen .Ich finde es zweitens wichtig, daran festzuhalten, dassdie deutsche Staatsbürgerschaft etwas bedeutet, dass sienicht nur ein Stück Papier ist, nicht nur ein Stück Reise-freiheit, sondern dass dahinter auch Werte stehen, eineKultur, eine Idee . Ich werde dazu noch ausführen .
– Es geht bei der Idee um unsere Grundwerte . Ich werdegleich darauf eingehen, Herr Beck, immer mit der Ruhe .
Der Grundsatz des Förderns und Forderns, den wir imIntegrationsgesetz als Prämisse unserer Bemühungen umeine bessere Integration festgelegt haben, ist genau des-halb so viel wert, weil sich eigene Leistung lohnt . UndIntegration lohnt sich . Aktives persönliches Bemühenum Integration lohnt sich für jeden Menschen, der legalzu uns kommt . Für Menschen, die sich nicht integrieren,muss die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaftunmöglich sein . Hier gibt es ein Abstandsgebot, schonallein aus Gründen der Gerechtigkeit .Mit dem Integrationsgesetz haben wir genau den rich-tigen Weg eingeschlagen, Anreize für Integration zu ge-ben . Eine erfolgreiche Integration kann dann auch mitder deutschen Staatsbürgerschaft belohnt werden . Ver-einfachungen bei der Erlangung der deutschen Staatsbür-gerschaft, wie hier gefordert – frei nach dem Motto: wirgeben dir die Staatsbürgerschaft in der Hoffnung, dassMarian Wendt
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du dich gut integrierst –, liefen diesem Zweck zuwiderund sind daher schlicht abzulehnen . Das kann nicht unserWeg sein; denn wir müssen ja bedenken, dass die Ein-bürgerung unumkehrbar ist . Wenn sich jemand nach Er-langung der deutschen Staatsbürgerschaft nicht integrierthat, dann können wir nach zehn Jahren nicht sagen: Wirnehmen sie dir wieder weg . – Von daher wäre es fatal, sovorzugehen .
– Das ist vielleicht manchmal auch gut .Wir sollten die Verleihung unserer Staatsbürgerschaftalso nicht als Vorschuss auf Integration handhaben, son-dern genau andersherum . Denn sonst würde der Druckfehlen, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren . UndIntegration bedeutet für mich dabei die Anerkennungunserer christlich-jüdischen Werte, die Anerkennung derbesonderen Geschichte unseres Landes und die Annahmeder Verantwortung, die wir mit ihr tragen, und selbstver-ständlich auch die Anerkennung unserer deutschen Leit-kultur .
Noch ein paar Gedanken zu dem Antrag zur einfache-ren Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft für bri-tische Staatsangehörige . Jetzt für britische Bürger eineSonderregelung, eine Lex Britannica, wie an verschiede-nen Stellen zu lesen war, einzuführen, halte ich für einenFehler .Erstens: Wie wäre diese Ungleichbehandlung gegen-über anderen EU-Bürgern zu rechtfertigen?
Zweitens gibt es bereits heute ausreichend rechtlicheMöglichkeiten für alle Unionsbürger, sich um die deut-sche Staatsbürgerschaft zu bemühen . Der dritte Grund:Es kann nicht sein, dass der Wunsch, am Flughafen nichtin der langen Schlange derer stehen zu müssen, die nichtdem Schengen-Raum angehören, dazu führt, die deut-sche Staatsangehörigkeit zu beantragen .Die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens habendemokratisch darüber entschieden, dass sie nicht Teildieser Europäischen Union bleiben möchten . Diese Ent-scheidung haben wir zu akzeptieren . Deswegen sind IhreAnträge nicht zuvorderst und nicht in einfacher Weise zubehandeln .Der Antrag der Grünen und ihr Gesetzentwurf sindabzulehnen, nicht nur, weil sie eine vernünftige Überzeu-gung davon vermissen lassen, was Staatsangehörigkeitbedeutet .
Staatsangehörigkeit ist mehr als der deutsche Pass . IhreVorschläge laufen auch den Maßnahmen zuwider, die wirzur Bewältigung der Herausforderungen, die sich aus derVielzahl von Flüchtlingen ergeben, beschlossen haben .Für die CDU/CSU-Fraktion ist Integration der Wegund Einbürgerung das Ziel, nicht andersherum .Vielen Dank .
Als nächster Redner hat Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Das war eine vorsorgliche Wortmel-
dung für den Fall, dass sich die Notwendigkeit aus der
weiteren Debatte ergeben hätte . Diese Notwendigkeit
sehe ich nicht, sodass wir alle hier neun Minuten mehr
von unserer Lebensarbeitszeit haben .
Das ist ungewöhnlich, aber akzeptabel .
Frau Barbara Woltmann von der CDU/CSU-Fraktion
hat dann das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Präsidentin hat schon gesagt, dass das sehrungewöhnlich war; aber ich fand es schon ungewöhnlich,dass Sie zweimal auf der Rednerliste standen, Herr Veit .Die Begründung war sehr interessant . Nun gut .Wir haben eine recht lange Debattenzeit für diesesThema vorgesehen . 77 Minuten – ich bin die letzte Red-nerin zu diesem Thema – sind schon eine lange Zeit . Wirdiskutieren über das Einbürgerungsrecht hier nicht zumersten Mal . Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass wirdabei nicht einer Meinung sind, dass die Opposition einsehr viel offeneres Herangehen für richtig hält.
– Ja, in der Tat haben wir in den Koalitionsverhandlun-gen hart um die Optionsregelung gerungen . Wir habendann eine Lösung gefunden und gleich zu Beginn dieserLegislaturperiode, 2014, das Staatsangehörigkeitsrechtgeändert . Wir sehen – das wird Sie von der Oppositionnicht wundern – keine Notwendigkeit, jetzt wieder eineÄnderung in Angriff zu nehmen.Die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, wer Deut-scher im Sinne des Gesetzes ist . Wir haben im Staatsan-gehörigkeitsgesetz in immerhin 42 Paragrafen sehr de-tailliert geregelt, wie man deutscher Staatsbürger werdenkann, wenn man es nicht von Geburt an ist .Marian Wendt
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Das Optionsrecht hatte ich schon angesprochen . Inder Tat hätten wir das, wenn wir alleine hätten entschei-den können, nicht so geändert . Wir hätten das nicht insGesetz geschrieben; aber wir hatten das mit der SPD soausgehandelt, und wir verhalten uns – Herr Veit hat esschon gesagt – natürlich vertragstreu . Daher haben wirdas Recht entsprechend geändert .Eine weitere Veränderung lehnen wir aber ab . Deswe-gen, liebe Kollegen von den Grünen, wird es Sie nichtwundern, dass wir Ihren Antrag und Ihren Gesetzentwurfablehnen . Wir haben einfach eine ganz andere Vorstel-lung davon, wer wann wie deutscher Staatsbürger wer-den kann, der es noch nicht ist, der aber den Wunsch hat,Deutscher zu werden .Ihre Intention scheint mehr zu sein, die Türen für eineEinbürgerung für alle weit zu öffnen, indem Sie die Min-destaufenthaltsdauer bei der Anspruchseinbürgerung auffünf Jahre senken; bei anerkannten Flüchtlingen wollenSie die Mindestaufenthaltsdauer auf drei Jahre senken .
Sie machen auch keinen Unterschied mehr zwischenden verschiedenen Aufenthaltstiteln; Hauptsache, es gibtüberhaupt einen Titel . Also, Sie wollen die Tür sehr weitöffnen.
Ihren Hinweis auf die globalisierte und mobile Welt,der sich unser Staatsangehörigkeitsgesetz anpassen müs-se, halte ich für völlig fehl am Platze . Sie scheinen sichdamit – so kommt mir das vor – einem Mainstream be-stimmter Gruppen anschließen zu wollen, ihm vielleichtauch nachlaufen zu wollen – nach dem Motto: Wir allesind Weltbürger und brauchen die Bindung an unserenHeimatstaat nicht mehr . – Da, glaube ich, verkennenSie die Bindungswirkung einer Staatsangehörigkeit . Diemeisten Menschen nennen das „Heimat“ .
Das ist ihnen auch sehr wichtig . Das sollte nicht der Be-liebigkeit anheimgegeben werden . Von daher gesehen –ich darf es wiederholen – lehnen wir das ab .Genau das Umgekehrte ist doch der Fall . In einer glo-balisierten Welt braucht man Bindung, Zugehörigkeits-gefühl
und nicht in allen Lebensbereichen grenzenlose Unge-bundenheit .
Sie setzen mit der von Ihnen gewünschten Gesetzgebungein völlig falsches Signal, gerade in der heutigen Zeit, dadurch Ihre Vorschläge weitere PullEffekte, die wir nichtwollen, zu erwarten sind .Des Weiteren besteht auch keinerlei Notwendigkeit,britischen Staatsangehörigen – meine Vorredner habenschon auf Ihren Antrag dazu hingewiesen – eine Sonder-behandlung zuteilwerden zu lassen, weil sie auch jetztschon alle Rechte genießen, die jedem europäischen –oder Schweizer – Staatsbürger in Deutschland bezüglicheiner Einbürgerung eingeräumt worden sind . Das giltzumindest so lange, wie ihr Land Mitglied der Europä-ischen Union ist .Im Moment wissen wir auch noch gar nicht, wann derAntrag gestellt wird, wie er gestellt wird . Dass er gestelltwird, davon können wir ausgehen, weil die britische Pre-mierministerin das noch einmal deutlich gemacht hat .Wenn der Antrag gestellt wird, schließen sich noch zwei-jährige Verhandlungen an. Auch insofern finde ich: IhrAntrag ist überflüssig, vergebene Liebesmüh.
Es ist von Vorrednern schon darauf hingewiesenworden, dass es auch eine Ermessensentscheidung ge-ben kann, um die Zeit von sechs Jahren, die ein Brite inDeutschland leben und arbeiten muss – das ist die Vo-raussetzung –, eventuell zu verkürzen;
er hätte dann nach § 12 Absatz 2 Staatsangehörigkeits-gesetz die Möglichkeit, Deutscher zu werden . Insofernsehen wir gar keinen Handlungsbedarf für eine Privile-gierung in Europa; das wäre nur der Einstieg für eine ge-nerelle Öffnung, und das wollen wir nicht.
Wir halten das nicht für notwendig .Nur noch ein kleiner Einschub, wenn wir schon überden Brexit sprechen . Von der Opposition wurde schonvorgeschlagen, weitere direktdemokratische Elementein die Verfassung einzuführen . Wir haben im Juni dieentsprechende Debatte gehabt . Wir haben das seinerzeitabgelehnt . Wozu es führen kann, wenn man solche Ele-mente einführt – ich kann das hier nur noch einmal wie-derholen –, haben wir gesehen . Scharlatane versuchen,auch mit falschen Informationen, die Leute zu einerEntscheidung zu bringen, die letztendlich nicht gut fürdas Land – in dem Fall für Großbritannien – und für dieMenschen dort ist . Insofern bin ich froh, dass wir das inunserer Verfassung so haben, wie wir es haben . Unsereparlamentarische Demokratie ist da sehr stabil, und daswollen wir auch so erhalten .Das Staatsangehörigkeitsrecht haben wir, wie gesagt,durch eine maßvolle Anpassung der Optionspflicht fürin Deutschland aufgewachsene Kinder geändert . HerrMutlu, es ist auch nicht so – das möchte ich noch einmaldeutlich sagen –, wie Sie es gerade geschildert haben,dass Ihr Vater nicht Deutscher werden kann . Er kann na-Barbara Woltmann
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türlich Deutscher werden, aber das ist eben damit ver-knüpft, dass er dann seine türkische Staatsangehörigkeitabgeben muss .
Das wollen Sie nicht; das ist uns schon klar . Da haben wireine ganz andere Auffassung von unserem Staatsangehö-rigkeitsrecht und sagen: Wer Deutscher werden möchte,sollte sich auch voll und ganz zu diesem Land bekennen .
Ich glaube auch nicht, dass es hilft, wenn wir sagen:Jeder darf eine doppelte Staatsbürgerschaft haben . – Füreine bestimmte Anzahl von Ländern ist das möglich; dahaben wir das geregelt . Aber wir wollen – akzeptieren Siees doch nun einfach einmal – nicht diese völlige Öffnung,sondern wir wollen bei der Einstaatlichkeit bleiben; denndie Staatsangehörigkeit ist ein besonderes Band zu demStaat, dem ich angehöre . Die lege ich nicht einfach wieein Kleidungsstück an oder auch wieder ab .
Es hat doch eine Bedeutung, ob ich sage, dass ich jetztDeutsche werden möchte, oder ob ich sage, dass ichSchweizerin werden möchte . Das unterliegt doch nichtder Beliebigkeit . Vielmehr geht es um ein klares Be-kenntnis zu dem Staat, in dem ich leben möchte, in demich Teil der Gesellschaft sein möchte, in dem ich wählenkann . Das alles gehört zusammen . Das unterliegt dochnicht der Beliebigkeit .
– Ja, wir haben einige . Das dann aber auch mit gutemGrund .Wir wollen eben nicht eine völlige Freigabe, sondernwir wollen, dass die doppelte Staatsbürgerschaft wei-terhin die Ausnahme bleibt . Die deutsche Staatsange-hörigkeit soll ein klares Bekenntnis zur BundesrepublikDeutschland beinhalten . Dadurch soll der Zusammenhaltin unserer Gesellschaft gestärkt werden .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die De-
batte .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/9669 und 18/5631 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Stärkung der pflegerischen Versorgung
und zur Änderung weiterer Vorschriften
Drucksache 18/9518
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Sabine Zimmermann ,
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah ge-
stalten
Drucksache 18/8725
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,
Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedingun-
gen für eine nutzerorientierte Versorgung
schaffen
Drucksache 18/9668
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin in die-
ser Aussprache hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ingrid Fischbach für die Bundesregierung das Wort .
I
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, ich verkünde nichts Neues, wenn ich sage:Die Pflege steht in dieser Legislaturperiode prioritär ganzoben auf unserer Tagesordnung . Wir haben mit unserenPflegestärkungsgesetzen schon einiges Gutes auf denWeg gebracht. Mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz ha-Barbara Woltmann
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ben wir die Pflegeleistungen erheblich ausgeweitet, dieLeistungen – das war ein besonderer Punkt; das war unsganz wichtig – flexibler nutzbar gemacht und natürlichdie Hilfen für die pflegenden Angehörigen deutlich ver-bessert .
Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz haben wirdann den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und das da-zugehörige Begutachtungsverfahren eingeführt . Ab dem1. Januar werden fünf Pflegegrade die überholten dreiPflegestufen ablösen. Niemand wird dabei benachteiligt.Im Gegenteil: Für sehr viele Menschen werden sich dieLeistungen ab Januar nächsten Jahres erhöhen .Das PSG III, das Dritte Pflegestärkungsgesetz, das wirheute einbringen, ist sozusagen der letzte Baustein, umdas Ganze abzurunden . Das heißt, wir müssen jetzt dieMaßnahmen ergreifen, die vor Ort benötigt werden . Mitdem Dritten Pflegestärkungsgesetz stärken wir die Rolleder Kommunen in der Pflege. Die zu pflegenden Perso-nen und ihre Angehörigen benötigen eine gute Unterstüt-zung und vor allen Dingen eine, die maßgeschneidert ist .Die Strukturen und Rahmenbedingungen der Pflege müs-sen stimmen, damit sie für die Pflegenden und Angehöri-gen ein Leben gewährleisten, das in Selbstbestimmtheitund auch in Würde geführt werden kann .Dazu müssen die Länder und die Kommunen Hand-lungsspielräume haben . Diese geben wir ihnen mit demPSG III . Wir sorgen dafür, dass wir ein gutes Miteinan-der von Pflegekassen und kommunalen Strukturen vorOrt haben . Das war auch die Empfehlung der Bund-Län-der-Arbeitsgruppe, die dazu getagt hat . Kommunenkönnen künftig Beratungsleistungen in der Pflege selbstanbieten. Sie können die Einrichtung weiterer Pflege-stützpunkte auf den Weg bringen, damit die Menschen,die Beratung brauchen, entsprechende Anlaufstellen ha-ben . Die Kommunen haben die Möglichkeit, in 60 Mo-dellvorhaben neue Formen der Beratung zu erproben,und sie erhalten die Möglichkeit, die Beratung der Pfle-gekassen selber zu erbringen .Das verlangt aber auch, dass die Zusammenarbeitaller Beteiligten vor Ort verbessert wird . Oft gibt es inden Kreisen und Kommunen bereits regionale Pflege-ausschüsse . Wir werden mit dem PSG III dafür sorgen,dass die Kassen in diesen Pflegeausschüssen verpflich-tend mitarbeiten, weil wir zum einen wollen, dass sie ihrWissen und ihre Erfahrung einbringen, und weil wir zumanderen wollen, dass sie die Empfehlungen, die die Aus-schüsse auf den Weg bringen, mittragen und umsetzen .Vor der Sommerpause, meine Damen und Herren,war der Abrechnungsbetrug in der Pflege ein wirklichausschlaggebendes und bestimmendes Thema . Wenigeschwarze Schafe – das möchte auch ich deutlich sagen –haben eine ganze Branche in Misskredit gebracht . Betrugin der Pflege ist wirklich besonders verachtungswürdig,weil er nicht nur zulasten der Pflegebedürftigen, sondernauch zulasten der Beitragszahler und vor allen Dingenzulasten der vielen ehrlichen Anbieter, die wir haben,geht . Das, glaube ich, sollten wir deutlich sagen . Hier istder Gesetzgeber gefordert .
Bereits im Rahmen des Zweiten Pflegestärkungsge-setzes haben wir wichtige Maßnahmen zur Verhinderungund Entdeckung von Abrechnungsbetrug in der Pflegeauf den Weg gebracht, insbesondere die Verpflichtungdes Medizinischen Dienstes, neben der Qualität regelmä-ßig auch die Abrechnungen zu prüfen . Die Vorkommnis-se im Frühjahr dieses Jahres haben aber gezeigt, dass diesnicht ausreicht . Deswegen wird es nun auch im SGB Vein systematisches Prüfrecht geben . Künftig werden allePflegedienste regelmäßig geprüft, auch jene, die nur Leis-tungen der gesetzlichen Krankenversicherung erbringen .Alle Patienten werden in die Stichproben mit einbezo-gen, also auch Menschen, die ausschließlich Leistungender häuslichen Pflege beziehen.Darüber hinaus können Abrechnungsprüfungen in Zu-kunft auch unabhängig von Qualitätsprüfungen durchge-führt werden. Wir geben der Pflegeselbstverwaltung aufLandesebene vor, Regelungen zur Verhinderung von Ab-rechnungsbetrug in die Rahmenverträge aufzunehmen .Damit kann zum Beispiel vermieden werden, dass sichbetrügerische Pflegedienste unter einem anderen Namenwieder neu auf den Markt begeben . Das sind die Dinge,die wir tun können . Aber es müssen weitere Schritte imBereich des Strafrechts und der Kriminalitätsbekämp-fung von den Ländern unternommen werden; auch dabitten wir um große Unterstützung .Das PSG III setzt den neuen Pflegebedürftigkeitsbe-griff auch im Recht der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfeum. Denn Pflegebedürftige, die finanziell bedürftig sind,müssen auch nach Einführung des neuen Pflegebedürf-tigkeitsbegriffes die Leistungen und Hilfen bekommen,die notwendig sind . Deshalb regeln wir im PSG III auchdas Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflegeversi-cherung. Dies ist notwendig, weil mit dem neuen Pfle-gebedürftigkeitsbegriff die ambulanten Leistungen derPflegeversicherung erweitert werden und wie die Ein-gliederungshilfe Aspekte der Betreuung beinhalten . Des-halb brauchen wir gute Regelungen zur Abgrenzung derbeiden Systeme . Das hat der Expertenbeirat bereits in derletzten Wahlperiode deutlich gemacht .
Weitere Regelungen sind notwendig, weil durch diegeplante Personenzentrierung im Rahmen des Bun-desteilhabegesetzes ein Anknüpfungspunkt für die Zah-lung der Pauschalleistungen der Pflegeversicherung fürBewohnerinnen und Bewohner von stationären Einrich-tungen der Eingliederungshilfe entfällt . Hier brauchenwir Anpassungen. Denn sonst würden wir die Pflegever-sicherung mit Mehrausgaben in Milliardenhöhe belasten,ohne dass sich – das ist der ausschlaggebende Punkt –auch nur etwas mehr an den Leistungen für die Men-schen mit Behinderungen verbessern würde .Die zu Pflegenden und ihre Angehörigen, liebe Kol-leginnen und Kollegen, brauchen passgenaue Angebote,die gut abgestimmt sind und vor Ort von allen BeteiligtenParl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
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gemeinsam verantwortet werden . Sie müssen sicher seinkönnen, dass sie bei der Suche nach der richtigen undwirksamen Unterstützung und Pflege nicht allein gelas-sen werden . Insofern bildet das PSG III den Abschlusseiner, wie ich finde, wirklich guten Verbesserung für dieMenschen, die Pflege benötigen. Lassen Sie uns jetzt ge-meinsam in die parlamentarischen Beratungen gehen undsie zu einem vernünftigen Ergebnis bringen!Ich danke den Berichterstattern und den Sprechern derFraktionen sehr herzlich – wie ich sehe, sind MechthildRawert, Erwin Rüddel und Erich Irlstorfer da –, ich dan-ke dem Haus für die gute Zuarbeit, und ich wünsche unsallen, die wir an den Beratungen teilnehmen, dass wir zueinem guten Ergebnis kommen .Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Pia
Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werte Frau Fischbach, das, was Sie uns hier gerade vor-getragen haben, ist kein Paradigmenwechsel in der Pfle-ge – auf jeden Fall nicht im positiven Sinne –;
denn mit dem Pflegestärkungsgesetz III manifestierenSie einen weiteren Meilenstein in der Zweiklassenpfle-ge, und das ist ein weiterer Schritt zur Aushöhlung desSozialstaates .
Ihr Pflegegesetz verdient auch nicht den Zusatz „Stär-kung“, weil es niemanden in der Pflege wirklich stärkt –
nicht die Menschen mit einem Pflegebedarf, nicht diePflegekräfte und nicht die pflegenden Angehörigen.Die Pflege wird noch immer nicht am tatsächlichenBedarf und an den individuellen Wünschen, sondern aus-schließlich an den zur Verfügung gestellten Mitteln ori-entiert. Die Pflege bleibt markt und profitorientiert. AlleBetroffenen gemeinsam sollen das Geld einsparen, dasSie den Betreibern und Investoren von Pflegeheimen undden Pflegeversicherungen versprochen haben.Dieses Gesetz wird auch niemandem nützen, der aufprofessionelle Unterstützung angewiesen ist und dessenRente nicht ausreicht, um die Eigenbeteiligung in derPflegeversicherung, die steigenden Investitionskosten fürdie Pflegeeinrichtungen, die Miete, die Lebenshaltungs-kosten oder was auch immer zu bezahlen .
Wer auf Hilfe zur Pflege angewiesen ist – das ist dieschöne Umschreibung für Menschen, die eigentlich So-zialhilfe benötigen –, wird zukünftig noch stärker auf dasWohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen sein, als esbisher der Fall gewesen ist . Durch dieses Gesetz werdenMenschen, die Hilfe zur Pflege brauchen, gesetzlich ge-zwungen, ehrenamtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen,weil ihnen sonst gar keine Unterstützung zusteht . Damitkommen die Angehörigen nicht nur finanziell für dieMenschen mit Pflegebedarf auf, indem sie ihr Einkom-men und ihr Vermögen zur Verfügung stellen müssen,sondern sie sollen auch die Pflegearbeit übernehmen, undzwar unentgeltlich, in ihrer Freizeit und ohne Anspruchauf irgendeine Sozialversicherung .Meine Damen und Herren, Sie können einwenden,dass es doch mehr Pflegegeld und mehr Sachleistungengibt; Frau Fischbach, Sie haben es gesagt . Ich entgegneIhnen aber, dass all das nicht gegen die Ohnmacht helfenwird, wenn der 90-jährige Vater 200 Kilometer entferntallein in seiner Wohnung ist und dann vielleicht doch ein-mal vergisst, den Gasherd abzustellen . Hier würde es hel-fen, wenn sich die Angehörigen darauf verlassen könn-ten, dass es Strukturen gibt, innerhalb derer man sich umihren Vater kümmert . Es würde helfen, wenn sie wüssten,dass die Menschen, die sich um ihren Vater kümmern,gut ausgebildet und anständig bezahlt werden .
Es würde helfen, zu wissen, dass ihr Vater selbst ent-scheiden kann, ob er zu Hause oder in einer Einrichtungversorgt wird, und dass seine Wünsche und Würde res-pektiert werden .
Dieses Gesetz verspricht solche Strukturen, aber die-se Versprechen werden nicht gehalten . Die Kommunensollen gestärkt werden . Sie sagen, dafür bekommen siedie Möglichkeit, mehr Beratungsangebote einzurich-ten . Aber gerade einmal 60 Modellkommunen von über11 000 Kommunen kommen in den Genuss . Was für einHohn! Außerdem: Eine echte Entscheidung über die Ver-sorgungsangebote dürfen die Kommunen gar nicht tref-fen, und Pflegesatzverhandlungen finden weiterhin hinterverschlossenen Türen statt .Der neue Pflegebegriff soll für alle Menschen gelten –sagen Sie. Aber: Alle Menschen, die auf Hilfe zur Pflegeangewiesen sind, werden durch dieses Gesetz strukturellbenachteiligt, weil ihnen nicht die gleichen Leistungenzustehen . Das ist das, was ich am Anfang schon einmalgesagt habe: Mit diesem Gesetz verabschiedet sich dieBundesregierung vom Bedarfsdeckungsprinzip in derSozialhilfe .Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag „Pfle-ge teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten“ legenwir realistische Handlungsoptionen vor, die für Gerech-tigkeit in der Pflege sorgen können. Wir fordern gleich-wertige Lebensbedingungen in der Pflege für alle Men-schen mit Pflege, Unterstützungs und AssistenzbedarfParl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
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und gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten inallen Regionen .
Wir wollen die Kommunen tatsächlich in die Lageversetzen, für Menschen, die Pflege und Unterstützungbrauchen, wohnortnah und individuell passende Angebo-te bereitzustellen und auch zu finanzieren. Lassen Sie dieKommunen bitte nicht wieder auf den Kosten sitzen, wiees so gerne gemacht wird!Wir wollen vor allen Dingen die Mitbestimmung derMenschen mit Pflegebedarf und ihrer Angehörigen stär-ken . Denn diese Menschen wissen doch am besten, wasgewünscht wird und was nötig ist .
Wir wollen den Pflegemindestlohn erhöhen und die Ar-beitsbedingungen der Pflegekräfte verbessern, weil nurso dem Fachkräftemangel entgegengetreten werdenkann . Das ist absolut notwendig .Unser Ziel ist es auch, meine Damen und Herren, dassMenschen sich vor Pflege nicht fürchten müssen, weil siewissen, dass sie gut versorgt werden . Sie dürfen nicht da-vor Angst haben, dass sie einmal auf die Unterstützungvon anderen Menschen angewiesen sind, sondern esmuss eine gute Versorgung geben . Es ist auch unser Ziel,dass sich Freunde, Nachbarn und Familien gerne um ihreAngehörigen kümmern und füreinander da sind, weil siees wollen, und nicht, weil sie es müssen .
Unser Ziel ist es, dass Menschen so leben können, wiesie es sich wünschen, und nicht, wie es ihr Geldbeutelerlaubt .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Mechthild
Rawert von der SPD-Fraktion das Wort .
Liebe Bürgerinnen und Bürger! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Unser Ziel, die Vollendung einer großenPflegereform mit ihren zahlreichen Gesetzen, ist in Sicht-weite, und das ist auch gut so .An dieser Stelle, Frau Zimmermann, muss ich dochauf Ihren Beitrag eingehen . Erstens ist heute noch nichtdie Zeit für großes Wahlkampfgetöse . Zweitens empfehleich Ihnen, Ihr Recht als Versicherte auf Pflegeberatung –das haben Sie seit 2009 – auch in Anspruch zu nehmen;denn dann würden Sie erfahren, wie viel Gutes im PSG I,wie viel Gutes im PSG II und auch im PSG III steht . Ichkann sagen: Beratung erhöht das Wissen – und das giltfür uns alle .
Mit den Pflegestärkungsgesetzen I bis III stellen wiruns den demografischen Herausforderungen in unsererimmer älter werdenden Gesellschaft . Wir machen Ernstmit der Aussage „Gute Pflege ist ein Menschenrecht“.Und das ist auch gut so; denn wir brauchen eine zukunfts-feste Pflege im Interesse der heute schon über 2,5 Milli-onen pflegebedürftigen Menschen – mit stark steigenderTendenz –, im Interesse der pflegenden Angehörigeninklusive ihrer besseren sozialversicherungsrechtlichenAbsicherung und im Interesse der Hauptamtlichen, dieda, wo es einen Tariflohn gibt, tatsächlich den Tariflohnbezahlt bekommen . All das haben wir geregelt, und dasist gut so und stärkt die Pflege.Beim Pflegestärkungsgesetz III werden wir auf jedenFall in diesem Jahr noch die Zielgerade erreichen – dasgarantiere ich hier –, obwohl wir im parlamentarischenVerfahren noch große Baustellen zu bearbeiten habenund das Struck’sche Gesetz auch hier gilt, das lautet:„Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wiees eingebracht worden ist .“Frau Fischbach hat schon ganz verschiedene Bereicheund Felder dieses Gesetzes erwähnt, auf die ich an dieserStelle nicht mehr eingehen möchte .Neu ist – das wird also noch kommen –: Dieses Gesetzdient auch als ein Omnibusgesetz . Denn wir senden mitihm berufspolitische Signale aus, indem wir vorhandeneModellklauseln für die Ergotherapeutinnen und Ergothe-rapeuten, für die Hebammen und Entbindungspfleger, fürdie Logopädinnen und Logopäden, für die Masseure undPhysiotherapeuten verlängern. Wir treffen Regelungenfür die Verbesserung der Qualität unter den Heilpraktike-rinnen und Heilpraktikern .An dieser Stelle eine Anmerkung von mir als sozialde-mokratische Gesundheits- und Gleichstellungspolitike-rin: Ich verstehe nicht, dass wir den Medizinerinnen undMedizinern rund 1 Milliarde Euro Honorar mehr geben,aber für die vielen zumeist von Frauen ausgeübten Ge-sundheitsberufe keine professionelleren Strukturen vonnachhaltigem Bestand schaffen.
Wir wollen eine Stärkung der Gesundheitsfachberufe .Das ist auf jeden Fall unser Credo . Dazu sage ich auch:Das sich ärgerlicherweise immer noch im parlamentari-schen Verfahren befindliche Pflegeberufereformgesetzsoll dazu dienen, dass wir auch hier zu einer besserenQualität kommen. Hier hoffe ich doch auf professionelleEinsicht in Teilen der Reihen unseres Koalitionspartners .Eingehen will ich auf einige Punkte zum PSG III . EinThema sind die Hilfen zur Pflege. Das Ziel ist, dass dieRegelungen aus dem PSG II, die wir bis jetzt beschlos-sen haben, auch für die Menschen Wirklichkeit werden,die Hilfen zur Pflege laut SGB XII, also dem Sozialhil-ferecht, erhalten. Das heißt, der neue Pflegebedürftig-keitsbegriff und das neue Begutachtungsverfahren geltenauch hier . Weiterhin soll gelten: Körperlich, kognitiv undpsychisch Pflegebedürftige werden gleichgestellt, mitPia Zimmermann
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dem Ergebnis, dass mehr Individualität und Gerechtig-keit für alle, unabhängig vom Geldbeutel, gelten .
Zum PSG III gehören auch die Stärkung der örtlichenPflegeinfrastruktur und der Ausbau der Pflegeberatung;Fälle, in denen das notwendig ist, habe ich schon er-wähnt . Mit diesen Punkten setzen wir Forderungen derSPD aus der letzten Legislaturperiode um . Wir stärkendie kommunale Verantwortung . Wir stärken die Infra-struktur vor Ort .Auf eines möchte ich Sie hinweisen: Viele von Ihnenmögen den Begriff „Pflegestützpunkt“ noch gar nicht ge-hört haben, aber auch in Ihren Kommunen gibt es diesePflegestützpunkte.
Aber es gibt noch nicht genug davon . Hier muss nochmehr Beratung erfolgen . Daher sind auch die 60 Modell-vorhaben von so herausragender Bedeutung . Wir wollendie Vernetzung vor Ort stärken .
Wir wollen die individuellen Bedarfe besser abdecken .Wir wollen natürlich auch dazu beitragen, dass kulturelleHintergründe berücksichtigt und alle Menschen über alleMöglichkeiten vor Ort umfassend informiert werden .Mit dem PSG III machen wir deutlich: Die Pflegebera-tung spielt in der Politik eine zentrale Rolle . Wir wollen,wie gesagt, mehr Pflegeschutzpunkte vor Ort, initiiertvon Kommunen . Wir wollen mehr Qualität durch bessereBeratung. Dabei soll nicht nur über Angebote der Pflegeberaten werden, sondern auch über Angebote der Alten-hilfe, der Eingliederungshilfe und auch über die der Pfle-geversicherung . Es soll eine „Beratung aus einer Hand“erfolgen .
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Zimmermann zu?
Selbstverständlich, ja .
Liebe Mechthild Rawert, ich mache kein Wahlkampf-
getöse, wenn ich Wahrheiten ausspreche . Mir hätte es ei-
gentlich schon gereicht, wenn die Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten das umgesetzt hätten, was sie vor
der letzten Wahl versprochen haben, statt sich durch die
Koalition Fußfesseln anlegen zu lassen .
Aber meine Frage zielt ganz direkt auf die Beteili-
gung und auf die Beratungsangebote in den Kommunen .
Wir wissen doch ganz genau – Mechthild, auch du weißt
das –, dass viele von diesen Beratungsstellen gar nicht
mehr geöffnet haben. Da muss man sich einmal fragen,
woran das liegt .
Jetzt sollen 60 Modellkommunen von insgesamt über
11 000 Kommunen in unserem Land verstärkt Beratungs-
angebote bereitstellen; das habe ich in meinem Redebei-
trag gesagt . Da frage ich mich: Was ist das für ein An-
satz? Das ist ja Kleckern und nicht Klotzen . Wir müssen
in der Pflege aber klotzen, um einen Paradigmenwechsel
tatsächlich zu erreichen .
Zudem ist für eine Pflegekampagne, mit der wir da-
rauf aufmerksam machen könnten, was wir alles haben –
du hast es so schön gesagt: die Vernetzung soll wieder-
hergestellt werden –, im Haushalt kein Geld eingestellt .
Im Haushalt steht an dieser Stelle eine Null . Wie soll ich
das denn verstehen?
Es täte mir leid, wenn in Niedersachsen Pflegestütz-punkte tatsächlich schließen . Ich kann nur sagen: Hier inBerlin eröffnen wir stetig welche. Ich bin erst vor kurzembei der Eröffnung des dritten Pflegestützpunktes in mei-nem Bezirk gewesen .Zum Thema Wahlkampfgetöse . Ich bin mir nicht ganzsicher, ob es nicht doch Wahlkampfgetöse gewesen ist .
Zum Thema Beratung und Vernetzung . Ja, ich forderejede Kommune auf, sich hier starkzumachen . Wie manweiß, hatten wir hier in Berlin Wahlkampf und auch eineWahl . Im Vorfeld habe ich zum Beispiel stetig versucht,für den Begriff „Ausbau der Pflegeinfrastruktur“ in mei-ner Partei zu werben, weil wir – dem Ziel stimme ichzu – eine stärkere Vernetzung brauchen . Wir braucheneine Aufhebung der Unterteilung in Bereiche; denn dasZiel ist eine „Beratung aus einer Hand“ . Mit den Modell-projekten erproben wir diese Beratung . Sie sind dazu da,qualitativ bessere Schritte zu gehen und qualitativ besse-re Strukturen zu etablieren . Das soll dann auf alle Kom-munen übertragen werden . Ich wünsche mir, dass nachAbschluss der Modellvorhaben jede der 11 000 Kommu-nen in Deutschland über ein, zwei Pflegestützpunkte inguter bis hoher Qualität verfügt . Dazu sind die Modell-vorhaben gut .
Die SPD will eine erstklassige Pflegeinfrastruktur. Mitden neu einzurichtenden Pflegeausschüssen verzahnenwir die ambulante und die stationäre, die medizinischeund die pflegerische Versorgung besser miteinander – füreine lückenlose, wohnortnahe und effektive Versorgung.Das ist ein großer Fortschritt, liebe Bürgerinnen und Bür-ger. Wir wollen eine gute und würdige Pflege für alle.Wir schaffen die Voraussetzungen, dass alle Verbesse-rungen auch für alle gelten; denn wir wollen in Deutsch-land gleiche Lebensverhältnisse für alle – unabhängigvom Wohnort – auch in der Pflege. Wir wollen eine hoheVersorgungsqualität überall und für jede und jeden, undMechthild Rawert
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das in allen Lebensbereichen, unabhängig davon, ob einMensch über ein eigenes Einkommen verfügt oder Hilfenzur Pflege empfängt. Dafür setzt sich die SPD im Rah-men dieses Dritten Pflegestärkungsgesetzes ein. Ich dan-ke der Koalition, dass das im Wesentlichen gelungen ist .Die große Pflegereform greift. Über alles andere wird imweiteren parlamentarischen Verfahren entschieden .Danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat ElisabethScharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünendas Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau StaatssekretärinFischbach! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit demDritten Pflegestärkungsgesetz wird alles geregelt, wasbisher noch nicht geregelt ist . Was zur Umsetzung desneuen Pflegebegriffs noch geändert werden muss, stehtim PSG III . Was zur Umsetzung des Bundesteilhabege-setzes parallel im Bereich der Pflege geändert werdenmuss, steht im PSG III . Es gibt zudem diverse Rege-lungen zur Bekämpfung des Abrechnungsbetrugs in derPflege. Das sind viele Baustellen. Da kann man schoneinmal das Wesentliche aus dem Blick verlieren .Das Wesentliche, also der Kern des Gesetzes, ist näm-lich die Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege.Das liegt natürlich nahe; denn die Kommunen sind nä-her am Menschen als die Pflegeversicherungen. In denKommunen weiß man, welche Angebote es vor Ort gibt,welche Angebote für ambulante und stationäre Pflege,welche Angebote für Betreuung und für ehrenamtlicheBegleitung vorhanden sind, in welchen Quartieren esNachbarschaftstreffs gibt, welche Kirchengemeinde Kaf-feenachmittage für Ältere anbietet . Man weiß aber auch,welche Angebote fehlen . Diese Kompetenzen der Kom-munen werden noch viel zu wenig genutzt .
Das PSG III will das ändern . Leider wurden bei diesemGesetz mehrere Dinge nicht bedacht .Die Kommunen erhalten ein befristetes Initiativrechtbei der Einrichtung von Pflegestützpunkten. 60 Modell-kommunen können neben der Beratung zur Eingliede-rungshilfe und Hilfe zur Pflege und Altenpflege auchPflegeberatung und Pflegekurse anbieten. Beratung rundum Alter und Pflege aus einer Hand, das sollte eigentlichselbstverständlich sein .
Angesichts der zahlreichen Angebote für pflegebe-dürftige und ältere Menschen, die zunehmend unüber-sichtlicher werden, gehört zur Beratung aus einer Handeine individuelle Beraterin oder ein individueller Berater .Wir schlagen übrigens schon seit vielen Jahren vor, dierechtlichen Grundlagen für einen Anspruch auf ein indi-viduelles Case Management zu schaffen, das Pflegebe-dürftige und Angehörige berät und gemeinsam mit ihnendie Angebote aussucht, die am besten zur jeweiligen Si-tuation passen; denn jede Pflegesituation ist ganz indivi-duell . Ein individueller Beratungsanspruch ist gesetzlichgeregelt . Aber es fehlt an Verbindlichkeit . Die Länder le-gen das dementsprechend sehr unterschiedlich aus . Dasmuss anders werden .
Jeder muss die Möglichkeit haben, sich von einem un-abhängigen Case Manager oder einer Case Managerin,die sich sehr gut mit den Angeboten vor Ort auskennen,umfassend beraten und begleiten zu lassen .Mehr Kompetenzen allein bei der Beratung aber rei-chen nicht aus . Die Kommunen brauchen auch mehrKompetenzen bei der Pflegeplanung. Sie wissen, welcheAngebote es vor Ort braucht und ob ein neues Pflege-heim in der Gemeinde wirklich gewünscht ist . Vielleichtsind barrierefreie Wohnungen in der jeweiligen Regionsehr viel wichtiger .Kommunen sollen bestehende Angebote vernetzenund da, wo sie Lücken erkennen, Angebote anstoßenkönnen . Das sind zusätzliche Aufgaben für die Kommu-nen, genau wie die im PSG III vorgesehene Übernahmeder Beratung . Dafür ist aber kein zusätzliches Geld vor-gesehen . So wird das nicht funktionieren . Kommunenbrauchen eine Förderung, um etwas Neues aufzubauen .
Kommunen brauchen verlässliche Finanzhilfen für Bera-tung und Pflege sowie Leben und Wohnen im Alter.Es gibt viele Kommunen, die sich sehr gerne mehrin diesem Bereich engagieren würden, aber genau da-für Unterstützung und Beratung bräuchten, weil sie demganzen Pflegesetting noch relativ hilflos gegenüberste-hen . In einigen Ländern gibt es bereits Beratungsange-bote, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen oder Rhein-land-Pfalz . So kann man Kommunen gewinnen, die sichbisher noch nicht engagiert haben oder sich bisher nochnicht an dieses umfassende Thema herangetraut haben .Bei den Modellvorhaben im PSG III ist zwar vorge-sehen, dass die Hälfte der 60 Modellkommunen keinemehrjährige Erfahrung in der Beratung haben sollen,aber ohne Unterstützung für diese Kommunen könntees dazu kommen, dass diese Kommunen die statistischePerformance verschlechtern und damit auch das Evalua-tionsergebnis verzerren werden . Dieses Ergebnis derEvaluation ist doch die Grundlage für die Überführungder Modellprojekte in die Regelversorgung .Besonders absurd bei diesen Modellprojekten findeich übrigens die Tatsache, dass der Spitzenverband Bundder Pflegekassen über die konkreten Voraussetzungen,Ziele, Inhalte und Durchführung der Modellvorhabenbeschließt . Keine Unterstützung der Kommunen, wederfinanziell noch ideell, keine Definitionen der Ziele derModellprojekte und keine Planungskompetenz: So stärktman weder die Kommunen noch die Pflegebedürftigen.Mechthild Rawert
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Mein Fazit ist: Es ist in den letzten Jahren sehr, sehrviel im Bereich Pflege gemacht worden – das stimmt –,aber Veränderungen bedeuten nicht gleichzeitig Verbes-serungen . Ich denke, wir werden am Ende des Tages dieKoalition nicht an den Veränderungen, sondern an denVerbesserungen messen .Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Erwin Rüddel
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die Rede, die Frau Zimmermann eben ge-halten hat, hätte man, denke ich, Anfang der 90er-Jahrehalten können, als es die Pflegeversicherung noch nichtgab . Jetzt haben wir seit über 20 Jahren den großen Se-gen einer Pflegeversicherung. Wir haben in dieser Legis-laturperiode durch unsere bisherige Gesetzgebung diegrößte finanzielle Veränderung herbeigeführt, die es inDeutschland jemals in der Sozialversicherung gegebenhat . Ich denke, das muss man auch einmal anerkennen .
Wir haben die Leistungen deutlich verbessert . Wir ha-ben sie flexibler gemacht. Wir haben Pflegebedürftigkeitneu definiert. Wir haben Demenzkranke gleichgestellt,eine große Gerechtigkeitslücke beseitigt und all denenBestandsschutz zugesichert, die heute schon pflegebe-dürftig sind, sodass also niemand schlechtergestellt wird,aber sehr viele deutlich bessergestellt werden .Ich denke, wir sind dabei auf einem guten Weg, undich möchte, bevor ich in die Details des PSG III einstei-ge, noch ein Bekenntnis zu den Gesundheitsberufen ab-geben . Wir stehen hinter der Modellklausel .
Wir wollen die Gesundheitsberufe stärken . Ich bin derfesten Überzeugung – und meine Fraktion mit mir –, dassKern einer guten Gesundheitsversorgung in der Zukunfteine gute Vernetzung von Kompetenzen ist . Deshalbwollen wir die Gesundheitsberufe stärken, und wir ver-trauen auch auf ihre Kompetenzen .
Das PSG II beinhaltet bereits Beratungsaufträge fürdie Kassen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einesPSG III übertragen wir den Kommunen zusätzliche Bera-tungsaufgaben, indem wir die Ergebnisse der Bund-Län-der-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Rolle der Kommunenin der Pflege umsetzen. Zusammen mit den Flexibilisie-rungen, die wir mit dem PSG I und dem PSG II bereitsgeschaffen haben, werden die zusätzlichen Angebote derKommunen – hier denke ich an eine gute Vernetzung mitden Seniorenbeiräten, mit der Altenhilfe, mit den Mehr-generationenhäusern und den Pflegestützpunkten – eineaufsuchende und umfassende Beratung für Pflegebedürf-tige und deren Familien sicherstellen .Auf diese Weise kann in jedem einzelnen Fall ein in-dividuelles Paket geschnürt werden, das optimal auf dieBedürfnisse der Pflegebedürftigen und deren Familienzugeschnitten ist . Damit tragen wir zugleich dazu bei,pflegebedürftigen Menschen so lange wie irgend mög-lich ihre vertraute Umgebung zu erhalten . Ausdrücklichbegrüße ich auch die zusätzlichen Anreize für niedrig-schwellige Betreuungs- und Entlastungsleistungen .
Ein klares Wort zu Fragen der Qualitätskontrollen: Siedürfen nicht zum Schaden der Pflegeversicherung verhin-dert werden. Wer Leistungen aus der sozialen Pflegever-sicherung erhält, muss bereit sein, die erbrachten Leis-tungen auf ihre Qualität hin überprüfen zu lassen . Wersolchen Überprüfungen nicht zustimmt, hat sein Rechtverwirkt, Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherungzu erhalten. Wir verschärfen die Kontrollen, damit Pfle-gebedürftige, ihre Familien und die Pflegekräfte besservor betrügerischen Pflegediensten geschützt werden.Im weiteren Verfahren werden wir ferner darauf zuachten haben, dass sich die kommunalen Haushalte nichtzulasten der Pflegeversicherung ihrer Aufgaben aus derEingliederungshilfe entledigen . Die Beitragsgelder derVersicherten sind für gute Pflege gedacht und für nichtsanderes, sie sind nicht dazu da, die kommunalen Haus-halte zu entlasten . Deshalb bestehen wir auf eindeutigenAbgrenzungsregelungen an den Schnittstellen zwischenPflegeversicherung und Eingliederungshilfe.Mit Blick auf die drei Pflegestärkungsgesetze soll nichtunerwähnt bleiben, dass wir bei allen Gesundheitsgeset-zen in dieser Legislaturperiode flankierende Regelungengetroffen haben, um die Pflegelandschaft insgesamt zuverbessern und rundzuerneuern . Ich erinnere hier an denBürokratieabbau, den PflegeTÜV, die Medikamentensi-cherheit oder an das Palliativ- und Hospizgesetz .
Durch das E-Health-Gesetz haben gerade Seniorenund Pflegebedürftige ab dem 1. Oktober, also in wenigenTagen, einen verbrieften Anspruch auf einen einheitli-chen Medikationsplan .
Die Menschen in Deutschland haben Zugang zu einerspürbar besseren Hospizarbeit und einer flächendecken-den Palliativversorgung . Wir halten unsere Versprechenaus dem Koalitionsvertrag ein .Elisabeth Scharfenberg
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Mit den gesetzlichen Neuregelungen in Sachen Heil-und Hilfsmittel stellen wir sicher, dass PflegebedürftigeAnspruch auf eine anständige Versorgung haben undnicht länger der schlechten Qualität von Windeln undRollstühlen ausgesetzt sind .Wir haben in der Koalition zu Beginn der Legislatur-periode mehr Qualität, mehr Geld, mehr Betreuung undmehr Hände für gute Pflege in unserem Land verspro-chen, und wir halten Wort .
Ich wiederhole meine bereits früher getroffenen Fest-stellungen, dass wir in dieser Legislaturperiode mit allenGesetzen im Gesundheitsbereich den Versuch unternom-men haben – der uns auch gelungen ist –, eine Runder-neuerung der Pflege sicherzustellen. Das ist eine großeKraftanstrengung gewesen. Ich finde, darauf können wirstolz sein; denn es handelt sich über 20 Jahre nach derEinführung bei dem Gesamtpaket, das wir abgelieferthaben, um nichts Geringeres als einen Quantensprungin der sozialen Pflegeversicherung. Ich danke hier auchdem Ministerium – und ganz besonders der Frau Staats-sekretärin Ingrid Fischbach –, dass es diesen Quanten-sprung sozusagen auf den Weg gebracht hat .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Heike
Baehrens für die SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Seit Einführung der Pflegeversicherung hat es schon ei-nige Gesetze zur Änderung und Weiterentwicklung gege-ben; aber eine so umfassende Reform mit drei Gesetzenzur Stärkung der Pflege in drei Jahren auf den Weg ge-bracht zu haben, ist einzigartig .
Das ist gut für diejenigen, die auf Pflege und Zuwendungangewiesen sind, und diejenigen, die pflegen. Und es istgut für alle, denen eine würdevolle Pflege und Versor-gung ein Herzensanliegen ist . Es unterstreicht, dass esdieser Koalition mit der konsequenten Verbesserung derRahmenbedingungen in der Pflege ernst ist.
Umso trauriger ist es, dass wir mit dem heutigen Ge-setz Regelungen verschärfen müssen, um schwarzenSchafen im Gesundheitswesen den Boden zu entzie-hen . Was vor einigen Monaten als Abrechnungsbetrugin der Pflege durch die Medien ging, hat sich als Formorganisierter Kriminalität entpuppt, an der mehrere un-lautere Partner beteiligt sind: einzelne Pflegedienste,intensivpflegebedürftige Patienten, Familienangehörigeund sogar Ärzte . Das zeigt, dass wir mit dem kürzlich inKraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Korruptionim Gesundheitswesen einen richtigen Schritt gegangensind . Mit den heute vorliegenden Regelungen machenwir einen weiteren Schritt, um Missbrauch und Betrugim konkreten Fall schneller aufdecken und konsequentverfolgen zu können .
Zukünftig werden auch jene Pflegedienste regelmäßiggeprüft, die ausschließlich Leistungen der häuslichenKrankenpflege erbringen. Wir werden als SPD besondersdarauf achten, ob die neuen Regelungen zielgenau die-jenigen treffen, die sich auf Kosten anderer bereichern.
Die allermeisten der rund 13 000 Pflegedienste in unse-rem Land leisten nämlich eine sehr gute Arbeit . Und eskann nicht sein, dass einige schwarze Schafe dafür sor-gen, dass allen mit Misstrauen begegnet wird .
Im Gesundheitsausschuss haben wir uns am Mittwochvon Vertretern des Bundeskriminalamtes und der Staats-anwaltschaft sowie einem Berliner Sozialstadtrat berich-ten lassen . Dabei ist klar geworden, dass weitergehendeKonsequenzen zu ziehen sind . Denn wer sich an krimi-nellen Machenschaften beteiligt, die auch zu einer Ge-fährdung von Leib und Leben führen können, dem mussder Versorgungsvertrag mit Kranken und Pflegekassenund dauerhaft auch die Gewerbezulassung entzogen wer-den .Meine Damen und Herren, parallel zum Dritten Pfle-gestärkungsgesetz beraten wir im Deutschen Bundestagauch über die große Reform der Eingliederungshilfe fürMenschen mit Behinderungen, also das sogenannte Bun-desteilhabegesetz . Es ist gut, dass beide Gesetze prak-tisch zeitgleich beraten werden; denn mit dem neuenPflegebegriff, der noch mehr als bisher auf Selbstbestim-mung und Teilhabe zielt, entstehen neue Abgrenzungs-fragen . So müssen Regelungen, die Menschen mit Leis-tungsansprüchen aus beiden Gesetzbüchern betreffen,gut aufeinander abgestimmt werden . Dass dieses ThemaZündstoff enthält, bekommen wir gerade durch so man-che Briefe und Stellungnahmen übermittelt . So wird inunserer Fraktion längst intensiv nach Lösungen gesucht .Leistungen der Pflegeversicherung und teilhabeorientier-te Leistungen der Eingliederungshilfe dürfen nicht ge-geneinander ausgespielt werden .
Denn erklärtes Ziel des Bundesteilhabegesetzes ist es,dass es für Menschen mit Behinderungen nicht zu Leis-tungseinschränkungen kommen darf . Dafür werden wirals SPD uns starkmachen . Ich bin sicher, dass wir da guteund tragfähige Lösungen finden werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf dieUnkenrufe der Opposition eingehen . Mit der umfassen-Erwin Rüddel
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den Reform in drei Schritten und der noch anstehendenPflegeberufereform setzen wir Maßstäbe für die Pflegein Deutschland. Wir laden alle ein, die sich in der Pflegeengagieren: Lasst uns gemeinsam die Zukunft der Pflegegestalten .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Ausspra-
che hat Erich Irlstorfer von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als letzter Redner in dieser Debatte muss ich feststel-len, dass sich Opposition und Koalition in vielen Din-gen einig sind . Ich glaube, wir sind uns vor allem darineinig, dass es in dieser Legislaturperiode viele Verbes-serungen für pflegebedürftige Menschen, für ihre An-gehörigen, aber auch für die Pflegekräfte gegeben hat.Ich glaube auch, dass wir uns einig sind, dass wir mitdem Ersten Pflegestärkungsgesetz die Leistungen derPflegeversicherung deutlich ausgeweitet und noch pass-genauer gemacht haben und dass wir mit dem ZweitenPflegestärkungsgesetz, dessen Kernstück der neue Pfle-gebedürftigkeitsbegriff war, gute und richtige Dinge aufden Weg gebracht haben . Mit dem Entwurf eines DrittenPflegestärkungsgesetzes, welches wir hier diskutieren,führen wir den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff nunauch in die Sozialhilfe ein . Damit stellen wir sicher, dasskünftig auch finanziell schlechtergestellte Menschenpflegerische Leistungen nach diesen verbesserten Rege-lungen erhalten . Diese Ausweitung ist alles andere alstrivial; vielmehr stellt sie eine weitreichende sozialpoliti-sche Errungenschaft dar .Wir haben schon vom Abrechnungsbetrug gespro-chen; ich möchte das nicht alles wiederholen . Neu in die-sem Gesetzentwurf ist, dass ein Recht zur systematischenPrüfung durch die Krankenkassen auch im Bereich derhäuslichen Krankenpflege gegeben ist. Der Medizini-sche Dienst der Krankenkassen kann und soll auch hierkünftig regelmäßig die Qualität und die Abrechnungenvon Leistungserbringern kontrollieren . Damit stellen wirsicher, dass die Beitragsgelder der Versicherten dort an-kommen, wo sie hingehören . Schließlich sind wir keinSelbstbedienungsladen .
Für mich sind hier noch drei weitere Punkte beden-kenswert .Erstens . Das Prüfrecht darf nicht einfach dadurchunterwandert werden können, dass Betroffene dazu ge-bracht werden, die Einwilligung zur Datenweitergabe zuverweigern .Zweitens . Wir sollten darüber nachdenken, ob wirnicht vielleicht sogar ein in gleicher Weise gestaltetesRecht zur Prüfung durch die Träger der Sozialhilfe er-möglichen .Drittens . Die Zulassungsvoraussetzungen für dieGründung von Pflegediensten müssen wir hier verschär-fen . Ich möchte dem schon jetzt entgegnen, dass manhier gleich wieder sagt, das, was wir da vorhätten, seischädlich für Investitionen und Innovationen . Ich kannIhnen nur eins sagen: Es ist einfach unanständig, wennBetreiber, denen bereits einschlägige Betrugsdeliktenachgewiesen wurden, einfach unter einem anderen Na-men hier wieder Dienste anbieten . Das ist ein Etiketten-schwindel, und den bekämpfen wir .
Ein weiteres Anliegen dieses Gesetzentwurfs ist es,die Pflegeberatung in Deutschland noch besser verfüg-bar zu machen . Frau Scharfenberg hat ausgeführt, dasshierbei die Kommunen unsere Spezialisten vor Ort sind;das sehen wir genauso . Einen Anfang machen wir mit60 Modellkommunen . Das Ganze wird ordentlich eva-luiert, und dann sehen wir auf jeden Fall weiter . Wichtigist, dass sich die Länder in diesen Evaluierungsprozesseinbringen, dass man diese Möglichkeiten nutzt . Wirwerden sehen, inwieweit echte Verbesserungen bei derBeratung der Betroffenen eintreten.Von Betroffenen sowie von verschiedenen Organisati-onen und Verbänden wurde ich auch auf Befürchtungenaufmerksam gemacht, der heute diskutierte Gesetzent-wurf führe im Verbund mit dem Bundesteilhabegesetzzu Nachteilen an den Schnittstellen zwischen Pflegever-sicherung, Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe. Die-se Hinweise nehmen wir sehr ernst . Laut Gesetzentwurfsollen die Leistungen der Pflegeversicherung im häusli-chen Bereich den Eingliederungsleistungen vorgehen, essei denn – das ist wichtig –, bei der Leistungserbringungsteht die Erfüllung von Aufgaben der Eingliederungshil-fe im Vordergrund . Im weiteren gesetzgeberischen Ver-fahren wird zu klären sein, ob der Blick auf das Ziel derpflegerischen Leistung – Eingliederung oder Pflege – einausreichendes Unterscheidungsmerkmal darstellt .Entscheidend ist für mich in diesem Zusammenhang –das möchte ich zum Schluss noch einmal klar zum Aus-druck bringen – folgender Gedanke: Wir regeln, dass diebetroffenen Menschen, also die Leistungsempfänger, kei-nen eigenen Abstimmungsaufwand zu betreiben haben .Die Abstimmungen zwischen der Pflegeversicherungund den Sozialhilfeträgern werden gewissermaßen ge-räuschlos ablaufen müssen, sozusagen hinter den Kulis-sen, was aber nichts mit mangelnder Transparenz zu tunhat; das möchte ich sofort in Richtung Opposition sagen .Neben der verbesserten Beratung ist es für Pflegebedürf-tige und ihre Angehörigen entscheidend, dass sie bei derBeantragung keinem übermäßigen bürokratischen Mehr-aufwand ausgesetzt sind .
Heike Baehrens
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke,mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz machen wir heutevor allem einen Schritt in die richtige Richtung . Ich freuemich auf konstruktive Diskussionen mit den Pflegebe-dürftigen, aber auch mit den Menschen mit Behinderungund mit all denjenigen, die ein Interesse daran haben,dass wir Verbesserungen schaffen.Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/9518, 18/8725 und 18/9668 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deutsches Engagement beim Einsatz von Po-
lizistinnen und Polizisten in internationalen
Friedensmissionen stärken und ausbauen
Drucksache 18/9662
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Wenn die Kolleginnen und Kollegen sich gesetzt ha-
ben, können wir mit der Aussprache beginnen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Anita Schäfer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag wirdeine Debatte zum Abschluss gebracht, die uns schon inder vergangenen Legislaturperiode beschäftigt hat . Ausmeiner Sicht ist es erfreulich, dass sich die CDU/CSUmit der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf den ge-meinsamen Text einigen konnte . Gerade unter dem Ein-druck von weltweit 65 Millionen Flüchtlingen kann unsallen die Entwicklung in anderen Ländern nicht egal sein,vor allem, wenn eine Vielzahl instabiler Staaten vor un-serer Haustür liegt . Welche Sprengkraft die Wanderungs-und Fluchtbewegungen haben, mussten wir in der EU inden vergangenen Monaten leider erleben . Und die Zahlder Flüchtlinge wird sicherlich in den kommenden Jah-ren nicht weniger werden . Mauern werden die Menschennicht von der Flucht abhalten . Wir müssen in den Hei-matländern ansetzen und die Fluchtursachen bekämpfen .Meine Damen und Herren, für die friedliche und wirt-schaftlich positive Entwicklung eines Landes und damitfür eine Bekämpfung von Fluchtursachen ist die Rechts-staatlichkeit von entscheidender Bedeutung . Dabei spieltinsbesondere eine gut ausgebildete Polizei eine wichtigeRolle . Dies konnte ich unter anderem als Vorsitzende derParlamentariergruppe Östliches Afrika bei meinen diver-sen Besuchen in afrikanischen Ländern immer wiederfeststellen . Gerade deutsche Polizisten mit ihrem rechts-staatlichen Selbstverständnis und ihren Erfahrungen ineinem föderalen Staatssystem können im Rahmen vonEU- und UNO-Einsätzen einen wichtigen Beitrag füreine Entwicklung von Staaten im Sinne eines demokrati-schen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens leisten .Deutschland genießt in der internationalen Zusam-men- und Aufbauarbeit ja bereits ein hohes Ansehen .Und das haben wir nicht zuletzt unseren Polizeibeamtenzu verdanken, die sich über ihren Kernauftrag in der in-neren Sicherheit hinaus für internationale Einsätze ent-scheiden, die nicht immer ungefährlich sind . Damit dasaber den gewünschten langfristigen Erfolg hat, bedarf esaus meiner Sicht nicht nur einer guten Vorbereitung imEinsatzland und der uneingeschränkten Unterstützungunserer Polizeikräfte durch die dortige Regierung, son-dern ebenso wichtig sind auch Ausbildungsstrukturenund ein positives politisches Klima für die Vorbereitungin Deutschland, damit die Polizisten guten Gewissens inden Einsatz gehen können . Damit befasst sich auch dervorliegende Antrag . Auf einige dieser Aspekte möchteich gern näher eingehen .Grundlage eines jeden erfolgreichen Auslandseinsat-zes ist eine exzellente, allumfassende Ausbildung . Dabeiist das polizeiliche Handwerkszeug eine Selbstverständ-lichkeit . Weitaus wichtiger aber dürften sprachliche undinterkulturelle Kompetenzen sein . Dabei gilt es auch, ausden Erfahrungen von anderen Ländern, vor allem aberaus den Erfahrungen, die Beamte in vergangenen Ein-sätzen gemacht haben, zu lernen und darauf aufzubau-en . Daher ist es begrüßenswert, wenn es zur Einrichtungeines Fachgebiets für internationale Polizeimissionen ander Deutschen Hochschule der Polizei kommt . Damitwären die Auswertung von Einsatzerfahrung, Forschungund Ausbildung zentral an einem Ort vereint .
In diesem Zusammenhang wäre es sicher nicht falsch,wenn es auch zu einem Erfahrungsaustausch mit derBundeswehr kommen würde . Die Universitäten undFachschulen der Bundeswehr wären sicher ein guter An-sprechpartner .Ein weiterer wichtiger Aspekt – gerade auch aufgrundder Erfahrungen mit Auslandseinsätzen der Bundes-wehr – ist das Thema Nachsorge . Trotz noch so guterAusbildung können Polizisten im Einsatz körperlicheVerwundungen und Verletzungen davontragen oder Er-fahrungen im Einsatzland machen, die sie nicht so ein-fach wegstecken können . Als Stichwort möchte ich hiernur posttraumatische Belastungsstörungen nennen . AlsMitglied des Verteidigungsausschusses weiß ich, welcheProbleme wir gerade in diesem Bereich hatten und zumTeil noch haben . Hier gilt es anzusetzen und ähnliche Lö-sungen wie bei der Bundeswehr zu finden.Erich Irlstorfer
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Uns allen muss klar sein: Polizisten gehen freiwilligin den Auslandseinsatz . Und ich kann mir nicht vorstel-len, dass wir auf Dauer Freiwillige finden, wenn es hierVersorgungslücken gibt . Auch in dieser Hinsicht ist derAntrag in seiner Forderung nach einer noch besserenNachsorge erfreulicherweise eindeutig .Aber wir sollten nicht nur mögliche Probleme besei-tigen . Vielmehr sollte ein Engagement in Auslandsein-sätzen aktiv gefördert werden, indem man Vorteile, etwabei Beförderungen, erlangt; denn die Beamten nehmen jadamit erhebliche Belastungen in Kauf . All das sollte auchim Interesse der Bundesländer sein, aus deren Polizeienein großer Teil dieser Beamten kommt .Es wäre daher gut, wenn Bund und alle Bundesländerhier im Sinne der gemeinsamen Aufgabe an einem Strangzögen .
Zwischen beiden Seiten gibt es bereits eine intensiveZusammenarbeit, ohne die solche komplexen und in derVorbereitung sehr aufwendigen Missionen überhauptnicht durchzuführen wären . Unser gemeinsamer Antragstellt nach meiner Überzeugung eine gute Grundlage fürdie weitere Verbesserung dar .Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem nun zurAbstimmung stehenden Antrag werden wir sicherlicheinen großen Schritt machen, um die zivile Unterstüt-zung von fragilen Staaten durch deutsche Polizisten aufein gutes Fundament zu stellen . Ich würde es begrüßen,wenn ihm das gesamte Haus zustimmen könnte, damitBund und Länder mit der Umsetzung der angedachtenMaßnahmen umgehend beginnen können .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um hiergleich Missverständnisse zu vermeiden: Die Linke lehntinternationale Polizeimissionen und bilaterale Einsätzenicht per se ab .
– Klatschen Sie nicht zu früh . – Natürlich wollen auchwir, dass im Ausland Straftaten effektiv verfolgt werdenkönnen, sich Polizisten menschenrechtskonform verhal-ten . Aber – das sage ich an alle Fraktionen, die diesenAntrag im Hause mitunterzeichnet haben; es waren alleaußer die Linke –: Ihrem Antrag fehlt die klare Ansage,dass Regime, die systematisch Menschenrechte verlet-zen, von deutschen Polizisten künftig keine Unterstüt-zung mehr zu erwarten haben .
Weil Sie hier von sogenannten Friedensmissionenreden, will ich eines gleich klarstellen: Es geht in demvorliegenden Antrag um die Durchsetzung außenpoliti-scher Interessen Deutschlands mithilfe von Polizistinnenund Polizisten . Es geht darum, Bundeswehreinsätze imAusland noch umfangreicher mittels Polizeieinsätze zuergänzen . Da verlieren Sie kein Wort über Menschen-rechte, schon gar nicht über die Befugnisse, die der Bun-destag in diesem Zusammenhang hat . Deswegen wird dieLinke diesen Antrag ablehnen .
Sie führen im Antrag aus, eine gut ausgebildete Poli-zei sei ein wichtiger Garant für Rechtsstaatlichkeit . Aberdas ist nur die Hälfte der Wahrheit . Immer wieder stehenAuslandseinsätze der Polizei im Dienste von Diktatorenund tragen zum Aufbau der Festung Europa bei . Ich darfSie zum Beispiel daran erinnern: Seit 2009 sind Bundes-polizisten in Saudi-Arabien . Während der Rüstungskon-zern EADS ein Milliardengeschäft mit dem Aufbau vonGrenzanlagen macht, bilden Bundespolizisten den dor-tigen Grenzschutz aus . Falls Sie es nicht mitbekommenhaben: Saudi-Arabien ist eine feudale Diktatur, in derRegimekritiker ausgepeitscht oder sogar geköpft werden .Im Krieg im Jemen werfen saudische Truppen blindlingsBomben, und einem solchen Regime helfen deutsche Po-lizisten; sie vermitteln den dortigen Sicherheitskräftenden sicheren Umgang mit dem Sturmgewehr G3 . Das istdoch echt ein Skandal .
Deswegen fordert die Linke, diesen schändlichen Einsatzwirklich sofort zu beenden .
Auch in Afghanistan gibt es eine Polizeimission . Fak-tisch leisten dort deutsche Polizisten einen Beitrag zumBürgerkrieg; denn die wichtigste Aufgabe afghanischerPolizisten ist es, als Kanonenfutter im Kampf gegen dieTaliban zu dienen .
Unsere regelmäßigen Quartalsanfragen an die Bun-desregierung zeigen, dass es häufig um Hilfe für Grenz-schützer geht, insbesondere auf dem Balkan, aber auchin Nordafrika . Dort wird der Grenzschutz ausgebildetund technisch aufgerüstet, um Flüchtlinge an der Fluchtnach Europa zu hindern . Ich muss vor diesem Hinter-grund sagen, dass ich überhaupt nicht verstehe, warumdie Grünen bei diesem Antrag mitmachen. Ich finde, dasist wirklich ein Armutszeugnis für eine Partei, die sichhier eigentlich immer sehr flüchtlingsfreundlich gibt. Estut mir echt leid, aber das finde ich unmöglich.
Anita Schäfer
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Ich will einen weiteren Punkt ansprechen . Sie fordern,dass die Polizeieinsätze noch mehr zum Mittel der Au-ßenpolitik werden, aber Sie wollen kein Mitspracherechtdes Bundestages .
Die Linke hat hierzu schon vor Jahren den Antrag ein-gebracht, dass der Bundestag mitentscheiden soll, wennbewaffnete Polizisten in die Welt geschickt werden – ge-nauso wie bei Soldaten .Es geht hier, wie gesagt, vor allen Dingen um Bür-gerkriegsszenarien wie in Afghanistan, aber auch umKumpanei mit diktatorischen Regimen . Ich will an die-ser Stelle nebenbei die Türkei nennen, auch wenn ichdas jetzt nicht weiter ausführen kann . Wenn hier in al-ler Stille solche Einsätze durchgewinkt werden – wie esja zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Einsatz inSaudi-Arabien geschehen ist –, dann können wir da nichtmitmachen .
Sie sagen in Ihrem Antrag, dass Sie einmal im Jahreine Unterrichtung wünschen . Damit fallen Sie hinter diePosition der Gewerkschaft der Polizei zurück, die ganzklar und zu Recht einen Parlamentsvorbehalt für solcheEinsätze fordert .
Zum Schluss will ich noch einmal ganz klar die For-derungen der Linken nennen: Es müssen bei solchen Po-lizeieinsätzen ein Menschenrechtsvorbehalt, ein strikterziviler Charakter und eine effektive Mitsprache des Bun-destages gewährleistet sein . Das muss die Messlatte fürsolche Polizeieinsätze sein . Nichts anderes kann in einerdemokratischen Gesellschaft funktionieren .Danke schön .
Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Am 1 . Juni, also vor knapp vier Monaten, fandim Auswärtigen Amt eine wirklich großartige Veranstal-tung statt . Ich hätte mir gewünscht, liebe Frau Jelpke,dass Sie an dieser großartigen Veranstaltung teilgenom-men hätten . Auf dieser Veranstaltung haben wir nämlichneun Menschen, Polizistinnen und Polizisten, Entwick-lungshelfer und Juristen, für ihr ganz besonderes Frie-densengagement ausgezeichnet und geehrt . Wir habensie stellvertretend für 4 500 Deutsche ausgezeichnet, diesich in den Krisenregionen dieser Welt, oft unter Gefähr-dung ihres eigenen Lebens, einsetzen, engagieren unddafür arbeiten, dass Konflikte beigelegt und nicht mit Ge-walt ausgetragen werden, dass Rechtsstaatlichkeit entwi-ckelt und durchgesetzt wird . Sie setzen sich außerdemfür bessere soziale und wirtschaftliche Bedingungen ein .Liebe Frau Jelpke, wenn Sie die Berichte dieser Men-schen gehört hätten, dann hätten Sie heute etwas anderesgesagt . Ich bitte Sie, den Menschen einmal zuzuhören,dann wüssten Sie, dass diese Menschen unter härtestenBedingungen mit ungeheurem Mut, mit ungeheurem En-gagement und mit wahnsinnig viel Geduld und Beharr-lichkeit ihre Arbeit leisten .
Darunter sind eben auch viele Polizistinnen und Polizis-ten. Ich finde, sie alle haben unsere Anerkennung undunseren Dank verdient .
Sie leisten nämlich eine ungeheuer wichtige Arbeit fürdie Menschen in den Krisenregionen, für den Aufbauund die Entwicklung einer hoffentlich dauerhaften Zivil-gesellschaft .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe mich beiIhrer Rede, Frau Jelpke, wirklich gefragt: Wie wollen SieRechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Schutz durchsetzen,wenn Sie keine gut ausgebildete Polizei in den betreffen-den Ländern haben?
In Mali, in Somalia, im Südsudan oder in Teilen derUkraine zeigt sich doch überall ein vergleichbares Bild:Die staatlichen Strukturen sind verfallen,
unterschiedliche Gruppierungen kämpfen wirklich mitallen Mitteln der Macht um Privilegien und Besitz,Amtsmissbrauch und organisierte Kriminalität sind ander Tagesordnung. In diesen Ländern ist es häufig so,dass mächtige Clans ihre jeweiligen Regionen im wahrs-ten Sinne des Wortes ausplündern . Um die Rechte vonMenschen kümmern sie sich überhaupt nicht . Das führtdazu, dass Sicherheit zu einem Privileg für ganz wenigewird; wenn sie überhaupt noch existiert .Es zeigt sich immer deutlicher – auch das kann mandoch nicht verkennen –, dass die vielfältigen Konflikteund innerstaatlichen Auseinandersetzungen sich nicht al-lein mit militärischen Mitteln lösen lassen; da werden Siemir wahrscheinlich zustimmen . Das geht nicht . Soldatenkönnen einen Waffenstillstand erzwingen, sie könnenmanchmal auch Volksgruppen schützen – das ist wich-tig –, aber sie können keinen Frieden schaffen, und daswissen die Soldaten selbst am besten .Die Wiederherstellung staatlicher Strukturen, dieSchaffung von Rechtsstaatlichkeit, gutes Regieren, dasist doch das, worüber wir hier reden . Die Etablierungvon Zivilgesellschaften, der Schutz von Frauen und Kin-Ulla Jelpke
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dern, die Wiederherstellung von Sicherheit und die nach-haltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialenLebensbedingungen, das bedarf eben vielfältiger zivilerAnstrengungen .
Dazu gehört die Polizei, aber das wird sie nicht alleineleisten können . Deshalb unterstützen wir auch andereGruppierungen .
Der Polizei, und zwar einer funktionierenden, demGesetz und dem Rechtsstaat verpflichteten Polizei undnicht einer einzelnen Machthabern verpflichteten Polizei,kommt eine ganz wichtige Bedeutung zu . Die Menschenkönnen nämlich nur solchen Polizeiorganen wieder ver-trauen, und das tun sie . Nur so ist es möglich, Korrupti-on und organisierte Kriminalität effektiv zu bekämpfen.Dem kommt eine Schlüsselrolle zu . Es geht also nichtdarum, dass Polizei militärische Aufgaben übernimmt –das kann sie nicht, das soll sie auch nicht –, sondern esgeht darum, Sicherheit in einem umfassenden Sinne fürdie Zivilbevölkerung zu schaffen und Rechtsstaatlichkeitherzustellen .
Sie haben in der Debatte das Beispiel Saudi-Arabi-en gebracht . Ich bitte Sie, unseren vorliegenden Antrageinmal zu lesen . Hätten Sie es getan, dann wüssten Sie,dass wir vorschlagen, dass wir uns in Zukunft jährlichumfassend über die Art der Einsätze berichten lassen unddass wir darüber hier an prominenter Stelle im DeutschenBundestag diskutieren. Ich finde, genau das ist überfällig.
Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie den Antrag unter-stützen, Frau Jelpke, und hier nicht so destruktiv einfachNein sagen . Dann müssen Sie ihn unterstützen und sa-gen: Ja, genau diese Diskussion wollen wir im Bundestagführen . – Genau das wollen wir .
Die deutsche Polizei – Frau Schäfer hat das vorhingesagt – genießt international ein großes Ansehen . Dashat Gründe: Die Polizistinnen und Polizisten – das erle-ben wir immer wieder, wenn wir vor Ort sind – sind her-vorragend ausgebildet und bestens vorbereitet . Das sindStärken, die in den Ländern, in die wir Polizistinnen undPolizisten entsenden, außerordentlich geschätzt werden .Darüber hinaus ist die deutsche Polizei – das habe ichvorhin schon gesagt; ich glaube, das ist ein ganz wichti-ger Punkt – aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihrergesellschaftlichen Einbindung – sie versteht sich nämlichals Vertreter eines demokratischen Rechtsstaats und be-greift sich nicht als Durchsetzer von Gewalt – in einerganz besonderen Art und Weise geeignet, einen wichti-gen Beitrag zu einer inklusiven Entwicklung in diesenKrisenländern zu leisten .Auch die wirksame Bekämpfung von Korruption, or-ganisierter Kriminalität und Terrorismus ist zwingendverbunden mit Rechtsstaatlichkeit, mit der Schaffungund Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und damit einergut arbeitenden Polizei und Justiz . Die Nachfrage nachSpezialisten – das erleben wir in Gesprächen immer wie-der –, zum Beispiel nach Forensikern oder Spezialistenfür Datensicherheit oder für die Bekämpfung von organi-sierter Kriminalität und Korruption, ist gerade in diesenLändern ganz besonders groß, und sie wird wahrschein-lich auch nicht abnehmen .Wenn einige immer noch fragen – das könnte jasein –: „Warum entsenden wir deutsche Polizei in dieseLänder?“, dann sage ich, dass organisierte Kriminalität,Waffen und Drogenschmuggel und Menschenhandel in-zwischen nicht mehr auf einen Staat begrenzt sind . DieGruppen, die das tun, sind international vernetzt, und wirkönnen sie nur international bekämpfen . Mit diesen Ein-sätzen helfen wir diesen Ländern; wir helfen auch unsselbst – das stimmt –, aber wir helfen vor allem diesenLändern .
Kurz gesagt: Die Männer und Frauen, die wir gemein-sam am 1 . Juni 2016 geehrt haben, leisten wirklich etwasGroßartiges . Aber ich glaube, wir sind uns alle einig, dasses nicht ausreicht, die Polizistinnen und Polizisten einmalim Jahr für ihre Leistungen auszuzeichnen und deutlichzu machen, was hier geschafft wird, sondern es kommtdarauf an, dass wir die Rahmenbedingungen und Voraus-setzungen für diese so wichtigen Einsätze noch weiterverbessern . Ich bin deshalb sehr froh – ich möchte michan dieser Stelle bei den Kolleginnen und Kollegen ausdem Innenausschuss und dem Auswärtigen Ausschussausdrücklich bedanken –, dass wir gemeinsam einen An-trag erarbeitet haben, der genau das zum Ziel hat .Ich will nicht alle Punkte dieses Antrags ansprechen,weil schon einige angesprochen worden sind . EinenPunkt, der mir ganz besonders wichtig zu sein scheint,will ich aber hervorheben: In einem Land wie unserem,in einem föderalen Staat, gibt es einerseits eine klare Zu-ständigkeit des Bundes für Außenpolitik, internationaleOrganisationen und zwischenstaatliche Vereinbarungenund andererseits eine klare Zuständigkeit der Länder fürdie Polizei, bis auf die Bundespolizei . Hieraus ergebensich für die Entsendung deutscher Polizeikräfte, weilein großer Teil von der Landespolizei entsendet werdenmuss und soll – auch in Zukunft –, einige strukturelleHürden im Dienstrecht . Sie haben auf das Versorgungs-recht hingewiesen, auf die Nachsorge . Da haben wir einProblem . Deshalb sagen wir: Da wollen wir Angleichun-gen . Wir wollen nicht zwei unterschiedliche Stufen ha-ben . Wir wollen ein vergleichbares Recht herstellen, vorallem auch hinsichtlich der Finanzierung . Solange dervermehrte Einsatz von Polizistinnen und Polizisten imAusland angesichts einer unzureichenden Personalaus-Edelgard Bulmahn
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stattung im Inland, also in den Ländern selbst, mit einergroßen zusätzlichen Belastung für die Kolleginnen undKollegen vor Ort verbunden ist, wird es keine zufrie-denstellenden Lösungen geben . Deshalb sagen wir: DerBund muss bei dem Auslandseinsatz deutscher Polizei-kräfte eine deutlich größere Verantwortung übernehmen,auch eine finanzielle Verantwortung, wenn wir unsereninternationalen Verpflichtungen besser gerecht werdenwollen .
Wir schlagen deshalb eine umfassende Bund-Län-der-Vereinbarung vor, mit der die notwendigen dauer-haften finanziellen Voraussetzungen erfüllt und die or-ganisatorischen Strukturen geschaffen werden. In dieserVereinbarung soll neben der Bereitstellung ausreichen-der finanzieller Mittel auch die Schaffung eines neuenFinanzierungsmodells mit einem vom Bund finanziertenvirtuellen Personalpool – Planstellen aufseiten der Lan-despolizei – geregelt werden . Wir wollen außerdem ge-meinsame Entwicklungsformate und Inhalte erarbeitenund entsprechende Änderungen im Dienstrecht zur Ge-währleistung der Vergleichbarkeit, die Sie angesprochenhaben, vornehmen .Ich will einmal auf das Beispiel Schweden verweisen .Schweden entsendet 1 Prozent seiner Polizistinnen undPolizisten ins Ausland, nicht jedes Jahr; Schweden hälteinen solchen Pool vor . Auf Deutschland übertragen hie-ße das: 3 000 Polizistinnen und Polizisten . Die Kostenfür diesen Einsatz sollte unserer Auffassung nach ent-sprechend seiner Zuständigkeit – für die Außenpolitik istder Bund zuständig – künftig der Bund übernehmen . DieKostenübernahme darf sich nicht allein auf die sogenann-ten Mehrkosten für den Auslandseinsatz beziehen – dasist nämlich das Hauptproblem –, sondern sie muss sichauf die Vorhaltung dieses Personalpools insgesamt bezie-hen . Nur so kommen wir endlich aus dem Zwiespalt, ausder Zwickmühle heraus, die ich eben beschrieben habe .Deshalb ist es ein ganz wichtiger Schritt, den wir hiermachen wollen . Wir wollen durch eine Vereinbarung ge-nau das erreichen . Wir wollen sicherstellen, dass wir gutqualifizierte, gut versorgte Polizistinnen und Polizistenauf Länderebene in ausreichender Zahl haben, damit wirdas Ziel, das wir uns selbst gesetzt haben – wir wollennämlich bis zu 910 Polizistinnen und Polizisten, round-about 1 000, zur Verfügung stellen –, erreichen . Wennman Vorsorge und Nachsorge dazunimmt, dann ist manungefähr bei einem Personalpool von 3 000 Stellen . Dasist also keine fiktive Größe, sondern eine sehr realitäts-nahe Größe .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen darü-ber hinaus sicherstellen – das ist ein zweiter wichtigerVorschlag; ich möchte ihn nur kurz anreißen –, dass dieErfahrungen, das Wissen, die Kompetenzen, die die Po-lizistinnen und Polizisten bei ihren Auslandseinsätzengewinnen, nicht verloren gehen, sondern systematischausgewertet werden, systematisch gesichert werden undsystematisch auch für die Weiterentwicklung der Kon-zepte genutzt werden . Deshalb wollen wir – auch dasind wir uns einig – ein Fachgebiet bei der Hochschuleder Polizei schaffen, mit der entsprechenden personellenUnterstützung, damit die Wissens- und Kompetenzsi-cherung auch wirklich dauerhaft stattfindet. Das ist eingroßer Wunsch der Polizistinnen und Polizisten, und ichfinde, da sind wir in der Pflicht. Das werden wir machen,liebe Kolleginnen und Kollegen .
Wir werden bei den Haushaltsberatungen einen ent-sprechenden Antrag einbringen – das ist ein erster wichti-ger Schritt –, und dann geht es in die Verhandlungen überdie Bund-Länder-Arbeitsgruppe .
Frau Kollegin .
Ich komme zum Schluss . – Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir können so gemeinsam dazu beitragen, den
berechtigten Wünschen und Anliegen der Polizistinnen
und Polizisten endlich gerecht zu werden . Ich weiß, dass
der Staatssekretär im Innenministerium und das Innen-
ministerium da gute Verbündete sind . Das werden wir
gemeinsam machen . Ich glaube, dass wir damit auch den
Ansprüchen, die wir an uns selbst haben, den Ansprü-
chen des Parlaments, wirklich ein ganzes Stück besser
gerecht werden, und darauf kommt es an . Das wollen wir .
Wir wollen es wirklich besser machen .
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksam-
keit .
Das Wort hat die Kollegin Dr . Franziska Brantner fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Ich möchte an dieser Stelle Frau AlmutWieland-Karimi begrüßen – Sie alle kennen sie –, dieVorsitzende des ZIF, des Zentrums für Internationa-le Friedenseinsätze, die in diesem Bereich sehr viel fürDeutschland leistet . Schön, dass Sie heute bei uns sind!
Wir haben es schon gehört: Warum diskutieren wirdieses Thema heute? Uns geht es dabei um Frieden . Wirwollen in den Ländern der Welt, in denen es leider häufignicht friedlich zugeht, einen Beitrag dazu leisten, dassein staatliches Gewaltmonopol wieder aufgebaut werdenkann . Das ist die Forderung, die wir damit inhaltlich hin-terlegen . Es geht uns nicht darum, an sich mehr Polizis-tinnen und Polizisten ins Ausland zu schicken . Aber: Esgibt keine funktionierende Staatlichkeit ohne ein Gewalt-monopol . Wir wollen nicht, dass dieses nur militärischgesichert wird, sondern wir wollen, dass es zivil, durchPolizistinnen und Polizisten, gesichert wird . Dafür brau-Edelgard Bulmahn
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chen wir funktionierende Polizeistrukturen in den Län-dern, die vom Zerfall bedroht sind oder in denen nach ei-nem Konflikt mit großen Schwierigkeiten versucht wird,wieder eine Staatlichkeit aufzubauen . Das ist das Ziel .Dazu wollen wir unseren Beitrag leisten .
Die Vereinten Nationen sind da momentan der größteAkteur . 13 200 Polizistinnen und Polizisten sind weltweitim Einsatz der Vereinten Nationen unterwegs . Deutsch-land stellt von diesen 13 200 genau 24 . 24 Polizistinnenund Polizisten – für ein großes und reiches Land wieDeutschland ist das blamabel . Anders kann man das nichtnennen .
Wir waren zusammen mit dem Unterausschuss beiden Vereinten Nationen in New York . Dort wurde unsstark und eindeutig signalisiert, wie sehr deutsche Po-lizistinnen und Polizisten geschätzt sind, auch weil wireinen besonderen Ansatz haben und vor Ort häufig prä-ventiv arbeiten . Unsere Polizisten gehen auch anders mitDemonstrationen um . Das unterscheidet sich manchmalvom Vorgehen der Polizisten aus anderen Ländern . Dahaben wir eine wichtige Rolle; darin sind wir uns alleeinig . Deswegen ist es gut, dass wir heute diesen Antraggemeinsam stellen .
Es ist gut, dass wir gemeinsame Antreiber sind, abereigentlich auch traurig, dass wir überhaupt Antreibersein müssen . Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag vomNovember 2013 – dort finden sich lesenswerte Passagenüber die Vereinten Nationen –:Wir wollen die rechtlichen, organisatorischen undfinanziellen Voraussetzungen für den Einsatz vonPolizistinnen und Polizisten in Friedensmissionenverbessern . Hierzu wird die Bundesregierung in dernächsten Legislaturperiode mit den Bundesländerneine umfassende Bund-Länder-Vereinbarung ver-handeln, die der gemeinsamen Verantwortung ge-recht wird .Jetzt haben wir das Jahr 2016, es ist nicht mehr ganzein Jahr bis zur Wahl, und wir haben immer noch keineBund-Länder-Vereinbarung . Da fragen wir uns schon:Warum kommt das nicht? Die Frage richtet sich auch anSie, Herr Schröder . Woran hängt es denn? Wir glauben,dass dort dringend Handlungsbedarf besteht . KommenSie Ihren eigenen Zusagen endlich nach! Machen Siedas, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition!Wir brauchen das . Deutschland leistet bis jetzt einfachzu wenig .
In dem Antrag werden richtige Forderungen zur struk-turellen Verbesserung gestellt; wir haben es gerade schongehört . Dabei geht es um die rechtliche Absicherung,finanzielle Fragen, Wissenstransfer und sicherung undeine stärkere Einbindung im Parlament . Frau Jelpke, Si-cherheitsbedenken und Menschenrechte – die Sorge tei-len wir doch alle .
Es ist aber auch ein schwieriges Umfeld, in dem diesePolizistinnen und Polizisten unterwegs sind .Klar ist: Wir müssen Einsätze in Zukunft auch ab-brechen . Das ist gar nicht die Frage . Es wird Einsätzegeben, und es gibt schon heute Einsätze, bei denen wirsagen: Da müssen wir aufhören . Dort ist es nicht mehrder richtige Weg . Dort unterstützen wir nicht Frieden undRechtsstaatlichkeit, sondern Akteure, die den Menschen-rechten zuwiderhandeln . Ja, wir werden Einsätze abbre-chen müssen . Aber das ist doch kein Argument dagegen,strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wirPolizistinnen und Polizisten in gute Einsätze entsendenkönnen . Das kann doch kein Argument dagegen sein .
Falsche Einsätze können doch kein Argument gegen guteEinsätze sein .
Das ist das, worum es uns geht . Wir sagen jetzt nicht,dass wir alle schlechten Einsätze mittragen .Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,noch einmal: Wir alle wissen, dass eine gute Polizei aucheine gute Justiz braucht, dass wir ein gutes Umfeld brau-chen, in dem die Polizei agieren kann . Deswegen hattenwir noch einen Antrag gestellt, der diesen Bereich behan-delt . Schade, dass er nicht aufgesetzt wurde . Vielleichtkönnen wir bei anderer Gelegenheit trotzdem über diesenAntrag diskutieren; denn wir wissen, dass es zusammen-gehört . Hier geht es jetzt um einen Teil; andere gehörendazu .
Wir alle wissen auch, dass das, was wir hier fordern,nicht für umme zu haben ist . Das kostet Geld . Wenn wir1 Prozent zum Ziel haben, wenn wir einen Lehrstuhl ander Hochschule der Polizei zum Ziel haben, dann kostetdas Geld . Ich würde mich sehr freuen, wenn wir es indem Haushaltsverfahren, das gerade läuft, gemeinsamschaffen, diese Forderungen nicht auf dem Papier zu be-lassen, sondern umzusetzen und Geld für den Lehrstuhl,für das 1 Prozent zur Verfügung zu stellen . Dann habenwir wirklich etwas erreicht . Das ist der Schritt, den wirnoch gehen können . Dabei brauchen wir nicht auf Sie zuwarten . Das ist in unserer Verantwortung . Lassen Sie unsdiesen Schritt gemeinsam gehen .Ich danke Ihnen .
Dr. Franziska Brantner
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr . Ole Schröder .
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich freue mich zunächst, dass der Unterausschussfür Zivile Krisenprävention einen fraktionsübergreifen-den Beschlussantrag zum Einsatz von Polizeibeamtinnenund Polizeibeamten in internationalen Friedensmissio-nen vorgelegt hat . Die zehn Punkte des Antrags greifenwichtige Themen auf . Deren Umsetzung wird unser Po-lizeiengagement in mandatierten Friedensmissionen undbilateralen Polizeimissionen stärken .Gerade angesichts der aktuellen Migrationslage ge-winnt der Antrag eine besondere Aktualität . Polizeimis-sionen leisten in den Krisenregionen einen Beitrag zurBekämpfung von Fluchtursachen . Polizeiprojekte in Kri-senstaaten legen die Basis für den Aufbau von Sicher-heitsstrukturen; dort werden rechtsstaatliche Strukturenaufgebaut . Sicherheit ist eben auch die Voraussetzung da-für, dass sich überhaupt wirtschaftliche Prosperität entwi-ckeln kann. Sicherheit eröffnet den Menschen somit eineBleibeperspektive, und damit werden auch die Fluchtur-sachen bekämpft . Ich bekenne mich an dieser Stelle ein-deutig zu einem größeren Engagement Deutschlands ininternationalen Polizeieinsätzen .Wir haben zurzeit – da möchte ich auf das eingehen,was Frau Brantner eben gesagt hat – 148 Beamtinnenund Beamte im Einsatz, also nicht nur 22 .
Es gibt zwischen Bund und Ländern vereinbarte Leitli-nien; das ist also geübte Praxis . Aber natürlich kann mansich auch über konkrete Vereinbarungen unterhalten . Ichsage nur eines: Das wird an der geübten Praxis nicht vieländern . Wichtig ist, dass auch die Länder bereit sind, sol-che Vereinbarungen einzugehen . An uns soll es jedenfallsnicht scheitern .Wenn jetzt allerdings mehr Engagement gefordertwird, dann müssen wir natürlich auch berücksichtigen,dass wir eine zivile Polizei haben
und eben keine Gendarmerie oder sonstige robuste Ein-heiten . Wenn die Grünen jetzt wild entschlossen sind undsagen: „Wir wollen viel mehr“, dann ist das eine Ansage .Dann müssen wir uns natürlich auch über die Ausrüstungder Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten Gedankenmachen: Brauchen wir nicht robustere Einheiten, wasbedeutet das für die Abgrenzung von Militär und Polizeiin den Krisenregionen, und was kann unsere zivile Poli-zei überhaupt leisten? Man darf also nicht nur fordern,sondern muss auch die konkreten Schlussfolgerungenberücksichtigen .
Ich jedenfalls bedanke mich bei allen Polizeibeamtin-nen und Polizeibeamten für das großartige Engagement,das sie in vielen Staaten zeigen . Wir wissen, was das fürjeden Einzelnen bedeutet . Wir wissen, dass die Akzep-tanz der örtlichen Polizeidienststellen nicht immer so ist,wie wir sie uns vorstellen . Wir wissen, was das auch fürdas gesamte Umfeld und die Familien bedeutet . VielenDank für diesen Einsatz!
Unsere Polizeibeamten tragen dazu bei, dass die Si-cherheitslage in den Regionen, die von Konflikten,Krisen und Chaos geprägt sind, stabilisiert wird . Damitsorgen sie nicht nur für Sicherheit und Ordnung in denRegionen, sondern mittelbar auch für Sicherheit hier inDeutschland . Ein Blick auf die Krisenherde der Weltzeigt, dass wir künftig noch mehr Friedensmissionen undbilaterale Polizeiprojekte brauchen . Wir müssen aberauch Rücksicht darauf nehmen, dass wir begrenzte Res-sourcen haben und zurzeit über eine zivile Polizei ver-fügen, die dann natürlich auch die Ausrüstung hat, diegesetzlich vorgegeben ist .Wir müssen uns daher auf Schwerpunkte konzentrie-ren . Im Vordergrund stehen für uns solche Gebiete, indenen die Ursachen von Flucht, Vertreibung und Migra-tion bekämpft werden können . Zwei Regionen genießendabei unsere besondere Aufmerksamkeit .Zum Ersten geht es um Nordafrika und die Sahelzone .Wir haben unsere Beteiligung an der Mission der Ver-einten Nationen in Mali bereits deutlich ausgebaut . Wirwürden sie noch weiter ausbauen . Die Anforderungen,insbesondere an die Sprachkenntnisse, sind allerdingssehr, sehr hoch . Wir setzen uns dafür ein, dass sie realis-tischer ausgelegt werden, insbesondere was die französi-schen Sprachkenntnisse angeht .Wir stellen uns auch darauf ein, Polizisten nach Libyenzu entsenden, sobald die Sicherheitslage es zulässt . DieVorbereitungen laufen bereits, und wir engagieren uns imRahmen der Vorbereitungen . Wir legen großen Wert da-rauf, dass ein Kernauftrag dieser Mission die Stärkungdes libyschen Grenz- und Küstenschutzes wird, damit dieTragödie auf dem Mittelmeer auch von dieser Seite herbeendet werden kann, meine Damen und Herren .Zum Zweiten kommt nach wie vor Afghanistan einebesondere Bedeutung zu . Das bilaterale Polizeiprojekt inAfghanistan haben wir noch stärker auf die Bekämpfungder Schleuserkriminalität und auf die Bekämpfung derillegalen Migration ausgelegt .Unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten leis-ten – darauf möchte ich zum Schluss eingehen – aucheinen wichtigen Beitrag in Europa . In der Ukraine sindwir an zwei Missionen der EU und an einer der OSZEbeteiligt . Durch die Teilnahme an diesen Missionen tra-gen wir dazu bei, dass sich die Situation in der Ukraine
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stabilisiert und die Polizeibehörden bei ihren Reformenunterstützt werden . Das ist dringend erforderlich .Ich bin davon überzeugt, dass der gestellte Antrag unsbei unseren Bemühungen unterstützen wird, und bedankemich für die konstruktive Begleitung aus dem parlamen-tarischen Raum . Die Linke ist hier natürlich ausgenom-men .
Das, was wir von ihr erleben, ist eher destruktiv, aber ichdenke, das sind wir auch sonst nicht anders gewohnt .Insofern freue ich mich auf die gemeinsamen Bera-tungen .
Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte am Ende der Debatte noch einmal zusam-menfassend sagen, dass es aus meiner Sicht überhauptnichts Verwerfliches ist, wenn wir mit der Entsendungdeutscher Polizisten in internationale Friedensmissionennatürlich auch unsere eigenen Interessen vertreten .Es ist angesprochen worden: Es geht darum, deminternationalen, auch islamistischen, Terrorismus, denNährboden zu entziehen und Fluchtursachen zu bekämp-fen . Natürlich ist es richtig, dass eine so internationali-sierte Gesellschaft und Volkswirtschaft wie unsere, diemehr als die Hälfte ihres Wohlstandes außerhalb unseresLandes erwirtschaftet, in besonderer Weise davon profi-tiert, wenn wir es schaffen, mehr Frieden, mehr Sicher-heit und mehr Stabilität zu erreichen .Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte: Wirstehen hier in der Tat nicht an einem Nullpunkt, sondernwir haben in der Vergangenheit schon messbare Erfolgeverzeichnen können . 1989 wurden deutsche Polizistendas erste Mal in einer internationalen Friedensmissioneingesetzt, nämlich in Namibia . In der Zwischenzeit istunheimlich viel passiert . Ein Meilenstein war hier mit Si-cherheit auch der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“aus dem Jahr 2004, aus dem das Zentrum für Interna-tionale Friedenseinsätze und auch die Bundesakademiefür Sicherheitspolitik hervorgegangen sind . Das warenMeilensteine . Wir sind vorwärtsgekommen und habenmessbare, nachvollziehbare Erfolge erzielen können .Heute sind wir der viertgrößte Geber für internationaleFriedensmissionen der Vereinten Nationen .Trotzdem ist es richtig, dass wir noch nicht an demPunkt angekommen sind, an dem wir sein könnten undauch sein sollten . Deswegen ist richtig, diese Debatte mitdem vom Auswärtigen Amt initiierten Leitlinienprozessund auch diesem interfraktionellen Antrag fortzusetzen,den wir heute hier beraten und hoffentlich auch beschlie-ßen werden .Es geht eben nicht nur um Geld – da sind wir schonsehr gut –, sondern es geht auch darum – das ist vonVorrednern einige Male erwähnt worden –, das spezielleKnow-how und die speziellen Kenntnisse deutscher Poli-zistinnen und Polizisten mit den spezifischen Qualitäten,die sie haben, zum Einsatz zu bringen . Wenn ich mir ein-mal anschaue, was internationale Polizeimissionen beiden Vereinten Nationen heute leisten, dann, glaube ich,tut dies auch wirklich not .Wie sieht es derzeit aus? Es gibt einen deutlichen Auf-wuchs an Polizisten in solchen Missionen . 1995 warenes noch 5 800, heute sind es mehr als 16 000 . Was sinddas für Polizisten, und wo kommen sie her? Sie kommenaus Ruanda, Indien, Jordanien, Nepal, Burkina Faso . Dassind die Länder, die die meisten Polizisten stellen . Siekommen überwiegend – zu mehr als der Hälfte – aus ge-schlossenen Verbänden .Das ist im Zweifel aber nicht das, was die VereintenNationen brauchen, und das ist auch nicht das, was wirfür internationale Polizeieinsätze brauchen . Wir brau-chen Spezialisten und spezielle Kenntnisse im Bereichder Beweissicherung, bei der Bekämpfung von Sexual-straftaten und im Bereich der organisierten Kriminalität .Solche Kompetenzen werden verlangt, und die könnenund die sollten wir liefern . Das ist mehr wert als Geld .
Es ist bereits angesprochen worden, dass wir eine Be-schlusslage haben: Im Europäischen Rat haben wir imJahr 2000 in Santa Maria da Feira gemeinsam vereinbart,EU-weit 5 000 und aus Deutschland 910 Polizisten be-reitzustellen . Das muss die Richtgröße sein, an der wiruns orientieren . Wenn man sich den Entwurf des Bundes-haushalts für das kommende Jahr anschaut, kann man se-hen, dass im Bereich des Innenministeriums zusätzlicheMittel für den Einsatz von Bundespolizisten außerhalbDeutschlands bereitgestellt sind . Wir haben hier einenMittelaufwuchs .Und auch wenn es zwischen Bund und Ländern ver-einbarte Leitlinien gibt, ist klar, dass ein Großteil derKompetenzen, von denen ich gesprochen habe, nichtzwingend bei der Bundespolizei vorhanden ist, sondernin besonderem Maße bei den Länderpolizeien . Deswe-gen brauchen wir eine noch bessere Auflösung des Ziel-konfliktes, dass einerseits der Bund für die außenpoliti-schen Belange zuständig ist, andererseits die Kompetenzder Polizeien, die in solchen Einsätzen erforderlich ist,bei den Ländern in sehr viel größerem Maße vorhandenist . Dafür brauchen wir vernünftige Regelungen . Es istzu wenig, wenn wir nur auf die Enthusiasten setzen, diein solche Einsätze gehen . Wir brauchen mehr Struktur;wir brauchen mehr Unterstützung; wir brauchen mehrrechtliche Rahmenbedingungen, die den Erfordernis-sen gerecht werden . Dann bin ich überzeugt, dass wires schaffen können und einen effektiven Beitrag zu zi-viler Krisenprävention leisten können . Polizei, Richter,Staatsanwälte als Rückgrat rechtsstaatlicher Verhältnissehelfen mit, dass wir Konflikte beilegen können, dass wirgescheiterte Staaten wiederaufbauen können, und vor al-Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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len Dingen, dass die Menschen Vertrauen zu ihren Staa-ten und ihren Regierungen bekommen können: Das istdie beste Vorsorge, um Fluchtursachen an der Wurzel zubekämpfen .Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/9662 mit dem Titel „Deut-
sches Engagement beim Einsatz von Polizistinnen und
Polizisten in internationalen Friedensmissionen stärken
und ausbauen“ . Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wochenhöchstarbeitszeit begrenzen und Ar-
beitsstress reduzieren
Drucksache 18/8724
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
– Wenn alle Kolleginnen und Kollegen, die jetzt noch
herbeigeeilt sind, ein Plätzchen gefunden haben, können
wir die Debatte eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es geht um Arbeitszeiten, um Flexibilisierungder Arbeitszeiten, auch um weniger Stress durch ver-nünftige Arbeit . Wenn ich mich hier so umschaue, seheich: Es haben sich einige Kolleginnen und Kollegen si-cher auch schon ins Wochenende verabschiedet .
Wir als Abgeordnete können das tun, andere nicht,weil sie sehr starre Arbeitszeitverhältnisse haben, dieteilweise ganz anders aussehen . Aber genau über diesemüssen wir reden .
Wir haben in der Bundesrepublik eine Entwicklung,die nicht in Ordnung ist . Wir haben die Bundesregierunggefragt, wie sich Arbeitszeiten entwickeln . Sie werdenimmer länger . 1,7 Millionen arbeiten inzwischen regel-mäßig über 48 Stunden in der Woche . Diese Zahl hatdramatisch zugenommen . Das Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung hat ausgerechnet, dass 1,8 Milliar-den Überstunden pro Jahr geleistet werden – im Übrigenwürde das mehreren Hunderttausend Beschäftigten ent-sprechen –, von denen aber nur etwas mehr als die Hälftebezahlt wurden .Immer mehr Beschäftigte müssen nachts arbeiten . 1995waren noch 2,4 Millionen Beschäftigte nachts tätig, 2015waren es 3,3 Millionen .Meine Damen und Herren, ich erinnere mich an eineBetriebsversammlung bei einem größeren Automobil-konzern . Dabei ging es um die Durchsetzung von Nacht-arbeit . Die Beschäftigten haben sich dagegen gewehrt .Einer von den Kollegen ging aus der Betriebsversamm-lung raus und sagte: Wenn der Herrgott gewollt hätte,dass wir nachts arbeiten, dann hätte er uns mit den Augenauch Glühbirnen in den Kopf gegeben, damit wir etwassehen können .
Da ist was dran, liebe Kolleginnen und Kollegen .Wir wissen alle: Nachtarbeit ist gesundheitsschäd-lich, und zwar extrem . Immer mehr Beschäftigte arbei-ten regelmäßig am Wochenende: 8,8 Millionen 2015,Tendenz steigend . Was auch zunimmt, ist die Sonn- undFeiertagsarbeit . Das ist deshalb bemerkenswert, weil wirim Grundgesetz die Sonn- und Feiertage als Tage derArbeitsruhe besonders geschützt haben: Sonn- und Fei-ertagsarbeit ist eigentlich ausgeschlossen . Trotzdem hatsich die Zahl derer, die regelmäßig sonntags und feier-tags arbeiten, drastisch erhöht . 1995 waren es 2,9 Milli-onen, 2015 knapp 5 Millionen Menschen; ein Zuwachsvon mehr als 70 Prozent .Inzwischen, meine Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, arbeitet jeder Sechste in Schichten .Ich möchte darauf hinweisen, was das insbesondere inFamilien bedeutet, in denen beide Partner in Schichtenarbeiten . Da spielt sich das Familienleben oft auf Zet-teln ab . Wenn man sich die Betreuung der Kinder einteilt,versucht man, dafür zu sorgen, dass einer der Partner zuHause ist, während der andere arbeitet . Da läuft das Fa-milienleben oft so ab, dass der Mann auf einen Zettelschreibt: Ich komme heute später . – Wenn er dann nachHause kommt, findet er einen Zettel seiner Partnerin vor,auf dem steht: Ich habe es gelesen . – Wir müssen alsoaufpassen, was in unserem Land passiert .Viele Hunderte von Studien belegen: Arbeitszeitendieser Art machen krank . Wir haben es mit einer Zu-nahme von psychischen Erkrankungen durch ArbeitThorsten Frei
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zu tun. Schichtarbeiter zum Beispiel sind häufiger vonHerzKreislaufErkrankungen betroffen; das alles wissenSie .Auf jeder Zigarettenschachtel stand früher: Rauchengefährdet Ihre Gesundheit . – Inzwischen ist diese Formu-lierung schärfer geworden . Eigentlich müsste auf man-chem Arbeitsvertrag stehen: Diese Arbeit gefährdet IhreGesundheit .
Wir wissen das. Aber wir haben momentan offen-sichtlich Hemmungen, das zu ändern . Wir erleben aufder anderen Seite, dass unter dem Deckmantel von In-dustrie 4 .0 nun die Arbeitgeberverbände eine weitereFlexibilisierung der Arbeitszeit wollen . Damit meinensie – ich zitiere den Präsidenten des Arbeitgeberverban-des Gesamtmetall, Dulger –: mehr Arbeitszeitvolumen,Befristung und Zeitarbeit . – Das ist die Zukunftsvorstel-lung der Arbeitgeber in dieser Frage .Auch wir sind dafür, dass Arbeitnehmer flexibel arbei-ten dürfen, wenn sie das wollen . Das bedeutet aber, dasswir regeln müssen, welche Rechte die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer haben, um diese Flexibilität anihrem Arbeitsplatz durchzusetzen .
Gegenwärtig haben sie diese Rechte kaum, wie wir wis-sen . Ich könnte Ihnen dazu noch viele Beispiele aus derPraxis erzählen .Meine Damen und Herren, die Realität sieht andersaus . Flexible Arbeitszeit heißt für die Beschäftigten oftEntgrenzung von Arbeit, Arbeit auf Abruf, übrigens auchkeine Bezahlung mehr von Überstunden, Zunahme vonStress . Deshalb: Wir brauchen gesetzliche Regelungen,die den Arbeitnehmer in die Lage versetzen, die von ihmgewünschte Zeitsouveränität selber durchzusetzen .Meine Damen und Herren, ein Schlüssel dafür ist dasArbeitszeitgesetz . Das Arbeitszeitgesetz beschränkt dietägliche Arbeitszeit eigentlich auf acht Stunden . Aller-dings macht das bei sechs Tagen in der Woche 48 Ar-beitsstunden . Das ist eindeutig zu viel .
Wir müssen über das Arbeitszeitgesetz die Dauer der Ar-beitszeit ein Stück nach unten bekommen; deshalb unse-re Forderung . Das Arbeitszeitgesetz selber ist löchrig wieein Schweizer Käse . Da gibt es Ausnahmeregelungen fürfast alles . Die Zunahme der Sonntagsarbeit ist dafür einBeweis . Auch deshalb müssen wir diese Frage angehen .Um Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu schüt-zen, braucht es auch ein Recht auf Nichterreichbarkeitwährend der Freizeit .
Wir brauchen eine Anti-Stress-Verordnung, mit der dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschützt wer-den . Dringend erforderlich ist auch die Ausweitung desMitbestimmungsrechts der Betriebsräte bei Fragen derZeitsouveränität und des Arbeitsvolumens der Beleg-schaft . Nur ein kleiner Hinweis . Betriebsräte haben Kün-digungsschutz und können sich gegen ihren Arbeitgeberleichter wehren als der Einzelne ohne Kündigungsschutz .
Dem Einzelnen drohen oft Nachteile, wenn er versucht,seine von ihm gewollte Flexibilität durchzusetzen .Als Parlamentarier haben wir die Pflicht, uns schüt-zend vor die Beschäftigten zu stellen und dem Trend,dass Arbeit zunehmend krankmacht, entgegenzuwirken .Wir könnten damit anfangen. Ich hoffe, dass unsere De-batte dazu führt, dass diese Themen tatsächlich parla-mentarisch aufgegriffen werden.Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Das Wort hat der Kollege Uwe Lagosky für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Dauer der Arbeitszeit ist so zu bemessen, dassdem Arbeitnehmer ausreichend Zeit zur Erholungund zur Teilnahme am kulturellen Leben zur Verfü-gung steht . Normalarbeitszeit, Pausen, Freizeit undUrlaub bedürfen gesetzlicher und tariflicher Rege-lung nach Maßgabe neuzeitlicher wissenschaftli-cher Erkenntnisse . Sonntage und gesetzliche Feier-tage gelten als Ruhetage .Ich glaube, darüber sind wir uns grundsätzlich einig . Be-merkenswert ist nur: Woher stammt das, was ich geradeverlesen habe? Diese Zeilen stammen aus den Düsseldor-fer Leitsätzen, die die CDU 1949 auf den Weg gebrachthat .
Um es ganz deutlich zu sagen, meine Damen und Herrenvon der Linken: Da gab es Sie als Partei in dieser Formnoch gar nicht . Wir sind schon weit vor Ihrer Zeit aktivgeworden .
Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse – dasist bis heute so geblieben – wurde das Arbeitszeitgesetzgestaltet, das als Schutzgesetz im Wesentlichen der Ge-sundheit der Beschäftigten dient, und zwar sowohl beitarifgebundenen als auch bei nicht tarifgebundenen Ar-beitgebern . Das Arbeitszeitgesetz begrenzt die höchstzu-lässige Arbeitszeit auf acht Stunden täglich; das habenSie ebenfalls gerade ausgeführt . In Ausnahmen dürfen esauch zehn Stunden sein, aber nur dann, wenn – das habenSie nicht gesagt – innerhalb von sechs KalendermonatenKlaus Ernst
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oder innerhalb von 24 Kalenderwochen im Durchschnittacht Stunden werktäglich nicht überschritten werden .Als weitere wesentliche Punkte werden die Ruhepau-sen und die Ruhezeiten geregelt . Arbeitnehmer müssennach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine Ruhezeitvon mindestens elf Stunden haben . Darüber hinaus er-öffnet das Arbeitszeitgesetz die Möglichkeit für abwei-chende Regelungen in Tarifverträgen – darauf haben Sieschon hingewiesen –, allerdings nur dann, wenn es umArbeitsbereitschaft bzw . Bereitschaftsdienste geht . Esgibt eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf achtbis zehn Stunden, unter anderem deswegen, weil nachwissenschaftlichen Erkenntnissen die Unfallgefahr nachacht Stunden deutlich ansteigt . Deshalb werden Tages-grenzwerte entsprechend festgelegt . Angesichts der Re-gelung, wonach die tägliche Arbeit auf acht bis zehnStunden begrenzt wird, und dem genannten Ausgleichs-zeitraum ist es möglich, auf acht Stunden pro Tag zukommen . Das ist das Ziel der Ausgleichsregelung .Man wird damit sowohl den Belangen der Gesundheitder Arbeitnehmer als auch den Ansprüchen der Betriebegerecht, die bei wechselnden Auftrags- und Aufgabenla-gen flexibel reagieren müssen. Das haben Sie in IhremAntrag völlig vergessen . Wenn Sie die Höchstarbeitszeitin der Woche von 48 auf 40 Stunden senken, sind dieBetriebe nicht mehr flexibel. Wenn die Betriebe nichtmehr flexibel sind, gehen möglicherweise Arbeitsplätzein Deutschland verloren . Allein aus diesem Grund kannman das in der Form nicht machen .
Es geht erstens darum, den Beschäftigten bestmöglichvor gesundheitlichen Gefahren zu schützen, und zwei-tens darum, wirtschaftlich arbeitende Betriebe zu haben .Wenn die Höchstarbeitszeit in der Woche tatsächlich von48 auf 40 Stunden gesenkt wird, dann sehe ich für unse-re Wirtschaft in Deutschland im Vergleich zum Rest derWelt schwarz .Nun basiert Ihr Antrag auf einer Antwort der Bundes-regierung auf eine Anfrage, in der es darum geht, wieviele abhängig Beschäftigte von überlangen Arbeits-zeiten betroffen sind, also 49 Stunden und mehr in derWoche arbeiten . Darauf antwortete die Bundesregie-rung, dass das rund 2 Millionen abhängig Beschäftigtesind . Das entspricht einem Anteil von 5,6 Prozent . DieDaten stammen aus dem vom Statistischen Bundesamtdurchgeführten Mikrozensus und beziehen sich auf dasJahr 2012 . Damals gab es 35 Millionen Beschäftigte inDeutschland .Man muss sich aber die Frage stellen, warum es beiden Regelungen im Arbeitszeitgesetz, die auf eine durch-schnittliche Arbeitszeit von acht Stunden pro Tag abzie-len, zu solchen Ergebnissen kommt . Diese Frage stellenwir uns auch . Dabei geht es aber um Fragen, auf die derMikrozensus keine Antworten liefert: Welche Berufs-gruppen sind im Wesentlichen betroffen? Wird in Betrie-ben von Arbeitgebern und Beschäftigten genügend aufdie Arbeitszeitgesetze geachtet? Achten die Aufsichtsbe-hörden der Länder ausreichend auf die Einhaltung desArbeitszeitgesetzes? Welche Ausnahmeregelungen tra-gen zu diesem Ergebnis bei? – All diese Fragen solltenwir erst einmal beantworten, bevor wir solche Anträgeeinbringen .
Bedacht werden muss zudem, dass es für die Beschäftig-ten manchmal auch persönlich wichtig ist, eine Aufgabezu erledigen . Das ist in einer Arbeitswoche mit 40 Stun-den nicht immer möglich . Jedenfalls ist es mir in meinemBerufsleben so gegangen .Sich seine Arbeitszeit selbst einzuteilen und Aufga-ben abzuschließen, kann durchaus motivierend wirken .Jedoch sollte das nicht über die Schutzvorschriften desArbeitszeitgesetzes hinausgehen . Dafür Sorge zu tragen,ist insbesondere eine Frage der Betriebskultur .Weiterhin behaupten Sie von der Linksfraktion – dashaben Sie eben wieder getan –, der Arbeitstag kenne fürviele kein Ende mehr . Das mag für den einen oder ande-ren tatsächlich so sein – darin gebe ich Ihnen, wie schongesagt, durchaus recht –; doch das ist schon eine sehrdramatische Interpretation dessen, was in DeutschlandRealität ist .
Die Ergebnisse des Statistischen Bundesamts wurdenschon angesprochen; ich möchte das auch tun, nur auseinem anderen Kontext heraus . 1996 hat ein Vollzeitbe-schäftigter durchschnittlich 40 Stunden pro Woche gear-beitet . 2011 waren es 40,7 Stunden und 2015 40,5 Stun-den . Damit liegen die deutschen Vollzeitbeschäftigtendurchaus im europäischen Durchschnitt, der laut Euro-stat 2015 bei 40,3 Wochenstunden lag . Damit liegen wirbezogen auf die Beschäftigten in Europa durchaus imMittel .Zwischenfazit: Wir haben schon ein sehr ausgewoge-nes Gesetz . Es schützt die Gesundheit der Beschäftigtendurch kluge Leitplanken, trägt in einem ausgewogenenMaß zur Wirtschaftlichkeit unserer Betriebe bei underöffnet Möglichkeiten für sozialpartnerschaftlichesHandeln . Letzteres führt zu vielen Arbeitszeitmodel-len in den Betrieben, die auch die Zeitsouveränität derBeschäftigten verbessern . Im Bereich der Schichtarbeitwerden ebenfalls längst Betriebsvereinbarungen abge-schlossen, die die Bedürfnisse der Mitarbeiter berück-sichtigen . Das ergab unter anderem eine Kurzauswertungder Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2010 . Kurzum:Die Linksfraktion läuft nach unserer Auffassung mit ihrerForderung dem Trend hinterher . Die Sozialpartnerschaf-ten sorgen längst für mehr Zeitsouveränität der Beschäf-tigten .Nebenbei: Auch der Gesetzgeber leistet seinen Bei-trag . Stichworte dazu sind das Gesetz zur besseren Ver-einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, das Teilzeitund Befristungsgesetz oder die Regelung im ViertenBuch Sozialgesetzbuch zu Wertguthaben .Eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie in Ihrem Antraggefordert wird, ist dagegen kein sinnvoller Beitrag . Siemag öffentlichkeitswirksam sein und macht etwas her;Uwe Lagosky
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das ist keine Frage . Aber bringt sie uns weiter, wenn esum die Gesundheit der Arbeitnehmer geht? Meine Erfah-rung ist durchaus eine andere . Es geht in den Betriebenin erster Linie darum, Mitarbeitergespräche zu führenund gleichzeitig eine Gefährdungsbeurteilung auf denWeg zu bringen . Das bringt den besten Erfolg bei derVermeidung von psychologischen Belastungen, die mög-licherweise am Arbeitsplatz entstehen . BerufsbedingteBelastungen können so frühzeitig erkannt und abgebautwerden . Gesundes Arbeiten hat viel mit der Betriebskul-tur zu tun . Entscheidend also sind keine neuen Regelun-gen . Entscheidend ist, dass wir die bisherigen Regelun-gen umsetzen, und wir arbeiten daran, das zu tun .
Letzter Werbeblock: Die ehemalige Bundesarbeitsmi-nisterin Dr . Ursula von der Leyen gab bei der Bundes-anstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ein Projektin Auftrag, das Anfang 2014 unter dem Titel „Psychi-sche Gesundheit in der Arbeitswelt – WissenschaftlicheStandortbestimmung“ startete . Seit Juli dieses Jahres lie-gen erste Zwischenberichte vor, die den jeweiligen Standder Erkenntnis in vier Themenfeldern darlegen . Mit demAbschlussbericht und den Handlungsempfehlungen fürbetriebliches Gesundheitsmanagement und den Arbeits-schutz ist für Mitte 2017 zu rechnen .Wir sind für eine wissenschaftliche Begleitung derArbeitsschutzgesetze . Dazu zählt auch das Arbeitszeitge-setz . Hierfür treten wir als CDU/CSU-Fraktion entschie-den ein .Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Arbeitswelt verändert sich, dieWünsche der Beschäftigten aber auch. Arbeit wird fle-xibler, die Arbeitsintensität steigt . Es wurden schon vieleZahlen genannt . Gleichzeitig wünschen sich die Beschäf-tigten mehr Zeit für sich und für ihre Familie, um nichtständig hetzen zu müssen . Die Beschäftigten brauchenmehr Zeitsouveränität; denn Arbeitszeit ist Lebenszeit .
Etwa in dieser Art habe ich im April meine Rede zuunserem Antrag „Mehr Zeitsouveränität – Damit Arbeitgut ins Leben passt“ begonnen . Es freut mich, dass dieFraktion Die Linke diesen Antrag aufmerksam gelesenhat und nun einen eigenen Antrag auf den Weg bringt .Das ist gut . Ich würde mir das auch von den Regierungs-fraktionen wünschen; denn wir müssen die Entwick-lungen in der Arbeitswelt und auch die Wünsche derBeschäftigten an die Arbeitswelt ernst nehmen und poli-tische Antworten darauf finden.
Ein paar Aspekte, auch zum Antrag der Linken:Enorm wichtig gerade für Frauen ist natürlich das Rück-kehrrecht auf Vollzeit, um befristete Teilzeitphasen zuermöglichen . Da sind wir uns einig . Eigentlich steht dasauch im Koalitionsvertrag . Da müssen Sie, die Regie-rungsfraktionen, endlich liefern .
Uns ist das aber zu wenig . Viele Beschäftigte wollen undkönnen nicht vorübergehend ihre Arbeitszeit reduzieren .Aber auch sie brauchen Zeitsouveränität, und zwar in ih-rem täglichen Arbeitsalltag – für die Kinder, für die al-ten Eltern . Vielleicht wollen sie einfach auch nur einmaleinen Tag im Homeoffice arbeiten. Deshalb fordern wir,wie die Linke auch, Betriebsvereinbarungen zu Fragender Vereinbarkeit und mehr Zeitsouveränität . Aber auchdas reicht uns nicht aus . Wir wollen, dass auch die Be-schäftigten ohne Betriebsrat gestärkt werden . Auch siesollen mehr Einfluss darauf nehmen können, wann siearbeiten und wo sie arbeiten . Flexibilität ist keine Ein-bahnstraße . Deshalb wollen wir die Arbeitszeit für dieMenschen beweglicher gestalten .
Geht es um die Arbeitszeit, dann müssen wir natür-lich auch die ganz schwierigen Arbeitsformen in denBlick nehmen . Da ist mir die Arbeit auf Abruf ein ganzbesonderes Anliegen . Bei den Linken wird Arbeit aufAbruf zwar im Feststellungsteil erwähnt, aber im For-derungsteil kommt sie nicht mehr vor . Das hat mich einbisschen irritiert, zumal der Punkt ganz fehlt . Wir Grünestellen in unserem Antrag ganz konkrete Forderungen .Auch Beschäftigte, die auf Abruf arbeiten, brauchenZeitsouveränität . Ihre Arbeitszeit muss deshalb bere-chenbarer werden .
Der Wunsch der Beschäftigten nach mehr Zeit wächstnatürlich auch, weil das Arbeitsleben insgesamt Tempomacht . Notwendig sind Lösungen gegen den steigendenStress am Arbeitsplatz . Hier sind wir uns einig . Spannendin diesem Zusammenhang sind auch die Auswirkungender Digitalisierung . Hier wird es sehr ambivalent . In derdigitalen Arbeitswelt erhalten die Menschen natürlichFreiheit; denn sie können arbeiten, wann und wo sie wol-len. Aber so entsteht natürlich auch Mehrarbeit, häufigunbezahlt, und so verschwimmen noch mehr die Grenzenzwischen Freizeit und Arbeitszeit . Wir fordern deshalbein Mitbestimmungsrecht über die Menge der Arbeit,aber nur bei der Vertrauensarbeitszeit . Sie, die Linken,haben das jetzt übernommen, fordern dies aber ganz pau-schal . Ich bin gespannt, zu erfahren, warum die bisherigeMitbestimmung da nicht mehr ausreichen soll . Das wer-den wir, glaube ich, im Ausschuss diskutieren müssen .Uwe Lagosky
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Zudem fordern Sie das Recht auf Nichterreichbarkeitund verbindliche Ausgleichsregelungen bei Mehrarbeit .Sie schreiben aber nicht, wie das gehen soll . Wir setzenda vor allem auf betriebliche Lösungen . Im Ziel sind wiruns aber wohl einig . Wir wollen zwar Flexibilität ermög-lichen, aber nicht grenzenlose Arbeit; denn Zeitsouverä-nität soll natürlich auch zu mehr Lebensqualität führen .
Ich komme zum Schluss zu der Forderung, die Wo-chenhöchstarbeitszeit auf 40 Stunden zu senken . Das leh-nen wir ab . Mehr Zeitsouveränität und Flexibilität für dieBeschäftigten würden in einem ganz engen und starrenRahmen nicht funktionieren . Die Beschäftigten brauchendie Freiheit, in der einen Woche einmal mehr zu arbeiten,um in der nächsten Woche mehr frei zu haben . Natürlichbrauchen die Beschäftigten den Schutz einer verlässli-chen Rahmengesetzgebung . Wir wollen die Menschenaber nicht einschränken, sondern ihnen individuelle Lö-sungen bei der Arbeitszeit ermöglichen; denn Arbeitszeitmuss in das eigene Leben passen – und nicht umgekehrt .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Michael Gerdes für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeZuschauerinnen und Zuschauer! Erwerbsbiografien ver-laufen heutzutage auf allen Qualifikationsebenen dyna-mischer und vielfältiger, als wir es gewohnt waren . DieAnforderungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerändern sich immer schneller . Die Digitalisierung – Siesprachen es gerade an, Frau Müller-Gemmeke – sprengtklassische Arbeitszeitmodelle . Ob das allerdings mehrFreizeit bedeutet? Ich glaube das nicht . Unsicherheitund Dauerstress drohen . Darauf müssen Unternehmen,der Gesetzgeber und die Gesellschaft als Ganzes reagie-ren . Vor diesem Hintergrund bin ich unserer MinisterinAndrea Nahles sehr dankbar für den Dialogprozess Ar-beiten 4 .0 . Die Abschlusskonferenz im Dezember wirdsicherlich spannend werden .Der Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema Ar-beitsstress enthält gute Analysen, Kollege Klaus Ernst .Es braucht unterschiedliche, gut durchdachte Ansätze,um Arbeit und sich wandelnde Lebensmodelle zu ver-einen . Neben der zeitlichen Komponente wie Wochen-arbeitszeit und Schichtarbeit – ich weiß im Übrigen auseigener Erfahrung, was Schicht- sowie Sonn- und Feier-tagsarbeit an Belastungen bringt – sollten wir aber auchauf die Arbeitsprozesse schauen . Arbeitsaufträge müssenangemessen und in der Arbeitszeit zu schaffen sein. Es istnicht gut, wenn Anforderungen ständig steigen .
Wir als SPD-Fraktion befürworten einen gesetzlichenAnspruch auf befristete Teilzeitarbeit zur Erleichterungder Rückkehr in Vollzeit .
Dazu wollen wir ein Teilzeitrecht entwickeln . Das wäreein erster Schritt in Richtung Zeitsouveränität .Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Arbeitsschutzhat in Deutschland eine lange und gute Tradition . Unseretechnischen Standards sind hoch . Technische Hilfsmit-tel am Arbeitsplatz verringern die körperliche Belastungstetig . Es gelingt immer mehr, Unfälle in den Betriebenzu vermeiden . Sorgen muss uns dagegen die mentaleGesundheit der Erwerbstätigen machen . Seit Mitte der90er-Jahre sind die psychischen Arbeitsanforderungenangestiegen . Sie haben sich auf hohem Niveau stabili-siert . Gleichzeitig ist eine Zunahme des frühzeitigenErwerbsausstiegs und der Arbeitsunfähigkeit aufgrundpsychischer Störungen und Erkrankungen zu beobach-ten . Stress entsteht zum Beispiel durch das Erledigenverschiedener Arbeiten zur gleichen Zeit, durch Termin-druck, häufige Unterbrechungen bei der Arbeit, monoto-ne Tätigkeiten, fehlende Erholungsmöglichkeiten, stän-dige Erreichbarkeit oder Informationsfluten auch in derFreizeit . Letzteres kennen wir als Abgeordnete auch sehrgut; lieber Klaus Ernst, du hast das ja schon angespro-chen . Eine gute mentale Gesundheit wird immer mehrzur Voraussetzung einer dauerhaften sowie erfolgreichenTeilhabe am Erwerbsleben . Auch bei der Flexirente spieltdie Gesundheit eine große Rolle . Deshalb stärken wirPräventions- und Rehaleistungen .
Wir als Parlament können gesunde Arbeitsprozessenicht bis ins kleinste Detail regeln . Es bedarf praxistaug-licher Ansätze direkt im Betrieb . Das Zusammenspielzwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie unterKolleginnen und Kollegen ist gefragt . Trotzdem ist dieForderung nach einer Anti-Stress-Verordnung nicht vomTisch . Die SPD-Fraktion ist nach wie vor von dieser Ideeüberzeugt, lieber Kollege Uwe Lagosky .
Unsere Arbeitswelt braucht Grundregeln zumUmgang mit mentalen Belastungen . Die vielzitierteWork-Life-Balance darf kein Modewort ohne Inhalt sein .Wir müssen anerkennen, dass Menschen unterschiedlichstark belastet sind und Herausforderungen unterschied-lich bewältigt werden . Beruf, Privatleben und auch dasEhrenamt sollen unter einen Hut passen, und dafür brau-chen wir unterschiedliche Modelle der Arbeitsorganisa-tion .Gutes Personalmanagement heißt auch betrieblichesGesundheitsmanagement .
Beate Müller-Gemmeke
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Hierbei ist es wichtig, dass Gesundheitsmanagementnicht nachgelagert repariert, sondern vorausschauendProbleme erkennt .
So wie wir wissen, dass sitzende Tätigkeiten Problemefür Nacken und Rücken mit sich bringen, so muss in denBetrieben thematisiert werden, an welcher Stelle Mitar-beiter psychischem Druck ausgesetzt sind . Dabei sindPersonal- und Betriebsräte als Sozialpartner gefordert .Mit ihrer Kompetenz spielen sie eine wichtige Rolle auchbei der Überwachung der Einhaltung des Arbeitszeitge-setzes .Unterm Strich geht es beim zeitgemäßen Personal-und Gesundheitsmanagement um systematische Fürsor-ge . Psychische Belastungen im Erwerbsleben müssenraus aus der Tabuzone . Vielerorts werden stressbeding-te Arbeitsausfälle unterschätzt . Deshalb wäre eine An-ti-Stress-Verordnung auf jeden Fall das richtige Signal,um in den Betrieben und aufseiten der Erwerbstätigen ei-nen professionellen, wertschätzenden Umgang mit Zeit-und Leistungsdruck anzustoßen . Dabei haben Großbe-triebe in puncto Prävention und Gefährdungsbeurteilunglogischerweise andere Ressourcen zur Verfügung alskleine und mittlere Unternehmen . Deshalb müssen wirverstärkt überlegen, welche Hilfestellung wir Arbeitge-bern und Arbeitnehmern in kleinen Betrieben anbietenkönnen .Mit Blick auf Digitalisierung und Flexibilisierungkommt der allgemeinen Gesundheitskompetenz jedesEinzelnen eine höhere Bedeutung zu . Aufklärung undSensibilisierung über mentale Gesundheitsgefährdun-gen machen Sinn . Einmal im Jahr für fünf Minuten vomBeauftragten für Arbeitsschutz Besuch zu bekommen,reicht sicherlich nicht aus .
Wir müssen Erwerbstätige zu gesunder Arbeit befähigen;auch das sollte Teil unserer Strategie sein .
Ein Letztes . Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich binüberzeugt, dass beruflicher Stress anders wahrgenommenund überwunden wird, wenn der Arbeitsalltag gewisseSicherheiten und Chancen mit sich bringt . Damit mei-ne ich zum Beispiel ein unbefristetes Arbeitsverhältnis .Wer sicher ist, dass sein Job Perspektiven bietet, und sicheben nicht im Jahresrhythmus nach einer neuen Arbeits-stelle umschauen oder sich in immer neuen Probephasenbeweisen muss, hat weniger Stress .
Auch deshalb sind neue Regeln bei Leiharbeit und Werk-verträgen eine gute Sache .Herzlichen Dank und Glück auf!
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Schmidt für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebes Präsidium! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir redenheute wieder einmal über Arbeitszeit, Arbeitsschutz, Ar-beitnehmerrechte . Es scheint überhaupt die Woche desunterdrückten, geknechteten Proletariats zu sein:
gestern die Leiharbeiter und die Menschen mit Behinde-rung, heute die Vielarbeiter und die Gestressten .
– Sachlich, gerne . – Wir haben zum Glück die Opposi-tion,
die sich um kürzere Arbeitszeiten für alle kümmert .
So, jetzt schalte ich den Ironiemodus einmal aus .Der vorliegende Antrag ist einseitig und blendet dieRealität der Arbeitswelt aus .
Arbeit ist keine Einbahnstraße – das versteht die Oppo-sition eben nicht –; Arbeitnehmer und Arbeitgeber habennaturgemäß unterschiedliche Wünsche und Vorstellun-gen . Um diese auszuhandeln, gibt es aus gutem Grund dieTarifpartner . Sie kommen ihrer Aufgabe seit fast 70 Jah-ren nach, mit dem Ergebnis einer florierenden Wirtschaft,eines partnerschaftlichen Verhältnisses der Akteure undweitestgehend zufriedener Arbeitnehmer .
Die Aufgabe der Politik ist es, Leitplanken zu schaf-fen, die für beide Seiten passen und den Bedürfnissen derArbeitnehmer und Arbeitgeber gerecht werden .
Beide gehören untrennbar zusammen; aber das scheintdie Opposition gerne zu ignorieren .
Der Gesetzgeber muss nur dort Schutzgesetze erlassen,wo Arbeitnehmerrechte verletzt werden . Schutzgesetzegibt es eine ganze Menge; davon haben wir durch denKollegen Lagosky schon gehört .Michael Gerdes
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Eine zwangsweise Umverteilung der Arbeit und dieForderung nach kürzeren Arbeitszeiten gehen an derRealität vorbei . Auch ich erinnere an die Debatte vom28 . April dieses Jahres, bei der wir den Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen zu mehr Zeitsouveränitätdiskutiert haben . Dort wurde zum Beispiel kritisiert, dass1,35 Milliarden Stunden nicht geleistet werden, weil dieWünsche der Beschäftigten nach mehr Arbeit nicht be-rücksichtigt werden . Ja was denn nun? Was stimmt dennnun? Es gibt Leute, die mehr arbeiten wollen, und es gibtMenschen, die weniger arbeiten wollen . Wir brauchenalso keine gesetzlichen Vorschriften, wie im Antrag derFraktion Die Linke gefordert, sondern größtmöglicheFlexibilität und eine gesunde Balance zwischen Arbeits-gestaltung und Lebensführung der Arbeitnehmer auf dereinen Seite und den Arbeitgeberinteressen auf der ande-ren Seite .
Die Opposition unterschlägt – nicht nur heute – diebereits ergriffenen Maßnahmen,
die die Arbeitsbedingungen und damit die Lebenssitua-tion von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und dieVereinbarkeit von Familie, Beruf und Freizeitgestaltungverbessern . Ich werde deshalb nicht müde, Sie an diesezu erinnern: an den Ausbau der Kindertagesstätten für dieVersorgung der Kinder während der Arbeitszeiten, an dieMilliarden Euro für Kitas und andere Familieninfrastruk-turmaßnahmen, an das Elterngeld Plus, an die Familien-pflegezeit. Das sind die richtigen Antworten.
– Warten Sie einmal, bis Sie ins Krankenhaus kommen,Herr Ernst . Dann sind Sie froh, wenn am Sonntag einerarbeitet .
– Ja, ich mache einfach weiter . Man kann nur warten, bises vorbei ist .
Wir haben die richtigen Antworten auf die Herausfor-derungen, und wir haben die richtigen Maßnahmen, umauf individuelle Bedürfnisse der Arbeitnehmer zu reagie-ren. Wir schaffen den sozialen Ausgleich,
und der im Koalitionsvertrag vereinbarte Rechtsanspruchauf Rückkehr aus Teilzeit in die frühere Arbeitszeit wirdfolgen .In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen,ist die Rede davon, dass insbesondere Frauen „sich oftunfreiwillig mit einer Teilzeitstelle begnügen“ müssen .Es scheint einfach nicht in Ihr Weltbild zu passen, dasssich ganz viele Arbeitnehmer und besonders viele Frauenfreiwillig für Teilzeit entscheiden .
Sie reden von der Teilzeitfalle . Das wird durch ständigesWiederholen nicht richtiger .
Was ist denn so schlecht daran, wenn sich Frauen undMänner auf freiwilliger Basis und in Absprache mit denArbeitgebern für Teilzeitarbeit entscheiden, um mehrZeit für die Familienarbeit zu haben?In Ihrem Antrag fordern Sie weiter ein definiertesRecht auf Nichterreichbarkeit außerhalb der Arbeitszei-ten . Sehr gut! Laut § 5 des Arbeitszeitgesetzes müssenArbeitnehmer nach Beendigung der täglichen Arbeitszeiteine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stun-den haben; das haben wir heute schon gehört . Das ist gutund richtig . Deswegen braucht es keinen neuen Antrag .Vielleicht müssen wir uns auch einmal selbstkritisch andie eigene Nase fassen: Wer von uns packt das Smart-phone am Wochenende weg oder checkt am Sonntagkeine EMails? Diese Frage betrifft nicht nur MdBs, son-dern auch Arbeitnehmer, vielleicht auch unsere eigenenMitarbeiter .
Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, in seiner Frei-zeit erreichbar zu sein, von ganz wenigen begründetenAusnahmen abgesehen . Und es gibt etliche Firmen, dieihren Angestellten geradezu verbieten, in der Freizeit zuarbeiten .Was mir an diesem Antrag zuwiderläuft, ist erneutdiese Gleichmacherei . Man kann nicht alle über einenKamm scheren .
Es gibt nicht die Wirtschaft und die Unternehmen . Viel-mehr gibt es einige Millionen Familienbetriebe undKleinunternehmen . Der Mittelstand ist das Rückgratunserer Wirtschaft und stellt den größten Teil der Ar-beitsplätze . Er behandelt seine Arbeitnehmer gut . JederArbeitgeber hat ein Interesse daran, dass es seinen Ar-beitnehmern gut geht . Die zwangsweise Umverteilungder Arbeit wäre ein Rückschritt .Über Stress haben wir heute auch schon sehr viel ge-hört . Stress lässt sich aber nicht verallgemeinern .
Gabriele Schmidt
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Hier wollen die Linken Ungleiches gleich behandeln .Stress ist extrem subjektiv . Sie zum Beispiel, Herr Ernst,scheinen Stress zu haben, wenn ich rede .
– Ich freue mich, wenn ich Sie erfreuen kann . – Stressmachen wir uns oft auch selbst. Einer empfindet schonStress, wenn der Kollege noch locker weiterläuft . Stressist übrigens nicht nur durch die Arbeit begründet .Ich halte eine Anti-Stress-Verordnung für wenig prak-tikabel . Sie löst das Problem nicht, sorgt aber für mehrBürokratie und Belastung der Arbeitgeber . Damit wärekeinem geholfen . Schon das geltende Arbeitsschutzge-setz enthält Maßnahmen zum Schutz der psychischenGesundheit der Mitarbeiter: Arbeitgeber sind verpflich-tet, solche Maßnahmen zu treffen; das entspricht § 3 desArbeitsschutzgesetzes . Psychische Gesundheitsbeurtei-lung ist auch geltendes Recht, geregelt in § 5 des Arbeits-schutzgesetzes . Behörden sind in der Lage, gegenüberArbeitgebern Anordnungen zu treffen und Bußgelder zuverhängen; das steht in den §§ 22 und 25 des Arbeits-schutzgesetzes . Außerdem gibt es bereits Mitbestim-mungsrechte des Betriebsrats . – Ich belasse es einmaldabei .Das Beste aber habe ich mir für den Schluss aufgeho-ben – Zitat aus dem Antrag –:Initiativen für mehr Zeitsouveränität und kollektiveArbeitszeitverkürzungen– das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen –müssen die Arbeitgeber bei der Finanzierung desLohnausfalls in die Pflicht nehmen.Super, ehrlich! Was kommt als Nächstes? Null Arbeits-zeit bei vollem Lohnausgleich?
Vor Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Ar-beitgeber und Arbeitnehmer geschützt werden . Mit IhrerPolitik zerstören Sie den Mittelstand, und damit ist nie-mandem geholfen .Ich wünsche allen ein stress- und arbeitsfreies Wo-chenende . Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Die Vorredner und Vorrednerinnen haben natürlich anvielen Stellen recht – Kollege Ernst, natürlich, an man-chen –; Herr Gerdes hat auch schon viel Richtiges gesagt .Wir wissen aufgrund der guten Daten, wie es den Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht und dass derMarkt an vielen Stellen in Unordnung geraten ist . Wennman eines dieser Koalition nicht vorwerfen kann, danndas, dass sie nicht viel auf den Weg gebracht hat, was fürmehr Sicherheit sorgt .
Die Verkürzung der Arbeitszeit alleine macht nichtgute Arbeit und gutes Leben aus .
Insofern ist mit dem Antrag ein wenig monokausal ge-dacht . Gesundheit setzt sich aus vielen Faktoren zusam-men: dem Status der Bildung, dem Erholungsverhalten,den Lebensverhältnissen . Deswegen bleibt Verhältnisprä-vention eine Aufgabe .
Hier haben wir von der Bildung bis zum Thema „guteArbeit“ eine Menge auf den Weg gebracht; die Kollegenhaben das bereits erwähnt .Wir müssen uns immer wieder Gedanken darüber ma-chen, warum das untere Fünftel der Einkommensbezie-her nicht nur eine kürzere Lebenserwartung hat, sondernsich bei ihnen auch eine Reihe chronischer Erkrankungeneinstellen, die die Lebensqualität beeinträchtigen . Es sindverlorene Jahre, über die wir hier reden . Das erwähne ichimmer wieder, weil es wichtig ist, einen Blick auf dieseGruppe zu werfen . Hier setzt nicht zuletzt das Präventi-onsgesetz im Setting an . Ich komme nur kurz darauf zusprechen . Ich habe nur schlappe fünf Minuten Redezeit;deswegen kann ich nicht alles kommentieren .Bezogen auf die Arbeitsdauer erleben wir natürlichbeides, Mehrarbeit, die viele machen, auch unbezahlt,aber auch Teilzeitarbeit . Es gibt natürlich mehr Schicht-arbeit, mehr Nachtarbeit, auch Frauen betreffend, bei de-nen durch die Rollenvielfalt ein gesundheitsgefährdenderFaktor hinzukommt . Insofern: Wir haben schon viel ge-macht; aber es ist auch noch viel zu tun .Durch den Mindestlohn zum Beispiel, der bei 3,6 Mil-lionen Arbeitnehmern zu einer Verdoppelung ihres Ein-kommens geführt hat – das war nur der Anfang –, wirdaufgrund der Dokumentationspflichten vieles aufgedeckt.Auch das sind Daten, mit denen wir zu arbeiten haben .
Wenn Sie die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnenfragen, was für sie gute Arbeit ausmacht – das ist vomBundesamt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin abge-fragt worden –, dann steht für sie an oberster Stelle dieSicherheit: der sichere Arbeitsplatz, das sichere, verläss-liche Einkommen . Arbeit soll abwechslungsreich undsinnvoll sein . Es geht um die gegenseitige Förderung,das Miteinander, auch um den Gesundheitsschutz am Ar-beitsplatz; darauf komme ich noch zu sprechen . InsofernGabriele Schmidt
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ist es wichtig, dass wir uns im Moment zum Beispiel mitder Leiharbeit und den Werkverträgen beschäftigen .
Gestern wurde ein Gesetz eingebracht, das den Betriebs-räten hier mehr Verantwortung und mehr Mitsprache-recht einräumt . All die anderen Gesetze – zur Zeitsouve-ränität, zur Flexirente – wurden schon erwähnt .Schade ist, dass wir die Abschaffung der sachgrundlo-sen Befristung von Arbeitsverhältnissen nicht im Koaliti-onsvertrag verankern konnten . Das bleibt eine Aufgabe –ein ganz wichtiger Punkt –, und es deckt sich mit dem,was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fordern .
– Ja, das sei Ihnen zugestanden .Ich will aber auch sagen, dass wir vieles schon haben .Dazu gehört nicht nur die Gemeinsame Deutsche Arbeits-schutzstrategie von Bund, Ländern und der gesetzlichenUnfallversicherung, sondern auch das Präventionsgesetz,mit dem wir die Betriebsräte und die Betriebsärzte ge-stärkt haben .Wir müssen uns natürlich mit den Ursachen von Früh-verrentung befassen . Erwerbsunfähigkeitsrentner tretenheute im Durchschnitt mit gut 50 Jahren in die Rente ein .Die Kosten für die Rentenversicherung liegen bei über15 Milliarden Euro . Das ist eine hohe Summe . Damites Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besser geht,müssen wir den Betrieb als Setting – so sagt es das Prä-ventionsgesetz – jetzt mit allen Möglichkeiten nutzen . Esgibt dafür mehr Geld . Diesen Bereich können wir stär-ken, und damit auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8724 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 28 . September 2016, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende .