Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, darf ich Sie bit-ten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen undBürger unseres Landes haben die Nachrichten von demschweren Erdbeben, das am 26. Januar ganze Städte imWesten Indiens dem Erdboden gleichgemacht hat, mittiefer Erschütterung und Anteilnahme aufgenommen.Wir sind bestürzt über das unendliche menschlicheLeid und die großen materiellen Schäden. Wir hoffen,dass die Rettungsmaßnahmen der internationalen Ge-meinschaft auch unter deutscher Beteiligung das akuteElend etwas mildern können.Den zahlreichen medizinischen Helfern, dem RotenKreuz, dem Technischen Hilfswerk und den vielen Unge-nannten, die selbstlos Hilfe leisten, spreche ich hiermitunseren Respekt und unsere Anerkennung aus, den soschwer getroffenen Menschen in der indischen ProvinzGujarat unser tief empfundenes Mitgefühl.Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren Plätzen er-hoben. Herzlichen Dank.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wireine Nachwahl im Vermittlungsausschuss vornehmen:Die Kolleginnen Gudrun Schaich-Walch und UllaSchmidt scheiden als ordentliche Mitgliederaus. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der SPD die Kol-legin Hildegard Wester und den Kollegen FranzThönnes, der bisher stellvertretendes Mitglied war, vor.Als neues stellvertretendes Mitglied wird der KollegeOlaf Scholz vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kol-legin Wester und der Kollege Thönnes als ordentlicheMitglieder und der Kollege Scholz als stellvertretendesMitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt.Sodann möchte ich Sie davon unterrichten, dass dieBundesregierung eine Deutsche Stiftung Friedensfor-schung errichtet hat. Dem Stiftungsrat gehören satzungs-gemäß auch drei Mitglieder des Deutschen Bundestagesan. Die Fraktionen der SPD und der CDU/CSU habenhierfür die Kollegen Heinz Schmitt , WinfriedNachtwei und Werner Lensing benannt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-tung der Bundesregierung zu den Äußerungen von Bun-desminister Müller zur vorgesehenen Änderung des Be-triebsverfassungsgesetzes
2. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Änderung futtermittelrechtlicher, tierkörper-beseitigungsrechtlicher und tierseuchenrechtlicher Vorschrif-
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne-ten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN: Neuausrichtung der Agrarpolitik: Offensive für denVerbraucherschutz – Perspektiven für die Landwirtschaft– Drucksache 14/5228 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus W. Lippold
, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Albert Deß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Verbraucher-schutz muss Gesundheitsschutz sein – ZukunftsfähigeLandwirtschaft ermöglichen – Gegen BSE mit einem ver-netzten Bekämpfungsplan vorgehen –Drucksache 14/5222 –14517
149. SitzungBerlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001Beginn: 9.00 UhrÜberweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss5. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-
CDU/CSU: Sofortprogramm zur Abwehr von Gefah-ren durch BSE– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, DetlefParr, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der F.D.P.: Vorrang für einen vorsorgenden Ver-braucherschutz bei der Bekämpfung von BSE– zu dem Antrag der Abgeordneten Kersten Naumann,Dr. Ruth Fuchs, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDS: Soforthilfsprogramm fürdurch die BSE-Krise betroffene Kommunen undLandwirte einrichten– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Klares Kon-zept zur Bekämpfung von BSE notwendig– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Weisheit,Brigitte Adler, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,Steffi Lemke, Kerstin Müller , Rezzo Schlauch undder Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: BSE-Bekämpfung konsequent ausbauen– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich,Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der F.D.P.: Verbraucher vor BSEschützen – Landwirten helfen – Drucksachen 14/4778
, 14/4852, 14/4924, 14/5079, 14/5085, 14/5097,
14/5234 –Berichterstattung:Abgeordnete Heidemarie WrightUlrike HöfkenAlbert DeßMarita Sehn6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Pläne der Bundesregierung zum Aufbau Ost angesichts derKontroverse innerhalb der SPD zur Situation in den neuenBundesländern
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: A 6 mo-dellhaft ausbauen – Deutschlands Fernstraßennetz für Eu-ropa fit machen – Drucksache 14/5229 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz Thönnes,Dr. Margit Wetzel, Dr. Ditmar Staffelt, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten WernerSchulz , Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch undder Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Ent-wicklung der Ostseeregion nachhaltig stärken – Drucksache14/5226 –9. Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher,Gerhard Schüßler, Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abge-ordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zurÄnderung des Einkommensteuergesetzes
– Drucksache
14/5233 –Überweisungsvorschlag:FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Des Weiteren sollen die Tagesordnungspunkte 4 a bis eund 13 abgesetzt werden. Außerdem soll der Tagesord-nungspunkt 18 – Kriegsfolgenbeseitigung in den neuenLändern – vorgezogen und heute nach Tagesordnungs-punkt 12 – Strafrechtsänderungsgesetz – beraten werden.Darüber hinaus mache ich auf eine geänderte Über-weisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Die in der 144. Sitzung des Deutschen Bundestages er-folgte Überweisung des nachfolgenden Gesetzentwurfsan den Ausschuss für Ernähung, Landwirtschaft und Fors-ten soll gestrichen werden.Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zum Sozial-gesetzbuch – Neuntes Buch – Rehabi-litation und Teilhabe behinderter Menschen– Drucksache 14/5074 –überwiesen:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungHaushaltsausschussSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Bevor wir mit der Debatte beginnen, möchte ich nochdem Kollegen Eckhart Pick, der heute seinen 60. Ge-burtstag feiert, und dem Kollegen Karl Diller, der am27. Januar ebenfalls seinen 60. Geburtstag feierte, im Na-men des Hauses sehr herzlich gratulieren.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f sowie dieZusatzpunkte 2 bis 5 auf:3 a) Abgabe einer Erklärung der BundesregierungNeuorientierung der Verbraucher- und Agrar-politikb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaBurchardt, Heidemarie Wright, Christel Deichmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, Winfried Hermann, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Präsident Wolfgang Thierse14518
Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume– Drucksache 14/4544 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Tourismusc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungRahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der Agrarstruktur und des Küsten-schutzes“ für den Zeitraum 2000 bis 2003– Drucksache 14/3498 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschussd) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung über die künftigeGestaltung der Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der Agrarstruktur und des Küsten-schutzes“ hier: Rahmenplan 2001 bis2004– Drucksache 14/4472 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschusse) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung „Politik für länd-liche Räume“Ansätze für eine integrierte regional- undstrukturpolitische Anpassungsstrategie– Drucksache 14/4855 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionf) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenKersten Naumann, Eva Bulling-Schröter, Dr. RuthFuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDSPolitik der Bundesregierung für den ländlichenRaum– Drucksachen 14/3360, 14/4896 –ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungfuttermittelrechtlicher, tierkörperbeseitigungrecht-licher und tierseuchenrechtlicher Vorschriften im
– Drucksache 14/5219 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten WaltraudWolff , Heino Wiese (Hannover),Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der Abgeordneten UlrikeHöfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller ,Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENNeuausrichtung der Agrarpolitik: Offensivefür den Verbraucherschutz – Perspektiven fürdie Landwirtschaft– Drucksache 14/5228 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. KlausW. Lippold , Heinrich-WilhelmRonsöhr, Albert Deß, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUVerbraucherschutz muss Gesundheitsschutzsein – Zukunftsfähige Landwirtschaft ermögli-chen – Gegen BSE mit einem vernetztenBekämpfungsplan vorgehen– Drucksache 14/5222 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Präsident Wolfgang Thierse14519
– zu dem Antrag der Abgeordneten AnnetteWidmann-Mauz, Horst Seehofer, WolfgangLohmann , weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSUSofortprogramm zurAbwehr von Gefahrendurch BSE– zu dem Antrag der Abgeordneten UlrichHeinrich, Detlef Parr, Gudrun Kopp, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Vorrang für einen vorsorgenden Verbrau-cherschutz bei der Bekämpfung von BSE– zu dem Antrag der Abgeordneten KerstenNaumann, Dr. Ruth Fuchs, Rolf Kutzmutz, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der PDSSoforthilfsprogramm für durch die BSE-Krise betroffene Kommunen und Land-wirte einrichten– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSUKlares Konzept zur Bekämpfung von BSEnotwendig– zu dem Antrag der Abgeordneten MatthiasWeisheit, Brigitte Adler, Ernst Bahr, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Ulrike Höfken, SteffiLemke, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENBSE-Bekämpfung konsequent ausbauen– zu dem Antrag der Abgeordneten UlrichHeinrich, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Verbraucher vor BSE schützen – Landwir-ten helfen– Drucksachen 14/4778 , 14/4852,14/4924, 14/5079, 14/5085, 14/5097,14/5234 –Berichterstattung:Abgeordnete Heidemarie WrightUlrike HöfkenAlbert DeßMarita SehnZur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsan-trag der Fraktion der F.D.P. und zur Großen Anfrage zur„Politik der Bundesregierung für den ländlichen Raum“ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache im Anschluss an die Regierungserklärungzwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährungund Landwirtschaft, Renate Künast.Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
BSE-Skandal markiert das Ende der Landwirtschaftspoli-tik alten Typs. Wir stehen alle – und zwar im wahrstenSinne des Wortes wirklich alle in diesem Hause – vor ei-nem Scherbenhaufen. Da kann sich niemand ausnehmen.Die Bundesregierung hat reagiert. Es hat zunächst einmaleine Organisationsentscheidung gegeben, die zur Schaf-fung des Ministeriums für Verbraucherschutz, Ernährungund Landwirtschaft führte. Wir haben damit auf den Ver-lust des Vertrauens der Verbraucher in die Qualität unsererNahrungsmittel reagiert. Andere Länder praktizieren dasimmer noch anders, sie praktizieren immer noch eine Tren-nung zwischen Landwirtschaft und Verbraucherschutz.Wir setzen mit dieser Verbindung von beidem einen Mei-lenstein für eine andere Politik. Ab sofort heißt es: Wirschützen die Verbraucher und nicht den Verbrauch oder dieMasse des Verbrauchs eines Gegenstandes.
Wir machen diese Politik nicht gegen die Bauern, sondernsagen ganz klar, dass in dieser Politik die Zukunft derdeutschen Landwirte liegt.
Es wird aber nicht nur um Landwirtschaftspolitik ge-hen, sondern um Verbraucherpolitik im breiten Sinne. Wirhaben das unter einem Dach gebündelt, um den Verbrau-chern einen Ansprechpartner zu geben, wenn es um ge-fährliche Stoffe, besonders gefährdete Menschen und denSchutz der wirtschaftlichen Interessen der Konsumentengeht. Wir praktizieren in Zukunft den vorsorgenden Ver-braucherschutz.Ich will Ihnen auch sagen, wie wir das machen: Dervorsorgende Verbraucherschutz wird zu einer Aufgabeder gesamten Bundesregierung werden; er wird in allenRessorts bestens aufgehoben sein. Ich werde zusammenmit dem Bundeswirtschaftsminister den Verbraucher-schutz im E-Commerce unterstützen; wir werden dafürsorgen, dass Verbraucher vor unseriösen Anbietern undvor riskanten Finanzdienstleistungen geschützt werden.Zusammen mit dem Bundesfinanzminister werden wirdie Verbraucherinnen und Verbraucher umfassend überalle praktischen Fragen bei der Einführung des Euro alsBargeld informieren. Ich werde zusammen mit der Minis-terin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Informationen über fairen Handel mit den Entwick-lungsländern, zusammen mit der Bundesgesundheits-ministerin Orientierungen über Wechselwirkungen vonErnährung und Gesundheit und zusammen mit dem Bun-desbauminister Informationen zu umweltfreundlichemund preisgünstigem Bauen geben. Wir werden Aktionenzur Reduzierung der Schadstoffbelastung bei Lebensmit-teln ergreifen und uns wirklich auch mit dem For-schungsbereich „Gesundheitsorientierte Ernährung“ be-schäftigen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Präsident Wolfgang Thierse14520
Das Ganze wird durch die Einrichtung eines Bundes-amtes fürVerbraucherschutz und Lebensmittelsicher-heit gekrönt. All den diffundierenden und zerstreuten Zu-ständigkeiten werden wir ein Ende machen; es wird eineBehörde geschaffen werden, in der die Bewertung der Ri-siken und nachher die Kommunikation mit und die Infor-mation der Öffentlichkeit tatsächlich in einer Hand liegen.Dann haben Bund und Länder am Ende nur noch dasKrisenmanagement zu regeln. Auch dieses wird ein Mei-lenstein unserer Politik sein.Nun zum Thema Ernährung: Im Augenblick stehenbeim Verbraucherschutz die Punkte, die ich gerade aufge-zählt habe, nicht an erster Stelle. Wir alle beschäftigen unsim Wesentlichen mit dem Thema Ernährung. Man kannsagen, die Diskussionen darüber wurden nie so ernsthaftgeführt wie jetzt; man kann auch sagen, in diesen Tagenempfindet die Republik ein Schaudern über sich selbst.
Nie zuvor haben wirklich alle – damit meine ich auch diealte Agrarlobby –
so intensiv auf die Missstände und Begleiterscheinungeneiner Agrarpolitik geblickt, die in Massen- und Über-produktion und unverantwortlicher Tierhaltung ihrenNiederschlag fanden. Man kann wirklich sagen: BSE hatuns jetzt aus dem Alltagstrott des unbedachten Massen-konsums herauskatapultiert.
Sie von der CDU/CSU können ruhig kritische Zwi-schenrufe machen; es bleibt dabei: Von allen Veranstal-tungen landauf und landab, von denen ich höre, wird ei-nes immer berichtet: nämlich dass die CDU/CSUoffensichtlich ihre Rolle als Interessenvertreter der Land-wirte verloren hat. Ich weiß auch, warum.
Wir setzen auf die Agrarwende. Der Maßstab dabei istKlasse statt Masse. Das ist das Neue. Wir dürfen uns keineIllusionen darüber machen – das wissen alle –, dass die-ser Prozess schnell vonstatten gehen könnte. Wir spürenalle, dass wir in einem langen und steinigen Tal sind, daswir nicht morgen durchschritten haben werden. Die neueLandwirtschaftspolitik braucht ihre Zeit.Wovon hängt der Erfolg ab? Davon, dass wir jetzt be-ginnen, dass wir entschlossen handeln und dass möglichstviele mitmachen. In den letzten drei Wochen habe ich ei-nes festgestellt: Es gibt sechs Akteure, die bereit sind mit-zumachen. Wir werden sehen, ob sich auch ein Teil desHauses endlich dazu bewegen lässt.Wer sind die sechs Akteure? Die Verbraucherinnen undVerbraucher, die Landwirte, die Futtermittelindustrie, dieLebensmittelindustrie, der Einzelhandel und – Sechsterim Bunde – die Politik.
Man kann sagen, die sechs bilden so etwas wie das magi-sche Sechseck der Agrarwende.
Ich will etwas zu den Aufgaben sagen, die diese bei derAgrarwende jeweils haben.Zu den Verbrauchern. Jetzt haben sie die Wahl. Wirwerden den Verbrauchern in Zukunft durch zwei Label,durch zwei Qualitätszeichen, Orientierung geben. Daserste Qualitätszeichen wird das Zeichen für den ökologi-schen Landbau sein. Wir wollen und werden den ökologi-schen Landbau in zehn Jahren auf einen Anteil von20 Prozent bringen.
Das zweite Qualitätszeichen steht für die konventio-nelle Landwirtschaft, aber auch dafür, dass dort Mindest-standards eingehalten werden, zum Beispiel die artge-rechte Tierhaltung, dass Medikamente in Zukunft nichteinfach prophylaktisch durch den Stall gestreut werden,sondern dass sie nur bei Krankheit gegeben werden. Die-ses Qualitätszeichen steht auch für Produkte aus der Re-gion. Die Verbraucher werden in Zukunft über die Qua-lität ihrer Nahrungsmittel entscheiden können, weil wirihnen die Informationen geben.
Zum Einzelhandel. Ihm kommt eine herausragendeRolle zu; denn 80 Prozent aller Lebensmittel werden inSupermärkten gekauft. Die Agrarwende kann erst dannwirklich gelingen, wenn die großen Ketten den Wettbe-werb nicht länger auf die Frage konzentrieren, wer die bil-ligste Milch anbietet, sondern wenn endlich gesagt wird:Wir wollen ökologische Produkte aus der Nische heraus-holen. Was zählt, ist Qualität.
Viele machen sich Sorgen darüber, ob die neuen Pro-dukte dann bezahlbar sind. Ich sage Ihnen ganz klar: Wirwerden dafür Sorge tragen, dass sie bezahlbar sind, weildas auch eine Frage der Menge, der Vermarktung und imÜbrigen eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist.
Zu der Dritten im Bunde, der Lebensmittelindustrie.Wir werben für eine Partnerschaft zwischen Lebens-mittelindustrie und den Bauern. Wir wollen, dass dieLebensmittelindustrie über eine Qualitätsoffensive auchdas Einkommen der Bauern in Zukunft sichert. Die Bau-ern dürfen nicht mehr der billige Jakob sein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Bundesministerin Renate Künast14521
Eines muss auch für die Lebensmittelindustrie klar sein:Wer in Zukunft unterhalb des Niveaus der beiden be-schriebenen Qualitätslabel produziert, hat einen gravie-renden Wettbewerbsnachteil.
Auch die Futtermittelindustrie gehört in das Sechseck.Gutes Futter ist die Voraussetzung für neue und gute Qua-lität. Wir werden für die offene Deklaration, für eine Po-sitivliste für Futtermittel sorgen. Wir werden dafür Sorgetragen, dass es vom Futtermittelhersteller über den Stallund über die Verarbeitung bis zur Ladentheke eine glä-serne Produktion gibt. Wir werden dazu notfalls die Stra-fen im Futtermittelrecht erhöhen.
Schließlich zu den Bauern. Manche haben in den letz-ten Wochen dazu beigetragen, dass der Eindruck entstan-den ist, die Bauern allein seien an der Krise schuld. Dasist ausdrücklich nicht so.
Durch die Agrarwende wird die Chance geschaffen,dass die Bauern jetzt auf Klasse statt auf Masse setzen. Eswird in Zukunft nicht mehr darauf ankommen, ob mangroße oder kleine Betriebsstrukturen hat. Wir brauchenbeides, große und kleine Betriebsstrukturen, in denen ent-weder nach den Regeln des ökologischen Landbaus odernach den neuen Regeln und Mindeststandards für diekonventionelle Landwirtschaft gewirtschaftet wird.Ich will eines ganz klar sagen: Die Bauern haben seitJahren unter dem Strukturwandel gelitten. Wir werden ih-nen jetzt eine klare Perspektive hin zu ökologischer undregionaler Produktion geben.
Damit wird sichergestellt, dass die Natur, die keinen An-walt und keine sehr große Lobby hat, ein potenziellerBündnispartner der Landwirte ist. Wenn wir es schaffen,mehr direkte und regionale Vermarktung zu praktizie-ren, dann erreichen wir damit, dass die Wertschöpfung inder Region – zum Beispiel bei den Bauern – bleibt.
Nun zu uns, zur Politik. Die Frage ist doch, ob die Po-litik in der Lage ist, ihre Verantwortung zu übernehmen.Wir haben bisher das dringend Notwendige dazu getan– ich zähle Ihnen die beiden Maßnahmen auf –:Wir haben zum einen die von mir beschriebenen Ak-teure wiederholt an einen Tisch geholt. Wir haben am letz-ten Dienstag mit allen – also auch mit der Lebensmittel-industrie, mit den Bauern und mit dem Einzelhandel – ineiner Runde darüber geredet, wie es weitergeht, und dabeifestgestellt, dass wir aus diesem langen, dornigen Tal nurgemeinsam herauskommen. Es ist an diesem Dienstag-abend etwas gelungen, wovon wir lange Zeit nur geträumthaben: Alle an diesem Tisch Versammelten haben gesagt:Wir machen mit, weil wir nur gemeinsam aus diesem Talherauskommen. – Wir werden in den nächsten Wochengemeinsam ein Programm entwickeln, um die Fleisch-qualität in der Bundesrepublik sicherzustellen. Das ist eingroßer Zukunftsschritt für die Landwirtschaft.
Wir haben alle Gruppen an einen Tisch geholt; wir wollengemeinsam handeln. Ein getrenntes Vorgehen ist nichtmehr möglich.Wir haben zum anderen 1 Milliarde DM für Maßnah-men zur BSE-Bekämpfung zur Verfügung gestellt, für dievoraussichtlich 2 Milliarden DM aufgebracht werdenmüssen. Schwerpunkte sind die Herauskaufaktion unddie Beseitigung der Altbestände des verbotenen Tier-mehls. Manche sagen nun, die Herauskaufaktion sei nureine Marktbereinigungsmaßnahme. Aber machen wir unsdoch nichts vor: Diese Maßnahme wäre nicht notwendiggewesen, wenn es die BSE-Krise nicht gäbe. Dadurchkam es zu einem Einbruch auf dem Rindfleischmarkt, waszur Existenzbedrohung für die Landwirte führte. Wir rea-gieren darauf, indem wir 362 Millionen DM für die He-rauskaufaktion zur Verfügung stellen. Damit schaffen wirEntlastung in den Ställen der Landwirte, die auch unterTierschutzgesichtspunkten notwendig ist.
Ich habe gestern auf der Agrarministerkonferenz einigekonkrete Vorschläge zum Beispiel zur Tiermehlbeseiti-gung gemacht. Ich muss aber in Richtung von HerrnBackhaus sagen: Ich finde es schade, dass dieses Angebotgestern nicht angenommen wurde. Die Altbestände müs-sen nämlich ganz schnell von den Höfen weggeschafftwerden, weil dort die Gefahr der Vermischung besteht. Ichhabe sogar angeboten, aus meinem Haushalt im Interesseder Landwirte mehr als 63 Millionen DM bereitzustellen,damit dieses Zeug beseitigt wird. Die Verbraucher müssendas Gefühl haben, dass wir etwas tun. Dazu gehört, dassdieses Tiermehl nicht mehr verfüttert wird. Ich sage nachder gestrigen Agrarministerkonferenz an die Adresse derLänder ganz klar: Wer jetzt noch zögert, wer jetzt immernoch um einzelne Millionen pokert und nicht dafür Sorgeträgt, dass die Futtermittel die Tiermehl enthalten können,beseitigt werden, der spielt auf Kosten der Verbraucher.
Wir haben unsere Verantwortung darüber hinaus auchdadurch wahrgenommen, dass wir das Testalter für Rin-der auf 24 Monate herabgesetzt haben und dass wir einBSE-Bekämpfungsgesetz, das drei Punkte enthält, vor-gelegt haben, das am 16. Februar im Bundesrat beratenwird. Dieses Gesetz muss schnell in Kraft treten.Wir wissen immer noch zu wenig über BSE. Weil es imMoment noch kein Bundesamt für Verbraucherschutz undLebensmittelsicherheit und keine Behörde für Lebensmit-telsicherheit auf europäischer Ebene gibt, lasse ich michvon einem Kreis von Forscherinnen und Forschern, vonden Chefs der entsprechenden Bundesanstalten, aber auch
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Bundesministerin Renate Künast14522
von freien Forschern, beraten, um immer auf der Höhe zusein.Es gehören aber auch inhaltliche Punkte zur Agrar-wende, zum Beispiel Ausgangsfragen, wie sie der Agrar-kommissar, Herr Fischler, gestellt hat. Ich möchte Ihnendiese vier Fragen einmal wiedergeben.Die erste ist: Warum stehen bei uns nur Produkte undnicht deren Qualität im Mittelpunkt?Die zweite Ausgangsfrage für uns ist: Warum gebenwir immer noch weniger als 10 Prozent für den ländlichenRaum aus?Die dritte ist: Warum wird der Kostendegression nichtRechnung getragen?Und die vierte ist: Warum werden 45 Prozent für denBereich der Ackerkulturen und nicht zum Beispiel füreine artgerechte Tierhaltung ausgegeben?
– Aus Ihrem Zwischenruf spricht tiefe Trauer, wie ichmerke.
Da ich Ihnen gerade einige Maßnahmen aufgezählt habe,die die rot-grüne Bundesregierung ergriffen hat, habe ichdiese Frage doch beantwortet.Gehen wir einmal zur Frage der Finanzierung derAgrarwende über. Eines ist klar: Jährlich fließen inDeutschland circa 27Milliarden DM öffentliche Hilfen inden Sektor Landwirtschaft. Davon entfallen 12,6 Milliar-den DM auf die EU und 10,2 Milliarden DM auf denBund. Man sieht also: Erhebliche Mittel werden hier be-wegt.Meine Damen und Herren, die Verbraucher und Ver-braucherinnen haben jetzt die Faxen dicke. Sie wollen,dass ihre Steuergelder endlich sinnvoll für eine Agrar-wende ausgegeben werden. Sie wollen im Übrigen keineneuen Abgaben.
– Das haben sie verstanden.
Wir wollen neue Maßstäbe setzen. Ich will einmal Ge-gensatzpaare bilden: Wir wollen in Zukunft keine Über-schüsse produzieren, sondern Qualität. Wir wollen undwerden in Zukunft keine Tierquälerei finanzieren, son-dern artgerechte Tierhaltung.
Wir wollen und werden keinen Raubbau, sondern denSchutz von Boden und Wasser finanzieren.Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, damit wirdiese ökologischere Landwirtschaft, die artgerechte Tier-haltung und die Sicherung von Arbeitsplätzen im länd-lichen Raum tatsächlich verwirklichen. Ich weiß, das istein ehrgeiziges Ziel. Auf dem Weg dahin brauche ich dieUnterstützung des Deutschen Bundestages, also auch derOpposition, und ich brauche die Unterstützung der Län-der, Herr Backhaus. Eine überwältigende Mehrheit willdiese neue Politik.Einer der ersten Schritte wird sein, dass wir auf derEbene der EU angesichts der unterschiedlichen Bewe-gungsbereitschaft der anderen Mitgliedsländer für eineFlexibilisierung der Subventionspolitik eintreten, weil dieMittel, die an uns fließen, in Zukunft nach anderen Regelnals bisher verteilt werden müssen. Ich will, dass die na-tionalen Spielräume bei den Agrarsubventionen ausge-weitet werden.Auch die Einschätzung des EU-Kommissars in Bezugauf den nächsten Schritt, nämlich dass der Verbraucher-schutz sowie Umwelt- und soziale Standards nicht nur aufder Ebene der EU, sondern auch bei den WTO-Verhand-lungen ausgebaut werden müssen, teile ich.
Was sind die Markenzeichen und Eckpunkte einerneuen Agrarpolitik?Es fängt damit an, dass die Agrarwende Nachhaltigkeitin der Landwirtschaftspolitik bedeutet. Die Bauern habendas längst erkannt.
Sie haben längst erkannt, dass zum Beispiel der Entwurfdes Naturschutzgesetzes etwas Positives ist. Im Gegen-satz zur Vorgängerregierung wird dieses Gesetzesvorha-ben nicht am Landwirtschaftsministerium scheitern. NeueIdeen im Naturschutz, die zur Agrarwende beitragen unddie den Bauern neue Einkommensmöglichkeiten eröff-nen, werden von mir unterstützt.
Eine weitere Einkommensmöglichkeit der Landwirtewerden wir ausbauen. Das ist der Bereich der Energie-wirtschaft. Landwirte können sich längst als Energie-wirte im Bereich der erneuerbaren Energien neueEinkommensquellen erschließen. Sie tun das schon zu-hauf.
– „Eben“, sagen Sie, Frau Merkel. Aber „eben“ beruhtnicht auf einem Gesetz, das noch unter einer schwarzenKoalition geschaffen wurde; „eben“ beruht vielmehr aufdem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Wir wissen: So alt istdas noch nicht.
Wir werden die Bauern in Zukunft auch durch Prä-mien finanziell unterstützen, wenn und soweit sie die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Bundesministerin Renate Künast14523
Kulturlandschaft pflegen und damit einen Schritt zur Er-schließung der Einkommensquelle Tourismus gehen.Wir werden an den Wald denken, weil wir wissen, dassder Wald in Deutschland leidet.Wir wissen, dass Nachhaltigkeit eine soziale Dimen-sion hat. Gerade deshalb setzen wir auf regionale Struk-turen. Künftig muss gelten: Regional ist die erste Wahl.
Zu den Markenzeichen der neuen Agrarpolitik gehörtauch eine veränderte Tierhaltung. Wir haben in Europa zulange und zu viele Tiertransporte. Ich unterstütze die Ideeder schwedischen Ratspräsidentschaft, die zwei Ansatz-punkte hat, die noch bis Juni verändert werden sollen: Dasist zum einen die Nutztierhaltungsverordnung, die sichgerade auf Schweine bezieht. Dieses Thema hatten wirvor kurzem, als es um Antibiotika ging. Die andere Richt-linie bezieht sich auf Tiertransporte, deren Dauer und An-zahl verringert werden sollen. Es darf in Zukunft nichtmehr so sein, dass wir Exportsubventionen zahlen, diedazu führen, dass möglichst weite, möglichst lange undfür die Tiere möglichst qualvolle Transporte zugleich fürdie Menschen ungeheuer rentabel sind. Dieses krasseMissverhältnis wollen wir ändern.
Wir wollen eine gläserne Produktion. Die Nahrungs-kette muss in Zukunft von den Futtermitteln über die Wei-den, von den Ställen bis zur Ladentheke dokumentiertwerden. Einer der ersten Schritte ist das Stallbuch, das denUmgang mit den Tieren und den Umgang mit Medika-menten genau dokumentiert. Ein Entwurf liegt meinemHause vor. Wir werden ihn bald zur Diskussion stellen.Wir werden dafür Sorge tragen, dass Antibiotika nichterst 2005, sondern zu einem viel früheren Zeitpunkt ausdem Tierfutter verbannt sein werden.
Unsere Regel ist: Tiere sollen in Zukunft behandelt wer-den, wenn und soweit sie krank sind, statt mit der Gieß-kanne voller Antibiotika quer durch den Stall.
– Das ist heute noch lange nicht so. Schauen wir uns ein-mal die Ferkelhaltung an.
– Nein, das ist nicht ungesetzlich; alle Tierärzte praktizie-ren das. Ich meine das legale Schweinedoping, Herr Kol-lege, das quer durch die Futtertröge geht, damit sich dieTiere, wenn sie in einem Bestand zusammenkommen,nicht gleich gegenseitig anstecken. Diese prophylaktischeMedikation werden wir abstellen.
Wir werden sie nicht nur bei den Schweinen abstellen,sondern denken dabei auch an die Puten und die Hühner.Ferner sollen die Küken nicht mehr massenhaft millio-nenfach geschlachtet werden, weil sie nicht das richtigeGeschlecht haben. Auch das gehört zur Agrarpolitik vongestern.Wir werden für die Futtermittel eine Positivliste unddie offene Deklaration einführen. Unser Ziel ist ein Endeder Überproduktion. Wie stellen wir das an? Wir werdenjetzt mit dem Umbau des Prämiensystems für Rinder be-ginnen: weg von der Bestands- oder Schlachtprämie hinzu einer umweltverträglichen Extensivierung.Was sind die konkreten Schritte? Wir werden die Tier-haltung wieder an den Boden koppeln. Mittelfristig soll eseine Förderung nur noch für Bauern geben, die nicht mehrals zwei Großvieheinheiten pro Hektar halten. Wir wer-den die Ackerfutterpflanzen in die Förderung einbezie-hen. Wir werden die ungerechtfertigte Besserstellung vonSilomais abbauen.
Wir werden dafür Sorge tragen, dass das Grünland in dieFlächenbeihilfe einbezogen wird, indem wir eine Grün-landprämie schaffen.
Wir werden zum Abbau der Überproduktion Maßnahmenergreifen, um das Schlachtgewicht der Rinder zu reduzie-ren. Diese Maßnahmen werden auf EU-Ebene bereits dis-kutiert.Aber machen wir uns nichts vor, es wird auch Leute ge-ben – wir sehen, dass es sie gibt –, die sich weigern wer-den, an dieser Agrarwende mitzuarbeiten, zum Beispielweil sie am bisherigen System wunderbar verdient haben.
– Sie fragen, wer das ist. Wenn es nicht so wäre, hätte ichIhnen gerade nicht so umständlich das neue Sechseck, dasneue Qualitätsstandards gemeinsam aufstellt und an derZukunft der Landwirtschaft und des Verbraucherschutzesarbeitet, vorstellen müssen.
Wir wissen, die Menschen haben den Appetit verloren;er ist ihnen regelrecht vergangen. Wir wollen, dass denMenschen das Essen wieder schmeckt.Wir wollen die ökologische Modernisierung Deutsch-lands. Die Agrarwende ist ein zentraler Bestandteil dieserökologischen Modernisierung.
Meine Damen und Herren, die neue Landwirtschafts-politik ist eine der zentralen Voraussetzungen und derKernpunkt eines vorsorgenden Verbraucherschutzes. Ich
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Bundesministerin Renate Künast14524
freue mich darüber, dass ich aufgrund der Reaktionen, dieich in den letzten drei Wochen bei den Verbraucherinnenund Verbrauchern und selbst in der Industrie erlebt habe,feststellen kann: Es gibt viele, die diesen neuen Weg un-terstützen. Deshalb möchte ich zum Schluss dieserRegierungserklärung auch in diesem Hause dafür werben,nicht in parteipolitisches Gezänk zu verfallen, sondern dieChance, das fast historische Fenster für eine Um-strukturierung und Neuorganisation der Zukunft derLandwirtschaft auch tatsächlich gemeinsam zu nutzen.
Ich kann das alles auch in einfacheren Worten sagen:Denken Sie daran, wie vor Jahren versucht wurde, dasReinheitsgebot für das Bier anzutasten. Damals standendie Brauereien und die Konsumenten und Konsumentin-nen alle wie ein Mann und haben gesagt: Nein, in unserBier kommt nur Wasser, Hopfen und Malz. Man kann ausdieser Aktion für das Reinheitsgebot des deutschen Bie-res lernen: Den Deutschen ist das Bier heilig. Ich meine,das muss in Zukunft auch für die Kühe gelten. Der Satzheißt: In unsere Kühe kommt nur Wasser, Getreide undGras.Ich danke.
Ich erteile das Wortder Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.Dr. Angela Merkel (von der CDU/CSUmit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht,
aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich gehöre zu den Men-schen – davon gibt es in der Bundesrepublik Deutschlandviele –, die sowohl den Aussagen der alten als auch derneuen Bundesregierung geglaubt und darauf vertraut ha-ben, dass Deutschland BSE-frei ist. Ich habe das als Poli-tikerin und als Verbraucherin getan. Deshalb war für michwie für viele andere der 24. November ein Tag, der michschockierte. Es war ein Schock, weil der erste BSE-Falluns alle, wenn wir ehrlich sind, plötzlich und unvorberei-tet getroffen hat. Der 24. November hat uns damit auf denBoden der Tatsachen zurückgebracht.Ich sage deshalb auch: Wenn wir als Politiker in derVergangenheit Fehler gemacht haben und Dinge, die wirvielleicht hätten tun müssen, nicht getan haben, dann soll-ten wir – ich spreche dabei für meine Partei und richtemich an die Bundesregierung – wenigstens heute dasRichtige tun und den ersten BSE-Fall als die letzte War-nung an uns wahrnehmen.
Meine Damen und Herren, ich weiche politischemStreit nicht aus, manchmal bin ich sogar böse, wenn er indiesem Hause verhindert werden soll, wie das zum Bei-spiel bei der Debatte um die deutsche Einheit der Fall war.
Bei der Frage nach der Ursache und der Bekämpfungvon BSE ist es richtig, dass die Menschen von uns erwar-ten, dass wir dieses Thema nicht zum parteipolitischenoder ideologischen Streit benutzen und dass wir nichtbesserwisserisch – obwohl wir es nicht besser wissen –übereinander herfallen. Wir müssen uns stattdessen alleMühe geben, das Problem in den Griff zu bekommen, undzwar so schnell wie möglich.
Es war für mich schon recht bitter, dass BundeskanzlerSchröder, der noch vor wenigen Wochen die Currywurstals das Zeichen der Volksverbundenheit verstanden hat,
der selbstverständlich zu Holzmann und seinen Arbeiterngelaufen ist, als es dort Schwierigkeiten gab, und zwar zu-sammen mit der Interessenvertretung der Bauarbeiter, mitder zuständigen Gewerkschaft, angesichts des erstenBSE-Falls die Bauern zu Sündenböcken gemacht, dieVertretung der Bauern beschimpft und anschließend von„Agrarfabriken“ gesprochen hat.
Herr Bundeskanzler, wir haben uns dann – leider vergeb-lich – die Mühe gemacht, herauszufinden, was eine„Agrarfabrik“ ist. Auch eine Anfrage bei der Bundesre-gierung hat nicht geholfen. Uns wurde in der Antwort derBundesregierung vom 17. Januar 2001 gesagt:Da eine Definition industriell geführter landwirt-schaftlicher Betriebe nicht existiert, können hierzukeine Daten erhoben werden.So ist das, Herr Bundeskanzler, mit den Agrarfabriken!
Deshalb stelle ich fest: Streichen Sie dieses Wort! Denn esbringt nichts im Zusammenhang mit der Bekämpfung vonBSE.
Es hat keinen Sinn, so zu tun, als ob die Bauern Täterseien. Die Bauern sind in ihrer großen Mehrzahl Opfer.Dies sind sie im Übrigen – wie viele andere Menschenauch – ebenso als Verbraucher. Deshalb müssen wir unsals Erstes überlegen: Wie können wir BSE als Krankheitbekämpfen? – Ich sage: Wir brauchen eine intensivereForschung. Bitter ist, dass die Bundesregierung im Jahre1999 die Prionenforschung eingestellt hat.
Ich bin sehr dankbar, dass sie sie wieder hat aufleben las-sen. Denn das beruht auf einer besseren Einsicht und diebenötigen wir.
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Wir brauchen eine internationale Vernetzung. Wir brau-chen aus unserer Sicht eine internationale Forschungs-konferenz. Wir brauchen auf Bundesebene einen wissen-schaftlichen Beirat, der koordiniert, und wir brauchenselbstverständlich Regelungen auf europäischer Ebene.Meine Damen und Herren, wenn wir über Solidaritäts-fonds und Unterstützungen sprechen, geht es ja nicht nurum die Landwirte, sondern auch um 40 000 Arbeitsplätzein der Nahrungsmittel- und Ernährungsindustrie, um dasSchicksal von Banken, Sparkassen, Volksbanken undRaiffeisenbanken sowie um den ländlichen Raum undseine Zukunft an sich. Darum haben wir uns zu kümmern.
Frau Künast, selbstverständlich brauchen wir eine glä-serne Produktionskette. Auch wir unterstützen die Ent-wicklung von Qualitätssiegeln. Wir brauchen eine Ver-schärfung der Produkthaftung, damit diejenigen, die anden Gesetzen vorbeiarbeiten, auch wirklich dingfest ge-macht werden.
Wir brauchen natürlich vermehrt Klarheit darüber – auchdas ist in der Vergangenheit nicht ausreichend gelungen –,was in den Futtermitteln ist, also eine Deklarationspflichtund eine Positivliste über das, was in die Futtermittelhineingehört. Das ist gar keine Frage.
Aber wir sollten den Menschen auch ehrlich sagen,was wir können und was wir noch nicht wissen. Dasgehört ebenso zur Wahrheit und Klarheit. Auch wenn Sie,Frau Künast, gestern gesagt haben, die Kuh sei umzingelt,so ist das Prion in seiner Wirkungsweise eben immer nochnicht erkannt. Deshalb sollten wir alles tun, was möglichist, aber den Menschen ansonsten keine falschen Ver-sprechungen machen.
Auch ich sage: Das Auftreten von BSE in der Bundes-republik Deutschland ist Anlass, die Zukunft der Land-wirtschaft insgesamt zu betrachten. Der 24. November2000 war in dieser Hinsicht sicherlich eine Zäsur. Aber,Frau Künast, es geht nicht um 20 Prozent der Landwirt-schaft und ausschließlich um den ökologischen Landbau,sondern um 100 Prozent der Landwirtschaft und derenZukunft.
Wir sollten ehrlich miteinander sein und politischeMaßnahmen nicht aus Selbstzweck oder irgendwelchenideologischen Gründen treffen. Wir sollten vielmehr dastun, was angebracht ist, und zwar weder in blindem Ak-tionismus und hektischer Betriebsamkeit noch dadurch,dass wir uns in eine Wagenburg zurückziehen und einfachnicht weiterdenken.Die CDU/CSU will den Erhalt der ländlichenRäume. 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Bun-desrepublik Deutschland leben in ländlichen Räumen.Wir wollen nicht nur die Entwicklung der städtischen Bal-lungsgebiete, sondern auch die Zukunft der ländlichenRäume sichern.
CDU und CSU wollen unsere bäuerliche Landwirt-schaft in allen Betriebsformen, in den Familienbetriebenebenso wie in den Agrargenossenschaften, erhalten. Wirwollen, dass unsere Ernährungs- und Nahrungsmittelin-dustrie in Deutschland weiter in der Lage ist, Exporteurvon Nahrungsmitteln zu sein. Wir wollen eine gesundeNahrungsmittelproduktion. Denn gerade die Menschen inden Städten sind darauf angewiesen, auch außerhalb ihreseigenen Zuhauses auf gesunde Nahrung vertrauen zu kön-nen. Das ist unsere politische Aufgabe.Deshalb bin ich der Verbraucher- und Landwirtschafts-ministerin auch dafür dankbar, dass sie manches, was amAnfang sehr pauschal dargestellt wurde, heute etwas dif-ferenzierter dargestellt hat. Aber ich sage auch, liebe FrauKünast: Wir fangen doch nicht bei null an.
Sie wissen doch, dass beispielsweise schon in Agrarver-handlungen im Jahre 1992 und auch bei der Agenda 2000ein Stück weit mit der Überproduktion Schluss gemachtwurde.
Es gibt doch heute nicht deshalb Überschüsse, weil eineÜberschussproduktion in der EU verordnet wird, sondernweil sich das Verbraucherverhalten abrupt verändert hat.Sagen Sie doch den Menschen, dass man Kühe nicht soschnell „abstellen“ kann, wie man den Verzehr von Rind-fleisch abstellen kann.
Sagen Sie den Menschen auch, dass die Höhe der Milch-produktion etwas mit der Zahl der Kälber zu tun hat, diein Deutschland geboren werden. Das gehört zur Wahrheitund Klarheit dazu.
Wenn in diesen Tagen so viel von „Wende“ die Redeist, dann muss ich Sie ganz einfach darauf hinweisen, dasses sich im Wesentlichen um eine Wende Ihrer eigenenAgrarpolitik handelt.
– Ja, ich muss das ganz klar sagen.Als der Herr Bundeskanzler 1999 auf dem Kongressdes Bauernverbandes in Cottbus war, hat er dem staunen-den Publikum gesagt:
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Die teilweise Absenkung der Agrarpreise in derAgenda 2000
ist ein Erfolg, weil jeder sich im Klaren sein musste,dass wir näher an die Preise des Weltmarktes heranmüssen.Das waren die Aussagen des Bundeskanzlers damals.
Genau aus diesem Grunde hat EU-Kommissar Fischleram 12. Dezember im „Handelsblatt“ dieser rot-grünenBundesregierung ins Stammbuch geschrieben:Es war die heutige rot-grüne Regierung, die im letz-ten Jahr auf dem Berliner EU-Gipfel die von derKommission gewünschten Akzente abgelehnt hat.
Ich sage das, damit keine Märchen verbreitet werden.Was Sie in Ihrer Regierungszeit bislang gemacht ha-ben, das ist im Wesentlichen, die Bauern zusätzlich zudem Preisdruck, dem sie unterworfen sind, noch stärkerzu belasten.
Die ganze Sache hat, nachdem Sie schon Belastungen inHöhe von 2 Milliarden DM auf die Bauern abgewälzt ha-ben, gestern ihren Höhepunkt erfahren, als Sie nämlich imHaushaltsausschuss beschlossen haben, dass die schonvereinbarte Absenkung der Steuer auf den Agrardieselauf 47 Pfennig rückgängig gemacht und sie wieder erhöhtwird.
Sie müssen doch einmal bedenken: Der französischeBauer hat eine Belastung von 11 Pfennig pro Liter Agrar-diesel; der deutsche hatte bis jetzt eine Belastung von47 Pfennig. Ab jetzt hat er wieder eine von 57 Pfennig,wenn es nach Ihnen geht. Angesichts dessen können Siedoch nicht erwarten, dass die Bauern überhaupt den Spiel-raum dafür haben, das zu leisten, was Sie von ihnen er-warten.
Deshalb: Auch wir sagen, wir brauchen ein Umdenken;wir brauchen neues Denken.
Aber neues Denken heißt, dem Verbraucher Sicherheitund den ländlichen Räumen eine Zukunft zu geben. Bei-des zusammen muss geleistet werden.
Das heißt, dass wir einer von den Bauern getragenennachhaltigen Landwirtschaft eine Perspektive geben, dasswir hochwertige Nahrungsmittel produzieren, dass wirdie Konflikte, die es zwischen Naturschutz, Tourismus,Flächenverbrauch und Landwirtschaft natürlich gibt, ver-nünftig zum Ausgleich bringen, dass die standortange-passte Landnutzung und – das betone ich – die artge-rechte Tierhaltung eine Zukunft haben müssen – hier istsicherlich vieles zu tun – und dass die land- und forst-wirtschaftliche Nutzung als wesentliche Grundlage derwirtschaftlichen Entwicklung des ländlichen Raums er-halten bleibt. Die Landwirte sorgen für unsere Kultur-landschaft, die für alle Bürgerinnen und Bürger dieserBundesrepublik von größter Bedeutung ist.
Ehe wir uns, Frau Künast, darüber unterhalten, wie wirim Detail vorgehen, wäre es schon wichtig, zu wissen, obwir im Grundsatz diese Ziele gemeinsam verfolgen:
Zukunft für den ländlichen Raum und Verbraucherschutzfür alle Verbraucherinnen und Verbraucher.
Dazu gehören für mich vier Punkte.Erstens. Die gute fachliche Praxis muss weiterent-wickelt werden, keine Frage. Die gute fachliche Praxis istim Übrigen weiterentwickelt worden, wenn ich nur an dasBodenschutzgesetz aus der letzten Legislaturperiodedenke, dem selbstverständlich auch rot-grüne Landesre-gierungen zugestimmt haben.Artgerechte Tierhaltung kann nur verbessert werden,wenn wir dies europaweit tun. Denn wir können nicht miteiner Produktionsverlagerung deutsche Probleme beseiti-gen; wir brauchen insgesamt artgerecht hergestelltesFleisch, auch wenn es importiert wird. Deshalb helfen unsnur europaweite Regelungen. Da wird die Probe aufsExempel gemacht, Frau Künast.
Wir wollen, dass die Weiterentwicklung der gutenfachlichen Praxis in einem Landwirtschaftsgesetz festge-schrieben wird. Wir glauben auch, dass das Gesetz von1955 einer grundlegenden Überarbeitung bedarf.Zweitens. Wir wollen wirtschaftliche Freiräume für dieLandwirtschaft, damit sie Qualität produzieren kann.Aber ich sage Ihnen auch: Stellen Sie das Miteinander undnicht das Gegeneinander in das Zentrum Ihrer Arbeit.Deshalb ist zum Beispiel der Vertragsnaturschutz undnicht die enteignungsgleiche Behandlung von Natur-schutztatbeständen die Antwort auf die Gegebenheiten.
Meine Damen und Herren, wir leben nicht isoliert.Deshalb können – drittens – europäische Standards imTierschutz, im Verbraucherschutz und im Umweltschutznur dann realisiert werden, wenn sie auch in den WTO-Verhandlungen als Standards sozialer und umweltfreund-licher Art anerkannt werden.
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Hier liegt eine riesige Aufgabe vor der Bundesregierung.Da helfen auch keine Worte, da helfen nur Taten.
Ich kann nur hoffen, dass bei den WTO-Verhandlungendas, was wir in Europa brauchen, um unserer Landwirt-schaft eine Zukunft zu geben, mit der nötigen Verve ein-geklagt wird.
Das hat dann mit dem zu tun, was wir so oft theoretischdiskutieren, nämlich ob Politik in der heutigen Zeit ange-sichts der globalen wirtschaftlichen Beziehungen dieChance hat, das Leben der Menschen im Lande zu gestal-ten, oder ob Politik nur zuschaut. Wir wollen gestalten;das bedeutet dann aber auch den energischen Einsatz beiden WTO-Verhandlungen.
Viertens. Natürlich müssen – mit Ablauf der Agenda2000 sicherlich noch verstärkt – die Direktzahlungenschrittweise von der Produktionsbindung gelöst werden.Natürlich können Leistungen für die Umwelt eingearbei-tet werden. Der saarländische Landwirtschafts- und Um-weltminister hat hierfür eine ganze Reihe von Vor-schlägen gemacht. Aber diese neue Prioritätensetzungdarf nicht die Vernichtung ganzer Kategorien von Bau-ernbetrieben bedeuten.Sie sagen so allgemein – jeder, der sich noch nicht sotief eingearbeitet hat, stimmt dem zu; mir hat es auchzunächst eingeleuchtet –, man müsse die Tierhaltung andie Fläche koppeln. Das ist wunderbar und klappt inMecklenburg-Vorpommern hundertmal besser als imBadischen oder im Allgäu. Sie müssen eine Antwort da-rauf finden, wie die bäuerlichen Betriebe mit kleinenFlächen weiterhin existieren können. Wir erwarten vonIhnen eine Antwort auf diese Frage und da helfen keineSprüche.
Es wird sich zeigen, dass die Antwort auf alle Fragen derLandwirtschaftspolitik in Wahrheit verdammt konkret ist.
Wir werden Sie an den Taten messen.Frau Künast, Sie wissen sehr wohl, wie viele Bauernheute schon Windkrafträder haben und wo es überall Bio-massekraftwerke gibt. Dies ist nun wirklich nicht erst seitSeptember 1998 entstanden.
Die Klage über zu viel Windkraft haben wir schon gehabt,als Sie den Konflikt zwischen Naturschutz und Wind-kraftenergie noch überhaupt nicht richtig bewältigt hat-ten.
Als der erste BSE-Fall aufgetreten ist, hat die nord-rhein-westfälische Umweltministerin Höhn diesen Vor-fall mit Tschernobyl verglichen und gesagt: Das ist dasTschernobyl der Landwirtschaft. Ich denke, wir solltenneu nachdenken.
Welche Lehre wurde damals aus Tschernobyl gezogen?Wir haben damals das Bundesumweltministerium ge-gründet und seitdem dem Umweltschutz ein wichtigesStandbein in der Bundesregierung gegeben.
Ich sage Ihnen: Die Bündelung von Verbraucher-schutzinteressen in einem Ministerium ist sicherlichrichtig. Für mich ist das allerdings nur der halbe Weg aufder richtigen Strecke, weil aus meiner Sicht – daneben einzweites Ministerium als wesentliches Standbein für denländlichen Raum und die Landwirtschaft dienen sollte,wie es in Baden-Württemberg der Fall ist, die hierbei Vor-reiter sind.
Ich bin – hier unterstütze ich Frau Künast sehr wohl –für eine unabhängige, schlanke und mit großen Kompe-tenzen ausgestattete Kontrollbehörde, die sich mit derFuttermittelherstellung und der Nahrungsmittelüber-prüfung befasst. Hier sind wir eins und können gemein-sam in diesem Hause vorangehen.Aber wenn es um die Lehren aus Tschernobyl geht,geht es auch um die Frage, wie wir die Dinge anpacken.Wir haben damals als CDU und CSU gemeinsam mit derF.D.P. Lösungen gefunden, um internationale Umwelt-schutzverhandlungen in Gang zu bringen, um den Rio-Prozess voranzubringen. Heute sind Verhandlungen überArten- und Klimaschutz im Umweltgeschäft Normalitätgeworden.Wir haben es geschafft, den Rhein so sauber zu ma-chen, dass der Lachs wieder im Rhein schwimmt, abernicht, indem wir die Industrie aus Deutschland vertrieben,sondern indem wir mit der Industrie zusammengearbeitethaben.
Deshalb, meine Damen und Herren, erwarte ich, dassSie das Problem des Verbraucherschutzes nicht so lösen,wie Sie den Ausstieg aus der Kernenergie gelöst haben:dass am Schluss die Energie sonst woher kommt. Viel-mehr müssen sie dieses Problem so lösen, dass die Land-wirtschaft in diesem Lande eine gute Chance hat.
Und zu guter Letzt: Wir wollen, dass die Politik das re-gelt, was zu regeln ist. Wir geben aber auch freiwilligenMaßnahmen eine wichtige Rolle und wollen die Mündig-keit des Bürgers. Deshalb sage ich: Verbraucherschutz zustärken heißt auch, die Verbände zu stärken. Wir brauchen
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im Verbraucherschutz so etwas wie das, was der ADACfür die Autofahrerinnen und Autofahrer ist. Wir müssendie Menschen zu mehr Selbstständigkeit in diesem Landbringen.Es war ein Fehler – auch diesen Vorwurf müssen Siesich noch einmal gefallen lassen; das Parlament hat einesehr viel bessere Rolle gespielt als die Regierung –, dassdie Bundesregierung die Finanzmittel der Stiftung Wa-rentest erst einmal von 13 auf 8 Millionen DM kürzenwollte.
Das war die Politik dieser Bundesregierung. Nur durchgemeinsame parlamentarische Anstrengungen ist es ge-lungen, diesen Fauxpas wieder gutzumachen.Deshalb sage ich: Wir geben Ihnen alle Chancen. Han-deln ist dringend erforderlich; bei vernünftigen Maßnah-men machen wir mit. Es soll einen Konsens der Demo-kraten zur Bekämpfung von BSE und zur Sicherung derZukunft der Landwirtschaft geben, aber mit vernünftigenMitteln und Methoden sowie mit einem mündigen Bürger.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Struck, SPD-Fraktion.
Dr. Peter Struck (von der SPD mit Beifall be-
grüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst, Frau Ministerin Künast, gratuliere ich
Ihnen zu Ihrer tatkräftigen und entschlossenen Rede und
zu der Politik, die Sie mit dieser Rede dargestellt haben.
Sie können sich auf die Unterstützung der SPD-Fraktion
verlassen. Wir werden gemeinsam das Ziel erreichen, das
Sie dargestellt haben.
Nun zu Kollegin Merkel. Im Vorfeld habe ich erfahren,
dass der Fraktionsvorsitzende der CDU große Bedenken
hatte, Frau Merkel reden zu lassen.
In einigen Punkten waren die Bedenken berechtigt, auf
andere möchte ich gern eingehen, Frau Kollegin Merkel.
Sie haben in vielen Punkten das angesprochen – ich be-
grüße das –, was unserem gemeinsamen Ziel, wieder Ver-
trauen bei den Verbrauchern in die Produkte unserer
Landwirte zu erreichen, dient. Ich stimme ausdrücklich
zu, dass dies eine Aufgabe ist, die alle Fraktionen in die-
sem Hause angeht. Auch Ihr Hinweis darauf, dass wir
keine einseitigen Schuldzuweisungen, beispielsweise ge-
genüber den Landwirten in unserem Lande, vornehmen
sollten, war berechtigt. Aber das hat auch niemand von
uns getan. Sie haben einen hier unnötigerweise Popanz
aufgebaut.
Was soll denn, Frau Kollegin Merkel, der Satz: „Es geht
um den Erhalt der ländlichen Räume.“?
Das ist eine Selbstverständlichkeit. Natürlich wollen wir
die ländlichen Räume erhalten. Wer will denn die ländli-
chen Räume abschaffen? Frau Künast will es nicht, Herr
Schröder nicht und auch ich will es nicht. Wir werden die
ländlichen Räume erhalten. Darauf können Sie sich ver-
lassen.
Sie haben zwei Punkte angesprochen, die inhaltlich
falsch sind. Ich finde es nicht in Ordnung, hier so etwas
vorzutragen. Wir werden das aufklären. Erstens. Sie ha-
ben gesagt, die Bundesregierung habe Forschungsmittel
gekürzt. Ich habe mich informiert: Diese Behauptung ist
falsch.
– Nein, Sie haben eine falsche Behauptung aufgestellt.
Zweitens. Sie haben behauptet, der Haushaltsausschuss
habe einen Beschluss zum Agrardiesel gefasst. Auch das
ist falsch.
Die Entscheidungen über die Besteuerung des Agrardie-
sels werden wir in den Fraktionen treffen. Diesbezüglich
hat es noch keine Beschlussfassung gegeben. Gehen Sie
nicht so unvorsichtig mit der Wahrheit um, Frau Merkel.
Schauen Sie sich genau an, was Ihnen Ihre Leute auf-
schreiben!
– Der Haushaltsausschuss hat einen Bericht der Bundes-
regierung zur Kenntnis genommen, Herr Kollege Glos.
Das ist keine Beschlussfassung. Zum Thema Agrardiesel
werden die Koalitionsfraktionen Entscheidungen treffen
und hier im Deutschen Bundestag zur Abstimmung brin-
gen. Bitte argumentieren Sie nicht mit solchen Unwahr-
heiten. Das ist nicht in Ordnung, das gehört sich nicht.
Kollege Struck, ge-statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Austermann?
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Dr. Angela Merkel14529
Nein, Herrn Austermann ge-
statte ich keine Frage; dem nicht.
Ich möchte noch einige Anmerkungen in Ergänzung zu
dem machen, was die Ministerin Künast vorgetragen hat.
Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass die Verbraucher,
der Handel, die Verarbeiter und die Erzeuger die Nah-
rungsmittel nur gemeinsam zu einem gesunden Genuss
machen können. Nur wenn wirklich alle an einem Strang
ziehen, haben wir die Chance, dass unsere Landwirt-
schaft, aber auch die Verarbeiter wieder zu einem wirt-
schaftlichen Erfolg kommen. Mir geht es vor allen Din-
gen darum – ich hatte gestern ein Gespräch mit dem
Vorsitzenden der Gewerkschaft NGG –, auch die Arbeits-
plätze in der Nahrungsmittelindustrie im Auge zu be-
halten. Wir haben gegenüber diesen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer eine Verantwortung.
Auch ist klar, dass wir nur mit der Landwirtschaft und
nicht gegen die Landwirtschaft eine neue Politik errei-
chen können. Aber ich will an dieser Stelle ein Wort an
Herrn Sonnleitner richten.
– Halten Sie sich einmal mit Ihren Zwischenrufen zurück!
– Ich sage das deshalb, weil der Kollege, der immer da-
zwischenruft, für eine verstaubte und veraltete Agrarpoli-
tik steht und sich jetzt hier als Erneuerer aufspielen will.
Herr Sonnleitner tritt bei Demonstrationen auf – ich
habe ihn erst gestern in München gesehen –, in denen
Landwirte gegen die Schlachtung der 400 000 Tiere de-
monstrieren.
Ich kann das nicht verstehen. Wenn wir intern, aber auch
öffentlich von Herrn Sonnleitner und seinem Verband
hören, diese Maßnahme sei unumgänglich, dann darf man
solche Demonstrationen nicht unterstützen. Das ist unan-
ständig. Das ist unehrlich.
Ich kann dem Deutschen Bauernverband, mit dem wir
konstruktive Gespräche geführt haben, nur raten, keine
Politik zu betreiben, die sich gegen die Bundesregierung
richtet.
Sie sind auf die Bundesregierung und auf die sie tragen-
den Fraktionen angewiesen. Das sollten Sie bei dem, was
Sie tun, berücksichtigen!
Niemand von uns, auch nicht die Ministerin Künast,
will, dass in Deutschland nur noch ökologischer Land-
bau betrieben wird. Jeder von uns ist Realist genug, um
zu sehen, dass wir in den nächsten Jahren höchstens Ziel-
marken von vielleicht 10 bis 20 Prozent erreichen können.
Ich komme aus einem ländlichen Wahlkreis, wo die
Durchschnittsgröße eines bäuerlichen Betriebes 100 Hek-
tar beträgt. Ich weiß also, wovon ich rede. Aber die Ziel-
setzung ist richtig: Die alte Agrarpolitik ist in eine Sack-
gasse geraten. Wir müssen eine neue Agrarpolitik
machen. Darum geht es.
Erlauben Sie mir noch einige Anmerkungen zu finan-
ziellen Fragen. Zunächst komme ich zur gestrigen Konfe-
renz der Agrarminister von Bund und Ländern. Ich kann
verstehen, dass die Länder zunächst einmal auf den Bund
verweisen, wenn es um die Kosten im Zusammenhang
mit BSE geht. Das ist normal. Keiner gibt gern Geld aus.
Aber nach dem, was der Bund bereit ist, zu leisten, will
ich an die Adresse der Länder – auch an die Adresse
meiner Parteifreunde in den Ländern, Kollege Backhaus –
deutlich sagen, dass ich kein Verständnis dafür habe, dass
wegen dieser Streitigkeiten die Angelegenheiten nur lang-
sam vorankommen. Auch die Länder müssen ihren finan-
ziellen Beitrag leisten. Das ist überhaupt keine Frage.
Ein weiteres Thema: Es ist diskutiert worden, ob es
eine Sonderabgabe für die Vernichtung von Rindfleisch
geben soll. Die Ministerin hat es bereits klargestellt und
auch ich erkläre hier klipp und klar für die SPD-Bundes-
tagsfraktion: Eine solche Sonderabgabe wird es nicht ge-
ben, genauso wie es keine Steuern auf Fleisch oder Ähn-
liches geben wird.
Ein Letztes: Sie haben von einem Gegeneinander ge-
sprochen, Frau Kollegin Merkel. Ich kann aus der Regie-
rungserklärung von Frau Ministerin Künast überhaupt
kein Gegeneinander erkennen. Sie hat von einem magi-
schen Sechseck und an anderer Stelle von einem runden
Tisch gesprochen. Das Modell, das sie dargestellt hat,
stellt in der Tat die einzige Chance dar, wie wir aus dieser
Krise, die es zweifellos gibt, herauskommen können.
Meine Damen und Herren, wir werden unseren Beitrag
dazu leisten, dass die Verbraucher in Deutschland wieder
Vertrauen in die Produkte der Landwirte haben und die
Landwirte in Deutschland eine gesicherte Existenzgrund-
lage behalten werden.
Schönen Dank.
Ich erteile dem Kolle-gen Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 200114530
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass einso großes Interesse an der Verbraucher- und Agrarpolitikbesteht. Das kann nur gut sein: gut für die Landwirtschaft,gut für die Verbraucher und auch gut für die Wirtschaft,denn hier ist Gemeinsamkeit gefordert. Wenn ich heuteMorgen aber Bilanz ziehe, muss ich zunächst einmal fest-stellen, dass Frau Ministerin Künast verkündet hat, dasssie eine Politik betreiben will, die das genaue Gegenteildessen ist, was ihr Vorgänger, Herr Funke, gemacht hatund was auf dem Berliner Gipfel in der Agenda 2000 ver-abschiedet worden ist. Der Herr Bundeskanzler hat sichselbst und seinen Landwirtschaftsminister dafür gelobt,dass die Agenda 2000 so erfolgreich, gut und richtig sei.Wir stellen fest, dass die Agenda 2000 nicht einmal14 Monate nach ihrem Inkrafttreten hundertprozentigüberholt ist und die Regierung eine völlig neue Agrarpo-litik ankündigt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir habendamals schon gesagt, dass mit Dirigismus, zusätzlicherBürokratie und verschwendeten Steuergeldern, was allesauch Inhalt der Agenda 2000 ist, die Zukunft nicht zu ge-winnen sei und dass diese Fehlentwicklung korrigiertwerden müsse. Diese Fehlentwicklung darf aber jetztnicht durch einen neuen staatlichen Dirigismus, der inRichtung Ökologisierung der Landwirtschaft geht, wie-derholt werden.
Der Markt lässt sich nicht von der Politik bevormunden;denn sonst werden Abhängigkeiten vom Staat manifes-tiert, die systematisch die Freiheit des Unternehmers ein-schränken und das Eigentum zunehmend infrage stellen.
Der ökologische Landbau leistet einen wichtigen Bei-trag für die Angebotspalette an Nahrungsmitteln. Auchwar die F.D.P. schon immer der Auffassung, dass der öko-logische Landbau aus Gründen des Umweltschutzes, Na-turschutzes und Tierschutzes von Bedeutung ist
und dass wir die derzeitige Sensibilisierung der Verbrau-cher nützen müssen, um die Durchsetzung solcher Pro-dukte am Markt tatsächlich zu erreichen.
Da komme ich aber zu einem Punkt, an dem wir völliganderer Meinung als die Bundesregierung sind: Es bedarfkeinesfalls einer Förderung der Produktion, sondern einermodernen Marktstrategie, verbunden mit einer verbesser-ten Angebotsinfrastruktur und einer besseren Logistik.Eine durch die Agrarpolitik herbeigeführte Ausweitungder Produktion würde die Preise für die Bioprodukte nachunten bringen, was zur Folge hätte, dass die Produktions-kosten von den Marktpreisen nicht mehr gedeckt würden.Die Konsequenz wäre, dass der Staat mit Dauersubven-tionen das Überleben der betroffenen Unternehmen si-chern müsste.
Die F.D.P. möchte demgegenüber erreichen, dass sichdie Ökoprodukte am Markt durchsetzen können. Dazugehört ein einheitliches Ökoprüfzeichen, das ÖPZ, das ei-nen klaren Wiedererkennungswert bekommen muss. Bisjetzt hat es das noch nicht und die Ökoverbände sind bisheute leider Gottes noch nicht einer Meinung, dass dieswichtig für ihre Marktstrategie ist.Lassen Sie mich noch auf ein weiteres Marktsegmenteingehen, nämlich auf das der regionalen Produktion.Die Nähe zwischen Landwirt und Verbraucher mussdurch ein neues Qualitätsverständnis gestärkt werden.Durch die gläserne Produktion und durch besondere Pro-duktionsweisen, die höhere Umwelt- und Qualitätsstan-dards in besonderem Maße beinhalten, wird die regionaleHerkunft auch mit den Zielen der Agenda 21 verbunden.So hat zum Beispiel Baden-Württemberg bereits seit10 Jahren gute Erfahrungen mit der gläsernen Produktiongemacht und wird die Anforderungen an das HQZ – Her-kunfts- und Qualitätszeichen – weiter erhöhen und allesunternehmen, damit dieses Zeichen durch die BSE-Krisenicht unberechtigt in Misskredit gerät. Die regionale Pro-duktion mit dem HQZ wird in der Zukunft deutschland-weit und EU-weit zunehmend an Bedeutung gewinnenund seine Marktberechtigung ausbauen. Im Prinzip sollenbei dieser Produktionsmethode die gleichen Förderungs-grundsätze gelten wie beim ökologischen Landbau: alsokeine Förderung der Produktion; der Schwerpunkt mussvielmehr im Marktbereich gesetzt werden.
Man muss heute ganz klar sagen: Grundsätzlich ist jedeForm der Landwirtschaft dem Verbraucherschutz, demSchutz des Bodens, der Pflanzen, der Tiere und der Um-welt verpflichtet.
Voraussetzung dafür ist aber, dass damit ein wirtschaftli-cher Erfolg verbunden ist, der es verhindert, dass die Be-troffenen dauerhaft am Subventionstropf hängen.
Die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft mussim Rahmen der Europäischen Union – wegen der Multi-funktionalität auch auf WTO-Ebene – sichergestellt wer-den. Deutschland befindet sich nun einmal nicht auf einerInsel. Die Landwirte, die konventionell produzieren– derzeit sind das 97 Prozent aller Landwirte –, werdenauch in Zukunft den Löwenanteil an der landwirt-schaftlichen Produktion ausmachen. Deshalb ist es be-sonders wichtig, dass Verbrauchersicherheit und Nach-haltigkeit die Grundlagen für die Produktion sind. Dazugehört auch – ich sage das ganz klar und deutlich –der technische Fortschritt, insbesondere im Bereich der
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grünen Gentechnik, der zu den Grundlagen nicht im Wi-derspruch steht.Lassen Sie es sich gesagt sein: Wenn derzeit die Kon-junktur nach der Meinung des Kanzlers nicht positiv fürdie Gentechnik ist,
sage ich Ihnen voraus, dass Deutschland einen wesentli-chen Standortvorteil verlieren wird, den es bisher durchkompetente Forscherpersönlichkeiten noch einigermaßenhalten kann, wenn wir im Bereich der grünen Gentechnikeine Kehrtwende um 180 Grad vornehmen.
Dem Verbraucherschutz und der Landwirtschaft istnicht damit gedient, dass der Anteil des ökologischenLandbaus erhöht wird. Wichtig sind vor allem verlässli-che Rahmenbedingungen für die gesamte Landwirtschaft,die auch mittelfristig Bestand haben.Ich habe schon 1999 anlässlich der Beschlüsse zurAgenda 2000 gefordert, dass als Ziele einer liberalenAgrarpolitik die kostenträchtige Überproduktion, vor al-lem bei Milch und Rindfleisch, abzubauen ist, um Ange-bot und Nachfrage im europäischen Binnenmarkt insGleichgewicht zu bringen und schrittweise einen geord-neten Ausstieg aus den Marktordnungen für Milch undFleisch auf den Weg zu bringen. Ich bin in meiner Argu-mentation – im Gegensatz zur Bundesregierung – schlüs-sig geblieben.
Das Gegenteil ist geschehen: Im Rahmen der Agenda2000 wurde eine zusätzliche Milchmenge von 1,4 Milli-onen Tonnen beschlossen; offensichtlich wusste die Bun-desregierung damals noch nicht, dass infolge der Er-höhung der Milchmenge zwangsläufig mehr Kälbergeboren werden.
Heute stehen wir vor einem Chaos am Rindfleisch-markt. Heute tut man so, als wäre das alles nicht voraus-zusehen gewesen. Es war in weiten Bereichen vorauszu-sehen; denn es gab schon damals eine Überschuss-produktion im Rindfleischbereich von 15 bis 20 Prozent,Frau Ministerin Künast.
Die Halbwertzeit der auf fünf Jahre angelegten Agenda2000 ist bereits nach einem Jahr erreicht und weder Land-wirtschaft noch Verbraucher noch Steuerzahler könnenmit diesem Ergebnis zufrieden sein. Dies war keine Meis-terleistung dieser Regierung.Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Punkte an-sprechen, die derzeit besonders in der Diskussion stehen.Die totale Keulung in Betrieben, in denen die BSE-Krank-heit aufgetreten ist, halte ich für nicht akzeptabel. Ichhalte auch unterschiedliche Regelungen in der Bundesre-publik Deutschland für nicht akzeptabel. Wir brauchenein bundeseinheitliches Gesetz, das sich an dem Schwei-zer Modell orientiert, nach dem die Anonymität der Be-triebe gesichert ist, damit nach der Sanierung der Be-stände die Produkte wieder verkauft werden können.
Meine Damen und Herren, die derzeitige Verunsiche-rung, Angst und Existenznot in den landwirtschaftlichenBetrieben spotten jeder Beschreibung. Hier muss man einbisschen sensibler vorgehen und kann nicht nur mit derKeule wie wild um sich schlagen.
Die Schlachtung von 400 000 Rindern – eventuell wer-den es mehr oder weniger – ist eine freiwillige Aktion.Wir befürworten, dass wir als Bundesrepublik Deutsch-land uns daran beteiligen. Aber wir befürworten nicht dieVernichtung des Fleisches. Wir wollen das Fleisch viel-mehr über Konserven für Notgebiete, für Hungersnöte,für Katastrophen verwerten. Wer sieht, wie in Zentral-asien und Zentralamerika tagtäglich Menschen verhun-gern, der darf in dieser Frage mit einer marktwirtschaftli-chen Argumentation à la Ministerin Künast nichtkommen. Hier ist vielmehr Nothilfe gefragt.
Wir können es uns nicht leisten, dass das Fleisch hier ver-nichtet wird, während dort die Menschen verhungernmüssen.
Meine Damen und Herren, zehn Minuten sind schnellvorüber. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit undhoffe, dass auch in Zukunft die Agrarpolitik so aufmerk-sam verfolgt wird und wir dann ein ordentliches Ergebnisbekommen können, vielleicht ein besseres, als wir derzeitvonseiten der Regierung vorzuweisen haben.
Ich erteile dem Kolle-
gen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr KollegeHeinrich, ich glaube, es ist eine sehr schwere Entschei-dung, die in der Frage der Keulung bzw. Verwertung von400 000 Rindern zu treffen ist. Immerhin haben Sie dazuStellung genommen.Frau Merkel, von einer Parteivorsitzenden erwarte ich,dass sie zu dem dringendsten und wichtigsten aktuellenProblem, das sehr schwer zu behandeln und zu entschei-
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Ulrich Heinrich14532
den ist, Stellung nimmt. Davor haben Sie sich aber elegantgedrückt.
Herr Heinrich, ich kann Ihrer Meinung nicht folgen,wenn Sie sagen, dass dieses Fleisch in Notgebiete expor-tiert werden soll. Das klingt gut, nur können Sie heute bei-spielsweise lesen, dass die Vorsitzende der Welthunger-hilfe, Frau Schäuble, klar sagt, dass ein Export von hierproduziertem Fleisch in Notgebiete dortige Märkte zu-sammenbrechen lässt und es eben nicht möglich ist, da-durch Not zu lindern. Er würde die dortige bäuerlicheLandwirtschaft, die zur Sicherung der Ernährung drin-gend notwendig ist, in Schwierigkeiten bringen, gefähr-den und auch kaputtmachen.
Frau Merkel, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede zurAgrarwende sehr wohl Stellung genommen. Sie sagten,es sei notwendig, dass man sich neu orientiert. Vor derAntwort auf die Frage, wie die Neuorientierung aussehensoll, haben Sie sich gedrückt. Ich muss Sie fragen: Wiesah die von Ihnen angesprochene Vorreiterrolle von Ba-den-Württemberg oder von Bayern – das haben Sie nichterwähnt – aus? Die Vorreiterrolle Baden-Württembergssieht so aus, dass die dortige Ministerin für Landwirt-schaft und den ländlichen Raum noch im Oktober im Zu-sammenwirken mit dem Bauernverband dafür gekämpfthat, dass Risikomaterial weiter verwendet wird. Eine sol-che Vorreiterrolle wollen wir nun wirklich nicht!
Die Melodie des weiteren Verlaufs Ihrer Rede war: Wirwollen das alte System weiter stützen. Sie haben hier ei-nen nicht verabschiedeten Beschluss des Agrarausschus-ses angeführt. Wenn wir jetzt einen Neuanfang machen,dann müssen wir natürlich sehr genau aufpassen, dass dieZahlung von Subventionen, die in großem Umfang in dieAgrarwirtschaft fließen, an bestimmte Produktionskrite-rien – Transparenz der Produktion: vom Futtermittel überden Stall bis hin zur Verarbeitung der Lebensmittel – ge-koppelt wird, sodass derjenige, der sich nicht an die Ein-haltung dieser Produktionskriterien hält, keine Subven-tionen bekommt.
Die Politik hat jahrzehntelang – es geht nicht um dieletzten zwei oder die letzten vier Jahre – eine Entwicklunghonoriert und forciert, deren Motto „Immer mehr und im-mer billiger“ lautete. An diesem Punkt muss endlichSchluss gemacht werden.
Denn die Logik des „Immer mehr und immer billiger“ istgenau der Boden, auf dem sich die Strukturen entwickelthaben, die wir heute beklagen, und der die BSE-Kriseüberhaupt erst möglich gemacht hat.
– Ach, Herr Börnsen, bitte schön.
Eine Debatte wie die heutige sollte Gelegenheit dafürbieten, nicht die alten Strukturen und die alten Systeme zuverteidigen, sondern – Frau Merkel, dazu habe ich zu we-nig von Ihnen gehört – für die notwendige Aufklärung derVerbraucher zu sorgen. Es geht nicht mehr so wie in frühe-ren Zeiten, als man sich im Supermarkt ein Schnitzel – so-zusagen einen Lockvogel – kaufte, dessen Verkaufspreisunter den Gestehungskosten lag. Da hilft weder Jammernnoch eine Aktion wie die des neuen bayerischen Verbrau-cherschutzministers, der gesagt hat: Liebe Leute, esst allewieder Rindfleisch und damit wird alles gut! Das hilftkein Jota weiter. Jegliche Energie, die darauf verwandtwird, Rindfleisch derzeit wieder unter die Verbraucher zubringen, ist verschwendet.Jede Mark, die die CMAfür entsprechende Plakate undWerbeaktionen vergeudet, sollte sie besser in die Bereicheinvestieren, für die wir gemeinsam neue Qualitätskrite-rien für die Produktion von Nahrungsmitteln entwickelnwollen. Auch in dieser Hinsicht habe ich von Ihnen, FrauMerkel, heute leider sehr wenig gehört.
In dieser Diskussion ist es notwendig, dass wir dieAgrarpolitik aus der Ecke einer reinen Fachfrage heraus-bringen. Niemand weiß nämlich, wohin die Milliarden anSubventionen geflossen sind. Meistens sind sie nicht zuden Bauern geflossen, sondern eher in die verarbeitendeIndustrie. Deshalb glaube ich, dass zukünftige Agrarpoli-tik Gesellschaftspolitik sein wird. Das heißt, wir alle müs-sen uns darüber verständigen, unter welchen Bedingun-gen und Kriterien Nahrungsmittel produziert werdensollen. Die zukünftige Entwicklung wird eine Ausweitungdes ökologischen Bereichs bringen, Herr Heinrich, ob Ih-nen das passt oder nicht, und im konventionellen Bereichwerden harte Produktions- und Qualitätskriterien ange-legt werden. Selbstverständlich nur dann, wenn die bäu-erliche Landwirtschaft gesunde und gute Nahrungsmittelproduziert, ist es legitim, dass sie weiterhin öffentlicheGelder erhält.Danke schön.
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Rezzo Schlauch14533
Ich erteile dem Kolle-gen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.Roland Claus (von der PDS mit Beifall be-grüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst möchte ich Ihnen, Frau Bundesministe-rin Künast, meinen Respekt für Ihr beherztes Agieren aus-sprechen. Sie können bei einer ganzen Reihe von Einzel-schritten auf die Unterstützung der PDS-Fraktion imBundestag zählen.
Dennoch meint die sozialistische Opposition im Bun-destag, dass der Ansatz, den Sie hier wählen, falsch ist.Man muss allerdings sagen, dass Sie in der falschen Spurrichtig gut sind.
Sie haben hier Ihre Agrarwende beschrieben. Bei Ihnenund bei Herrn Schlauch habe ich so ein wenig die Hoff-nung herausgehört, dass die Agrarwende dann vollzogenist, wenn der letzte Bauer im Lande grün geworden ist.
Da ich daran nicht glaube, glaube ich auch nicht an denVollzug dieser Wende.Wir haben es hier aus unserer Sicht mit einem giganti-schen Staatsversagen zu tun aufgrund des Rückzuges desStaates aus Kernbereichen seiner Verantwortung. Ich habemit Interesse und Verwunderung zur Kenntnis genom-men, dass Frau Merkel hier davon gesprochen hat, derStaat müsse das Gestalten wieder an sich ziehen und wie-der Politik betreiben. Von wem habe ich denn die letztenzehn Jahre nichts anderes gehört, als dass der Staat sichzurückziehen müsse, staatliche Kontrolle ein Standort-nachteil sei, wir weniger staatliche Regulierung brauch-ten? Das passt nicht zusammen.
Der blinde Glaube an eine Marktwirtschaft, die längstkeine mehr ist, hat uns in dieses Dilemma geführt. Nun– auch hier haben Sie sich gebeugt, Frau Künast – frageich Sie: Was fällt Ihnen in dieser Situation ein? – Nichtsanderes, als als Hauptschritt eine Marktbereinigung vor-zunehmen. Hier geschieht der nächste Kniefall, hier wirdwiederum blinder Glaube an die Marktwirtschaft prakti-ziert. Es handelt sich um den Versuch, den Teufel mit demBeelzebub auszutreiben.
Erst subventionieren Sie die Mast, dann subventionierenSie die Tötung. Dabei wird Ihre Rechnung nicht aufge-hen; das wissen Sie. Bei der jetzigen Marktbereinigungwird von einem 10-prozentigen Rückgang des Rind-fleischverbrauches ausgegangen. Real verzeichnen wirjetzt Einbrüche in Größenordnungen von 30 bis 50 Pro-zent. Sie wissen, dass dieser Weg so zu keinem Erfolgführen wird. Sie wissen auch, dass sich diese Politik nichtmehr vermitteln und erklären lässt. Auch aus Erfahrungsage ich Ihnen: Wenn sich Politik und Wirtschaft nichtmehr erklären lassen, dann sind Politik und Wirtschaftauch nicht gut.
Der Staat erweist sich als unfähig, mit seinem eigenenVersagen umzugehen. Deshalb, so meinen wir, sind Sieauf der falschen Spur.Meine Damen und Herren, nahezu jeder Bauernhof,auf dem es einen BSE-Verdachtsfall gibt, kommt heute indas Fernsehen. Von den Futtermittelkonzernen kennenselbst wir hier im Bundestag noch nicht einmal die Na-men.
Da fällt mir wirklich nur das Zitat ein: „Die im Dunkelnsieht man nicht.“ Ich wundere mich ein bisschen, dass dieMedien sich das gefallen lassen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, Sie haben, obwohl Sie es immer abstreiten und nichtwahrhaben wollen, gewissermaßen die Schuld bei denBauern abgeladen. Es ist bei den Bauern so angekommenund Sie erfahren es doch selbst, wenn Sie unterwegs sind:Wohin auch immer man kommt, die Bauern fühlen sichaufgrund Ihrer öffentlichen Äußerungen in die Rolle derSchuldigen gedrängt.
Mir fehlt das Verständnis für die von Ihnen jetzt be-schlossenen Massentötungen. Ich frage mich: Wo bleibtdie öffentliche Auswertung der Testergebnisse nach die-sen Schlachtungen? Ich glaube, dass auch das Wort vonden Agrarfabriken dazu beigetragen hat, Bäuerinnen undBauern, gerade in den neuen Bundesländern, zu diskrimi-nieren. Das ist ein Unwort gegen die Agrarunternehmenim Osten.
Das wissen Sie alles sehr wohl. Sie können es sich nichtaussuchen. Eine Botschaft erklärt sich nicht dadurch, dassder Absender sagt: „Ich habe es nicht so gewollt“; ent-scheidend ist vielmehr, wie es bei denen, in deren Rich-tung es gesagt wurde, angekommen ist. Auch die Logik„Klasse statt Masse“ ist keine Erklärung.Wir fordern deshalb die Einrichtung eines Hilfsfondsfür von BSE betroffene Agrarunternehmen. Wir haben Ih-nen das im Zusammenhang mit dem Haushalt 2001 vor-geschlagen. Wir fordern, dass es eine öffentliche Auf-klärung über die Verantwortung der Futtermittelkonzernegibt und dass bei Verstößen gegen gesetzliche RegelungenSanktionen verhängt werden.
Wir brauchen eine Haftung der Verantwortlichen in derFuttermittelindustrie gegenüber den Verbraucherinnenund Verbrauchern, aber auch gegenüber den Bauern; denn
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die Bauern können es sich nicht aussuchen, ob sie Futter-mittel zusetzen oder nicht.
Es muss Schluss sein mit dem Monopoly auf dem Le-bensmittelmarkt. Die Wirtschaft darf der Gesellschaftnicht entzogen werden. Das darf die Gesellschaft nichthinnehmen. Wenn die Wirtschaft das weiterhin versucht,dann muss die Gesellschaft das Grundgesetz anwenden.Ich zitiere jetzt aus Art. 15 des Grundgesetzes und nichtaus dem Parteiprogramm der PDS:Grund und Boden, Naturschätze und Produktions-mittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung ...in Gemeineigentum ... überführt werden.
Auch das steht in unserem Grundgesetz.Alle Politik ist eine Frage der Balance. Die Verneigungvor dem Markt ist falsch. Nach meiner Auffassungbraucht Rindfleisch zwar einen Markt, aber keinen Welt-markt. Wir müssen zu regionalen Kreisläufen in derNahrungsgüterwirtschaft zurückkehren.Ich sage noch einmal, Frau Ministerin: Sie können invielen Einzelfragen auf uns zählen. Aber die Logik, mitder Sie an das Problem herangehen, ist für uns nicht zu-kunftsfähig.
Vergessen wir eines nicht: Wir brauchen die Natur,doch die Natur braucht uns nicht.
Ich erteile das Wort
Till Backhaus, Minister für Ernährung, Landwirtschaft,
Forsten und Fischerei des Landes Mecklenburg-Vorpom-
mern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damenund Herren! Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich alsMinister für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten, Fische-rei und für den Verbraucherschutz hier heute reden darf.Sehr geehrte Frau Bundesministerin, ich bin Ihnen dank-bar für das, was Sie hier gesagt haben. Wir werden Siekonstruktiv begleiten, wir werden aber auch nicht unkri-tisch sein.Ich möchte am Anfang meiner Rede hervorheben, dassich aus Mecklenburg-Vorpommern komme, einem Bun-desland, in dem die Landwirtschaft, die Ernährungswirt-schaft, die Forstwirtschaft und die Fischerei strukturbe-stimmende Faktoren darstellen. Im Zusammenhang mitder Diskussion um eine neue Agrarpolitik ist der heutigeTag für mich ein Gemisch aus Sorge, aber auch Gelassen-heit; Sorge deshalb, weil bei der heutigen Richtungsent-scheidung über die künftige deutsche Agrarpolitik – essind einige neue Argumente angeführt worden, die ich in-haltlich voll unterstütze – die Besonderheiten der ostdeut-schen Landwirtschaft angemessen berücksichtigt werdenmüssen. Ich bin Ihnen insbesondere dankbar dafür, FrauMinisterin, dass Sie nicht auf die Größendiskrepanz oderdie unterschiedlichen Unternehmens- und Betriebsstruk-turen abgestellt haben, sondern dass es in der Zukunft eineChancengleichheit und Gerechtigkeit geben wird. Dasist für uns außerordentlich wichtig.
– Herr Carstensen, darauf komme ich noch.
Die Gelassenheit kommt daher – das will ich deutlichherausstellen –, dass die agrarstrukturellen Tatsachen inMecklenburg-Vorpommern bereits die Basis für dassind, was wir in der Zukunft an Umstrukturierung errei-chen wollen. Wir meinen, dass wir diesen Wandel bereitsseit einiger Zeit eingeleitet haben. Wir im Nordosten lie-ben die Klarheit. Das hat den Vorteil, dass man einenklaren Blick hat. Im Übrigen weise ich ausdrücklich da-rauf hin – Sie wissen es alle –: Im Osten geht die Sonneauf.
– Ich habe mich mit Ihren Problemen in Bayern ausei-nander gesetzt. Ich komme zu dem Schluss, dass es einSegen ist, dass wir im Norden diese Verhältnisse, insge-samt gesehen, nicht haben.
Wir leben nicht auf einer agrarpolitischen Insel derGlückseligen. Aus diesem Grunde wird uns das Wort„Wettbewerbsfähigkeit“ weiter begleiten, wenn wir unsmit der sozialen Marktwirtschaft auseinander setzen, unszu ihr bekennen wollen und wenn wir uns in Europa nichtabschatten wollen.Bei der Neuausrichtung der Agrarpolitik muss inDeutschland die Gleichbehandlung der verschiedenenBetriebsformen auch in Bezug auf die Größe gewahrtbleiben. Ich betone in diesem Zusammenhang ausdrück-lich, dass die regionalen Besonderheiten der unterschied-lich strukturierten Agrarregionen und der ländlichen Ge-biete beachtet werden müssen.Wie stellt sich nun die Situation in Mecklenburg-Vorpommern dar? Sie müssen wissen, dass wir in denletzten zehn Jahren eine Umstrukturierung der Landwirt-schaft und der ländlichen Räume in Mecklenburg-Vor-pommern eingeläutet haben, die einen enormen Struk-turwandel mit sich brachte. Vor der Wiedervereinigungwaren bei uns 190 000 Menschen in der Landwirtschaftund in den Veredlungsbereichen beschäftigt. Heute gibtdieser Bereich leider nur noch 24 000 Menschen Arbeitund Einkommen und stellt damit ihre zukünftige Lebens-grundlage dar.Ich bin der Bundesregierung wirklich dankbar, dass dieUmsteuerung zugunsten der ländlichen Räume – darüber
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Roland Claus14535
ist schon oft gesprochen worden – im Rahmen derAgenda 2000 schon erfolgt ist. Das haben wir in dieserKoalition zustande gebracht.
Ich sage aber auch, dass wir für die wettbewerbsfähi-gen Strukturen einen verdammt hohen Preis in Bezug aufdie Arbeitsplätze zu zahlen hatten. Im Vergleich zu an-deren Bereichen der Volkswirtschaft haben aus meinerSicht die Agrarwirtschaft und die ländlichen Räume, aberauch die Veredlungswirtschaft zusammen mit der Ernäh-rungswirtschaft den Übergang in die Marktwirtschaft ambesten vollzogen. Die Agrarwirtschaft ist in unseremLande nach wie vor einer der strukturbestimmenden Wirt-schaftszweige. Das ist auch der Grund, warum ich hier bin.Diese Entwicklung war das Ergebnis unserer gutenRahmenbedingungen, ob es die saubere Luft, der sau-bere Boden, das saubere Wasser oder – das betone ichausdrücklich – der Sachverstand der Landwirte in Meck-lenburg-Vorpommern ist. Pauschal die Landwirte inDeutschland an den Pranger zu stellen, was nach meinerKenntnis noch nicht geschehen ist, ist mit mir – ich binselber Landwirt – nicht zu machen.
Im Übrigen weise ich ausdrücklich auf folgenden Punkthin: Mehr als 3 000 landwirtschaftliche Unternehmen inunserem Bundesland haben Fördermöglichkeiten in An-spruch genommen. Dadurch wurden Investitionen vonüber 3 Milliarden DM ausgelöst.Es ist auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass unsereBetriebe größer strukturiert sind als Betriebe in anderenAgrarregionen. Genauer gesagt: In unserem Bundeslandwirtschaften die Betriebe im Durchschnitt aller Unterneh-mensformen auf 272 Hektar. Angesichts der Tatsache,dass der Bundesdurchschnitt bei 39 Hektar liegt, wirddeutlich, wo die Diskrepanzen zum Teil zu finden sind.Hinter dieser Größe steckt nicht nur die wirtschaftli-che Stärke und damit die Möglichkeit des Broterwerbs fürviele Familien, sondern auch eine Zukunftsperspektive.Ich will Ihnen gerne sagen, warum. Das Wort Verbrau-cherschutz – damit sind wir bei der BSE-Diskussion – hatin den letzten Wochen und Monaten eine wichtige neueQualität erfahren, was gut so ist. Wir brauchen geschlos-sene Systeme und mehr Transparenz.Mecklenburg-Vor-pommern wird als erstes Bundesland damit beginnen,komplette landwirtschaftliche Unternehmen zu zertifizie-ren. Das gibt es in der Bundesrepublik Deutschland bis-her noch nicht. Wir fangen damit an und werden damit diegläserne Produktion vom Stall bis zur Theke einführen.
Genau das können die Landwirte in Mecklenburg-Vor-pommern mit den vorhandenen Strukturprofilen leisten.Ich finde es gut, wenn die Bundesregierung einen run-den Tisch einsetzen will. Im Osten haben wir Erfahrun-gen mit runden Tischen. Diese sind gut; aber man mussbeachten, dass durch die runden Tische die Situation oft-mals nicht unbedingt unkomplizierter wird.Ein weiteres Kennzeichen der Landwirtschaft inMecklenburg-Vorpommern ist der außerordentlich ge-ringe Viehbesatz. Frau Ministerin, ich stimme Ihnen zu,dass wir insgesamt in der Bundesrepublik Deutschlandvon dem überhöhten Tierbesatz herunter müssen. Aber ichsage auch: Mit 0,4 GV je Hektar in Mecklenburg-Vor-pommern haben wir die Norm, die Sie anstreben, längsterfüllt. Deswegen dürfen in Mecklenburg-Vorpommernnicht weitere Bestände abgebaut oder die neuen Bundes-länder zur veredlungsfreien Zone werden. Das müssenwir gemeinsam verhindern.
Zu dem, was Mecklenburg-Vorpommern erreicht hat,gehört auch, dass wir in der Bundesrepublik Deutschlandführend im ökologischen Landbau sind.
8,6 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe arbeitennach den ökologischen Kriterien. Ich betone: In Bayernsind es ganze 1,7 Prozent, in Nordrhein-Westfalen0,7 Prozent.
Insofern stelle ich Ihnen die Frage: Wo gibt es denn daNachholbedarf? Machen Sie das Mecklenburg-Vorpom-mern erst einmal nach!
Außerdem, Frau Ministerin, liegen wir im Bereich derRinderproduktion bei der Mutterkuhhaltung mittler-weile bei 15 Prozent. Insofern werden vermutlich diejeni-gen, die aus der DDR stammen, demnächst anfangen, ei-nen Gegenplan zu entwickeln. Vielleicht führt das ja auchzu mehr Motivation.
Aber auch der gute Wert in Mecklenburg-Vorpommerndarf den Blick nicht verstellen, dass die überwiegende An-zahl der landwirtschaftlichen Unternehmen nach wie vorim konventionellen Bereich tätig ist. Gerade dort brau-chen wir noch mehr Nachhaltigkeit.Wir haben vor anderthalb Jahren ein Agrarkon-zept 2000 entwickelt und vorgelegt und damit den Drei-klang von Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Mul-tifunktionalität als den Weg Mecklenburg-Vorpommernsbeschrieben. Ich glaube, unsere Agrarpolitik liegt in derVision und in der Umsetzung sehr dicht beieinander.
Dass die Landwirte in Mecklenburg-Vorpommern fürdie Zukunft aufgeschlossen, modern und naturverbundensind, können Sie sich täglich bei uns anschauen. Hierwurde viel investiert. Hier gibt es keine Verkrustungen,sondern es gibt zum Glück noch – das muss man immer
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Minister Till Backhaus
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wieder anerkennen – Unternehmergeist, ja sogar Pionier-geist, die Aufgaben immer wieder neu anzugehen undgute Voraussetzungen für eine dynamische Entwicklungzu schaffen.
Es darf jedoch nicht passieren, dass die hohen Inves-titionen, die Aufbauarbeit sowie die zahlreichen Innova-tionen und deren Entwicklung durch kurzsichtige Ent-scheidungen ins Leere laufen. Im Klartext heißt das: Eineweitere Verringerung der Veredlungsproduktion darf inMecklenburg-Vorpommern nicht stattfinden, denn damitwürden die ländlichen Räume stark in Mitleidenschaft ge-zogen. Ich nehme zur Kenntnis, dass wir uns in dieserFrage einig sind.Selbstverständlich sind wir auch bereit, bei der Finan-zierung – das ist hier angesprochen worden – und Bewäl-tigung der BSE-Krise mitzuwirken. Ich betone dies aus-drücklich. Die Länder sind bereit, sich an den Kosten derBSE-Bewältigung zu beteiligen.
Sie machen das schon heute, zum Beispiel bei der Le-bensmittelkontrolle, der Futtermittelkontrolle, der Tier-körperbeseitigung, den BSE-Tests und der Ausreichungvon Liquiditätshilfen, bis hin in den Bereich der For-schungsleistungen, die die Länder erbracht haben.Insofern setze ich auf eine Kompromisslösung. Ichwünsche mir, dass wir jetzt sehr schnell zu handeln be-ginnen. Auch ich sehe es so, dass insbesondere die tier-mehlhaltigen Futtermittel schnell von den Höfen he-runter müssen. Wir müssen hier umgehend handeln.
Dazu gehört für mich in gleicher Weise, dass wir die Pro-dukthaftung in Richtung der Futtermittelindustrie ausdeh-nen müssen. Ebenso brauchen wir geschlossene Systemeder Nachhaltigkeit und der Multifunktionalität sowie einesolide Basis in dieser Richtung.Ein Wort zu Modulation und „cross compliance“.Diese Mechanismen sind nicht die von uns bevorzugteVariante. Das habe ich in den Agendadebatten immer wie-der zum Ausdruck gebracht. Aber wir werden uns dieserEntwicklung nicht verschließen können und werden unsauch nicht verschließen. Besonders der Verknüpfung vonFlächenausgleichszahlungen mit Umweltauflagen ste-hen wir aufgeschlossen gegenüber, wenn diese Auflagennicht an die Betriebsgröße gekoppelt werden und wennsie innerhalb der Bundesländer einheitlich festgelegt wer-den.Zur Modulation. Ich bin Realist genug, um zu erken-nen, dass wir an diesem Thema in der Zukunft nicht vor-beikommen werden. Entscheidend ist also für uns die ge-meinsame Ausgestaltung. Dabei sollte besonderer Wertauf folgende Punkte gelegt werden:Erstens muss Leistung sich auch in der Landwirtschaftund für die ländlichen Räume lohnen, wobei man in der Tatdarüber diskutieren muss, was man überhaupt unter Leis-tung versteht. Da müssen Kriterien entwickelt werden.Zweitens dürfen Betriebe nicht wegen ihrer Größe be-nachteiligt werden, wenn sie Qualitätslebensmittel – ichbetone: Mittel zum Leben – produzieren.
Drittens müssen wir die bei der Anwendung der Mo-dulation frei werdenden Mittel innerhalb der Länder wei-terverwenden dürfen. Es darf uns nicht passieren, dass wirMittel in Richtung Süden ablaufen lassen und damit derOsten zur veredelungsfreien Zone wird. Das verstehenwir unter regionaler Gerechtigkeit.
Abschließend noch eine Bitte. Das BSE-Maßnahmen-gesetz wird dieses Haus in den nächsten Tagen intensivbeschäftigen. Viele Menschen stellen die ethisch berech-tigte Frage nach dem Sinn einer Tötung von Gesamtbe-ständen. Ich bitte Sie, hier umgehend klare gesetzlicheGrundlagen zu schaffen. Das derzeit praktizierte Verfah-ren ist nach meiner Auffassung fachlich nicht ausreichendbegründbar und im Moment nur deshalb nicht zu vermei-den, weil die nachfolgenden Wirtschaftsbereiche keineTiere oder auch Produkte aus BSE-Beständen nachfragen.Hier müssen wir gemeinsam mit den Verbraucherinnenund Verbrauchern vorankommen. Wir dürfen uns dieWege nicht verbauen.Noch ein Wort an Frau Merkel. Sie kommen aus demschönsten Bundesland der Bundesrepublik Deutschland,aus dem ja auch ich komme. Sie sind dort Parteivorsit-zende gewesen. Ich habe die Entwicklung sehr genau mit-erlebt. Haben Sie nicht als dortige CDU-Vorsitzendedafür geworben, in Mecklenburg-Vorpommern indus-triemäßige Anlagen mit bis zu 20 000 Schweinen zuinstallieren?
Genau das verstehen wir unter den industriemäßigen An-lagen, die der Bundeskanzler angesprochen hat.Diskriminieren Sie nicht die Landwirte, die flächen-deckende landwirtschaftliche Urproduktion betreiben!Unter flächendeckender Landwirtschaft verstehen wirund auch das neue Papier des Bundeskanzleramtes eineProduktionsweise, bei der der Tierbesatz an die Fläche ge-bunden ist.
In der Vergangenheit haben Sie von der CDU sogarschwarze Listen von Gemeinden entwickelt, die nicht be-reit waren, solche Investitionen aufzunehmen, und diesevon Programmen zur Dorferneuerung und Dorfentwick-lung ausgeschlossen. Das war der Geist der CDU.
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Minister Till Backhaus
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Aber Sie haben sich gewandelt; das will ich Ihnen zuge-stehen.Vielen Dank.
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dietrich
Austermann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kollegen! Der Kollege Struck hat vorhin in seinem
kurzen Debattenbeitrag die Behauptung aufgestellt, un-
sere Rednerin Frau Dr. Merkel habe unzutreffend über die
Beschlussfassung des Haushaltsausschusses gestern be-
richtet. Ich stelle dazu Folgendes fest: Es hat gestern im
Haushaltsausschuss eine Drucksache der Bundesregie-
rung vorgelegen, Datum: 5. Februar 2001. In dieser
Drucksache wird über die Gegenfinanzierung außer-
planmäßiger Ausgaben berichtet. Es heißt dort:
Zur Vermeidung einer weiteren Belastung der
Haushaltseckwerte wird auf eine weitere Steuersen-
kung für Agrardiesel verzichtet.
Hier wird von einer Entscheidung Abstand genommen,
die den Bauern versprochen war, von einer Entscheidung,
die die Grundlage für die Beschlussfassung zur Entfer-
nungspauschale im Bundesrat war, von einer Entschei-
dung, die seit längerer Zeit fällig ist, weil die Bauern
durch Agrardiesel in besonderem Maße belastet sind.
Der zuständige Staatssekretär aus dem Finanzministe-
rium hat dies erläutert und dabei deutlich gemacht, dass
dies 200 Millionen DM bedeutet.
Das heißt, die Bauern sollen auf der einen Seite 200 Mil-
lionen DM finanzieren, damit auf der anderen Seite BSE-
Schäden beseitigt werden. Dies ist ein Vertrauensbruch
und ein Verstoß gegen die Haushaltsregeln.
Dass der Herr Kollege Struck die Unwahrheit gesagt
hat, dürfte damit offenkundig sein.
Bedauerlicherweise
konnte diese Kurzintervention nicht unmittelbar auf die
Rede des Kollegen Struck folgen, sodass jetzt die missli-
che Situation entstanden ist, dass der Kollege Struck nicht
antworten kann.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr.
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetztwird gewendet, was schon einmal gewendet war.
– Ja, Ulrike, ich sage dir jetzt, was zum Beispiel im Ver-braucherschutz gewendet wird. Frau Künast hat angekün-digt – ich finde die Ankündigung gut –: Lebensmittel undFuttermittel sollen rückstandsfrei sein. Vor einem halbenJahr haben wir den Lebensmittelbericht 2000 dieser Bun-desregierung zur Kenntnis genommen, in dem steht: Fut-termittel und Lebensmittel sind rückstandsfrei.
– Das steht da drin. Ich kann den Bericht jedem vorlegen,ich habe ihn gelesen und offenbar nicht so ein Kurzzeit-gedächtnis wie manch anderer hier im Hause.Ich finde, dass der Bericht den Futtermitteln einfalsches Testat ausgestellt hat. Wenn wir eine Konsequenzaus der BSE-Krise für den Verbraucherschutz ziehen– auch die Landwirte sind Verbraucher, sie verbrauchenbeispielsweise Futtermittel, die in die Lebensmittelpro-duktion einfließen –, dann sollten wir gemeinsam eineGrundbedingung aufnehmen: Verbraucherschutz hat im-mer unbequem zu sein und darf nie in Routine einmün-den. Er ist aber in Routineaussagen eingemündet. Ichglaube daher, dass wir daraus gemeinsame Rückschlüsseziehen müssen.Ich finde, dass Frau Merkel hier zu Recht angespro-chen hat – ich wundere mich, dass keine weitere Redne-rin oder kein weiterer Redner darauf eingegangen ist –,dass es ein Produkthaftungsrecht geben muss. Das istetwas, was wir jetzt unbedingt in den Verbraucherschutzintegrieren müssen. Das ist ungemein wichtig;
denn wenn es ein Fehlverhalten Einzelner gab, dann müs-sen diejenigen, die sich fehlverhalten haben, durch einProdukthaftungsrecht auch in Haftung genommen werdenkönnen. Das ist eine weitere Konsequenz, die wir aus derBSE-Krise zu ziehen haben.
Nun wird nicht nur der Verbraucherschutz gewendet,die Bundesregierung wendet auch die Agrarpolitik.Manches, was hier genannt worden ist, kann ich für dieCDU/CSU-Fraktion nachvollziehen. Herr Backhaus, esgeht nicht um eine Agrarindustrie, aber es gibt eine agrar-gewerbliche Produktion, die keine Flächenbindung hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Minister Till Backhaus
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Dazu möchte ich Ihnen etwas sagen: Im letzten Jahr istdie agrargewerbliche Produktion gegenüber der bäuerli-chen Landwirtschaft durch die rot-grüne Koalition steu-erlich sehr viel günstiger gestellt worden.
Frau Künast, ich fordere Sie auf, die Besserstellung derflächenunabhängigen agrargewerblichen Produktion inder Bundesrepublik Deutschland rückgängig zu machenund die bäuerliche Landwirtschaft mit der agrarge-werblichen Produktion wenigstens gleichzustellen.
Auch bei der Ökosteuer – ich meine nicht den Agrar-diesel oder die Mineralölsteuer, ich meine die Ökosteuer,soweit sie sich auf Strom und Gas bezieht – ist zumindestdie größere Produktion, auch die agrarbewerbliche Pro-duktion, gegenüber den bäuerlichen Betrieben einseitigbegünstigt worden. Stellen wir das in der Agrarpolitikwieder richtig! Damit leisten wir für die Landwirte in die-sem Land eine verdienstvolle Arbeit.
Wenn uns das gemeinsam gelingen würde, wäre das dochschon etwas.Es geht aber weiter: Jetzt wurde angekündigt, manwolle unbedingt Agrarumweltmaßnahmen fördern. Ichfinde das interessant. Ich habe Herrn Funke einmal da-nach gefragt, warum er in seinem Bundesland wenigerAgrarumweltprogramme gefördert hat, als das beispiels-weise in Sachsen, Bayern, Thüringen oder Baden-Württemberg der Fall war. Da hat er mir gesagt, in Nie-dersachsen gebe es nicht so viele erhaltenswerte Land-schaftsteile. Aufseiten der Koalitionsfraktionen führte dasauch noch zu einem Gelächter. Wir sollten ein solchesVerhalten aufgeben und uns auf den Level einiger Bun-desländer einpendeln, die meist unionsregiert waren, wo-bei manchmal die F.D.P. mit an der Regierung beteiligtwar. Wenn das geschehen würde, wäre ich sehr dankbar.Jetzt wird geäußert, man wolle die alternative Produk-tion bzw. die Ökobetriebe besonders fördern. HerrBackhaus, Sie haben dazu etwas gesagt, was ich gut fand.Im Übrigen war Ihre Rede sehr viel sachgerechter alsmanche Rede, die hier heute Morgen schon gehalten wor-den ist.
Nur, ich habe den Eindruck, Sie befinden sich da einStück weit in innerer Opposition zur Bundesregierung.Das wird jetzt manchmal deutlich. Im Hinblick auf dieFörderung von Ökobetrieben wurde in Mecklenburg-Vor-pommern Gutes geleistet. Ich glaube allerdings, daranwaren wir beteiligt.
– Das ist so. Man kann doch nachvollziehen, wann dieentsprechenden Zahlen entstanden sind. – Ausdrücklichwill ich hier auch das früher allein von der SPD regierteBrandenburg loben.Aber betrachten wir einmal die Situation in den west-deutschen Bundesländern – dies ist schon von HerrnBackhaus angesprochen worden, obwohl ich die im Hin-blick auf Nordrhein-Westfalen genannte Zahl nach obenkorrigieren muss –: In Nordrhein-Westfalen wird 1,4 Pro-zent der Landesfläche durch Ökobetriebe bewirtschaftet,in Baden-Württemberg fast 5 Prozent.
Wenn man jetzt die Ökoproduktion auf 10 Prozent derLandesfläche ausweiten will, dann muss man in Baden-Württemberg die Ökoproduktion nur verdoppeln. BeiFrau Höhn muss man sie versiebenfachen.Jetzt komme ich auf Trittin und Schröder zu sprechen– die haben ja einmal in Niedersachsen regiert –:
In Niedersachsen ist 0,9 Prozent der Landesfläche durchÖkobetriebe bewirtschaftet.
Das heißt, wenn man eine Ökoproduktion auf 10 Prozentder Landesfläche erzielen will, dann muss dort verelffachtwerden.Hier wird immer wieder das Gegenteil von dem ver-kündet, was man zuvor gesagt hat. Herr Backhaus, an die-ser Stelle hat mir Ihre Rede gefallen. Sie haben gesagt, dieLandwirte müssten ihr investives Verhalten auf bestimmteagrarpolitische Rahmenbedingungen einstellen kön-nen. Aber angesichts der ständigen Wendungen in der Po-litik können die das doch gar nicht, und zwar weder diealternativ ausgerichtete Landwirtschaft noch die konven-tionell ausgerichtete Landwirtschaft. Ich habe den Ein-druck, dass es einigen im Grunde genommen gar nicht da-rum geht, die alternativ ausgerichtete Landwirtschaftbesonders zu fördern. Vielmehr geht es darum, die kon-ventionelle Landwirtschaft auf die Anklagebank zu brin-gen. Etwas anderes will man häufig gar nicht.
Meine Damen und Herren, ich mache dafür nicht die jet-zige Koalition verantwortlich, obwohl sie sich ja immerwieder in die Verantwortung für das Marktgeschehen hi-neingeredet hat.Wir sollten uns einmal anschauen, wie sich in den letz-ten Wochen die Märkte in der Bundesrepublik Deutsch-land entwickelt haben – zu dieser Entwicklung haben ei-nige Redereien beigetragen; ich will gar nicht das Wort„Eierkocher“, das Frau Künast im Zusammenhang mit derViehhaltung verwendet hat, kritisieren; denn ich glaube,dass sie das nicht wiederholen wird –: Immer mehrFleisch kommt zurzeit aus dem Ausland auf den hiesigenMarkt. Ich frage mich, wieso für dieses Fleisch nicht diequalitativ gleichen Bestimmungen gelten wie für die deut-sche Fleischproduktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr14539
Wir haben noch immer nicht europaweit die Verwendungvon Separatorenfleisch verboten. Wenn aufgrund desVerbraucherschutzes dieses in Deutschland bestehendeVerbot richtig ist – ich habe keinen Zweifel daran, dasswir übereinstimmend der Auffassung sind, dieses Verbotmüsse sein –, dann muss es aber auch für Importware gel-ten. Es kann ja nicht zweierlei Maß geben. Angesichtsdessen, dass immer mehr Fleisch aus dem Ausland zu unskommt, müssen wir darüber nachdenken, ob wirklich eineProduktionsverlagerung das richtige Mittel ist und ob esnicht sehr viel mehr auf eine höhere Lebensmittel-sicherheit ankommt. Dies gilt es als eine der entscheiden-den Voraussetzungen sowohl für einen offensiven Ver-braucherschutz wie auch für ein offensives Eintreten füreine Landwirtschaft in Deutschland und für den ländli-chen Raum zu begreifen. Ich habe allerdings den Ein-druck, dass wir manchmal im Grunde genommen an dereigenen Thematik vorbeireden.
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Struck das Wort, damit er die Kurzintervention
des Kollegen Dietrich Austermann beantworten kann.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kol-
lege Austermann. Ich hatte einen dringenden anderen Ter-
min; deshalb konnte ich Ihre Kurzintervention nicht
verfolgen.
Ich will noch einmal politisch Folgendes klarstellen:
Die Bundesregierung hat offenbar die Absicht, die Kos-
ten, die durch BSE entstanden sind, unter anderem auch
dadurch aufzufangen, dass die beabsichtigte Senkung bei
der Steuer für den Agrardiesel in der Größenordnung von
200Millionen DM nicht vorgenommen wird und dadurch
ein Teil der Kosten gedeckt wird.
– Moment, langsam. Immer schön ruhig. Frau Merkel hat
gesagt, der Haushaltsausschuss habe das beschlossen. Ich
habe dargestellt – nachdem mir die Kollegen aus dem
Haushaltsausschuss über die Sitzung berichtet haben –:
Der Haushaltsausschuss hat diese Absicht der Bundesre-
gierung zur Kenntnis genommen.
– Immer ruhig.
Selbst wenn es so sein sollte, dass eine solche Kennt-
nisnahme, wenn nicht etwas anderes passiert, rechtliche
Wirkungen entfaltet – –
– Moment. Dazu komme ich noch.
– Interessiert es Sie nun, was wir machen wollen, oder in-
teressiert es Sie nicht? Dann bringen Sie doch einmal Ihre
Leute ein wenig zur Ruhe, Herr Kollege Glos.
Selbst wenn das die Absicht der Bundesregierung sein
sollte – ich wiederhole das, was ich vorhin vom Redner-
pult gesagt habe –: Es gibt eine Erklärung der beiden Ko-
alitionsfraktionen im Zusammenhang mit der Regelung
bei der Entfernungspauschale; es gibt eine Erklärung des
Bundesfinanzministers gegenüber dem Bundesrat; es ha-
ben sich SPD-Ministerpräsidenten für die Senkung der
Belastung beim Agrardiesel ausgesprochen.
Die Koalitionsfraktionen werden zusammen mit der Bun-
desregierung eine Entscheidung darüber treffen.
Ich sage Ihnen: Ich werde mich in meiner Fraktion dafür
einsetzen, dass es zu dieser Senkung der Belastung beim
Agrardiesel kommt, weil ich glaube, dass wir hier in einer
besonderen Verantwortung stehen.
Ich will überhaupt nicht verschweigen, dass ich auch Ver-
ständnis für die Sorgen und Nöte des Bundesfinanzminis-
ters habe.
Allerdings will ich hier schon klar Position beziehen: Die
Senkung der Belastung beim Agrardiesel haben wir im
Zusammenhang mit der Diskussion bei der Ökosteuer be-
schlossen und wir werden das, jedenfalls wenn es nach
mir geht, auch umsetzen.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Der BSE-Skandal hat das Fass zum Überlaufen ge-bracht. Aber das ist exemplarisch für Defizite im Bereich
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Heinrich-Wilhelm Ronsöhr14540
des Verbraucherschutzes. Bei den Lebensmitteln, aberauch in vielen anderen Bereichen gibt es Probleme mit In-transparenz, mit mangelnder Verbraucherinformation, mitmangelndem Verbraucherschutz, sei es der Handel mitAktien, die Altersvorsorge, die Telekommunikation, sei esdie Strahlenbelastung durch Handys. Der globale Marktund der Binnenmarkt in der EU stellen erhöhte und neueAnforderungen an den Verbraucherschutz, qualitativebenso wie quantitativ.Die an die Politik gerichtete Anforderung heißt: Vor-sorge als wichtigstes Prinzip verankern. Das ist auch ausökonomischen Gründen sinnvoll. Nehmen Sie einmal dasBeispiel Asbest. Asbest wurde schon 1936 als gesund-heitsschädigend erkannt und es dauerte 60 Jahre, bis esvom Markt genommen wurde. Die Folgekosten seitdembetragen 10 Milliarden DM. Die Folgekosten bei BSEwerden sicher viel höher sein. Die Bundesregierung hatsich entschlossen, hier zu handeln. Vorsorge als wichtigs-tes Prinzip zu verankern heißt, in diesen Bereichen auchneue Strukturen zu schaffen. Das ist mit dem Ministeriumfür Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaftunter der Leitung von Ministerin Renate Künast gesche-hen, die für eine solche Entwicklung steht. Damit ist eingroßer, qualitativ neuer Schritt zur Verankerung des Ver-braucherschutzes gemacht worden.
– Ruhe!
Wir werden auch weiterhin solche Schritte unterneh-men, und zwar nicht nur in Form der Umwandlung desAusschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forstenin einen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft. Vielmehr zeigt der Antrag der Koaliti-onsfraktionen mit dem Titel „Offensive für den Verbrau-cherschutz – Perspektiven für die Landwirtschaft“, der Ih-nen heute vorliegt, dass diese Neuorientierung in derGesellschaft, aber auch unter den Abgeordneten und inden Fraktionen auf breiter Ebene getragen wird. Der Wan-del zu einer modernen Gesellschaft im Bereich Agrarpo-litik soll hiermit verankert und vorangetrieben werden.Wir folgen damit einem Modell, das auch Vertreter desKanzleramts in die Öffentlichkeit getragen haben, näm-lich dem Modell der Marktspaltung.Das Modell hat dreiSäulen: gewerbliche Produktion, multifunktionelle Pro-duktion und ökologische Produktion. Die Entwicklung ei-ner solchen Marktspaltung im Bereich der Produktiongibt es schon seit längerem, aber wir werden sie mit Blickauf die multifunktionelle und die ökologische Produktionweiter vorantreiben.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionenhaben sich zum Ziel gesetzt, Lebensmittelsicherheit wie-der herzustellen und das Vertrauen der Verbraucher wiederzu gewinnen, Landwirtschaftsbetrieben und Lebensmittel-wirtschaft bezüglich Arbeitsplätzen und Einkommen wie-der Perspektiven zu bieten, die Verschwendung von Steu-ermitteln für falsche Agrarpolitik zu beenden und Folge-kosten im Gesundheitswesen und in der Volkswirtschaftfür Umweltreparaturmaßnahmen zu vermeiden. DieseZiele werden mit folgenden vier Schwerpunkten umge-setzt: Verbraucherschutz und Transparenz, Förderungumwelt- und tiergerechter Landwirtschaft im konventio-nellen Bereich, Förderung von ökologischer Produktionund neue Perspektiven für die Landwirtschaft im Bereichneue Dienstleistungen, zum Beispiel erneuerbare Ener-gien.
Zum ersten Schwerpunkt, Verbraucherschutz undTransparenz,möchte ich noch einmal hervorheben – dasist eine wichtige Aussage auch im Hinblick auf die Wett-bewerbsfähigkeit künftiger qualitativ hochwertiger Pro-dukte – : Wir möchten Qualitätszeichen verankern, umdie Orientierung der Verbraucher zu erleichtern, und zwarsowohl im Bereich der ökologischen Produktion als auchim Bereich der konventionellen Produktion. Den Ver-brauchern muss ermöglicht werden, zu identifizieren, wasunter hohen Standards erzeugt worden ist, und auch überden Verbraucherpreis die Mehrleistungen, die damit ver-bunden sind – kostenintensivere Produktion durch mehrArtgerechtigkeit; mehr Platz in den Ställen, wie FrauKünast sagt –, zu honorieren. Dies gilt auch für eine Ver-teuerung, indem man auf bestimmte Rationalisierungs-maßnahmen wie das Verfüttern von Tiermehl oder dasVerabreichen antibiotischer Leistungsförderer in einempositiven Sinne zum Wohle der Gesundheit der Verbrau-cher verzichtet.
Verbraucherschutz und Transparenz haben natürlichauch viel mit den BSE-Schutzmaßnahmen zu tun, die inunserem Antrag ausführlich beschrieben sind, über denwir heute auch beraten. Für uns sind in den letzten Wo-chen und Monaten natürlich zwei Bereiche in der Diskus-sion gewesen. Frau Ministerin Künast hat sehr viel Mutbewiesen und sich in dieser sehr kontroversen und emo-tionalisierten Debatte durch eine pragmatische Herange-hensweise behauptet und diesen Vorsorgegedanken ver-ankert.Ich glaube, dieser Vorsorgegedanke muss im Bundes-tag insgesamt verankert werden. Man kann nicht durchständig neue Vorschläge und unterschiedliche Vorgehens-weisen – auch in einzelnen Ländern, Herr Backhaus – dieMenschen weiter verunsichern. Wir müssen uns zunächsteinmal an den Erkenntnissen orientieren, die wir im Mo-ment haben. Das heißt für uns – so steht es auch in unse-rem Antrag –, dass wir zunächst einmal die Herden-schlachtung betreiben müssen.Hier wird immer auf die Schweiz mit dem Kohorten-modell verwiesen. Dazu muss man ehrlicherweise sagen,dass die Schweiz schon seit zehn Jahren eine solche BSE-Bekämpfung betreibt. Fast vier Jahre lang hat sie ganze
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Ulrike Höfken14541
Herden geschlachtet. Wenn wir dahin kommen, könnenwir auch darüber reden; ebenso – das hoffe ich –, wennwir zu neuen Erkenntnissen kommen, beispielsweise imBereich der Lebendtests.Das Zweite ist das Marktentlastungsprogramm.Wirhaben keine Alternativen. Es ist jedem freigestellt, jedemBundesland, auch Bayern, andere Vermarktungsmöglich-keiten für die Rinder und die Milchkühe, die älter als30 Monate sind, zu suchen und wahrzunehmen. Es ist denVerbrauchern, es ist den Gruppen freigestellt, die sich en-gagieren möchten, das zu tun. Es ist selbstverständlichauch möglich, in die Dritte Welt zu exportieren. Es findetsich dafür bloß keiner, wie Herr Schlauch schon gesagthat, und das werden wir auf keinen Fall unterstützen. Aberalle diese Möglichkeiten haben sich bisher nicht gezeigt.Insofern gibt es nur diesen einen Weg. Das ist für den Tier-schutz und für die ethische Betrachtung wichtig: Wir wer-den dafür sorgen, dass sich eine solche Entwicklung nichtwiederholt, indem wir die artgerechte Tierhaltung in Zu-kunft massiv unterstützen und eine Entwicklung dieserArt nicht mehr zulassen.
Die Altlastenverwaltung ist einfach nötig, ebenso eineumwelt- und tiergerechte Produktion im konventionellenBereich. Es ist eine Qualitätskennzeichnung notwendig,um auch im konventionellen Bereich eine neue Wert-schätzung und Wertschöpfung dieser Produkte zu ermög-lichen. Es ist aber auch wichtig, die Förderung im Hin-blick auf die Wettbewerbsfähigkeit anders zu gestalten.Bisher erhalten industrialisierte und gewerbliche Formennahezu die gleiche Unterstützung. Wir möchten daraufhinwirken, dass die artgerecht und umweltgerecht ausge-richtete, aber auch die arbeitsplatzorientierte Produktionneue Chancen erhält. Ich habe mich über Ihre Ausführun-gen, Herr Backhaus, zur Modulation und zu den Mög-lichkeiten, die wir im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabeim Bereich der Agenda 2000 haben, gefreut.Zur Agenda 2000 noch eine kurze Anmerkung: FrauMerkel hat hier ein Scheitern festgestellt und dabei BSEund die Milchquote miteinander in Verbindung gebracht.Aber mit Verlaub: Wir hatten bislang kein Problem mitder Milcherzeugung in diesem Land, wir hatten auch keinProblem beim Fleischabsatz. Insofern hat das eine mitdem anderen weiß Gott nichts zu tun. Wir haben durchaussehr positive Entwicklungen im Bereich der Agenda 2000zu verzeichnen. Eine Weiterentwicklung ist in diesem Fallauch nur konsequent und wird von der EU- und der WTO-Ebene abgestützt.
Zur ökologischen Produktion:Wir haben uns vorge-nommen, in zehn Jahren 20 Prozent der Agrarprodukteökologisch zu erzeugen. Hier möchte ich noch einmal aufdas von Frau Merkel und Herrn Ronsöhr Gesagte einge-hen. Sie haben wieder einmal eine absolute Ideologisie-rung betrieben. Man muss sich doch an den Kopf fassenangesichts der Tatsache, dass ökologische Produkte inDeutschland bislang keine Marktchance hatten – im Ge-gensatz zu Österreich, zu Dänemark, zu Italien oder derSchweiz.
Sie haben die Entwicklung der ökologischen Produktionmassiv verschlafen und verhindert. Das hat im Übrigenzum Teil auch der Deutsche Bauernverband getan, bis ersich ein Stück weit revidiert hat.
Frau Kol-
legin Höfken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Ronsöhr?
Ja,
wenn ich diesen Satz beendet habe.
Die Nachfrage wird zu 50 Prozent aus dem Ausland ge-
deckt. Es ist keinesfalls so, dass die Betriebe in die Enge
getrieben würden. Notwendig ist, die Logistikstrukturen
zu verbessern, den Absatz zu unterstützen, eine Image-
kampagne zu fahren und Verbraucherinformation zu
betreiben. Dann haben diese Produkte eine sehr große
Chance auf dem Markt, im Übrigen auch zugunsten der
konventionellen Produktion, die ja bestehen bleibt.
Herr Ronsöhr.
Frau Kol-
legin Höfken, würden Sie anerkennen, dass ich mich nicht
gegen den ökologischen Landbau ausgesprochen, son-
dern lediglich festgestellt habe, dass in Baden-Württem-
berg der ökologische Landbau offensichtlich auf dem
Markt und auch bei der Politik eine andere Akzeptanz ge-
funden hat als in Nordrhein-Westfalen,
obwohl die Regierung von Nordrhein-Westfalen immer
etwas anderes sagt? Ich glaube, dass Herr Minister
Backhaus für das Land Mecklenburg-Vorpommern eine
ähnliche Erklärung abgegeben hat.
Wirsehen den Wandel der CDU/CSU mit Freuden und wartendarauf, dass sich dieser auch in entsprechende Taten um-setzt.
Es ist die Aufgabe des Bundes, die Rahmenbedingungenso zu gestalten, dass die Länder in die Lage versetzt wer-den, eine solche Strategie mitzumachen. Das werden wirtun.
Wir haben – das ist schon angesprochen worden – einFinanzierungsproblem. Der Bund leistet einen großen
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Ulrike Höfken14542
Beitrag, indem er knapp 1 Milliarde DM zur Unterstüt-zung der unmittelbaren BSE-Bekämpfung und der Fol-gekosten zur Verfügung stellen wird. Das ist etwas, dasman würdigen muss.Ich spreche hier als Abgeordnete und möchte demHause insgesamt ein Problem aufzeigen, das mich beun-ruhigt. Ich möchte aus unserem Antrag zitieren, der Ihnenvorliegt:Der Einsatz von Mitteln zur akuten Krisenbewälti-gung darf nicht zulasten der Förderung der Neuaus-richtung der landwirtschaftlichen Betriebe gehen.Das ist ein wichtiger Ansatz. Selbstverständlich verstehenwir die Situation der Haushälter. Jeder Finanzministermuss klebrige Finger haben. Aber es ist unser Wunsch undes besteht auch die Notwendigkeit, dass die Finanzie-rung noch einmal überprüft wird und vielleicht neueMöglichkeiten geschaffen werden.Die Betriebe, die tatsächlich in Schwierigkeiten sind,sollten eine Unterstützung erhalten. Ich habe niemals voneiner Steuer geredet. Das haben andere in vielleicht ein-deutiger Absicht getan. Aber es ist notwendig, sich darü-ber Gedanken zu machen, wie der Finanzierungsstau auf-zulösen ist, der sich gerade bei den Milchviehbetriebenergibt. Die Betriebe haben Mehrkosten durch die Tests unddas Futter. Hinzu kommen die Kosten für dieTierkörperbeseitigung. Inzwischen muss man für 1 KiloKnochen 80 Pfennige bezahlen. Die Betriebe haben dieKosten für die Folgen von BSE zu tragen. Sie haben keiner-lei Absatz mehr. Der Kilopreis ist um mehr als 50 Prozentgesunken.Ich nenne Ihnen die Zahlen in dieser Ausführlichkeit,um deutlich zu machen: Es gibt für die Betriebe keineMöglichkeit, diese Kosten zu verlagern. Ein Drittel ihresEinkommens ist in Gefahr. Wenn wir nicht helfen, werdensie nicht überleben. Mein Kollege Reinhard Schultz vonder SPD-Fraktion sagte: Wenn wir möchten, dass land-wirtschaftliche Betriebe mit artgerechter Rindviehhal-tung, die gute Produkte erzeugen, die Agrarwende über-stehen, stehen wir vor großen Herausforderungen. Ichhoffe, dass auch Sie sich, werte Kollegen von derCDU/CSU und der F.D.P., dieser Aufgabe stellen.Danke schön.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marita Sehn von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die Grüne Woche hat es auf eindrucks-volle Weise belegt: Die Versorgung mit hochwertigen Nah-rungsmitteln ist in Deutschland eine Selbstverständlichkeitgeworden.Ich möchte Sie daran erinnern: Die Intensivierung inder Landwirtschaft entstand aus dem gesellschaftlichenAuftrag heraus, Nahrungsmittel in ausgezeichneter Qua-lität, in ausreichendem Maße und zu vernünftigen, ver-braucherfreundlichen Preisen zu erzeugen.
Unsere Bäuerinnen und Bauern haben diesen Auftrag inhervorragender Weise erfüllt. Dafür ist ihnen die Gesell-schaft zu Dank verpflichtet.
Es war die konventionelle Landwirtschaft, die dafür ge-sorgt hat, dass meine Generation keinen Hunger mehr lei-den musste.
Auch wenn es nicht in das Denkschema der Regierungpasst: Dass sich ökologisch erzeugte Produkte nicht amMarkt durchsetzen konnten, ist nicht auf die Unsensibi-lität der Verbraucher in Bezug auf ökologische Sachver-halte zurückzuführen. Es liegt unter anderem an derhervorragenden Qualität der konventionell erzeugtenNahrungsmittel.
Der Verbraucherschutz ist als Vehikel für agrarpoliti-sche Ideologien ungeeignet. Wir Liberalen wollen denmündigen, informierten Bürger und nicht den bevormun-deten Bürger. Frau Ministerin, dazu gehört auch
– das ist leider so –, dass in der BSE-Debatte nicht nur dieZahl der positiv getesteten Tiere, sondern auch die der ins-gesamt durchgeführten Tests genannt wird.Die Bauernversammlungen in Bitburg, in Bad Kreuz-nach, aber auch in anderen Orten in Deutschland vermit-teln das gleiche Bild.
– Das ist bei dieser Regierung leider so. – Die Landwirtefühlen sich an den Pranger gestellt, diffamiert und von derBundespolitik im Stich gelassen. Während der Bundes-kanzler auf seiner Reise durch Rheinland-Pfalz die Land-wirte beleidigt und verunglimpft, hat das F.D.P.-geführteMinisterium in Mainz schnell und unbürokratisch rea-giert.
Ich möchte hier, liebe Frau Höfken, nur auf die Über-nahme der Kosten für die BSE-Schnelltests und die zu-sätzlichen finanziellen Mittel für die Verbraucherzentra-len hinweisen.Mir fehlt in der Bundesregierung die Sensibilität, dieSituation auch aus Sicht der betroffenen Betriebe zu se-hen, die sich schutzlos einer Vorverurteilung ausgesetztsehen. Deshalb fordere ich, dass die Anonymität der Be-triebe gewahrt bleibt.
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Ulrike Höfken14543
Herr Berninger, die Auskunft, die Sie gestern im Aus-schuss gegeben haben, dass eine Anonymisierung der Be-triebe aufgrund der Medienhysterie nicht durchführbarsei, ist mehr als unbefriedigend.
Ich fordere Sie auf, sich nicht der Medien als Vorwand fürIhre Tatenlosigkeit zu bedienen.
Meine Damen und Herren, ich muss mich schon sehrwundern, was den Verbrauchern in den letzten Wochen soalles zum Verzehr angeboten worden ist: von der Klap-perschlange bis zum Straußensteak. Mich stimmt das al-les sehr nachdenklich und ich halte dies für nicht mehrnormal.
Sehr geehrte Frau Ministerin, bevor Sie von einerNeuausrichtung der Agrarpolitik reden, sollten Sie ersteinmal die „alte“ Agrarpolitik kennen. Als Einstiegslek-türe empfehle ich Ihnen die Abschiedsrede vom 18. Juni1998 meines Kollegen Günther Bredehorn, des ehemali-gen agrarpolitischen Sprechers der F.D.P.-Bundestags-fraktion vor diesem Haus. Viele Gedanken, die Sie heuteals neu deklarieren, werden Sie dort wiederfinden. Siesind nicht neu.Es ist die Aufgabe der Politik, also unsere, die Rah-menbedingungen so zu setzen, dass Landwirtschaft inDeutschland auch weiterhin eine Zukunft hat. Diese Re-gierung hat bisher das Gegenteil getan. Die Landwirtebrauchen uns, aber wir brauchen auch die Landwirte.Danke.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Kersten Naumann von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Frau Ministerin Künast hat uns nun ihrWunschprogramm vorgestellt. Doch Tatsache ist, dassFleischberge wachsen, Fleischpreise sinken, Landwirteund Verbraucher nach wie vor verunsichert sind. Tatsacheist ferner, dass betroffene Landwirte in den Ruin getriebenwerden, aber ein BSE-Folgekostenkonzept immer nochaussteht und das bisher geplante wie ein Konzept aus demTollhaus anmutet. Tatsache ist auch, dass die Schuldigenaus der Futtermittelbranche nach wie vor nicht benanntund zur Verantwortung gezogen werden.
In Europa gibt es schon seit fast zwei Jahrzehnten Er-fahrungen mit BSE. Die Erfahrungen in der Schweiz, woseit 1990 vorsorgend an BSE gearbeitet wird, besagen,dass ein wirklich durchdachtes zucht- und veterinärhy-gienisches Programm in Zusammenhang mit einem Hilfs-programm für die Betroffenen diese dann auch zur Mit-wirkung motiviert. Ich denke hierbei an die Zusicherungvon Milchgeld, von Ausgleichszahlungen und Entschädi-gungen. Doch an all dem fehlt es in Deutschland.Wir haben in Deutschland über 14Millionen Rinder; esgibt über 218 000 Rinderhalter, davon 203 000 in den al-ten Bundesländern und über 15 000 in Ostdeutschland.Selbst wenn in diesem Jahr möglicherweise „nur“ bis zu500 Betriebe eine Bestandskeulung durchführen müssen,sind alle Rinder- und Milchproduzenten davon betroffen.Frau Künast, Sie setzen auf eine Reduzierung derProduktion und sagen, es dürfe nur noch so viel Rind-fleisch produziert werden, wie die Verbraucher essen. Dasist richtig, aber in der Tierproduktion nicht kurzfristigmachbar. Die Nachfrage ist bis auf 50 Prozent gesunken.Da die Reproduktion der Bestände aber nicht wie eineMaschine von heute auf morgen abstellbar ist, wird esvorerst noch zur Anhäufung entweder von Rindern beimLandwirt oder von Rindfleisch in den Lagern, beimSchlachter oder im schlechtesten Fall in Form von Tier-mehl auf Deponien kommen.Das Herauskaufprogramm rettet die verlorene Nach-frage nicht; sie wird sich nur schrittweise erholen. Dasheißt, Landwirte wie Politiker werden ohnehin auch inZukunft vor dem Problem überschüssiger Fleischbergestehen. Eine Herodes-Prämie zur Vernichtung von Käl-bern lehnen wir jedoch ab.
Es sollte aber darüber nachgedacht werden, ob nicht ver-mehrt auch Kalbfleisch angeboten wird. Damit würdenicht nur relativ kurzfristig der Rindernachwuchs redu-ziert, sondern es könnte gleichzeitig die künftige Produk-tion gedrosselt werden. Ich halte es deshalb für geboten,sowohl mehr Kälberfleisch und Fleisch von Jungbullenanzubieten als auch gleichzeitig den Bauern eine Per-spektive anzubieten, wie sie mit verringerter Produktionüberleben können. Das kann aber nur mit einer Um-schichtung der Fördermittel funktionieren.Meine Damen und Herren, in der gestrigen Sitzung desHaushaltsausschusses hat die Bundesregierung die Katzeaus dem Sack gelassen: Die Landwirte sollen von den425 Millionen DM, die zur Mitfinanzierung des Heraus-kaufs älterer Rinder und der Kosten der Entsorgung derAltbestände an Tiermehl und Tierfetten gebraucht wer-den, indirekt 325Millionen DM, also rund drei Viertel derMittel, selbst aufbringen. Im Klartext heißt das: Erstens.Die mit dem Agrardieselgesetz verbundene Mehrbelas-tung der Landwirtschaft wird nicht um 200Millionen DMreduziert; vielmehr werden die finanziellen Belastungenaus der BSE-Krise voll den Bauern übergestülpt.
Herr Kollege Struck, zwischen dem Unterstützen einerSache und dem Beschließen von Maßnahmen klafft in Ih-rer Fraktion oft eine große Lücke.
Zweitens. Die Verminderung des Bundesanteils an derGemeinschaftsaufgabe um 125 Millionen DM bedeutetpraktisch 208 Millionen DM weniger Fördermittel für
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Marita Sehn14544
Agrarbetriebe und ländliche Räume, da die meisten Län-der nicht dazu in der Lage sein werden, ihren frei wer-denden Landesanteil für landeseigene Programme einzu-setzen. Vielmehr werden sie daraus Hilfsmaßnahmen fürexistenzbedrohte Betriebe finanzieren. Das wäre jeden-falls die Konsequenz der Position der Bundesregierung,die sich an keinen weiter gehenden Hilfen für Agrarbe-triebe beteiligen will.Ich fordere Sie, Frau Ministerin Künast, auf, diese un-haltbare Position zu korrigieren; denn so kann ein agrar-politischer Neuanfang nicht gelingen.Danke schön.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Heidi Wright von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Kollegin-
nen und Kollegen! Viele Menschen werden heute diese
Debatte über das Fernsehen verfolgen und morgen die
Zeitungsberichte darüber lesen. Bauern, Metzgereien,
aber auch Millionen von Verbraucherinnen und Verbrau-
chern hoffen auf ein konsequentes Vorgehen und auf die
Bewältigung der größten Landwirtschafts- und Lebens-
mittelkrise, die sich nicht auf Deutschland beschränkt.
Ich wollte mich eigentlich gar nicht mehr mit der Ver-
gangenheit beschäftigen und fragen: Warum, woher,
wieso? Ich habe mich aber gestern geärgert: Ich komme
in mein Büro und lese in der Zeitung, dass der Bauern-
verband zu einer Demonstration aufruft.
Es werden Schilder hoch gehalten, die sich gegen die He-
rauskaufaktion richten. Ich habe daraufhin sofort beim
Präsidenten des Bauernverbandes in Bonn angerufen. Er
war nicht da, er war beim Demonstrieren in München. Ich
habe gefragt: Was wollen Sie denn? Wollen Sie eine He-
rauskaufaktion oder sollen die Rinder in den Ställen ste-
hen bleiben? Wollen Sie auf den Appell aus Bayern war-
ten, dass die Menschen ein Kilo mehr verzehren sollen?
Wollen wir darauf warten oder wollen wir handeln? Wir
wollen handeln und wir handeln, und zwar jetzt.
Zunächst ein Lob an die Ministerin. Ihre Präsenz – in
der Öffentlichkeit, den Arbeitsgruppen, den Gesprächs-
kreisen, auf der Grünen Woche und natürlich bei den Ver-
bänden, den Bauern sowie den Verbrauchern – weckt Ver-
trauen. Hier steht eine – ich meine, fast Tag und Nacht; ich
sehe sie, wenn ich das Fernsehen einschalte, und ich sehe
sie, wenn ich hier bin –, die es anpackt, und zwar in Ber-
lin, im Land und in Brüssel. Glauben Sie mir: Die Men-
schen spüren, dass da eine steht, mit der wir es packen
können.
Ich verrate Ihnen auch, warum: weil sie nicht zudeckt
und nicht zaubert, weil sie nicht schon immer alles ge-
wusst hat, sondern weil sie weiß, dass wir jetzt handeln
müssen, und weil sie alle in einen Prozess einbindet.
Frau Kol-
legin Wright, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Hinsken?
Nein.Im Gegensatz zum Bund wird im BSE- und Schwei-nemastskandalzentrum, in der Bayerischen Staatsregie-rung und im dort neu zusammengebastelten Ministerium,wie aus einer Wurfbude heraus auf alles Mögliche ge-zielt.
Alle ducken sich und keiner weiß mehr, wo es langgeht.Wo geht es lang? Wir müssen uns an den Verbraucher-bedürfnissen und der Verbrauchersicherheit orientieren.Gerade im Bereich der Lebensmittelproduktion darf esbei der Sicherheit keine Abstriche geben. Jeder wird dasunterstreichen und unterschreiben. In diesem Zusammen-hang will ich aber deutlich sagen: Sicherheit ist eine Leis-tung, die ihren Preis hat. Diese einfache Wahrheit müssteeigentlich nicht betont werden und dennoch wissen wir,dass genau dies – die Honorierung der landwirtschaftli-chen Leistung, die Honorierung der Sicherheit des Pro-duktes – immer mehr marginalisiert wurde. Wir machenSchluss mit dieser Marginalisierung. Deshalb werden wireinen Weg hin zu einem ordentlichen Preis-Leistungs-Verhältnis gehen.
Wenn nicht jetzt, wann dann müssen wir in der Politik fürdie landwirtschaftlichen Urproduzenten zusammen mitdem Handel diese Chance ergreifen? Fleisch darf nichtmehr zum Lockangebot, sondern muss zum Toppangebotgemacht werden, topp in Qualität und Sicherheit.
Weil zwar alles in der Lebensmittelproduktion gutsein muss, darf dennoch einiges und immer mehr bessersein. Ich spreche hier die verstärkte Orientierung zumökologischen Landbau an. Tatsache ist: Hier sind wirlängst nicht so weit, wie wir es sein könnten. 2,6 Prozentder landwirtschaftlichen Fläche werden in Deutschlandim ökologischen Landbau betrieben. In Mecklenburgsind es 6,4 Prozent, in Hessen 6 Prozent und in Bayern
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Kersten Naumann14545
klägliche 1,8 Prozent, also unter dem deutschen Durch-schnitt.
– In Bayern, Herr Kollege, 1,8 Prozent. Ich bin aus Bay-ern. Ich kehre vor der eigenen Haustür. Da ist zu kehrenund aufzuräumen.
In Dänemark haben wir 6 Prozent, in Österreich10 Prozent.
Da will ich hinkommen – und weiter. Der politische Willeist da und viele in der Landwirtschaft kapieren, dass daseine Chance ist. Schön, dass eine Meinungsumfrage imAuftrag von n-tv sagt, dass 82 Prozent der Bevölkerungeine ökologische Ausrichtung der Betriebe wollen unddass 67 Prozent auch 25 Prozent mehr bezahlen wollen.Ich spreche hier die Verbraucherinnen und Verbraucheran. Diesen Umfrageergebnissen müssen natürlich Ein-kaufstaten folgen; auch das gehört zur Aussage.Die neue Landwirtschaftspolitik wird mit einem offen-siven Aktionsprogramm und mit einer Imagekampagnevorangehen. Unser Ziel ist, in zehn Jahren den Anteil derökologischen Produktion auf 20 Prozent auszudehnenund leistungsfähige Vermarktungsstrukturen aufzubauen.Alle, die da tönen – gerade aus Bayern –, das gehe nicht,sollten einmal die „Süddeutsche Zeitung“ von gestern le-sen: Raus aus der Nische und rein in den Bio-Boom, sosteht es in der „Süddeutschen“ auf einer ganzen Seite.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss: Ichweiß, dass das nur ein, aber ein wichtiger Part in der neuenLandwirtschaftspolitik ist. Förderung regenerativer Ener-gien, Landwirt als Energiewirt, verstärkte Einbindung derLandwirtschaft in Naturschutz, Kulturlandschaftspflege –all das hat Zukunft, denn all das gehört zu einer Nach-haltigkeitsstrategie, die wir bereits in der Koalitions-vereinbarung niedergelegt haben. Den entsprechendenAntrag beraten wir heute ebenfalls. Es ist gut, ihn zusam-men mit dem Antrag zur Neuausrichtung der Agrarpolitikzu behandeln. Eine Neuausrichtung der Agrarpolitik musssich am Leitbild der Nachhaltigkeit – ökologisch, ökono-misch und sozial – ausrichten. Wir haben die ganze Zeitdas Ökonomische definitiv zu stark betont.Letzter Satz: Hätten wir früher die Kriterien der Nach-haltigkeit als wichtige Grundlage der Fortentwicklungvon Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik anerkannt undangewandt, wäre – das ist die spannende Frage – es dannnicht zur BSE-Krise gekommen? Wäre, würde, hätte – alldas ist spekulativ. Heute gilt: Wir packen es an!
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Albert Deß von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Eine ganze Reihe von Fragen sindheute angesprochen worden, Vorwürfe sind wieder vorge-bracht worden. Ich wundere mich schon, dass das ThemaÖkolandwirtschaft jetzt so eine große Rolle spielt. Es warbisher niemandem verboten, Ökoprodukte zu kaufen. Ichwundere mich aber, dass nur 2,5 Prozent der landwirt-schaftlichen Fläche für die Ökolandwirtschaft benötigtwerden. Die Bauern würden gerne Ökoprodukte verkau-fen, wenn der Absatz dafür vorhanden wäre.
Auf diesen 2,5 Prozent der Fläche werden 2 Prozentder Menge erwirtschaftet. Ich gehe davon aus, dass dieHälfte der Käufer von Ökoprodukten keine Wähler derGrünen sind. Wenn alle Wähler der Grünen Ökoproduktekaufen würden – ich lasse die SPD ganz außen vor –, dannhätten wir schon 400 Prozent mehr Ökoanbau als heute.
Ich weise die Vorwürfe, die hier im Zusammenhangmit dem Thema Risikomaterialien immer wieder erho-ben werden, auf das Entschiedenste zurück. Die alte Bun-desregierung hat der neuen Bundesregierung eine in Kraftbefindliche Verordnung übergeben, in der stand, dass Ri-sikomaterialien ab dem 1. Januar 1999 nicht mehr ver-wendet werden dürfen.
Eine der ersten Maßnahmen der neuen Bundesregierungbestand darin, diesen Stichtag auf den 1. Oktober 2000 zuverschieben.
Frau Kollegin Wright sollte mit ihren Vorwürfen sehrvorsichtig sein. Ich habe hier ein Programm der SPD mitdem Titel „Sicheres Fleisch“, das die Kollegin Wright1997 an den Bayerischen Bauernverband geschickt hat.Ich zitiere daraus wortwörtlich:Jedes Jahr fallen in Deutschland etwa 1,8 Milli-onen Tonnen Schlachtabfälle an. Dieses Materialstammt von Tieren, die für den menschlichen Verzehrbestimmt sind. Es enthält wertvolle Rohstoffe, die fürdie Fütterung von Fleisch- und Allesfressern sinnvollverwendet werden können.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Heidemarie Wright14546
Es wäre ökologisch verantwortungslos und – weil essich um Reste von bereits verzehrten Tieren handelt –auch kaum rational erklärbar, diese Rohstoffe imRahmen einer Risikominimierung zu beseitigen.Hört doch bitte mit der Heuchelei auf, die hier dauernd be-trieben wird!
Im Agrarbericht 2000 der rot-grünen Bundesregierungheißt es:Das in der EU und in Deutschland erreichte Qua-litätsniveau der Lebensmittel kann generell als gutbezeichnet werden.Diese Aussage der Bundesregierung zeigt, dass wir alleeiner gewissen Fehleinschätzung unterlegen sind. Ichkann mich nicht erinnern, dass jemand in der Debatte zumAgrarbericht dieser Fehleinschätzung widersprochen hat.Diese Tatsache spricht dafür, dass das Thema BSE-Ursa-chen für Schuldzuweisungen und für parteipolitischeAuseinandersetzungen sehr wenig geeignet ist.
Ich sage es ganz offen: Weder Verbraucher noch Bau-ern oder gar die Betroffenen in der Verarbeitungswirt-schaft haben Verständnis für oberflächliche parteipoliti-sche Auseinandersetzungen, welche die notwendigenEntscheidungen nur verzögern. Es wäre für die von derKrise Betroffenen besser gewesen, wenn die rot-grüneBundesregierung nicht über zwei Monate benötigt hätte,um die dringend notwendigen Hilfsmaßnahmen auf denWeg zu bringen.
Das, was gestern beschlossen worden ist, reicht in kei-ner Weise aus, Betrieben, die unverschuldet in Schwierig-keiten geraten sind, zu helfen. Die Bauern sind durch dierot-grüne Bundesregierung schon bisher in Milliarden-höhe einseitig benachteiligt worden. Die gestrigen Be-schlüsse sind ein weiterer Tiefschlag, der viele Landwirteund Betroffene in den vor- und nachgelagerten Bereichenentmutigt. Die Bundesregierung handelt verantwortungs-los, wenn Gesetze mit massiven finanziellen Auswirkun-gen erlassen werden, die die Betroffenen dann weitge-hend alleine tragen müssen.Zum Thema Agrardiesel kann ich nur sagen: Es istnicht reif für eine Kabinettsentscheidung; vielmehr istdas, was im Hinblick auf Entscheidungen bisher in derRegierung und in der SPD abgelaufen ist, ein Stück fürdas Kabarett, es ist kabarettreif.
Aufgrund der Ereignisse sind wir uns in diesem Hauseinig, dass der Verbraucherschutz im Bereich Nahrungs-mittel verbessert und neu gestaltet werden muss. Ich sehein diesem Punkt auch keinen Widerspruch zwischen denInteressen der Landwirtschaft und denen der Verbrau-cher.
Bitte sehr.
Herr Kol-
lege, das Wort erteilt der Präsident, nicht der Redner.
Entschuldigung, Herr Präsi-
dent!
Aber ich
entnehme Ihrer Gestik, dass Sie bereit sind, eine Frage des
Kollegen Hinsken zu beantworten. Bitte schön, Herr
Hinsken.
Verehrter Herr Präsi-
dent, ich bin sehr dankbar dafür, dass der Kollege Deß im
Gegensatz zur Vorrednerin bereit ist, eine Frage von mir
zu beantworten.
Herr Deß hat eben den vor- und nachgelagerten Be-
reich angesprochen. Frau Wright wies darauf hin, dass
Frau Minister Künast viele Gespräche mit unmittelbar
Betroffenen geführt hat. Herr Kollege Deß, halten Sie
meine Feststellung für nachvollziehbar, dass es skan-
dalös ist, dass Frau Bundesminister Künast in den drei
Wochen ihrer Tätigkeit nicht eine Stunde erübrigen
konnte, um mit dem Deutschen Fleischer-Verband über
seine Probleme zu sprechen? Gerade in diesem Bereich
stehen 5 000 Arbeitsplätze auf der Kippe. Beim Verkauf
von Rindfleisch muss zum Teil ein Minus von 80 Prozent
und beim Verkauf von anderem Fleisch von 20 Prozent
verzeichnet werden. Man ringt um die nackte Existenz.
Den betroffenen Menschen schenkt die Bundesministe-
rin kein Gehör. Würden Sie deshalb die Bundesministe-
rin auffordern, dieser Verpflichtung endlich nachzukom-
men und diesen wichtigen Verband auch einmal
anzuhören, um dessen Probleme und Sorgen kennen zu
lernen?
Ich gebe dem KollegenHinsken in Bezug auf seine Bewertung Recht und kommegerne der Aufforderung nach, die Bundesregierung zu bit-ten, endlich auch einmal mit den betroffenen Betrieben imVerarbeitungsbereich zu reden. Anscheinend spricht dieseBundesregierung aber nur mit Betrieben, wenn sie eineGrößenordnung wie Holzmann erreicht haben; mitkleineren spricht sie nicht.
Die deutschen Bauern – hier muss ich auch einmal mitder immer wieder vertretenen Meinung aufräumen, dassdie Qualität erst jetzt erfunden worden sei – haben in ihrer
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Albert Deß14547
großen Mehrzahl alle vorgegebenen Qualitätsanfor-derungen erfüllt.
Am Beispiel Milch kann man das am besten darstellen.Ich selbst war lange genug Milcherzeuger. Die Qualitäts-normen wurden in der Vergangenheit laufend verschärft;innerhalb kürzester Zeit haben die Milchbauern immerwieder diese neuen Qualitätsnormen erreicht. Sich heutehinzustellen und so zu tun, als hätte es bisher kein Quali-tätsbewusstsein gegeben, ist eine Beleidigung für alleBauern, die bisher Qualität produziert haben.
Für unsere Landwirte und ihre Familien ist es auch keinProblem, weitere neue, sachlich begründete und sinnvolleQualitätsvorschriften einzuhalten. Frau Ministerin, damithaben unsere Bauern keine Probleme. Eines aber könnenunsere Bauern nicht: Sie können keine weiteren Belas-tungen, die im nationalen Alleingang durchgesetzt wer-den, auf sich nehmen, wenn sie zugleich auf einem freienMarkt einem europa-, ja weltweiten Wettbewerb ausge-setzt werden. Hier setzt meine Kritik an der rot-grünenBundesregierung an. Es war die rot-grüne Bundesre-gierung unter Bundeskanzler Schröder, die beim Ab-schluss der Agenda 2000 eine falsche Weichenstellungvorgenommen hat.
Es ist eine Verdrehung der Tatsachen, wenn man jetztso tut, als ob andere oder die frühere Bundesregierungdafür die Verantwortung tragen. Die Agenda 2000 wurdeunter deutscher sozialdemokratischer Präsidentschaftbeschlossen. Bei den Verhandlungen zur Agenda 2000bestand die Möglichkeit, notwendige Veränderungendurchzusetzen. Der Bundeskanzler hatte daran an-scheinend kein Interesse.
Beim Deutschen Bauerntag in Cottbus hat der Kanzlerdas Ergebnis der Agenda ja zusammengefasst; FrauMerkel hat es bereits angesprochen. Er hat gefordert, dasswir uns weiter den Agrarpreisen des Weltmarktes an-nähern müssen. Dem Bundeskanzler werfe ich vor, dass essich doch wohl nur um eine medienwirksame Inszenierunghandelt, wenn er im Zusammenhang mit BSE einerseitsgegen Agrarfabriken in der Landwirtschaft wettert undandererseits für Weltmarktagrarpreise eintritt.
Leider ist er nicht da, ich gebe ihm da aber gerne Nach-hilfeunterricht: Weltmarktagrarpreise führen zwangsläu-fig zu Agrarfabriken. Seine beiden Aussagen passen nichtzusammen.
Es ist unverantwortlich, angesichts der Rinderhaltungin Deutschland von Agrarfabriken zu sprechen. Dadurchwerden die Bauern diskriminiert und die Verbraucherverunsichert. Wenn schon solche Schlagworte verwendetwerden, muss er auch definieren, was eine Agrarfabrik ist.Er hat es uns bis heute nicht gesagt.
Ab welcher Tierzahl beginnt denn nach Meinung desBundeskanzlers die Massenproduktion? Hier muss manRoss und Reiter nennen und nicht nur Schlagworte, damitunsere Bauern wissen, woran sie sind. Denn unsereBauern wollen nicht in den Verdacht kommen, Agrarfa-briken aufzubauen.Hier gäbe es noch viel anzusprechen, aber leider läuftdie Zeit davon.
Ich kann nur darum bitten, dass wir alle einen Beitragdazu leisten, dass die Verbraucher wieder Vertrauen auchin unser deutsches Rindfleisch erhalten.Sie, Herr Präsident, möchte ich bitten, dass Sie einmalmit dem Betreiber des Restaurants hier sprechen, damit erstatt argentinischem wieder deutsches Rindfleisch anbietet.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich
möchte ganz kurz darauf eingehen: Der Präsident hat
nicht das Recht, den Wirt anzuweisen, Fleisch anzubieten.
Sie als Kunde haben aber die Möglichkeit, den Wirt auf-
zufordern, Ihnen deutsches Rindfleisch anzubieten.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Steffi Lemke
von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Ver-ehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Thema der heutigen Debatte ist die Neuorientierung in derVerbraucher- und Agrarpolitik. Aus den Reihen derCDU/CSU und der F.D.P. haben zwar mehrere RednerBeiträge geleistet,
aber genau zu diesem Punkt haben sie leider nichts gesagt.Ich habe von ihnen wieder nichts Konzeptionelles für eineNeuorientierung in der Agrarpolitik gehört. Ich bedauredas; das meine ich ehrlich. Denn angesichts der Umwäl-zungen, die vor uns stehen, könnten wir eine gute Oppo-sition, die eigene Ideen in die Debatte einspeist, durchausgebrauchen. Sie haben sich jedoch wieder bei Kritik undVergangenheitsbewältigung aufgehalten. Es kam nichtsNeues von CDU/CSU und F.D.P.
Wir haben in der Debatte skizziert, wie wir uns diezukünftige Orientierung in der Landwirtschaft vorstellen.
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Albert Deß14548
Es geht dabei nicht darum, eine vollständige Kehrtwendezu machen; denn viele der Bestandteile sind in der heuti-gen Agrarpolitik sehr wohl verankert.Wir wollen, dass die Agrarwirtschaft in Zukunft aufdrei Säulen steht. Wir wollen, dass es eine – das werdenzunächst 80 Prozent der Landwirte sein – multifunktio-nale Landwirtschaft gibt. Das ist das, was viele Land-wirte heute schon betreiben. Sie sind durch die offiziellePolitik bei der Förderung jedoch zu wenig darin unter-stützt worden, die multifunktionalen Bestandteile ihresWirtschaftens – damit meine ich Leistungen für die Um-welt, für den Wasserhaushalt, für den Naturschutz, für diebiologische Vielfalt – auszubauen. Zu wenig Fördermittelsind dafür ausgegeben worden und zu viele Fördermittelsind in die Produktion von Masse geflossen. Das wollenwir in Zukunft als die Hauptsäule der Landwirtschaft be-halten und weiterentwickeln.Daneben wird es zu einem gewissen Prozentsatz – manmuss seitens der Politik nicht definieren, wie viel das genausein soll; da redet man über Zielvorstellungen – den öko-logischen Landbau geben. Unterhalb der multifunktiona-len Landwirtschaft wird es gewerbliche Landwirtschaftgeben, die wir meiner Meinung nach nicht so intensiv för-dern dürfen, wie es in der Vergangenheit geschehen ist.
Wir wollen einen Verlagerungsprozess innerhalb die-ses Drei-Säulen-Modells. Wir wollen weg von dem ge-werblichen Anteil hin primär zum multifunktionalen – dieBestandteile innerhalb des multifunktionalen Anteils sol-len stärker gefördert werden – und auch zum ökolo-gischen Landbau.Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Wir werden unsvon Ihnen nicht in eine Kontroverse „konventionell gegenöko“ treiben lassen.
Das sage ich auch den Landwirten draußen. Wir werdenauch für die konventionelle Landwirtschaft Politik betrei-ben. Herr Ronsöhr, das, was Sie heute an Rechenmodel-len dazu vorgetragen haben, wer heute bereits wie vielLandbau im Ökobereich hat, ist nicht die Debatte, die wirführen wollen. Wir wollen, dass der ökologische Landbauals Leitbild angesehen wird. Sie hatten einmal einen Bun-deslandwirtschaftsminister, der schon so weit gewesenist, dass er dies akzeptiert hat.Mit Leitbildfunktion meine ich, dass der ökologischeLandbau für die gesamte Landwirtschaft eine Vorbild-funktion hat. Hätten wir uns damit schon in der Vergan-genheit beschäftigt, hätten wir uns gefragt, warum imRahmen des ökologischen Landbaus kein Tiermehl ver-füttert wird, warum er auf das sehr billige und durchausviel Protein enthaltende Futtermittel verzichtet, dannmüssten wir heute nicht über BSE diskutieren.
Frau Kol-
legin Lemke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Heinrich?
Bitte
sehr.
Bitte,
Herr Heinrich.
Frau Kollegin Lemke,
wären Sie bitte so gut, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich
die beiden Beispiele, in denen sich die ökologische Land-
wirtschaft von der konventionellen Landwirtschaft in
ihrem Verhalten unterscheidet, nicht ausschließlich auf
die Ökolandwirtschaft beschränken, sondern dass sich
viele Erzeugergemeinschaften freiwillig an dieser Art des
Wirtschaftens, nämlich Anwendung von Produktionsme-
thoden unter Verzicht auf die Dinge, die Sie gerade eben
genannt haben, schon beteiligen, dass das also kein Syno-
nym für ökologische Landwirtschaft ist?
SehenSie, Herr Heinrich, Sie verfallen wieder in den gleichenFehler. Sie fangen wieder an, eine Konfrontation zwi-schen öko und konventionell aufzubauen.
– Nein, das habe ich nicht getan. Ich habe diese Konfron-tation nicht aufgebaut, sondern ich habe von einer Leit-bildfunktion und von einer Vorbildfunktion gesprochen.Wenn ich von Vorbildfunktion spreche,
dann meine ich doch nicht, dass diejenigen Betriebe, dienicht selber dieses Vorbild sind, nur schlechte Arbeit leis-ten und nichts Positives tun. Darin liegt Ihr Denkfehler.Sie versuchen immer wieder, zwischen ökologische undkonventionelle Landwirtschaft einen Keil zu treiben.
Ich möchte im Zusammenhang mit dem Ökolandbauzu einem zweiten Beispiel kommen. Wer heute über Ver-braucherschutz redet, der muss auch klipp und klar sagen,dass die Verbraucher keine gentechnisch veränderten Be-standteile in den Lebensmitteln haben wollen. Über fol-gende Frage wurde schon im Zusammenhang mit derAgrarpolitik der alten Regierung von CDU/CSU undF.D.P. immer wieder diskutiert: Soll die zukünftige Agrar-politik auf Gentechnik ausgerichtet sein? In dieser Dis-kussion ist die Tatsache sträflich vernachlässigt worden,dass die Verbraucher keine Gentechnik in ihren Lebens-mitteln haben wollen. Sie haben immer wieder Zahlen ausUmfragen präsentiert. Sie können doch nicht ernsthaft in
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Steffi Lemke14549
Abrede stellen, dass die Mehrheit der Verbraucher – michinteressiert dabei nicht, ob 60 oder 90 Prozent – keineGentechnik in den Lebensmitteln wollen. Die Menschenwollen diese Produkte nicht verzehren!
– Es ist Unsinn, zu sagen, dass der Kanzler das wollte. Daswissen Sie ganz genau.Es gibt keine Unbedenklichkeitserklärung für gentech-nisch veränderte Lebensmittel.
Deswegen dürfen wir an dieser Stelle nicht den gleichenFehler machen wie bei BSE. Ich komme da wieder auf dieVorbildfunktion des ökologischen Landbaus
und seine Leitbildwirkung zu sprechen. Seine Anhängererklären seit Jahren, dass sie definitiv auf Gentechnik ver-zichten. Es hat auf EU-Ebene eine harte Auseinanderset-zung darüber gegeben, ob Gentechnik für den Ökolandbauzukünftig für zulässig erklärt werden sollte. Die Ökoland-bauverbände haben sich aber durchgesetzt und gesagt:nein, keine Gentechnik in unseren Ökolebensmitteln!Es geht nicht darum, die gesamte Landwirtschaft zu be-kehren und von den Landwirten zu erwarten, dass sie denVerbänden des ökologischen Landbaus beitreten. Darumgeht es wirklich nicht. Aber man sollte sich am ökologi-schen Landbau orientieren und sich zum Beispiel fragen,warum er sich in Bezug auf die Tierbesatzzahlen und dieFuttermittel sehr strenge Kriterien auferlegt hat. DieseVorstellungen sollten von der konventionellen Landwirt-schaft adaptiert werden, ohne dass sie 100-prozentig öko-logisch arbeiten müsste. Das ist die Zielvorstellung, diewir für die zukünftige Agrarpolitik haben.Ich will noch einmal auf den Einwand zurückkommen,alles müsse sich ökonomisch rechnen. Sie konnten ja inden letzten Wochen und Monaten verfolgen, dass dieWirtschaftsblätter, die Banken und die Wirtschaftsver-bände von der grünen Gentechnik Abstand genommen ha-ben und selbst die Empfehlung ausgesprochen haben:Lasst die Finger davon! Es ist ökonomisch gesehen Un-sinn. Das rechnet sich nicht.Ich bin der Meinung, dass es nicht um eine ideologi-sche Auseinandersetzung zwischen ökologischer undkonventioneller Landwirtschaft oder zwischen kleinenund großen Betrieben geht. Es geht vielmehr um eineDiskussion zwischen Verbrauchern und Produzenten, wiein Zukunft Lebensmittel produziert werden sollen, die dieVerbraucher in dem Glauben abnehmen, dass auch darinist, was darauf steht.Danke sehr.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Widmann-
Mauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man dieheutige Debatte verfolgt, dann hat man schon den Ein-druck, dass die Bundesregierung der Meinung sei, diedeutsche Landwirtschaft habe bis zum Ende des letztenJahres nur ungesunde Lebensmittel produziert, habe dieTiere in den Ställen gequält und es habe keinerlei Regelnund Standards gegeben.
Frau Künast, ich sage Ihnen ganz deutlich: Sie müssennicht die Bauern, sondern BSE bekämpfen! Es wird end-lich Zeit.
Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz sein, undzwar vorsorgend und nachhaltig.
Er darf nicht als Privileg für wenige, sondern muss alsNotwendigkeit für alle gesehen werden.Frau Künast, die BSE-Krise darf nicht auf dem Rückender Verbraucherinnen und Verbraucher ausgetragen wer-den. Die Ängste und Sorgen der Menschen dürfen von Ih-nen nicht als Spielball für grüne Politikstrategien miss-braucht werden.
Wir werden es nicht zulassen, dass BSE von Ihnen instru-mentalisiert wird, sozusagen als ideologischer Tscherno-byl-Ersatz. Jetzt, da Ihnen die Themen Kernkraft und Cas-tortransporte wegen der Gewaltdebatte nicht so rechtschmecken, sind Sie bei BSE auf den Geschmack gekom-men. Das, was wir heute zu Quotierungen im Stall gehörthaben, zeigt eine neue Verirrung innerhalb der grünenIdeologie.
Verbraucherschutz darf nicht auf BSE und eine neue Uto-pie im Inselformat reduziert werden.Wenn man von dem magischen Sechseck hört, könnteman meinen, es handele sich um das Bermudadreieck;denn nicht mit Magie, mit Beschwörungsformeln vonLaienspielern, sondern mit realitätsbezogenen, fachlichbegründeten Konzepten müssen Sie den Deutschen Bun-destag überzeugen.
Aber ich sage Ihnen auch: Sie haben den Verbraucher-schutz nicht neu erfunden. Quer durch alle gesellschaftli-chen Schichten sind die Menschen verunsichert. Sie ha-ben Angst, aber diese Angst ist orientierungslos. Angstwar noch nie ein guter Ratgeber auf dem Weg aus derKrise. Nur weil zurzeit so gut wie kein Rindfleisch ge-
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Steffi Lemke14550
gessen wird, sind die Deutschen noch lange nicht alle Ve-getarier. Es gibt zwar jetzt bei allen Beteiligten, den Pro-duzenten, den Verbrauchern und den Politikern, die Be-reitschaft, aus der Krise Konsequenzen zu ziehen. Dasheißt politisch auch, dass wir Handlungsspielraum ge-wonnen haben, den wir jetzt nutzen müssen.Die Menschen erwarten von uns, dass endlich mit kla-ren Konzepten gehandelt wird. Frau Lemke, es stimmtnicht, dass wir heute keine Konzepte präsentiert hätten.Wenn Sie das sagen, können Sie nicht lesen, haben denAntrag, den wir eingebracht haben, nicht zur Kenntnis ge-nommen und bei der Rede von Angela Merkel nicht zu-gehört.
Wir haben klare Maßstäbe, an denen sich vorsorgenderVerbraucherschutz orientieren muss. Die Kernpunktesind: Transparenz, Eigenverantwortung und Nachhaltig-keit. Aber realistisch ist eine Neuorientierung der Verbrau-cher- und der Agrarpolitik nur, wenn das, was ökologischnotwendig ist, auch ökonomisch und sozial ist.Ich möchte an dieser Stelle einen wichtigen Bereichherausgreifen, den Sie heute fast überhaupt nicht ange-sprochen haben, nämlich die Rolle und die Bedeutung Eu-ropas in Verbraucherschutzfragen. Verbraucherschutz imEuropa ohne Grenzen erfordert Überzeugungskraft undDurchsetzungsfähigkeit im Ministerrat.Frau Künast, Sie zeigen sich ja durchaus bemüht. Dochwas haben Sie auf europäischer Ebene im Agrarrat bishereigentlich erreicht? Was Sie aus Brüssel mitgebracht ha-ben, sind bisher nur Prüfaufträge, zu Deutsch: substan-ziell nichts.Es wird geprüft, das derzeit bis zum 30. Juni 2001 be-fristete Tiermehlverfütterungsverbot zu verlängern –eventuell. Keine Rede von Fetten oder Tiermehl wie beiuns in Deutschland!Die Produktion von Separatorenfleisch soll verbotenwerden – noch kein Muss. Das gilt allerdings nur für Rin-der. Wo bleiben die Schweine? Davon ist keine Rede.Es soll geprüft werden, wie die Einstufung der Wirbel-säule von Schlachtrindern als Risikomaterial technischumgesetzt werden kann.Die derzeitige Altersgrenze von 30Monaten für die ob-ligatorischen BSE-Tests soll überprüft werden. Aber nachwie vor haben wir keine einheitliche Testung in Europa,geschweige denn bei unseren Nachbarn außerhalb der Eu-ropäischen Union, zum Beispiel in den Beitrittsstaaten.Was ist mit den Fleischimporten aus Ländern, in denenkein Tiermehlverfütterungsverbot besteht?Wo, liebe Frau Ministerin, bleiben eigentlich die an-gekündigten Konsequenzen aus der Tatsache, dass Rind-fleisch auch nach dem 1. Januar dieses Jahres nicht EU-weit lückenlos gekennzeichnet wird?
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ich komme
zum Schluss.
Verbraucherschutz ist eine europäische Herausforde-
rung. Hier sind Sie in erster Linie gefordert. Aber ohne ein
klares Konzept für die Durchsetzung auf europäischer
Ebene bleiben Sie ein Papiertiger.
Als
nächster Redner hat der Kollege Heino Wiese von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Sie haben, werte Kollegen von
der CDU/CSU, wieder versucht, eines deutlich zu ma-
chen: dass die SPD etwas gegen die deutschen Landwirte
hätte. Ich will das noch einmal ganz klar bestreiten. Wir
sind auf der Seite der deutschen Bauern und Bäuerinnen.
– Bei den Fakten, die Sie nennen, verschweigen Sie, dass
in den Jahren Ihrer Regierungszeit über 200 000 deutsche
Landwirte aufgeben mussten. Wir haben heute noch
190 000 Vollerwerbslandwirte, also ungefähr so viele
Landwirte, wie während Ihrer Regierungszeit aufgeben
mussten. Es ist also nicht neu, dass sich Landwirtsfami-
lien überlegen müssen, ob ihre Betriebe noch überlebens-
fähig sind.
– Sie hätten weiter auf Masse statt auf Klasse gesetzt, wie
die Ministerin gesagt hat. Wir setzen auf Klasse und ge-
ben den Landwirten neue Perspektiven. Ich glaube, es ist
sinnvoll, das zu tun.
Herr Kol-
lege Wiese, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Deß?
Bitte.
Bitte
schön, Herr Deß.
Herr Kollege Wiese, sindSie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die SPD bereitsvor den letzten GATT-Verhandlungen – da waren Sie nochnicht dabei – einen Antrag in den Bundestag eingebrachthat, in dem es heißt:Von der allgemeinen Zielsetzung, einen freien Welt-handel mit offenen Grenzen zu schaffen, darf derEG-Agrarbereich nicht ausgenommen werden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Annette Widmann-Mauz14551
Weiter wird die Bundesregierung – damals von Union undF.D.P. gestellt – aufgefordert, von dem „falschen ... Kon-zept der Mengenregulierung“ wegzukommen. Dann wärenoch mehr produziert worden. Geben Sie mir Recht, dassnoch mehr Bauern hätten aufhören müssen, wenn dies be-folgt worden wäre?
Erstens kenne ichden Antrag nicht. Wie Sie schon sagten, war ich damalsnoch nicht im Deutschen Bundestag.Darüber hinaus kann ich Ihnen sagen, dass wir – dagebe ich Herrn Heinrich ausnahmsweise Recht – denWelthandel brauchen und dass wir uns dem Welthandelnicht verschließen können. Das heißt aber doch nicht,dass wir in Deutschland nicht Qualität erzeugen und da-mit Maßstäbe setzen könnten, die auch die anderen errei-chen müssten.
Die BSE-Krise war nur der letzte Anlass dafür, dasUmsteuern in der Landwirtschaft endlich zu beginnen.Es ist doch nicht in Ordnung, dass so genannte Sofa-melker Milchquoten besitzen und damit indirekt Förder-gelder kassieren, obwohl sie gar nicht mehr landwirt-schaftlich tätig sind.Ein zweites Beispiel: Es ist auch nicht in Ordnung, dassdie Schweine ihren täglichen Dopingmix bekommen, da-mit sie schneller wachsen. Auch das können wir für dieZukunft nicht wollen.
– Das ist alles legal. Daran ist nichts Illegales.Wir können auch nicht wollen, dass Büsumer Krabbenerst über Marokko gefahren werden, bevor sie als Krab-benfleisch auf Sylt ankommen.
Das sind alles Beispiele dafür, dass wir in der Land-wirtschaftspolitik so nicht weitermachen können. Wirwollen etwas dagegensetzen.Wir können hierfür natürlich nicht die Bauernfamilienverantwortlich machen. Vielmehr setzen wir als Politikdie Rahmenbedingungen. Dies dürfen wir nicht nur überOrdnungsrecht tun. Vielmehr müssen wir auch Anreizeund neue Perspektiven schaffen.
Der permanente Druck zu ständiger Leistungssteige-rung und Kostensenkung ohne kritische Beleuchtung derMittel und Methoden hat zu dieser Sackgasse, in der wiruns im Moment befinden, geführt.Schon vor einem Jahr hat die Katholische Landju-gendbewegung ein Leitbild für die Landwirtschaft derZukunft herausgegeben. Ausgehend vom Begriff derSchöpfung, haben die Jugendlichen eine Skizze ent-wickelt, die nahezu deckungsgleich mit den Plänen derneuen Landwirtschaftsministerin ist. Ich empfehle allendieses Papier der Katholischen Landjugendbewegung undkann Ihnen nur raten, daraus zu lernen. Ich danke den Ju-gendlichen für ihre hervorragende Arbeit.
Neben den bereits genannten Anforderungen aus Sichtder Verbraucher ist für mich das wichtigste Ziel einerneuen Landwirtschaftspolitik die Sicherung von Lebenund Arbeit im ländlichen Raum. Der ländliche Raumbraucht eine integrierte Politik, in der Landwirtschaftnicht mehr isoliert betrachtet wird und in der ihre beson-dere Rolle zum Ausdruck kommt.
Länder und Kommunen müssen ab sofort eine aktivereStrukturpolitik betreiben, um die Veränderungsprozesse,die wir uns vorgenommen haben, zu bewältigen.
– Rheinland-Pfalz hat ja auch einen sozialdemokratischenMinisterpräsidenten.
Hierzu gehört für die Landwirte eine deutliche Steige-rung der Erzeugerpreise und die Sicherung von Einkom-mensalternativen. Eine noch erweiterte Förderung vonnachwachsenden Rohstoffen und erneuerbaren Energie-quellen gehört für mich genauso dazu wie ein zielorien-tierter und bezahlter Vertragsnaturschutz.
Die Pflege von Landschaft und Wäldern muss eine Auf-gabe werden, die der Landwirtschaft ein regelmäßigesEinkommen sichert.Ich weiß, dass das einige Kolleginnen und Kollegenanders sehen. Ich bin aber der Meinung, dass wir nicht nurmit dem Ordnungsrecht agieren dürfen, sondern dass wirauch dort neue Anreize schaffen müssen.
Gepflegte ländliche Räume, in denen die Tiere gele-gentlich auf der Weide zu sehen sind, muss man auch be-zahlen.
Das eröffnet im Übrigen auch neue Perspektiven für denTourismus und gibt uns Möglichkeiten, neue Einkom-mensformen für die Landwirte zu schaffen.Ich möchte mich besonders für regionale Vermark-tungskonzepte einsetzen. Ich halte es nicht für sonderlich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Albert Deß14552
erstrebenswert, dass die Milch, die ich trinke, zweimaldurch die Republik geschaukelt wird: von der Großmol-kerei zum Vertrieb und dann in den Laden. Ich möchtenicht, dass Milch, die im Umland von Hannover gemol-ken wurde, über Lüneburg wieder zurück nach Hannoverkommt. Ich glaube, dass wir die regionalen Vermark-tungskonzepte viel stärker brauchen. Ich will eines ganzdeutlich sagen: Wenn die CMA das nicht leistet, müssenwir uns nach anderen Konzepten umsehen und das Agrar-marketing anders organisieren.
Es wird schwer werden, neue Ideen umzusetzen, auchweil wir nicht einzelstaatlich agieren können. Wir brau-chen im Hinblick auf den internationalen und europä-ischen Wettbewerb tragfähige Lösungen auf EU-Ebeneund im Welthandel. Die Belange des Verbraucher- undUmweltschutzes müssen viel stärker in die gemeinsameeuropäische und die nationale Agrarpolitik integriert wer-den.Dazu müssen wir eine intensivere Zusammenarbeit mitden Parlamentariern des Europäischen Parlaments errei-chen. Strenge Kontrollen und vor allem Transparenz undOffenheit bei der Erzeugung und Produktion von Lebens-mitteln sind die Voraussetzungen für eine neue Landwirt-schaftpolitik. Wir können den Wechsel übrigens nicht aus-schließlich – ich sage noch einmal deutlich: Wir haben dasauch nie behauptet – durch Ökolandbaukonzepte errei-chen, wir brauchen hierzu die verantwortungsvolle undnachhaltige konventionelle Landwirtschaft als Hauptträ-ger dieser Erneuerung.Ich will noch einen Satz anfügen: Dazu müssen auchwir unseren Teil leisten. Um das deutlich zu machen, for-dere ich die Bundesregierung auf, das, was wir den Land-wirten hinsichtlich des Agrardiesels versprochen haben,auch einzulösen. Nur so können wir verantwortungsvolleund vertrauenswürdige Partner der Landwirte werden.
Danke schön.
Als letzte
Rednerin in dieser Aussprache hat das Wort die Kollegin
Christel Deichmann von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehrverehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Widmann-Mauz,ich finde es schon mehr als eigenartig, dass Sie hier gefor-dert haben, die Ministerin solle in drei Wochen in Brüsselund anderswo all das erledigen, was Sie in 16 Jahren nichtgeschafft bzw. vermasselt haben.
Das musste einmal gesagt werden.Eigentlich wollte ich mich nicht mit Vergangen-heitsbewältigung beschäftigen; denn es ist jetzt wirklichwichtig, nach vorn zu sehen. Die Zeit für die Umorien-tierung in der Agrarpolitik ist mehr als reif –
– er hat nicht 16 Jahre lang regiert; ich glaube, Sie warendabei –, Umorientierung nicht nur in der Agrarpolitik,sondern in der gesamten Politik für den ländlichen Raum.Die Frau Ministerin hat für diesen schwierigen, aberbedeutungsvollen Weg die Richtung aufgezeigt und siehat dabei – das haben meine Vorredner schon bestätigt –die volle Unterstützung unserer Fraktion. Die Neuorien-tierung der Agrarpolitik darf sich aber nicht allein von derBSE-Krise leiten lassen. Sie ist nur der äußere Anlass ge-wesen; denn die Neuorientierung ist, wie bereits gesagt,überfällig.Der Neuanfang ist viel weiter zu fassen: Es geht nichtum groß oder klein, um alternativ oder konventionell oderwas man sonst noch gegenüberstellen mag, es geht um dieIntegration der gesamten Kette der Agrar-, Verbraucher-und Umweltpolitik, einschließlich der vor-, neben- undnachgelagerten Bereiche der landwirtschaftlichen Pro-duktion.Um es ganz deutlich zu sagen: Wir wollen dem ökolo-gischen Landbau,
obwohl er – auch das ist hier zum Ausdruck gekommen –ein wichtiges Leitbild ist, nicht einseitig neue Produk-tionsprämien gewähren, sondern insgesamt bessere so-ziale und ökologische Rahmenbedingungen im Hinblickauf Produktion, Absatz und Vermarktung schaffen. Auchdie konventionelle Landwirtschaft muss sich zukünftigstärker an den Kriterien des Umwelt-, Verbraucher- undTierschutzes sowie an einer Sicherung von Arbeitsplätzenmessen lassen.
– Ik weet Bescheid; ik kamm von Land. –
Gemeinsam mit den Landwirten sind hierfür Kriterien zuentwickeln und fortzuschreiben.Jetzt gilt es, das Leitbild einer nachhaltigen Land-wirtschaft konkret auszugestalten und auf einen mög-lichst breiten Konsens zu stellen. Die drei Säulen derNachhaltigkeit, Ökonomie, Ökologie und Soziales, wol-len wir auch für den ländlichen Raum zur Geltung brin-gen. Wir wollen für die Menschen in diesen RegionenPerspektiven schaffen.Wie können wir dieses Ziel erreichen? Die fast unüber-schaubare Arbeitsteilung zwischen Bauern, Tiermedizin,Chemie, Futtermittelherstellern, Vermarktung, Handelund Banken und zwischen wem auch immer hat bislangInnovationen erschwert. Die immer weiter wachsendeBürokratie – auch das muss betont werden – tut ein
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Heino Wiese
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Übriges. Alle Bereiche gehören auf den Prüfstand: ange-fangen bei der Agrarsozialpolitik, über die Grundsätze derFörderpolitik bis hin zum Zusammenspiel mit anderenPolitikbereichen. Also: Abschied von der Ausrichtung aufMengenwachstum und von einem ruinösen Preiswettbe-werb und Orientierung auf eine Landwirtschaftspolitik,die die Ökologie nicht als Bedrohung, sondern als Partnersieht, die sich in die Natur und in die Landschaft einfügtund die die natürlichen Lebensgrundlagen schützt.Der Bauernverbandspräsident von Schleswig-Holsteinhat im Fernsehen gesagt, die Bauern hätten sich aufge-stellt. Ich frage mich natürlich, wozu sie sich aufgestellthaben. Ich hoffe sehr: zu einer anderen Arbeitsweise. Vorallen Dingen meine ich damit die Spitze der Verbände.Auf den im Fernsehen gezeigten Bildern aus Münchenwar gestern zu sehen: „Grün-Rot ist Bauerntod“. Damiteines klar ist: Der jetzige Schlamassel ist nicht von Rot-Grün zu verantworten. Rot-Grün ist gemeinsam mit denLandwirten und allen anderen, die willens sind, dies zutun, bereit, die Probleme zu lösen.
Wir steuern um, indem wir die überfällige Novellie-rung des Bundesnaturschutzgesetzes nutzen, um einenaturschutzfachliche Definition der guten fachlichen Pra-xis einzuführen.
– Das werden Sie erleben. – Daran – davon bin ich festüberzeugt – führt kein Weg vorbei. Es hat lange gedauert;aber jetzt werden Vorgaben für eine standortangepasste,naturverträgliche Bewirtschaftung gemacht. Das ist über-fällig. Die Länder werden – auch davon bin ich überzeugt –ihren Teil dazu beitragen, um den regionalen Besonder-heiten gerecht zu werden. Die in diesem Zusammenhangebenfalls notwendige Orientierung der Tierhaltung an denbetriebseigenen Futterflächen ist heute bereits angespro-chen worden.
Wir groß das Arbeitspotenzial im ländlichen Raumist, zeigen Ergebnisse von Modellprojekten, die die Bun-desregierung bereits auf den Weg gebracht hat. Ich nennezum Beispiel das nachhaltige Tourismusangebot und denbevorstehenden Durchbruch bei den erneuerbaren Ener-gien. Gerade auf dem landwirtschaftlichen Sektor gibt esbereits energieautarke Betriebe. Ich denke, solche Bei-spiele sollten Schule machen.
Wir begrüßen ausdrücklich, wenn die Ministerin sagt:Die Natur ist der potenzielle Verbündete der Landwirt-schaft. Wir begrüßen auch, dass die Ministerin einen run-den Tisch für Verbraucherschutz und Landwirtschaftinitiieren will. Wir sind sicher, dass ökologische Belangeund die Frage der Nachhaltigkeit eine herausragendeRolle spielen werden. Wir brauchen dieses Bündnis zwi-schen Ökologie und Landwirtschaft, um der rein ökono-mischen Globalisierung eine umweltverträgliche und ver-braucherfreundliche Politik für den ländlichen Raum ent-gegenzusetzen.Vielen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen und den Überwei-sungen, zunächst zu Tagesordnungspunkt 3 a: Abstim-mung über den Entschließungsantrag der Fraktion derF.D.P. auf Drucksache 14/5230. Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich?
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.Tagesordnungspunkt 3 b bis 3 e: Interfraktionell wirdÜberweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4544,14/3498, 14/4472 und 14/4855 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Tagesordnungspunkt 3 f: Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/5237. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-schließungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionenmit Ausnahme der Stimmen der PDS abgelehnt.Zusatzpunkte 2 bis 4: Interfraktionell wird Überwei-sung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5219, 14/5228und 14/5222 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Zusatzpunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksa-che 14/5234. Zunächst zu dem Antrag der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 14/4778 mit dem Titel„Sofortprogramm zur Abwehr von Gefahren durch BSE“:Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-empfehlung die Ablehnung des Antrags. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung vonF.D.P. und PDS angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion derF.D.P. auf Drucksache 14/4852 mit dem Titel „Vorrang füreinen vorsorgenden Verbraucherschutz bei der Bekämp-fung von BSE“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-
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Christel Deichmann14554
onsfraktionen bei Gegenstimmen von F.D.P. und PDS undStimmenthaltung der CDU/CSU angenommen.Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion derPDS auf Drucksache 14/4924 mit dem Titel „Soforthilfs-programm für durch die BSE-Krise betroffene Kommu-nen und Landwirte einrichten“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derPDS und bei Enthaltung von CDU/CSU und F.D.P. ange-nommen.Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 14/5079 mit dem Titel „Kla-res Konzept zur Bekämpfung von BSE notwendig“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Beschluss-empfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenbei Gegenstimmen von CDU/CSU und bei Enthaltungvon F.D.P. und PDS angenommen.Unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache14/5085 mit dem Titel „BSE-Bekämpfung konsequentausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieBeschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und der PDS bei Gegenstimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 6 seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5097 mit dem Ti-tel „Verbraucher vor BSE schützen – Landwirten helfen“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen, der CDU/CSU und der PDS gegen die Stimmen derF.D.P. angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUPläne der Bundesregierung zum Aufbau Ostangesichts der Kontroverse innerhalb der SPDzur Situation in den neuen BundesländernIch eröffne die Aussprache. Als erster Redner hatder Kollege Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! VerehrteDamen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktionfordert mit dieser Aktuellen Stunde von der Bun-desregierung Klarheit über ihre Pläne für die östlichenBundesländer: Soll der Aufbau Ost weitergehen undwollen Sie etwas dafür tun? Oder ist aus Ihrer Sicht allesauf bestem Wege und Bundestagspräsident WolfgangThierse, immerhin der Ostdeutsche mit dem höchstenStaatsamt, auf dem völlig falschen Dampfer? Er ist janicht nur hier kein Hinterbänkler, sondern auch Stell-vertreter des Bundeskanzlers in der SPD.Es ist offensichtlich Zeit für eine Klarstellung: Stehtder Osten nun auf der Kippe oder ist, wie der zuständigeStaatsminister sagt, der Befund schlichtweg falsch?
Auch wenn wir mit dem Bundestagspräsidenten nichtin allen Punkten übereinstimmen können: Wir verstehen,dass Wolfgang Thierse angesichts der Nichtaktivität derBundesregierung in Sachen Aufbau Ost die Reißleine ge-zogen hat. Kompliment auch an Herrn Thierse, dass ersich durch das Kanzlerwort nicht hat einschüchtern las-sen; denn die Zahlen, von denen er ausgeht, sind richtig.Da wirkt es schon ziemlich jämmerlich, wenn die SPD-Fraktionskollegen angesichts dieser Gemengelage nichtwissen: Sollen sie dem Kanzler zustimmen, weil sie nochetwas werden oder bleiben wollen, oder sollen sie Thiersezustimmen, weil sie in ihren ostdeutschen Wahlkreisenwieder aufgestellt werden wollen?
Der „Tagesspiegel“ hat das heute noch einmal schön aus-gedrückt:Viele SPD-Abgeordnete aus den neuen Ländern nei-gen Thierses Aufbau-Thesen zu – doch sie fürchtenden Konflikt mit dem Kanzler
Wann – liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern Siesich einmal – hat sich eine Bundesregierung je zuvor vondem Bundestagspräsidenten der eigenen Fraktion sagenlassen müssen – als Opposition haben wir darauf hinge-wiesen –, dass die regierungsoffizielle Bestandsaufnahmezu dem wichtigen Thema, zur nationalen Herausforde-rung Aufbau Ost, unehrlich ist?
Was bisher dazu gesagt wurde, hat das Chaos im Ko-alitionslager nur vermehrt. Ich will das kurz anführen: Diestellvertretende Fraktionsvorsitzende, Frau Kaspereit,warnt vor Panik, räumt aber anhaltende Probleme ein. Dernunmehr entlassene sachsen-anhaltinische Wirtschafts-minister, Herr Gabriel, will die Wirtschaftsförderung Ostbeenden, was aus der Fraktion mit den Worten dementiertwird: Wir brauchen auf absehbare Zeit eine spezielle Ost-förderung und auch in Zukunft einen Ostbeauftragten imKanzleramt.Schließlich stellt Frau Eichstädt-Bohlig von den Grü-nen zunehmende statt entfallende Probleme fest und for-dert ein neues Leitbild für den Osten, was aber bei denMenschen im Osten so ankam, dass man der Problemenicht mehr Herr wird und deshalb die Maßstäbe ändernmuss. Bevor man die Latte also reißt, wird sie niedrigergelegt.Der Sprecher der SPD-Fraktion im Ausschuss für An-gelegenheiten der neuen Länder legt nach und fordert eineneue und klare Strategie für den Aufbau Ost, sagt aber, in
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms14555
der Infrastruktur sei man schon relativ gut vorangekom-men. Dagegen haben die Gutachten, die wir für den Soli-darpakt II in Auftrag gegeben haben, einen teilungsbe-dingten Nachholbedarf in Höhe von 300 Milliarden DMfestgestellt, der von der Bundesregierung als Grundlagefür die Verhandlungen zum Solidarpakt anerkannt wurde.
Thierse stellte richtig fest, auf dem Arbeitsmarkt gebees ein starkes Gefälle zwischen West und Ost und die po-sitiven Wirtschaftsdaten, auf die die Regierung stolz sei,stammten alle aus dem Westen.Aber die Arbeitslosen im Osten sind eben auch die Ar-beitslosen des Bundeskanzlers, an denen er sich messenlassen wollte, und im Osten wird er eindeutig als zu kleinbefunden.
Die Lage ist angesichts der Wirtschaftsdaten und desweiter dramatisch auseinander gehenden Arbeitsmarktesalles andere als beruhigend. Bevor der Osten kippt, müs-sen wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Stimmung nichtkippt und sich nicht noch mehr Resignation bei den Men-schen in den entlegenen Regionen des Ostens breit macht.Wir können uns durchaus darüber verständigen, dass wirauch im Osten weniger Leute fürs Nichtstun bezahlensollten, aber dann müssen wir diesen Menschen auchChancen bieten, Arbeit zu finden und sich einzubringen.Das aber ist etwas völlig anderes, als wenn Herr Gabrielden Eindruck vermittelt, im Osten gebe es mehr Faulpelzeals Arbeitsuchende.Dabei ist es doch gar nicht so kompliziert: Im Span-nungsfeld zwischen Abschaffung des Ostbeauftragtenund Streichung des Themas Aufbau Ost von der Tages-ordnung und dem Gegenpol, der Pflege des Jammer-Ossi-Images, der immer nur Geld haben will und jedem Fassden Boden ausschlägt,
sollten wir gemeinsam endlich mehr für die Menschen inden östlichen Bundesländern tun, die wirklich existenzi-elle Sorgen und Nöte haben.
Dafür bieten wir unsere konstruktive Mitarbeit an, selbstwenn der Kanzler nicht will. Der hat sich übrigens mitseinem Schweigen zu dieser Debatte als Chefsachen-kanzler verabschiedet. Aber selbst das scheint ja nicht soganz klar zu sein; denn aus der SPD-Fraktion stellte je-mand fest:Letzten Endes hat immer der Kanzler das Sagen.Wenn wir den nicht gewinnen, ist alles umsonst. Ermuss erkennen, dass er bald Wahlen hat. Nur mit ei-nem freundlichen Besuch gewinnt Schröder denOsten nicht.So Edelbert Richter.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitions-fraktionen, wenn der Kanzler nicht will, dann lassen Sieuns doch wenigstens hier im Parlament einmal darüber re-den. Sie haben ja jetzt einen profunden Ostbeauftragtenaus den Reihen Ihrer Fraktion. Selbst wenn Herr Eichelnicht will und sich als Sparminister auf Kosten des Ostensprofiliert
u
Auf die größte Op-
positionsfraktion in diesem Haus können Sie sich verlas-
sen. Sagen Sie einfach, was Sie wollen, und dann
beginnen wir gemeinsam damit.
Danke schön.
Als nächs-
te Rednerin hat das Wort die Kollegin Sabine Kaspereit
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Nooke, ich könntesagen, diese Aktuelle Stunde ist so unnötig wie ein Kropf.
Sie ist nämlich nur ein weiterer Teil Ihrer durchsichtigenStrategie, die Bundesregierung vor allem über Personal-diskussionen zu diffamieren, weil Sie keine Sachargu-mente anzubieten haben. Die Leute draußen bemerkendas.
Die Aussprache über den Aufbau Ost gehört in die De-batte über das Sachverständigenratsgutachten und denJahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, die An-fang März ansteht. Dennoch bin ich dankbar für die Ge-legenheit, diese Diskussion hier zu führen – wenn aucheine Aktuelle Stunde denkbar ungeeignet dafür ist –, undzwar aus zwei Gründen:Erstens. Das, was Sie sich von der Aktuellen Stunde er-hoffen, wird nicht eintreten, dass nämlich die Regie-rungsparteien untereinander und vor allem mit der Bun-desregierung im Streit über den weiteren Aufbau Ostliegen. Dies wäre eigentlich die Aufgabe der Opposition,aber von ihr höre ich keinen einzigen Vorschlag.Zweitens. Diese Aktuelle Stunde gibt uns Gelegenheit,erneut über den derzeitigen Stand des wirtschaftlichenAufbaus in den neuen Ländern zu sprechen. Es existiertoffensichtlich ein erhebliches Wahrnehmungsdefizit zwi-schen dem, was an Informationen aller Art zum AufbauOst zur Verfügung steht, und dem, was tatsächlich in derÖffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird.
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Günter Nooke14556
Mich hat schon erstaunt, dass das von Ihnen, HerrNooke, bereits erwähnte Papier in der Öffentlichkeit einesolch große Resonanz gefunden hat.
Denn es gibt darin keine einzige Erkenntnis, die nichtschon längst bekannt gewesen und in unzähligen Publika-tionen, die ich wegen der Kürze der Redezeit nicht alleaufzählen kann, verbreitet worden wäre.
Nichts ist wissenschaftlich so gut dokumentiert wie derAufbau Ost, übrigens eine Fundgrube für Interessierte,Experten und Historiker.Zu den Erkenntnissen gehört zum Beispiel, dass eineAngleichung der Wirtschaftskraft der neuen Länder an dieWirtschaftskraft des schwächsten alten Bundeslandesfrühestens in einem Zeitraum von 20 Jahren vorstellbarist.
Deshalb sagen wir: Der Aufbau Ost ist eine Generatio-nenaufgabe. Das haben Sie verschleiert.Wir sagen weiter: Der Aufholprozess Ostdeutschlandsbleibt noch für lange Zeit auf der Tagesordnung. Dieneuen Länder sind auf absehbare Zeit auf die Solidaritätder alten Länder sowie des Bundes elementar angewiesen.Insofern bin ich Wolfgang Thierse dankbar, dass er mitseinen Thesen eine breite Öffentlichkeit hergestellt hat.Das kann bei der Bewältigung der Probleme beim AufbauOst nur nützlich sein, weil die Menschen die Zusammen-hänge verstehen müssen.Allerdings will ich eines klarstellen: Wenn die Wirt-schaft in den neuen Ländern nicht mehr wie in der erstenHälfte der 90er-Jahre zweistellig wächst, sondern langsa-mer – auch langsamer als in Westdeutschland –, dannstagniert der Aufholprozess. Aber die ostdeutsche Wirt-schaft steht nicht vor einem Absturz, sondern sie kommtnur nicht schnell genug aus dem Tal heraus. Die Talsohlehatten wir 1998 nach Ihrer Regierungszeit erreicht;
das hat uns die Politik der alten Bundesregierung be-schert.Das zentrale Problem ist die Bildung eines ausreichen-den Kapitalstocks, vor allem im verarbeitenden Gewerbe.Das verarbeitende Gewerbe bildet heute den Motor desAngleichungsprozesses zwischen Ost und West. Zu Be-ginn der 90er-Jahre war es die Bauwirtschaft. Wir löffelndie Fehlentscheidungen der alten Bundesregierung aus.Eines ist jedoch klar – das wissen die Bürgerinnen undBürger in den neuen Ländern –: Wir lassen die Menschenmit den Folgen dieses Strukturwandels nicht allein. Wirbegleiten ihn sozialverträglich mit arbeitsmarktpoliti-schen und regionalpolitischen Maßnahmen. Das ge-schieht in den neuen Ländern in einem Maß, von dem dieMenschen in den ehemaligen RGW-Ländern nur träumenkönnen.Wenn wir schon die Fehler der alten CDU/CSU-F.D.P.-Regierung ansprechen, dann darf ich Sie, Herr Nooke, da-ran erinnern, dass diese Bundesregierung nicht die rascheAngleichung der Lebensverhältnisse versprochen hat.Diese Bundesregierung hat von Beginn ihrer Regierungs-tätigkeit an die Menschen darauf hingewiesen, dass wirbeim Aufbau Ost noch eine lange Wegstrecke vor uns ha-ben und dass dies allen Deutschen in Ost und West nocherhebliche – auch finanzielle – Opfer abverlangen wird.
Die Wirtschaftspolitik braucht Verlässlichkeit, Stetig-keit und einen klaren Kurs. Ich kenne in der wirtschafts-politischen Diskussion über den Aufbau Ost niemanden,der die Politik der Bundesregierung vom Grundsatz herinfrage stellt. Ich kenne kein ernst zu nehmendes Alterna-tivkonzept zu dieser Politik: weder von der CDU/CSUnoch von der F.D.P. oder der PDS.
Zum Solidarpakt vernehme ich aus den Oppositions-reihen einen vielstimmigen und übrigens sehr dissonantenChor.
Machen Sie doch Ihre Vorschläge, wie wir es machen, undwerten Sie die Diskussion darüber nicht als Streit in derSPD ab! Über einzelne Stellschrauben in der Politik kannund muss man sprechen. Auch die Bundesregierung wirdnicht umhinkommen, dies zu tun; das wird sie nicht in Ab-rede stellen. Doch die Grundausrichtung dieser Politikstimmt. An ihr werden wir festhalten.
Als nächs-
te Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Rot-Grün hat beim Aufbau Ost ver-sagt. Wie versteht diese Bundesregierung die „ChefsacheAufbau Ost“? Auch am heutigen Tag ist zur AktuellenStunde kein Bundesminister des Kabinetts von Rot-Grünanwesend.
– Meine sehr verehrten Damen und Herren von derRegierungskoalition, es ist verständlich, dass Sie sichaufregen, aber das hilft den neuen Bundesländern nicht.
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Sabine Kaspereit14557
Das, was Wolfgang Thierse als Thesenpapier für Ost-deutschland vorgelegt hat, ist eine Kritik an seiner eige-nen Fraktion. Aber das hilft uns allen nicht weiter. Es istimageschädigend, wenn sich ein Parteifreund aus IhrenReihen zur Entwicklung in den neuen Bundesländern ne-gativ äußert und die Entwicklung auf der Kippe sieht. Siesteht gar nicht auf der Kippe, aber Sie tragen dazu bei,dass die Entwicklung stagniert.
Staatsminister Schwanitz kritisiert das Papier vonThierse. Der scheidende Wirtschaftsminister Gabriel ausSachsen-Anhalt fordert zu Recht eine radikale Überprü-fung der Förderprogramme Ost und ein Zurückführen derABM zugunsten des ersten Arbeitsmarktes. Dafür wird ervom Ministerpräsidenten Höppner entlassen. Aber dieserhat für die Wirtschaftspolitik in seinem eigenen Bundes-land sowieso kein Verständnis.
Dies ist ein heilloses Chaos der rot-grünen Bundesregie-rung zum Aufbau Ost: drei Genossen und mindestens fünfMeinungen.
Die neuen Länder sind für Sie schon lange nicht mehrChefsache oder Herzensangelegenheit, sie sind für Sie nurnoch Streitsache. Genau dies brauchen wir aber für denwirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländernnicht.
Wir brauchen keine Schwarzmalerei à la Thierse und auchkeine rosarote Brille à la Schwanitz, sondern eine diffe-renzierte Betrachtungsweise.
40 Jahre Bundesrepublik lassen sich eben nicht in zehnJahren aufholen. Natürlich gibt es die Leuchttürme in denneuen Bundesländern: erfreuliche Zuwachsraten bei denExporten und in der Industrie. Nichtsdestotrotz ist dieindustrielle Basis im Osten viel zu schwach, um einenBeschäftigungszuwachs zu erreichen. Dank Ihrer mittel-standsfeindlichen Gesetze – Stichwort Ökosteuer, Stich-wort Steuerreform, die Kapitalgesellschaften bevorteilt –kann es in den neuen Bundesländern natürlich auch nichtvorwärts gehen.
Wir sehen bis heute kein schlüssiges Gesamtkonzeptfür einen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Län-dern. Wir sehen nur einen „Schweigeminister“ namensSchwanitz. Aktuelles Beispiel dafür ist die Schließungvon Bundeswehrstandorten; darüber werden wir morgendiskutieren. Das Personal der Bundeswehr soll in Ost-deutschland um 12 Prozent und in der Bundesrepublikinsgesamt um 14 Prozent reduziert werden. Dies bedeu-tet, dass Sie den Osten, bezogen auf die dortige Bevölke-rungszahl, bei der Schließung von Bundeswehrstandortenwieder einmal doppelt benachteiligen.
Die Bundeswehr ist gerade für die kleinen und mittel-ständischen Unternehmen in den neuen Ländern ein wich-tiger Wirtschaftsfaktor und hat auch eine soziale Integra-tionsfunktion.
Wo ist denn die Stimme von Herrn Schwanitz zu die-sen Themen, die uns allgemein beschäftigen? HerrGabriel, Ihr ehemaliger Wirtschaftsminister aus Sachsen-Anhalt, meinte, Ziel eines Ostbeauftragten müsste es sein,sich aufgrund einer Angleichung der Lebensverhältnissespätestens nach 2005 selbst überflüssig zu machen.
Herr Schwanitz hat sich heute schon überflüssig gemacht.Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, das Bud-get des Ostbeauftragten in Höhe von 2 Millionen DM fürInvestitionen für den Aufbau Ost zu verwenden. Davonhätten wir im Moment mehr als von seinem Schweigen.
Wir sind ein Land; Thüringen, Sachsen-Anhalt, Bran-denburg und die anderen neuen Bundesländer sind gleich-berechtigt. Das Verfassungsgebot, einheitliche Lebens-verhältnisse in ganz Deutschland zu verwirklichen, istzentrale Aufgabe aller Bundesministerien. Als Ost-deutsche brauchen wir kein Nischendasein. Vielmehrbrauchen wir neue Ansätze in der Förderpolitik sowieZielgenauigkeit und mehr Effizienz bei den Sonderpro-grammen. Wir verlangen, dass alle Förderprogramme aufden Prüfstand kommen und auf ihre Effizienz überprüftwerden. Wir brauchen die Konzentration auf die Ver-kehrsinfrastruktur und die wissenschaftliche Infrastrukturund wir brauchen eine neue Existenzgründeroffensive ge-rade für die neuen Bundesländer.
Ein Letztes: Herr Bundeskanzler – bitte übermittelnSie es ihm, ebenso meine besten Genesungswünsche –,
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Cornelia Pieper14558
machen Sie endlich die Standortfrage in den neuen Bun-desländern zur zentralen Frage! Die Airbus-Produktionfindet schon nicht in Rostock statt. Sorgen Sie wenigstensdafür, dass das neue BMW-Werk in die neuen Bundeslän-der kommt. Die Standortfrage ist unter einem F.D.P.-Wirt-schaftsminister immer eine zentrale Frage beim AufbauOst gewesen.
Zu Ihren Zeiten ist das leider verloren gegangen.
Als nächs-ter Redner hat der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wie kommt es eigentlich nor-malerweise zu einer Aktuellen Stunde? – Eine Fraktion be-antragt sie, wenn sie ein aktuelles Problem erkennt, wennes ein brisantes Problem gibt, über das man kurzfristig re-den muss. Aber der Aufbau Ost
– Paul Krüger, das weißt du aus der Zeit, als du innerhalbder CDU/CSU-Fraktion vergeblich darum gekämpft hast
– ist ein Dauerthema, das im Deutschen Bundestag nichtgerade unterbelichtet behandelt worden ist.
Wir haben dazu permanent Diskussionen. Im Frühjahrund im Herbst vergangenen Jahres haben wir anlässlichder Jahresberichte 1999 und 2000 der Bundesregierungzum Stand der deutschen Einheit erneut über diesesThema diskutiert.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,wir kommen überhaupt nicht weiter, wenn wir uns derartim Kreise drehen und diese Debatten allein unter Ost-deutschen führen. Ich erlebe das zum wiederholten Male,es ist im Grunde genommen ein altbekannter Schlagab-tausch.
Wenn Sie diese Debatte aufwerten wollen, dann reden Sie,Herr Hirche, dann reden auch Sie, Herr Merz. Damit ma-chen Sie dann deutlich, dass der Aufbau Ost eine Ge-meinschaftsaufgabe ist.Wenn Sie den Bundeskanzler angreifen, würde michim Übrigen interessieren, was Sie von der Sache verste-hen.
Von Ihnen, Herr Merz, habe ich noch keine relevante Aus-sage gehört. Das Thema liegt bei Ihnen völlig brach.
Nun gibt es einen sehr interessanten Aufhänger: Sie sa-gen, Bundestagspräsident Thierse habe ein paar kontro-verse Thesen in die Öffentlichkeit gebracht und darübersollte man diskutieren. Präsident Thierse hat diese Thesenals stellvertretender Parteivorsitzender in die Öffentlich-keit gebracht. Zwischen den Funktionen Präsident undstellvertretender Parteivorsitzender sollte man unterschei-den, auch wenn das manchmal schwierig sein mag. Ichwill das gern zugeben.
Seine Thesen werden innerhalb der SPD momentansehr kontrovers diskutiert. Das ist gut; so sollte es jeden-falls in einer Partei, die offen und kontrovers diskutierenkann, sein.
Ich weiß nicht, warum der Deutsche Bundestag diese Dis-kussion hier nachvollziehen will.In diesem Zusammenhang können wir ja über inner-parteiliche Probleme diskutieren.
Wir könnten darüber diskutieren, was sich im Augen-blick bei Ihnen ereignet, zum Beispiel die Kritik derMinisterpräsidenten an Merz und Merkel, die offen-sichtlich außer den drei Anfangsbuchstaben ihres Fami-liennamens überhaupt keine Gemeinsamkeiten mehraufzuweisen haben.
Wenn wir hier über die Entlassung von Gabriel inSachsen-Anhalt reden, sollten wir vielleicht auch über dieEntlassung von Herrn Milbradt in Sachsen durch Minis-terpräsident Biedenkopf sprechen, der sich langsam alsKohl-Kopf gebärdet, weil er das nachvollzieht, wasHelmut Kohl vorgemacht hat. Herr Biedenkopf erkenntüberhaupt nicht, wann die Übergabe an einen Nachfolgerzu geschehen hat, und bringt damit ein Land zu Schaden.Die Kritik an ihm kommt aus den eigenen Reihen.
– Das ist ein Thema. Wenn man einen Finanzminister ent-lässt, und zwar nicht wegen sachlicher Auseinanderset-zungen, ist das ein Thema.
– Ich rede zum Aufbau Ost.Bei Gabriel lag eine Fehleinschätzung vor und deswe-gen hat es dort geknirscht. Bei Biedenkopf liegt ein ande-res Problem vor: Hier wird einer nicht damit fertig,dass er irgendwann einmal das Zepter übergeben muss. Erentlässt deshalb einen Finanzminister in einer Situation,
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Cornelia Pieper14559
in der der Länderfinanzausgleich und die Ausgestaltungdes Solidarpakts verhandelt werden, und schwächt damitim Grunde genommen ein neues Bundesland in seinerVerhandlungsposition. Wenn das ein Beitrag zum AufbauOst ist, dann gute Nacht!
– Ich weiß, bei Ihnen sah alles sehr viel besser aus. Ichverstehe dann nur nicht, wieso Sie heute eine solche Pau-schalkritik üben, wenn es damals alles besser aussah. Ichfreue mich über Ihre rege Beteiligung und darüber, dassich Sie so aufwecken kann. Ich hätte mich noch mehr ge-freut, wenn Sie ein Konzept vorgelegt hätten.
– Ich würde mich sehr freuen, wenn endlich das kommt,worauf wir acht Jahre lang, von 1990 bis 1998, gewartethaben. Wir haben darauf gewartet, dass endlich einmal einAnsatz dazu vorgelegt wird.Das Konzept der Bundesregierung liegt vor; es ist mitdem Bericht zum Stand der deutschen Einheit an alle ge-gangen. Das sind die Prämissen, auf die wir immer wie-der setzen müssen. Es wird kein Sofortprogramm „Auf-bau Ost“ geben. Es gibt keinen sofortigen Durchbruch.Wir müssen im Grunde genommen die Innovationsfähig-keit der Unternehmen stärken.
Das macht diese Bundesregierung erstmals; sie hat dasProblem erkannt und in mehrfacher Hinsicht neue Kon-zepte entwickelt. Wir müssen die Entwicklungsfähigkeitder Regionen sowie die Wirtschaftspotenziale in den Re-gionen stärken. Auch hierzu gibt es neue Programme, zumBeispiel Inno-Regio, das hervorragend läuft. Wir müssenIndustrieansiedlungen forcieren. In diesem Zusammen-hang lässt sich die Chip-Fabrik in Frankfurt/Oder als her-vorragendes Beispiel für eine erfolgreiche Ansiedlungs-politik anführen.
Wenn Sie die vorausgegangene Debatte über die Chan-cen der ostdeutschen Landwirtschaft verfolgt haben, habenSie mitbekommen, dass Chancen für Betriebe, die naturnahund in Einheiten produzieren, die rentabel sind, bestehen.
– Herr Merz, Sie grinsen so überheblich. Wenn Sie nurhalbwegs von diesem Thema Ahnung hätten!
Ich würde mir wünschen, noch ein paar Minuten Re-dezeit zu haben, weil ich die Debatte darüber, was wir hierübernommen haben und wie weit wir gekommen sind,gern mit Ihnen führe.
Zum Schluss sage ich Ihnen, worin die Chefsache Auf-bau Ost besteht. Wir hatten nämlich 1997 einen Absturzauf 0,7 Prozent Wirtschaftswachstum; wir hatten Null-wachstum. Es erforderte einen Riesenkraftakt, das umzu-drehen und eine Trendwende einzuleiten. Dass wir heute2 Prozent Wachstum haben, haben Sie dieser neuen Bun-desregierung zu verdanken.
Das ist noch nicht genug, aber das ist eine Trendwende.Damals war der Absturz. Insofern kommt die Kritik etwasverspätet.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Christa
Luft von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Kollegin Kaspereit, KollegeSchulz, ich habe Ihre Reden zum Thema Aufbau Ost bisin den Herbst 1998 hinein noch ganz gut im Ohr. Die hör-ten sich damals ganz anders an.
Das haben vermutlich auch viele Menschen, die unszuhören und zuschauen, noch in Erinnerung.
Sie hätten damals Herrn Wolfgang Thierse für eine sopointierte Formel, wie er sie jetzt gefunden hat, laut Bei-fall gezollt. Heute kann er sich der Kritik nicht erwehren.
Das ist das Dilemma, in dem Sie sich befinden.Niemand, der mit offenen Augen durch den Osten geht,kann leugnen und wird leugnen, dass sich dort in den ver-gangenen zehn Jahren vieles zum Positiven entwickelthat. Aber niemand, der mit offenen Augen durch denOsten geht, sollte auch leugnen, dass auch im dritten Jahrrot-grüner Regierungspolitik der Osten immer noch an ei-ner Wegscheide steht, und zwar an der Wegscheide zwi-schen einem beschäftigungspolitisch weiter abschüssigenPfad mit dauerhafter Verfestigung von Massenarbeitslo-sigkeit, mit Angewiesensein auf Alimentierung, vielleichtmit Altenheimperspektive und einer anderen Strecke, diegerichtet ist auf einen sozialökonomisch nachhaltigen,selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung mit Chancen fürJung und Alt im Osten und mit vielen Vorteilen für dasvereinte Land. Auch das will ich einmal sagen.
Wir sollten nicht immer so tun, als sei der Osten nur eineSache des Ostens. Nein, wie es dort vorangeht, das ist eineSache des vereinten Landes.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Werner Schulz
14560
Eine Entscheidung darüber, wohin es nun gehen soll andieser Wegscheide, die Wolfgang Thierse eine „Kippe“genannt hat, steht bislang aus. Es wäre dazu ein neuer po-litischer Anlauf erforderlich und der ist leider, obwohl derOsten zur Chefsache erklärt und ein Ostbeauftragter be-stallt worden ist, nicht zu erkennen. Der Aufschwung Ostist eines der schwächsten Glieder in der Arbeit der rot-grünen Bundesregierung. Das möchte ich aus meinerSicht ganz deutlich unterstreichen.
Wer das nach den niederschmetternden jüngsten Arbeits-marktzahlen zu leugnen wagt, dem ist wahrlich nicht zuhelfen. Da können Sie sich auch nicht auf den Winter oderauf die immer noch lahmende Bauwirtschaft zurückzie-hen. Es gibt ganz viele andere Ursachen dafür, dass wirdie Talsohle bisher nicht verlassen haben.Die Arbeitslosenrate betrug im Osten bei Antritt derneuen Regierung offiziell das 1,8fache der Rate in den al-ten Bundesländern. Heute beträgt die Rate das 2,3fachedessen, was wir in den alten Bundesländern haben. Das istdoch eine Besorgnis erregende Tendenz. Allein im Jahre2000 zogen 14 000 Jugendliche einer Lehrstelle wegen indie alten Bundesländer.
Ein von der PDS geforderter Fahrplan für die Anglei-chung der Löhne, Gehälter und Renten wird, so wie vonder Kohl-Mannschaft, auch von der neuen Regierung ab-gelehnt. Sind denn das alles, wie Sie, Herr Bundeskanz-ler, meinen, nur Empfindungen? Oder sind dies nicht ganzhandfeste Daten?
Es ist natürlich richtig, dass Rot-Grün eine böse Hin-terlassenschaft von Schwarz-Gelb übernommen hat,keine Frage. Aber es mangelt an neuen konzeptionellenAnsätzen. Es reicht auch nicht, allein über Geld und mehrGeld zu reden, so wichtig das ist. Hohe Zeit ist es aus un-serer Sicht, endlich eine seriöse Evaluierung der über-kommenen Wirtschaftsförderpraxis vorzunehmen. Üp-pige öffentliche Gelder dürfen nicht weiter als verloreneZuschüsse ohne Beschäftigungs- und Ausbildungsplatz-effekte in der privaten Industrie versickern.
Die PDS wird dazu Vorschläge vorlegen.Zur Erschließung bzw. zur Wiedergewinnung vonMärkten für ostdeutsche Produzenten überregional han-delbarer Güter muss eine Offensive gestartet werden.Wenn die neuen Länder auf die eigenen Füße kommen,also wirtschaftlich gesunden sollen, dann brauchen sie ei-nen Zugewinn an Marktanteilen. Beispielsweise stündeein Bündnis für Aufträge aus Russland zur Modernisie-rung der Gas- und Ölindustrie an. Infolge der BSE-Krisemuss eine beschäftigungsstimulierende, transportsen-kende Regionalisierung der Nahrungsgüterversorgungsofort in Angriff genommen werden. Das Gebiet zwi-schen Elbe und Oder hätte davon seit Jahren profitierenkönnen, wenn gerade die regionale Nahrungsgüterversor-gung mehr gefördert worden wäre.Das gut qualifizierte, aber brachliegende Arbeitskräf-tepotenzial mittleren Alters in den neuen Bundesländernbraucht andere Antworten als die Aussicht auf einen Nied-riglohnjob und ein Ehrenamt. Die PDS will zum Beispiel,dass Projekte mehrjährig öffentlich geförderter, gemein-wohlorientierter Arbeit endlich auf die politische Agendakommen. Chancen und Risiken der Osterweiterung derEuropäischen Union zwingen in ihren Wirkungen aufOstdeutschland zu haushalts- und finanzpolitischenSchlussfolgerungen. Was nützt es uns denn eigentlich,wenn die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2006zwar die Neuverschuldung auf null gesenkt hat, aber derOsten in Agonie verfallen ist, weil bei öffentlichen Inves-titionen gespart worden ist?
Das sind nur einige wenige Überlegungen, die in einemAktionsprogramm für den Osten, das der Bundestagsprä-sident angeregt hat, Platz haben könnten.Lassen Sie mich zum Abschluss Folgendes sagen:Wenn all das, was der Bundestagspräsident angesprochenhat, nicht in wahltaktischem Aktionismus enden, sonderntatsächlich zu substanziellen Folgen führen soll, dannbrauchen wir – sowohl bei der Regierung als auch bei denKoalitionsabgeordneten – ein Umdenken, was die Art undWeise des Herangehens an den Osten angeht. Die Neu-bundesbürger müssen endlich als Ideenträger und Akteureim Vereinigungsgeschehen, nicht immer nur als dessenObjekte wahrgenommen werden. Innovative Lösungenostdeutscher Probleme können zugleich ein Beitrag zu al-ternativen Reformen im ganzen, im vereinten Land sein.Danke schön.
Das Wort
hat jetzt für die Bundesregierung Staatsminister Rolf
Schwanitz.
Warten wir es einmal ab, Herr Kollege. – Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Frau Luft, Sie haben geradevon einem sehr pointierten Analyse- und Vorschlagspa-pier gesprochen. Ich erinnere mich noch daran, dass derKollege Claus in einer ersten Reaktion auf dieses Papiersagte, es habe eine Nähe zu alten PDS-Diagnosen und-Vorschlägen. Auch Sie haben das sehr differenziert gese-hen. Ich glaube, ein Hauch von Wahlkampf weht schondurch diesen Saal. Das tut der ganzen Angelegenheit nichtgut.
Herr Nooke, Sie haben eine stolze Zahl von Zitatenvorgetragen. Was darin zum Ausdruck kam, ist richtig.
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Dr. Christa Luft14561
Aber ich sage ausdrücklich: Es tut einer großen Volkspar-tei gut, wenn sie über die größte innenpolitische Heraus-forderung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg – esgeht um die Entwicklung des seit 1990 vereinten Deutsch-lands – kontrovers diskutiert; das ist alles andere als eh-renrührig. Diese Debatte findet bei Ihnen nicht statt.
Ostdeutschland befindet sich nicht am Ende einesWeges, sondern in der Mitte einer Wegstrecke. Dieschweren strukturellen Umbrüche sind noch nicht ge-schafft. Es vollzieht sich ein Wechsel der Wachstums-kräfte. In der ersten Hälfte der 90er-Jahre boomte die Bau-branche; dann ging die Entwicklung hin zu dem, waseigentlich eine moderne Ökonomie ausmachen muss,nämlich eine starke Industrie und vor allen Dingen einstarker Dienstleistungsbereich. Ein solcher Wandel voll-zieht sich in einem mehrjährigen Prozess.Übrigens – Herr Schulz hat darauf hingewiesen –, sinddie volkswirtschaftlichen Auswirkungen eines solchenProzesses sehr wohl positiv und die heutigen Resultatesind anders als diejenigen, die zu dem Zeitpunkt vorlagen,als wir die Regierungsverantwortung übernommen ha-ben. Während der letzten Legislaturperiode gab es einenAbsturz der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten: von11 Prozent 1994 bis auf 0,7 Prozent 1998.
Dass seit dem Regierungswechsel die Bruttoinlandspro-duktionsraten wieder wachsen – um 1,5 Prozent 1999 undum etwa 2 Prozent 2000, wie ich annehme – und dass sichdas auch fortsetzen wird, ist ein gutes Zeichen für eineTrendwende. Darauf können die Menschen in Ost-deutschland stolz sein.
Dass Sie überhaupt kein Interesse daran haben, überdiesen Strukturbruch zu reden, ist mir ja völlig klar.Natürlich steht die schwierige Situation durch die aufge-blähte Baubranche in Ostdeutschland im Zusammenhangmit Ihrer politischen Tätigkeit in den zurückliegendenJahren. Das geht auf die Förderkulissen zurück. So wur-den zum Beispiel jahrelang undifferenzierte Sonderab-schreibungsregelungen ermöglicht.
Deswegen sage ich ausdrücklich, dass uns Bilder wie „aufder Kippe stehen“, wie „Absturz“ oder – wie von Ihnen,Herr Nooke, gestern noch einmal im „Tagesspiegel“ zu le-sen war – “abgekoppeltes Gebiet“ nicht weiterhelfen. Daswird auch der Realität nicht gerecht.
Was muss geschehen? Welche Förderkonditionen sindnotwendig? Der sehr angesehene Leiter des Instituts fürWirtschaftsforschung Halle, Herr Professor Pohl, hat ges-tern in der „Lausitzer Rundschau“ eine interessante Ant-wort auf die Frage gegeben: Bedarf es zusätzlicher Pro-gramme für den Osten? Er hat geantwortet: Nein, ich kannmir auch keines mehr vorstellen. Er hat weiter geantwor-tet: Der Aufbauprozess muss so weitergeführt werden,wie er angelegt ist, mit einem zweiten Solidarpakt, demAbbau der Infrastrukturlücke und einer hohen Prioritätbei der Ausbildung.
Meine Damen und Herren, so weit, dass ich sage, wirdenken nicht kritisch über Förderprogramme nach, willich nicht gehen. Es geht aber in der Tat genau um dieseThemen.
Es war richtig – wir werden diesen Weg auch fortsetzen –,dass wir im Rahmen dieses Aufbaukonzeptes dieInnovationsförderung in Ostdeutschland ausbauen unddabei helfen, Netzwerke zwischen den kleinen Unterneh-men, den Forschungseinrichtungen, den Hochschulen undder unternehmerischen Basis zu knüpfen.
Dabei müssen wir auch die Grundlage für eine neue Qua-lität bei den Investitionen schaffen.Ein Beispiel dafür stellt ja das gestern bekannt gege-bene Investitionsvorhaben in Frankfurt/Oder dar. Intel istnicht nur aufgrund hochattraktiver Investitionsförde-rungskonditionen nach Frankfurt/Oder gegangen, son-dern auch deswegen, weil im Umfeld eine Verknüpfungvon hochwissenschaftlicher Innovationstätigkeit auf dereinen Seite mit industrieller Verwendung auf der anderenSeite möglich ist. Diese Leistungen konnten Ostdeutscheerbringen. Darauf können die Menschen stolz sein.
Es ist richtig, dass wir Differenzierungen bei der För-derung vorgenommen haben und die Investitionszulagennicht flächendeckend gewähren, so wie es zu Ihrer Zeitder Fall war.
Vielmehr haben wir sie zusätzlich auf Erstinvestitionenausgerichtet und regional differenziert auf das Grenzlandfokussiert. Diese Differenzierung ist notwendig und ent-spricht der Entwicklung in Ostdeutschland.
Ausdrücklich möchte ich sagen, dass es nicht möglichist, in fünf Minuten über die ganze Bandbreite des Auf-baus Ost zu sprechen. Wenn Sie eine ernsthafte Ost-De-batte führen wollen, stellen Sie einen Antrag und verlan-
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Staatsminister Rolf Schwanitz14562
gen Sie hier eine Debatte. Dazu bin ich herzlich gernbereit.
Schließlich steigt die Bundesregierung in Themen ein, dievon Ihnen immer als Tabuthemen behandelt wurden. Ichgreife einmal das Thema Wohnungsleerstand heraus. Die-ser ist bei den ostdeutschen Wohnungsunternehmen janun wirklich nicht in den letzten zwei Jahren entstanden.Das glauben Sie doch ernsthaft – mit Verlaub – selbernicht. Wir müssen in zentrale Themen einsteigen, die Siefrüher ausschließlich als Angelegenheiten der Länder de-finiert haben. Das ist ein wirklich wichtiger und richtigerSchritt, der übrigens auch dringend notwendig ist.Zum Schluss sage ich Ihnen,
meine Damen und Herren, ganz klar: Eines werden wirnicht machen. Wir werden den Menschen nicht einreden,dass man – wir reden jetzt vom Solidarpakt II und einerFinanzverfassung, die bis in das Jahr 2015 reicht, um dieDimension der Wegstrecke einmal deutlich zu machen –wie Harry Potter mit einem Zauberstab über diese Land-schaften fliegen und den Weg auf drei bis fünf Jahre ver-kürzen könne. Das wäre unredlich.
Das und übrigens auch das permanente Bild von einemFahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse – alsginge es darum, dass sich die Politik mit der Trillerpfeifein der Hand hinstellt und den Zug abfahren lässt – führt zueiner Schädigung der Situation, weil der Weg, der gegan-gen werden muss, nicht mehr wahrgenommen werdenkann.Wir decken nicht zu, was geleistet werden muss, undzwar gesamtdeutsch; denn die Westdeutschen müssen dieSolidarität für diesen Weg aufbringen. Das ist nicht nurein Thema für Ostdeutschland. Der Weg muss wahrhaftigbeschrieben werden, anstatt in einen investiven Attentis-mus zu verfallen, mit der Folge, dass Erwartungshaltun-gen produziert werden und die Investoren sich zurückhal-ten in der Hoffnung, es werde noch eine Superwurstkommen. Wir werden dies auch nicht auf Ihren Wunschhin ins Werk setzen; denn wir sind der Interessenlage derMenschen verpflichtet und nicht einer parteipolitischenAusrichtung.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Ulrich Klinkert von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Er wolle die neuen Bundes-länder zur Chefsache machen und sich an der Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit messen lassen, tönte GerhardSchröder kurz vor und nach der Wahl 1998. Zwei Jahrenach diesen Ankündigungen mehren sich deutlich die Zei-chen, dass nicht nur die Ernsthaftigkeit der Versprechenund die Durchsetzungskraft des Kanzlers zu hinterfragensind, sondern dass es am ehrlichen Willen der rot-grünenBundesregierung fehlt, die notwendigen Kraftanstren-gungen aufzubringen, um die neuen Bundesländer nachvorne zu bringen.
Die nüchterne Analyse, die nicht von Herrn Thiersestammt – er hat sie nur aufgegriffen und dankenswerter-weise publik gemacht –, zeigt, dass die Arbeitslosigkeitim Osten in den zwei Jahren rot-grüner Regierung auf dasfast Zweieinhalbfache der Arbeitslosigkeit im Westen ge-stiegen ist. 200 000 Arbeitsplätze wurden in den neuenLändern abgebaut. Mit weniger als fünf Millionen Ar-beitsplätzen haben wir in den neuen Ländern so wenigArbeitsplätze und so viel Arbeitslose wie noch nie zuvor.Das ist eine Entwicklung, die die Bundesregierung offen-sichtlich tatenlos hinnimmt.Seit Kanzler Schröder den Aufbau in den neuen Bun-desländern zur Chefsache erklärt hat, ist die Abwande-rung vom Osten in den Westen auf das Vierfache ange-stiegen. Herr Schwanitz, auch das ist eine Erklärungdafür, warum der Wohnungsleerstand in den neuen Bun-desländern in den letzten zwei Jahren drastisch zugenom-men hat.
Die Analysen sind so ernüchternd und entlarvend, dassder Bundeskanzler, aber auch sein ostdeutsches Feigen-blatt Schwanitz dazu noch nicht verbindlich Stellung ge-nommen haben. Das, was Herr Schwanitz heute gebotenhat, ist alles andere als ein Fahrplan für eine bessere Ent-wicklung in den neuen Bundesländern.
Auch zehn Jahre nach der deutschen Einheit krankendie neuen Bundesländer nach wie vor an dem riesen-großen Rückstand bei der Infrastruktur. Aber statt die An-strengungen zu verstärken oder den Ausbau der Infra-struktur wenigstens auf dem bisherigen Niveau weiter zufördern, hat die rot-grüne Bundesregierung gerade hierden Rotstift angesetzt. Sie haben mehrere 100 Milli-onen DM beim Ausbau der Bahn und des Straßenver-kehrsnetzes gekürzt. Die UMTS-Milliarden, die Sie fürdas Anti-Stau-Programm eingesetzt haben, werden vor-rangig in den Westen umgeleitet. Sie haben die Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-schaftsstruktur“ um mehrere 100 Millionen DM pro Jahrreduziert und Sie haben drastische Einschnitte bei denForschungsmitteln vorgenommen.Das in meinem Wahlkreis gelegene ArbeitsamtHoyerswerda weist in diesem Monat eine sprunghafte Zu-nahme der Arbeitslosigkeit auf fast 25 Prozent aus. DieserAnstieg hat seine Ursache unter anderem in der vertrags-widrigen Kürzung der Braunkohlesanierungsmittel. ImJahre 2001 stehen mehr als 100 Millionen DM wenigerzur Verfügung als im Jahr zuvor, und das angesichtseines gültigen Vertrages, den Sie – wie ich bereitssagte – vertragswidrig geändert haben. Dies führte in den
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Staatsminister Rolf Schwanitz14563
Sanierungsbetrieben zu Entlassungen in dramatischerHöhe.Gleichzeitig führen Sie einen Globalangriff gegen denwichtigsten ostdeutschen Wirtschaftszweig, nämlich ge-gen den Bereich der aktiven Braunkohlenförderung und-verstromung. Die Grünen haben nach der Kernenergiejetzt die Braunkohle zu ihrem Hauptfeind erklärt.
Trittin droht mit Sanktionen, um von seinem nationalenund internationalen Versagen in der Klimaschutzpolitikabzulenken. Die rot-grüne Koalition verlangt vehementeine planwirtschaftliche KWK-Quote, die TausendeArbeitsplätze in den neuen Bundesländern und sicher zumTeil auch in den alten Bundesländern kosten würde, fallssie umgesetzt wird.
Ein weiterer Ausdruck der Vernachlässigung der neuenBundesländer ist die überproportionale Kürzung bei denMilitärstandorten.
Es ist geradezu zynisch, wenn der Bundesverteidigungs-minister sagt, er könne an Schneeberg nur dann festhalten,wenn die Sachsen einen gleichwertigen Standort zur Dis-position stellen. Man muss Herrn Schwanitz dazu sagen:Es gibt kaum einen gleichwertigen Standort; dennSchneeberg ist einer der ganz wenigen Standorte in struk-turschwachen Regionen, die geschlossen werden sollen.
Die Bundesregierung reduziert mit ihren Beschlüssenzusätzlich die Kaufkraft der Bürger in den alten, aber ins-besondere auch in den neuen Bundesländern, was sichdann auf die Entwicklung der mittelständischen Industrieauswirkt. Ein Ehepaar mit einer durchschnittlichen Rentebekommt aufgrund der Ökosteuer und des Rentenbetrugsrund 1 000DM weniger im Jahr. Das macht bei einer Stadtvon 50 000 Einwohnern circa 6 bis 7 Millionen DMKaufkraftverlust im Jahr aus. Das ist die Realität beimAufbau Ost à la Schröder.
Wir brauchen eine bessere Entwicklung der Infrastruk-tur, eine deutliche Exportförderung und eine Entbürokrati-sierung der Wirtschaft. Bei all diesen Problemfeldern ha-ben Sie bisher völlig versagt. Wie hat Herr Thierse inseinem Brief richtig zum Ausdruck gebracht: Anders als1998 wird man uns bei der nächsten Wahl nicht an unserenVersprechungen, sondern an unseren Leistungen messen.
Dies, meine Damen und Herren von der SPD, sollten Siesich eingerahmt in Ihren Fraktionssaal hängen.Herzlichen Dank.
Ich gebe
das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Franz
Thönnes.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Die Situation im Osten wirdnicht wahrer und klarer, wenn alle möglichen Problem-felder so zu einem Brei vermischt werden, wie das gerademein Vorredner gemacht hat.
Es ist einfach die Wahrheit, dass Sie blühende Landschaf-ten versprochen haben, obwohl den Menschen klar warund auch heute noch klar ist, dass eine marode Wirtschaftnicht innerhalb von zehn Jahren auf Vordermann gebrachtwerden kann, sondern dass dies Schritt für Schritt erfol-gen muss. Man muss den Menschen Mut machen. Undstatt zu jammern „Das Glas ist halb leer!“ muss man sa-gen: Das Glas ist halb voll.
Man sollte deswegen auch über die positiven Signalesprechen, die uns erreichen: Die Arbeitslosenquote ist imZweijahresdurchschnitt von 18,2 auf 17,4 Prozentzurückgegangen. Die industrielle Produktion hat kräftigzugelegt. Wir spüren zwar deutlich, dass das nicht aus-reicht, um den Beschäftigungsrückgang im Baugewerbeund im öffentlichen Dienst auszugleichen. Wir wollenauch gar nicht die dadurch entstehende kurzfristige Be-lastung leugnen. Aber wenn wir genau hinschauen, dannkönnen wir erkennen – das hat auch der Präsident derBundesanstalt für Arbeit, Herr Jagoda, festgestellt –, dasssich die Struktur der Beschäftigung verbessert hat.Auch in den neuen Ländern gibt es regionale Unter-schiede, die man zur Kenntnis nehmen muss. In Dres-den, Gera, Suhl und Potsdam lag die Arbeitslosenquoteim Dezember zwischen 13 und 14 Prozent. Damit habenwir eine vergleichbare Situation wie in den struktur-schwachen Regionen im Westen, zum Beispiel wie inEmden, Dortmund und Gelsenkirchen. Wir brauchen er-folgreiche Beispiele, an denen deutlich wird, dass die in-dustriellen Arbeitsplätze sicher sind und neue nach sichziehen.Ein ganz wichtiger Bereich, der hier bislang keineRolle gespielt hat, ist das Engagement dieser Koalition fürdie jungen Menschen in diesem Land mit dem Sonder-programm JUMP, das mit 2 Milliarden DM in unverän-derter Höhe fortgesetzt wird. Davon werden aber im Jahr2001 50 Prozent statt 40 Prozent in den Osten fließen.
Allein im letzten Jahr haben durch dieses Programm34 600 junge Menschen eine Perspektive erhalten. Wennsich das nicht im gleichen Umfang auf den Arbeitsmarktauswirkt, hat das etwas damit zu tun, dass wir bewusst sol-che jungen Menschen ansprechen, die bisher nicht bei denArbeitsämtern registriert waren.Dies ist die zentrale Herausforderung: jungen Men-schen eine Perspektive zu geben. Denn jede Mark, die hierinvestiert wird, ist sinnvoller investiert, als wenn sie in
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Ulrich Klinkert14564
Resozialisierungsmaßnahmen oder Jugendstrafanstalteninvestiert werden muss.
Hinzu kommt, dass die Mittel für die aktive Arbeits-marktpolitik gestiegen sind. So erhält der Osten Deutsch-lands mit 13,8 Milliarden DM 50 Prozent der Mittel desEingliederungstitels. Wenn man sich anschaut, wie sichder Anteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik insgesamt ent-wickelt hat, stellt man fest, dass er sich mittlerweile in ei-ner Größenordnung von 53 Prozent bewegt.
Wir haben jetzt zu hinterfragen, warum die 3 Milliar-den DM, die für Strukturanpassungsmaßnahmen vorgese-hen waren, nicht abgeflossen sind. Das merken wir durch-aus kritisch an. Das darf nicht noch einmal passieren.Gerade Strukturanpassungsmaßnahmen können gut mitder örtlichen Infrastrukturförderung kombiniert werden.Ich möchte in diesem Zusammenhang ein besondersfür den Osten positives Beispiel nennen. Die Existenz-gründer im Osten hatten in den Jahren 1999 und 2000 ei-nen größeren Anteil an dem Förderbetrag in Höhe von1,4 Milliarden DM als die Existenzgründer im Westen.Wir können zufrieden zur Kenntnis nehmen, dass derBundesanstalt für Arbeit zufolge von den ostdeutschenJungunternehmen stärkere Beschäftigungsimpulse ausge-hen als von den westdeutschen Unternehmen; in denneuen Ländern hätten durch diese Maßnahmen nicht nurmehr Ausbildungsplätze, sondern auch mehr reguläre so-zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze als im Westengeschaffen werden können. Das ist ein Erfolg. Dadurchzeigt sich ganz deutlich, dass die Mittel für die aktive Ar-beitsmarktpolitik sinnvoll eingesetzt werden können.Ich möchte einen weiteren Faktor nennen, von dem ichglaube, dass er in der Zukunft zentral ist, wenn es darumgeht, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Wir werden einenAntrag in den Deutschen Bundestag einbringen, mit demwir die Jobrotation fördern wollen. Das heißt, wir wollenArbeitslosigkeit und Weiterbildung sinnvoll so verknüp-fen, dass die Betriebe und die Mitarbeiter qualitativ aufden Stand der Zeit kommen und gleichzeitig Stellvertre-ter, die vom Arbeitsamt gefördert werden, in die Lage ver-setzt werden, einen Arbeitsplatz zu erhalten.
Ich glaube, dass wir bei den Maßnahmen der Wirt-schaftsförderung sehr genau hinschauen müssen. DieNorddeutsche Landesbank hat gerade eine Studie vorge-legt, in der die Gründe für die Produktivitätslücke imOsten genannt werden: Branchenstruktur, Mangel an Un-ternehmenszentralen, Niedrigpreisstrategien und Mana-gementdefizite. Das heißt, mit Geld allein ist es nicht ge-tan, sondern es geht auch um qualitative Förderung unddarum, Zeichen zu setzen.Deswegen möchte ich abschließend meinen Glück-wunsch an die Stadt Frankfurt/Oder aussprechen. Mit derInvestition, die jetzt dort im Mikroelektroniksektor ge-tätigt wird – mit 3,15 Milliarden DM die größte innerhalbder letzten zehn Jahre –, werden 3 500 Arbeitsplätze ent-stehen. Angefangen hat man mit einem Forschungsinsti-tut, um das herum sich nun wirtschaftliche und indus-trielle Kraft ansiedelt.Das ist die zentrale Perspektive für die Zukunft. Des-wegen sage ich Ihnen mit einem alten chinesischenSprichwort: Es ist besser, ein Licht in der Dunkelheit an-zuzünden, als dauernd über die Finsternis zu klagen.
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht nun der Kollege Peter
Rauen.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Herr Kollege Thönnes, ich bin sehrdafür, dass wir auch über das reden, was gut läuft. Dasführt zur Ermunterung und begegnet Defätismus.Ich muss schon sagen: Was der Beauftragte der Regie-rung für die neuen Bundesländer, Herr Schwanitz, hier ge-sagt hat, war ohne jegliche Perspektive. Das war die per-sonifizierte Perspektivlosigkeit. Da hätte ich von Ihnen,Herr Schwanitz, einiges mehr erwartet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns schonGedanken machen, wenn wir in den neuen Bundesländerneinen negativen Wanderungssaldo feststellen. Das gehtuns alle an, erst recht, wenn junge Leute weggehen und äl-tere zurückkommen. Langfristig hat das verheerende Fol-gen. Das kann uns nicht kalt lassen. Das zeigt mir, dasswir zwar vieles, insbesondere im Sozialbereich, mit staat-lichen Mitteln klären können, aber letztendlich einenselbst tragenden Aufschwung brauchen, um in den neuenBundesländern langfristig die Arbeitsplätze zu haben, diewir brauchen.
Das ist einfach eine Tatsache. Es besteht eine Produkti-vitätslücke, die seit etwa sechs Jahren zwischen 24 Pro-zent und 26 Prozent verharrt. Diese Lücke müssen wirschließen. Wir wissen auch, dass alleine 15 Prozent derProduktivitätslücke darauf zurückzuführen sind, dass esnoch nicht genügend Verkehrswege gibt. Hier versagt dieneue Regierung.
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Franz Thönnes14565
Wirtschaftliche Verkehrswege sind Voraussetzung fürProsperität und wirtschaftliches Wachstum. Es kann nichtangehen, dass man Pläne für moderne Verkehrsmittelnicht weiterverfolgt hat und dass man nicht stärker ver-sucht, die Lücke bei der Infrastruktur zu schließen. Hiermuss wesentlich mehr getan werden, als zurzeit getanwird.
Meine Damen und Herren, ich fürchte, im Rahmen derFinanzierung über den normalen Haushalt wird dies nichtmöglich sein. Wir müssen nach neuen Finanzierungswe-gen suchen, um die Infrastruktur in den neuen Bun-desländern viel schneller zu verbessern, als wir dies mitden üblichen Haushaltsfinanzierungsmitteln könnten.
Darüber hinaus muss uns eines zu denken geben: Ichhabe zur Kenntnis zu nehmen, dass in den neuen Bundes-ländern in den letzten Jahren fast genauso viele FirmenKonkurs gegangen wie neue geschaffen worden sind.
Aber ohne Unternehmen gibt es keine Arbeitsplätze. DieKollegin der F.D.P. hat Recht:
Die Verschlechterungen, die den Mittelstand treffen, tref-fen natürlich die Schwächsten und umso mehr die jungenFirmen in den neuen Bundesländern, die noch keine Sub-stanz, noch kein Eigenkapital haben. Ich sage das auchaus ganz persönlicher Sicht. Seit 35 Jahren bin ich selbst-ständig. Ich habe noch nie so viele Sorgen gehabt, fürmeine Mitarbeiter Arbeit zu finden, wie zurzeit. Wir bie-ten teilweise, um die Beschäftigung zu halten, unter denGestehungskosten an.
Das geht aber nur, wenn Substanz da ist – Substanz, diejunge Firmen in den neuen Bundesländern überhauptnoch nicht haben können. Deshalb haben wir zu beklagen,dass die Firmen den Druck nicht aushalten und wieder li-quidiert werden. Meine Damen und Herren, in diesemPunkt müssen wir ganz entscheidend verbessern.Ich habe mir einmal angeschaut, was wir den Firmen inden neuen Bundesländern alles zumuten. Viele der Regu-lierungen auf dem Arbeitsmarkt, die heute in den altenLändern gelten, sind nach 1970 erlassen worden: als nachdem Wiederaufbau die Substanz vorhanden und das We-sentlichste geschafft war. In den neuen Bundesländernaber haben wir den Firmen diese Regelungsdichte sofortauferlegt und erwarten, dass sie automatisch damit zu-rechtkommen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wirdies ändern können.
Ich nehme sehr bewusst die Wirtschaftsminister derneuen Länder wahr, die eigentlich im Vergleich der Bun-desländer relativ gute Ergebnisse vorweisen können.Wenn zum Beispiel Minister Fürniß aus Brandenburg imHinblick auf den Arbeitsmarkt sagt, er brauche ein Expe-rimentierfeld für Deregulierungen, dann könne er vieleslösen, wenn der Minister für Wirtschaft und Arbeit inSachsen, Herr Schommer, sagt, er brauche mehr Gestal-tungsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt, man müsse sich vonden verkrusteten westdeutschen Strukturen lösen undbenötige eine arbeitsmarktpolitische Experimentierwerk-statt, so sollte man dies sehr ernst nehmen und insgesamtwieder einmal fragen, wo wir hinsichtlich des Funktio-nierens unserer sozialen Marktwirtschaft vielleicht über-trieben haben. Wir müssen uns fragen: Können wir auto-matisch verlangen, dass Firmen im Aufbau, die einenNachholprozess zu durchlaufen haben, sich all das leisten,was uns im Westen in 40 Jahren lieb und teuer – vor allenDingen teuer – geworden ist?
Ich rufe uns alle dazu auf, darüber nachzudenken, wiewir deregulieren können, um sowohl für die neuen alsauch für die alten Bundesländer Chancen für eine bessereZukunft des Arbeitsmarktes zu schaffen. Das sollte unsalle berühren. Darüber nachzudenken – ohne Streit – lohntsich für uns alle.Danke schön.
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Antje Hermenau.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt sind wirin der Debatte über den Aufbau Ost genau da, wo sichauch der Aufbau Ost befindet, nämlich in den Mühen derEbene. Sie merken, die Beiträge werden technokrati-scher und es gibt keinen Befreiungsschlag, stattdessenreden wir über die vielen Details des mühsamen Ge-schäfts.Ich glaube, Herr Schwanitz, der Bundeskanzler hat Ih-nen keinen Gefallen getan, als er den Aufbau Ost zurChefsache erklärt hat.
Dies hatte dieselbe Wirkung auf die Menschen wie dasVersprechen von den blühenden Landschaften. Eigentlichmüssen diejenigen, die den Aufbau Ost ernsthaft betrei-ben, zugeben: Es ist ein mühsames Geschäft, das sich überJahre und Jahrzehnte hinziehen wird; wir werden dabeieine Menge zu leisten haben.Deswegen sollten wir jetzt über das neue Selbstbe-wusstsein der Ostdeutschen reden. Wenn etwas in demStreit der letzten Tage und Wochen klar geworden ist,dann dies: Eigentlich müsste in jeder Partei genau der
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Peter Rauen14566
Streit stattfinden, der jetzt in der SPD stattfindet. In derCDU zum Beispiel höre ich davon nichts.
Wir arbeiten noch daran, von der F.D.P. habe ich nur eineStimme gehört und die PDS ist sowieso außen vor.
– Lassen wir diese Frage einfach offen!Es gibt flotte Sprüche von Herrn Gabriel und Pathosvon Herrn Thierse. Daneben gibt es eine Gruppe in derCDU/CSU-Fraktion, die sich seit zehn Jahren mit gleichbleibendem Erfolg darum bemüht.
Wir Ostdeutschen haben das gleiche Problem, wir sind injeder Partei in der Minderheit. Das sage ich Ihnen ganznüchtern aus der Erfahrung in der politischen Arbeit derletzten Jahre.
Nun gibt es einen Ausschuss, in dem die Ostdeutschen dieMehrheit haben. Ist das deswegen ein revolutionäres Gre-mium geworden? Davon höre ich nichts.
Wo ist das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen?Ich habe mich das die ganze Zeit, in der ich diese Debattehier verfolgte, gefragt. Es hat eine Debatte darüber gege-ben, die deutlich gemacht hat, dass wir für den Solidar-pakt auch beim Länderfinanzausgleich kämpfen müssen.Von Herrn Stoiber höre ich ständig, die Bayern hätten inkurzer Zeit aus dem Geld, das sie aus dem Aufbau Süd be-kommen haben, richtig etwas gemacht. Wenn ich mir dasgenau ansehe, stelle ich fest, das ist nicht in zehn Jahrenpassiert und es ist auch nicht flächendeckend passiert.
Für mich heißt das: Lernen aus dem Aufbau Süd! Auchder Aufbau Ost wird länger als zehn Jahre dauern undwird nicht flächendeckend sein. Das muss man ehrlichzugeben.Ich komme nun zum Länderfinanzausgleich. Die Steu-erkraft der ostdeutschen Kommunen liegt bei einem Drit-tel des durchschnittlichen Westniveaus. In dieser Situa-tion wollen Sie beim Länderfinanzausgleich daraufachten, dass der Osten nicht zu viel bekommt. Er kann garnicht zu viel bekommen, diese Gefahr gibt es gar nicht.Ich bin dafür, so viel wie möglich im normalen Gefügedes Länderfinanzausgleichs zu regeln und so wenig wiemöglich durch Sonderprogramme umzusetzen, aber ichsage auch: Um den Solidarpakt II kommen wir nichtherum. Auch das ist ein ehrliches Fazit dieser Debatte.
Wir werden sehen, ob alle Ostdeutschen in diesem Bun-destag gemeinsam um diese „Ressourcen“ kämpfen wer-den, wie es Herr Thierse so schön, wenn auch ein wenigpathetisch, wie ich meine, formuliert hat.Ich komme nun zu meinem letzten Punkt. Warum strei-ten wir uns eigentlich so heftig bei dieser Debatte? Das istganz klar: Es geht um die gefühlte Temperatur im Osten.Wenn Sie eifrige Wetterberichthörer sind, dann wissenSie, dass es die objektive und die gefühlte Temperaturgibt. So ähnlich ist es auch beim Aufbau Ost. Die wirkli-che Temperatur ist ein bisschen besser als die gefühlte,weil uns ein kalter Wind entgegenbläst oder wir uns falschangezogen haben.Im Prinzip haben wir eine ganze Reihe von Instrumen-ten im Osten, die sich als untauglich erweisen, weil sienicht auf Dauer angelegt worden sind. Das ständige La-mento über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gehörtdazu. Wir reden seit Jahren darüber, dass sie nicht zurei-chend sind. Das wissen wir. Wir Ostdeutsche befinden unsinzwischen in einer würdelosen Diskussion, weil wir Jahrfür Jahr um ABM betteln müssen, welche für diejenigen,die in einer solchen Maßnahme sind, gar nicht das Besteist, was man ihnen anbieten konnte.Wollten wir mehr Würde in der Debatte über die Ar-beitsmarktpolitik im Osten, dann müssten wir ehrlich zu-geben: Es gibt eine Reihe von Menschen, die Opfer derUmstrukturierung im Osten sind. Diesen Menschen istmit einer ABM oder einer Fortbildung nach dem 55. Le-bensjahr auch nicht mehr geholfen; mitunter ist es ehereine entwürdigende Prozedur für diese Menschen, nur umein bestimmtes finanzielles Einkommen zu erreichen. Ichbin der Auffassung, dass wir uns um diesen Streitpunkt imnächsten halben Jahr kümmern müssen, damit wir hiervorankommen. Es geht um die Würde derjenigen, die ander Umstrukturierung im Osten nicht mehr beteiligt wer-den können, weil es sich wirtschaftlich nicht machenlässt.
Diese Instrumente haben damals, als die blühendenLandschaften verkündet wurden und alle noch den Auf-bau Ost geübt haben und keiner wusste, was daraus wird,sicherlich getaugt. Aber inzwischen ist deren Tauglichkeitdurch die Praxis mehr als infrage gestellt. Wir müssen unsda auf etwas Neues besinnen.Deswegen habe ich heute angefangen, von einemneuen Selbstbewusstsein des Ostens zu sprechen. Dazugehört: Ich bestehe darauf, dass man uns in Würde mit dernotwendigen Umstrukturierung umgehen und uns inWürde unsere eigenen Vorschläge dazu entwickeln lässt.Man sollte endlich aufhören, im Zuge von Feuerwehrak-tionen alle zwei Jahre zu postulieren zu versuchen: Jetztgibt es im Aufbau Ost einen Sprung. – Die Würde bestehtauch darin, zu erkennen, dass der Umstrukturierungspro-zess lange dauern wird, mühsam ist und wir uns alle anihm beteiligen müssen.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Antje Hermenau14567
Ich gebe
dem Kollegen Dr. Paul Krüger für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattierenheute über die Thesen des SPD-VizevorsitzendenWolfgang Thierse. Herr Schulz, wir sollten uns darübernicht so sehr ereifern, auch wenn der Streit darüber in derSPD offensichtlich relativ hohe Wellen schlägt.
Wir sollten vielmehr sachlich darüber sprechen und HerrnThierse im Rahmen der Bilanz, die wir heute ziehen, nichtUnrecht tun.Die Frage, über deren Beantwortung in der SPD ge-stritten wird, lautet: Ist die Bilanz von Herrn Thierse über-haupt richtig? Dazu kann ich nur sagen: Vieles von dem,was Herr Thierse aufzählt, ist Fakt. Recht hat er insbeson-dere dann, wenn er von der Stagnation des Bruttoinlands-produktes und der Arbeitsproduktivität sowie vom Ar-beitsplatzabbau spricht. Das alles ist heute schon erörtertworden. Noch nicht gesagt wurde, dass die Jugendarbeits-losigkeit in den neuen Ländern, seitdem die jetzige Koali-tion an der Regierung ist, um 15 Prozent gestiegen ist.
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den neuen Bun-desländern um 10 Prozent gestiegen.Herr Thierse stellt die Frage: „Steht der Osten auf derKippe?“ Ich würde sagen: Er steht nicht auf der Kippe, al-lerdings ist seit 1998 – und zum Teil schon davor – einkontinuierlicher Trend zu verzeichnen. Herr Thierse be-zeichnet diesen Trend in seiner zweiten These als Ab-wärtstrend. Wir müssen aufpassen – deshalb ist diese De-batte hier sehr wichtig –, dass dieser Abwärtstrend nichtfortgesetzt wird.Auch wenn es keine weiteren Gründe gäbe, über die-ses Thema zu diskutieren, so gibt es doch einen wichtigenGrund: die Abwanderung aus dem Osten. Das ist das zen-trale Problem, das wir zurzeit in Ostdeutschland haben.Diese Abwanderung ist bis 1997 drastisch zurückgegan-gen. Seit 1998 steigt sie wieder. Sie hat sich bis heute proJahr vervierfacht. Dieses Problem müssen wir ernst neh-men, weil durch diese Abwanderung die Substanz in denneuen Bundesländern verloren geht.
Diese Abwanderung hat eine Menge wirtschaftlicher undsozialer Folgen, mit denen sich die neuen Bundesländerund mit denen auch wir uns auseinander zu setzen haben.Eine weitere Frage, über deren Beantwortung Sie inder SPD streiten, ist die, ob das Ziehen einer solchen Bi-lanz überhaupt zweckmäßig ist. Dies kann natürlich auchgefährlich sein; das ist heute schon angesprochen worden.Zum einen ist es immer gut, wenn man eine klare Situati-onsanalyse vornimmt, wie es Herr Thierse getan hat. Zumanderen ist es insofern gefährlich, als wir aufpassen müs-sen, dass die Menschen durch eine Offenlegung der imOsten bestehenden Probleme nicht noch deprimierterwerden und nicht noch stärker in ein Abhängigkeitsge-fühl, in Perspektivlosigkeit und Resignation verfallen.Dies könnte letztlich dazu führen, dass die Aktiven darausden Schluss ziehen, die Emigration zu suchen, weil siekeine Zukunftsfähigkeit mehr sehen, und dass diejenigen,die nicht so aktiv sind, innerlich emigrieren – und das isteine echte Gefahr. Deshalb sollten wir über diese Pro-bleme sehr ernsthaft sprechen. Insofern ist die heutige De-batte gut. Wir brauchen kein Gejammer und keine Lar-moyanz – das ist richtig festgestellt worden –, aber wirbrauchen sehr wohl richtiges Handeln.Eine weitere Frage, über deren Beantwortung Sie undauch wir streiten, lautet: Was ist und was bleibt zu tun? Wieviel Förderung brauchen wir denn noch im Osten? Ichsage: Wir brauchen nach wie vor relativ viel Förderung.Wir müssen sie differenzierter nach Wirtschaftsbereichenund Regionen einsetzen; auch darüber sind wir uns einig.Wir müssen aber auch davon wegkommen, immer zubetonen, wir hätten schon so viel erhalten. Von den durch-schnittlich 140 Milliarden DM, die jährlich nach Ost-deutschland fließen, sind 75 Prozent für Sozialleistungenund Zuweisungen an die Länder vorgesehen. Ganze25 Prozent betreffen die Ostförderung. Das heißt, von140MilliardenDM werden 35MilliardenDM für die Ost-förderung ausgegeben. Wenn ich das mit der Steinkohle-förderung vergleiche, dann muss ich sagen, dass die Leis-tung für die neuen Bundesländer sehr relativ ist. Insofernsollten wir nicht darüber nachdenken, sie zu kürzen.Wenn man sich anschaut, wie die Infrastruktur in denneuen Ländern ausgebaut ist, stellt man sofort fest, dasswir im Infrastrukturbereich – das ist hier sehr richtig be-merkt worden – mehr tun müssen als bisher. In viele Be-reiche in den neuen Bundesländern, vor allen Dingen auchin immaterielle Bereiche – ich denke an Forschung undEntwicklung, an das, was wir heute als weiche Faktorenbezeichnen, an Bildung und Innovationsprozesse –, müs-sen wir viel mehr investieren, was diese Bundesregierungnicht in ausreichendem Maße tut.Ich denke, wir sollten beachten, dass das Ganze einementale Dimension hat. Wir sollten die Maßnahmen wirk-lich nicht zurückfahren und wir sollten den Menschen klarmachen, dass in den neuen Bundesländern enorme Poten-ziale liegen, auf die wir bauen können.Aber auch darüber wird in der SPD gestritten. Wer ei-gentlich – fragt Herr Thierse – vertritt die ostdeutschen In-teressen? Thierse fordert die SPD in seiner letzten Theseauf, diese besser zu vertreten. Ich zitiere:Wenn wir die Wahl gewinnen wollen, müssen wiruns stärker den Interessen des Ostens zuwenden. Wirmüssen sie stärker durchsetzen.Das heißt, er konstatiert, dass bisher zu wenig in der SPDgetan wurde.Ich will noch einmal Beispiele für das anführen, wasnach 1998 von der SPD veranlasst wurde. Als Erstesnenne ich den Transrapid,
der gecancelt wurde, obwohl das Planfeststellungsverfah-ren abgeschlossen war – ein ganz schlechtes Signal. Für
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 200114568
den Bau des A3XX am Standort Rostock hat sich niemandin dieser Bundesregierung stark gemacht.
Die Menschen wandern jetzt mit ihren Familien aus Ros-tock nach Hamburg ab, um dort Arbeit zu finden.Ich verweise auch auf die aktuelle Diskussion über dieBundeswehrstandorte. In dem Bundesland, aus dem ichkomme, sind die zwei Landkreise mit der höchsten Ar-beitslosigkeit quasi zielgerichtet ausgesucht worden, umdort zwei Standorte zu schließen, Eggesin und Basepohl –obwohl dort gerade erst in Größenordnungen von mehre-ren 100 Millionen DM investiert worden ist. Das Gleichetrifft für Schneeberg in Sachsen zu.
Herr Kollege
Krüger, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss Ihrer Rede.
Ich könnte noch
eine ganze Reihe von Maßnahmen anführen. Hier sind ge-
nannt worden: Rentenangleichung, Reduzierung der Son-
der-AfA, die Steuerreform, die die ostdeutschen Länder
besonders trifft. Bei vielen Maßnahmen haben Sie Redu-
zierungen der eingesetzten Mittel vorgenommen, was die
neuen Ländern in besonderer Weise trifft.
Deshalb kann man Herrn Thierse nur wünschen, dass
er es schafft, dass diese Bundesregierung die Interessen
des Ostens endlich stärker durchsetzt.
Nach dem Motto „Im Osten nichts Neues“ –
Herr Kol-
lege Krüger, ich muss Sie jetzt wirklich bitten, zum
Schluss zu kommen. Es ist eine Aktuelle Stunde und es
hilft nichts: Sie müssen sich an die Regeln halten.
– wie Herr
Schwanitz verkündet hat, werden wir die Probleme des
Ostens jedenfalls nicht lösen.
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Dr. Mathias Schubert für die Fraktion
der SPD.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren vonder CDU, Sie haben in dieser Aktuellen Stunde ein gewis-ses Problem: Sie wollen eine Strategiediskussion führen;um diese Strategiediskussion führen zu können, müssenSie zunächst einmal den Standort Ost schlecht reden.
Genau das brauchen wir nicht. Das nächste Problem ist:Sie haben überhaupt keine Antworten. Sie reden hier wieder Blinde von der Farbe. Herr Klinkert tritt hier sozusa-gen als verletzter Jammer-Ossi auf. Sie tun hier so, als kä-men Sie aus einer anderen Welt und hätten nie etwas mitdem Aufbau Ost zu tun gehabt.
Sie haben wohl vergessen, dass Sie den Transformations-prozess eingeleitet und die Weichen acht Jahre lang ge-stellt haben, übrigens mit einer ganzen Reihe von unum-kehrbaren Grundsatzentscheidungen – das wissen Siegenau –, die also heute nicht mehr rückgängig gemachtwerden können.
– Herr Nooke, aus dieser Verantwortung können auch Siesich nicht stehlen, selbst wenn Sie gern von sich behaup-ten, Sie seien damals nicht dabei gewesen und deshalb fürden damaligen Zustand im Osten nicht verantwortlich.Das ist eine besonders subtile Form von Verantwortungs-losigkeit.
Nun stellen Sie hier fest: Die Sozis streiten sich überdas Thierse-Papier und über die Strategie. Ich bin froh,dass wir dialogfähig sind,
ja, dass wir auch diskurs- und streitfähig sind. Worübersollen wir als Ostdeutsche denn streiten und leidenschaft-lich debattieren, wenn nicht über die Zukunft Ostdeutsch-lands und über alle die Probleme, die zum Beispiel dieKollegin Hermenau aufgeführt hat?
Hier geht es eben nicht um Marginalien, wie Sie sie lau-fend vorbringen und sie sich aus den Fingern saugen; hiergeht es nicht, wie Ihre Parteivorsitzende etwa zum Tages-ordnungspunkt vorher vorgeschlagen hat, um die Schaf-fung eines allgemeinen deutschen Verbraucherklubs.Wenn das die Innovationen sind, die Sie in diesem Hauseinbringen, dann Gute Nacht! Vielmehr geht es um dielangfristig zu sichernde Zukunft von 16 Millionen Men-schen.
Das heißt eben auch, wir brauchen langfristig wirkendeMaßnahmen statt Aktionismus.
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Dr.-Ing. Paul Krüger14569
Ganz im Gegensatz dazu erinnert Ihre Kritik an unse-rem Dialog an jene unseligen Zeiten der gleichgeschalte-ten Meinung, als die CDU der DDR noch Kaderpartei imSchlepptau der Mutter SED gewesen ist.
– Natürlich. – Ich frage noch einmal: Wo sind denn ei-gentlich Ihre Konzepte für Ostdeutschland? Ihr letzterRedner kann vielleicht noch etwas dazu sagen. Dazuherrscht großes Schweigen im Walde.Ich würde auch gerne Ihre Parteivorsitzende daraufhinansprechen; denn sie kommt ja wohl aus dem Osten: FrauMerkel, meine Landsfrau mit einer lupenreinen ostdeut-schen Biografie, die FDJ-Sekretärin an der Uni war, alsich FDJ-Sekretär an der Schule war.
Wo bleibt denn ihr ostspezifisches Engagement? Das istgleich null.
Deshalb ist der Osten zurzeit auch höchst beglückt darü-ber, dass in Frankfurt eine Chipfabrik entsteht, dass derFlughafen Berlin-Brandenburg entsteht. Wir alle freuenuns auch über die Union, aber über den 1. FC und nichtüber Sie.
Es ist leicht, sich darüber zu mokieren, dass das ThemaAufbau Ost zur Chefsache erklärt worden ist. Bei Ihnenjedoch weiß zurzeit niemand so richtig, wer überhauptChef ist.
Natürlich ist die Situation im Osten ambivalent. Dasreden wir auch nicht schön. Dort gibt es eine ganze Reihevon Firmengründungen. Wir fördern – was Sie übrigensseit 1995 nicht gemacht haben, aber hätten machen sollen;denn damals knickten die ganzen harten Daten ein – In-vestitionen. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit zu hoch.Natürlich geben wir uns damit nicht zufrieden. Wir habenInno-Regio aufgelegt. Wir fördern Netzwerke. Wir stär-ken die eigenen Kräfte. Dennoch sind noch keine selbsttragenden Wirtschaftsstrukturen mit all den Folgen bis hinzu den Kommunalfinanzen vorhanden. Es ist völlig klar,dass wir darüber debattieren müssen und uns damit nichtzufrieden geben können. Wir dürfen aber den StandortOstdeutschland nicht schlecht reden, wie Sie das machen;denn dann können wir einpacken. Damit würden wir sa-gen: Der Osten hat keine Zukunft. – Das ist allerdings dieBotschaft, die Sie rüberbringen.
Wir setzen uns mit der Situation auseinander. Ein großerTeil der Auseinandersetzungen betrifft aber die Beseiti-gung des durch Ihre Politik entstandenen Restmülls.
Während Ihre Parteivorsitzende in Aktuellen Stundenwie der über die Biografie des Außenministers ein kryp-tostalinistisches Staatsverständnis vertritt, bündeln wirden Sachverstand, und zwar den Sachverstand der ganzenKoalition, für den Aufbau Ost der nächsten 15 Jahre.
Die Zeit des Ostens beginnt jetzt – mit uns, nicht mitIhnen!
Nun gebe
ich dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie, Siegmar
Mosdorf, das Wort.
S
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich neulich wiedereinmal in meiner Geburtsstadt Erfurt war und mit Mittel-ständlern, Freiberuflern und Handwerkern zusammensaß,habe ich gemerkt, dass die Menschen in dieser Stadt eineIdentität haben, wissen, dass sie Ziele persönlich umset-zen müssen, und dafür unglaublich arbeiten: die Fachar-beiter, die Ingenieure, die Techniker, die Meister, dieHandwerker. Ich sage Ihnen: Die haben für alles Ver-ständnis, nur nicht für eine platte parteipolitische Ausei-nandersetzung, wie wir sie heute hier führen.
Es gibt viele Entwicklungen, die wir sehr aufmerksamverfolgen müssen. Ich will das auch noch einmal an HerrnKlinkert gerichtet sagen: Im Jahre 1994 erreichte dasWirtschaftswachstum einen Spitzenwert von 11,3 Pro-zent. Dieser beruhte auf dem Vereinigungsboom. Wir wa-ren alle froh über diese hohe Wachstumsrate. Dann gingder Wert bis 1998 immer weiter herunter – das hat WernerSchulz richtig gesagt –, und zwar auf 0,7 Prozent. Dieswar keine weiche Landung, wie wir sie jetzt für die USAerhoffen. Das war eine sehr harte Landung, weil man mitfalschen Instrumenten gearbeitet hat. Das wissen wir auchalle; ich will jetzt keine Vergangenheitsbewältigung be-treiben.Danach gab es wieder einen langsamen Anstieg auf1,5 Prozent im Jahre 1999 und auf 2 Prozent im Jahre2000. Für dieses Jahr erwarten wir ein Wachstum in Höhevon 2,6 Prozent. Über dieses zu erwartende Wachstumgibt es unter den Sachverständigen keine Differenzen.Es tut sich jetzt eine ganze Menge. Natürlich gibt es inder Baubranche – das wissen wir alle – große Probleme.Dies hat auch etwas mit den falschen Förderinstrumentender Vergangenheit zu tun. Hier gibt es einen Normalisie-rungsprozess. Aber wir wissen auch eines: Das verarbei-tende Gewerbe in den neuen Bundesländern hatte alleinim letzten Jahr eine Wachstumsrate von 13 Prozent, deut-lich über der im Westen. In den neuen Bundesländern bautsich also eine Substanz auf. Dies sollten wir positiv be-
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Dr. Mathias Schubert14570
werten und wir sollten nicht so tun, als sei das alles nichts.Mein Eindruck, auch von meinem Besuch in Jena, ist,dass sich da von unten her – das ist ein Bottom-up-Pro-zess – langsam Substanz aufbaut und dass die hektischenAktionismen – wir machen mal schnell ein Aktionspro-gramm – nicht helfen, sondern dass wir eine kontinuierli-che, langfristige Arbeit brauchen.Das ist der Grund, warum wir in der Bundesregierungentschieden haben, eine Reihe von Weichenstellungen,durchaus in Kontinuität der Vorgängerregierung verstärktfortzusetzen oder anders zu akzentuieren. Ich freue mich,Ihnen mitteilen zu können, dass wir in diesem Jahr500 Millionen DM allein für Innovationsprogramme inden neuen Bundesländern vorsehen. Das ist eine wichtigeEntscheidung. Ich hoffe, dass Sie alle diese mittragen.
Das ist eine Fokussierung, die gerade in den neuen Bun-desländern wichtig ist.Es gibt in den neuen Bundesländern das Phänomen ho-her Qualifikationen gerade um altehrwürdige Universitä-ten herum, Qualifikationen in Naturwissenschaften, dieich mir manchmal auch im Westen wünschen würde. Esgibt Cluster in den neuen Bundesländern, die erstklassigsind. – Ich komme darauf gleich noch zu sprechen, weilsie Entscheidungen für Frankfurt/Oder und Dresden be-treffen. – Es gibt Grundqualifikationen, die wir teilweiseim Westen so nicht haben. Das Entscheidende ist, dass wirdiese Qualifikationen, diese enormen Fähigkeiten mitdem zusammenbringen, was es an industriellen Erfor-dernissen gibt. Dann haben wir auch eine Chance, nach-haltiges Wachstum zu generieren und nicht nur ein kurz-fristiges Wachstum, das morgen wieder zusammenbricht.Ich lese heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zei-tung“:Die neuen Bundesländer erfreuen sich bei in- undausländischen Investoren ... nach wie vor einergroßen Beliebtheit. Die Ansiedlung von knapp ei-nem halben Dutzend großer Chipfabriken in den ver-gangenen Jahren ist Beweis dafür. Grund dafür istnicht zuletzt der hohe naturwissenschaftliche Aus-bildungsstandard, den die Universitäten und Hoch-schulen auch schon vor der Wende hatten.Meine Damen und Herren, das ist, wie man auf Neu-deutsch so schön sagt, der Secret Code, der interessant ist:die Qualifikationen, die Fähigkeiten, die vielleicht ver-nachlässigt worden sind, die wir nicht so gewürdigt ha-ben, wie sie eigentlich gewürdigt gehörten, und die jetztzu einem spielentscheidenden Faktor werden können, dawir in eine neue volkswirtschaftliche Phase kommen, inder Informations- und Kommunikationstechnik genaudiese naturwissenschaftlichen Grundqualifikationenbraucht. Das ist der Grund, warum AMD sich in Dresdenansiedelt. Das ist der Grund, warum Infineon sich fürDresden entschieden hat. Das ist der Grund, warum ges-tern in Frankfurt/Oder die wichtige Entscheidung gefallenist, dort eine Chipfabrik zu bauen.Es gibt so etwas wie ein – man nennt es in der Ökono-mie Leap frogging – Überspringen von Entwicklungen.Es gibt zwar durchaus Nachholbedarf in herkömmlichenStrukturen der Volkswirtschaft; aber es gibt auch einÜberspringen von Entwicklungen, hinein in völlig neueEntwicklungen. Das ist eine große Chance für uns.
Deshalb meine Bitte: Lassen Sie uns versuchen, diesenProzess der Erneuerung, der an der Spitze der Technolo-gie und der Innovation ansetzt, gemeinsam zu verstärkenund nicht parteipolitisch darüber zu streiten.
Herr Krüger, meine herzliche Bitte ist: Wir haben sehrum die Airbusansiedlung gekämpft. Sie wissen, dass ichmich auch persönlich dafür sehr einsetze.
Ich finde es auch gut, dass Herr Krüger mich bei demKampf unterstützt. Ich weiß nicht, ob das hilft; aber es istgut, dass er sich bemüht.
Herr Krüger, seien Sie einmal fair: Wir haben organisiert,dass Airbus jetzt Lieferantenforen in Ostdeutschlandmacht. Sie wissen, dass zwei Drittel der Wertschöpfungbei den Zulieferern stattfinden. Wir haben organisiert,dass diese Lieferantenforen jetzt – –
– Entschuldigung, das ist nicht nur richtig, das haben wirauch selber organisiert, und zwar der Kanzler an derSpitze.
Als er mit Airbus über die Darlehen gesprochen hat, hat ergesagt: Ich möchte, dass in Ostdeutschland etwas passiert. –Bleiben Sie bei der Wahrheit! Unterlassen Sie es, Dingezu verbreiten, die Ihrer Region nicht helfen, weil sie nichtwahr sind.
Das Gleiche gilt für die Frage: Wenn wir mit Airbus da-rüber reden, dass Antriebstechniken und Turbinen in Zu-kunft auch teilweise bei Rolls-Royce in Brandenburg ge-baut werden, was meinen Sie, warum wir das tun? Weilwir wollen, dass dort Arbeitsplätze entstehen. Rolls-Royce wird dort neue Arbeitsplätze schaffen. Ich war neu-lich mit dem Kollegen Danckert bei Rolls-Royce. Dort istuns erzählt worden, wie die Investitionsplanung aussieht.Meine herzliche Bitte ist: Unterscheiden Sie zwischenplatten Auseinandersetzungen und konkreten Hilfen, diewir tatsächlich leisten. Wir strengen uns an, wirklich et-was zu erreichen.
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Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf14571
Wir haben auch sonst eine Reihe von wichtigen Ent-scheidungen getroffen. Das Inno-Regio-Programm ist an-gesprochen worden. Auch mit dem Altschuldenhilfe-Ge-setz haben wir eine wichtige Entscheidung getroffen. Wirhaben bei der Bekämpfung des Leerstandes
jetzt eine Einigung mit den Ländern erzielt. 700 Milli-onen DM haben wir zusätzlich gegeben. Das Programm„Die soziale Stadt“ haben wir um 100 Millionen DM auf-gestockt. Wir haben eine ganze Menge gemacht.Ein Letztes, Herr Präsident, wenn Sie es mir gestatten.Es ist jetzt endgültig, dass die IIC, die für die Industrie-ansiedlung in den neuen Bundesländern ganz wichtig ist– Frau Kaspereit hat sich dafür sehr stark gemacht –, von2002 bis 2004 bleiben wird. Dies ist zusammen mit denLändern unter Dach und Fach gebracht worden. Das isteine wichtige Entscheidung gewesen, weil die Möglich-keit, Direktinvestitionen nach Ostdeutschland zu holen,für den Aufbau der Volkswirtschaft spielentscheidendsein wird. Deshalb freue ich mich, dass wir in den letztenTagen die Fortsetzung der Aktivitäten der IIC bis zumJahr 2004 sichern konnten.Man kann also sagen: Wir kommen voran. Dies ge-schieht zwar schrittweise und ohne große Sprünge. Aberman kann und muss mit den Menschen in den neuen Bun-desländern rechnen. Wir müssen vor allen Dingen eines be-achten: Die Menschen wollen, dass wir zu ihnen ehrlichsind, ihnen keine Illusionen machen und mit ihnen ge-meinsam die weitere Strecke des Weges gehen. Dazu ist dieBundesregierung nicht nur bereit, sondern entschlossen.
Für die CDU/
CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Manfred Grund.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wer heute von dieserAktuellen Stunde Visionen, Perspektiven und neue Lö-sungswege erwartet hat, musste ziemlich enttäuscht sein.
Das, was wir bisher gehört haben – einschließlich des Bei-trags des Staatssekretärs Herrn Mosdorf – war: Im Ostennichts Neues und bei der Bundesregierung nichts Neues.
Ich gehe einmal die einzelnen Redner durch. Dabeifange ich mit Werner Schulz an, der hier als Allzweck-ablenkungswaffe aufgetreten ist. Lieber Werner Schulz,im Vergleich zu den Reden, die du vor zwei Jahren gehal-ten hast, hast du eine Bäumchen-wechsel-dich-Veranstal-tung aufgeführt. Das bringt aber den Menschen und denProblemen in den neuen Bundesländern relativ wenig.
Frau Kollegin Kaspereit, Sie haben festgestellt, manmüsse zwar noch an ein paar Stellschrauben drehen, aberder Weg sei richtig und die Richtung stimme. Das klingtein wenig wie: Wir sind auf dem richtigen Weg, auchwenn wir noch 20 Jahre bis ans Ziel benötigen.
Aber 20 oder 30 Jahre sind für die Menschen in den neuenBundesländern keine Perspektive. Sie laufen uns regel-recht davon; darauf komme ich noch zu sprechen.Frau Kollegin Kaspereit, Sie haben Herrn Thierse un-terstellt, er habe ein Wahrnehmungsdefizit, weil er viel zuschwarz sehe.
Die genannten Zahlen sind nicht unsere Zahlen, auchwenn sie uns häufig zugeschrieben wurden. Diese Zahlenhaben sich in den letzten beiden Jahren dramatischverschlechtert. Selbst wenn wir wieder regierten, müsstenwir zu neuen Antworten kommen, damit die Lage nichtnur nicht kippt, sondern die Menschen in den neuen Bun-desländern nicht in Scharen davonlaufen.
Herr Kollege Schwanitz, Sie haben gesagt, Sie seiensehr froh, dass in Ihrer Partei über dieses Thema eine strit-tige Debatte geführt werde. Aber offensichtlich reicht esIhnen, sich ein wenig zu streiten und dann wieder zur Ta-gesordnung überzugehen. Sie haben auf die Frage hinge-wiesen: Was haben wir für Perspektiven? Das Inno-Re-gio-Programm wurde genannt. Das sind Projekte, die inunserer Regierungszeit auf den Weg gebracht wordensind. Das ist nichts substanziell Neues.
Wie wird der Beauftragte der Bundesregierung für dieneuen Bundesländer wahrgenommen? Entweder indem ersich – farblos wie er ist – hinter dem Bundeskanzler ver-steckt oder indem er Verkehrsprojekte übergibt und nurDinge zu Ende bringt, die in unserer Regierungszeit aufden Weg gebracht worden sind.
Was wollen Sie denn tun, Herr Kollege Schwanitz, wennalle Bändchen zur Einweihung durchschnitten sind? Wol-len Sie sich dann nur noch hinter dem Bundeskanzler ver-stecken? Wo sind denn Ihre Perspektiven?Das, was ich sage, ist nicht sehr weit hergeholt. HerrKollege Schubert, auch auf Sie möchte ich gerne einge-hen. Haben Sie nicht vor einem Jahr dem Bundeskanzlernahe gelegt, Herrn Schwanitz gegen jemand Geeigneterenauszutauschen? Hat nicht der Kollege Weißgerber von derSPD Sie deshalb als Pappnase bezeichnet?
– Das stimmt; also kann unsere Kritik nicht allzu weit her-geholt sein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf14572
Ich will aber gar nicht bei der Polemik, die auch heutedabei gewesen ist, verharren, sondern auf zwei ökonomi-sche Werte hinweisen, die sich wirklich dramatisch ver-ändert haben. Frau Kollegin Kaspereit, ein Wirtschafts-wachstum in den neuen Bundesländern von 4 Prozent undin den alten Bundesländern von 2 Prozent würde bis zumJahr 2030 zu einer Angleichung der Einkommen, auch derEinkommen der Rentner, und der Lebensverhältnisseführen. Das ist eine sehr weite Perspektive; das muss manden Menschen in den neuen Bundesländern in allerDeutlichkeit sagen. Aber erzählen Sie uns doch bitte ein-mal – da war bis jetzt Fehlanzeige, da war überhauptnichts zu hören –, mit welchen Instrumenten Sie das jet-zige Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent verdoppelnwollen, damit überhaupt bis zum Jahre 2030 eine Anglei-chung erfolgen kann.
Der zweite Punkt, der äußerst besorgniserregend ist:
Die Abwanderung aus den neuen Bundesländern hat inden letzten beiden Jahren dramatisch zugenommen. Wirhaben seit zehn Jahren insgesamt 1 Million Einwohnerverloren. Es gibt Hochrechnungen über die Abwanderungund den Rückgang der Geburtenrate, die besagen, dass imJahre 2050 auf dem Territorium der neuen Bundesländer– das ist ein Drittel des gesamtdeutschen Territoriums –noch 10 Prozent der gesamtdeutschen Einwohner lebenwerden. Das bedeutete einen Rückgang auf 7,5 MillionenEinwohner bis zum Jahr 2050. Dies ist tatsächlich ein dra-matischer neuer Befund.Es gehen diejenigen weg – das ist heute bereits gesagtworden –, die jung, leistungsfähig, ausgebildet und inno-vativ sind, die Kinder bekommen wollen, die ein Hausbauen wollen und die genau in den Chipfabriken, die Gottsei Dank jetzt in Frankfurt an der Oder aufgebaut wer-den sollen, Arbeit suchen und finden müssen. Aber einProjekt in Frankfurt an der Oder reicht nicht aus. Wo sindIhre Perspektiven, damit diese Leute sagen können, eslohne sich, in den neuen Bundesländern zu bleiben? Dasses geht, zeigt die Perspektive, die die Wirtschafts-, Wäh-rungs- und Sozialunion 1990 bot, die gegen alle Beden-kenträger eingeführt wurde und den Menschen zumindestüber einige Jahre die Hoffnung gegeben hat, sie seien aufdem Weg der Annäherung und Angleichung an die Wirt-schafts- und Lebensverhältnisse in den alten Bundeslän-dern.
Warum, Herr Kollege Schwanitz, geben Sie nicht ein-mal eine Studie in Auftrag oder lassen darüber nachden-ken oder denken selber einmal darüber nach, ob es nichtmöglich ist, in einer kollektiven Kraftanstrengung die Ein-kommensverhältnisse in den neuen Bundesländern in fünfbis acht Jahren auf das Niveau der alten Bundesländer zuheben? Wäre das nicht, wenn auch nicht für morgen oderübermorgen, aber für die Zeit in fünf bis acht Jahren einerealistische Perspektive, bevor der Osten tatsächlich leerläuft und die Situation auf der Kippe steht?
Als letzter
Redner spricht in dieser Aktuellen Stunde der Kollege
Wilhelm Schmidt für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Genau das ist es, Herr vonKlaeden: Sie haben die gesamte Debatte von Anfang andarauf angelegt, den Präsidenten zu diffamieren und dafürzu sorgen, dass wir Personalauseinandersetzungen führen.
Das ging durch jeden Ihrer Redebeiträge. Sie haben nichtin einem einzigen Falle im Laufe dieser Aktuellen Stundedafür gesorgt, dass wir von einem Ihrer Redner oder einerIhrer Rednerinnen den Eindruck bekommen könnten, Siehätten ein Konzept für den Aufbau Ost. Nicht ein einzigesMal haben Sie das geschafft. Sie wollten es auch gar nicht;denn Sie haben nichts zu bieten.
Aber wenn ich einmal in Ihre Reihen schaue, dann seheich einige von denjenigen dort sitzen – Herr Nooke, Siesind ja einer der neueren CDU-Abgeordneten; weswegen,wollen wir hier nicht beleuchten –, die in den letzten achtJahren, in denen Sie noch die Regierung gestellt hatten,die Gelegenheit hatten, auf diesem Gebiet etwas zu tun.Herr Krüger, ich schaue Sie jetzt einmal an: Warum sindSie denn als Minister abgelöst worden? Ich will mich an-sonsten überhaupt nicht auf dieses Niveau begeben. Aberwenn Sie bei diesem Thema polemisieren, dann ist genauder Punkt erreicht, an dem wir sagen müssen, dass wir dasnicht mitmachen.
Wenn Sie beispielsweise reklamieren, dass diese De-batte Bestandteil einer wichtigen Auseinandersetzung sei,dann frage ich Sie einmal, nachdem Sie uns diese Frageauch gestellt haben, wo denn Herr Merz, Frau Merkel undviele andere eben waren.
– Ach, „bis eben“? Hören Sie doch auf, das ist doch Un-sinn. Seit einer Dreiviertelstunde ist er weg.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Manfred Grund14573
Dies zeigt, dass Ihr Gerede von der Chefsache auch völ-lig danebengegangen ist. Sie haben diese Aktuelle Stundereklamiert, nicht wir.Meine Damen und Herren, wir nehmen die Sache ganzbewusst sehr ernst. Wir wollen an dieser Stelle erreichen,dass wir stärker als in den vergangenen Jahren einen Um-steuerungsprozess in Gang setzen. Sie haben doch in denvergangenen Jahren die falschen Instrumente auf den Weggebracht, unter denen die Menschen in Ostdeutschlandund die Einrichtungen in der Gesellschaft heute noch lei-den. Wir müssen endlich anpacken und etwas unterneh-men. Das tut die Bundesregierung, das tut der Bundes-kanzler, das tut Staatsminister Schwanitz und das tun dieFraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
Wenn wir uns in diesen Tagen sehr nachdrücklich da-rum bemühen, den Solidarpakt II auf die Beine zu stellenund den Länderfinanzausgleich zu stabilisieren, ist dasauch eine Frage der Solidarität gegenüber Ostdeutsch-land. Sie haben das Problem in den vergangenen Jahrenvernachlässigt und keine Lösungsansätze auf die Beinegestellt. Wir werden es schaffen.
Als Sie hier zu einzelnen Themen Stellung genommenhaben, sind Sie zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ander Wahrheit vorbeigegangen. Herr Klinkert ist dafür eingutes Beispiel. Wenn Sie uns vorwerfen, von der Braun-kohleförderung für Hoyerswerda in Ostdeutschland wür-den 100Millionen DM abgeschmolzen, so muss man fest-stellen, dass das völlig falsch ist. Wir haben jeweils50 Millionen DM für die Jahre 2001 und 2002 abge-schmolzen, weil die Ziele, die erreicht werden sollten, er-reicht worden sind. Wir haben die 100 Millionen DM fürdas Jahr 2003 und die folgenden Jahre oben draufgepackt,damit wir umsteuern und mit zielgenaueren Instrumentenoperieren können. Das ist die Botschaft. Verunsichern Siedoch die Menschen in Hoyerswerda nicht noch mehr, alssie das ohnehin schon sind.
Wir wollen und müssen neue Instrumente auf den Wegbringen – das ist ja auch in den Redebeiträgen von Red-nern unserer Fraktion zum Ausdruck gebracht worden –,die die Industrielücke schließen können und helfen, denMittelstand sowie Forschung und Wissenschaft nachvorne zu bringen. Eines ist schon angeklungen: Die An-siedlung der Chipfabrik in Frankfurt/Oder ist ein hervor-ragendes Beispiel dafür, dass die Umsetzung der Zieleschrittweise gelingt. Auf diesem Wege wollen wir fort-fahren.Wir wollen uns auch die Aufgabe, die Situation und dieZukunft junger Menschen zu verbessern, angelegen seinlassen, da wir finden, dass die Abwanderung viel zu großist, und weil wir ihnen eine Perspektive geben müssen.Dies ist ein Ziel, das wir – wie es auch Herr Thönnes mitRecht betont hat – mit Arbeitsmarkt- und Jugendpolitikverfolgen. Diese Politik ist ganz wichtig, weil wir damiteinen großen Beitrag zur Bekämpfung von Gewalt undRechtsextremismus in Ostdeutschland leisten.
Herr Grund, da von Ihnen die Verkehrsprojekte „Deut-sche Einheit“ angesprochen worden sind, kann ich Ihnennur sagen: Es ist sehr vordergründig, wenn Sie das hier inder Weise, in der Sie das getan haben, präsentieren. Siewaren es doch, die uns mit den Verkehrsministern IhrerRegierung mit einer Fülle von Spatenstichen auf der einenSeite einen hoffnungslos unterfinanzierten Verkehrshaus-halt hinterlassen haben und auf der anderen Seite dafürgesorgt haben, den Menschen in Ostdeutschland Sand indie Augen zu streuen.
Die Hoffnungen, die den Menschen vermittelt wordensind, können wir nicht sofort erfüllen.In der Sache ist es eindeutig: Sie haben nichts zu bieten,meine Damen und Herren von der Opposition – das ziehtsich durch alle Ihre Redebeiträge –, sondern Sie versteigensich wieder einmal in Polemik gegenüber Personen. Dasverfängt nicht und das merken die Menschen. Deshalbsage ich für uns: Die Sache Aufbau Ost ist bei dieser Bun-desregierung und ihrer Koalition in guten Händen.
Die AktuelleStunde ist beendet.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 d auf.Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenTürk, Walter Hirche, Dr. Heinrich Kolb, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F. D. P.Existenzbedrohung des Handwerks unterbinden– Drucksache 14/4413 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länderb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidemarieEhlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDSSteuerhinterziehung wirksam bekämpfen– Drucksache 14/4882 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussHaushaltsausschuss
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Wilhelm Schmidt
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c) Beratung der Unterrichtung durch die Präsidentindes Bundesrechnungshofes als Vorsitzende desBundesschuldenausschussesBericht des Bundesschuldenausschusses überseine Tätigkeit sowie die Verwaltung der Bun-desschuld im Jahre 1999– Drucksache 14/5059 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung der Europäischen Sozialcharta– Drucksache 14/4671 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines SechzehntenGesetzes zur Änderung des Bundeswahlge-setzes– Drucksache 14/4497 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/5202 –Berichterstattung:Abgeordnete Harald FrieseErwin MarschewskiCem ÖzdemirDr. Max StadlerUlla Jelpkeb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zu derUnterrichtung durch die BundesregierungErgänzender Bericht der Wahlkreiskommis-sion für die 14. Wahlperiode des DeutschenBundestages gemäß § 3 Abs. 4 Satz 3 Bundes-wahlgesetz
– Drucksachen 14/4031, 14/4169 Nr. 1, 14/5202 –Berichterstattung:Abgeordnete Harald FrieseErwin MarschewskiCem ÖzdemirDr. Max StadlerUlla JelpkeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, Siesind damit einverstanden.Nun möchte ich die Kolleginnen und Kollegen, die die-ser Debatte nicht folgen möchten, bitten, ihre Gesprächenicht hier fortzusetzen, sondern in der Lobby.Ich eröffne die Aussprache und gebe für die SPD-Frak-tion dem Kollegen Harald Friese das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ge-ehrten Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genauvor drei Jahren hat dieser Bundestag eine grundlegendeWahlkreisreform beschlossen.
Dafür hat er einen zwingenden Grund gehabt, weil derBundestag von 656 Abgeordneten auf 598 Abgeordneteverkleinert wurde. Damit war eine Reduzierung der Zahlder Wahlkreise von 328 auf 299 verbunden. Keiner hättegedacht, dass wir nach drei Jahren wieder eine Wahl-kreisreform diskutieren. Aber ich will die Feststellungtreffen: Nichts ist beständiger als der Wandel.
Was in unserem Land geschieht, ist wirklich ein ständigerWandel, zum einen eine Bevölkerungswanderung in ei-nem erstaunlich großen Umfang, zum anderen kommu-nale Gebietsreformen, die uns dazu zwingen, die Wahl-kreisgrenzen an diese neuen Entwicklungen anzupassen.Wir waren gezwungen, eine Wahlkreisreform vorzu-nehmen, weil die Bevölkerungswanderung von denneuen Bundesländern in die alten Bundesländer nicht zumStillstand gekommen ist, mit der Folge, dass das LandSachsen
– lassen Sie mich „Land“ sagen, Herr Marschewski – unddas Land Sachsen-Anhalt je einen Wahlkreis verlierenund das Land Schleswig-Holstein und das Land Baden-Württemberg je einen Wahlkreis gewinnen.
Ich will hier nichts dramatisieren; aber ich glaube,diese Entwicklung muss man ernst nehmen. Diese Ent-wicklung hat Konsequenzen für die politische Repräsen-tanz der neuen Bundesländer in diesem Parlament. DasParlament wird um insgesamt 56 Mandate verkleinert undvon dieser Last – so möchte ich es formulieren – tragendie neuen Bundesländer fast die Hälfte, nämlich 26.Sie hat auch Auswirkungen auf die politische Reprä-sentanz vor Ort. Im Land Sachsen gibt es nicht mehr21 Wahlkreise, sondern nur noch 17, und im Land Sach-sen-Anhalt nicht mehr 13, sondern nur noch 10. Es hatauch Auswirkungen auf die politische Arbeit vor Ort.Wir haben jetzt in den neuen Bundesländern Wahlkreisemit einer Größe über 5 000 Quadratkilometer. Wir habenin den neuen Bundesländern Wahlkreise mit einem
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters14575
Durchmesser von bis zu 131 Kilometern. Wir haben eineFülle von Wahlkreisen, die drei Landkreise umfassen.Ich will hinzufügen: Ich habe Respekt vor den Kolle-ginnen und Kollegen, die diese Wahlkreise vertreten. Ichfrage mich, wie sie es überhaupt schaffen, in solchenFlächenwahlkreisen politisch vor Ort präsent zu sein. Esgeht auch um das Geld. Woher sollen sie es nehmen? Siemüssen in einem Wahlkreis mit drei Landkreisen dreiBürgerbüros unterhalten. Wir müssen uns über diese Kon-sequenzen klar sein.Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass die For-derungen nach mehr Effektivität, Verschlankung und Ver-kleinerung des Bundestages oder demokratischer Gre-mien insgesamt vielen ganz leicht über die Lippenkommen. Diese vielen denken überhaupt nicht darübernach, welche Konsequenzen das für die politische Reprä-sentanz vor Ort hat.
Ich glaube, dass in politisch bewegten Zeiten die politi-sche Repräsentanz vor Ort wichtig ist, damit Politik demBürger vermittelt werden kann.Wir haben das alles gesehen und mussten aus Rechts-gründen trotzdem diesem zusätzlichen Wahlkreistransfervon Ost nach West zustimmen und ihn vollziehen. Dasliegt erstens an der klaren gesetzlichen Regelung desBundeswahlgesetzes, wonach die Zahl der Wahlkreise inden einzelnen Bundesländern deren Bevölkerungsanteilnach Möglichkeit entsprechen muss. Das ist eine klareVerschärfung im Bundeswahlgesetz; wir haben keinenSpielraum.Der zweite Grund ist: Das Bundesverfassungsgerichthat zwar erklärt, dass Überhangmandate als Folge unseresWahlsystems hinzunehmen sind; aber der Gesetzgebermuss alles tun, um Überhangmandate auf ein Minimumzu reduzieren. Der erste Schritt zur Reduzierung der Zahlund damit der – so will ich es formulieren – Gefahr vonÜberhangmandaten besteht darin, dafür zu sorgen, dassdie Zahl der Wahlkreise den Bevölkerungsanteilen ent-spricht. Deshalb mussten wir in den vier genannten Bun-desländern die Wahlkreise in den Ländern neu einteilen.Die Reform ist daher umfangreicher als geplant gewor-den.In Bezug auf Sachsen-Anhalt war dieses Vorgehenunstrittig. Was Sachsen angeht, folgte unsere Koalitionnicht dem Vorschlag der Wahlkreiskommission. Um einerLegendenbildung schon im Vorfeld vorzubeugen, füge ichausdrücklich hinzu: Wir haben einen eigenen Vorschlagnicht aus wahlarithmetischen Gründen gemacht.
Wir sind deshalb so vorgegangen, weil wir meinen, dassunser Vorschlag den regionalen Identitäten und den regio-nalen Verflechtungen besser als der Vorschlag der Wahl-kreiskommission entspricht.
Auch im Hinblick auf Schleswig-Holstein haben wirnicht die Vorschläge der Wahlkreiskommission übernom-men. Wir sind ebenfalls nicht dem Vorschlag der CDU ge-folgt. Wir haben etwas getan, was nahe liegend war: Wirhaben auf der Grundlage der Wahlkreise der Bundestags-wahl 1998 durch gewisse Korrekturen sichergestellt, dasswir im Jahre 2006 oder im Jahre 2010 in Schleswig-Hol-stein nicht erneut eine Abgrenzung der Wahlkreise vor-nehmen müssen. Wir haben die Wahlkreise mit einer un-terdurchschnittlichen Bevölkerungszahl, zum BeispielLübeck und Kiel, mit Gemeinden verstärkt; damit habenwir dem Gesichtspunkt der Wahlkreiskontinuität auf eineabsehbare Zeit Rechnung getragen.Hinsichtlich Baden-Württemberg sind wir dem Vor-schlag der Wahlkreiskommission – es geht um den zu-sätzlichen Wahlkreis in Nordbaden – gefolgt, mit einerAusnahme: Wir haben die Gemeinde Eppelheim demWahlkreis Heidelberg zugeschlagen.
Wir wussten, dass wir damit dem Kollegen Niebel etwasGutes tun.
– Was heißt „das Minimum“? – Wir sind in diesem Punktalso dem Vorschlag der Wahlkreiskommission gefolgt.Es gab einen zweiten Grund für die Wahlkreisneuein-teilung: die Abwanderung ins Umland der Städte. DieGroßstädte verlieren und die Gemeinden im Speckgürtelder Großstädte gewinnen an Einwohnern. Ich will zweiBeispiele nennen. Das eine Beispiel ist der Wahlkreis 216,Freising; er war am 31. Dezember 1999 mit einem jähr-lichen Wachstum von 1,9 Prozent um 24 Prozent größerals ein durchschnittlicher Wahlkreis. Wir mussten alsohandeln und konnten deshalb dem CDU/CSU-Antragnicht folgen; sonst hätten wir zum Zeitpunkt der Bundes-tagswahl 2002 die gesetzlich zwingend vorgeschriebeneGrenze überschritten, dass ein Wahlkreis nicht mehr als25 Prozent von der durchschnittlichen Wahlkreisgrößeabweichen darf.Dies gilt auch für den Wahlkreis 36, Soltau-Fallingbos-tel – Winsen L. Dort lag am 31. Dezember 1999 eineÜberschreitung von 22 Prozent mit einem jährlichenWachstum von 1,2 Prozent vor. Auch in diesem Fall muss-ten wir handeln und konnten deshalb dem Antrag derCDU/CSU nicht zustimmen.Der dritte Grund für die Wahlkreisreform besteht darin,dass wir die Konsequenzen aus den kommunalenNeugliederungen in Berlin und Brandenburg ziehenmussten.Der vierte Grund – für uns wichtig –: Wir haben mitdiesem Gesetzentwurf die von der CDU/CSU und derF.D.P. 1998 beschlossenen willkürlichen Wahlkreisein-grenzungen rückgängig gemacht.
Dies haben wir 1998 angekündigt und wir tun es jetzt. Beider Wahlkreisabgrenzung von 1998 musste man in derTat den Eindruck gewinnen, dass auf der Grundlage von
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Wahlergebnissen so lange zurechtgeschnippelt wurde, bisdie Wahlkreise nicht mehr nach räumlichen Größen aus-sehen, sondern Schnittmusterbögen gleichen.
Dies halten wir nicht für korrekt; deshalb haben wir dasrückgängig gemacht.
Wir machen die Wahlkreiseinteilung von München, vonKöln, von Mülheim – Essen und von Coesfeld – Steinfurt IIrückgängig.Um auch in diesem Fall einer Legendenbildung vor-zubeugen: Unsere Vorschläge entsprechen den Vorschlä-gen des Leiters des Statistischen Bundesamtes, wie siesich im Schlussbericht der Reformkommission wieder-finden.
Wir haben also politische Willkür durch eine sachbezo-gene Wahlkreiseinteilung ersetzt. Das will ich hier fest-stellen.
Es gibt noch einen fünften Grund. Wir haben die Än-derung von Wahlkreisgrenzen vorgesehen, um die Gren-zen kommunaler Gebietskörperschaften nicht zu zer-schneiden. Als Beispiel möchte ich einmal den BereichOberfranken/Bamberg/ Bayreuth/Hof/Kulmbach nennen.Wir haben hier den Vorschlag der Wahlkreiskommissionweiterentwickelt
mit dem Ergebnis, dass von den neun betroffenen Ge-bietskörperschaften nur noch zwei geteilt, dagegen sie-ben ungeteilt sind. Wir sind verpflichtet, die klare ge-setzliche Vorgabe im Bundeswahlgesetz, die Grenzenkommunaler Gebietskörperschaften einzuhalten, soweites geht, zu berücksichtigen. Es ist auch eine richtige undkluge Vorgabe, dass Bundestagswahlkreise mit denGrenzen kommunaler Gebietskörperschaften überein-stimmen sollen.
Das gilt auch für den Bereich Südbaden, wo wir denLandkreis Lörrach nicht mehr teilen, sondern ungeteiltdem Wahlkreis Lörrach–Müllheim zuordnen.
Schließlich gab es eine öffentliche Auseinandersetzungim Bereich Freiburg, aber wir hielten die Einhaltung derGrenzen der kommunalen Gebietskörperschaften fürwichtiger als die räumliche Zuordnung der Gemeindenum Freiburg zum Wahlkreis Freiburg. Das ändert ja nichtsan deren tatsächlichen Beziehungen zum OberzentrumFreiburg.Lassen Sie mich noch einige Sätze zu Krefeld sagen.Die Diskussion darüber ist ein Dauerbrenner. Wir haben,wie alle Fraktionen, intensiv geprüft, ob wir den Zustand,dass die Stadt Krefeld wahlkreismäßig geteilt ist, was wiralle nicht für gut halten, nicht ändern können.
Nach intensiver Prüfung kamen wir aber zu dem gleichenErgebnis wie die Wahlkreiskommission, die in ihremSchlussbericht empfohlen hat, es bei der Einteilung nachdem Wahlkreisneueinteilungsgesetz zu belassen,da alle Varianten ihrerseits mit ganz erheblichenNachteilen für den Zuschnitt anderer benachbarterWahlkreise verbunden wären, ...Das ist auch der Grund, warum wir dem Antrag der F.D.P.-Fraktion nicht zustimmen konnten. Die F.D.P.-Fraktionhat den Antrag eingebracht, die Stadt Krefeld zu einemeinheitlichen Wahlkreis zusammenzufassen. Diese Lö-sung ginge aber zulasten des Landkreises Neuss, der dannplötzlich dreigeteilt worden wäre. Gleichzeitig wolltenSie einen Wahlkreis Oberhausen schaffen, der bei sinken-der Einwohnerzahl eine Abweichung vom statistischenMittel um 22,3 Prozent aufwiese.
– Das ist zulässig. – Daran wird deutlich, dass der Vor-schlag der F.D.P.-Fraktion auf Dauer gesehen nichttragfähig gewesen wäre. Wir haben ihn deshalb ab-gelehnt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchteausdrücklich der Wahlkreiskommission und ihrem Vor-sitzenden, dem Präsidenten des Statistischen Bundesam-tes, Herrn Hahlen, meinen Dank aussprechen.
Diese Wahlkreiskommission hat vorzügliche Arbeit ge-leistet, die, wie ich glaube, allen Fraktionen als Grundlagefür sehr sachbezogene Diskussionen und Auseinanderset-zungen diente. Die Arbeit war vorzüglich, auch wenn wirin Einzelfällen von den Empfehlungen der Kommissionabgewichen sind.
Ich möchte auch den Mitarbeitern des BMI und des Sta-tistischen Bundesamtes danken, die ja nicht nur von mir,sondern sicher auch von den anderen Fraktionen um Aus-künfte und Hilfestellungen gebeten wurden. Dieses hathervorragend funktioniert.
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Harald Friese14577
Meine Damen und Herren, wir als Regierungskoalitionhaben die Oppositionsfraktionen sehr frühzeitig in denAbstimmungsprozess einbezogen.
– Ich will die Debatte aus dem Innenausschuss nicht wie-derholen. Es gab drei Gespräche. Aber lassen wir das da-hingestellt sein. – Wir haben auch festgestellt, dass esweitgehende Übereinstimmung zwischen unseremGesetzentwurf und Ihren Vorschlägen gibt. Meiner Mei-nung nach rechtfertigen die unterschiedlichen Auffassun-gen, die noch in einzelnen Wahlkreisfragen vertreten wer-den, nicht die Ablehnung dieses Gesetzentwurfes. Das istzwar Ihre Entscheidung, ich möchte Sie aber bitten undauffordern: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu!
Es würde dem Parlament gut tun, Herr Marschewski,wenigstens in grundlegenden Fragen unserer Verfas-sung – dazu gehört auch das Wahlrecht – Übereinstim-mung zu dokumentieren.Vielen Dank.
[SPD]: Ein sehr guter und sehr sachlicher Bei-trag! – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Es ist fast al-les gesagt!)
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Erwin Marschewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Das Wichtigste an Gesetzentwürfen ist manchmal das,was nicht drin steht. So wird mit diesem Gesetz die Par-lamentsreform fortgesetzt, die zwei wesentliche Elementehatte: erstens die Verkleinerung des Deutschen Bun-destages ab 2002 auf noch 299 Wahlkreise und zweitensdie Anpassung derAbgeordnetenentschädigung an dengesetzlich vorgegebenen Richtwert R 6. Das Jahresgehalteines Bundesrichters sollte der Maßstab sein. Da diesnicht verwirklicht wird, sollte man eigentlich auf dieWahlkreisverringerung ebenfalls verzichten.
Wir hätten den Mut dazu. Wenn wir als Parlament allge-mein den Mut dazu hätten, würden wir dies hier und heutetun.
Wir sind jedoch gezwungen, zu diesem Gesetzentwurfzu reden. Herr Kollege Friese, es gibt wahrlich keinenGrund, diesen Entwurf zu feiern. Er ist vergleichsweiseschlecht.
Als wir 1998 die Wahlkreise komplett neu schneidenmussten, sind am Ende weniger als zehn Entscheidungenstrittig geblieben.
Unser Anliegen war es, einen Konsens herzustellen.Denn Wahlrecht sollte natürlich – da haben Sie Recht –gemeinsame Sache sein. Das gilt insbesondere für dieEinteilung der Wahlkreise.Deswegen habe ich damals sehr viele Gespräche –HerrStaatssekretär Körper wird dies bestätigen – mit der Op-position geführt. Sie hatten eine viel leichtere Ausgangs-lage und trotzdem haben Sie eine ungleich höhere Zahl anstreitigen Entscheidungen produziert. Sie wollen mehr als80 Wahlkreise verändern.
Dabei lassen Sie sich von sachfremden Motiven und vonparteipolitischen Erwägungen leiten.
Unsere sachlich begründeten Vorschläge sind leiderkaum auf Gegenliebe gestoßen. Jedoch haben Sie unserenAntrag aufgegriffen, in Hessen den Landkreis Groß-Gerau nicht mehr auf verschiedene Wahlkreise aufzutei-len. Das hat den Vorteil, dass es im Landkreis Darmstadt-Dieburg nur noch zwei statt drei Wahlkreise gibt. Das istgut so.Sie haben Ihre wirklich verrückte Idee aufgegeben– ich müsste eine Karte haben, um dies zu zeigen –, inNordrhein-Westfalen Horstmar dem Coesfelder Wahl-kreis zuzuordnen.
Mit diesem Trick wollten Sie vermeiden, dass zwei SPD-Abgeordnete um denselben Wahlkreis kämpfen. Das istehrenwert für die SPD-Abgeordneten, aber in jeder Hin-sicht sachfremd. Sie haben dies später als Redaktionsver-sehen beseitigt und dies ist gut so.Im Unteren Geiseltal in Sachsen-Anhalt haben SieÄhnliches getan. Auch die Zuordnung von Winsen
in Niedersachsen ist positiv.Aber für die meisten Ihrer Vorschläge haben wir keinVerständnis. Zum Beispiel Sachsen: In 13 von 17 Wahl-kreisen folgen Sie nicht dem sachlich begründeten Vor-schlag der Wahlkreiskommission. Meine Damen und Her-ren, das ist pure Selbstbedienung.
Da vorne sitzt mein Freund Günter Baumann, ein sachli-cher Mensch.
Sie haben es nicht einmal für nötig befunden, diese Pro-blematik mit den Kollegen aus Sachsen zu erörtern. Dasist nicht in Ordnung. Ich rüge dies.
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Harald Friese14578
Sie wollten eine Zuordnung zu Chemnitz durchführenund rechnen sich dort bessere Wahlkreischancen aus, wo-bei ich hoffe, dass der Wähler Ihre Fummelei durchkreu-zen wird, meine Damen und Herren der SPD.
Hie
Das hat mit objektiven Kriterien und deren Einhal-
tung absolut nichts zu tun; das ist ausschließlich par-
teipolitisch motiviert.
Recht hatte er, der jetzige Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper.
Nächstes Beispiel: Schleswig-Holstein. Da gibt es
eine rot-grüne Landesregierung
und die Landesgruppe der SPD Schleswig-Holstein hat
sämtliche Vorschläge der rot-grünen Landesregierung ver-
worfen. Meine Damen und Herren, das ist Selbstbedie-
nung potenzieller Wahlkreiskandidaten. Das geht so nicht.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Sie haben den ungeteilten
Kreis Rendsburg-Eckernförde durch Herausnehmen
zweier CDU-Hochburgen, Kronshagen und Altenholz,
SPD-fest gemacht.
Wären wir 1998 so rigoros vorgegangen, dann hätte die
Aussage unseres Kollegen und jetzigen Staatssekretärs
Fritz Rudolf Körper wirklich gepasst. Er sagte damals:
„Das ist Willkür.“ – Recht hat er, der jetzige Staatssekre-
tär.
Drittes Beispiel: Nordrhein-Westfalen. In Köln zer-
stören Sie ohne Not die Identität zwischen zwei Bundes-
tagswahlkreisen mit jeweils zwei Landtagswahlkreisen.
Was aber noch eigenartiger ist: Sie trennen die Kreis-
hauptstadt Schwelm vom Ennepe-Ruhr-Kreis ab und
schlagen sie Hagen zu. Die Hauptstadt des Kreises gehört
zum Kreisgebiet. Ihre Regelung ist völlig sachfremd.
Weiteres Beispiel: Bayern. In München pfuschen Sie
ebenfalls völlig sachwidrig an der Wahlkreiseinteilung
herum. Hierzu und zu Oberfranken wird mein Freund
Hartmut Koschyk gleich ein paar Worte sagen, weil er die
Gegend ein bisschen besser kennt als ich, der ich aus dem
Ruhrgebiet komme. Aber Hagen, Schwelm und den
Ennepe-Ruhr-Kreis kenne ich natürlich sehr gut.
– Lieber Kollege Kemper, wir können noch nachher da-
rüber sprechen. Wir sehen uns so oft – fünfmal die Wo-
che –; da können wir diese Fragen auch beim Bier erör-
tern.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, es ist
Ihnen nicht gelungen, gemeinsame Empfehlungen auf
den Tisch des Hauses zu legen. Ich weiß, Herr Kollege
Friese, dass es ein Berichterstatter in Sachen Wahlkreis-
einteilung nicht immer leicht hat.
Ich weiß es genau, weil ich auch diesmal wie beim letzten
Mal Berichterstatter meiner Fraktion bin. Ich sage herz-
lichen Dank für Ihre Arbeit. Wir haben ein paar Gespräche
geführt. Sie haben es nicht immer leicht gehabt. Auch ich
konnte damals nicht all das billigen, was man durchsetzen
wollte.
Ich komme zum Schluss. Ich halte es für keine gute
Entscheidung der Koalition, fast ausschließlich auf die
Mehrheit zu setzen, anstatt mit Argumenten zu überzeu-
gen. Sie werden deswegen verstehen, dass wir Ihrem
Gesetzentwurf nicht zustimmen können.
Sie werden verstehen, dass wir Ihre sachwidrigen und un-
plausiblen Entscheidungen bei veränderten Mehrheiten in
diesem Hause wieder zurücknehmen werden. Wir müssen
dies im Interesse der Wähler und im Interesse der Abge-
ordneten tun.
In dem Fall, dass ich meine Arbeit noch weitermachen
werde, verspreche ich Ihnen, genauso wie in der Vergan-
genheit auf Dialog zu setzen.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das
Wort für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen dem
Kollegen Cem Özdemir.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Auch schwere Ge-burten sind irgendwann einmal vorbei. Die Wahlkreis-neueinteilung war eine solch schwere Geburt.
– Meinen Sie?Ich kann sagen, dass meine Fraktion – ich glaube, dasgilt auch für die Fraktion der F.D.P., obwohl der KollegeStadler im Innenausschuss eigene Interesse angesprochenhat – nun wirklich keine eigenen Aktien in dieser Fragehatte. Umso sachlicher konnten wir über die Wahlkreis-neueinteilung debattieren.
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Erwin Marschewski
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Ich möchte die Gelegenheit nutzen – wir haben diesschon im Innenausschuss getan; auch der KollegeMarschewski hat dies trotz seiner Kritik fairnesshalbergemacht –, demjenigen zu danken, der am meisten dazubeigetragen hat, dass das Gesetz in der gegenwärtigenFassung vorliegt, nämlich dem Kollegen Friese.
Der Kollege Friese hat wirklich in sehr fairer Weise dieAnliegen der Opposition einbezogen und das Gesprächmit allen Beteiligten gesucht. Ich kann das bestätigen,weil ich an einigen Gesprächen beteiligt war. Er hat einesehr undankbare Aufgabe übernommen. Man kann es indieser Frage nicht allen recht machen. Trotzdem hat erversucht, die Interessen der einzelnen Fraktionen ange-messen zu berücksichtigen. Wenn man das Gesetz objek-tiv bewertet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass esihm gut gelungen ist. Deswegen ein herzlicher Dank vonmeiner Fraktion an den Kollegen Friese.
Ich möchte aber in meinen Dank auch diejenigen miteinbeziehen, die sehr viel Arbeit geleistet haben. Dazugehören die Mitglieder der unabhängigen Wahlkreis-kommission und die zuständigen Beamten aus demBundesinnenministerium und vom Statistischen Bun-desamt.All denen möchte ich bei dieser Gelegenheit dan-ken.
Sie wissen, wir haben sehr viele Gespräche mit den Ge-meinden, mit Vertretern von sehr vielen Wahlkreisen, dieauf uns zugekommen sind, und mit unseren Landesver-bänden geführt. Auch deren Interessen galt es abzuwägen,was sicherlich nicht ganz einfach war.Wir stehen zu dem Kompromiss, der damals gefundenwurde, dass wir das Parlament verkleinern wollen. Siewissen, dass damit eine Verringerung der Zahl der Wahl-kreise einhergeht. Das ist gerade für die kleinen Fraktio-nen – ich nehme an, dass die kleinen Fraktionen daraufnoch eingehen werden – eine sehr schwierige Situation.
– Ich glaube, ihr werdet auch in Zukunft eine kleine Frak-tion bleiben, wenn ihr so weitermacht.
Trotz dieser schwierigen Situation ist es im Zuge einerGesamtkonzeption für einen schlanken Staat richtig ge-wesen, die Zahl der Abgeordneten zu reduzieren.Das heißt allerdings auch, dass wir schauen müssen,wie wir künftig den Kollegen helfen, die riesige Wahl-kreise haben, gerade im Osten der BundesrepublikDeutschland. Ich habe mir diese Wahlkreise angesehen.Man fragt sich wirklich, wie künftig Bürgernähe geleistetwerden soll, wenn zum Teil mehrere Landkreise abge-deckt werden sollen. Auch das muss man in diesem Zu-sammenhang betrachten. Ich rege an, dass wir uns bei an-derer Gelegenheit in entspannter Atmosphäre überlegen,wie wir die Abgeordneten in die Lage versetzen können– Stichwort: Ausstattung von Abgeordneten –, ihre Auf-gaben als Wahlkreisabgeordnete angemessen zu erfüllen.Das gilt gerade bei den großen Fraktionen für diejenigen,die ihre Wahlkreise direkt gewonnen haben, in verstärk-tem Maße. Mir ist völlig klar, dass sie vor riesigen Auf-gaben stehen, die kaum zu erfüllen sind.Herr Kollege Marschewski hat ein bisschen durch-blicken lassen, dass er selber weiß, dass wir hier sehr fairgearbeitet haben, und dass er anerkennt, dass wir uns umdas Gespräch mit der Opposition bemüht haben. Ichkann Ihnen – Sie haben ja davon gesprochen, dass Demo-kratie vom Wechsel lebt – nur eines sagen: Eines Tages– möglicherweise eines sehr fernen Tages – werden Siewieder regieren und dann werden wir – Sie wissen, mo-dernes Papier ist säurefrei, sodass es mehr als 20 Jahrehält – uns sehr genau anschauen, wie Sie mit dem An-spruch an Fairness, den Sie heute erheben, umgehen wer-den. Wir haben Ihnen vorgemacht, wie man das kann. Ichhoffe, Sie werden unserem Beispiel folgen.Ich will zum Abschluss – da sich das Thema nicht dazueignet zu polemisieren – auf eines hinweisen: Wir müssenuns – das hat mit der Debatte von vorhin zu tun – auch Ge-danken darüber machen, ob wir den Bevölkerungswandelin der Bundesrepublik Deutschland nur nachvollziehenwollen, indem wir die Wahlkreise neu einteilen, oder obwir nicht auch schauen müssen, wie wir die unterschied-liche Entwicklung im Osten und im Westen auffangenkönnen; denn im Osten, insbesondere in Sachsen und inSachsen-Anhalt, hat die Bevölkerungszahl dramatisch ab-genommen, wodurch sich die Zahl der Wahlkreise inSchleswig-Holstein und Baden-Württemberg um jeweilseinen erhöht. Darum müssen wir uns überlegen, wie wirda gegensteuern können; denn diese Situation ist für dieBundesrepublik Deutschland nicht positiv. Auch Abwan-derungen sind ein Demokratieproblem, über das wir unsGedanken machen müssen.Lassen Sie mich zum Abschied
– so schnell geht es nicht, Kollege Koschyk; Sie haben janachher noch Zeit zu reden, keine Sorge – bzw. zum Ab-schluss noch auf einen Punkt zu sprechen kommen. ZuKrefeld sage ich nichts mehr; dazu ist genug gesagt wor-den. Aber ich möchte ein anderes Beispiel nennen, daswahrscheinlich niemand ansprechen wird. Sie wissen, un-weit, direkt vor unserer Nase, wurde von Ihnen damals derWahlkreis Berlin-Mitte/Prenzlauer Berg aufgelöst. Wirbleiben dabei, um das gleich vorweg zu sagen. Ich er-wähne das nur, um zu zeigen, wie fair wir Ihnen gegen-über sind. In diesem Wahlkreis holte die CDU 12 Prozent,die F.D.P. – Stichwort: Projekt 18 – 2,2 Prozent, zusam-men also unter 15 Prozent. Wir haben diesen Wahlkreis,obwohl die Versuchung groß war, nicht wieder eingerich-tet. So fair sind wir gegenüber der heutigen Opposition.
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Cem Özdemir14580
Sie sehen: Wir haben uns die Mühe gemacht, eine Lö-sung zu finden, die für alle tragbar ist. Es wird nie so sein,dass alle zufrieden sind. Wir haben aber alles in allem ei-nen guten Gesetzentwurf vorgelegt und ich glaube, dassjetzt kein Hindernis mehr für die Wahl der Wahlkreiskan-didaten besteht. Der Bundeswahlleiter wird sehr zügigdarangehen und alle Parteien in die Lage versetzen, Kan-didaten aufzustellen. Dann steht einem hoffentlich fairenBundestagswahlkampf nichts mehr entgegen.
Der Kollege
Dr. Max Stadler spricht nun für die F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Wir beraten heute über die Lex Friese.
Ich will Ihnen kurz erläutern, warum die F.D.P.-Fraktion
sich bei diesem Gesetz enthalten wird. Eine Ablehnung
wäre nicht sachgerecht, weil wir die gefundenen Lösun-
gen hinsichtlich der Wahlkreisneueinteilung im Großen
und Ganzen akzeptieren können.
Insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Kolle-
gen Friese war durchaus erfreulich und gut. Er hat das
Gespräch mit uns nicht nur gesucht,
wie der Kollege Özdemir sagte, sondern sogar gefunden.
Er war Argumenten durchaus zugänglich.
So konnte zum Beispiel unser Kollege von der F.D.P. Dirk
Niebel durchaus mit Erfolg Überzeugungsarbeit leisten,
sodass am Ende die Stadt Eppelheim im Wahlkreis
Heidelberg bleiben kann.
Das ist für die dortige Situation bedeutsam und ein Zei-
chen für die gute Zusammenarbeit, die wir in dieser Frage
hatten.
dachte, ihr hättet euch geändert!)
Meine Damen und Herren, natürlich sind Wahlfragen
Machtfragen. Jetzt wird gegenseitig der Vorwurf erhoben,
dass solche Einteilungen von Wahlarithmetik geprägt
seien. Die Redner der jetzigen Koalition bringen das
gegenüber unserer Entscheidung vor, die wir in der letz-
ten Wahlperiode getroffen haben, und umgekehrt hat die
Union dies jetzt der SPD und den Grünen entge-
gengehalten. Es wäre blauäugig, würde man sagen, der
Verdacht, dass geschaut wurde, wie denn bei einem Neu-
zuschnitt am Ende die Ergebnisse in den Wahlkreisen aus-
sehen werden, sei völlig unberechtigt. Aber das Ver-
hältniswahlrecht, das wir ja in verbesserter Form haben,
setzt Manipulationsmöglichkeiten sowieso von vornhe-
rein Grenzen. Denn am Ende orientiert sich die Zu-
sammensetzung des Bundestages, wenn ich einmal Über-
hangmandate beiseite lasse, an dem prozentualen Anteil,
den die Parteien an den Zweitstimmen haben, und nicht an
der Einteilung der Wahlkreise.
Trotzdem ist die Wahlkreiseinteilung natürlich von
großer Bedeutung für die Repräsentanz der Regionen in
der Volksvertretung. Deswegen wäre es schon angebracht
gewesen, Fehlentscheidungen aus der Vergangenheit, die
wir selber jetzt als solche erkennen müssen, zu korrigie-
ren. Ich nenne daher noch einmal das Beispiel Krefeld. Es
kann doch nicht sein, dass eine Großstadt mit
240 000 Einwohnern Gefahr läuft, keinen örtlichen Ab-
geordneten oder keine örtliche Abgeordnete im Bundes-
tag zu haben. Wir haben daher vorgeschlagen, dass Kre-
feld ungeteilt einem Wahlkreis zugeordnet wird.
Dieser Vorschlag der F.D.P. wäre umsetzbar gewesen. Ich
verstehe nicht, warum nicht nur SPD und Grüne, sondern
leider auch CDU und CSU unserem Antrag nicht gefolgt
sind.
Da dies nicht geschehen ist und da es wichtig gewesen
wäre, die Situation Krefelds bei dieser Gelegenheit zu be-
reinigen, können Sie verstehen, dass wir dem gesamten
Gesetzesvorschlag nicht zustimmen können. Daher ent-
halten wir uns.
Für die
PDS-Fraktion gebe ich der Kollegin Petra Pau das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Und für Berlin-Mitte, nicht zu ver-gessen, Herr Kollege Özdemir. – Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu: Bis gesternAbend habe ich gedacht, zu diesem Thema sei alles gesagtund ausgetauscht.
Nach einem Blick in die Presse und nach der Rede desKollegen Marschewski weiß ich: Es ist noch nicht allesgesagt und vor allen Dingen noch nicht von allen. Des-wegen will auch ich sprechen und Ihnen drei Gedankenmit auf den Weg geben.
Die PDS-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf – zu-mindest mehrheitlich – zustimmen, denn unter Abwägung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Cem Özdemir14581
aller Konflikte haben wir keine rationale, nachvollzieh-bare Alternative anzubieten. Ich kann mich dem Lob fürden Kollegen Friese nur anschließen: Das, was möglichwar, haben wir zumindest hierbei gemeinsam miteinanderbesprochen.Es bleiben aber Probleme. So wird zum Beispiel derWahlkreis Teltow-Fläming in drei Wahlkreisteile zer-schnitten. Das heißt, Abgeordnete haben dort nicht dasProblem, dass sie womöglich Bürgerbüros in drei Wahlkrei-sen aufbauen müssen, sondern dieser Landkreis wird nun-mehr mit drei Bundestagsabgeordneten beschenkt werden.Ich denke, wenn von den im Lande Brandenburg selbstpolitisch Verantwortlichen, meine Partei eingeschlossen,in den Verhandlungen eine Lösung gesucht worden wäre,hätte man vielleicht auch eine gefunden. Das war aber of-fensichtlich ebenfalls nicht mehr zu reparieren.Aber es bleiben auch andere Probleme. Auch diesewurden bereits angesprochen. Sie sind nicht über das Ge-setz zu regeln, aber wir werden uns über sie Gedankenmachen müssen. Was ist denn mit den Kolleginnen undKollegen, die in den flächenmäßig sehr großen Wahl-kreisen im nächsten Jahr gewählt werden, die entspre-chende Arbeitsbedingungen brauchen, die aber einen un-verhältnismäßig hohen Aufwand haben, zumindest imVergleich zu den Kolleginnen und Kollegen in denkleinen, bevölkerungsreichen Wahlkreisen haben? Dasmuss geregelt werden, darüber müssen wir gemeinsamnachdenken.Damit komme ich zum dritten Punkt: Es ist hier schonviel von Parteitaktik geredet worden, die man sich gegen-seitig unterstellt. Wir werden diesem Gesetzentwurf aus-drücklich zustimmen, obwohl wir zum Beispiel wissen,wie die Wahlkreiseinteilung im Lande Berlin zustandegekommen ist, Kollege Marschewski.
Diese ist bei Planspielen unter Leitung Ihres Parteifreun-des Klaus Landowsky mit dem Ziel, die PDS erst einmalaus den Berliner Rathäusern rauszuhalten, zustande ge-kommen. Vor zwei Jahren wurde der Berliner Bezirkszu-schnitt völlig sachfremd verändert, in der Hoffnung, dassdie PDS auf diese Art und Weise nach der Wahl 1999 nichtmehr in die Rathäuser einziehen würde. Die Wählerinnenund Wähler dieser Stadt haben aber den Beweis erbracht,dass sie sich nicht am Schreibtisch vorschreiben lassen,wen sie zu wählen haben.
Nun gibt es als Ergebnis die erste Bürgermeisterin mitPDS-Mandat in einem Westbezirk, in Kreuzberg.
Ich gehe davon aus, dass sich die Wählerinnen undWähler auch nach dieser Wahlkreiseinteilung nicht vor-schreiben lassen, wen sie 2002 für die Hauptstadt wählenwerden. Ich setze auf die Wählerinnen und Wähler in denneuen Wahlkreisen. Wir werden zustimmen.
Für die CDU/
CSU-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Hartmut
Koschyk.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wahlgesetzgebunggehört sicher zu den sensibelsten Bereichen der Gesetz-gebung unseres Landes. Von ihrer Transparenz undNachvollziehbarkeit hängt es ab, wie die Bürgerinnen undBürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.Der rot-grüne Gesetzentwurf zur Änderung desBundeswahlgesetzes enthält neben den vielen Ungereimt-heiten, auf die der Kollege Marschewski schon hingewie-sen hat, vor allem für den Freistaat Bayern eine Reihe vonUngereimtheiten.
Dagegen hat sich in den betroffenen Regionen zu Rechtentschiedener Protest der Bevölkerung erhoben. Dochdieser Protest wird von der rot-grünen Parlamentsmehr-heit einfach beiseite geschoben.
Sie von Rot-Grün müssen sich schon fragen lassen:Wie verträgt es sich, dass Sie auf der einen Seite plebis-zitäre Elemente auf Bundesebene neu einführen wollen,auf der anderen Seite aber bei einem Bereich, in dem esum die unmittelbare Mitbestimmung des Bürgers geht,bei der Zuschneidung von Wahlkreisen, kaltschnäuzigüber das hinweggehen, was die Bürgerschaft will, undsich in keiner Weise gesprächs- und kompromissbereitzeigen?
Für die Verringerung der Zahl der Wahlkreise inMünchen von bislang fünf auf vier geben Sie in IhremGesetzentwurf keinerlei inhaltliche Begründung.
Auch lassen Sie völlig unberücksichtigt – hören Sie zu,Herr Friese; darauf kommt es an –, dass sich seit der Neu-einteilung 1998 die Einwohnerzahlen in den Regierungs-bezirken Bayerns erheblich verändert haben. Es wäre jetztIhre Pflicht gewesen, diese veränderten Einwohnerwertezu berücksichtigen und in einem Abwägungsprozess zugewichten.Unser Münchener Kollege Singhammer hat in seinerEingabe an den Innenausschuss zu Recht darauf hinge-wiesen, dass die Zahl der Wahlberechtigten im Regie-rungsbezirk Oberbayern seit 1998 gegenüber dem Regie-rungsbezirk Oberfranken gewachsen ist. Deshalb dürfenSie nicht, obwohl Sie es tun, begründungs- und abwä-gungslos die kreisfreie Stadt München aus dem Regie-rungsbezirk Oberbayern einfach herausgreifen, um deneinzigen in Bayern einzusparenden Wahlkreis in Mün-chen einzusparen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Petra Pau14582
Herr Kol-
lege Koschyk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
geordneten Singhammer?
Sehr gerne.
– Wenn Sie Fragen stellen, stehe ich auch Ihnen zur Ver-
fügung.
Herr Kollege
Koschyk, nachdem Sie mich angesprochen haben,
möchte ich Sie fragen, ob Sie mir zustimmen können, dass
die jetzige Mehrheit des Bundestages gegen die Emp-
fehlung der unabhängigen Wahlkreiskommission für die
Landeshauptstadt München
neue Grenzziehungen vorschlägt, die in keiner Weise ge-
wachsenen Stadtvierteln entsprechen und ausschließlich
das Ziel haben, günstigere Voraussetzungen für die nächs-
ten Wahlen zu erreichen? Können Sie mir zustimmen,
dass man diese Regelung mit Fug und Recht als Pfusche-
rei bezeichnen kann, die dem inneren Frieden in dieser
Region nicht dienen wird?
Herr Kollege
Singhammer, ich kann Ihnen da nur voll und ganz zustim-
men.
Denn es ist so: Sie haben die Neuzuschnitte der Wahl-
kreise in München ohne Beachtung der Vorschläge der
Wahlkreiskommission vorgenommen.
Herr Parlamentarischer Geschäftsführer Küster, auch ein
notwendiger Abwägungsprozess zwischen den unter-
schiedlichen Regierungsbezirken in Bayern ist nicht vor-
genommen worden.
Kollege Friese selbst hat in der diesbezüglichen Beratung
des Innenausschusses eingeräumt, dass auch er aufgrund
der unterschiedlichen Entwicklung der Wahlbevölkerung
in Oberbayern und Oberfranken der Auffassung ist, dass
im Jahre 2006 wieder Veränderungen in Bezug auf die
Wahlkreiszuschnitte in Oberbayern und Oberfranken vor-
genommen werden müssen.
Die Veränderungen, die Sie jetzt sowohl in München
als auch in Oberfranken vornehmen, sind unnötig. Auch
übergehen Sie bei Ihren konkreten Zuschneidungen
sozioökonomisch gewachsene Strukturen. Deshalb hat
übrigens die Bayerische Staatsregierung Ihre Vorschläge
rundweg abgelehnt. Das, was Sie jetzt im Bereich
Oberfranken, in Bezug auf Bayreuth, Forchheim und
Bamberg, vorhaben – Herr Friese hat das ja ausdrücklich
verteidigt –, tun Sie gegen den entschiedenen Widerstand
des betroffenen Landrates, der in einer entsprechenden Ein-
gabe an den Innenausschuss zum Ausdruck kommt, und ge-
gen den Widerstand aller betroffenen Gemeinden. Jeder der
betroffenen Bürgermeister hat sich an den Innenausschuss
gewandt. Das Schönste ist – daran sieht man, wie bei Ihnen
innerparteiliche Demokratie funktioniert –:
Dies ist auch gegen das ausdrückliche Votum Ihrer
Parteifreunde beschlossen worden.
Ich wiederhole: Dass Sie nicht einmal vor Ort mit der
betroffenen Bürgerschaft und den Kommunalpolitikern
sprechen, zeigt, dass es Ihnen nicht darum geht, den Bür-
gerwillen und gewachsene Strukturen zu berücksichtigen.
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kemper?
Herr Kollege
Kemper, bitte schön.
Kollege
Kemper bekommt das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Koschyk, jetzt kannich Ihnen die Frage stellen, die ich eigentlich HerrnMarschewski stellen wollte. Aber auch Sie waren ja schonin der letzten Legislaturperiode im Innenausschuss undhaben die damalige Wahlkreisreform mit beschlossen.Würden Sie, genauso, wie Sie Ihrem Kollegen Singhammerzugestimmt haben, auch mir zustimmen, wenn ich fest-stelle, dass Sie in der letzten Legislaturperiode im Müns-terland zwei Wahlkreise geschaffen haben, die etwa100 Kilometer lang und 20 Kilometer breit sind,
die über Kreisgrenzen hinweg gehen, überhaupt nichtdurch gewachsene Strukturen gerechtfertigt sind
und deren Zuschnitt mit Ausnahme des betroffenen Bun-destagsabgeordneten Karl-Josef Laumann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001 14583
niemand befürwortet hat? Der wollte das gerne und dashaben Sie dann auch getan.
Erstens glaube ich,
dass sich der Sachverhalt nicht ganz so darstellt, wie Sie
ihn, Herr Kollege Kemper, geschildert haben.
Zum anderen sind auch wir zur Selbstkritik fähig. Kollege
Marschewski hat vorhin eingeräumt, dass es auch bei un-
serer Reform von 1998 einige Punkte gab, zu denen wir
gesagt haben: Jawohl, darüber muss man hinterher noch
einmal sprechen.
Ich will zusammenfassen: Nicht nur das, was ich ge-
rade für Bayern, also für Oberfranken und für Oberbayern
bzw. München, gesagt habe, ist wichtig. Auch der Verweis
auf Sachsen ist notwendig, wo Sie entgegen dem Votum
der Wahlkreiskommission ganz gravierende Änderungen
vornehmen.
Ich finde, Ihre Reform ist unausgegoren. Sie geht an in
vielen Regionen gewachsenen historischen und kulturel-
len Strukturen vorbei. Sie werden dafür ein Stück weit die
Quittung bekommen; denn die Bürgerinnen und Bürger in
bestimmten Regionen werden es Sie in den Wahlen mer-
ken lassen, mit welcher Willkür Sie Wahlkreise neu ein-
geteilt haben.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Harald Friese
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Diese Wahlkreisreform ist ausgewogen und
wohlüberlegt. Sie ist sachlich begründet.
Wenn Sie, Herr Koschyk, darauf hinweisen, dass in
Bayern die Bevölkerungsentwicklung in den Regierungs-
präsidien anders verläuft, dann will ich Sie auf das Bun-
deswahlgesetz hinweisen. Es sieht nur vor, dass die Zahl
der Wahlkreise der Bevölkerung der Bundesländer ent-
sprechen muss, aber nicht, dass das auf einzelne Regie-
rungspräsidien bezogen werden kann.
Wenn Sie sagen, dies wolle niemand und wir würden
hier gegen den Wunsch der Bayerischen Staatsregierung
verstoßen, dann möchte ich Sie an die Drucksache
14/2597 erinnern. Die Wahlkreiskommission zitiert dort
die Bayerische Staatsregierung, die sich in ihrer ab-
schließenden Stellungnahme vom 12. November 1999 ge-
gen jegliche Änderung des Zuschnitts der Wahlkreise in
Bayern ausgesprochen hat. Als Begründung hat sie aus-
geführt, dass keine Veranlassung bestehe, an der vom Ge-
setzgeber durch das Wahlkreisneueinteilungsgesetz für
Wahlen ab dem Jahre 2002 vorgesehenen Regelung für
Bayern Änderungen vorzunehmen. Das ist die Position
der Bayerischen Staatsregierung. Wir mussten aber teil-
weise in Bayern handeln, weil wir sonst gegen das Gesetz
verstoßen hätten; denn es lagen Entwicklungen vor, die
die durch das Bundeswahlgesetz gesetzten Schranken
überschritten hätten.
Zur Frage Oberfranken. Herr Koschyk, es ehrt uns,
wenn Sie uns ein falsches innerparteiliches Demokratie-
verständnis vorwerfen. Wir haben die Wahlkreisreform
eben nicht nach den Vorstellungen der Partei, sondern
nach objektiven Grundsätzen gemacht.
Offensichtlich haben Sie Wahlkreisreform nach den Vor-
stellungen Ihrer Partei vor Ort gemacht. Es gibt aber ob-
jektive Kriterien, die im Gesetz niedergelegt sind. Die ha-
ben wir einzuhalten.
Zu diesen objektiven Kriterien gehört, dass die Gren-
zen von kommunalen Gebietskörperschaften eingehalten
werden sollen, soweit dies möglich ist. Lesen Sie das im
Bundeswahlgesetz nach! Genau dies haben wir in Ober-
franken getan; es sind nämlich die Grenzen der Gebiets-
körperschaften fast vollständig erhalten geblieben. Wenn
Sie jetzt argumentieren – das haben Sie im Innenaus-
schuss getan –, damit würden gewachsene Strukturen zer-
stört werden, entgegne ich: Es kann nicht Aufgabe des
Bundesgesetzgebers sein, eine falsche kommunale Ge-
bietsreform – sofern Sie Recht haben, dass hier gewach-
sene Strukturen zerstört werden – durch eine Wahlkreis-
reform zu korrigieren.
Zu einerkurzen Erwiderung der Kollege Singhammer.
– Das Präsidium hat die Kurzintervention des KollegenFriese so interpretiert, dass beide Kollegen angesprochenwaren.
Deswegen bekommt der Kollege Singhammer jetzt dasWort zu einer kurzen Erwiderung. Ich glaube, das recht-fertigt überhaupt keine Aufregung. Wir führen hier einevernünftige Debatte und sollten auch so verfahren.
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Hans-Peter Kemper14584
Herr Präsident!
Ich möchte auch ganz konkret auf den Kollegen Friese
eingehen.
Die SPD hat in ihrem Katalog, den sie als Fahrplan für
Änderungen genommen hat, eine Reihe von Kriterien
aufgestellt. Alle vier Kriterien, die in Ihren Augen für eine
Änderung maßgeblich waren, sind in der Landeshaupt-
stadt München bei der internen Neukonstituierung der
Wahlkreise nicht gegeben. Ich stelle weiterhin fest, dass
die unabhängige Wahlkreiskommission im Gegenteil von
einer Änderung abgeraten hat.
Ich darf zitieren – das können Sie im Bericht der unab-
hängigen Wahlkreiskommission nachlesen –: Insbeson-
dere spricht eine geringfügige Überschreitung der Grenze
von 15 Prozent in einem Wahlkreis, also 0,5 Prozent, nicht
für eine Änderung. Weiter heißt es: Der Grundsatz der
Wahlkreiskontinuität spricht gegen Neuabgrenzungen.
Das ist ein ganz klarer Hinweis. Diesen Empfehlungen
sind Sie nicht gefolgt und deshalb sage ich, dass Ihr Vor-
schlag eben andere und keine sachlichen Gründe hat. Des-
halb lehnen wir ihn ab.
Ich schließe
die Aussprache. Allerdings hat der Abgeordnete des
Wahlkreises 79, Krefeld, Bernd Scheelen, darum gebeten,
eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäfts-
ordnung abgeben zu dürfen. Das geschieht sicherlich mit
dem kollegialen Verständnis des ganzen Hauses. Sie
haben das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich möchte gerne gemäß § 31 derGeschäftsordnung mein Abstimmungsverhalten erläu-tern. Der Bundestagswahlkreis Krefeld wird zerschla-gen.
– Es ist nun wirklich nicht angebracht, dass Sie „Hört!Hört!“ rufen. Sie haben doch nichts dagegen getan. Siehaben das doch 1998 auch so beschlossen. Seien Sie malganz ruhig!
Wenn dies aus den Reihen der F.D.P. käme, hätte ich dafürgroßes Verständnis, denn die hat sich für Krefeld einge-setzt.
Der Wahlkreis wird zerschlagen. Er wird geteilt. Erwird von Ost nach West durchtrennt. Die Hälften werden– im Norden – Teilen des Kreises Wesel und – im Süden –Teilen des Kreises Neuss zugeschlagen. Ich bedaure sehr,dass die Chance, die die erneute Beschlussfassung überdie Wahlkreiseinteilung bietet, heute nicht genutzt wird,um die Fehlentscheidung, die schon am 13. Februar 1998vom damaligen Bundestag getroffen wurde, zu korrigie-ren. Deswegen lehne ich diesen Gesetzentwurf und dieBeschlussempfehlung des Innenausschusses ab.Die Zerschlagung des Wahlkreises ist erstens willkür-lich. Wären in Krefeld nur wenige Hundert Einwohner amStichtag mehr gezählt worden, hätte es das Gesetz über-haupt nicht hergegeben, den Wahlkreis zu zerschlagen.
Erst wenn Krefeld mehr als 20 000 Einwohner wenigergehabt hätte, wäre Handlungsbedarf gegeben gewesen.Die Zerschlagung des Wahlkreises Krefeld ist zweitensungerecht; denn für alle anderen kreisfreien Städte in derRepublik bleibt der eigenständige Wahlkreis erhalten. Im-merhin steht Krefeld auf der Hitliste der Großstädte inDeutschland nach der Bevölkerungszahl auf Platz 31.Die Zerschlagung des Wahlkreises ist drittens unhisto-risch. Die Geschichte der Stadt reicht weit über 2 000 Jahrezurück. Die Römer haben dort gesiedelt. Die Stadt besitztseit über 600 Jahren Stadtrechte.
– Ja, ihr könnt noch etwas über Krefeld lernen. – Schon1826 wurden die ersten Abgeordneten in Parlamente ent-sandt, damals in den rheinischen Provinziallandtag.1848 war Krefeld in der deutschen Nationalversamm-lung vertreten, seit 1867 im Reichstag des Norddeut-schen Bundes, seit 1871 im Deutschen Reichstag undseit 1949, seit Gründung der Bundesrepublik, im Deut-schen Bundestag.Meine Heimatstadt Krefeld ist – das wird Sie auch in-teressieren; vielleicht wissen das viele nicht – die Ge-burtsstätte des parlamentarischen Patenschaftspro-gramms.
– Herr Börnsen, Sie wissen das. – Ausgangspunkt war dieTatsache, dass im Jahre 1683 16 Krefelder Familien alsErste aus Deutschland nach Amerika auswanderten. Dieswar vor 18 Jahren Anlass einer großen Feier in Krefeld.Anlässlich dieses Ereignisses wurde das parlamentarischePatenschaftsprogramm zwischen dem amerikanischenKongress und dem Deutschen Bundestag beschlossen.Mit dem heutigen Beschluss wird Krefeld keinen eige-nen, ausschließlich von Krefelder Bürgerinnen und Bür-gern gewählten Abgeordneten mehr direkt in den Bun-destag entsenden. Mit der Bundestagswahl 2002 wirdKrefeld in beiden neuen Wahlkreisen nur noch Junior-partner sein. Kein Krefelder Abgeordneter wird mehr in
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001 14585
der Lage sein, die Interessen der Stadt und der KrefelderBürger in ihrer Gesamtheit zu erfassen
und in den politischen Beratungen und Entscheidungen sozur Geltung zu bringen, wie es Grundgesetz und Wahlge-setz vorsehen.
Die Krefelder Bürgerinnen und Bürger haben ein An-recht darauf, von Abgeordneten vertreten zu werden, diein Krefeld verwurzelt sind,
die die Mentalität und Besonderheiten der Krefelderinnenund Krefelder kennen. Nicht umsonst sagt der Volksmundam Niederrhein: Es gibt Gute, Böse und Krefelder.
Krefeld braucht Abgeordnete, die mit der Lage undEntwicklung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, so-zialen und kulturellen Gegebenheiten der Stadt vertrautsind. Dies ist nicht gegeben, wenn wir als Krefelder in denbeiden neu zugeschnittenen Wahlkreisen nur noch dieMinderheit bilden.Deshalb lehne ich den vorliegenden Gesetzentwurf abund unterstütze die kommunale Verfassungsbeschwerdeder Stadt Krefeld gegen das Gesetz zur Neueinteilung derWahlkreise für die Wahl zum Deutschen Bundestag, die da-mit verbundenen Organklagen der im Rat der Stadt Krefeldvertretenen Parteien – das sind CDU, SPD und Grüne –,
die von der damals im Rat nicht vertretenen F.D.P. unter-stützt werden,
und die sechs Verfassungsbeschwerden von KrefelderBürgern.Ich hoffe sehr, dass das Bundesverfassungsgericht un-seren Argumenten folgt und wir uns im Bundestag in na-her Zukunft erneut mit der Neueinteilung der Wahlkreisebeschäftigen werden. Wir Krefelder warten jetzt gespanntauf die Entscheidung in Karlsruhe.Der heutige Beschluss, meine sehr geehrten Damenund Herren, reißt auseinander, was zusammengehört, undkann deshalb keinen Bestand haben.Vielen Dank.
Wir kom-men nun zur Abstimmung über den von den Fraktionender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENeingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bun-deswahlgesetzes, Drucksachen 14/4497 und 14/5202. DerInnenausschuss empfiehlt unter Nummer 1 seiner Be-schlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfs inder Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN, PDS und einzelnen Stimmen derCDU/CSU gegen die Mehrheit der Fraktion der CDU/CSU und die Stimme des Kollegen Scheelen bei Enthal-tung der F.D.P. angenommen.
– Also bei mehreren Neinstimmen aus der Fraktion derSPD, aber insgesamt mit Mehrheit angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Ich muss ergänzen,dass es auch noch eine Enthaltung aus den Reihen derPDS gibt. Der Gesetzentwurf ist unter Berücksichtigungdieser kleinen Änderung mit der gleichen Stimmen-mehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen.Der Innenausschuss empfiehlt unter Nummer 2 seinerBeschlussempfehlung die Kenntnisnahme des ergänzen-den Berichts der Wahlkreiskommission für die 14. Wahl-periode des Deutschen Bundestages, Drucksache 14/1431.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Der Beschlussentwurf ist ein-stimmig angenommen.Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 6 sowie Zu-satzpunkt 7 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen zu dem Antrag derAbgeordneten Klaus Hofbauer, Dirk Fischer
, Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSUA 6 als wichtige europäische West-Ost-Stra-ßenverbindung vorrangig fertig stellen– Drucksachen 14/2910, 14/4090 –Berichterstattung:Abgeordnete Heide MattischeckBeratung des Antrags der Abgeordneten HorstFriedrich , Hans-Michael Goldmann,Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der F.D.P.A 6 modellhaft ausbauen – Deutschlands Fern-straßennetz für Europa fit machen– Drucksache 14/5229 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Bernd Scheelen14586
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Rednerdem Kollegen Reinhold Strobl für die Fraktion der SPDdas Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihnen liegt ein Antragder CDU/CSU vor, dem sich auch die F.D.P. angeschlos-sen hat.
– Sie haben einen eigenen Antrag eingebracht, aber Siehaben sich an dieses Thema sozusagen angehängt.
– Diese Bemerkung hätten Sie sich sparen können. Aberdas sind wir ja bei Ihnen gewohnt.
In diesem Antrag wird die vorrangige Fertigstellungder A 6 als wichtige europäische West-Ost-Straßenver-bindung gefordert. Wir könnten uns die heutige Diskus-sion ersparen, da der Weiterbau der A 6 für uns be-schlossene Sache ist und Bundeskanzler GerhardSchröder in seiner viel beachteten Rede am 18. Dezem-ber 2000 in Weiden klargestellt hat, dass die AutobahnA 6 bis 2008, spätestens 2009 fertig gestellt ist. Eigent-lich könnten wir hinausgehen und eine Tasse Kaffeeoder ein Bier miteinander trinken; das Thema ist abge-hakt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,Ihr Antrag vom 14. März 2000 ist überholt. In diesem An-trag fordern Sie nämlich,die bereits begonnenen Maßnahmen, insbesondereden Lückenschluss bei der Bundesautobahn A 6,zeitlich vorzuziehen und die bisher eingeplantenMittel so aufzustocken, dass die Fertigstellung dergesamten Baumaßnahme A6 in den nächsten 10 Jah-ren sichergestellt wird.Würden wir Ihrem Antrag zustimmen, würde dies be-deuten: Der Bundestag beschließt heute, dass die A 6 biszum Jahr 2011 fertig gestellt wird. Wir aber wollen – wirhaben das Wort unseres Bundeskanzlers –,
dass die Autobahn, welche Tschechien und Deutschlandmiteinander verbindet, bereits in sieben Jahren, also imJahr 2008, spätestens aber 2009 fertig gebaut ist und sodie Bürger der mittleren Oberpfalz von dem unerträg-lichen Durchgangsverkehr und den damit verbundenenLärmbelästigungen befreit werden.Übrigens wird immer verbreitet, die Autobahn inTschechien sei fertig. Das stimmt gar nicht; denn Pilsenmuss man immer noch umfahren.
Ich darf mich als Oberpfälzer Abgeordneter auch imNamen meiner Kollegin Erika Simm und meiner Kolle-gen Georg Pfannenstein und Ludwig Stiegler für die Un-terstützung und das Verständnis unseres Bundeskanzlersbedanken.
–Wenn Sie nichts anderes können als immer nur „Oh“ zurufen, dann kann ich Ihnen nicht helfen.
Der Lückenschluss zwischen Amberg-Ost und Waid-haus hat für die wirtschaftliche Entwicklung der Ober-pfalz, nicht zuletzt wegen der bevorstehenden EU-Oster-weiterung, eine große Bedeutung.
Die Oberpfalz – sie lag früher am Rand der EuropäischenUnion – wird in Zukunft mitten in Europa liegen. Wir sinduns bewusst, dass diese zentrale Lage Probleme, aberauch Chancen mit sich bringt.Seit Dezember vorigen Jahres ist die A 93 zwischenRegensburg und Hof fast durchgängig befahrbar.
Die Kosten – teils vorfinanziert – belaufen sich auf circa800 Millionen DM. Die A 6 zwischen Amberg-Ost undWaidhaus wird etwa 783 Millionen DM kosten, sodassder Bund in den Autobahnbau in dieser Region insgesamtfast 1,6 Milliarden DM investiert. Auch dies, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der CSU, muss einmal gesagtwerden, weil durch Ihre Mandatsträger vor Ort und auchdurch Sie selbst der Eindruck erweckt wird, als ob dieBundesregierung und Kanzler Schröder den Süden derRepublik langsam, aber sicher ausbluten ließen.
Sie müssen uns schon sagen, was Sie wollen. Erst for-dern Sie den Ausbau der Autobahn in den nächsten zehnJahren. Dann erklärt Ihnen der Bundeskanzler höchstper-sönlich, dass die A 6 nicht in zehn, sondern bereits insieben Jahren fertig sein wird. Wieder sind Sie nicht zu-frieden. Die Bevölkerung der Oberpfalz hat längst mitbe-kommen, dass Sie das Thema A 6 nur für Ihre parteipoli-tischen Ziele benötigen.
Sie, meine Damen und Herren von der CSU, haben näm-lich sonst kein Thema. Ich sage Ihnen: Die A 6 wirdschneller fertig sein, als Ihnen lieb ist.Viele Bürgerinnen und Bürger in der Oberpfalz fragensich: Warum hat die frühere Bundesregierung den Weiter-bau nicht schneller vorangetrieben? Warum geschah in
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters14587
der Zeit, in der die Oberpfälzer CSU den Vorsitzenden imVerkehrsausschuss und einen Staatssekretär stellte – so-viel ich weiß, wird er nach mir sprechen –, nicht mehr?Warum sind erst jetzt die CSU-Abgeordneten so aktiv?Wo waren Sie denn, als Sie damals noch die Regierungstellten? Herr Hofbauer, wo war denn früher der Druckder CSU, den Sie angeblich jetzt ausüben wollen, wie iches heute in der Zeitung gelesen habe?Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, zitiere ich ausder Rede des Bundeskanzlers in Weiden:Die wirtschaftliche Integration Europas kann über-haupt nur gelingen, wenn die erforderliche Verkehrs-infrastruktur ausgebaut wird.
Das ist gerade in Grenzregionen wie dieser eine un-abdingbare Voraussetzung.
Hier in der Oberpfalz – ich bin darüber nicht über-rascht – hat die Lückenschließung der A 6 Vorrang.Im Rahmen unseres Zukunftsinvestitionspro-gramms – also jenes Programms, das wir aus den er-sparten Zinsaufwendungen speisen, die entstandensind, weil wir mit den erlösten UMTS-MilliardenSchulden getilgt haben, was dringend notwendigwar – schaffen wir es nun, das Teilstück zwischenPfreimd und Waidhaus erheblich früher als geplantfertig zu stellen. Dies wird bis 2005, spätestens 2006geschehen, also in vier Jahren. Ursprünglich war2010 geplant.Aber das ist, wie Sie wissen, nicht die einzige Lückein der Oberpfalz. Das ist ja das Problem ... Es gibtnoch eine Lücke zwischen Pfreimd und Amberg-Ost,eine, die die Menschen dort sehr belastet. Das mussman einfach so sehen.Ich komme aus einer Stadt, die vom Durchgangsverkehrsehr belastet ist.Über die konkrete Finanzierung dieses Lücken-schlusses müssen wir noch entscheiden. Sie wissen,dass die öffentlichen Kassen auch nicht prall gefülltsind. Wir müssen mit der Haushaltskonsolidierungweitermachen.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt für unsere zukünf-tige Entwicklung.Bundeskanzler Schröder führte weiter aus:Aber ich habe mit dem Bundesverkehrsminister ge-sprochen.
– Es ist wirklich lächerlich, was Sie da aufführen.
– Geht es Ihnen um das Thema oder wollen Sie hier pole-misieren?Ich führe das Zitat zu Ende:Wir haben uns darauf verständigt, dass wir gemein-sam, zusammen mit den Abgeordneten dieser Re-gion, mit Ludwig Stiegler und seinen Mitstreitern, al-les tun wollen, damit die A 6 bis 2008, spätestens2009 wirklich durchgehend fertig gestellt sein wird.
Trotz dieser eindeutigen Aussage werden die CSU-Mandatsträger in der Oberpfalz nicht müde, weiter zu po-lemisieren. Da bezeichnete der eine den Besuch des Bun-deskanzlers in Weiden bezüglich der A 6 als „Larifari-Veranstaltung“ und der anwesende MdB Rudolf Krausbezeichnete das A-6-Angebot von Schröder als lächerlichund sprach der Bundesregierung sogar den politischenWillen ab, was den Bau der A 6 angeht.Meine Damen und Herren, für solche Äußerungenfehlt mir jegliches Verständnis.
Ich frage mich nur, wann Sie kapieren, dass Ihnen dieseArt der Auseinandersetzung nichts einbringen wird. Jederweiß doch, dass auch hier Versäumnisse der früherenBundesregierung vorliegen. Wertvolle Zeit ist verlorengegangen. Erst Mitte vorigen Jahres wurde von der Re-gierung der Oberpfalz der Planfeststellungsbeschluss fürdas letzte Teilstück herbeigeführt. Dieser wird zu allemLeidwesen auch noch beklagt.Welcher Ablauf ist nun vorgesehen? Der westliche Ab-schnitt Pfreimd/Woppenhof ist im Bau und soll bis 2004fertig gestellt werden. Wer mit offenen Augen durch dieLandschaft fährt, wird feststellen, dass bei Pfreimd mitNachdruck gebaut wird. Wer aber beim Autofahren be-wusst die Augen zumacht, weil er dies einfach nicht zurKenntnis nehmen will, der sollte Acht geben, dass er nichtvom rechten Weg abkommt.Der Abschnitt Lohma/Waidhaus wurde bereits für denVerkehr freigegeben. Entsprechend der Baureife soll beiden Zwischenabschnitten Kaltenbaum/Lohma und Wop-penhof/Kaltenbaum in diesem und im kommenden Jahrmit dem Bau begonnen werden. Die gesamte TeilstreckeOst soll 2005 durchgängig befahrbar sein. Mit dem Bauder derzeit noch beklagten Teilstrecke West, also desLückenschlusses zwischen Amberg-Ost und Pfreimd, sollmöglichst noch 2005, also bereits in vier Jahren, begon-nen werden. Diese Teilstrecke wird 2008, spätestens 2009fertig gestellt sein.Erlauben Sie mir, noch etwas zu den immer wieder insGespräch gebrachten EU-Mitteln zu sagen: Es soll ja Ab-geordnete geben, die bis heute noch nicht mitbekommenhaben, dass die A 6 als Projekt der TranseuropäischenNetze gefördert wird. Brüssel hat bis jetzt 6,5 MillionenECU bewilligt. Das erste Drittel für den AbschnittLohma/Waidhaus wurde bereits abgerufen, die übrigenzwei Drittel für die derzeitigen Bauabschnitte werdennoch abgerufen. Der Folgeantrag wurde bei der EU-Kom-
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mission bereits gestellt. Das Ministerium beurteilt, ebensowie unser Europaabgeordneter Dr. Gerhard Schmid, dieChancen dafür positiv. Unser Ziel ist es, den Rahmen aus-zuschöpfen, das heißt 10 Prozent der Investitionskostenaus EU-Mitteln zu bekommen. Sie können sicher sein,dass wir dieses Geld nicht verschenken werden.Die Diskussion um den Weiterbau der A 6 offenbartauch ein eigenartiges Eigentumsverständnis der CSU.
Am besten sollten bereits morgen die Bagger anrollen, ob-wohl der Autobahndirektion Nordbayern noch nicht einmalder gesamte Grund für das Teilstück West gehört. Benötigtwerden 217 Hektar, davon 139 Hektar für die Trasse selbstund 78 Hektar für Ausgleichsmaßnahmen. Bisher wurdenvon der Autobahndirektion aber nur 107 Hektar, also rund50 Prozent, erworben. Kein Mensch kann ein Haus auf ei-nem Grundstück errichten, das ihm noch nicht gehört. Ge-nau dies verlangt die CSU jetzt von uns.Aufgrund meiner Nachfrage bei der Autobahndirek-tion hat auch die CSU das Problem der noch nicht erwor-benen Grundstücke erkannt. Jetzt stellt doch tatsächlichein CSU-Landratskandidat die Frage, warum mit demAufkauf noch fehlender Grundstücke nicht begonnenworden sei. Er müsste doch wohl mitbekommen haben,dass es dort so genannte Sperrgrundstücke gibt.Des Weiteren wird der Verdacht geäußert, dass deshalbkein weiterer Grund gekauft werden kann, weil für dasletzte Teilstück noch keine Finanzierung vorgesehen ist.Denjenigen, die solches verbreiten, kann ich nur empfeh-len, sich besser zu informieren.
Ich denke, der Fortschritt beim Grundstückserwerb fürdiesen Abschnitt spricht für sich. Der Ankauf kann näm-lich immer nur dann beginnen, wenn der Sichtvermerk fürden jeweiligen Autobahnabschnitt im Bundeshaushaltvorliegt. Das ist für den Abschnitt der A 6 Amberg-Ost/Pfreimd der Fall. In der Regel steht der gesamte Bau-grund im Eigentum des Bundes, wenn das Baurechtvorliegt und die Klagen erledigt sind. Jede Autobahndi-rektion wird Ihnen dies gerne bestätigen.Erlauben Sie mir im Zusammenhang mit Bayern nocheinige allgemeine Ausführungen zu dem Bereich Auto-bahn- bzw. Straßenbau.
Zunächst erinnere ich daran, dass die RegierungKohl/Waigel bei der Verkehrspolitik der RegierungSchröder ein Stückwerk hinterlassen hat. Der letzte Bun-desverkehrswegeplan der Regierung Kohl/Waigel wieseine Unterdeckung von 90 Milliarden DM auf. Nicht ein-mal ein Drittel der im Plan aufgeführten Projekte wurdetatsächlich verwirklicht.
– Wenn man Ihnen die Wahrheit sagt, wollen Sie es nichthören. Wenn Sie reden wollen, melden Sie sich zu Wort.Von einer Benachteiligung Bayerns durch die SPD-ge-führte Bundesregierung, wie sie von der CSU oft behaup-tet wird, kann keine Rede sein. Der Freistaat Bayernnimmt unter den alten Bundesländern einen Spitzenplatzein und profitiert zudem von den Verkehrsprojekten„Deutsche Einheit“.
Dies geschieht, obwohl der Bund überschuldet ist unddie alte Regierung zur Haushaltskonsolidierung unfähigwar.
Übrigens könnte die A 6 mit dem Geld fertig gebaut wer-den, das der Bund an drei Tagen für die von Ihnen ver-erbten Staatsschulden zahlen muss.Der Wegfall der globalen Minderausgabe im Haus-haltsjahr 2000 – ein Erfolg der bisherigen Haushaltskon-solidierung – brachte Bayern weitere 143 Millionen DM.Mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm der Bundes-regierung werden auch in Bayern Ortsumgehungen finan-ziert. 12 Millionen Tonnen Kraftstoff wurden bisher proJahr infolge von Verkehrsstaus vergeudet. Das Eng-passbeseitigungsprogramm wird mit dazu beitragen, dassunnötiger Kraftstoffverbrauch reduziert wird. Mit unserenInvestitionen in die Schiene wollen und werden wir errei-chen, dass in Zukunft ein Teil des weiter ansteigendenVerkehrs auf die Schiene verlagert wird.
Im Vergleich der Bundesländer bekommt Bayern dengrößten Geldbetrag vom Bund und gibt selbst sehr wenigfür den Staatsstraßenbau aus.
Es ist ein schlechter Faschingsscherz, wenn sich derbayerische Innenminister Beckstein hinstellt und verkün-det, Bayern werde 4,1 Milliarden DM für den Staats-straßenbau ausgeben, aber – man höre und staune – in ei-nem Zeitraum von 20 Jahren. Das sind pro Jahr geradeeinmal 200 Millionen DM. Dies geschieht, obwohl sichdie bayerischen Staatsstraßen in einem äußerst schlechtenZustand befinden. Aber gleichzeitig hat die bayerischeStaatsregierung eine Wunschliste in Höhe von 25 Milliar-den DM an den Bund aufgestellt.
Im Fordern sind also die CSU und die Bayerische Staats-regierung Weltmeister.
Ich kann nur sagen: Beckstein ist nicht nur der Herr derSchlaglöcher der bayerischen Staatsstraßen, sondern auchder Herr der Seifenblasen. Die Strategie der CSU ist es, sozu tun, als ob man mit den politischen Altlasten nie etwaszu tun gehabt hätte
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und auch nie an der Bundesregierung beteiligt gewesenwäre. Es werden unsinnige Behauptungen aufgestellt,weil Sachargumente fehlen. Wir dagegen haben die Zeitgenutzt und für den Weiterbau geworben. Wäre dieCDU/CSU weiter an der Regierung, würde die A 6 zurersten deutschen Autobahn mit Lücke.Allerdings – das muss ich gestehen – beweistBeckstein auch Realitätssinn. So hat er im Januar an denBürgermeister von Sulzbach-Rosenberg geschrieben,nach Auffassung der bayerischen Staatsregierung wäreein Lückenschluss der A 6 zwischen Amberg-Ost undPfreimd bis 2008 möglich, wenn der Bund in Fortsetzungdes von 2001 bis 2003 laufenden Zukunftsinvestitions-programms ab 2004 weitere ausreichende Mittel für denStraßenbau zur Verfügung stellen würde.Genau dies, meine Damen und Herren von derCDU/CSU, werden wir tun. Die abschließende Finanzie-rung der A 6 wird in den Verkehrshaushalten der kom-menden Jahre sichergestellt werden. Wir lassen uns nichtvon Ihnen, weder von der CDU/CSU noch von der F.D.P.,in neue Schulden treiben, sondern werden das, was wir fürunser Land tun, seriös finanzieren. Wir tun es schneller,als Ihr Antrag es verlangt, und deshalb brauchen wir auchkeine Finanzierung über die Europäische Investitions-bank.Im Antrag der CDU/CSU von heute steht: „Der Bun-destag stellt fest: ... Dies bedeutet, dass ein so wichtigesüberregionales Projekt mit Bedeutung für Europa wie dieA 6 in den nächsten zehn Jahren keine Realisierungs-chancen hat.“ Diesen Satz können wir so nicht unter-schreiben, weil er nachweislich falsch ist.
Wir werden uns hüten, heute so zu beschließen, wie inIhrem Antrag gewünscht. Ich empfehle Ihnen, sich bereitsjetzt auf die Suche nach neuen Themen zu machen. DasThema A 6 wird mit zunehmendem Baufortschritt für Sieunattraktiver werden. Sie haben vom Weiterbau der A 6immer nur gesprochen; wir werden sie bis zum Jahr 2008,also bereits in sieben Jahren, fertig bauen.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wennSie wirklich die schnelle Fertigstellung der A 6 wollen,nämlich bereits in sieben und nicht erst in zehn Jahren,dann müssen Sie konsequenterweise Ihren eigenen An-trag ablehnen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Hofbauer.
Frau Präsidentin!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber HerrKollege Strobl, ich verwahre mich gegen die Behauptung,dass wir nicht ehrlich und offen für die Oberpfalz eintre-ten. Es ist eine unverantwortliche Politik von Ihnen, dassSie nur Versprechungen machen und unseren Antrag nichtunterstützen.
– Was er vorgelesen hat, ja. Ich weiß nicht, wer ihm dieRede aufgeschrieben hat.Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht umzwei grundsätzliche Fragen. Zunächst geht es um fol-gende klare und deutliche Aussage: Wir hatten vor zehnJahren die Wiedervereinigung Deutschlands. Damalshat die ehemalige Bundesregierung ein Projekt „DeutscheEinheit“ aufgelegt. Das war richtig, das war zukunftswei-send, das war eine Perspektive für die neuen Länder.
Jetzt kommt die nächste Herausforderung, die Oster-weiterung der EU. Ich stelle hier ganz einfach und be-scheiden fest, dass diese Bundesregierung für die Ost-erweiterung kein Verkehrskonzept hat,
dass sie ohne jegliches Konzept in die Zukunft geht. Eswurden vor wenigen Monaten verschiedene Programmeaufgelegt. Zum Teil fehlt die Finanzierung dieser Pro-gramme und für die Osterweiterung ist hier nichts enthal-ten.
Deswegen besteht die zentrale Forderung der CDU/CSU-Fraktion darin, nunmehr – vergleichbar den Verkehrspro-jekten „Deutsche Einheit“ – Verkehrsprojekte „europä-ische Einigung“ zu konzipieren und konsequentumzusetzen.
Zwei dieser Projekte – dies steht in unserem Antrag – sinddie A 6 und die B 85.Es ist klar, dass vor dem Besuch des Herrn Kanzlers inOstbayern die Staatssekretäre immer wieder gesagt ha-ben, lediglich ein Teilstück werde bis 2010 fertig, das an-dere später. Erst nachdem die CDU/CSU dadurch Druckgemacht hat, dass sie diesen Antrag eingebracht hat, hatder Bundeskanzler seine Aussage dazu gemacht.
Eines muss ganz klar sein: Der Herr Bundeskanzler hatsein Versprechen, das er in Weiden gemacht hat, finanzi-ell nicht untermauert. Wir stehen ohne Finanzen da.
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Das ist der entscheidende Punkt. Dieser Antrag muss an-genommen werden, damit die von uns angeregte Maß-nahme bevorzugt umgesetzt wird. Die Finanzierung istnicht gesichert. Die Aussage des Bundeskanzlers in Wei-den von Dezember letzten Jahres ist nur dann glaubwür-dig, wenn Sie unserem Antrag auf rasche Finanzierungder Baumaßnahme zustimmen.
Ich bitte Sie sehr herzlich darum, dafür zu sorgen, dasseuropäische Gelder für dieses Projekt beantragt werden.Nach meiner Auffassung hat die Bundesregierung dasAngebot der Europäischen Investitionsbank, 300 Milli-onen DM für 15 Jahre zinslos als Darlehen zu gewähren,leichtfertig ausgeschlagen. Mit diesem Geld könnten wireinen ganz gewaltigen Schritt nach vorne machen.
Ich möchte eine weitere Bemerkung zur A 6 machen.Die Planfeststellungsvoraussetzungen bzw. der Planfest-stellungsbeschluss bestehen. Wir könnten auf der ganzenStrecke bauen, wenn die Voraussetzungen da wären.In diesem Sinne darf ich zusammenfassend feststellen:Stimmen Sie unserem Antrag zu! Wenn das geschieht,dann werden wir dieses Projekt sehr rasch beenden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Stroblist hier sehr vollmundig angetreten und hat das Wort desKanzlers hochgehalten. Vielleicht wäre es besser gewe-sen, Herr Kollege Strobl, wenn Sie einmal einen Blick indie vorliegenden Ausbauprogramme geworfen hätten.
In dem von Ihnen aufgestellten Investitionsprogrammder Jahre 1999 bis 2002 taucht der Lückenschluss der A 6von Amberg-Ost bis Pfreimd gar nicht auf. Im so genann-ten Zukunftsinvestitionsprogramm – es ist aus gutemGrund ebenfalls bis 2002 befristet – taucht der Lücken-schluss der Strecke Amberg-Ost bis Pfreimd überhauptnicht auf.
Im Anti-Stau-Programm, das erst ab 2003 gilt, und zwarnur unter der Bedingung, dass bis dahin die LKW-Mautvon der Zeit- auf die Streckenbezogenheit umgestellt ist,taucht der Lückenschluss der Strecke Amberg-Ost bisPfreimd – zumindest bis jetzt – ebenfalls nicht auf; aberdieses Programm ist schon abschließend festgestellt.Sie spucken große Töne, ohne hier konkret zu sagen,wann und wie Sie dieses Projekt finanzieren wollen. Mankann Ihnen eigentlich nur sagen: Besorgen Sie sich einenSpaten und einen Helm – vielleicht bei OBI –, damit Sievor Ort rechtzeitig mit dem Baggern anfangen können.
Der Ansatz, den der Antrag der CDU/CSU zur A6 exem-plarisch nennt, ist richtig. Wir leben in einem Land, indem die Verkehrsentwicklung seit 1960 um 900 Prozent,der Infrastrukturausbau aber nur um 50 Prozent zuge-nommen hat und in dem die EU-Osterweiterung für of-fensichtlich wesentlich mehr Verkehr sorgt, als Kapazitä-ten auf den Straßen bestehen. Dennoch scheuen Sie sichnicht, einen Antrag von uns, in dem steht, dass wir eingrenzüberschreitendes Sonderprogramm ähnlich den Ver-kehrsprojekten „Deutsche Einheit“ brauchen, um dieOsterweiterung und die Erweiterung Europas insgesamtzu finanzieren, ohne jede Begründung abzulehnen.
Wir haben dazu nicht nur Forderungen gestellt, wir ha-ben sogar aufgezeigt, wie Sie es finanzieren können.Warum fangen Sie nicht mit der Zweckbindung der Ein-nahmen aus der Lkw-Vignette an, nachdem Sie so vieleandere Möglichkeiten aufgrund der hohen UMTS-Erlösehaben? Es handelt sich zwar bei jenen nur um 850 Milli-onen DM, aber die würden schon ausreichen, um zumBeispiel die Lücke zu schließen. Das kostet knapp500 Millionen DM, Herr Kollege Strobl. Mir kommenfast die Tränen, wenn Sie sagen, aus Europa bekommenwir 6,5 Millionen DM dazu. Donnerwetter, kann ich danur sagen. Damit können Sie locker einen Autobahnkilo-meter bauen. Aber was ist dann? Danach geht es wiederauf einem zweistreifigen Feldweg weiter. Sie sollten sichselber um ein bisschen mehr Realitätssinn bemühen, be-vor Sie andere kritisieren.Wir haben Ihnen den Antrag heute noch einmal vorge-legt; Sie haben noch einmal die Gelegenheit, in seriöserWeise auf die Themen einzugehen, die wirklich anstehen,nämlich eine Umstellung der Finanzierung der Infra-struktur in Deutschland. Gehen Sie einmal in sich,schauen Sie einmal in das von Herrn Pällmann vorgelegteKonzept. Sie werden dann sehen, was wirklich nötig ist.Auf dieser Basis können wir uns einigen. Alles, was Siejetzt im Hinblick auf die Finanzierung der A 6 verspre-chen, reicht nicht aus. Das Problem beschränkt sich janicht auf den Lückenschluss zwischen Pfreimd und Am-berg-Ost; es kommt ja noch das Problem dazu, dass dieA 6 jetzt schon eine der am stärksten belasteten zweistrei-fig ausgebauten Autobahnen ist.
Diese Autobahn müsste ja bereits jetzt, da der LKW-An-teil bei über 30 Prozent liegt, von Nürnberg über Heil-bronn bis zum Autobahnkreuz Walldorf eigentlich durch-gehend sechsspurig ausgebaut werden. Darauf sind Sieüberhaupt nicht eingegangen.
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Klaus Hofbauer14591
Dieses Problem stellt sich ja auch noch, und nicht nur beider A 6; das Gleiche gilt für die A 8, für die A 3 und in Ba-den-Württemberg sicher auch für die A 7 und die A 5.
Alles, was Sie hier vorschlagen, ist eigentlich Stück-werk. Gehen Sie in sich, überwinden Sie sich, schließenSie Frieden mit sich und stimmen Sie unserem Antrag,den wir heute vorgelegt haben, zu. Dann können Sie alldie Fehler, die Sie sonst wahrscheinlich machen, vermei-den. In diesem Sinne hoffe ich auf fröhliche Beratungenim Ausschuss.Herzlichen Dank.
Wie ich sehe,
kommt auch der nächste Debattenredner aus der Ober-
pfalz. Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Wilhelm.
Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU! Mit dieser Debatte bewegen wir uns
voll im oberpfälzischen Raum. Als unmittelbarer Anlieger
eben dieser A 6 – ich komme bekanntlich aus Amberg –
freue ich mich natürlich sehr, dass auch Sie jetzt die A 6
als wichtige europäische Ost-West-Straßenverbin-
dung vorrangig ausgebaut wissen wollen.
– Ich gebe Ihnen doch absolut Recht: Tschechien wird
demnächst der EU beitreten, auf seinem Staatsgebiet ist
diese Straße bis Prag nahezu fertig gestellt, die letzte
Lücke bei Pilsen wird in diesem Jahr geschlossen sein. Es
ist auch richtig, auf deutschem Gebiet sieht es wesentlich
schlechter aus; da klafft noch eine große Lücke zwischen
Amberg-Ost und Lohma.
Schauen wir uns das Ganze vielleicht doch etwas näher
an: 1989 öffnete die damalige CSSR ihre Grenze nach
Westen, der Reiseverkehr stieg stark an und steigerte sich
in den Folgejahren immer mehr.
Was geschah? Nichts!
Wissen Sie, wer damals die Bundesregierung stellte? Ich
glaube, wir alle wissen es. Die Planung war nicht fertig
gestellt, es war kein Pfennig im Bundeshaushalt vorgese-
hen,
durch den in Auftragsverwaltung tätigen Freistaat Bayern
kein Baurecht erteilt, weil kein Planfeststellungsbe-
schluss vorlag.
Zur Erinnerung: Die Planfeststellungsbeschlüsse für die
Abschnitte zwischen Kreuz Pfreimd und Lohma ergingen
erst 1997 und 1998, für den Abschnitt Amberg-Ost bis
Kreuz Pfreimd erst im Juli 2000.
Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und der F.D.P., pressiert es Ihnen auf einmal
ganz fürchterlich.
Wie ein Regierungswechsel Ihnen doch Beine machen
kann!
Aber ich möchte hier nicht in der Vergangenheit um-
herschweifen. Das nützt nämlich niemandem, nicht den
Einwohnern der Städte Hirschau und Schnaittenbach, des
Marktes Wernberg sowie der nördlichen Stadtteile von
Amberg entlang den Bundesstraßen 299 und 14, die mehr
als erträglich von Lärm und Emissionen betroffen sind,
und auch nicht den Verkehrsteilnehmern.
Herr Kollege
Wilhelm, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja.
Herr Kollege Wilhelm,Sie haben ein sehr detailliertes Wissen zum Thema A 6.
Ist Ihnen aber auch bekannt, dass die CDU/CSU vor zehnJahren größte Anstrengungen unternommen hat,
um die Planfeststellung der A 6 zu erreichen, damit dieseStraße gebaut werden kann? Ist Ihnen bekannt, dass diedamaligen SPD-Abgeordneten aus unserer Region dieCSU für verrückt gehalten haben, da sie eine „Straße insNiemandsland“ baue?
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Horst Friedrich
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Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): So steht es oft in Arbeitszeugnissen: „Er hatsich immer sehr bemüht“,
was üblicherweise heißt: Es ist nichts passiert. – So wares doch auch.
– Sie behaupten immer, dass der LandtagsabgeordneteNentwig das gesagt habe.
Er erklärt aber sehr glaubwürdig, das nie getan zu haben.
Jetzt handelt die neue Bundesregierung.
Die bereits in die Haushalte 1999 und 2000 eingestelltenBaumittel wurden noch deutlich aufgebessert.
Aus den Mitteln zur Verringerung der globalen Minder-ausgabe gab es Verstärkungsmittel für den AbschnittPfreimd/Woppenhof und außerdem Mittel für den Baube-ginn auf dem Abschnitt Kaltenbaum/Lohma.
Noch einen Nachschlag gab es aus dem Zukunftsinvesti-tionsprogramm – zusätzlich zu den bereits zur Verfügungstehenden Mitteln – für die Ortsumgehung Vohenstrauß,also den Abschnitt Woppenhof/Kaltenbaum.
Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht.
Der Bundeskanzler hat bei seinem jüngsten Besuch in derOberpfalz die Fertigstellung dieses Abschnittes bis 2005,spätestens bis 2006 zugesichert. Schneller kann man nunwirklich nicht bauen.
Es bleibt noch der Abschnitt Amberg-Ost/KreuzPfreimd. Hier haben betroffene Grundstückseigentümermit Unterstützung des Bundes Naturschutz den geradeerst erlassenen Planfeststellungsbeschluss vor demBayerischen Verwaltungsgerichtshof beklagt. Das ist dasgute Recht der Planbetroffenen. Es ist keine Frage, dassdies in einem Rechtsstaat akzeptiert werden muss. Daherwundere ich mich schon sehr, liebe Kollegen von derCDU/CSU, dass Ihre Repräsentanten vor Ort nichts un-terlassen, um diese Kläger unter moralischen Druck zusetzen, und sie zur Aufgabe der Klage zu bewegen versu-chen.
Seien wir einmal ganz ehrlich: So Unrecht haben dieKläger ja nun wirklich nicht. Bereits in der Umweltver-träglichkeitsprüfung wurde die hier ausgewählte undplanfestgestellte Trassenvariante aus ökologischen Grün-den als die schlechtestmögliche eingestuft.
Bessere, schonendere und auch kostengünstigere Tras-senvarianten hätten zur Verfügung gestanden. Hier aberhelfen keine Parlamentsbeschlüsse, keine Haushaltsmit-tel. Hier müssen wir ganz einfach Respekt vor demRechtsstaat und seinen Gerichten haben und das Urteil ab-warten.
Nun zum Antrag der F.D.P.
Für eine Privatfinanzierung – wie auch immer man zu ihrstehen mag; ich bin da sehr skeptisch – eignet sich der ein-zig noch nicht durchfinanzierte Abschnitt Amberg-Ost/Kreuz Pfreimd nun wirklich nicht.
Auf eine private Vorfinanzierung und die damit geschaf-fenen Schattenhaushalte sollten wir uns nun wirklichnicht mehr einlassen.
Und bei einer Mautfinanzierung verlässt jeder, aber auchwirklich jeder Autofahrer die Autobahn, wenn die Lückenur 14 Kilometer lang ist und, wie hier, genügend guteUmfahrungsmöglichkeiten vorhanden sind.
Dazu, den Bundesverkehrswegeplan noch in dieserWahlperiode zu novellieren, brauchen Sie uns nun wirk-lich nicht aufzufordern. Das haben wir schon in der Ko-alitionsvereinbarung festgeschrieben.
Sie können sich darauf verlassen: Das machen wir auch.
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Eines sollte man in diesem Zusammenhang aber eben-falls sehen: Die Deutsche Bahn AG stellt im Juni die In-terregiolinie 25 mit den beiden Flügelzügen nach Pragein.Ein privater Betreiber, die britische Firma NationalExpress, wäre bereit, diese Linie im Fernverkehr, jeden-falls in der Relation München–Regensburg–Leipzig, zuübernehmen,
wenn der Freistaat Bayern auch den Regionalverkehr unddie ohnedies bisher gezahlten Regionalisierungsmittel aufdiesen Betreiber übertragen würde. Der zuständige Minis-ter heißt, nebenbei bemerkt, Wiesheu. Falls Sie es nichtwissen, liebe Kollegen von der CSU: Er gehört der CSUan.Liebe Kollegen von der CSU, bitte übernehmen Siehier die Initiative! Hier ist sie besser aufgehoben!
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU
hat 16 Jahre lang die Verkehrsminister gestellt; sie ist erst
im Jahre 1998 ausgebremst worden. Sie legt jetzt sozusa-
gen einen misslungenen Kavalierstart an der roten Ampel
hin, indem sie in ihrem Antrag feststellt:
Das deutsche Fernstraßennetz ist nicht europataug-
lich.
Man sollte diesen Antrag schon allein deswegen ab-
lehnen, weil er vielleicht demagogisch, aber ganz sicher
unsachlich ist und weil er von den Kollegen auf der rech-
ten Seite des Hauses kommt, die Verantwortung für diese
Entwicklung getragen haben.
Erstens. Wenn man den Antrag näher betrachtet, Kol-
lege Goldmann, dann muss man feststellen, dass sich die-
ser Antrag mit einem typischen Lückenschluss beschäftigt,
der teuer ist. Richtig ist, dass zuvor zehnmal mehr ausge-
geben wurde. Deswegen gibt es gute Argumente, die letzte
Lücke zu schließen. Man muss aber auch sagen, dass da-
mit nicht nur Verkehr verlagert wird. Es wird ganz sicher-
lich auch zu einem sprunghaften Anstieg des Kfz-Ver-
kehrs – das ist der induzierte Verkehr – kommen, der die
Straßen weiter füllen wird. Deswegen spricht die F.D.P.
nicht ganz zufällig von einem sechsspurigen Ausbau.
Zweitens sollten die Kosten in Relation zum Nutzen
stehen. Man muss feststellen – das ist schon am Anfang
richtig gesagt worden –, dass nicht nur ein paar 100 Mil-
lionen DM, sondern ungefähr 1,5 Milliarden DM für den
Schluss einer sehr kleinen Lücke investiert werden. Die-
ser Betrag entspricht dem Zuschuss für die Bahn aus den
UMTS-Erlösen für ein Jahr. Die F.D.P. will für diese
Strecke noch mehr Geld ausgeben, indem sie privat vorfi-
nanzieren will.
Drittens sage ich an die Adresse des Kollegen
Goldmann, der hören will, was ich dazu zu sagen habe,
dass dies nach meiner Ansicht ein Beispiel für die Pro-
blematik der gesamten Verkehrspolitik und der EU-
Verkehrspolitik ist. Zum einen wurden nach 1989/90 mas-
siv Mittel ausgegeben, damit in Tschechien die Autobahn
mit Ausnahme der Umfahrung von Pilsen gebaut wird.
Zum anderen gibt es eine Bahnreform in Tschechien,
durch die der Bahnverkehr in Tschechien massenhaft
weggebrochen ist. Daneben wird die „rollende Land-
straße“ von Dresden nach Tschechien eingestellt. Da
braucht man sich nicht zu wundern, dass Verkehr mas-
senhaft auf die Straße kommt und sechsspurige Autobah-
nen hinterher nicht mehr ausreichen.
Der Kollege Strobl, der behauptet hat, dass Verkehr
verlagert werden würde, sollte sich doch einmal das Ge-
samtergebnis anschauen. Drei bis fünf Lückenschlüsse in
einem Straßennetz können einen erheblichen Sprung für
das gesamte Netz bedeuten. Zehn bis 20 Langsam-
fahrstellen mehr bei der Bahn können aber eine Abkehr
vom Bahnverkehr bedeuten. Wenn dazu noch zwei Re-
gionalflughäfen mit ein bis zwei Landebahnen kommen,
dann darf man sich über das Ergebnis nicht wundern.
Wir sollten deshalb feststellen: Mit Blick auf den ein-
zelnen Lückenschluss kann man hinsichtlich der Ziele
von SPD und Grünen – aber nicht hinsichtlich des von der
CDU/CSU vorgebrachten Arguments bezüglich der Be-
schleunigung – Ja sagen. Mit Blick auf die gesamte Ver-
kehrspolitik muss man jedoch weiterhin Nein sagen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rudolf Kraus.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr KollegeWilhelm, Sie haben sich heute als ein wohlwollender Be-fürworter der A 6 präsentiert.
– Es mag ja sein, dass Sie das jetzt sind. Es ist aber inte-ressant, festzustellen, dass die Tatsache, nicht mehr in derOpposition zu sein, den Willen, in diesem Bereich etwas
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Helmut Wilhelm
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anderes zu sagen als früher, offensichtlich sehr beförderthat.
Herr Wilhelm hat sich immer verbal dafür eingesetzt,dass die A 6 gebaut werden soll. Aber er hat die Hürden,die genommen werden müssen, um all seinen ökologi-schen Forderungen gerecht zu werden, so hoch gemacht,dass ein Bau dieser Autobahn praktisch nicht möglich ist.
Jetzt redet er einem Provisorium, das möglicherweise sehrlange dauert, das Wort.Aber zurück zu Herrn Strobl. Herr Strobl hat heute einebescheidene Rede gehalten,
bescheiden vor allem hinsichtlich der Wünsche, die dieWähler in dieser Gegend haben. Vor der Wahl war mander Meinung, dass jetzt alles viel schneller gehen müsste.Vor der Wahl hat man gesagt: Wenn das Baurecht besteht,dann ist auch das Geld da. Jetzt ist man bescheiden undsagt: In sieben Jahren ist es noch früh genug.
Die Leute sollen doch tun, was sie wollen. Sie sind selberschuld, wenn sie an diesen Straßen wohnen.Die Situation hat sich grundlegend verändert. Heutewird deutlich, dass der politische Wille fehlt, diese Lückezu schließen. Das Geld wäre da – die Kollegen haben esausgeführt – und das Baurecht ist da. Die peinliche hart-näckige Suche nach Ausreden und Argumenten, warumetwas nicht geht, missachtet nach meiner Auffassung dieInteressen unserer Region auf das Gröblichste.Da kommen Argumente wie Eigentumsvorbehalt.Gott der Gerechte! War es denn nicht immer so, dass Bau-maßnahmen dieser Größenordnung begonnen wurden,auch wenn noch nicht alle Grundstücke im Eigentum desBauherrn waren?
Oder es wird gesagt, dass man Klagen zu beachten hat.Wie läuft denn das praktisch? Es gibt das Baurecht und dieGerichte werden erst dann entscheiden, wenn ein Auftrag– sei er auch noch so klein – erteilt wird und man zu bauenbeginnt. Wenn man will, dass dieses Argument, diese Aus-rede erhalten bleibt, wird man nicht den kleinsten Bau-auftrag erteilen.
In der Vergangenheit ist es richtig gelaufen. Da war esso: Wenn das Baurecht da war, hat man innerhalb eines hal-ben Jahres mit den Vorbereitungen der Bauarbeiten, Ab-holzarbeiten usw., begonnen. Jetzt hört und sieht man weitund breit nichts außer diesem Suchen nach Argumenten.Es gibt viele Gründe, warum jetzt gebaut werden soll.
– Sie bauen nicht die Strecke, um die es mir vor allemgeht, nämlich zwischen Amberg-Ost und Pfreimd. Manwill es nicht, obwohl es aus volkswirtschaftlichen undkonjunkturellen Gründen sinnvoll wäre. Die Bauwirt-schaft wartet auf Aufträge. Der Menschenschutz istnatürlich das Allererste, aber er wird missachtet.Es ist blamabel, was passiert. Es ist blamabel, dass sichtschechische Politiker veranlasst sehen, deutschen Politi-kern spöttischerweise zu sagen: Sollen wir euch einmalhelfen? Sie, die Tschechen, wollen der großen Bundesre-publik Deutschland helfen. Sie werden innerhalb kürze-ster Zeit fertig. Auch der Bauabschnitt Pilsen-Süd wird inabsehbarer Zeit, in wenigen Monaten oder spätestens ineinem Jahr oder in anderthalb Jahren, fertig.1989 wolltet ihr die Autobahn nicht.
Die Politiker aus der Oberpfalz haben damals nicht ge-wusst, was Sie wollen. Das betrifft übrigens alle, da ma-che ich gar keine Ausnahme. Das war ein großer Fehler.Man hat die Planungen sicher zu spät begonnen. Aber jetztsind sie fertig und die Entwicklung ist viel rasanter, als da-mals vorausgesehen. Es gibt jetzt sehr viel mehr Lastwa-gen, die durch die Dörfer donnern.Lassen Sie uns, bitte schön, alles tun, um diese Lückezu schließen und anzufangen zu bauen. Für mich ist das,was Sie vorhaben, nicht „jetzt“. Ich sagte Ihnen vorhinschon: Wenn in der Vergangenheit das Baurecht vorhan-den war, beispielsweise bei den Abschnitten östlich derNaab, hat man innerhalb eines halben Jahres zu bauen be-gonnen. Sie wollen in vier Jahren anfangen. Selbst derBundeskanzler wäre gnädiger gewesen.
Herr Kollege
Kraus, ich muss Sie auf die Zeit hinweisen.
Sofort. Wenn er die Rede,die er vorbereitet hatte, wirklich in Weiden gehalten hätte,wäre das deutlich geworden. Ich habe hier den Text. Übri-gens garantiert er den Zeitpunkt nicht, sondern sagt nur,er möchte sich darum bemühen. Das ist ja schön, aber esist halt auch „basta“.Danke schön.
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Rudolf Kraus14595
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Thomas Strobl.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf denersten Blick mag es für den einen oder anderen vielleichtein wenig unverständlich sein, weshalb der Ausbau einerBundesautobahn alleiniger Bestandteil eines Tagesord-nungspunktes einer Debatte des Deutschen Bundestagesist. Aber nachdem der Bundeskanzler dieses Thema jetztoffensichtlich zur Chefsache gemacht hat, verdient eswohl auch eine Behandlung hier im Plenum.Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koali-tion, die Regierung nimmt den Mund immer dann sehrvoll, wenn die Fernsehkameras eingeschaltet sind, schautman aber hinter die Kulissen, schaut man auf die nacktenZahlen und Fakten, dann sieht es ganz anders aus. So istes auch hier. Das vollmundige Versprechen lautet: 2008.Wir wollen einmal sehen, ob das nicht bedeutet, dass dieseAutobahn auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschobenwerden soll. Wir wollen sehen, wie es mit der Prioritäten-setzung im Bundesverkehrswegeplan steht, etwa was denAbschnitt zwischen dem Weinsberger Kreuz und demKreuz Feuchtwangen angeht. Und – von den Kollegen istschon darauf hingewiesen worden – wir wollen sehen, wiees mit konkreten Finanzierungsmaßnahmen aussieht, undwollen keine großen Sprüche.
Insgesamt ist es um die Verkehrsinvestitionen und umden Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in der Bundesrepu-blik Deutschland nicht gut bestellt. Die Mittel werden zu-nehmend zusammengestrichen. Hier sind wir generell an-derer Auffassung. Für CDU und CSU ist es eine wichtigeAufgabe der Politik, der Bevölkerung eine intakte und gutausgebaute Infrastruktur bereitzustellen. Das ist keinSelbstzweck, sondern zentraler Bestandteil einer richti-gen und wichtigen Politik zur Förderung auch der Wirt-schaft unseres Landes. Deswegen muss die Parole lauten:Straßenbau statt Autostau.Aber diesbezüglich macht die Bundesregierung nichtihren Job. Sie kürzt vielmehr bei den Verkehrsinvestitio-nen. Gegenüber dem Bundesverkehrswegeplan 1992wurde von Rot-Grün eine Senkung der Investitionsquotevon 11,3 Prozent auf 5,9 Prozent im Jahre 2002 vorge-nommen. Die Mittel für Baden-Württemberg werden indieser Legislaturperiode mehr als halbiert, und dies bei ei-nem Investitionsvolumen von 4 Milliarden DM planfest-gestellter Straßen. Mit dem, was der Bund für das LandBaden-Württemberg im Moment zur Verfügung stellt,kann dort in der gesamten Legislaturperiode kein einzigesneues Verkehrsinfrastrukturprojekt angefangen werden.Richtig ist, dass Sie mit dem Anti-Stau-Programmweitere Mittel für den Straßenbau zur Verfügung stellen.Auch dies verkaufen Sie vollmundig. In Wahrheit werdennicht einmal die Kürzungen, die Sie zuvor vorgenommenhaben, kompensiert. Das Anti-Stau-Programm bedeutetletztlich keine nennenswerte reale Steigerung der Mittelfür die Verkehrsinfrastruktur. Zudem ist zu bedenken,dass die rot-grüne Bundesregierung mit der Ökosteuerbeim Autofahrer und bei der Bevölkerung gnadenlos ab-kassiert
und dass von diesen vielen Milliarden nicht ein Pfennig indie Infrastruktur fließt. Sie sollten sich gegenüber den Au-tofahrern eigentlich schämen.
Vor diesem Hintergrund steht es auch um den Ausbauder A 6 nicht gut. Dabei ist der Ausbau dieser Bundesau-tobahn ein außerordentlich wichtiges Projekt. Diese Au-tobahn stellt eine wichtige West-Ost-Verbindung dar. DieVerkehrszunahme der vergangenen Jahre ist dramatisch;es ist eine 30-prozentige Steigerung zu verzeichnen. Ins-besondere der Anteil an Lastkraftwagen nimmt drama-tisch zu. Allein im Schwerlastverkehr hat die A 6 schonjetzt in Teilabschnitten das im Bundesverkehrswegeplan1992 für das Jahr 2010 prognostizierte Aufkommen von12 000 bis 18 000 LKW pro Tag erreicht. Allein mit derFertigstellung des Teilabschnitts Amberg–Waidhaus wür-den weitere 1 000 LKW täglich hinzukommen.Zwischen 1985 und 1995 hat sich das Verkehrsauf-kommen auf der A6 verdoppelt. Nahezu täglich stehen dieMenschen im Stau und es gibt unzählige Unfälle. Deswe-gen: Handeln Sie! Straßenbau statt Autostau!
Schon jetzt führt der extrem hohe Schwerverkehrsan-teil besonders werktags zu dramatischen Verkehrsbehin-derungen. Das Straßen- und VerkehrsplanungsbüroBender und Stahl hat in einer von der LandesregierungBaden-Württembergs in Auftrag gegebenen Studie er-rechnet, dass das Gesamtverkehrsaufkommen um weitere27 Prozent steigen wird. Dabei ist insbesondere der Anteildes Schwerlastverkehrs am Zuwachs in Höhe von 42 Pro-zent augenfällig. Damit ist die A 6 die Autobahnstrecke inDeutschland, die mit Abstand den höchsten Zuwachs desVerkehrsaufkommens verzeichnen wird. Nehmen Siedoch wenigstens diese Fakten zur Kenntnis!Beim Ausbau der A 6 ist ein gutes Kosten-Nutzen-Ver-hältnis zu erwarten. Nach dem im Bundesverkehrswegeplan1992 festgeschriebenen Verfahren zur Berechnung derKosten-Nutzen-Verhältnisse von Verkehrsinfrastrukturpro-jekten ergibt sich für die A6, errechnet anhand der aktuellenVerkehrsdaten, ein Verhältnis von 4,2. Das ist außerordent-lich hoch. Zum Vergleich: Nur 23 Prozent der positiv be-werteten Neu- und Ausbauprojekte erreichen ein Kosten-Nutzen-Verhältnis mit einem Wert über 3.Daraus folgt für uns: Der Ausbau der A 6 ist zukunfts-weisend und zwingend notwendig. Zwingend notwendigist auch, dass die genannten Abschnitte in den vordringli-chen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufgenom-men werden. Ein Kollege hatte bereits ausgeführt, dassder Bundesverkehrswegeplan noch in dieser Legislatur-periode überarbeitet wird; das werden wir uns gut merkenund wir werden Sie an Ihren Taten messen.
Meine Damen und Herren, nach Berechnungen desLandesamtes für Straßenwesen Baden-Württemberg
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würde ein in ökologischer und verkehrstechnischer Hin-sicht modernster Ausbau der A 6 vom Weinsberger Kreuzbis zur Landesgrenze Baden-Württemberg rund 420 Mil-lionen DM kosten. Das ist nicht zu viel für eine so wich-tige Infrastrukturmaßnahme. Dies gilt natürlich auch fürden entsprechenden Ausbau auf dem Gebiet Bayerns.Wenn hier nicht in naher Zukunft konsequente Ent-scheidungen für den Ausbau gefällt werden, kann vonfließendem Verkehr auf dieser Strecke nicht mehr gespro-chen werden. Dann werden sich die Räder an noch mehrStunden pro Tag nicht mehr drehen. Dies wäre fürDeutschland als Haupttransitland in Europa, aber auch fürdie Wirtschaftskraft in den betroffenen Regionen ein nichtzu unterschätzender Standortnachteil.
Achten Sie bitte
auf die Zeit.
Ich komme
zum Schluss: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Sorgen Sie
zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
für einen zügigen Ausbau der A 6! Beweisen Sie, dass in
dieser Bundesregierung neben engagierten Straßenkämp-
fern auch engagierte Straßenbauer vertreten sind!
Nehmen Sie dieses konkrete Projekt zügig in Angriff! Ich
kann Ihnen vonseiten der CDU/CSU versichern, dass Sie,
wenn Sie es denn endlich täten, dafür unseren uneinge-
schränkten Beifall hätten.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zum Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „A6 als wichtige eu-
ropäische West-Ost-Straßenverbindung vorrangig fertig-
stellen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/2910 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. ange-
nommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5229 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu dem Antrag
der Abgeordneten Annette Faße, Ulrike Mehl,
Anke Hartnagel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Gila
Altmann , Albert Schmidt (Hitzhofen),
Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherung der deutschen Nord- und Ostseeküs-
te vor Schiffsunfällen
– Drucksachen 14/2684, 14/3294 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu dem Antrag der
Abgeordneten Ulrike Flach, Birgit Homburger,
Hildebrecht Braun , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P.
Nordseeküste schützen, Küstenwache einrich-
ten, international besser zusammenarbeiten
– Drucksachen 14/548, 14/3414 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Annette Faße.
Frau Präsidentin! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Die Havarie des Holz-frachters „Pallas“ vor der Insel Amrum im Herbst 1998hat uns allen drastisch den erheblichen Optimierungsbe-darf bei der Bekämpfung von Schiffsunfällen vorgeführt.Die Bundesregierung hat aus dem Unglück unmittelbarKonsequenzen gezogen
und bereits Anfang 1999 nach einer ersten Analyse desUnfallhergangs konkrete Verbesserungen am Notfallkon-zept für Nord- und Ostsee realisiert.
– Herr Goldmann, dazu zählen die Überarbeitung der be-stehenden Alarmpläne, die Definition von Entschei-dungskriterien für den Notschleppereinsatz,
die Verlängerung des Chartervertrages bezüglich der„Oceanic“, das Aufstellen klarer Regeln zur Bestimmungder Vor-Ort-Einsatzleitung und die Ausrüstung der Mehr-zweckschiffe „Mellum“ und „Neuwerk“ mit hochfestenKunststoffschleppleinen. Das alles erfolgte schnell undumgehend.
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Thomas Strobl
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– Herr Goldmann, nun geht es weiter: Darüber hinaus hatder Bund durch vertragliche Bindung allwettertauglicheHubschrauber für Personal- und Materialtransporte fürden Seenoteinsatz bereitgestellt und auch für die ent-sprechende Personalschulung gesorgt. Außerdem ist imvergangenen Sommer eine neue gemeinsame Dienstvor-schrift „Küstenwache“ in Kraft getreten, die die Zusam-menarbeit der zuständigen Stellen bereits weiter konzen-triert hat.Sie mögen ja sagen, dass Ihnen das alles nicht aus-reicht.
Da gebe ich Ihnen Recht. Aber es geht weiter: Noch be-vor die Expertenkommission „Havarie Pallas“ ihren Be-richt vorgelegt hat, haben wir die Umsetzung internatio-naler Abkommen in Angriff genommen. Siehe da, wasfanden wir vor? – Nicht umgesetzte Übereinkommen:Erstens. Das seerechtliche Haftungsübereinkommen,das schon 1996 von der IMO überarbeitet worden ist, ver-schwand in Schreibtischschubladen. Wir haben mit Ge-setz vom 27. Juni 2000 gemeinsam die Voraussetzung ge-schaffen. – Dann geht es munter weiter.Zweitens. Das Internationale Bergungsübereinkom-men von 1989 ist bereits 1996 völkerrechtlich in Kraft ge-treten. Auch hier bestand die gleiche Situation: Dieses in-ternationale Übereinkommen hatte in Deutschlandkeinerlei Geltung. – Vollkommen klar ist, dass wir unsdafür einsetzen, dass diese beiden Übereinkommen sehrschnell von den anderen Ländern ratifiziert werden.
Klar und deutlich gehandelt hat die Regierung – unddas nicht allein, sondern gemeinsam mit den Franzosen –nach der Havarie des Tankers „Erika“. Die gemeinsamedeutsch-französische Initiative zur Verbesserung derSicherheit auf See ist ein ganz markantes Zeichen derdeutsch-französischen Zusammenarbeit. Hier geht es ummehr Sicherheit nicht nur im Hinblick auf die Tankschiff-fahrt, sondern auch auf alle Bereiche der Schifffahrt.Diese Initiative war ein bedeutender Schritt, der neueWege bei der Sicherheit des Seeverkehrs und für die eu-ropäischen Küsten aufgezeigt hat.Meine Damen und Herren, die bilaterale und inter-nationale Koordinierung ist äußerst wichtig, wenn wiran die Schiffssicherheit denken. Die Vereinbarungen, diegetroffen werden müssen – das ist vollkommen klar –,sind bilateral, aber auch weltweit zu betrachten.Das alles geschah, bevor die Empfehlungen der Exper-tenkommission vorlagen. Diese Expertenkommissionhat 30 ganz konkrete Vorschläge erarbeitet. Jetzt geht esStück für Stück um die Umsetzung oder auch Nichtum-setzung – so ist das bei einer Kommissionsarbeit – dieserVorschläge.Um diese Vorschläge zu bewerten, wurde eine intermi-nisterielle Projektorganisation eingesetzt. Hier arbeitenalle beteiligten Ressorts, die nachgeordneten Bereiche desVerkehrsministeriums, die Deutsche Gesellschaft zur Ret-tung Schiffbrüchiger und die Küstenländer zusammen.Nach der vorgesehenen Zeitplanung soll die konzeptio-nelle Phase in den acht Teilprojekten noch vor der Som-merpause abgeschlossen sein. Das alles mag Ihnen zulange dauern. Aber ich meine, der Zwischenbericht, deram 1. November 2000 vorgelegt wurde, weist klar unddeutlich einen Weg auf, den wir nur gemeinsam gehenkönnen. Ehe wir hier im Hauruckverfahren kurzfristighandeln, sollten wir uns intensiv mit den Inhalten be-schäftigen.Ein Vorschlag der Kommission betrifft das Havarie-kommando. Dieses soll
die bisherigen Einrichtungen ersetzen.Die Vermeidung von Havarien steht natürlich im Zen-trum unseres Sicherheitskonzeptes.
Daher haben wir die Einführung eines Havariekomman-dos mit einheitlicher Einsatzstruktur ausdrücklich be-grüßt, zumal keine Grundgesetzänderung notwendig ist.Bund und Küstenländer haben sich bereits auf eine Grob-struktur geeinigt. Im Mittelpunkt steht ein „Maritimes La-gezentrum“, das rund um die Uhr einsatzbereit sein soll.Beim Vorliegen von komplexen Schadenslagen wird derLeiter des Havariekommandos alarmiert. Dieser setztdann die einheitliche Einsatzleitung in Gang, die mit ei-nem Durchgriffsrecht auf alle erforderlichen Einsatz-kräfte des Bundes und der Küstenländer ausgestattet wird.Dies ist ein großer Fortschritt angesichts der unterschied-lichen Kompetenzen der einzelnen Bundesministerien so-wie des Bundes und der betreffenden Länder. Das Grob-konzept steht also. Sie sollten sich erst einmal ein wenigschlauer machen, ehe Sie die Ansicht vertreten, in dieserHinsicht passiere nichts.
Mit der Reform der Seeunfalluntersuchung nach demVorbild der Flugunfalluntersuchung greift die Bundesre-gierung einen weiteren Vorschlag auf. Künftig wird derSchwerpunkt noch stärker auf die Vermeidung von Un-fällen gelegt. Erstmals soll die objektive Ursachenfest-stellung von der Untersuchung individueller Fehler unddem Patententzug getrennt werden. Es wird erwartet, dassdie Bundesregierung ihren Gesetzentwurf zur Reformumgehend vorlegen wird. Dann sind wir in den Fachaus-schüssen gefordert.Der flexible Einsatz der Kräfte kann aber nur sicherge-stellt werden, wenn auch die Verantwortlichen für das Un-fallmanagement und alle Einsatzkräfte umfassend ausge-bildet und ständig geschult werden.
Wir wissen, dass das ein ganz wichtiger Faktor ist, und wirwerden dem auch gerecht. Sie wissen, dass dazu an derKüste die verschiedensten Übungen stattgefunden haben.Dazu gehört auch die Frage der Ausrüstung. Auch diesist nicht nur national, sondern weltweit zu regeln.
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Annette Faße14598
Ein zweiter großer Komplex, der in diesem Jahr zurEntscheidung ansteht, betrifft die ausreichende Not-schleppkapazität und die Kapazität für Feuerlösch-schiffe und Schadstoffunfallbekämpfungsschiffe. Auchhier – das sage ich ganz deutlich – geht es uns nicht da-rum, ganz schnell zu sagen, was notwendig ist, sondern esgeht uns darum, dass wir inhaltlich korrekt argumentie-ren. Darum hat das Ministerium Gutachten in Auftraggegeben. Die Ergebnisse der Studien sowie einer Compu-tersimulation beim Amt für Seeschifffahrt und Hydro-graphie in Hamburg müssen abgewartet und ausgewertetwerden.
So lange wird der Chartervertrag mit der „Oceanic“verlängert werden. Die „Oceanic“ bleibt weiter vor Ort,bis entschieden ist, welche Kapazitäten wir genau benöti-gen.
Auch die Diskussion um ein so genanntes Sicherheits-schiff, die wir jetzt führen, nehmen wir sehr ernst. Ange-sichts der Tatsache, dass die „Oceanic“ über 30 Jahre altist, müssen wir uns mit der Frage auseinander setzen, obwir ein anderes Schiff benötigen. Es ist noch nicht ent-schieden, ob das sein muss oder ob unser altes Konzept,das auf einer Kombination von Aktionen der DeutschenGesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, der durchge-henden Schifffahrt und der vorhandenen Mehrzweck-schiffe beruht, ausreicht.Diese Regierung und wir als Parlament sind sehr wohlgefordert, die Sicherheit an Nord- und Ostsee ernst zunehmen. Wir tun dies. Wir haben nicht nur auf die Vor-schläge der Expertenkommission gewartet, sondern be-reits gehandelt. Wir werden die vorliegenden 30 Vor-schläge erörtern und wir werden das diesbezüglicheVorgehen im Gesetzgebungsverfahren oder gemeinsammit den betroffenen Ländern abstimmen. Wir sind hiersehr viel konsequenter, als Sie es in der Vergangenheit ge-wesen sind. Unser gemeinsames Anliegen, denke ich, isteindeutig: Die Sicherheit muss erhöht werden. Unfälle ander Küste können wir uns nicht erlauben.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Börnsen.
FrauPräsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!Die Änderung von Dienstvorschriften als einzige aus der„Pallas“-Katastrophe zu ziehende Konsequenz reichtwirklich nicht aus.
Die Bundesregierung handelt in Sachen Seesicherheitnach der Devise: Wer am Ruder ist, reißt selten das Steuerherum. Dabei wäre ein Kurswechsel das Gebot derStunde. Käme es heute in deutschen Gewässern zu einerSchiffskatastrophe, würde nur Beten helfen. Trotz allertechnischen und organisatorischen Änderungen seit dem„Pallas“-Desaster 1998 ist bei einem Super-Ölgau derzeitkein erfolgreicher Katastrophenschutz gewährleistet.Noch diskutiert man ein Havariekommando,
noch brütet man über gemeinsamen Einsatzplänen vonBund und Ländern, noch ist man dabei, Kompetenzen neuzu bestimmen. Aber nicht Reden, Handeln ist bei Kata-strophen angesagt!
Jeden Tag könnte man vor einer extremen Notlage stehen.Nicht nur die Frühjahrsstürme stehen bevor.Der Schiffsverkehr in der Deutschen Bucht nimmt im-mer mehr zu. Jährlich zählt man in der Nordsee 160 000Schiffe, 438 täglich. An der Ostseeküste sind es nochmehr, 227 000 Schiffe jährlich, täglich 621. Havarien sindnicht ausgeschlossen. Doch diese Feststellungen reichenfür ein Katastrophen-Szenario nicht aus.Die Schiffseinheiten werden immer größer. Das heißt,Riesentanker mit mehr als 100 000 Tonnen Öl sind jetztauch in der Ostsee täglich unterwegs. Jeden Tag fahrenfünf große Massengutfrachter durch die Enge zwischenFehmarn und Lolland. Allein in diesem Seegebiet sindJahr für Jahr 50 000 Boote unterwegs. Es gibt weder eineRadarüberwachung noch eine Verkehrslenkung.
Es gibt höchstens den Wunsch nach einem Lotsen. Er istdort keine Pflicht. Jeden Tag kann es zu einer Gefährdungvon Mensch, Küste und der Umwelt kommen.
Dies gilt nicht nur für diesen Teil der Ostsee, sonderngenauso für die Nordsee. Seit 1994 haben wir eine Küs-tenwache, zwei Küstenwachzentren, in Neustadt und inCuxhaven. Ausbaupläne dieser begonnenen Konzentra-tion lagen bei Ihrem Regierungsantritt vor. Sie sind vonIhnen aber nicht aufgegriffen worden, obwohl unsereBundestagsfraktion darauf gedrängt hat. Erst nach der„Pallas“-Havarie begann der damalige Bundesverkehrs-minister – wie hieß er noch? – Franz Müntefering,
die Vorlagen aufzugreifen. Doch statt sie in die Tat umzu-setzen, wurden Gutachteraufträge vergeben. Mit demWechsel zu Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmtänderte sich die Arbeitsmethode, jedoch nicht die Hand-lungsaktivität.
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Annette Faße14599
Es wurde die Grobecker-Kommission eingerichtet,allerdings mit der falschen politischen Vorgabe, Verbes-serungen für ein Notfallkonzept vorzuschlagen, ohne je-doch Grundgesetzänderungen diskutieren zu dürfen.
In diesem Gremium wurden See- und Sicherheitsfach-leute von Beginn an eingeengt. Ihnen blieb nur ein Weg:Schwachstellen bei Technik und Organisation zu benen-nen. Deren bürokratische Aufarbeitung wird jetzt als Jahr-hundertreform gefeiert.Experten von der Küste, Kapitäne, Fachleute für See-verkehr, bezeichnen das jetzt in Rede stehende Havarie-kommando als gerade noch „ammerseetauglich“, als Bei-behaltung eines Flickenteppichs,
als nicht geeignet für den Katastrophenfall. Es fehlt an ei-nem Bekenntnis und an Taten, um zu einer einheitlichennationalen Küstenwache zu kommen. Es fehlt ein Seeka-tastrophenschutz aus einem Guss, nicht getrennt nachBundes- und Landeskompetenzen.
Wenn Staatsverträge ein solches einheitliches Krisen-konzept nicht sichern, muss es zu einer Grundgesetzän-derung kommen.
Wenn ideologische Scheuklappen ein Bündnis von zivilenund militärischen Seekatastrophenkräften ausschließen,ist Regierungshandeln erforderlich. Wenn es zwischen vierBundesministerien, die alle für Seeaufgaben zuständigsind, und fünf Bundesländern mit jeweils drei Ministeriennicht zu einer Einigung kommt, muss die Bundesregierungendlich handeln.
Noch immer gibt es eine geteilte Zuständigkeit: DieBGS-Boote unterstehen dem Bundesinnenminister, dieZollboote dem Bundesfinanzminister, Fischereischutz derMinisterin für Verbraucherschutz und weitere Schiffedem Bundesverkehrsminister. Noch immer sind die Booteder Wasserschutzpolizeien der Länder im Normalfallscharf getrennt von den gut 100 Schiffen der Bundesar-mada. Das ist eine gemischte Raubtiergruppe und nichtsanderes.
Noch immer ignoriert die politische Leitung den mi-litärischen Seeschutz, die kompetenten Katastrophen-fachleute der Bundesmarine. Im Glücksburger Flotten-kommando – einige wissen, wovon wir hier sprechen –sorgt der Duty Commander dafür, dass seit mehr als40 Jahren die Marine 24 Stunden am Tag in einem Not-oder Katastrophenfall sofort mit Booten, Hubschraubernund Flugzeugen eingreifen kann.
Doch diese Erfahrung wird nicht genutzt.Die Grobecker-Kommission war nicht beim Flotten-kommando; sie durfte, konnte oder wollte nicht. Das sindideologische Scheuklappen. Die muss man ablegen, wennman zu einem Katastrophenschutz aus einem Guss kom-men will.
Für mehr Seesicherheit zu sorgen ist ökonomisch sinn-voll und international geboten. Dänemark, Schweden,Frankreich und Norwegen praktizieren es, die VereinigtenStaaten seit über 200 Jahren. Nur wir dümpeln in Klein-Klein, vermerken mit Besorgnis, dass wir möglicherweiseAbteilungen reduzieren müssen.Alles drängt auf einen Kurswechsel. Aber jetzt sperrtsich leider auch der dritte Bundesverkehrsminister unddas ist das eigentliche Problem. Ein ständiger Wechsel,drei Bundesminister in 24 Monaten – wie kann man da zueiner Kontinuität kommen? Jeder Bootsbesitzer weiß,man kann nur steuern, wenn das Boot in Fahrt ist. DieChance zum Kurswechsel hat der neue Bundesver-kehrsminister Bodewig, doch er paddelt nur. Er sorgtnicht dafür, dass es zu einer Kursänderung kommt.
Es bleibt Aufgabe des gesamten Parlaments, darauf zudringen, dass wir endlich zu einem einheitlichen Kata-strophenschutz auf See kommen. Es ist unsere Aufgabe,das umzusetzen, was der Schleswig-Holsteinische Land-tag unter Einbindung von Sozialdemokraten, Christde-mokraten, Bündnisgrünen und Freien Demokraten vorknapp zwei Jahren beschlossen hat. Dort wurde eineGrundgesetzänderung, eine einheitliche Lösung beimSeekatastrophenschutz gefordert. Diese Aufforderung desSchleswig-Holsteinischen Landtags ist nicht aufgegriffenworden.
Sie war wegweisend und sollte nun endlich vom neuenBundesverkehrsminister umgesetzt werden.
Der Bundesrechnungshof hat für eine solche Einheitplädiert. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundes-tages und jetzt auch die EU-Kommission haben ein ein-heitliches nationales Konzept in allen Ländern gefordert.
Das muss jetzt sein. Dafür können wir gemeinsam in die-sem Parlament sorgen, wenn Sie unserer Initiative zu-stimmen. Wir brauchen eine Leitstelle für Seesi-
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Wolfgang Börnsen
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cherheit aus einem Guss und nicht Kompetenzen ne-beneinander. Das muss das Ziel sein. Wir sind aufgeru-fen, für diesen gemeinsamen Seekatastrophenschutz zusorgen.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Redezeit!
Das
jüngste Beispiel, das Tankerunglück vor den Galapagos-
inseln, sollte uns allen zu denken geben und uns veran-
lassen, wirklich zu handeln und darüber nicht immer nur
zu reden.
Danke schön.
Ich erteile jetzt
das Wort der Kollegin Gila Altmann in ihrer Funktion als
Abgeordnete.
Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Börnsen,
ich kann nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe! Hat man Sie end-
lich von der Kette gelassen! In den Zeiten, als wir noch in
der Opposition waren, habe ich immer ein bisschen Sym-
pathie für Sie gehabt;
denn Sie waren damals der einsame Rufer in der Wüste
und hatten ein halbwegs offenes Ohr. Aber ansonsten wa-
ren Sie ziemlich ignorant.
Sie haben die Galapagosinseln angeführt. Welche Kon-
sequenzen hat denn die damalige Regierung aus dem Un-
glück der „Amoco Cadiz“ oder der „Exxon Valdez“ gezo-
gen? Hier herrschte bei Ihnen Schweigen im Walde.
– Das wollen wir besser machen. Herr Börnsen, Ihre
Wünsche werden erfüllt. Sie rennen bei uns offene Türen
ein.
Aber was man auch einmal klarstellen muss: Ihre Re-
gierung hat den Bereich Sicherheit links liegen gelassen.
Das Gewürge um den Sicherheitsschlepper „Oceanic“
füllt inzwischen ganze Aktenordner.
Aber auch für die Ostsee gab es weder ein Sicherheits-
konzept noch Daten über Verkehrsaufkommen und Ge-
fährdungspotenziale.
Die internationalen Übereinkommen, die Frau Faße ange-
sprochen hat, wurden einfach ignoriert und vergessen. In
den letzten zwei Jahren, Herr Goldmann, haben die Bun-
desregierung und die Koalitionsfraktionen Liegengelas-
senes mit einer Reihe von Maßnahmen aufgeholt.
– Diese Maßnahmen hat Frau Faße sehr ausführlich er-
klärt.
Gestatten Sieeine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Nein, ich gestatte sie nicht.
Nach der Ölkatastrophe durch die „Erika“ vor der fran-zösischen Küste hat endlich auch die EU-Kommissionreagiert.
– Wir haben schon nach dem Unglück der „Pallas“ rea-giert, das genau in den Regierungswechsel gefallen ist.Die Hafenstaatkontrolle soll verschärft werden.
Es soll strengere Bestimmungen für die Klassifikations-gesellschaften geben. Auch die „Großvaterregelung“ sollverschärft werden.
Weltweit gibt es zurzeit 6 400 Tanker. Davon sind40 Prozent älter als 20 Jahre. 80 Prozent aller Tanker ha-ben keine Doppelhülle.
Je nach Tonnage sollen diese „Eierschalentanker“ zwi-schen 2005 und 2015 endlich ausgemustert werden. Solltedieser Vorschlag auf der IMO-Konferenz im April diesesJahres nicht zufriedenstellend angenommen werden, willdie EU diese Regelung im Alleingang beschließen.Das heißt, 80 Prozent aller Tanker müssen bis 2015ausgemustert werden. Das wird noch einen erheblichenSturm im Wasserglas verursachen. Die Reeder werden
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Wolfgang Börnsen
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sich natürlich dagegen sperren; denn das Ganze hat aucheine wirtschaftliche Seite. Ich bin gespannt, wie Sie sichin dieser Situation verhalten und auf wessen Seite Sie sichschlagen werden.
Das zweite Maßnahmenpaket der EU – Erika II – sollstrengere Kontrollen des Seeverkehrs mit der Erweite-rung der Melderichtlinien auf alle Schiffe statt wie bishernur für Gefahrguttransporte durchsetzen. Auch geht es umdie Ausrüstung von genügend Häfen als Schutzhäfen. Beider „Erika“ hätte das Einlaufen in einen Schutzhafen,wenn es ihn denn gegeben hätte, mit großer Wahrschein-lichkeit das Auseinanderbrechen verhindert.Aber wir haben uns noch mehr vorgenommen. In derDeutschen Bucht gibt es pro Jahr 160 000 Schiffsbewe-gungen. Unfälle in diesem Seegebiet bedrohen das ein-zigartige Wattenmeer. Nach einem Ölunfall – das ist unsallen klar – wäre eine Regeneration ausgeschlossen. DieseLandschaft wäre dann vollständig zerstört. Deshalb wol-len wir das Wattenmeer als besonders sensibles Seegebietim Sinne der IMO-Regelung ausweisen. Außerdem müs-sen wir die Einrichtung küstenferner Schifffahrtswegeprüfen. Das wird genauso wie die Zusammenarbeit undKoordination mit den übrigen Anliegerstaaten im Falle ei-nes Schiffsunfalls ein Thema auf der 9. TrilateralenWattenmeerkonferenz im Oktober in Esbjerg sein. Auchdas hat uns die „Pallas“ gelehrt.Bei der Ostsee gibt es weiteren Handlungsbedarf. Dermassive Neu- und Ausbau von Ölverladeterminals inden NUS-Staaten, also den Nachfolgestaaten der UdSSR,führte in den letzten Jahren zu einem wachsenden Tan-kerverkehr zu und von diesen Häfen. In der Ostsee – ichhoffe, Herr Börnsen, Sie stimmen darin mit mir überein –gibt es zurzeit jährlich 227 000 Schiffsbewegungen, alsomehr als in der Deutschen Bucht. Hinzu kommt der jähr-lich anwachsende Querverkehr durch Fähren.Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ja und?)In den letzten zwei Jahren gab es aber auch in der Ka-detrinne – das ist das nur wenige hundert Meter breite Na-delöhr zwischen der Insel Darß und der dänischen InselFalster – zehn Beinahe-Katastrophen. Die letzte war vorknapp zwei Wochen. Dabei lief ein Massengutfrachter aufGrund.
– Herr Goldmann, Sie sind einfach nur ignorant. Das stehtIhnen als Politiker nicht besonders gut, muss ich sagen.Ein Schiffsunfall würde sich dort nicht nur auf denTourismus auswirken, sondern wäre für das EU-Vogel-schutzgebiet „Vorpommersche Boddenlandschaft“ einvergleichbares ökologisches Desaster wie im sensiblenWattenmeer. Deshalb, Herr Goldmann, sind wir dabei,vergleichbare Sicherheitskonzepte für die Nordsee unddie Ostsee aufzustellen.
– Sie hatten 29 Jahre Zeit; wir arbeiten seit zwei Jahrenauf Hochtouren.
Es geht jedoch nicht nur um Tanker, sondern um alleSchiffe. Zur Erinnerung: Die „Pallas“ war ein Holzfrach-ter. Deshalb müssen unbedingt alle Schiffstypen in Maß-nahmen zur Verbesserung der Schiffsicherheit einbezo-gen werden. Auch geht es nicht nur um Katastrophen.
Ich rede auch von Verschmutzungen betrieblicher Art, wiesie durch das Reinigen von Tanks und das Ablassen vonLadungsresten entstehen. Dadurch gelangt jährlich mehrÖl ins Meer als durch Havarien. Hier wird es zukünftigum andere Antriebsstoffe und -techniken gehen müssen,die solche Aktivitäten überflüssig machen.Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt hinwei-sen: Die meisten Schiffsunfälle sind auf menschlichesVersagen zurückzuführen. Maschinen können auch in Zu-kunft die Arbeit von Menschen nur unterstützen, nichtaber vollständig übernehmen. Deshalb wollen wir einebessere Qualifizierung der Seeleute vorantreiben undvorhandenes Know-how sichern.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir können – dasgilt auch für eine rot-grüne Regierung und die sie tragen-den Koalitionsfraktionen – Schiffsunfälle künftig nichtverhindern. Aber wir können die Wahrscheinlichkeit einesUnfalls minimieren und Konzepte für den Notfall erar-beiten. Wie viel hier international, aber auch nationalnoch zu tun ist, haben die Katastrophen vor der französi-schen Küste und vor den Galapagosinseln sowie der Un-tergang eines Tankers vor Taiwan gezeigt.Letztendlich geht es aber auch um eine neue Energie-politik, wie sie die Bundesregierung eingeleitet hat, dievom Öl unabhängig macht
und viele dieser Transporte überflüssig machen könnte.Vielen Dank.
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich dem Kollegen Koppelin das Wort.
Ich hätte natürlich gern derKollegin Altmann eine Frage gestellt. Da sie sie nicht zu-
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Gila Altmann
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gelassen hat, muss ich zum Mittel der Kurzinterventiongreifen.Die Kollegin Altmann hat selbstverständlich dasRecht, als Abgeordnete des Deutschen Bundestages zusprechen. Aber die Kollegin Altmann ist auch Parlamen-tarische Staatssekretärin im Umweltministerium. DasUmweltministerium ist gerade bei dieser Frage entschei-dend tangiert. Nach unserer Auffassung haben bei diesemThema in der Vergangenheit – ich nenne nur das Stichwort„Pallas“ – mehrere Umweltministerien entscheidend ver-sagt; das gilt auch für das Bundesumweltministerium. Esist unsere Aufgabe als Abgeordnete, egal ob wir auf derRegierungsseite oder in der Opposition sind, die Regie-rung zu kontrollieren. Wir haben neuerdings allerdingsden Zustand, dass die Abgeordnete Altmann die Parla-mentarische Staatssekretärin Altmann kontrolliert. Das istzwar zulässig, widerspricht aber eindeutig meinem Parla-mentsverständnis.
Zur Erwiderung
gebe ich der Kollegin Altmann das Wort.
Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Kollege Koppelin, Sie werden es nicht glau-
ben; aber ich bin Ihnen für die Möglichkeit sehr dankbar,
hier eines klarstellen zu können: Sie verbreiten das Mär-
chen von der Federführung, obwohl Sie es eigentlich bes-
ser wissen müssten. Sie wissen, dass das Umweltministe-
rium in diesem Bereich nicht die Federführung hat,
sondern vom Verkehrsministerium beteiligt wird. Sie wis-
sen auch – ich glaube, das stört Sie am meisten –, dass ge-
rade ich in meiner Funktion als Verkehrspolitikerin in der
letzten Legislaturperiode den Bereich Schiffssicherheit
sehr intensiv bearbeitet habe und Ihnen in Punkt und
Komma immer vorgeführt habe, wo die Schwächen Ihrer
Politik gewesen sind. Gerade das, was Herrn Börnsen
heute angemahnt hat, könnte aus den Reden von Frau
Faße und mir zusammengeschrieben worden sein. Ihren
Scherbenhaufen und Ihre Altlasten im Bereich des Küs-
tenschutzes, die wir beim Regierungswechsel übernom-
men haben, haben wir zunächst einmal zu beseitigen ver-
sucht, und das in einer Situation, in der wir auch den
Unfall der „Pallas“ zu regeln hatten.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michael Goldmann.
Sie meinen, ichbin schon erschöpft. Frau Kollegin Faße, Sie werden sichwundern, ich bin noch lange nicht erschöpft.Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am 25. Oktober 1998
– du wolltest mich nicht unterbrechen, hast du mir vorhinversprochen – geriet der Holzfrachter „Pallas“ in däni-schen Gewässern in Seenot;
es gab ein tagelanges Kompetenzwirrwarr; vor Amrumkam es zu einer bösen Strandung mit großen Umwelt-schäden. Wir alle waren uns darin einig: Schnell, ganzschnell sollte möglichst viel getan werden.
Heute, über zwei Jahre später, liebe Kollegin Faße,müssen wir gemeinsam feststellen: Auf nationaler Ebenehat sich im Kern nichts getan.
Liebe Kollegin Faße, Sie müssen einmal mit Ihrer Kol-legin Janz sprechen. Sie kennt sicherlich den Bericht, derim „Weser-Kurier“ erschienen ist. Er ist mit der Über-schrift „Küstenschutz in der Flaute“ überschrieben. Wei-ter heißt es: „Auch über zwei Jahre nach Pallas-Havariefehlt Leitstelle für den Katastrophenfall“. Der Kommen-tar ist mit „Gefährliche Dümpelei“ überschrieben. Nachdem Bericht reagierte Ihre Kollegin Janz mit Kopfschüt-teln und Entsetzen auf die Ankündigung von Gert-JürgenScholz von der Projektgruppe „Maritime Notfallvor-sorge“ des Bodewig-Ministeriums, erst im Frühjahr mitLösungen zu kommen.
Wer hat denn nun Recht? Ich denke, in diesem Falle habeich Recht.
Ich will noch eines nachlegen: Wenn Sie erklären, eshabe sich etwas getan, muss ich Ihnen sagen: Am 7. De-zember 2000 hat der Kollege Koppelin zusammen mit an-deren Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion eine Kleine An-frage gestellt. Was ist aus den 30 Empfehlungengeworden? Sie haben vorhin gesagt, daraus sei etwas Tol-les geworden. Bis in der Antwort das erwähnt wird, wasSie vorhin ansprachen, muss man immerhin bis Punkt 6lesen. Ich will Ihnen das einmal vorlesen:Zu nennen sind hier die Ausrüstung der Mehrzweck-schiffe der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung desBundes „Mellum“ und „Neuwerk“ mit– man höre und staune –hochfesten Kunststoff-Schleppleinen und zusätzli-chen Draggen für die Aufnahme eigens ausgebrach-ter Anker.Das ist passiert.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Jürgen Koppelin14603
Für die übrigen Empfehlungen, die gegeben werden,lauten die Antworten: „Mitte 2001“, „Anfang 2001“, „Wirprüfen“, „Wir überprüfen“, „Wir sprechen miteinander“.Es ist überhaupt nichts passiert, was dazu beitragenkönnte, den Küstenschutz zu verbessern.
Auf nationaler Ebene ist nichts passiert, was die See-schifffahrt betrifft.Ich will Ihnen noch etwas sagen, da Sie die IMO sosehr herausheben. Immerhin haben wir, liebe KolleginFaße – Sie sind auch Mitglied der Binnenschifffahrts-gruppe; Sie sollten einmal zuhören –, im Dezember 2000eine dicke Überschrift „Durchbruch bei weltweitemneuen Schiffssicherheitssystem“ in einem Bericht derIMO lesen können. Das war auch wichtig. Nachdem die„Erika“ koppheister gegangen war und nachdem ein itali-enischer Chemietanker koppheister gegangen war, ist aufeuropäischer Ebene etwas passiert; aber national ist nichtspassiert.Die Dinge, die Sie hier ansprechen – Sie wissen dasauch –, sind in dem Bericht erwähnt. Es heißt dort, sogardick gedruckt, dass ab 2004 – man höre und staune – diebisher nur auf nationaler Ebene angewandten Regelnweltweit gelten sollen, die sich aber nur darauf beziehen,dass eine Blackbox bei den Schiffen eingerichtet werdensoll, um Kollisionen zu vermeiden. Das ist die in-ternationale Antwort, die richtig und notwendig ist; aberim nationalen Bereich hat sich überhaupt nichts getan. Inden Bereichen, in denen Sie national tätig sind – wenn eszum Beispiel um die Auflösung der Seeämter geht –, be-schreiten Sie einen Weg, den jeder Fachmann als völligfalsch bezeichnet.Man kann kurz und gut ein relativ simples Fazit ziehen:Nach den Anträgen, die im Oktober 1998 auf den Weg ge-bracht worden sind – wir waren ja damals ziemlichschnell –, ist eindeutig nichts getan worden; es ist nichtszum Schutz der Küste getan worden und es ist nichts ge-tan worden, um die im Grunde genommen wunderbareRessource Meer für unser Land zu nutzen. Das muss manIhnen ganz massiv vorwerfen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Janz?
Gerne.
Herr Kollege Goldmann, da Sie eben
einen Artikel des „Weser-Kurier“ benutzt und behauptet
haben, das sei mein Zitat: Würden Sie mir bitte bestätigen,
dass das, was Sie eben vorgelesen haben, die Rhetorik des
Journalisten war und nicht meine? Das sind nicht meine
Worte. Sie müssen, wenn Sie schon zitieren, bitte auch
richtig zitieren
und sollten hier nicht mit falschen Behauptungen eine
Differenz innerhalb der SPD-Fraktion unterstellen.
Liebe Kollegin,
ich kann den Artikel relativ gut lesen. Ich habe ihn grün
angestrichen,
damit ich ihn hier gut vorlesen kann. Da heißt es:
Und so löste die Ankündigung von Gert-Jürgen
Scholz von der Projektgruppe Maritime Notfallvor-
sorge des Bodewig-Ministeriums, erst im Frühjahr
einen Konzept-Entwurf vorzulegen, bei den Abge-
ordneten der so genannten SPD-Küstengang Kopf-
schütteln aus. Deren Sprecherin Ilse Janz sowie
Ulrich Gudat vom Kieler Innenministerium hielten
Scholz vor, dass es „politischer Wille“ sei, die nöti-
gen Konsequenzen aus der Pallas-Havarie zu ziehen
und dass man das auch schnell könne, wenn man „es
wirklich will“.
Im Januar 2001 stellen Sie fest, dass das Ministerium
es ganz offensichtlich nicht will, weil es ja wohl ganz of-
fensichtlich nicht schnell und qualifiziert auf das reagiert
hat, was hier in Anträgen aller Fraktionen im Deutschen
Bundestag zum Ausdruck gebracht wurde.
Herr Kollege,
gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Ich gestatte auch
eine Zwischenfrage meines Kollegen Koppelin.
Lieber Herr Kollege
Goldmann, wie bewerten Sie es denn nach dieser Frage,
dass bei diesem wichtigen Thema die norddeutschen Bun-
desländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen,
Bremen, die ja alle SPD-regiert sind, heute nicht auf der
Bundesratsbank vertreten sind und das Wort ergreifen?
Das ist etwas, wasmich im Kern trifft – bei aller Diskussion um bestimmteDinge und auch der einen oder anderen hektischen Ausei-nandersetzung. Es ist wirklich so, liebe Kollegen von derKüste: In Deutschland gibt es kein Bewusstsein für dieKüste, auch bei vielen Vertretern hier im Bundestag nicht.
– Liebe Kollegin, wir nutzen die Chancen des Meeresnicht nur im Hinblick auf Verkehr, sondern auch im Hin-
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blick auf Meerestechnologie, im Hinblick auf Gesundheitaus und mit dem Meer, im Hinblick auf die Ernährungs-basis Meer, im Hinblick auf die globalen Entwicklungen,die wir vorhaben, völlig unzureichend. Sie wissen dasganz genau. Wir sollten uns in solchen Fragen, wie sieheute hier zur Beantwortung anstehen, schlicht und er-greifend einig sein. Sie sollten ganz simpel sagen: Wirsind maßlos enttäuscht vom Verkehrsminister und vomMinisterium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
Herr Goldmann,
Sie müssen dem Kollegen Koppelin antworten und nicht
der Kollegin Janz. Sonst ist es einfach nur eine Verlänge-
rung Ihrer Redezeit.
Ich will ganz per-
sönlich noch ein Wort zu Frau Altmann sagen.
– Ich habe doch mitgekriegt, dass er noch steht.
Frau Altmann, ich habe Sie als Kämpferin erlebt für
Dinge, die ich nicht richtig fand. Aber wenn Sie hier an-
deren vorwerfen, man habe sie sozusagen an die Kette ge-
nommen, dann kann ich nur sagen: Sie sind an der Kette
und haben auch noch einen Maulkorb.
Das ist schon wirklich schlimm. Damals sind Sie in
Schleswig-Holstein auf der „Pallas“ herumgehüpft.
Allen haben Sie signalisiert, was Sie tun wollten und was
Sie tun könnten.
Ich kann nur sagen: Lesen Sie sich bitte noch einmal die
Empfehlungen durch und vergleichen Sie sie mit dem,
was Sie erreicht haben! Dann können Sie in dieser Frage
nur noch in Schutt und Asche gehen.
Zu einer Kurz-
intervention erhält die Kollegin Faße das Wort.
Sehr geehrter Herr Goldmann!
Die Vorwürfe, die Sie hier erhoben haben – Sie haben
mich ja auch zitiert und gesagt, dass ich das alles nicht
richtig sehe –, weise ich ganz energisch zurück.
In Oppositionszeiten haben wir, die Grünen und die SPD,
hier ganz einsam und verlassen für jede einzelne Position
gekämpft, die mit Schiffssicherheit zu tun hatte,
vom Lotsenwesen bis zur Zusammenarbeit an der Küste.
Das war ein ganz mühsamer Kampf und in der Regel
haben wir keine Mehrheit gefunden.
Glücklicherweise hatte diese Regierung das Sagen, als
das bereits erwähnte Unglück geschah. Durch diesen Fall
wurde klar, dass es in vielen einzelnen Bereichen große
Mängel gab. Das ist nicht zu leugnen. Diese Mängel ha-
ben nicht wir, sondern Sie zu verantworten; denn sie stam-
men aus Ihrer Regierungszeit.
Wir haben sehr schnell ganz deutlich erkannt, dass
diese Mängel nicht behoben werden können, wenn wir
nur eine Expertenkommission einsetzen; vielmehr
mussten im Vorfeld viele Punkte abgearbeitet werden.
Heute mögen Sie das als „Minipunkte“ bezeichnen und
als nicht ausreichend empfinden. Nur: Sie haben in der
Vergangenheit noch nicht einmal diese kleinen Probleme
gelöst.
Der Schritt, eine Expertenkommission einzusetzen,
war richtig. Richtig war es auch, anschließend zu über-
prüfen, ob man tatsächlich alle 30 Vorschläge umsetzen
sollte. Vieles davon ist bereits – auch national – realisiert.
Sie wissen genauso gut wie wir alle hier, dass die See-
schifffahrt ein internationales Geschäft ist. Das heißt: Was
wir national machen können, haben wir en gros erledigt.
Ich habe auch darauf hingewiesen, was noch in diesem
Jahr abzuschließen ist. Das, was EU-weit thematisiert
worden ist, ist während der deutschen und der französi-
schen Ratspräsidentschaft hervorragend bewältigt wor-
den. Wir haben in diesem Bereich in Europa einen Ver-
bündeten gefunden. Außerdem haben wir die inter-
nationalen Regeln eindeutig ein ganzes Stück vorange-
bracht.
Wenn Sie meinen, dass das alles nichts war, dann halte
ich Ihnen entgegen: Für diese zwei Jahre war das sehr
viel; denn all das haben Sie in den 16 Jahren Ihrer Regie-
rungszeit nicht geschafft.
Zur Erwiderung
hat der Abgeordnete Hans-Michael Goldmann das Wort.
Liebe KolleginFaße, wir haben Gemeinsamkeiten: Wir arbeiten nicht nurin der Arbeitsgruppe „Binnenschifffahrt“ zusammen, son-dern kommen auch beide aus der Gegend, über die wirhier sprechen: von der Küste. Deswegen sollten wir ge-meinsam darüber traurig sein, dass das, was Sie eben ge-sagt haben, schlicht und ergreifend nicht stimmt. In derAntwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
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können Sie nachlesen, was bei den 30 Empfehlungen bisjetzt herausgekommen ist.Wenn Sie das gelesen haben, dann werden Sie zumBeispiel zu dem Ergebnis kommen: Es gibt immer nochkein Havariekommando – obwohl dies eine rein natio-nale Aufgabe wäre. Wir waren uns hier einig, dass wirdiese nationale Aufgabe in eine internationale einbindenwollen. Aber wir brauchen doch erst einmal eine nationaleLösung – Sie wissen, dass die Engländer so etwas schonhaben –, um internationale Koordination vornehmen zukönnen. Wir müssen erst einmal Aufbauarbeit leisten.
Es gibt auch immer noch keine einheitliche Einsatz-struktur mit Weisungsrecht – auch dies eine rein nationaleAufgabe. Das hat nichts mit der IMO zu tun, sondernmuss hier von uns geleistet werden.
– Das gibt es nicht.Darüber hinaus gibt es keine Seewache; das wissenauch Sie. Es gibt für die mit dem Teilprojekt „Technik,Meldewesen, Ausbildung“ verbundenen Probleme keineLösung; Technik, Meldewesen, Ausbildung – alles natio-nale Dinge! Es gibt für die mit dem Teilprojekt „Um-welt“ – das ist eigentlich der dramatischste Bereich – ver-bundenen Probleme ebenfalls keine Lösungen. Vielleichtist die schwierige Koordination der Ministerien bis jetzteinige Male sozusagen gekreißt; aber außer einem Was-serfloh ist dabei nun wirklich nichts herausgekommen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Ereignisseum die „Pallas“ bedeuteten ein schweres Unglück, eineKatastrophe: Tausende von getöteten Vögeln, Umwelt-verschmutzung. Vor allem haben wir feststellen können,dass die Konzepte für die Sicherheit an der Küste unzu-reichend sind. Ich glaube, dass vor diesem Hintergrund je-des Hickhack über die Frage, wer verantwortlich war, werdamals schlecht gearbeitet hat und wer heute schlecht ar-beitet, kein richtiger Ansatzpunkt ist. Trotzdem muss manfeststellen, dass wir auch in der heutigen Debatte keinqualitativ neues Sicherheitskonzept erkennen können.
Das „Pallas“-Unglück hat massive Sicherheitsrisikenan der Nordseeküste und auch an der Ostseeküste deutlichgemacht. Die „Pallas“ selber war ein relativ kleines Schiffmit einer relativ ungefährlichen Ladung. Dennoch gab esmassive Schäden und der Schutz war völlig unzureichend.Vor allem aber taten sich fatale Kostendimensionen undgroteske Versicherungsrelationen auf. Die Kosten des Un-glücks werden heute auf 25 Millionen DM beziffert, dieVersicherung der „Pallas“ zahlte gerade einmal 3,5 Milli-onen DM. Solch eine Unterversicherung wäre beim Kfz-Verkehr gar nicht vorstellbar.Dabei handelt es sich noch um ein relativ kleines Un-glück. Im Bericht der Expertenkommission liest man aufSeite 62, dass Unglücke mit Schäden bis zu 250 Milli-onen DM vorstellbar sind. Danach kommt der Satz, dassdabei zwar massenhaft der Tourismus an der gesamtenKüste kaputtgehen würde, erstaunlicherweise heißt esaber dann:Es kommt zu keiner Zeit zu einem totalen Nachfrage-einbruch, da ein erheblicher Teil der Nachfragenden
reagieren kann und außerdem Neugier und Sensati-onslust ein nicht zu unterschätzendes Besuchsmotivsind.Das heißt, auf absehbare massenhafte Schäden wird mitetwas Zynismus und Ironie reagiert.Meine Erkenntnis lautet, dass die Sicherheitsmaßnah-men insgesamt unzureichend sind, auch die jetzt vorge-schlagenen. Zwar könnte eine zentrale Küsten- undMeeresüberwachungsstelle einen Fortschritt darstellen,aber weiterführende Maßnahmen müssen diskutiert wer-den. Die Antwort der Kommission auf den Vorschlag desNABU, dass küstenfernere Reise- und Transportroutennotwendig wären, lautete lapidar, dass das Umwege be-deuten, wirtschaftliche Schwierigkeiten und Mehrkostenmit sich bringen würde, ohne dabei zu berücksichtigen,was das für die Umwelt bedeuten würde.Vor allem aber ist festzustellen, dass es an der Küsteweiterhin völlig unzureichende Schlepperkapazitätengibt. Das galt sowohl während der Amtszeit der alten Re-gierung wie auch jetzt unter der neuen. Ich erinnere nur andie ganze Dramatik um die „Oceanic“. In diesem Zusam-menhang ist ein Brief der Stadt Norderney interessant.Dort steht Folgendes:Die Stadt Norderney, die Gemeinschaft der Ostfrie-sischen Inseln ... fordern seit geraumer Zeit, dass imBereich der Deutschen Bucht dauerhaft ausrei-chende Hochseeschlepperkapazität stationiert wird... So diskutiert man über das Einsatzvermögen derbundeseigenen Mehrzweckschiffe „Mellum“ und„Neuwerk“, obwohl in einem Gutachten des Bun-desministers des Verkehrs aus dem Jahre 1996 be-reits beschrieben steht, dass es sich dabei wohl nichtum die günstigste Schlepperkonfiguration handelt.
– Vom Januar 2000, Herr Goldmann.Längst wurde – das hat Frau Faße angeschnitten – da-rüber diskutiert, ob neue Schiffe entwickelt werden müss-ten, zum Beispiel das so genannte „Emergency TowerVessel“, also ein Sicherheitsschlepper, und dafür ent-sprechende Mittel bereitgestellt werden müssten.Daraus ergibt sich auch, dass die gesamte Debatte, diehier stattfindet, zwar einen Anfang darstellen kann undman dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
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auch zustimmen kann, aber dieser zugleich als Ausgangs-punkt für weitere Arbeit in diese Richtung dienen müsste.Zum Schluss möchte ich mich, Herr Goldmann, gernean Sie wenden, an die Partei der Liberalisierer: Man kannfeststellen, dass es bis zum Jahre 1963 weltweit keinespektakulären Unfälle zum Beispiel mit Tankern und rie-sigen Umweltschäden gab, es aber seit dem Jahr 1970 einhalbes Hundert solcher Unfälle gab und dies vor allemeine Folge der Liberalisierung der Transportwege war, diezu Dumpingpreisen für Transporte auf den Weltmeerenführte.
Auch Ihre Partei und die CDU/CSU sind also mitverant-wortlich dafür, dass diese Entwicklung eingetreten ist.
– Aber sie unterstützt sie.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Anke Hartnagel.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Ich bin, ehrlich gesagt, über die Heftig-keit der Beiträge zu dieser Debatte etwas überrascht. Diesgalt insbesondere für Ihren Beitrag, lieber KollegeBörnsen. Es findet doch im Moment überhaupt keinWahlkampf statt. Ich denke vor allen Dingen auch, dasssich die Problematik von Schiffsunfällen in Nord- undOstsee nicht für Polemik eignet.
– Aber auch nicht für falsche Darstellungen, Herr KollegeGoldmann.Ich gehe jetzt vor allen Dingen auf das ein, was Sie zumHavariekommando gesagt haben. Es gibt eine grund-sätzliche Übereinstimmung; die Bundesregierung ist da-rum bemüht, für alle Probleme, die daran festzumachensind, eine Lösung zu finden. Sie wissen aber ganz genau,
– lassen Sie mich jetzt bitte einmal ausreden –, wieschwierig es ist, alle Einzelheiten unter einen Hut zu brin-gen.
– Doch, es ist schwierig. Das wissen Sie auch ganz genau,Herr Goldmann.
Wir sind auf dem besten Wege. Vermutlich im Frühjahrwird die Entscheidung kommen und wird das umgesetztwerden.Jetzt muss ich noch etwas dazu sagen, wie Sie das Pro-blem dargestellt haben. Sie haben in der Tat viel Zeit ge-habt, irgendetwas zur Verbesserung der Schiffssicherheitin Nord- und Ostsee zu tun. Sie haben nichts getan.
Ich will jetzt nur ein Beispiel herausgreifen – es wer-den noch einige andere kommen –: das Bergungsüber-einkommen. Dies hat bei Ihnen zehn Jahre in der Schub-lade gelegen, ohne dass es in nationales Recht umgesetztwurde. Warum haben Sie das nicht getan? Das ist zuge-gebenermaßen nur ein kleiner Baustein, aber kein un-wichtiger.
– Wir reden im Moment nicht nur über die „Pallas“. Die„Pallas“ hat uns gezeigt, welche Lücken in dem Systemwaren. Die „Pallas“ war der Anlass, darüber nachzuden-ken.Sie wissen genau, dass Bergung ein entscheidenderFaktor ist, übrigens auch bei der „Pallas“. Sie wissen ge-nau, dass uns dieses Bergungsübereinkommen einStückchen weiterhilft: Auch wenn die Bergung eines ha-varierten Schiffes nicht glückt, ist eine Entschädigungmöglich. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
– Wir reden nicht nur über die „Pallas“. Die „Pallas“ warder Anlass. Das habe ich eben schon einmal gesagt. Jetztlassen Sie mich einfach einmal ausreden, Herr Goldmann.Zur Grobecker-Kommission und der Umsetzung derVorschläge. Ich finde, die Einsetzung der Grobecker-Kommission war eine gute Entscheidung.
Sie hat ein vernünftiges Ergebnis vorgelegt. Dieses Er-gebnis wird Punkt für Punkt abgearbeitet. Wir könnennicht in zwei Jahren das schaffen, was Sie in den vergan-genen Jahren versäumt haben. Das muss ich einfach nocheinmal sagen.
Nach dem Zuständigkeitschaos sind wir jetzt ein gutesStück in Richtung „Land in Sicht“, um es einmal maritimauszudrücken.Wir haben einige internationale Abkommen auf denWeg gebracht. Es wurde gesagt: „Was heißt hier ‚interna-tionale Abkommen‘? Wichtig ist, dass vor Ort etwas ge-tan wird!“ Aber Sie wissen genau, dass auch die interna-tionalen Abkommen uns zu einer Verbesserung verhelfenkönnen,
insbesondere was die Schiffstechnik anbetrifft.
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Dr. Winfried Wolf14607
Irgendjemand hat hier gesagt – ich weiß nicht mehr,wer es war –, dass die Technik nicht so wichtig sei. Doch,sie ist außerordentlich wichtig. Wir hoffen, dass schon2015 die Schrottkähne von den Weltmeeren verschwun-den sind und alle Öltanker Doppelhüllentanker sind. DieBeinahekatastrophe vor Galapagos – es ist gerade nocheinmal gut gegangen –
wäre nicht so vonstatten gegangen, hätte es einen Zwei-hüllentanker gegeben. Das ist eindeutige Expertenauffas-sung.
Technische Vorschriften können nicht alles verhindern.Aber sie können uns weiterhelfen.
– Er war eben nicht doppelwandig.
– Das war ein ziemlich unqualifizierter Beitrag, HerrAustermann.
Sie wissen vielleicht, dass etwa 90 Prozent allerSchiffsunfälle durch menschliches Versagen passieren,
das wir leider nicht abstellen können. Wir können aber mitVerbesserungen in der Schiffssicherheit einiges vermei-den. Dann wäre, wie ich Ihnen schon eben sagte, das Un-glück vor Galapagos nicht so schwer geworden und auchmanch anderes Schiffsunglück könnte etwas günstiger ab-laufen.Lassen Sie mich noch etwas zu den Klassifikations-gesellschaften sagen. Auch das ist ein wirkliches Pro-blem, das uns bei der „Erika“ sehr deutlich geworden ist,das man aber abstellen kann, wenn man die Klassifikati-onsgesellschaften verstärkt unter die Lupe nimmt unddort versucht einzugreifen. Es kann nicht angehen, dasswir aufgrund von Gefälligkeitsgutachten Schrotttanker,wie wir sie in der letzten Zeit erlebt haben, weiter auf un-seren Meeren haben.
– Ja, ich bin Hamburgerin: nicht von der Küste, aber dochder Küste sehr nahe.
– Ja, Hamburg reicht.
Übrigens hat auch das Bundesamt für Seeschifffahrtund Hydrographie bestätigt, dass wir auf dem richtigenWege sind, was dieses Havariekommando anbetrifft.Ich möchte noch einmal auf die Haftungssummeneingehen. Herr Wolf hat schon gesagt, dass die Erhöhungder Summe um das 2,4fache nicht annähernd ausreicht,um die Schäden finanziell auszugleichen. Der Schadenbetrug im Fall der Havarie der „Pallas“ ungefähr 28 Mil-lionen DM. 3,3 Millionen DM wurden nach der altenRegelung erstattet. Nach dem neuen Abkommen würdenes 8 Millionen DM sein. Das heißt, der Bund und die Län-der zahlen immer drauf.Es kann uns nicht nur darum gehen, Schiffe sicher zumachen und menschliches Versagen auszuschließen. Esgeht in erster Linie darum, dass wir unsere schon außer-ordentlich belasteten Meere – in diesem Falle Nord- undOstsee – davor bewahren, völlig umzukippen. Durch dieEinleitung von landwirtschaftlichen Abwässern unddurch die – man kann schon sagen – kriminelle Einleitungvon Schadstoffen sind die Ozeane außerordentlich ge-fährdet. Was wir jetzt auf den Weg gebracht haben, ist einSchritt in die richtige Richtung. Es ist klar, dass es einigeZeit dauert, bis die Maßnahmen greifen. Ich verwahremich daher außerordentlich gegen die Behauptung, eswerde nichts getan.
Ich möchte noch ein Thema ansprechen – HerrGoldmann, hören Sie bitte zu; ich komme zurück auf die„Pallas“ –, was mir besonders am Herzen liegt. Wir habenbei der „Pallas“ gesehen, dass Notliegeplätze in Häfensehr dringend gebraucht werden. Wäre die „Pallas“ sofortin einen dänischen Hafen geschleppt worden, hätte dieKatastrophe möglicherweise verhindert werden können.Es gibt jetzt Bestrebungen, Notliegeplätze vorzuhalten.Wir müssen dies wenigstens europaweit – wenn es schonnicht weltweit möglich ist – schaffen.Ich denke, dass wir auf dem richtigen Wege sind. Auchhier handelt es sich nicht um Peanuts, sondern es ist einwichtiger Beitrag, besser mit Havarien umzugehen undunsere Meeresumwelt wirkungsvoll zu schützen.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Zu einer „kur-zen Kurzintervention zum Zwecke der Richtigstellung“erteile ich nun der Kollegin Altmann das Wort.Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Ich möchte mich auf den Brief beziehen, den derKollege Wolf angesprochen hat. Herr Wolf, dieser Briefist in seiner Kritik veraltet, weil der dauerhafte Einsatz der„Oceanic“ in der Deutschen Bucht faktisch gesichert ist.Das heißt, dass das Schutzbedürfnis der Norderneyer da-mit befriedigt wird.Das Problem war bis dato, dass die Verlängerung desEinsatzes nicht gesichert war. Das hat sich inzwischengrundlegend geändert. Ab dem letzten Jahr muss es nur
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aus haushaltstechnischen Gründen jedes halbe Jahr eineVerlängerung geben. Das wird so lange geschehen, bis einanderes Gesamtkonzept inklusive Regelungen für denEinsatz der „Oceanic“ oder für eine andere Konstellationaufgestellt worden ist.
Bitte, Herr Kol-
lege Wolf.
Werte Kollegin Altmann,
der Brief ist vom 4. Februar des Jahres 2000.
– Das habe ich nicht gewusst. Es ist aber nett, dass Sie mir
das sagen. – Ich habe heute bei der Zeitschrift „Water-
kant“ angerufen, um mir bestätigen zu lassen, dass die
frühere Praxis – sie wurde von Ihnen angedeutet –, nur
kurzfristige Charterverträge über den Einsatz der „Ocea-
nic“ zu schließen, weitergeführt wird. Damit ist die ge-
samte Situation weiterhin absolut unsicher.
– Ja, das gab es schon immer. Aber der Punkt ist, dass
nicht haushaltstechnische Gründe eine endgültig Rege-
lung verhindern.
Darüber hinaus argumentieren die Norderneyer, dass
generell zu wenig Schleppkapazitäten vorhanden sind
– das wurde auch in dem Beitrag von Frau Faße aufge-
griffen – und dass selbst die Kapazitäten der „Oceanic“
mit einem Pfahlzug von, soweit ich weiß, 165 Tonnen bei
den Unglücken von Containerschiffen mit Gefahrgut
usw., die heute und auch in der Expertenkommission dis-
kutiert werden, nicht ausreichen, sondern weitaus größere
notwendig wären.
Deswegen sagte ich zum Schluss meines Beitrags, dass
man schnelle Lösungen finden muss, um entsprechende
Schleppkapazitäten zu schaffen, die weder durch „Mel-
lum“ noch „Neuwerk“, noch „Oceanic“ heute vorhanden
sind.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dietrich Austermann.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die Kol-legin Hartnagel hat viel Unzutreffendes gesagt. Das fingan mit der Feststellung, dass Hamburg keine Küste habe.
Ich würde mich einmal vergewissern, wie das mit „Neu-werk“ so ist.Aber das war nicht der wesentliche Fehler in Ihrer Aus-sage. Der eigentliche Punkt ist die Frage – die Sie auchhören, wenn Sie mit den Bürgern sprechen; mein Wahl-kreis liegt direkt an der Nordseeküste –: Was ist eigentlichseit der Havarie der „Pallas“ tatsächlich geändert wor-den? Welche konkrete Maßnahme ist getroffen worden,die heute in einer vergleichbaren Situation wirksam wer-den könnte und Hilfe brächte? Niemand hier – ich unter-stelle einmal, dass alle gutwillig sind, was die Verbesse-rung des Meeresschutzes betrifft – wird bestreiten, dassinternationale Abkommen keinen einzigen Schritt weiter-helfen, sondern dass es um eine konkrete Entscheidungs-befugnis und um die Frage geht, ob es entsprechendeSchleppkapazitäten gibt und wer an welcher Stelle welcheEntscheidung zu treffen hat.Damit befassen wir uns jetzt seit 27 Monaten.
– Frau Kollegin, um damit aufzuräumen: Sie wissen dochgenau, was in Cuxhaven von Bund und Ländern überviele Jahre gemeinsam eingerichtet worden ist. Sie wis-sen, dass Schleppkapazität beschafft worden ist. Sie wis-sen, dass es eine gemeinsame Leitstelle gab. Sie hat bloßnicht funktioniert, weil ein Parteifreund von FrauAltmann im entscheidenden Moment, als es um die Kata-strophenaufarbeitung ging, das Sagen hatte, nämlich HerrSteenblock, der inzwischen nicht mehr im Amt ist. Daswar das Problem.
Aber die Schleppkapazität war nicht deshalb nicht er-reichbar, weil es die entsprechenden Zuständigkeitennicht gegeben hätte. Dass die Taue gerissen sind, weiß ichgenau wie Sie.Die Frage, die man heute stellen kann, lautet: Was hatder jeweilige Bundesverkehrsminister in der Zeit eigent-lich gemacht? Es sind inzwischen 27 Monate vergangen.Bundesverkehrsminister war damals – die Älteren werdensich noch erinnern – Herr Müntefering. Zu der Zeit, dadieser Vorfall sich zugetragen hat, war er damit beschäf-tigt, die Abteilungsleiter auszuwechseln, Sachkundedurch Parteibuch zu ersetzen.
Dann kam der zweite Verkehrsminister, Herr Klimmt,der sich um das Thema Küste überhaupt nicht gekümmerthat. Das Interessante ist: Auch der dritte hat kein Interessedaran, an dieser Debatte teilzunehmen; der Verkehrs-minister ist wieder nicht da, wenn über dieses Thema ge-sprochen wird.Es kann doch nicht angehen, dass wir heute hier Be-richte diskutieren, die ein Dreivierteljahr alt sind, und dieBundesregierung in den Berichten wieder nur aufgefor-dert wird, Entscheidungen zu treffen, die aber offensicht-lich nicht getroffen werden.Wie gesagt, seit 27 Monaten ist keine einzige geplanteMaßnahme in die Tat umgesetzt worden, aus der man ab-leiten könnte, dass die Sicherheit der Menschen an derKüste seit dem 25. Oktober 1998 größer geworden wäre.
Das ist doch der entscheidende Punkt.Kreistagsabgeordnete in Dithmarschen/Nordfrieslandhaben sich mit dem Thema befasst und Resolutionen ver-abschiedet – die Qualität war nicht unbedingt schlechterals die Qualität dessen, was Sie vorgelegt haben –, die
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einen eindeutigen Handlungsauftrag an die Regierungenthalten. Aber die Regierung schweigt,
um nicht zu sagen: schläft. Es werden keine konkretenMaßnahmen getroffen. Dabei wären sie ziemlich klar.Jetzt zitiere ich einmal das Urteil Ihrer eigenen Partei-freunde. Der Kieler Landtag hat sich am 11. Novemberletzten Jahres mit diesem Thema befasst.
Dabei hat der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/DieGrünen, Karl-Martin Hentschel, die Kritik auf den Punktgebracht: Man könne an der Küste nur hoffen, dass nachFranz Müntefering und Reinhard Klimmt mit dem drittenVerkehrsminister die Küste besser bedient werde. Er habenicht den Eindruck, dass die Arbeit von Berlin jetzt bes-ser laufe.Der Innenminister, ein SPD-Mann, also kein Partei-freund der Grünen, hat gesagt, es beschäftigten sich zur-zeit so genannte Projektorganisationen des Bundes mitder Schaffung einer einheitlichen Küstenwache. Ersagte in der Landtagsdebatte, diese Berliner Projektorga-nisationen seien eine typisch deutsche Erfindung. Zumin-dest die Bildung des Havariekommandos hätte der Bundunbedingt vorziehen müssen. Dem Mann ist zuzustim-men.
Selbst die eigenen Genossen sagen, sie seien unzufriedenmit dem, was bisher im Hinblick auf die Sicherheit derKüste passiert ist. Bis heute gibt es nur eine einzige per-sonelle Konsequenz, nämlich dass Herr Steenblock zu-rücktreten musste. Auch das ist inzwischen schon ein Jahrher.
Aber darüber hinaus sind vernünftige Entscheidungenbisher nicht getroffen worden.In Vorbereitung auf die Debatte habe ich mir die Mühegemacht, die Berichte des Verkehrsausschusses durchzu-lesen, insbesondere den Bericht zu dem Antrag der SPD.Da fragt man sich: Was haben die eigentlich beschlossenund was schlagen die eigentlich vor?Entsprechend der politischen Grundeinstellung gibt esnatürlich Unterschiede in dem, was vorgeschlagen wird.Der gute Antrag der F.D.P. wird natürlich abgelehnt, weildas Vorwort zu polemisch gewesen sei.
Und Ihre Anträge? – 15 internationale Verträge, Abkom-men, Übereinkommen sollen verbessert, erweitert oderunterzeichnet werden. Sie begrüßen, dass der Abschluss-bericht der Grobecker-Kommission noch vor der Land-tagswahl im letzten Jahr vorgelegt wurde.
Toll! Das heißt, er liegt bereits ein Jahr vor, ohne dass in-zwischen etwas passiert ist.
Und dann schlagen Sie vor – das muss man sich einmalwörtlich vorhalten –, zu prüfen, wie Effizienz und Kom-petenz zur Gefahrenabwehr langfristig, gegebenenfallsdurch weitere Kompetenzübertragung vom Bund auf dieLänder, auf die zentrale Überwachungsstelle, gesteigertwerden können. Das verstehe, wer will! Das soll eineklare Aussage sein und die Menschen an der Küste wissenlassen, dass jetzt endlich gehandelt wird?
Weit gefehlt! Es ist immer noch keine Entscheidung ge-troffen worden.Der Deutsche Verkehrsgerichtstag hat sich mit demThema befasst, fordert ein maritimes Lagezentrum fürNord- und Ostsee. Offensichtlich ist auch er der Meinung,dass endlich etwas getan werden muss. Wir wollenschnell – das ist innerhalb eines halben, höchstens einesganzen Jahres möglich –
eine einzige verantwortliche Leitstelle mit eindeutigenKompetenzen im Ernstfall, mit einer Schiffsbewegungs-kontrolle, mit maritimem Lagezentrum.Die Kreise an der Westküste fordern vorbeugenden Ha-varieschutz durch verbesserte Schiffslenkung und Über-wachung, Verbesserung der Schleppkapazität und imLöschwesen, einen Sicherheitshafen, eine einheitlicheKüstenwache, Vereinbarungen mit den Nachbarländern,die Verbesserung der Forschung. All dies sind Forderun-gen, die auch von der Union erhoben werden.
Ich habe festgestellt, dass der Kollege Opel – ichdachte, er spricht heute – der „Dithmarscher Landeszei-tung“, einer an der Küste geschätzten Zeitung, gesagt hat,es liege ein Gutachten vor, demzufolge im Durchschnittin der Nordsee mit sechs Seenotfällen mit Schlepperbe-darf im Jahr zu rechnen sei, in der Ostsee sogar mit sie-ben. Er geht davon aus, dass die Bundesregierung in-nerhalb des nächsten Vierteljahres eine entsprechendeStelle einrichtet, sodass zusätzliche Schleppkapazitätzur Verfügung gestellt wird. Insgesamt sagt er, es werdeeine zentrale Einsatzleitung eingerichtet. Er sehe auch dieTendenz, eine größere Anzahl leistungsfähiger Schiffemittlerer Größe für Nord- und Ostsee anzuschaffen oderzu chartern. 30 Monate nach der Havarie sei es toll, wenndies so wäre.Ich weiß nicht, woher der Kollege Opel seine Kenntnishat. Wenn ich in den Haushalt blicke, kann ich nicht fest-stellen, dass der Verkehrsminister beantragt hätte, Mittelfür die Anschaffung neuer Schlepper bereitzustellen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Dietrich Austermann14610
Nicht einmal für die Miete hat er Mittel beantragt. Wirwissen alle: 20 000 DM kostet die „Oceanic“ am Tag. Dasist etwa so viel, wie Hans Eichel für einen Flug braucht.
Es wird kein Geld für zusätzliche Schleppkapazität be-reitgestellt. Den Bürgern wird Sand in die Augen gestreut.Die Menschen an der Küste sind dies leid. Sie erwarten,dass wir etwas für den Erhalt der Wasserqualität unsererMeere und für die Sicherheit an der Küste tun. Es reichtnicht, dass sich die Regierung an der Debatte nicht betei-ligt, nichts tut und schläft. Wir fordern engagiertes undschnelles Handeln.Herzlichen Dank.
Ich schließe da-
mit die Aussprache und wir kommen zu den Abstimmun-
gen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktio-
nen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Si-
cherung der deutschen Nord- und Ostseeküste vor
Schiffsunfällen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/2684 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen wor-
den.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. mit dem Titel „Nordseeküste schützen, Küsten-
wache einrichten, international besser zusammenarbei-
ten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen wor-
den, während sich die PDS enthalten hat.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L.
Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Reform des Tarifvertragsrechts
– Drucksachen 14/2612, 14/5214 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Klaus Brandner.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen, liebe Kollegen! Bei der Vorlage des Antrags derF.D.P.-Fraktion „Reform des Tarifvertragsrechts“ mussman sich fragen, meine Herren, ob Sie sich wirklich fürnichts zu schade sind.
Denn mit Ihrem Antrag zur Durchlöcherung des Tarifver-tragsrechts versuchen Sie scheinheilig, wie Sie sind, Ar-beitslose in diesem Land vor Ihren Karren zu spannen, umTarifvertragsbrüche zu legalisieren und die Abschaffungdes Tarifrechts zu fordern.Die aktuellen Meldungen über die Erfolge unserer Po-litik am Arbeitsmarkt geben uns dagegen Recht.
Sie zeigen, dass wir den richtigen Weg gehen und Ihr An-trag die Sicherung des sozialen Friedens in unserer Ge-sellschaft äußerst gefährdet.
Sie haben wahrscheinlich am Dienstag dieser Wochedie neuesten Arbeitsmarktzahlen gelesen.
Der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt hält weiter an,Herr Kolb, das wissen Sie.
Insgesamt haben fast 550 000 Menschen mehr als vor ei-nem Jahr einen Job.
Wir haben den niedrigsten Stand an Arbeitslosen in einemJanuar seit 1995.
Die Arbeitslosenquote ist gegenüber dem Vorjahr von11 Prozent auf 10 Prozent zurückgegangen.
Für diese positive Bilanz war es keineswegs notwendig,das Tarifvertragsgesetz zu zerpflücken und Arbeitnehmerper Betriebsvereinbarung zu zwingen, ihre Arbeitskraftunter Wert zu verkaufen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Dietrich Austermann14611
Diese Bilanz ist vielmehr das Ergebnis von Maßnah-men und Korrekturen, die wir am Arbeitsmarkt, in der So-zialversicherung und in der Steuerpolitik erfolgreich ein-geführt haben. Die Zahl der Beschäftigungsverhältnisseist gestiegen, der Erfolg gibt uns Recht. Wir bleiben beidiesem Kurs.
Das von Ihnen geschürte Vorurteil, das Tarifvertrags-system sei die Ursache für die Arbeitslosigkeit, istschlichtweg falsch. Gerade angesichts der Arbeitslosig-keit ist der tarifvertragliche Mindestschutz nötig. Ver-bindliche Tarifverträge bleiben das Stärkste, das dieSchwachen haben.
Das Bundesverfassungsgericht erkennt in einem Urteilvom 4. Juli 1995 das Tarifvertragssystem als System kol-lektiver Sicherheit ausdrücklich an. Ich zitiere:Das Tarifvertragssystem ist darauf angelegt, diestrukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitneh-mer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kol-lektives Handeln auszugleichen und damit einannähernd gleichwertiges Aushandeln der Löhneund Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.
Das Tarifvertragssystem wird als System kollektiverSicherheit für die Arbeitnehmer und für die Arbeitgebergesehen. Dies wird durch die amtierende Bundesregie-rung mit Sicherheit nicht verändert werden. Darauf kön-nen Sie sich, meine Herren von der F.D.P., verlassen.
– Es wird sicher irgendwann wieder andere Bundesregie-rungen geben, aber darauf – das kann ich Ihnen sagen –können Sie noch lange warten. Diese Regierung sitzt festim Sattel und ihr Kurs ist stabil. Die Erfolge habe ich Ih-nen am Beispiel der Arbeitsmarktzahlen deutlich ge-macht.
Der Antrag, den Sie vorlegen, ist eine Durchlöcherungdes Tarifvertragsrechts und nichts anderes als die Durch-löcherung des Schweizer Käses. Eine solche Forderungakzeptieren wir nicht und werden wir auch in Zukunftnicht akzeptieren.
– Der Schweizer Käse ist besser als der Antrag der F.D.P.Dem kann ich nur zustimmen.In der Debatte, hatten Sie, Herr Kolb, am 7. Dezembergesagt, die F.D.P. fordere nicht die Abschaffung derFlächentarifverträge, sondern nur gesetzliche Öffnungs-klauseln.
Formal betrachtet mag das sogar stimmen. Führt man sichaber vor Augen, was dahinter steckt, dann sieht das ganzanders aus.
Entgeltverhandlungen gehören nämlich wie die Festle-gungen zur Arbeitszeit und zur Urlaubsdauer zu denKernbereichen von Tarifverträgen.
Aber wem sage ich das eigentlich? Ihr Geschrei von zuhohen und zu wenig differenzierten Tarifstandards sowievon mangelnder Flexibilität und Überregulierung habenSie anscheinend – Sie wissen das – zum Programm er-klärt.
Das gipfelt in der Aussage von Graf Lambsdorff, die Ta-rifautonomie dürfe nicht länger Bestand haben. Aberschon damals – um das deutlich zu sagen – standen hinterdieser abenteuerlichen Idee nicht viele und zurzeit stehenGott sei Dank nur Sie von der F.D.P. dahinter.
Denn wenn es dazu käme, dass Arbeitgeber künftig aufbetrieblicher Ebene mit den Arbeitnehmern über die Höheihrer Entlohnung verhandeln könnten, würden dieFlächentarifverträge systematisch unterwandert und we-gen ihrer Unverbindlichkeit wertlos. Damit würde dieGültigkeit der Tarifverträge faktisch außer Kraft gesetzt.Dem werden wir nicht zustimmen. Tarifverträge sind füruns soziale Sicherheit. Deshalb werden wir an der jetzi-gen Tarifordnung festhalten.
Wenn Sie hier die Tarifautonomie infrage stellen,dann rütteln Sie – das muss Ihnen klar sein – an denGrundfesten unserer demokratischen Ordnung. Ich kannnur immer wieder darüber staunen, mit welcher Dreistig-keit Sie Verfassungsgrundsätze und auch Individual-rechte über Bord werfen, wenn Sie dies gerade für op-portun ansehen und deshalb mir nichts, dir nichts dieTarifvertragsordnung über Bord werfen wollen. Denn Siewollen eine Verschlechterung oder Beseitigung tarifver-traglicher Ansprüche immer dann zulassen, wenn min-destens 75 Prozent der Belegschaft dem zustimmt.
Damit würde ein Viertel der Arbeitnehmer gegen ihrenerklärten Willen zum Verzicht auf ihre auf dem Flächen-tarifvertrag beruhenden Rechte gezwungen. Ein solchesBetriebskartell zur Aushebelung der von der Verfassunggarantierten Tarifautonomie hat schon BDA-PräsidentHundt ausdrücklich abgelehnt und zurückgewiesen.Auch wenn wir Herrn Hundt nicht häufig zustimmen, sostimmen wir ihm in diesem Punkt schon zu: Er hatRecht. Wir werden an diesem Punkt in diesem Sinnefesthalten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Klaus Brandner14612
Meine Damen und Herren, auch aus sozialdemokrati-scher Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass beliebige Ver-einbarungen getroffen werden können, die zulasten desschwächsten Gliedes der Kette, der Arbeitnehmer, gehen.
Es ist schlicht unsozial, dass Arbeitnehmer aus Sorge umihren Arbeitsplatz, aus Angst vor dem Verlust ihrer Exis-tenzgrundlage einem Verzicht auf tarifvertragliche Ent-lohnung zustimmen sollen. Dieser Verzicht führt zu einemWettlauf nach unten, zu Dumpinglöhnen.Die F.D.P. will offenbar mit ihrem Antrag die Angst umden Arbeitsplatz vorsätzlich nutzen,
um die Löhne zu drücken und um die Arbeitnehmer ver-zichtbereit zu machen. Das kann aber nicht im Sinne derUnternehmen sein. Denn wenn dieser Wettlauf erst einmalbegonnen hat, geraten auch die Unternehmen in immerstärkeren Preis- und Konkurrenzdruck; Sie wissen das.Flächentarifverträge sind zu einem unverzichtbarenBestandteil der Unternehmensplanung geworden. AusGründen der Planungssicherheit und der Sicherung dessozialen Friedens in den Unternehmen sind Tarifverein-barungen auch für die Arbeitgeber sinnvoll.
Der Tariffrieden in unserem Land ist der wichtigste Stand-ortfaktor; das sollten Sie einmal deutlich zur Kenntnisnehmen.
– Nun hören Sie einmal gut zu, meine Herren von derF.D.P. Sie können noch viel lernen.
Der soziale Frieden in unserem Land wäre nämlich beiUmsetzung Ihrer Vorschläge erheblich gefährdet. Von da-her lehnen auch weitsichtige Arbeitgeber Ihre unsinnigenVorschläge ab.
Ich empfehle Ihnen dringend, sich einmal mit dem vielzitierten Mittelstand zu unterhalten. Sprechen Sie docheinmal mit den Handwerksmeistern und den Chefs vonKleinbetrieben, was die von Ihren Ideen halten. In der Re-gel nämlich gar nichts.
Viele von ihnen sind heilfroh, wenn tarifvertragliche Kon-flikte aus den Betrieben herausgehalten werden. Geradedie kleinen und mittleren Betriebe haben sich in Innungenzusammengeschlossen, um unter anderem verlässlicheWettbewerbsbedingungen auch auf der Basis von Tarif-verträgen zu erhalten.
In dieser Debatte wird von Ihnen völlig außer Acht ge-lassen, dass die Lohnkosten eines Betriebes im Durch-schnitt – Sie als Unternehmer wissen das – nur einen ge-ringen Teil der Gesamtkosten ausmachen. Das heißt, dasses nicht maßgeblich ist, wie hoch die Lohnzahlungensind. Denn wichtig für die Existenz des Betriebes ist, dassdas Kostengefüge insgesamt stimmt. Wem außer Kosten-senkungen, Herr Kolb, nichts mehr einfällt, der entwickeltsich zurück, macht die Menschen ärmer, die Betriebe abernicht wettbewerbsfähiger und produktiver. Genau dasstreben wir Sozialdemokraten an.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Brandner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Kolb?
Bitte.
Herr Kollege Brandner,
nachdem Sie hier vorgetragen haben, dass Sie zumindest
gelegentlich im Gespräch mit dem Mittelstand sind,
wären Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass in einem
typischen mittelständischen Unternehmen – ich nenne
einmal einen Handwerksbetrieb – der Anteil der Lohnkos-
ten an den Gesamtkosten nicht selten in einer Größenord-
nung zwischen 40 und 50 Prozent liegt und dass sich die
von Ihnen angestellten Überlegungen allenfalls auf
Durchschnittswerte oder auf Großunternehmen, die Ihnen
ja, wie wir wissen, näher stehen, beziehen? Die kleinen
Unternehmen haben aufgrund der hohen Lohnanteile ein
signifikantes Interesse daran, dass die Tarifpolitik auf die
Bedürfnisse des Mittelstandes Rücksicht nimmt.
Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Herr Kolb, die Tarifpolitiknimmt auf die Bedürfnisse des Mittelstands ausdrücklichRücksicht.
Es ist wichtig, dass Unternehmen erkennen, dass sie durchdie Verbesserung der Arbeitsabläufe und der Produktivitätihre Kosten in den Griff bekommen. Das ist der entschei-dende Ansatz für eine vernünftige Unternehmensarbeit.Man sollte die Ursachen für die Kostensituation also nichtin den Tarifbedingungen sehen. Man weiß nur zu gut, dassman, wenn man aktive, motivierte Arbeitnehmer noch mitniedrigen Löhnen bestraft, genau das Gegenteil erreicht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Klaus Brandner14613
Man wird nicht erreichen, dass diese Arbeitnehmer wei-terhin daran engagiert mitarbeiten, Arbeitsabläufe syste-matisch zu verbessern. Dann würde man einen unter-nehmerischen Erfolg erzielen. Durch Kostensenkungenallein wird man dies Problem nie in den Griff bekom-men.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt den weiteren
Wunsch nach einer Zwischenfrage, diesmal vom Kolle-
gen Dirk Niebel.
Nein, ich möchte jetzt inmeiner Rede fortfahren.
– Herr Niebel, Sie haben sehr viele Gelegenheiten, darü-ber zu diskutieren. Ich denke, was Sie sagen wollen, isthier hinlänglich bekannt. Lassen Sie mich also meine Ge-danken fortsetzen.Insbesondere bei Insolvenzen und den damit einherge-henden Entlassungen wird doch regelmäßig gefragt,worin denn die Ursachen für die wirtschaftlich schwierigeSituation liegen. Sie wissen so gut wie ich, dass in ersterLinie schlechtes Management, mangelnde Anpassung andas Marktgeschehen, verschlafene Innovationen und ofteine zu geringe Kapitalausstattung
Ursache für wirtschaftlich schwierige Situationen sind.Im Übrigen wird das – das wissen Sie – auch von Un-ternehmensberatungen bestätigt, die regelmäßig festge-stellt haben, dass 80 Prozent der Unternehmenskrisen aufManagementfehler zurückzuführen sind.Dennoch sollen es die Arbeitnehmer mit Lohnverzichtausbaden. Das ist weder sozial noch christlich noch libe-ral und schon gar nicht fair.
Deshalb ist der Antrag, den Sie vorgelegt haben,auch nicht zielführend und deshalb werden wir ihn ab-lehnen.
Fest steht, dass mit den von Ihnen geforderten gesetz-lichen Öffnungsklauseln und der damit verbundenen Auf-weichung der Tarifverträge das Missmanagement der Ar-beitgeber quasi auf dem Rücken der Arbeitnehmer undder Gewerkschaften subventioniert würde.
Dafür stehen Sozialdemokraten nicht zur Verfügung.Unverantwortlich ist auch Ihre Forderung, gesetzlicheÖffnungsklauseln vorzusehen und das Günstigkeits-prinzip zu erweitern, also eine Veränderung im Tarifver-tragsgesetz herbeizuführen. Im Grunde geht es Ihnen näm-lich darum, Vertragsbrüche zu legalisieren, Vertragsbrüchedurch eine gesetzliche Veränderung flächendeckend mög-lich zu machen. Es kann nicht, Herr Kolb, Aufgabe des Ge-setzgebers sein, in die Tarifautonomie einzugreifen. DieTarifautonomie ist ein von der Verfassung geschütztes Gutund deshalb wollen wir auch nicht in diesen verfassungs-rechtlichen Anspruch der Tarifpartner eingreifen.Wenige, aber prominente Repräsentanten der Arbeit-geber wollen über die Novellierung des Betriebsverfas-sungsgesetzes – das ist ja nicht im Verborgenen geblie-ben – aus dem Flächentarifvertrag aussteigen.
Die großen Arbeitgeberverbände dagegen wollen den Tarif-vertrag im Betriebsverfassungsgesetz erhalten; die Tarifver-träge sollten eher reformiert werden. In diesem Dilemmafordern die Arbeitgeber nun gemeinsam eine Neufassungdes Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsgesetz.
Dabei ist es in Krisensituationen immer möglich – daswissen Sie auch genau –, mit den Tarifvertragsparteieneine flexible Anwendung der Tarifverträge zu vereinbarenoder Haustarifverträge abzuschließen. Öffnungsklauselnin einigen Flächentarifverträgen ermöglichen dies bereits.
Die Anpassung der Tarifverträge an betriebliche Bedin-gungen, wie sie von Arbeitgeberseite verlangt wird, istdeshalb nicht notwendig und somit überflüssig.
– Lieber Herr Niebel, Sie haben wirklich saloppe Sprüchedrauf.
Ich glaube, dass die Arbeitnehmer wissen, wer sich ihrenArbeitsbedingungen verantwortlich stellt. Mit solchenSprüchen wird keinem Arbeitnehmer in diesem Lande ge-holfen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Klaus Brandner14614
Für den Gesetzgeber besteht daher überhaupt keinHandlungsbedarf. Weder gesetzliche Öffnungsklauselnnoch das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertragsgesetz sindzu verändern.
Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Allein der Rahmen-tarifvertrag in der baden-württembergischen Metall- undElektroindustrie enthält 32 Öffnungsklauseln, um genaudas, was Sie fordern, nämlich passgenaue Veränderungenbezogen auf die Betriebe, organisieren zu können. Das istIhnen aber unbekannt. Sie beschäftigen sich anscheinendmehr mit Sprüchen als mit Inhalten.
Auch die Forderung nach Abschaffung der Allgemein-verbindlichkeitserklärung ist aus unserer Sicht nichtnachvollziehbar. Ich bin mir wirklich nicht sicher – diesmuss man die F.D.P. fragen –, ob Sie wissen, wovon Sieeigentlich reden. Knapp 500 von 50 000 Tarifverträgensind allgemeinverbindlich.
Sie betreffen nur einen geringen Teil der Beschäftigten.Schon dies macht deutlich, dass sie zwingend notwendigsind, da immer dann, wenn in einem Bereich keine tarif-vertragliche Durchdringung vorhanden ist und Unterneh-men sowie Arbeitnehmer vor Schmutzkonkurrenz be-wahrt werden müssen, auf eine solche Allgemein-verbindlichkeit zurückgegriffen werden muss. Es gibtnach wie vor Berufe und Branchen, in denen gerade ein-mal 10 DM pro Stunde gezahlt wird. Solche Bedingun-gen, die trotz eines Arbeitsverhältnisses ein menschen-würdiges Leben und eine freie Entfaltung der Per-sönlichkeit nicht ermöglichen, müssen meiner Ansichtnach der Vergangenheit angehören. Deshalb müssen wirdie Allgemeinverbindlichkeit in den Bereichen erhalten,in denen sie zwingend zum Schutz von Betrieben und Ar-beitnehmern notwendig ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Brandner, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Tarifverträge haben sich in
über 50 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland be-
währt: in der Zeit der großen Nachkriegsarbeitslosigkeit,
beim Wiederaufbau und natürlich auch bei dem so ge-
nannten Wirtschaftswunder, bei der Vereinigung der bei-
den deutschen Staaten und als Mindestschutz gegen die
Auswüchse globalisierter Wirtschaft und hoher Arbeitslo-
sigkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Brandner, ich
würde Sie bitten, nicht noch einen neuen Gedanken anzu-
fangen, sondern wirklich zum Schluss zu kommen. Sie
hatten ausreichend Redezeit.
Tarifverträge haben in dieser
Gesellschaft für sozialen Fortschritt gesorgt. Sie werden es
auch weiter tun, Stichwort „Altersversorgung“ oder „Recht
auf Weiterbildung“. Ich bin davon überzeugt, die Gewerk-
schaften werden diese Themen aufnehmen. Wir brauchen
verbindliche Tarifverträge. Sie haben den sozialen Frieden
in unserem Land gesichert. Mit Ihrem Antrag gehen Sie
diesen Weg nicht. Deshalb werden wir ihn ablehnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin in
der Debatte ist die Kollegin Dagmar Wöhrl für die Frak-
tion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Trotz der neuen Zahlenbleibt die Lage am Arbeitsmarkt bedrückend.
Wir hatten im letzten Jahr ein Wirtschaftswachstum von3,1 Prozent, aber nichtsdestoweniger noch immer 4,1Mil-lionen Menschen bei den Arbeitsämtern als arbeitslos re-gistriert.
In der Wirtschaftsgeschichte gab es bis jetzt noch nie imGefolge eines Wirtschaftsaufschwungs einen derartigschwachen Zuwachs an Arbeitsplätzen.
Da stellt man sich die Frage: Wenn schon bei einemwirklich kräftigen Wachstum von 3,1 Prozent die Ar-beitslosigkeit kaum abgebaut wird, wie soll es dann erstbei einer sich abschwächenden Konjunktur werden, die jakommt? Wir wissen ganz genau, dass eine verlangsa-mende amerikanische Konjunktur auf unsere KonjunkturEinfluss nehmen wird. Wie soll es dann hier erst aus-schauen?Gleichzeitig haben wir ein Mismatch, das noch nie sogroß war wie zurzeit. Dem Heer der Arbeitslosen auf dereinen Seite steht eine wachsende Zahl von Betrieben aufder anderen Seite gegenüber, die ihre offenen Stellen nichtbesetzen können. Noch immer sind 1,5 Millionen offeneStellen gemeldet; es herrscht Fachkräftemangel.
Was ist der Grund dafür? Schauen Sie einmal in die Pa-piere der OECD. Die OECD hat einen arbeitsmarktpoliti-schen Regulierungsindikator entwickelt und an die 23
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Klaus Brandner14615
wichtigsten Industriestaaten der Welt angelegt. Deutsch-land kommt dabei auf Platz 18. Auf Platz 1 liegen dieUSAmit einem Wert von 0,7, auf Platz 2 Großbritannienmit einem Wert von 0,9. In beiden Ländern liegt die Er-werbstätigenquote wesentlich höher als in Deutschland.Daraus folgert die OECD zu Recht: Je stärker der Ar-beitsmarkt reguliert ist, desto schlechter ist die Beschäfti-gungssituation.
Was haben Sie dort, wo Deregulierung geboten wäre,seit Ihrem Regierungsantritt gemacht? Eine „Reregulie-rung“ haben Sie betrieben.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Regie-rungsparteien, Sie schaden der Beschäftigungsquote.
Sie haben den Kündigungsschutz verschärft und die vollegesetzliche Lohnfortzahlung wieder hergestellt.
Man kann es nicht oft genug wiederholen. Sie haben diegeringfügigen Beschäftigungsverhältnisse durch bürokra-tische Anforderungen und hohe Abgabenpflichten unat-traktiv gemacht.
Was haben Sie gemacht? Sie haben Existenzgründer undHandelsvertreter in die Scheinselbstständigkeit getrieben.Sie haben zum 1. Januar einen Rechtsanspruch auf Teil-zeit eingeführt, der die Personalplanung im Mittelstandmassiv einschränkt. Jetzt wollen Sie auch noch die be-triebliche Mitbestimmung ausweiten, was zu einer sehrhohen Kostenbelastung gerade der kleinen und mit-telständischen Betriebe führen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Wöhrl,
es gibt eine Zwischenfrage der Kollegin Eva Bulling-
Schröter. Lassen Sie diese zu?
Nein, ich möchte jetzthier weitermachen.Ich möchte auf eines hinweisen – damit komme ich aufmeinen Vorredner von der SPD zu sprechen –: Noch vielschwerer wiegt, dass Sie sich beharrlich weigern, sich aneiner Änderung des Tarifsystems zu beteiligen.
– Ich glaube, ich bin eine der wenigen Kolleginnen undKollegen, die in ihr Unternehmen sehr stark eingebundensind, gerade auch mit Betriebsversammlungen, Betriebs-räten und vielem anderem mehr.
– Sie können gern einmal zu einer Betriebsversammlungkommen. Da werden Sie sehen, wie gut ich mit meinenBetriebsräten zurechtkomme.
Aber dieses Tarifsystem – und darum geht es imGrunde genommen – verhindert eine stärkere Lohndiffe-renzierung nach Qualifikationen, nach Branchen undnach Regionen. Wir brauchen eine stärkere Lohnsprei-zung, um auch für die weniger Qualifizierten und dieLangzeitarbeitslosen zukünftig den Einstieg in den Ar-beitsmarkt zu ermöglichen. Dieses Tarifsystem verhindertnatürlich auch betriebsspezifische Regelungen
– das muss man hier auch sagen – zu Lohn und zu Ar-beitszeit, wodurch Arbeitsplätze gesichert oder geschaf-fen werden können. Ich glaube, Sie müssen auch sehen,dass wir in einer veränderten Arbeitswelt leben. Wir brau-chen flexiblere Bestimmungen und auch flexiblere Ver-gütungsmodelle. Wir sind ja nicht die einzigen, die dasanmahnen.
Lesen Sie die Sachverständigengutachten, die diese Ge-setzesreformen dringendst anmahnen.Ich möchte hier aus einem Brief zitieren, den der HerrParlamentarische Staatssekretär Mosdorf am 2. Mai 2000an die Abgeordnete Margareta Wolf – sie war damals nochnicht Staatssekretärin – geschrieben hat:Die arbeitsplatzrelevanten Entscheidungen wie dieFrage gleichbleibende Arbeitszeit bei niedrigeremLohn oder Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichemLohn und insbesondere die Frage Lohnverzicht ge-gen Arbeitsplatzgarantie sind Sache der Tarifpar-teien. Diese sind am besten in der Lage, die Ernst-haftigkeit der Bedrohung des Arbeitsplatzes unddamit den Wert der Arbeitsplatzgarantie einzuschät-zen.
Was haben Sie denn für Betriebsräte? Sie sind dochnicht unmündig.
Die Betriebsräte vor Ort können die Situation eines Un-ternehmens selbst einschätzen, wenn nicht sogar bessereinschätzen als Gewerkschaftssekretäre und Arbeitgeber-funktionäre am grünen Tisch.Wir haben heute eine ganz neue Arbeitnehmerland-schaft. Arbeitnehmer sind heute unternehmerisch tätig.Sie sind schon heute in Entscheidungen eingebunden. Siesind keine reinen Befehlsempfänger, wie Sie es als Funk-tionäre gerne haben möchten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
DagmarWöhrl14616
Ich darf weiter aus dem Brief von Herrn Mosdorf vor-lesen. Er schreibt:Es ist zu begrüßen, im Rahmen der geltenden Ge-setze und Tarifverträge für betriebliche Bündnissezur Beschäftigungssicherung und -förderung einzu-treten. Jetzt gesetzgeberisch einzugreifen würdediese tarifpolitischen Reformansätze unterlaufen undden Tarifvertragsparteien den notwendigen innerenHandlungsdruck für Reformen nehmen.Das ist doch Blödsinn, das ist doch reiner Unsinn, washier geschrieben wird. Es gibt keineswegs in allen Tarif-verträgen Öffnungsklauseln; das wissen Sie genau. So-lange durch Reformen kein Handlungsdruck gegeben ist,wird sich das Tarifkartell nicht bewegen. Alles wird beimAlten bleiben.
Deswegen brauchen wir die gesetzgeberischen Refor-men.
Wir brauchen eine Präzisierung des Günstigkeitsprin-zips dahin gehend, dass eine Abweichung vom Tarifver-trag als günstig anzusehen ist, wenn sie zur Beschäfti-gungssicherung beiträgt. Eine längere Arbeitszeit und einniedrigerer Lohn können in einer Überbrückungszeit not-wendig sein.
Für mich ist es sehr bezeichnend, wie Sie von Rot-Grün reagieren, wenn sich eines Ihrer Mitglieder in einerhellen Stunde einmal Gedanken über die Reform des Ta-rifsystems macht.
Ich erinnere an die Aussage des Kollegen Schlauch. Er hatfür sein Plädoyer zum Günstigkeitsprinzip doppelt einesauf den Deckel bekommen, nämlich einmal vom Bundes-kanzler höchstpersönlich und dann von seiner eigenenPartei.
Ganz anders war es beim Wirtschaftsminister Müller. Ersagte dem „Tagesspiegel“ vom 2. Januar dieses Jahres,eine Änderung des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungs-gesetzes werde von ihm befürwortet.
Darauf gab es keine Reaktion. Dies lief nach dem Motto:Lasst ihn einfach reden, er richtet nichts aus. – DiesenEindruck gewinnt man jedenfalls.
Ich bin gespannt, wie sich Frau Kollegin Wolf alsStaatssekretärin zukünftig in ihrem Amt verhalten wird.Als sie nur Abgeordnete war, war sie in diesem Bereichsehr vollmundig.
Wir werden sehen, inwiefern sie ihre Ideen und Ge-danken, die sie vor der Presse groß ausgebreitet hat, inihrem Amt zukünftig umsetzen wird.
– Wir machen uns große Sorgen. Es geht um eine Flexi-bilisierung des Arbeitsmarktes. Es geht darum, dass un-sere Unternehmen in der Zukunft wettbewerbsfähig sindund bleiben. In den festgefahrenen Strukturen können wirnicht mehr weiter verharren.
Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, habenReformen zurückgenommen und sich Reformen verwei-gert. Das ist – ich glaube, das kann man so sagen – dergrößte Negativposten, den Sie in Ihrer wirtschaftspoliti-schen Bilanz haben.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-
legin Dr. Thea Dückert für die Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-legin Wöhrl, ich weiß nicht, in welcher Realität Sie indieser Woche gelebt haben. Ich habe am Dienstag dieneuen Arbeitsmarktzahlen studiert. Sie haben zweierleigezeigt:
Erstens. Im Gegensatz zum letzten Jahr ist die Arbeitslo-sigkeit um 1 Prozent gesunken. Zweitens. Im Gegensatzzum letzten Jahr ist die Beschäftigung um über eine halbeMillion gestiegen.
Das sind die Fakten. Sie können hin und her reden, so vielSie wollen. Aber Sie machen damit weder die Fakten un-geschehen noch die Erinnerung daran, dass Sie uns eine
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
DagmarWöhrl14617
Arbeitslosigkeit von über 4 Millionen hinterlassen haben,die ihresgleichen sucht.
Lassen Sie mich zu dem Antrag der F.D.P. kommen.Dieser Antrag und auch die gestrige Debatte über die Mit-bestimmung machen eines deutlich – das finde ich sehrschade –: Die F.D.P. schämt sich offensichtlich dafür, dasssie im Jahr 1972 ein Mitbestimmungsgesetz mitverab-schiedet hat.
– Aber sicher; denn der Antrag, den Sie heute vorlegen,hat zum Kern, ein wesentliches Element dieses Betriebs-verfassungsgesetzes, nämlich den § 77Abs. 3, abzuschaf-fen und auszuhöhlen.Eigentlich finde ich, dass Sie sich, gerade in der heuti-gen Debatte um die zukünftige Mitbestimmung, einesnoch einmal zu Gemüte führen sollten: dass sich nämlichgerade die Balance, die in der Bundesrepublik Deutsch-land zwischen der Tarifautonomie und der betrieblichenInteressenvertretung besteht,
im Wesentlichen auf den Tarifvorrang des § 77 Abs. 3stützt und dass das Zusammenspiel von Tarifautonomie,von Tarifvorrang und betrieblicher Mitbestimmung vieldamit zu tun hat, dass wir innerhalb der Betriebe in derBundesrepublik Deutschland so etwas wie eine heilvolle,Frieden stiftende Wirkung bekommen haben.
Meine Damen und Herren von der F.D.P., das Span-nende an dieser Debatte ist,
dass wir hier über Modernisierung und Reformen spre-chen, und zwar auf der Basis einer nun doch allgemeinund übrigens auch international anerkannten spezifischendeutschen Regelung, nämlich einer bestimmten Kulturder Kooperation.
Dazu gehört auch der Tarifvorrang des § 77 Abs. 3.Denn ich glaube, dass dieser eines der Rückgrate ist, vordessen Hintergrund wir darüber diskutieren können undmüssen, wie es uns gelingt, auch in Zukunft mehr be-triebliche Bündnisse für Arbeit möglich zu machen.Diese brauchen wir selbstverständlich.
Selbstverständlich besteht eine globale wirtschaftlicheEntwicklung, gerade auch regional eine Konkurrenzent-wicklung, die betriebliche und regionale Reaktionen aufveränderte Realitäten auch im Sinne der Beschäftigungs-sicherung nötig macht. Aber dazu brauchen wir die Mög-lichkeit – sozusagen das Rückgrat für die Betriebe selberin Gestalt von Betriebsräten und quasi in Gestalt einerRückfalllinie, die der Tarifvertrag liefert –, um betriebli-che Bündnisse sicher zu machen.Ich denke, die Tatsache, dass wir diese spezifische Ba-lance akzeptieren, unterscheidet uns sehr von Ihnen. Siebenutzen gerade die Diskussion um den § 77 Abs. 3 letz-ten Endes als Trojanisches Pferd unter der Überschrift„Beschäftigungssicherung“, um uns hier etwas ganz an-deres zu verkaufen.
– Ich sage Ihnen gern etwas zu den Themen Tarifvorrangund Günstigkeitsprinzip. Denn natürlich ist es berechtigt,über diese Fragen zu diskutieren. Aber eines sage ich Ih-nen noch einmal – das ist der Unterschied zwischen Ihnenund uns –: Wir diskutieren die Frage der betrieblichenVereinbarung nicht vor dem Hintergrund der Preisgabeder Tarifautonomie und des Tarifvorrangs.
Wir diskutieren diese Themen so, wie sie auch imRahmen des Bündnisses für Arbeit angelegt sind. Dortwurde ein Kooperationsvertrag zwischen der BDAunddem DGB geschlossen, damit auf Basis des bestehendenTarifvertragssystems Möglichkeiten gefunden werden,um mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schaffen.Dies ist im Bündnis für Arbeit verabredet worden. Das istdie Basis, auf der wir hier diskutieren. Sie ist eine Basis,auf der wir versuchen, eine moderne Industriepolitik mitsozialer Sicherheit zu verbinden.
– Ganz genau, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.Auch auf Ihren Zwischenruf kann ich nur antworten: Ge-nau das ist modern:
nicht die Zerschlagung und das Abbauen von sozialenStrukturen, sondern das Anpassen von sozialen Struktu-ren, von Partizipation und Mitbestimmung in den Be-trieben an die neuen Herausforderungen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Dr. Thea Dückert14618
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-legen, Sie hören es: Herr Niebel wirft wieder Nebel.
Aber trotzdem werde ich noch etwas zu dem Antrag derF.D.P.-Fraktion sagen. Sie behaupten, dass diese Debatteunter der Überschrift „Beschäftigungspolitik“ zu führensei. Ich möchte Ihnen eines sagen: Diese rot-grüne Koali-tion nimmt die Beschäftigungspolitik sehr ernst. Das ha-ben wir vom ersten Tag an getan.
Sie sollten still sein, weil Sie wirklich in dem berühmtenGlashaus sitzen. Ich habe dazu eingangs ein paar Daten ge-nannt. Ihre eigene Hinterlassenschaft ist schlimm genug.
Gerade der Sachverständigenrat, den Sie beispiels-weise als Kronzeugen zitieren, hat zur Wirtschafts- undKonjunkturpolitik dieser Bundesregierung ganz deutlichgesagt, dass sie auf der Basis einer Steuer- und Abgaben-senkung, einer konsequenten Senkung der Lohnneben-kosten und einer konsequenten Haushaltssanierung einestabile und positive konjunkturelle Entwicklung in derBundesrepublik Deutschland eingeleitet hat, deren posi-tive beschäftigungspolitischen Effekte sich seit Herbst1998 deutlich in den Statistiken widerspiegeln.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derF.D.P.: Von Ihnen brauchen wir keine Nachhilfe in Be-schäftigungspolitik.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Dr. Heinrich Kolb für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich habe hier im Dezemberdie Grundzüge unseres Antrags vorgestellt und damalsauch unseren Leitgedanken deutlich gemacht. Uns geht esdarum, bessere Rahmenbedingungen für mehr Arbeits-plätze in unserem Lande zu schaffen.
Wir wollen verhindern, dass Arbeitsplätze aufgrund un-zureichender Rahmenbedingungen verloren gehen.
Wir werden in unseren Bemühungen massiv von IhremSachverständigenrat unterstützt.
Ich habe im Dezember aus seiner Stellungnahme zitiert undempfehle Ihnen, das im Protokoll nachzulesen. Sie habendamals – ebenso wie im Ausschuss und auch heute – mit ei-ner sehr, ich muss das sagen, selbstgefälligen Argumenta-tion, die schon an Arroganz heranreicht, unsere Argumenteweggewischt
und gesagt: Am Arbeitsmarkt ist alles so toll, es gibt kei-nen weiteren Handlungsbedarf, wir machen das allesschon richtig.
– Und ich will Ihnen noch sagen, Herr Brandner, nachnunmehr zwei Monaten gibt es erste Anzeichen – ich sageIhnen das, damit Sie später nicht behaupten können, Siehätten es nicht gewusst – dafür, dass Sie vielleicht dasGlück hatten, noch von den Ausläufern unserer Politik zuprofitieren.
– Ich denke an UMTS und anderes.
Es gibt Anzeichen dafür, dass Sie jetzt in eine Phase kom-men, in der die Dinge langsam für Sie schwieriger wer-den.Ich lese heute in der Zeitung, dass die Insolvenzen inDeutschland im letzten Jahr um 3,3 Prozent auf 27 500 ge-stiegen sind.
Die Prognose von Creditreform – eine ernst zu nehmendeInstitution – für das Jahr 2000 sagt einen erneuten Anstiegum 4 Prozent auf dann 28 600 Insolvenzen voraus. Ichrede hier nur von den Unternehmensinsolvenzen undnicht von Privatinsolvenzen, die noch dazukommen.Die Arbeitslosenzahl – das finden Sie anscheinend garnicht so schlimm – ist zwar um 200 000 geringer als imJanuar letzten Jahres; aber das ist noch nicht einmal das,was sich letztlich durch den demographischen Faktor be-gründen lässt.
Das heißt, die Tendenz am Arbeitsmarkt ist mittlerweilewieder rückläufig.
– Herr Brandner, der Euro steigt, er ist auf dem Weg zueiner Parität mit dem Dollar. Das heißt, der Motor der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Dr. Thea Dückert14619
Exportwirtschaft wird zukünftig nicht mehr so rund lau-fen, wie das bisher der Fall gewesen ist.
Das Wachstum schwächt sich ab. Davon geht auch IhrePrognose im Jahreswirtschaftsbericht aus.Die Zahl von Firmenneugründungen – das stimmtmich besonders nachdenklich – stagniert bzw. ist rückläu-fig. Auch dazu gibt es im Jahresgutachten Zahlen, die einesehr deutliche Sprache sprechen. Danach hat die Zahl derselbstständigen Erwerbspersonen 1997 noch um 84 000zugenommen, 1998 nur noch um 19 000, hat sich aber1999 um 26 000 verringert und im Jahre 2000 um 17 000zugelegt.
Das heißt, in diesen zwei Jahren haben Sie per saldo einenegative Gründungsbewegung. Das sind Indikatoren, dieSie nachdenklich stimmen sollten. Ich bitte Sie auf jedenFall darum.
– Hochmut, Frau Kollegin Lotz, kommt vor dem Fall.Sie sollten unsere Vorschläge – eben weil sie der Sach-verständigenrat so nachdrücklich unterstützt – wirklichernst nehmen. Ich lese Ihnen noch eine Passage vor:Nach wie vor umstritten ist die in § 77 Abs. 3 Be-triebsverfassungsgesetz festgelegte Unzulässigkeitvon Betriebsvereinbarungen. Gleichwohl haben sichin der Praxis betriebliche Lösungen in großem Um-fang durchgesetzt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kolb,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Ja, gerne.
Lieber Kollege Kolb, die Frage,
die mir vorhin nicht beantwortet worden ist, stellt sich
natürlich immer noch. Vielleicht können Sie mir die Frage
beantworten, die ich vorhin schon dem Kollegen
Brandner stellen wollte.
Wir haben ja leider die Situation, dass im letzten Mo-
nat die Arbeitslosenzahlen auch saisonbereinigt wieder
gestiegen sind und nicht einmal die demographische Ent-
wicklung am Arbeitsmarkt widergespiegelt wird. Jetzt
fordern Sie in Ihrer Neuregelung des Tarifvertragsrechts
ein Mehr an Flexibilität, ein Mehr an Mitbestimmung der
Belegschaft im eigenen Betrieb.
Könnte dieser Anstieg der Arbeitslosigkeit auch darin
begründet sein,
dass die Wirkungen verschiedener Gesetzesvorhaben der
Bundesregierung – von 630 Mark über die so genannten
Scheinselbstständigen, Pflichtteilzeit, Betriebsverfassung
bis hin zur Gängelung im Tarifvertragsrecht – auf die
Wirtschaft psychologisch so negativ gewesen sind, dass
keine Arbeitsplätze mehr geschaffen werden?
Stimmen Sie mir weiter zu, dass es für einen Arbeitneh-
mer günstiger sein kann,
kurzzeitig weniger Arbeitseinkommen zu haben, dafür
aber langfristig einen Arbeitsplatz zu behalten?
Herr Kollege Niebel,ich muss Ihnen leider zustimmen. Die zunächst noch po-sitive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die aber jetztzum Stocken kommt, ist trotz der gesetzgeberischen Maß-nahmen der rot-grünen Bundesregierung zu verzeichnengewesen. Natürlich hängen diese Gesetze – 630 Mark,Scheinselbstständigkeit – mit den Zahlen zusammen, dieich hier zum Existenzgründungsgeschehen vorgetragenhabe,
weil man in der SPD offensichtlich nicht bereit ist, zurKenntnis zu nehmen, dass es ein notwendiger Zwi-schenschritt von der Beschäftigung als Arbeitnehmer zumselbstständigen Unternehmer ist, dass man phasenweisesich so beschäftigt, wie es von Ihnen als Scheinselbst-ständigkeit diskriminiert wird.
Das heißt, dass ein Arbeitnehmer zunächst erst einmal fürseinen bisherigen Arbeitgeber tätig ist, auch mit Fami-lienangehörigen, und dann allmählich sein Unternehmenentwickelt.Sie haben also vollkommen Recht
und ich halte es wirklich für Arroganz, wenn die rot-grüneKoalition nicht bereit ist, diese grundlegenden Fakten zurKenntnis zu nehmen, und so tut, als ob das, was sie in derVergangenheit gemacht hätte, absolut richtig gewesenwäre.
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Dr. Heinrich L. Kolb14620
– Herr Dreßen, ich will noch weiter zitieren aus diesemSachverständigengutachten. Da heißt es:Offenbar besteht in den Betrieben in einem beachtli-chen Umfang eine Bereitschaft für dezentrale Lö-sungen. Sonst hätten in den letzten Jahren viele Be-triebsräte nicht einer vom Tarifvertrag abweichendenBetriebsvereinbarung zugestimmt. Man darf davonausgehen, dass sie dies nicht gegen die Interessen derBelegschaft getan haben.Der Sachverständigenrat sagt weiter:Betriebsvereinbarungen haben sich in der Praxis be-währt.Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen und das ist dieLeitlinie unseres Antrages.
Bei unserem Vorschlag, § 77 Abs. 3 und auch dasGünstigkeitsprinzip zu ändern, knüpfen wir das Ganze anein Quorum. Das ist immerhin ein Stück Absicherung.Anders als bei Ihren Vorschlägen, wie Betriebsräte ge-wählt werden sollen – da genügt es vollkommen, wennman mittags alleine eine Betriebsversammlung durch-führt und sich selbst wählt –, schlagen wir vor, dass un-sere Regelung nur dann greifen soll, wenn 75 Prozent derabstimmenden Arbeitnehmer einer solchen Regelung zu-stimmen.
Nur dann, Herr Brandner, soll das Verhandlungsergebnisauch Vertragsinhalt werden.
Damit ist der einzelne Beschäftigte ausreichend ge-schützt.
Unser Entwurf hat auch das Ziel, die Gesetzgebungwieder der realen Praxis, insbesondere in Ostdeutsch-land, anzupassen. Die Tatsache, dass man bei den ost-deutschen Arbeitgebern mangels Mitgliedschaft kaumnoch von Tarifpartei reden kann, spricht doch für sich.Das heißt, wir müssen weg von der Auffassung der Ver-bandsgeschäftsführer, auch bei der BDA. Wir müssen unsden Anforderungen des 21. Jahrhunderts stellen. Dasheißt, wir brauchen flexible, unbürokratische, individu-elle Tariflösungen.
Es kommt immer das Argument, das Sie, HerrBrandner, heute auch vorgetragen haben: Es gibt ja Öff-nungsklauseln. Dazu sage ich Ihnen: Die Öffnungsklau-seln sind wie ein Konfektionsanzug, bei dem man einbisschen Stoff herauslassen kann, wenn er nicht so richtigpasst. Wir wollen aber Maßanzüge für den Mittelstand.Der Mittelstand ist unser Jobmotor; deswegen braucht eroptimale Rahmenbedingungen.
Wir sind die einzige Partei – auf das Abstimmungsver-halten der Kollegin Wöhrl bin ich gespannt –, die die not-wendigen Veränderungen bisher so klar formuliert hat.Unsere Vorschläge zur Änderung des Tarifvertragsgeset-zes sind nicht isoliert zu sehen; vielmehr stehen sie in ei-nem Gesamtzusammenhang mit unseren Vorschlägen zurModernisierung des Kündigungsschutzgesetzes, mit ei-ner an den tatsächlichen Erfordernissen orientierten Wei-terentwicklung des Betriebsverfassungsgesetzes, mitverbesserten Möglichkeiten befristeter Beschäftigungund mit unserer klaren Ablehnung eines Rechtsanspruchsauf Teilzeitarbeit.
Wir wollen eine Entfesselung des Arbeitsmarktes. Wirwollen mehr Chancen für neue Arbeitsplätze und wir wol-len die besten Entwicklungsmöglichkeiten für den Mittel-stand. Wer das auch will, den bitte ich um Zustimmung zuunserem Antrag.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Kolb, nach soviel Widerspruch, den Sie erhalten haben,
will ich Ihnen mindestens in einem zustimmen: Sieschreiben in Ihrem Antrag: „Nach wie vor herrscht inDeutschland eine dramatisch hohe Arbeitslosigkeit.“ Ichglaube, das ist angesichts von über 4 Millionen Arbeitslo-sen, angesichts der großen stillen Reserve und angesichtsjenes Teils der Arbeitslosen, den ich als „die Teilzeitar-beitslosen“ bezeichne – diese Menschen wollen voll ar-beiten, müssen aber aufgrund der prekären Beschäfti-gungslage Teilzeit arbeiten –, wahr.Wenn Sie aber diesem Problem mit dem von Ihnen ein-gebrachten Antrag begegnen wollen, dann bringt das soviel wie Luftschaufeln.
Die Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit liegen ebennicht in dem starren Tarifsystem oder in der Lohnhöhe,wie Sie behaupten. Lassen Sie mich als Begründung zweiTatsachen anführen, die Ihre Formel „Weniger Lohn undweniger Tarif gleich weniger Arbeitslosigkeit bei mehrArbeitsplätzen“ widerlegen.
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Dr. Heinrich L. Kolb14621
Erstens. Die Steigerung der Löhne der deutschen Ar-beitnehmer in der gewerblichen Wirtschaft um gut 2 Pro-zent im vergangenen Jahr war geringer als 1999. Seit Be-ginn der 90er-Jahre sind die Löhne real weniger als dieArbeitsproduktivität gestiegen. Trotzdem habe ich in kei-ner der mir zugänglichen Begründungen für das Sinkenvon Arbeitslosigkeit die Erklärung gefunden, das liege anden niedrigen Löhnen.Zweitens. In der ersten Lesung haben Sie, Herr KollegeKolb – Sie werden sich erinnern –, in einem Zwischenrufgefragt: Was passiert denn in den neuen Ländern?
Die Antwort auf diese Frage führt Ihren Antrag allerdingsad absurdum.
Die Situation in den neuen Bundesländern ist durch einenhohen Anteil von Betrieben gekennzeichnet – dieser An-teil wächst –, die keinem Tarifvertrag beigetreten sindoder die sozusagen kalt austreten, und durch einen hohenAnteil von Betrieben, die trotz der Löhne, die ohnehinniedriger als in den alten Bundesländern sind, untertarif-lich bezahlen.
Nach Ihren Aussagen müssten die neuen Bundesländerdementsprechend ein Eldorado für Arbeitsplätze sein.
Aber das Gegenteil ist der Fall, Kollege Kolb – das wis-sen Sie so gut wie ich –: die höchste Arbeitslosigkeit trotzwachsender Abwanderungsquote und zunehmende Armuttrotz mehr Erwerbstätigkeit. Das ist die Wahrheit imOsten.
Lassen Sie mich zwei weitere grundsätzliche Beden-ken anmelden. Zum einen – da stimme ich dem KollegenBrandner, wie in anderen Dingen auch, voll zu –: Das Ta-rifvertragsrecht ist Ausfluss des Sozialstaatsprinzips.Wer das Sozialstaatsprinzip angreift, der greift dasGrundgesetz an. Mit Ihrem Antrag sind Sie auf dem Weg,das Grundgesetz zu missachten.
Wer anfängt, eine tragende Wand einzureißen, der mussdamit rechnen, dass Teile des Hauses einstürzen. LassenSie die Finger von der tragenden Wand!Zum anderen: Was halten Sie eigentlich von dem Zu-sammenhang zwischen Leistungsfähigkeit, Leistungsbe-reitschaft und sozialen Lebenslagen? Die Durchsetzung Ih-res Antrages würde für den sozialen Zusammenhalt derGesellschaft und für den Produktionsstandort Deutschlandeine nicht hinnehmbare Schwächung bedeuten, also genaudas Gegenteil von dem, was Sie eigentlich erreichen wol-len, ganz zu schweigen davon, dass eine solche Entwick-lung mit einer Politik der sozialen Gerechtigkeit, für die wirstehen, nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.Wenn dieses Land neue Regelungen im Tarifrechtbraucht, dann höchstens Regelungen, die das Aushöhlenund das Unterlaufen des Tarifrechts verhindern. Dagegensollen die vorgeschlagenen Regelungen das deutsche Ta-rifsystem demontieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt derKollege Olaf Scholz für die SPD-Fraktion.
Olaf Scholz [SPD]: Liebe Kolleginnen und Kollegen,der Antrag der F.D.P. bringt große Probleme mit sich, weiler nicht ganz im Einklang mit unserer Verfassung steht.
Unsere Verfassung garantiert die Tarifautonomie. Nunkann man sich die Ausgestaltung der Tarifautonomienatürlich vielfältig vorstellen. Man kann sich aber nichtvorstellen, dass es eine Tarifautonomie gibt, bei der dieje-nigen, die gar keine Tarifpartner sind, nachher beschließenkönnen, dass alles, was tariflich vereinbart worden ist,keine Gültigkeit hat. Im Prinzip schlagen Sie das vor.
Zum einen schlagen Sie vor, dass neben den Organisa-tionen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die sich, wievon unserer Verfassung garantiert, zu Koalitionen zusam-menschließen und Verträge miteinander schließen dürfen,auch ein Gremium, das keiner der beiden Tarifparteien an-gehört, nämlich die Versammlung der Belegschaft oderaber der Betriebsrat,
beschließen darf, dass die Beschlüsse der Tarifparteiennicht gelten. Auf diese Weise würde die Koalitionsfreiheitin unserem Lande abgeschafft. Das ist Inhalt Ihres Antra-ges und das steht nicht im Einklang mit der Verfas-sungsordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Des Weiteren schlagen Sie vor – das läuft auf die glei-che Sache hinaus –, dass Betriebsräte gewissermaßen ei-nen Tarifvertrag in der Form ändern können, dass anstellevon tariflich vereinbarten Löhnen eine Beschäftigungs-aussicht tritt. Abgesehen davon, dass Sie in dieser Fragenicht konsequent sind, sonst müssten Sie festlegen, dass
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Dr. Klaus Grehn14622
Beschäftigungsgarantie bedeutet, dass man in den nächs-ten zwei bis drei Jahren nicht gekündigt werden darf – soist es eine abstrakte Beschäftigungsgarantie –, ist dieserVorschlag identisch mit dem ersten Vorschlag, denn Sieschaffen die Möglichkeit, dass ein Gremium, das nicht zuden Tarifparteien gehört, Vereinbarungen der Tarifpar-teien aussetzen kann.Damit gefährden Sie sogar die Grundprinzipien unse-rer sozialen Marktwirtschaft. Diese beruhen unter ande-rem darauf, dass Betriebsräte in Deutschland von der ge-samten Belegschaft gewählt werden und, anders als inallen anderen Ländern, keine Gewerkschaftsangehörigensein müssen. Wenn Ihr Vorschlag durchkommt, führt dasdazu, dass die Betriebsräte unmittelbar
zu Tarifpartnern werden und es zu Auseinandersetzun-gen über Gehaltserhöhungen in den Betrieben kommt.Damit wird ein zentrales Prinzip unserer Sozialordnunginfrage gestellt. Sie sollten die Finger davon lassen.
Ich glaube übrigens, dass Sie damit auch den Arbeit-gebern in unserem Lande keinen Gefallen tun. Natürlichberuht der Konsens, der unsere Wirtschaft trägt, darauf,dass gewissermaßen die betriebliche Ordnung vom Tarif-konflikt und von der Auseinandersetzung über Löhne frei-gehalten wird. Das ist auch der Sinn des Tarifvorranges.Sie wollen das alles ändern. Im Ergebnis erreichen Sie da-durch nur, dass es überall Auseinandersetzungen überdiese Dinge geben
und es zu mehr Streit als bisher üblich kommen wird.
Im Übrigen muss man einen Punkt noch ergänzen; mirist es ganz wichtig, das zu sagen. Sie haben eine klare Vor-stellung davon, was unserer Wirtschaft nützt: niedrigereLöhne, nur niedrigere Löhne. Sie haben keine anderenIdeen; Sie sind überhaupt nicht intelligent und flexibel,Sie haben nicht viele Einfälle, sondern immer wieder nurden gleichen Einfall: niedrigere Löhne nützen. Sie irrensich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Scholz,
es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage vom Kol-
legen Dr. Kolb. Lassen Sie die zu?
Ja.
Herr Kollege Scholz,
erklären Sie mir doch bitte einmal, warum bei Holzmann
niedrigere Löhne über einen bestimmten Zeitraum offen-
sichtlich nützlich waren und das sogar von Ihrem Bundes-
kanzler, wenn ich das richtig sehe, toleriert wurde, aber in
anderen Fällen, wenn der Segen des Bundeskanzlers nicht
erteilt wird, das nicht der Fall sein soll.
Können Sie mir vielleicht bei dieser Gelegenheit auch
sagen, wie Sie zu den Vorschlägen von Herrn Müller ste-
hen und wie Sie beurteilen, dass die Bundesregierung
offensichtlich heute hier nicht sprechen will? Liegt das
vielleicht daran, dass es keine zwischen Herrn Riester und
Herrn Müller abgestimmte Meinung gibt?
Ich möchte gerne zunächst auf
den letzten Punkt antworten. Die Bundesregierung ist sich
bei uns Abgeordneten der SPD und der Grünen so sicher,
dass wir die Tarifautonomie im Gegensatz zu Ihnen wich-
tig finden, dass nicht sie das sagen muss, sondern wir Ab-
geordnete das sagen können.
Es gibt überhaupt kein Mitglied der Bundesregierung, das
in dieser Frage anderer Meinung wäre, als ich hier darge-
stellt habe.
Das wünschen Sie sich, aber das wird durch Wünschen
nicht so.
Das Zweite. Das Beispiel Philipp Holzmann ist ein völ-
lig falsches und wird auch dadurch nicht richtiger, dass
Sie es trotz vielfacher Belehrungen in diesem Haus und an
anderer Stelle immer wieder bringen. Denn bei Philipp
Holzmann hat etwas stattgefunden, was der Kollege
Brandner und auch andere Redner hier schon dargestellt
haben. Natürlich ist es völlig in Ordnung, wenn im Rah-
men der tariflichen Ordnung mit Billigung der Tarif-
parteien Vereinbarungen getroffen werden, die Abwei-
chungen für bestimmte Zeit enthalten. Das gibt es
massenhaft. In Ostdeutschland gibt es lauter solcher Öff-
nungen.
Sie setzen sich nur ideologisch mit der Tarifordnung
unseres Landes auseinander, aber nicht mit der Realität,
die flexibler ist, als die F.D.P. überhaupt ahnen kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt eine weitere
Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb.
Herr Scholz, wir allehaben das verfolgt. Man kann nicht sagen, dass insbeson-dere die mittelständischen Mitglieder des Tarifverbandes
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Olaf Scholz14623
mit besonderer Begeisterung auf den Vorschlag, Erleich-terungen für das Großunternehmen Holzmann zu ermög-lichen, eingeschwenkt sind.
Vielmehr ist das offensichtlich auf massiven Druck derGewerkschaften hinter den Kulissen geschehen.
Mein Punkt ist, dass in bestimmten Fällen,
wenn es den Gewerkschaften ins Konzept passt, von Ta-rifvereinbarungen abgewichen werden darf und in ande-ren Fällen, wenn sie glauben, es besser zu wissen, dasnicht geschehen soll. Können Sie mir einmal diesen Wi-derspruch erklären?
Das ist ganz einfach. Denn es be-
steht gar kein Widerspruch.
Das war nicht einmal rhetorisch gelungen. Sie denken
nicht zu Ende. Einerseits werfen Sie den Gewerkschaften,
aber auch den Arbeitgeberverbänden vor, dass die Tarif-
ordnung nicht flexibel sei. Wenn Ihnen dann aber vorge-
halten wird, dass es doch Öffnungen und Flexibilität gibt,
dann sagen Sie: Das ist aber nicht konsequent.
Sie stellen sich eine Welt vor, die es gar nicht gibt, und
kritisieren sie dann gewaltig.
Das sollten Sie ändern. Sie sollten zur Kenntnis nehmen,
dass unsere Wirtschaftsordnung davon lebt, dass wir sehr
flexible Tarifparteien haben. Deshalb gibt es die Schwie-
rigkeiten, von denen Sie sprechen, nicht.
Zweite Bemerkung. Sie haben vom Mittelstand ge-
sprochen. Er hat das Problem, von dem Sie sprechen, gar
nicht. Das Problem der mittelständischen Bauwirtschaft
hat Herr Möllemann, als er noch Wirtschaftsminister war
– bis zu diesem Chip –, mit eingebrockt, weil er mitge-
holfen hat, dass auf der gleichen Baustelle die einen Leute
6 DM kriegen und die anderen Leute 28 DM kosten.
Wenn ich Sie konsequent verstehe, haben Sie das so ge-
meint: Löhne von 28 DM sind falsch; 6 DM sind gut. –
Aber dann sollen die Wähler das auch wissen.
Da fällt mir eine ganz komische Begebenheit ein.
Mein DGB-Vorsitzender hat mich darüber aufgeklärt,
dass die Hamburger F.D.P. am 1. Mai einen Stand ma-
chen will. Will sie da für die Abschaffung der Tarifauto-
nomie demonstrieren, für die Beseitigung der Gewerk-
schaften? Was ist das für ein komischer Auftritt zum
1. Mai!
Wir haben eine sehr ordentliche Wirtschafts- und So-
zialordnung. Sie hat viele Merkmale, zu denen wir uns be-
kennen, wenn wir auch Flexibilität und Modernisierung
benötigen. Unsere Wirtschaftsverfassung lebt von freier
Marktwirtschaft, aber auch von Kündigungsschutz, So-
zialversicherung, Betriebsrat und Gewerkschaften. Sie
wollen alle Teile außer der freien Marktwirtschaft in
Frage stellen.
Ich sage Ihnen: Das würde sich bitter rächen, wenn Sie je-
mals die Chance hätten, so etwas durchzusetzen.
Wir haben auf dieser Basis eine erfolgreiche Wirt-
schaftsordnung aufgebaut. Wir werden sie auch in der
neuen Wirtschaft zustande bekommen. Der Stolz jedes
Unternehmens der IT-Branche, das neu entstanden ist,
wird es sein, zum Beispiel einen Betriebsrat zu haben,
endlich in einen Tarifvertrag einbezogen zu sein.
Das werden wir dann gemeinsam feiern können.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Heinz Schemken für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen sicherlichdie notwendige Flexibilität, um Arbeitsplätze zu sichern.Aber wir können nicht zulassen, Herr Kolb, dass dasRecht des Einzelnen, einen Tariflohn zu bekommen,durch eine Kollektivabstimmung innerhalb eines Betrie-bes ausgehöhlt wird. Nur der einzelne Mitarbeiter kannauf seinen Tariflohn verzichten. An dieser Rechtssituation
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Dr. Heinrich L. Kolb14624
kommen wir nicht vorbei. Da beißt die Maus keinen Fa-den ab.
Der Tarifvertrag ist eine wichtige Voraussetzung fürdie Tarifpartnerschaft. Wir wollen diese Partnerschaft er-halten, weil sie den Betriebsfrieden in der Vergangenheitgesichert hat und ihn auch heute noch sichert. Sie aberwollen die Flächentarifverträge abschaffen. Sie gefährdendamit die Tarifautonomie und die Tarifpartnerschaft. Wirkönnen dem nicht zustimmen.Allerdings sind wir durchaus der Meinung, dass einflexibles Handeln auch im Hinblick auf das Günstigkeits-prinzip neue Möglichkeiten eröffnet. Wir sind offen füreine entsprechende Diskussion.
– Nein, wir eiern nicht herum. Der Unterschied zu Ihnenist – das sage ich ausdrücklich –, dass ich keine Scheu-klappen habe.
An der großen Zahl von fast 50 000 Tarifverträgen– hinzu kommen noch 6 000 Haustarifverträge – kannman erkennen, dass wir eine sehr unterschiedliche Land-schaft haben, was die Tarifverträge und die sehr spezifi-sche Situation in den einzelnen Branchen angeht. Wirmöchten einerseits die Tarifhoheit aufrechterhalten; wirmüssen aber andererseits über praktikablere Regelungennachdenken. Auch Sie werden an solchen Überlegungennicht vorbeikommen.
Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Kernfrage,
– nein, es geht um eine andere Frage –, wie die Mitwir-kungsrechte weiter entwickelt werden können. Wir befin-den uns im Moment in der Diskussion um diese Mitwir-kungsrechte derArbeitnehmerschaft.Wir werden dieseDiskussion in den nächsten Wochen fortsetzen. Entschei-dend ist, dass wir die Mitwirkungsrechte so ausgestalten,dass die Arbeitnehmer die Möglichkeit haben, einen Ein-blick in die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betriebeszu erlangen, wenn es um Abweichungen von Tarifverträ-gen geht. Andernfalls können sie nicht in verant-wortungsvoller Weise mitwirken.Wir lehnen jede kollektive Verantwortung ab und stel-len ausdrücklich fest, dass angesichts der fortgesetztenEntwicklung der Informationsgesellschaft die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer mündiger geworden sind. Essteht außer Frage, dass sie in der Lage sind, mitzuwirkenund Verantwortung zu tragen.Wir erwarten eine sachliche Diskussion über dasBetriebsverfassungsgesetz. Wir sind der Meinung, dassohne einen Anspruch auf Mitwirkung im Betrieb eine Öff-nung des Günstigkeitsprinzips nicht verantwortet wer-den kann. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmermüssen die Möglichkeit haben, zur Einsicht zu gelangen,dass sich der Verzicht auf Lohn oder auf andere Leistun-gen lohnt, um Arbeitsplätze zu sichern. Das ist für uns derganz entscheidende Punkt.
Wir halten es für erforderlich, dass das Betriebsverfas-sungsgesetz geändert wird, und werden praxisnahe Lö-sungen im Hinblick auf die Betriebsverfassung anstreben.Aber es muss an der richtigen Stelle die richtige Änderungerfolgen.
Wir möchten insbesondere der Tatsache Rechnung tragen,dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie ich eseben schon gesagt habe, mündiger geworden sind. Wirtreten dafür ein, dass sie im Betrieb mitwirken und diewirtschaftliche Situation eines Betriebes bewerten kön-nen, wenn es in einer schwierigen Situation um die Er-haltung der Arbeitsplätze geht.Deshalb sind wir für die Tarifautonomie und für die Ta-rifpartnerschaft. Allerdings sehen wir in der Frage der Be-triebsverfassung für die Bundesregierung eine fast unlös-bare Aufgabe. Da gibt es ja zwischen Herrn Müller undHerrn Riester große Unterschiede. Herr Riester hat ges-tern Herrn Müller einmal die Hand gedrückt. Aber ermüsste das eigentlich 26-mal tun, denn er weicht 26-malvom Regierungsentwurf, über den diskutiert wird, ab.
Im Übrigen möchten wir keine Fremdbestimmung vonaußen, sondern, weil es um mündige Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer geht, die Mitwirkung im Betrieb. Auchdie Überwindung des Klassenkampfes zwischen Kapitalund Arbeit ist übrigens ein ureigenes Anliegen derCDU/CSU, und zwar seit 1952.
– Die Überwindung des Klassenkampfes zwischen Arbeitund Kapital war immer ein Anliegen der CDU/CSU undhat sich durch unsere Gesetzgebung und durch unsere Ini-tiativen durchgesetzt.
Sie haben jetzt erstmals die Chance, auf diesem Weg derTugenden fortzuschreiten.
Abschließend zu Ihrer Statistik der Arbeitslosigkeit.
Das muss einmal geradegerückt werden. Wir liegen beifast 4,1 Millionen Arbeitslosen.
Die Witterung draußen ist so, dass ich heute wieder malkeinen Schal brauchte.
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Heinz Schemken14625
Was will ich damit sagen? Sie können sich nicht auf diesaisonbereinigten Zahlen von 4,1 Millionen zurückzie-hen. Sie wären bei 4,6 Millionen Arbeitslosen
– ich komme gleich dazu –, wenn Sie nicht folgenden Ef-fekt hätten: Die geburtenstarken Jahrgänge bringen es mitsich, dass Sie jährlich 200 000 Menschen in den verdien-ten Ruhestand schicken können.
Hinzu kommen die 630-Mark-Arbeitsverhältnisse, die inreguläre Arbeitsverhältnisse umgewandelt worden sind.
Die Frau Staatssekretärin hat diese Zahl mit 0,4 Prozentangegeben. Das wären dann noch einmal rund 250 000.
Das bedeutet, 250 000 Arbeitslose weniger aufgrundder demographischen Veränderung plus 200 000 Arbeits-lose weniger aufgrund der 630-Mark-Arbeitsverhältnisse.Insofern wäre ich etwas vorsichtig mit Ihrer Feststellung,
dass nur anderthalb Jahre eine SPD-Regierung am Rudersein müsste, um die Arbeitslosenzahlen zu verringern.Ich kann Ihnen nur eines sagen: Bei der nächstenKonjunkturabschwächung werden wir wieder gemeinsaman diese Arbeit herangehen. Darüber werden Sie froh sein.Ich würde mich an Ihrer Stelle zu dieser Frage beschei-dener verhalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Schemken, es
gibt den Wunsch des Kollegen Olaf Scholz, eine Zwi-
schenfrage zu stellen.
Bitte schön.
Haben Sie bei der Lektüre der ver-
schiedenen Statistiken jeweils die Fußnote gesehen, in der
steht: Die Veränderung durch die Einbeziehung der ge-
ringfügig Beschäftigten ist berücksichtigt, das heißt, die
Zahlen sind insofern bereinigt? Sie sind also herausge-
rechnet worden, und damit trifft Ihre Aussage, dass die
Umwandlung der geringfügigen Beschäftigungsverhält-
nisse für die Zahl der Erwerbstätigen eine Rolle spielt,
nicht zu.
Herr Scholz, 4,1 Mil-
lionen sind 4,1 Millionen, Fußnote hin oder her.
Wenn Sie die 200 000, die in den verdienten Ruhestand
getreten sind, nicht als Entlastung hätten und wenn Sie die
630-Mark-Arbeitsverhältnisse nicht eingerechnet hätten,
dann – davon können Sie ausgehen – läge die Arbeitslo-
senzahl bei über 4,5 Millionen.
Hinzu kommen Ihre hehren Programme, das sage ich
auch noch einmal. Bei aller Liebe zu den Programmen,
die, was die jungen Arbeitslosen angeht, sicherlich hier
und da ein guter Ansatz sind, so sind es eben doch staatli-
che Programme. Das ist nicht das, was wir alle miteinan-
der wünschen: dass die Wirtschaft ausbildet und dass die
Menschen über die duale Ausbildung in Arbeit kommen.
Es sind staatliche Maßnahmen, die – damit rühmen Sie
sich ja – fast 300 000 Menschen erfassen. Wenn Sie diese
noch hinzurechnen, sieht die Lage noch dramatischer aus.
Was heißt das? Wir müssen gemeinsam daran arbeiten.
Jedes einzelne Arbeitslosenschicksal ist eines zu viel. Da-
rüber sind wir uns alle einig. Dafür wollen wir aber nicht
solche Gesetze schaffen. Wir können nicht zustimmen,
weil es nicht hilft. Dennoch bitte ich Sie, etwas nobler mit
uns umzugehen. Vielleicht haben Sie uns eines Tages bit-
ter nötig.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Klaus Brandner das
Wort.
Meine Damen und Herren!Sowohl Herr Kolb als auch der Kollege Heinz Schemkenhaben die Arbeitslosenzahlen und die Arbeitsmarktdatenangesprochen. Ohne Frage werden wir mit der Oppositionund insbesondere auch mit einem so angenehmen Kolle-gen wie dem Kollegen Schemken fair und offen umgehen.Das versteht sich von selbst. Aber zu den Daten möchteich doch klar sagen: Erstens drückt sich der positive Trendam Arbeitsmarkt durch einen deutlichen Zugang von of-fenen Stellen aus, nämlich durch einen Zuwachs auf484 000 im Monat Januar. Das ist ein deutlich positivesErgebnis.Zweitens haben sich die Erwerbstätigenzahlen mit de-nen die Arbeitsplatzentwicklung dargestellt werden kann,
nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtesim November 2000 gegenüber dem Vorjahresmonat eben-falls deutlich um 549 000 auf 39,08 Millionen erhöht. Ichbitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Daran ist zu er-kennen, dass die Arbeitslosigkeit auch durch den Zu-wachs an neuen Arbeitsplätzen deutlich reduziert wordenist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Heinz Schemken14626
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kolb, Sie könn-
ten jetzt nur eine Kurzintervention bezüglich des Beitra-
ges des Kollegen Schemken machen. Eigentlich hätte
jetzt der Kollege Schemken die Möglichkeit zu erwidern.
Das muss noch einmal geklärt werden. –
Okay. Es ist geklärt. Der Kollege Kolb bekommt jetzt die
Chance, sich zu erklären, weil er in dieser Kurzinterven-
tion angesprochen worden ist.
Frau Präsidentin! Ich
danke für diese Entscheidung, die ich sehr weise finde.
Ich habe mich nicht gemeldet, weil mich der Kollege
Brandner in seiner Kurzintervention nicht als angeneh-
men Menschen erwähnt hat. Damit kann ich leben. Ich
habe mich vielmehr gemeldet, weil ich ihm noch einmal
klar vor Augen führen will, wie unsere Einschätzung der
Entwicklung am Arbeitsmarkt ist.
Herr Kollege Brandner, was die Entwicklung der Zahl
der Erwerbstätigen anbelangt, so kennen Sie sie im Mo-
ment so wenig wie wir. Wir wissen, dass sie erst mit Ver-
zögerung von der Bundesanstalt für Arbeit bekannt gege-
ben werden. Wir kennen die Arbeitslosenzahlen und wir
wissen, dass diese – auch nach Aussage der Bundesanstalt
für Arbeit – saisonbereinigt derzeit steigen. Das ist ein
Faktum.
Wir haben als Bundesregierung auch Phasen erlebt, in
denen wir innerhalb kurzer Zeit enorme Beschäftigungs-
zuwächse zu verzeichnen hatten. Einmal waren es 26Mil-
lionen Beschäftigte, kurz darauf 29,5 Millionen Er-
werbstätige in Deutschland. Konjunktur ist keine
Einbahnstraße. Auch Sie werden Phasen erleben, in denen
die Erwerbstätigenzahl rückläufig ist. Ich sage Ihnen jetzt
schon: Mit dem Hochmut, mit dem Sie heute argumentiert
haben, wird Ihnen der Arbeitsmarkt um die Ohren fliegen.
Ich will noch eines ergänzend ansprechen, was ich in
meiner Darstellung vorhin nicht erwähnt habe. Das ist die
Investitionsneigung insbesondere des Mittelstandes. Ich
bin öfter vor Ort, spreche mit dem Mittelstand.
So war ich am Montag dieser Woche bei einer Vertreter-
versammlung meiner örtlichen Volksbank. Der Vor-
standssprecher hat erklärt, dass die Zahl
– Herr Brandner, hören Sie doch zu; das ist wichtig für
Sie – der Anträge auf Investitionsdarlehen im letzten Jahr
von 2 000 auf 1 400 zurückgegangen sei. Herr Brandner,
das ist ein Erdrutsch. Das heißt, weite Bereiche des
Mittelstandes enthielten sich offensichtlich bereits im
vergangenen Jahr, bedingt durch die Gesetzgebung, die
Sie vorgenommen haben, jeglicher Investitionen. Ich
sage Ihnen: Das wird sich durch die Veränderungen bei
der Abschreibung, die Sie vorgenommen haben, noch
verschärfen.
Wenn Sie sich weiterhin weigern, solche Frühindikato-
ren zur Kenntnis zu nehmen, dann werden Sie massive
Probleme mit einem sehr hohen Sockel an Arbeitslosig-
keit bekommen, sobald wir in die nächste konjunkturelle
Schwächephase eintreten. Und das wird – das ist abseh-
bar – noch zu Ihrer Regierungszeit sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung zum Antrag der Fraktionder F.D.P. zur Reform des Tarifvertragsrechts. Es handeltsich um die Drucksache 14/5214. Der Ausschuss emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2612 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istgegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungRaumordnungsbericht 2000– Drucksache 14/3874 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Tourismusb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- undWohnungswesen
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungEuropäisches Raumentwicklungskonzept
– Auf dem Wege zu einer räum-
lich ausgewogenen und nachhaltigen Ent-wicklung der EU– zu dem Entwurf derMitteilung der Kommis-sion an die Mitgliedstaaten über die Leitli-nien für eine Gemeinschaftsinitiative betref-fend die transeuropäische Zusammenarbeitzur Förderung einer harmonischen undausgewogenen Entwicklung des europä-ischen RaumsAnlage des Bundesamtes für Bauwesen undRaumordnung:Transnationale Zusammenarbeit in derRaumentwicklung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001 14627
– zur der Entschließung des Europäischen Par-laments zu dem Entwurf derMitteilung derKommission an die Mitgliedstaaten überdie Leitlinien für eine Gemeinschaftsini-tiative betreffend die transeuropäische Zu-sammenarbei zur Förderung harmoni-schen und ausgewogenen Entwicklung deseuropäischen Raums
– Drucksachen 14/1388, 14/1616 Nr. 1.4,14/3207 Nrn. 2.2 und 2.1, 14/3947 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter GötzNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner sprichtder Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.A
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bun-desregierung legt dem Parlament heute den Raumord-nungsbericht 2000 vor. Dieser neue Raumordnungsbe-richt legt in mehrerlei Hinsicht neue Grundlagen.Erstmals seit 1983 haben wir einen Bericht zur räumli-chen Situation im vereinten Deutschland, einschließlichder europäischen Perspektiven, erarbeitet. Damit ist eineüberfällige Bestandsaufnahme der Situation in den Teil-räumen des Bundesgebietes und die notwendige Aktuali-sierung der Daten und Planungsgrundlagen erfolgt.Der Raumordnungsbericht enthält erstmals als integra-len Bestandteil einen umfassenden Überblick über denEinsatz der raumwirksamen Bundesmittel. Dies ist natür-lich besonders im Hinblick auf die neuen Bundesländervon Bedeutung.
Weiterhin ist der Raumordnungsbericht 2000 der Bun-desregierung entsprechend der Novellierung des Raum-ordnungsgesetzes erstmalig vom Bundesamt für Bauwe-sen und Raumordnung in enger Abstimmung mit demBMVBWerstellt worden. Ich meine, der Bericht ist so gutgeworden, dass man den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnungan dieser Stelle wirklich einmal danken sollte.
Aus der Fülle der Aussagen, Trends und Analysen desBerichtes, die wir sicherlich nur im Ausschuss intensiverdiskutieren können, will ich einige Eckpunkte hervorhe-ben.Erstens. Wir haben in Deutschland hohe Standortqua-litäten. Die deutsche Raum- und Siedlungsstruktur hatauch im internationalen Maßstab eine sehr hohe Qualität.Natürlich gibt es Defizite, gerade aus der letzten Zeit, wasbeispielsweise die Infrastruktur betrifft. Wir müssen da-ran arbeiten – das zeigt der Bericht –, diese Defizite ge-rade im Infrastrukturbereich abzubauen. Das tun wir mithohen Investitionen insbesondere im Infrastrukturbe-reich.Zweitens. Der Bericht zeigt noch einmal die Vorteileeiner dezentralen Raumstruktur.Wir haben in Deutsch-land eine polyzentrische Entwicklung; wir haben schonoft darüber gesprochen. Sie ist von Vorteil – das zeigt sichganz deutlich –, aber wir müssen aufpassen, dass sichdiese polyzentrische Entwicklung auch bestätigt. Dasheißt, wir müssen stärker als bisher darauf achten und da-rauf hinwirken, dass Regionen besser zusammenarbeiten.Drittens. Der Bericht zeigt, dass wir den Aufbau Ostauf hohem Niveau weiterführen müssen. Wir haben in un-serem Hause durch das Vorziehen des Schlussstrichs beimAltschuldenhilfe-Gesetz, durch die Art und Weise, wiewir mit den Leerständen umgehen bzw. wie wir den Städ-ten helfen, sich auch unter negativen Gesichtspunkten zu-kunftsfähig weiterzuentwickeln, aufgezeigt, wie man dieAufgabe Aufbau Ost innovativ und kreativ weiterführenkann. Ich denke, auch das zeigt erste gute Ergebnisse.
Viertens. Es geht um den Ausbau von Zentren. Ich pro-phezeie – das tue ich nicht zum ersten Mal –, dass sich dieStadtentwicklungspolitik in Wirtschaftsstandortpolitikwandeln wird. Nur in Städten, die eine soziale Balanceund eine gute Verkehrsinfrastruktur haben, die Mobilitätsicherstellen und den Alltag der Menschen organisierenhelfen, werden sich auf Dauer Arbeitsplätze schaffen las-sen. Wir müssen also weiter großen Wert darauf legen,solche Zentren zu entwickeln.Fünftens. Die ländlichen Regionen müssen in ihrerLeistungskraft erhalten bleiben. Wir stellen aber fest, dasses d e n ländlichen Raum nicht mehr gibt, sondern dass esganz unterschiedliche Entwicklungen gibt. Ziel muss essein, die Leistungspotenziale der ländlichen Regionenauszubauen. Dabei kann es keine Förderung nach demGießkannenprinzip geben. Wir müssen uns vielmehr aufgezielte Maßnahmen im ländlichen Raum konzentrieren.Sechstens. Wir müssen die Mobilität erhalten undausbauen. Dazu zählen – das habe ich soeben schon er-wähnt – hohe Investitionen in die Infrastruktur.Siebtens. Die europäische Raumordnung gewinnt anBedeutung. Das wird evident, wenn man hier in BerlinRichtung Osten schaut und daran denkt, dass sich die Eu-ropäische Union demnächst erweitern wird. Wir müssenalso großen Wert darauf legen, die Raumordnung undRaumentwicklung über die derzeitigen Grenzen der Eu-ropäischen Union hinaus aktiv weiterzuentwickeln. Wirhaben dazu mit EUREK, mit dem Europäischen Raum-entwicklungskonzept, beigetragen, das unter der deut-schen EU-Präsidentschaft erarbeitet worden ist.Ein letzter Gedanke: Der Begriff „Raumordnung“ istrelativ sperrig. Viele können sich darunter nichts vorstel-len. Ich habe gestern mit der Staatssekretärin InesFröhlich aus Sachsen-Anhalt über einige landespolitischeProbleme gesprochen. Da ging es um FOC bzw. um FOC-ähnliche Entwicklungen an der Landesgrenze von Sach-sen-Anhalt zu Sachsen, um den Ausbau der Infrastruktur,also um die Weiterführung der A14 Richtung Norden, und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss14628
um die Problematik der Wohnungsleerstände und derschrumpfenden Städte. All diese Probleme, die im Alltagsowohl die Landesregierung als auch die Bundesregie-rung beschäftigen, haben etwas mit Raumentwicklung,mit Raumordnung zu tun.Deshalb sollten wir die Chance nutzen, diesen wirklichsehr guten Raumordnungsbericht im Ausschuss intensivzu beraten. Wir können daraus viel für die Sektoren- undFachpolitiken lernen, die sich nicht immer der Raum-ordnungspolitik unterordnen wollen, die es aber zuneh-mend tun sollten.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Peter Götz.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!Wenn wir heute im Deutschen Bundestag den seit mehrals sieben Monaten in der parlamentarischen Warte-schleife schlummernden Raumordnungsbericht debattie-ren, so ist dies spät, sehr spät. Es macht deutlich, welchenStellenwert letztlich die Raumordnungspolitik und dieStädtebaupolitik bei Rot-Grün haben. Übrigens, der Be-griff Raumordnung wurde bei der Neubildung des zu-ständigen Ministeriums ganz gestrichen. Herr Staatsse-kretär, Raumordnungsfragen sind für eine nachhaltigeZukunftspolitik bedeutend und müssen herunter vom Ab-stellgleis.Der Raumordnungsbericht setzt nach Auffassung derCDU/CSU die hohe Qualität seiner Vorgängerberichtefort. Der letzte stammt übrigens nicht, wie Sie, HerrStaatssekretär, soeben festgestellt haben, von 1983, son-dern von 1993 und war wegen seiner erstmaligen fun-dierten Aussagen über die raumordnerischen Perspekti-ven nach der Wiedervereinigung von besonderemInteresse.Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung hatden Raumordnungsbericht 2000 erarbeitet; dafür bedan-ken auch wir uns.Die Regierung hat den Bericht nicht nur spät, HerrStaatssekretär, sondern auch noch mit gleichgültigen All-gemeinplätzen und substanzlosen Ankündigungen kom-mentiert.
Ich zitiere zwei Beispiele: „Eine Politik der Innenstadt-stärkung und -förderung“ sei notwendig, heißt es da. Diesist völlig richtig. Aber wann und mit welchen Inhalten er-folgt dies? Das zweite Zitat lautet: In den neuen Ländernsind – Sie haben es angesprochen – „die wohnungswirt-schaftlichen, städtebaulichen und sozialen Aspekte desWohnungsleerstandes gleichermaßen zu berücksich-tigen“. Dies ist richtig; aber der bloße Hinweis auf die Be-rufung einer Expertenkommission offenbart alles andereals Tatendrang und Entscheidungsfreude.
Wir sollten uns deshalb auch die von unserer Fraktionseit langem geforderte und vor kurzem endlich vorgelegteRaumordnungsprognose bis 2015 anschauen: Dort wirddeutlich angemahnt, dass die Wohnungsbautätigkeit un-ter rot-grüner Regie „an einem Niveau angelangt ist, daslangfristig nicht unterschritten werden sollte“. Es war per-sönliches Pech, dass an demselben Tag, an dem der Minis-ter behauptete, die Einbrüche beim Eigenheim- und Miet-wohnungsbau seien eine weiche Landung, die Instituteihm mit weit pessimistischeren Prognosen in die Querekamen.Ich begrüße ausdrücklich, dass wir die nationale unddie europäische Raumordnung zusammen debattieren;denn der Einfluss Europas auf unsere Entwicklung wirdimmer stärker. Wir brauchen dringend mehr Aufmerk-samkeit für die Entscheidungen aus Brüssel. Da hat dieseRegierung ein Riesendefizit. Der deutsch-französischeMotor für Europa ist ins Stocken geraten. Wir brauchennur heute wieder Zeitung zu lesen. Das kann auch nichtdurch Sauerkrautessen des Bundeskanzlers im Elsass aus-geglichen werden. Hier ist mehr notwendig.
Schauen wir uns den Raumordnungsbericht an. Europakommt ganz am Schluss zur Sprache – auf 15 Seiten vonüber 300; das macht gerade einmal 5 Prozent aus.
Diese Regierung verschläft wichtige Weichenstellun-gen in der Europapolitik. Die Frage der Zuständigkeitenund die Frage der Kompetenzen wurden in Nizza auf dielange Bank geschoben. Wir brauchen, um in der Bevöl-kerung eine Akzeptanz für Europa zu erreichen, eindeutiggeregelte Zuständigkeiten.Ferner muss das für Deutschland wichtige Subsi-diaritätsprinzip, das von der Kohl-Regierung im Vertragvon Amsterdam festgeschrieben wurde, weiterentwickeltwerden. Wir brauchen eine Verankerung der kommunalenSelbstverwaltung auf europäischer Ebene. Es mussdurchgesetzt werden, dass die Zuständigkeiten für die Eu-ropäische Kommission abschließend festgeschriebenwerden; dann hört das Kompetenzgerangel zwischen denEbenen auf und es gibt klare Verantwortlichkeiten undTransparenz.Aber was tut die Bundesregierung auf diesem Gebiet?
Nichts. Dem Kanzler ist es allemal egal und der Außen-minister prüft, ob er Steine auf einen Polizisten oder ein-fach nur so in die Luft geworfen hat.
Doch zurück zum Europäischen Raumordnungskon-zept, zum EUREK. Für uns ist es wichtig, dass EUREKkein Dokument der Europäischen Kommission darstellt,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Parl. Staatssekretär Achim Großmann14629
sondern ausschließlich im Sinne der Subsidiarität als Er-gebnis mitgliedstaatlicher Zusammenarbeit gesehen wird.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt Wert auf dieFeststellung, dass EUREK keine neuen Kompetenzen fürdie Europäische Union begründen darf. Dabei muss esbleiben.
Um negative Auswirkungen auszuschließen, ist daraufhinzuwirken, dass dort, wo die Rechte der Kommunen ausArt. 28 unseres Grundgesetzes in Bezug auf ihre Pla-nungshoheit berührt werden, das Subsidiaritätsprinzip aufkeinen Fall ausgehöhlt werden darf. Wir erleben es seitzwei Jahren in Deutschland, dass sich die Bundesregie-rung genau umgekehrt verhält: Kosten werden immerwieder auf die Kommunen und ihre Haushalte geschoben.Dafür gibt es dort neue Aufgaben ohne Kostenausgleich,
sei es durch das Umpolen von Rentnern zu Sozialhilfe-empfängern oder sei es durch das Einkassieren von100 Milliarden DM UMTS-Erlösen zulasten der Kom-munen und der Länder – um nur einige wenige Beispieleder jüngsten Zeit zu nennen. Das ist nicht nur unanstän-dig, sondern auch – ich behaupte – verfassungswidrig.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich das EUREKgenau anschauen, werden Sie viele der von CDU undCSU geforderten raumordnungspolitischen Ziele klar unddeutlich wiederfinden.
Wir haben bis 1998 die Bau- und Raumordnungsgesetzeso novelliert, dass eine nachhaltige Entwicklung möglichist. Schon heute gilt die Zeit mit den Bauministern Töpferund Oswald als eine große Ära der Städtebau- undRaumordnungspolitik.
Mehr denn je ist eine Zusammenarbeit der regionalenund lokalen Gebietskörperschaften über nationale Gren-zen hinweg erforderlich. Die von Klaus Töpfer eingelei-tete grenzüberschreitende Kooperation ist in derVersenkung verschwunden, obwohl dringender Hand-lungsbedarf besteht. Ich greife das auf, was Sie, HerrStaatssekretär, gesagt haben. Ich nenne die Stichworte Fa-brikverkauf oder FOC – Factory Outlet Center, wie das soschön neudeutsch heißt. In Grenzregionen spielen Inves-toren die Gemeinden diesseits und jenseits der Grenze beider Ansiedlung großflächiger Einzelhandelsbetriebe,meist auf der grünen Wiese, gegeneinander aus. Was tutdie Bundesregierung? – Nichts, nur Gespräche, Ge-spräche, Gespräche. Das ist zu wenig. Es besteht dringen-der raumordnungspolitischer Handlungsbedarf, der sichnicht im Schlafwagen erledigen lässt.Nationale Genehmigungsbehörden stoßen an ihreGrenzen. Wir brauchen keine neuen Behörden. Wir brau-chen vielmehr grenzüberschreitende Konsultationsme-chanismen; wir brauchen eine gegenseitige grenzüber-schreitende Unterrichtung. Der Deutsche Verband fürWohnungswesen, Städtebau und Raumordnung hat Leit-linien für die Ausarbeitung grenzübergreifender Konzepteentwickelt. Es lohnt sich, diese Leitlinien aufzugreifen.Handeln Sie, meine Damen und Herren auf der Regie-rungsbank! Unser Land in der Mitte Europas hat Binnen-grenzen und räumliche Bezüge wie kein anderes. Dasmacht Arbeit. Darin liegen aber auch Chancen für die Ent-wicklung über die Grenzen hinweg, nun auch nach Polenund in die Tschechische Republik.Das alles sind wichtige Aufgaben, um die sich ein Bau-und Raumordnungsminister – sofern es ihn geben sollte –dringend kümmern sollte. Vielleicht ist die heutigeDebatte dafür ein Anstoß; es wäre gut für die Menschenin Europa und für die Menschen in unserem Land.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-legin Franziska Eichstädt-Bohlig für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.
Kollegen! Die Daten und Prognosen des Raumordnungs-berichts zeigen uns, dass wir an zwei Stellen noch Hand-lungsbedarf haben. Von daher denke ich, dass wir keineSonntagsreden halten sollten, sondern uns den Themenstellen sollten, die uns nicht nur kurzfristig, sondern auchin den nächsten Jahren herausfordern werden: Das ersteThema sind die überall im Lande ungebremst fortschrei-tenden Suburbanisierungstendenzen in den Ballungs-gebieten – in West und Ost –, das zweite Thema die an-haltenden Entleerungsprozesse in eigentlich fast allenRegionen von Ostdeutschland außer dem Umland vonBerlin. Wir sollten uns beiden Themen mit großer Ernst-haftigkeit widmen,
zumal es da überhaupt keine Schnelllösungen gibt. Daherwerbe ich dafür, dass wir das als gemeinsame Aufgabe be-trachten, nicht als Parteiprofilierungsthema.
Lassen Sie mich ein paar Sätze zur Suburbanisierung,zur Zersiedlung sagen. Es ist tatsächlich so, dass die Be-völkerungsdynamik in den großen Ballungszentren undderen Umland inzwischen deutlich zulasten der Kern-städte geht. Wir finden inzwischen selbst in großenSchwerpunkten wie Hamburg, Frankfurt und Münchendie Situation vor, dass die Bevölkerung in den Kernstäd-ten deutlich abnimmt, an der Peripherie aber überpropor-tional zunimmt. Neben dieser Entleerung aus den Städtenin den Umlandring gibt es auch eine Entleerung des länd-lichen Raumes in das Umland der Ballungszentren. Auchdas wird zunehmend ein Problem werden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Peter Götz14630
Das ist eine Entwicklung, die zunehmend dramatischeFolgen für unsere Städte hat. Ich klammere wegen derkurzen Zeit einmal den ländlichen Raum aus, obwohl ichauch die Diskussion darüber, welche Handlungsschrittedort nötig sind, für sehr wichtig halte. Die Städte dürfennicht weiter geschwächt werden, sondern müssen dieChance bekommen, ihre Funktion als Wohnstandort neuund wieder zu gewinnen. Das heißt, wir dürfen nicht im-mer nur erstens nach mehr Wohnungsbau und zweitensnach mehr Eigenheimen rufen – das ist die Tendenz, diebisher die Politik beherrscht hat –, sondern müssen vonder bisherigen grundsätzlichen Orientierung auf Sied-lungserweiterung zur Pflege und Weiterentwicklung desSiedlungsbestandes übergehen.
Das bedeutet auf der einen Seite Bestandserneuerung,das bedeutet auf der anderen Seite Neubau im Sied-lungsbestand,Aktivierung von Brachen und Lücken undso weiter. Wir haben das hier schon öfter diskutiert. Esgibt durchaus Chancen zu diesem Umsteuern, denn wirhaben auch im Bestand Flächenpotenziale. Die Expertensagen, dass die Siedlungsflächenzunahme durch politi-sches Handeln von derzeit 17 Prozent auf 7 Prozent ge-senkt werden kann, wenn die politischen ParameterSchritt für Schritt in diese Richtung verändert werden. Ichdenke, das ist die Herausforderung, der wir uns in dennächsten Jahren stellen müssen.Wir müssen uns auch den umfangreichen Aufgaben inder Bestandserneuerung stellen. Wir müssen die Städte fa-miliengerecht ausbauen; sie müssen wieder kinderfreund-lich und überschaubar werden. Wenn wir auf der einenSeite wissen, dass das Einfamilienhaus nicht das Bild derZukunft sein kann, mit dem wir unser ganzes Land wei-terentwickeln können, müssen wir auf der anderen Seitesagen: Der Achtgeschosser ist es auch nicht. Wir könnendurch Überverdichtung in den Städten kein familienge-rechtes Wohnen schaffen. Von daher ist sowohl die plane-rische als auch die stadtentwicklungspolitischeKonzeption, Idee und Fantasie gefragt, in dieser Formstädtische Wohnungen familien- und kindergerecht zuentwickeln und auch das Wohnumfeld und die Verkehrs-politik und Verkehrsplanung entsprechend zu entwickeln.
Lassen Sie mich noch ein zweites Thema ansprechen,das mir besonders am Herzen liegt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Eichstädt-Bohlig, bevor Sie das tun, gibt es eine Frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte, Herr Kollege
Goldmann.
Frau Kollegin,
Sie werden im „Weserkurier“ mit einer Aussage zu dem
Bereich zitiert, den Sie gerade angesprochen haben. Es
geht um die Eigenheimzulage. Es wird berichtet, dass Sie
sagen, man solle die Eigenheimzulage nicht mehr für
Bauten im Außenbereich geben, sondern nur noch beim
Bau in innenstädtischen Bereichen. Ist also Ihre politische
Überlegung, den Zuschuss zu kürzen, wenn eine Familie
ein Eigenheim auf der grünen Wiese oder im Außenbe-
reich baut, und eine höhere Förderung für den Eigen-
heimbau in innenstädtischen Bereichen zu gewähren?
in dieser Legislaturperiode die Eigenheimzulage zu refor-
mieren. Aber ich halte es für wichtig, dass wir die Zeit bis
zur nächsten Legislatur nutzen, um die Diskussion darü-
ber zu führen, an welchen Stellen diese gesetzliche Rege-
lung reformiert werden muss, um nachhaltige Siedlungs-
entwicklungen zu stärken. Dazu gehören aus meiner Sicht
zwei wichtige Parameter, über die wir zunächst diskutie-
ren, bei denen wir dann aber auch politisch handeln müs-
sen. Das ist die Verstärkung der Bestandsorientierung ge-
genüber der jetzt dominierenden Neubauorientierung. Wir
fördern jetzt den Neubau mit 5 000DM pro Familie – ohne
Baukindergeld – und den Bestandserwerb mit 2 500 DM.
Es bedarf zumindest einer Angleichung und Verstärkung
der Bestandsorientierung. Das kann man mit Investitionen
verbinden. Ich möchte jetzt nicht ins Detail gehen, ob-
wohl ich es sehr nett finde, dass Sie mir diese Frage ge-
stellt haben.
Auf der anderen Seite müssen wir aber auch überle-
gen – denn es geht mir nicht um Neubaufeindlichkeit –,
inwieweit wir eine Regionalisierung in der Neu-
bauförderung oder gegebenenfalls in beiden Ebenen, in
der Bestands- und der Neubauförderung erreichen, indem
wir das Bauen in den Städten verstärkt fördern, aber nicht
die ständige weitere Zersiedelung.
Im Moment halte ich es für das Allerwichtigste, die Be-
standsförderung zu stärken.
Wollen Sie, dass ich die Antwort noch weiter aus-
führen? Ich kann gern noch einen Vortrag halten.
Wollen Sie dieEigenheimzulage staffeln, je nachdem, wo derjenige, derdas Geld in Anspruch nehmen will, baut?
einmal haben wollen. Ich habe Ihnen eben deutlich gesagt,dass ich in dieser Legislaturperiode keine Veränderung amEigenheimzulagengesetz fordern würde, dass ich aber mit-tel- und langfristig, das heißt für die nächste Legislaturpe-riode, beide Parameter, den Regionalisierungsfaktor und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Franziska Eichstädt-Bohlig14631
die verstärkte Bestandsorientierung, für diskussions- undentscheidungswichtig halte.
Gestatten Sie, Herr Kollege Goldmann, dass ich nocheinige Sätze zu dem Thema der Ungleichzeitigkeit derEntwicklung in West und Ost sage. Ich möchte das her-vorheben, weil ich glaube, dass dies vielen gar nicht be-wusst ist: Das Raumordnungsgesetz verpflichtet unsausdrücklich, auf die räumlichen und strukturellen Un-gleichgewichte zwischen Ost- und Westdeutschlandeinzugehen, sie auszugleichen, und es verpflichtet uns,die räumlichen Voraussetzungen für die EU-Erweiterungzu schaffen. Das beides sind gesetzliche Vorgaben, die andie Politik die Anforderung stellen, Ostdeutschland zustärken. Wir sollten auch bei diesem momentan strittigenThema nicht mit Aktuellen Stunden Pingpong zwischenden Parteien spielen, sondern uns sehr ernsthaft mit derEntwicklung in Ostdeutschland auseinander setzen, wosich zeigt, dass sich seit 1997 die Schere zwischen Ostund West wieder weiter öffnet, statt dass sie sich Zug umZug schließt. Wir haben dort das Problem der extrem ho-hen Arbeitslosigkeit, das Problem des Bevölkerungsrück-gangs, das Problem der Wirtschaftsstrukturschwäche unddas große Problem des Wohnungsleerstands. Das sindThemen, denen wir uns sehr wohl wiederum nicht imSchnellschuss, sondern kontinuierlich widmen müssen.Insofern möchte ich alle Beteiligten bitten, es nicht alseine gönnerhafte Geste zu sehen, dass wir dem Ostenetwas besonders Gutes tun. Vielmehr ist es unsere gesetz-liche Pflicht, in dieser Form zu handeln. Wir müssen er-kennen, dass Ostdeutschland die Suburbanisierung, dieWestdeutschland in 30 bis 40 Jahren erfahren hat, im Zeit-raffer erlebt, sodass die Kombination von Bevölkerungs-rückgang und Zersiedelung zum entscheidenden Problemwird.Wir verbinden Zersiedlung immer mit anhaltendemBevölkerungswachstum. Vor unserem inneren Auge tau-chen München, Stuttgart oder Frankfurt auf. Wir haben esaber in Ostdeutschland bei dem Thema Zersiedlung mit sin-kender Bevölkerungszahl und Überalterung der Bevölke-rung zu tun. Im ländlichen Raum haben wir das Problem,dass die Bevölkerung über kurz oder lang stark überaltertsein wird, weil die jungen Leute entweder abwandern oderin die Städte gehen, wo sie Arbeit finden.Wir müssen uns dem Thema Ostdeutschland in einersehr differenzierten Form widmen. Wir müssen zwischenden Regionen unterscheiden, die als Wachstums- oder Tou-rismusregionen durchaus gute Chancen zur Entwicklunghaben, und anderen Regionen, bei denen es darum geht, denStatus Quo zu halten, die Bevölkerung – ich meine vor al-lem junge Menschen – zu halten und die Wirtschaft mitaller Kraft zu konsolidieren.Insofern werbe ich dafür, differenzierte Leitbilder zuentwerfen und den Grenzregionen, die in Hinsicht auf dieEU-Osterweiterung eine neue Verantwortung bekommen,in besonderer Weise Hilfe zukommen zu lassen. Ichmöchte dafür werben, für Ostdeutschland differenzierteLeitbilder statt Klischees zu setzen. Man darf den Ostenweder besonders positiv noch besonders negativ sehen.Man muss genau hinschauen. Dann finden wir auch Lö-sungs- und Handlungswege.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Michael Goldmann für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage desRaumordnungsberichtes 2000 des Bundesamtes für Bau-wesen und Raumordnung, eines Gemeinschaftswerks mitdem BMVBW, wird ein neuer und guter Weg beschritten,der die Wechselwirkung zwischen den bestehenden undden zukünftigen nationalen und internationalen bis hin zuden globalen Auswirkungen außerordentlich qualifiziertdarstellt.Der Raumordnungsbericht ist eine wirklich fundierteGrundlage, auf der es zukünftig aufzubauen gilt und diees auch zu nutzen gilt.
Der Kollege Götz von der CDU hat es schon angespro-chen: Der Bericht ist grenzüberschreitend, europäischorientiert, berücksichtigt aber auch das Wechselspiel zwi-schen den Ballungsräumen und dem Umland.Ich finde es sehr gut, dass das BBR mit neuen Mediendazu beitragen will, dass die Informationen, die dort vor-liegen, jedem für die politische Arbeit zur Verfügung ste-hen. Das tut der Arbeit im Bund, in den Ländern wie auchim kommunalen Bereich und dem Zusammenwirken mitFachorganisationen nur gut.Lassen Sie mich nun auf einige Dinge sowohl unter-stützend als auch kritisch eingehen. Zur Bevölkerungs-entwicklung: Interessant ist die Feststellung, die in demBericht, der in weiten Teilen rückwärts gerichtet ist undauch noch die Zeit der Vorgängerregierung erfasst, zumAusdruck gebracht wird:Nur durch die natürliche Bevölkerungsentwicklung,ohne Zuwanderung von Ausländern könnte der Be-völkerungsstand keineswegs gehalten werden.Deswegen liegt die F.D.P. mit ihrem Zuwanderungssteue-rungs- und begrenzungsgesetz hundertprozentig richtig.Ich glaube, es ist dringend geboten, dies endlich in die Tatumzusetzen.
Ich finde es positiv, dass in dem Bericht klar wird, welcheine enorme und politisch wichtige Aufgabe es für uns ist,die Integration von Ausländern in Deutschland nochweiter zu fördern.Im Bereich von Beschäftigungsentwicklung undStrukturwandel sind – da bin ich sicher – die Betrach-tungen im Bericht zu positiv. Es ist nicht mehr so, dasseine rege Investitionstätigkeit stattfindet. Gerade die Bau-wirtschaft spürt es im Moment sehr deutlich. Die Investi-
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Franziska Eichstädt-Bohlig14632
tionen sind auch vor dem Hintergrund falscher politischerWeichenstellungen durch die Bundesregierung nach un-ten gegangen.
Dem muss meiner Meinung nach energisch entgegenge-treten werden. Sie sollten darüber nachdenken, ob nichtzum Beispiel Ihre Mietrechtsvorstellungen in eine völligfalsche Richtung gehen.Interessant und überraschend ist der Beschäftigtenbe-satz. Das ist ein unglückliches Wort, weil es schließlichum Menschen geht. Er hat sich zwischen Ost- und West-deutschland ungefähr angeglichen. Das Verhältnis beträgt418 zu 427 Erwerbstätige je 1 000 Einwohner.
– Nein, das hat nichts mit dem Wegsterben zu tun, son-dern mit großen Anstrengungen, Frau Ostrowski. Ichdenke, auch Sie haben den Bericht gelesen. Sie könnenhier zu keinem anderen Ergebnis kommen. Ich will nach-her noch mit einigen Zahlen belegen, dass in diesem Be-reich viel getan worden ist.Der anhaltende Verstädterungsprozess wird be-schrieben. Es gibt Empfehlungen, ähnliche Wege wie dieRegion Stuttgart oder die Region Hannover zu gehen. Ichbin dafür, dass man diesen Weg geht. Aber ich bitte auchsehr nachdrücklich, dass darauf geachtet wird – von unsallen, aber besonders von der Bundesregierung –, dass dieländlichen Räume dabei nicht zu kurz kommen.
Denn ein Ballungsraum an der einen Stelle, sozusagen inder Stärke der Metropole, hat so viele Vorteile gegenüberdem ländlichen Raum, dass dieser – wenn man ihn nichtbesonders pflegt – hinten herunterfällt.Ich bin sowieso der Meinung, dass die Darstellungenzum ländlichen Raum im Bericht insgesamt zu positivsind. Ich finde es nicht gut, dass in diesem Berichtzwischen ländlichem Raum und peripherem ländlichenRaum unterschieden wird. Man sollte sehr deutlich sagen,dass der periphere ländliche Raum enorme Struktur-schwächen hat: Er leidet unter Arbeitsplatzmangel sowieunter unzureichender Infrastruktur und hat, auch für jungeMenschen, zum Teil eine geringe Attraktivität. Dies min-dert die Zukunftschancen dieser Räume.Für mich und meine Fraktion leite ich persönlich da-raus eine besondere Verpflichtung der Politik für denländlichen Raum ab.
Ich warte darauf – ich denke, das sollten wir gemeinsamtun; in diesem Punkt hat der Kollege Götz Recht; denndiese Sache muss mit mehr Tempo vorangetrieben wer-den –, dass die Bundesregierung ihrer Koalitionsverein-barung entsprechend eine integrierte regionale und struk-turpolitische Anpassungsstrategie für ländliche Räumeerarbeitet. Zurzeit kann ich hier nicht sehr viel erkennen.
– Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist einfachsehr, sehr schwierig: Die Bahn zieht sich aus dem ländli-chen Raum zurück, BSE ist für den ländlichen Raum eineKatastrophe, und die Einrichtungen des Bundes ziehensich aus dem ländlichen Raum zurück. Morgen werdenwir ja eine Diskussion darüber führen, inwieweit zumBeispiel Bundeswehreinrichtungen in den ländlichenRäumen bleiben, um dort Arbeitsplätze zu sichern.
– Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Landkreis Ems-land verliert mit einem Handstreich 1 500 Arbeitsplätze.Das hat für den ländlichen Raum enorm große Auswir-kungen. Ich denke, in diesem Punkt sollten wir uns imGrunde genommen einig sein.
Lassen Sie mich, nachdem ich über den ländlichenRaum gesprochen habe, ein besonderes Gewicht auf daslegen, liebe Kollegin Ostrowski, was in den neuen Län-dern getan worden ist. Auch wenn Sie die Dinge an dereinen oder anderen Stelle manchmal nicht so sehen wol-len, wie sie sind, müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen,dass in Kapitel 8 des Berichtes ganz klar gesagt wird:Von 1991 bis 1998 sind 1 826 Milliarden DM anraumwirksamen Mitteln verausgabt worden. Davonist der weitaus überwiegende Teil den neuen Ländernzugute gekommen. Nach der Einbindung der neuenLänder in den Länderfinanzausgleich – –
– Das steht in dem Bericht. Das ist nicht von mir. Der Be-richt ist im Zusammenwirken mit dem Ministerium zu-stande gekommen.Zum Beispiel im Jahre 1998 sind von 13,5 Milliar-den DM 11 Milliarden DM in die neuen Länder geflossen.Ich finde, das ist eine großartige Leistung der Politik, einegroßartige Leistung unserer Gesellschaft insgesamt undzeigt eine hohe Fürsorgehaltung gegenüber den Menschenin den neuen Ländern. Ich bin stolz darauf und freue michdarüber. Wir sollten diesen Prozess fortsetzen.
Ich möchte noch einen Bereich ansprechen, in demauch Zahlen genannt werden und der angesichts der aktu-ellen Diskussion um die Landwirtschaft interessant ist. Eswird ausdrücklich betont, dass man darauf setzen soll,eine multifunktionale Landwirtschaft zu erhalten. Hierfordere ich wirklich etwas mehr Vernunft in der Sache.Denn ich glaube, nur Dummheit fordert ein Gegeneinan-der von ökologischer und konventioneller Landwirt-schaft.
Nein, wir brauchen beide Säulen, um im ländlichen Raumund in der Lebensmittelwirtschaft insgesamt erfolgreichzu sein.
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Hans-Michael Goldmann14633
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Goldmann, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Ja, Frau Präsi-
dentin.
Eine letzte Bemerkung: Raumordnerische Zusammen-
arbeit nimmt in Europa einen immer höheren Stellenwert
ein. Ich bin froh, dass auch die Europäische Union das so
sieht. Auch bin ich dafür, dass wir klar sagen, was die Auf-
gabe Europas ist und was unsere Aufgabe ist. EUREK,
INTERREG und ähnliche Programme helfen, Arbeits-
plätze bei uns zu sichern und Zukunftsarbeitsplätze zu
schaffen. Der Bericht ist eine gute Grundlage für gemein-
sames Arbeiten in diesen Bereichen. Ich bedanke mich für
diesen Bericht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Christine Ostrowski für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Den Autoren dieser seriösen Analysegilt mein Respekt. Das sage ich aus vollem Herzen. Ei-gentlich hätten sie es verdient, dass wir diesen Bericht inder Kernzeit behandeln. Denn das, was sie analysieren– die Verteilung der Bevölkerung, der Arbeitsplätze undder Infrastruktur –, sind Bedingungen, die weitaus domi-nanter sind als so manch anderes Thema, über das hiersehr heftig und mit tagespolitischem Geschwätz diskutiertwird.
Der Bericht soll eine Frühwarnung sein, so schreibt dieBundesregierung in ihrer Stellungnahme. Sie hat Recht, erist eine Frühwarnung. Ich bin mir nur nicht so sicher, ober von der Politik tatsächlich als Frühwarnung begriffenworden ist. Sie gestatten, dass ich das wegen der Kürzeder Redezeit nur an einem Beispiel festmache.Auch ich rede – ich habe mich gefreut, Frau Eichstädt-Bohlig, dass Sie das angesprochen haben – von der Be-völkerungsentwicklung im Osten Deutschlands, weilich der Meinung bin, dass der Politik überhaupt nicht klarist, was sich im Osten Deutschlands vollzieht. Ich meinenicht allein die Abwanderung, die schon für sich genom-men schlimm genug ist. Allein die Tatsache, dass derOsten über eine Million Menschen verloren hat, hat langanhaltende und nachhaltige Folgen.Viel schlimmer ist aber die natürliche Bevölkerungs-entwicklung. Sie können in diesem Raumordnungsberichtnachlesen, dass die Sterberate im Osten derart hoch ist,dass wir es mit einem rasanten Rückgang der Bevölke-rung im Osten zu tun haben werden. Das Land Sachsenwird im Jahre 2100 noch so viele Einwohner haben wieBerlin heute. Dieser natürliche Bevölkerungsrückgang istdurch nichts einzudämmen. Selbst wenn jetzt statistischjede Frau zwei Kinder bekäme und die weiblichen Nach-kommen wieder je zwei Kinder, würde es mindestens80 Jahre dauern, den Prozess der Bevölkerungsentwick-lung umzukehren.
Es muss jedem klar sein, was diese Bevölkerungsent-wicklung für die Zukunft der Wirtschaft bedeutet. Heuteschon fehlen den Kindergärten die Kinder, den Wohnun-gen die Mieter und morgen braucht man in einem Ortnicht mehr zehn Friseure, sondern nur noch fünf, undnicht mehr acht Bäcker, sondern nur noch vier. Den Ein-kaufszentren werden die Käufer fehlen.Die Grafiken des Berichtes machen das in plastischerWeise klar. Man sieht die Grenze zwischen West und Ostganz deutlich. Bei der Darstellung der Bevölkerungsent-wicklung sehen Sie ganz Ostdeutschland in Blau, das be-deutet Sterbeüberschüsse. Sie sehen die Arbeitsmarktent-wicklung in Ostdeutschland hellbraun herausgehoben.Das heißt, dort findet man die vielen Arbeitslosen. Siesehen bei der Darstellung des Kaufkraftindex Ost-deutschland hellblau hervorgehoben. Selbst der höchsteKaufkraftanteil in ganz Ostdeutschland liegt noch unterdem vergleichbaren Wert der Grenzregion in West-deutschland. In grüner Farbe sehen wir die struktur-schwachen ländlichen Räume und können nachvollzie-hen, dass sie sich in Ostdeutschland konzentrieren. Siekönnen Faktor für Faktor in diesem Raumordnungsbe-richt heranziehen und werden vom Grundsatz her auf je-der Karte die Grenze zwischen West und Ost erkennenkönnen.Wir müssen zu einer Politik kommen, die durch zweiElemente gekennzeichnet ist: Die Politik, die die Verhält-nisse nicht kurzfristig ändern kann, muss zur Kenntnisnehmen, dass sie es im Osten Deutschlands mit einem Be-völkerungsschwund zu tun hat. Sie muss diesenBevölkerungsschwund mit entsprechenden Maßnahmenbegleiten. Das bedeutet, dass es nicht zu Konkursen vonWohnungsunternehmen kommen darf. Sie muss solcheBrüche und Verwerfungen vermeiden.Gleichzeitig muss die Politik dafür sorgen, dass dieKinder, die heute in Ostdeutschland geboren werden, die-ses Land so lebenswert finden, dass sie dort ein Lebenlang wohnen bleiben wollen und den Wunsch haben, sel-ber Kinder zu bekommen. Diese Nachkommen müssendann wieder Kinder bekommen. Nur darin liegt dieChance, Ostdeutschland zu einer Zukunft zu verhelfen;denn Ostdeutschland hat eine Zukunft, doch wird diesewahrscheinlich anders aussehen, als man es sich vorge-stellt hat bzw. heute noch vorstellt.Die alten Wachstumsphilosophien kann man in den Pa-pierkorb werfen.
Die Zukunft wird anders aussehen. Aber man muss sichihr stellen. Die Politik muss dafür drei Komponenten ent-wickeln:Erstens. Man muss wissen, dass es ohne viel Geld nichtabgehen wird. Ich weiß, wie es sich mit dem Geld verhält.Aber wenn Sie heute nicht die nötigen Mittel einsetzen,wird es morgen noch teurer.
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Zweitens. Sie werden zur Umsetzung der MaßnahmenKonzepte brauchen. Einen Großteil davon finden Sie indem Bericht.Drittens. Wir müssen im Zusammenhang mit diesemThema auch an Strukturen denken. Ich nenne zunächst einkleines Beispiel und komme dann auf einen größeren Zu-sammenhang zu sprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Ostrowski, es muss nicht nur klein, sondern sogar mini
sein, da Ihre Redezeit vorbei ist.
Ich nenne nur ein klei-
nes Beispiel. Bitte überlegen Sie sich einmal, ob es sinn-
voll ist, das Problem des Ostens hier im Bundestag nur
durch einen Unterausschuss abhandeln zu lassen.
Letzte Bemerkung: Stellen Sie sich für einen Moment
vor, Herr Stoiber hätte als Ministerpräsident nicht nur die
Verantwortung für Bayern, sondern für ein Land, das aus
Bayern und Sachsen bestünde. Stehenden Fußes würde
sich radikal alles ändern, und zwar politisch, mental, wirt-
schaftlich und strukturell.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Als nächste spricht die
Kollegin Gabriele Iwersen für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ostrowski, dassSie hier ständig die Politik ansprechen, die endlich auf-wachen soll, wundert mich sehr. Ich dachte, Sie seien auchpolitisch tätig. Dass die Welt sich nicht nur in Ost undWest teilt, haben Sie eigentlich auch schon zur Kenntnisnehmen können; denn die Strukturschwächen und -stär-ken verteilen sich innerhalb der Bundesrepublik, zu derauch der Osten gehört, sehr unterschiedlich.Nun zurück zu dem Bericht, von dem ich nur sagenkann, dass er vorzüglich ist, und zwar deshalb, weil erpraktisch ein Standardwerk darstellt, das alle, die sich mitRaum- und Siedlungsstruktur befassen wollen oder müs-sen, geradezu dazu animiert, endlich einmal über denTellerrand zu gucken.
Besonders positiv ist mir auch der Umgang mit derdeutschen Sprache aufgefallen. Die Erläuterung der Fach-begriffe, um die Diskussion endlich einmal auf eine ver-nünftige Grundlage zu stellen, halte ich ebenfalls für sehrgut gelungen.
Der Bericht zeigt Chancen und Risiken der Bevölke-rungs- und Arbeitsmarktentwicklung, der Urbanisierung,der Suburbanisierung, der wirtschaftlichen Dynamik inAbhängigkeit von Infrastrukturangeboten, Baulandprei-sen, Entwicklungspotenzialen und -engpässen, und dasGanze teilweise noch im europäischen Vergleich. KeineLobhudelei, sondern solide Arbeit und zum Teil richtigspannend zu lesen! Ich könnte den Bericht jedem emp-fehlen, auch denen, die schon geredet haben.
Der Bericht zeigt mit teilweise erschreckender Offen-heit, wie allen raumordnerischen Bemühungen zum Trotzdie Siedlungsflächen in Deutschland sprunghaft anwach-sen, und das schon seit 40 Jahren oder noch länger. Vor al-len Dingen wachsen sie sehr viel stärker an als die Bevöl-kerung, oder sogar umgekehrt: Die Bevölkerung istrückläufig, das Siedlungsflächenwachstum aber immerweiter positiv. Und sie wachsen stärker an als die Zahl derErwerbstätigen.Diese Siedlungsflächenzunahme in den vergangenenJahrzehnten war die Folge des beginnenden Wohlstandes.Die Wohnfläche stieg im Westen innerhalb von 40 Jahrenvon 15 Quadratmetern pro Einwohner auf 38 Quadratme-ter. Die Veränderung, die sich anschließend im Osten ab-gespielt hat, verlief in dem von Frau Eichstädt-Bohligschon angesprochenen Zeitraffertempo nicht viel anders.Die veränderte Haushaltsstruktur mit den Ein- undZwei-Personen-Haushalten hat natürlich kräftig dazu bei-getragen. Aber dann kam das Auto. Das Auto braucht zuHause einen Stellplatz oder eine Garage, es braucht einenStellplatz vor dem Arbeitsplatz, einen vor dem Einkaufs-zentrum, einen vor dem Theater. Überall werden Flächengebraucht, nur um dieses verdammte Auto unterzubrin-gen, bis hin zum Waldesrand; und alles muss natürlichmaschinenreinigungsfähig sein.Die Straßenwurden immer breiter, das weiß jeder. Siewurden durch Standspuren und Parkbuchten ergänzt.Flughäfen streckten ihre Start- und Landebahnen in alleRichtungen aus. Das ist nichts Neues, das hat sich so er-geben. Im Westen und im Süden ging es schneller los undhat sich schneller vollzogen, der Norden war immer etwaslangsamer und nun zieht der Osten nach. Die Tendenzensind überall gleich und das Ergebnis ist ein geradezuwahnsinniger Flächenverbrauch, der so einfach nichtweitergehen kann.
1950 betrug die Siedlungsfläche pro Bürger noch350 Quadratmeter – für alles zusammen, für Arbeit, Woh-nen, Mobilität und Freizeit – und im Jahre 1997 warenwir schon bei 500 Quadratmetern pro Bürger, Tendenzauch hier steigend.Als die Städte aus den Nähten platzten, setzte die Sub-urbanisierung ein. Die Umlandgemeinden wuchsen undwuchsen und wuchsen. Entstanden in den 60er- und 70er-Jahren die Schlafstädte im Umland der Kernstädte – al-len sind wahrscheinlich die grünen Witwen noch im Ge-dächtnis – , so hat in den 80er-Jahren im Wesentlichen einüberproportionales Wachstum der Verkehrsflächen statt-gefunden.In den 90er-Jahren dagegen hat sich der Prozess derSuburbanisierung grundlegend verändert. Da wird es
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Christine Ostrowski14635
spannend und da wird es eigentlich auch gefährlich. Trotzumfangreicher Potenziale an baureifen Flächen in denStädten, also an innerstädtische Gewerbebrachen, Kon-versionsflächen, Baulücken und dergleichen, wachsen inden Umlandgemeinden die Flächen für Arbeitsstätten, fürHandel, für Dienstleistungen, für Industrie bis hin zur öf-fentlichen Verwaltung auf der bis dahin noch grünenWiese.Bei den grünen Witwen ging es um separate Ringe mitWohnbebauung. Jetzt entstehen komplette Städte.Die niedrigen Baulandpreise, die gute Erreichbarkeitdes Umlandes und zum Teil auch einfachere und schnel-lere Baugenehmigungen haben zu der für die Kernstädtegeradezu bedrohlichen Entwicklung geführt. Jetzt ist esnicht mehr nur das Einkaufszentrum auf der grünenWiese, das die Kaufkraft aus der Innenstadt abzieht, son-dern ein vielfältiges Angebot an Arbeitsplätzen sowie anWohn- und Freizeitparks. Die ganze gewerbliche Infra-struktur der Innenstädte droht dabei wegzubrechen.
Kultur, Bildung und Tourismus allein können die In-nenstädte nicht retten. Die Aufgaben der Städte, die ihnenzum Beispiel im System der zentralen Orte als Ober- oderMittelzentrum zugewiesen sind, nämlich gegenüber demUmfeld bestimmte Dienstleistungen zu erbringen, sind sonicht mehr zu erfüllen. Denn diese Kommunen, die Kern-städte, brauchen natürlich auch Bürger, die sich mit ihremWohnumfeld identifizieren und Handel, Wandel sowie– das ist ganz wichtig – ausreichend Steuerkraft am Lebenerhalten. Das System der Suburbanisierung bewirkt natür-lich auch, dass Steuerkraft abwandert.Das klassische Instrument der Raumordnung, nämlichdie Festlegung des städtischen Siedlungssystems durchdie Landesentwicklungspläne, droht wirkungslos zuwerden. Wir können uns hier über all das vorzüglich un-terhalten, was der Bund machen müsste. Die Landesent-wicklungspläne sind aber an und für sich die Grundlagefür die Entwicklung im ganzen Lande. Wenn diese Plänenicht eingehalten werden, dann nützt das alles überhauptnichts.
Zu viele Abweichungen – natürlich immer wirtschaft-lich begründet – torpedieren die Aufgabenverteilungzwischen den zentralen Orten und ihren Verflechtungsbe-reichen. Jede Gemeinde schöpft ihre Planungshoheit aus,wägt sorgfältig ab, vergibt Baurechte über Baurechte, umsteuerpflichtige Neubürger, Gewerbesteuerzahler unddergleichen zu gewinnen. Im benachbarten zentralen Ortsieht sie nur den Konkurrenten. Darin scheint einer derwesentlichen Fehler im augenblicklichen Verhalten derKommunen untereinander zu liegen. Die Suburbanisie-rungswelle verlagert sich immer weiter von den Zentrenweg, weil die Baulandpreise dort immer niedriger sind.Daraus lässt sich natürlich etwas machen.Das Beispiel Leipzig ist sehr detailliert beschrieben.Dass ich das erwähne, heißt nicht, dass ich mich gegen dieim Osten angewandten Regelungen wenden möchte. DasBeispiel Leipzig veranschaulicht diesen Prozess einfachsehr plastisch. Im Westen ist es sehr ähnlich abgelaufen;aber in Leipzig war die Entwicklung noch gravierender.In Leipzig begann es mit dem Bau von Einkaufszentrenauf der grünen Wiese. Ein Zentrum, der Saale-Park, hat86 000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Als ich das hörte,dachte ich: Ich kann es nicht fassen; das ist ja ganz un-möglich. Dieses Einkaufszentrum hat 16 000 Quadratme-ter mehr an Verkaufsfläche, als die ganze Innenstadt vonLeipzig zu bieten hatte.Allein im Zeitraum von 1989 bis 1997 hat die StadtLeipzig 83 500 Einwohner verloren. Von Siedlungsdruck,der mehr Menschen dazu gezwungen hätte, im Umland zubauen, konnte wirklich nicht die Rede sein. Die Innen-stadt stirbt aus und außen blüht das Leben. Trotzdem wur-den im Umfeld von Leipzig noch 1 600 Hektar Gewerbe-fläche baurechtlich genehmigt. Dazu kamen Projekte wieGeschosswohnungsbau, Freizeitparks und anderes. Man-che Gemeinden im Umland konnten in dieser Zeit ihreEinwohnerzahlen tatsächlich verdoppeln.Die förderungs- und abschreibungsabhängige Ent-wicklung, die vor allem zulasten der Kernstadt geht, wi-derspricht aber allen in den Landesentwicklungs-, Regio-nal- und Flächennutzungsplänen genannten Zielen derInnenentwicklung. Durch die Umverteilungsprozesse in-nerhalb der gesamten Stadtregion müssen Infrastruktur-einrichtungen in der Innenstadt schließen – FrauOstrowski, Sie haben das schon angesprochen –, währendsie in den Umlandgemeinden fehlen. Um nachzurüsten– Kindergärten, Schulen und dergleichen –, fehlt dasGeld. In der Kernstadt stagnieren Gebäudesanierung,Baulückenschließung und Reaktivierung von Brach-flächen; denn die Investoren orientieren sich einfach nuram Baulandpreis – das ist für sie das einzig Wichtige –und sehen nicht, dass die Stadtregion auf die Attraktivitätder Kernstadt angewiesen ist.Dieses Beispiel beweist, dass die Ordnungsstrategiender durch die Länder zu betreibenden Raumordnung nochkeine volle bzw. zum Teil überhaupt keine Wirkung ent-falten. Auch von Nachhaltigkeit kann keine Rede sein,denn das Ziel heißt eigentlich: Zersiedelung vermeidenund ungesteuerte räumliche Ausuferungen unterbinden.Wenn jetzt nicht die Zeit um wäre, würde ich Ihnengerne noch etwas über das System selbst erzählen. Wirverteilen im Vorhinein die einzelnen Aufgaben für die Be-reiche: Je nachdem, ob ein Ort Ober-, Mittel- oder Unter-zentrum ist, hat er gewisse Leistungen zu erbringen. Dazumuss er auch in der Lage sein. Wenn aber seine Leis-tungsfähigkeit durch das eigene Umland zu stark ge-schwächt wird, kann das System nicht funktionieren.Trotzdem muss man sagen, dass im Grunde genommendiese Aufgabenverteilung, wie sie in Deutschland nunschon seit langem durchgeführt wird, ein wesentlicherFaktor des Standortes Deutschland ist. Wir sollten diesenicht aufgeben, sondern darauf achten, dass ihre Mög-lichkeiten besser zum Zuge kommen.Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
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Gabriele Iwersen14636
Ich erteile das Wort
der Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Gut, dass Sie den Raumordnungsbe-richt gelobt haben, Kollegin Iwersen, denn die RegierungKohl hat zwischen 1982 und 1998 durch ihre weitsichtigeRaumordnungspolitik eine hervorragende Ausgangsposi-tion geschaffen, indem sie sich darum bemüht hat, demLeitmotiv allen staatlichen Handelns, nämlich umweltge-rechten Wohlstand für Generationen in Deutschland zugewährleisten, durch übergeordnete Prinzipien und Kon-zepte gerecht zu werden und die Raumordnung dement-sprechend voranzubringen und umzusetzen.Dank des hohen Einsatzes an raumwirksamen Mitteln,die sich im Zeitraum 1991 bis 1998 auf rund 1,8 Billio-nen DM beliefen und von denen die neuen Bundesländereinen Anteil von 53 Prozent erhielten, haben sich dieLebensverhältnisse in den einzelnen Teilräumen desBundesgebietes deutlich angeglichen. Maßgeblich beige-tragen haben dabei auch die Bereiche „Städtebauförde-rung und Wohnen“ sowie „Verkehrsinfrastruktur“, für die91 Milliarden DM bzw. 173 Milliarden DM aufgewendetwurden, und „Telekommunikation“, in die allein 50 Mil-liarden DM in den neuen Bundesländern investiert wurde.Eine stolze Bilanz! Das erkennt auch der Raumordnungs-bericht ausdrücklich an und erteilt der Arbeit der altenBundesregierung hervorragende Noten.Meine Damen und Herren, angesichts der rasantenVeränderungsprozesse in Gesellschaft und Wirtschaftzu Beginn des 21. Jahrhunderts gilt es mehr denn je,Chancen zu nutzen und Risiken zu minimieren,Zukunftsvisionen wie Globalisierung mit Heimat und Si-cherung der natürlichen, gesellschaftlichen und kulturel-len Ressourcen zu verbinden und allen Teilräumen inDeutschland auch zukünftig eine gleichwertige Teilhabean den gesellschaftlichen und technologischen Entwick-lungen zu ermöglichen. Die Verflechtungen in der Raum-und Siedlungsstruktur der Bundesrepublik Deutschlandnehmen zu und führen dank erleichterter Mobilität undKommunikation zur Auflösung des raumordnungspoli-tischen Gegensatzes zwischen Verdichtungsräumen undländlichem Raum. Das Umland großer Städte dehnt sichräumlich seit Jahrzehnten kontinuierlich aus und ver-zeichnet nach wie vor überproportional hohe Bevölke-rungs- wie auch Beschäftigungszuwächse. Die Funktio-nen, die das Umland übernimmt, und die Vernetzungs-muster werden zusehends vielfältiger und schließen an-grenzende ländliche Räume mit ein.Daraus ergeben sich unter anderem folgende Fragenfür die Zukunft: Wie können wir angesichts europawei-ter Konzentrationstendenzen mit unseren dezentralen aus-gewogenen Raumstrukturen bestehen? Was können wirtun, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken,die wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen,Arbeitsplätze zu schaffen und die Vielfalt unseres Landes,zum Beispiel Kulturlandschaften, Naturräume, Agrar-landschaften usw., zu erhalten? Wie können wir sensibelbleiben für den Wunsch der Bevölkerung nach mehr Iden-tität im unmittelbaren Lebens- und Wohnumfeld? Was istzu tun, um den Wunsch nach Mobilität für die Bürgerin-nen und Bürger zu erhalten und zu sichern? Wie ist das zuerwartende Verkehrswachstum, insbesondere im Güter-verkehr, zu bewältigen?Die rot-grüne Bundesregierung war bisher nicht in derLage – vielleicht auch nicht fähig –, zu all diesen Fragen,die sich aus dem Raumordnungsbericht ergeben, Lö-sungsansätze aufzuzeigen. Man musste sich ja mit sichselbst beschäftigen. Der mittlerweile dritte Verkehrs-,Bau- und Wohnungsminister in zwei Jahren, der sichgerne als Infrastrukturminister bezeichnet, hat noch keineAntworten parat. Seine Regierungserklärung vor kurzemwar mehr als dürftig.Die sich durch permanent steigende Menschen- undGütermobilität ergebende Verkehrsproblematik stellteine große Herausforderung dar. Dabei wird die Zunahmedes PKW-Bestandes von derzeit 40 Millionen um weitere10 Millionen in den kommenden zehn bis 15 Jahren nichtdas Dramatischste sein. Weitaus drastischer wird sich fürDeutschland angesichts seiner zentralen Lage derweiträumige grenzüberschreitende LKW-Verkehr sowohlin Nord-Süd- als auch in Ost-West-Richtung entwickeln.
Man geht von einer Verdoppelung der Tonnage in dennächsten zehn bis 15 Jahren aus. Auch im Bereich desBallungsraumverkehrs wird es durch die zunehmendeMobilität zu einer weiteren Verschärfung kommen.Was macht die Bundesregierung? Sie stellt ein Inves-titionsprogramm 1999 bis 2002 vor und weiß dabei nurzu gut, dass dieses Programm de facto ein Kürzungspro-gramm für den Straßenbau ist – von der Wirksamkeit desZukunftsinvestitionsprogramms 2001 bis 2003, das denNamen „Zukunft“ nicht einmal ansatzweise verdient, unddem groß angekündigten Anti-Stau-Programm, das drin-gend notwendige Ausbaumaßnahmen auf den Zeitraumnach 2003 verzögert, ganz zu schweigen.Es ist unbestritten, dass Standortpolitik etwas mit Ver-kehrserschließung, nämlich mit Straße, Schiene, Wasser-und Flugverkehr, zu tun hat. Standortentscheidungen sinddeshalb auch weiterhin durch Raumordnung beeinfluss-bar. Aber auch weiche Standortfaktoren wie Umweltqua-lität, kulturelle Angebote, Freizeitangebote und Sicherheitgewinnen an Bedeutung.Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie habensich durch die entspannten Wohnungsmärkte, die Siebeim Regierungswechsel vorgefunden haben, zu einerwohnungs- und städtebaupolitischen Auszeit verleitenlassen. Dafür stehen zum Beispiel die Abschaffung desBauressorts, die Demontage der sozialen Wohnungs-bauförderung, die Steinbrüche in der Förderung des freifinanzierten Mietwohnungsbaus und des selbstgenutztenWohneigentums sowie das Absinken der Wohnungs-bautätigkeit unter den Bestandserhaltsbedarf. Wohnungs-politisches Umdenken und wohnungspolitische Substanzsind bei Ihnen nicht zu erkennen. Ich sehe auch keinenAnsatz dafür, dass Sie sich der zunehmenden Trennungvon Arbeit und Wohnen und der Verödung der Innenstädteernsthaft stellen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001 14637
Es wird immer deutlicher, dass die Koalition Raumord-nungspolitik und Städtebaupolitik trennt. Zur Erinnerung:Vor der Bundestagswahl haben SPD und Grüne nicht nurBundesfinanzhilfen für ein neues Großsiedlungspro-gramm, sondern auch eine massive und dauerhafte Auf-stockung der traditionellen Städtebauförderung in Aus-sicht gestellt. Noch für den Bundeshaushalt 1998beantragten die SPD-Wohnungspolitiker eine Verdoppe-lung der Städtebaufördermittel von 600Millionen DM auf1,2 Milliarden DM und bezeichneten eine Aufstockungsogar auf 2 Milliarden DM als wünschenswert. Ein ma-geres Ergebnis ist geblieben: 100 Millionen DM mehrsind es. Damit hat die Schröder-Regierung erneut einWahlversprechen gebrochen. In einem bemerkenswertenAkt der Verleugnung vieljähriger Oppositionsgrundsätzehat Rot-Grün im März 1999 sogar unseren Antrag aufAufstockung der Städtebauförderung abgelehnt.
Die magere finanzielle Ausstattung des Programms„Soziale Stadt“ muss auch vor dem Hintergrund des er-klärten Zieles beurteilt werden, mit dem neuen Instru-mentarium „alle stadtentwicklungspolitisch relevantenRessourcen, insbesondere Wohnungsbaufinanzierung,Straßenverkehr, Arbeits- und Ausbildungsförderung, Ju-gendhilfe, Wirtschaft und Industrie“ zu bündeln. Das istwahrhaft ein große Aufgabe bei diesem geringen Mittel-einsatz.Meine Damen und Herren, wir, die CDU/CSU, beken-nen uns zum ländlichen Raum. Wenn ich mich richtig er-innere, dann gab es in den 70er-Jahren eine Auseinander-setzung um die Qualität des ländlichen Raumes. Wir,insbesondere Bayern, waren für den Eigenwert des länd-lichen Raums und für ein flächendeckendes Netz zentra-ler Orte. Die SPD sprach nur von einem Ausgleichsraum.Der politische Grundsatzstreit darüber ist bis heutenicht beendet. Denn im Regierungsprogramm der rot-grü-nen Bundesregierung von 1998 erscheint der ländlicheRaum nur als Ausgleichsraum mit agrarischer, ökologi-scher und touristischer Funktion, während wir für eine ge-zielte Förderung der Regionen als wesentliches Gegenge-wicht zur Globalisierung sind.Meine Damen und Herren von der Koalition, es gibtviel zu tun. Packen Sie es doch endlich an!
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen! Liebe Kollegen! Die heutige Debatte zeigt– auch wenn sie nur 45 Minuten dauert –, dass derRaumordnungsbericht hervorragend ist. Er ist für uns Ver-anlassung, über die Kernthemen der Stadtentwicklungund der Wohnungspolitik in unserem Land zu diskutieren.Schon das halte ich für wichtig.Der Raumordnungsbericht zeigt die größten Fehlent-wicklungen der letzten Jahre auf, die sich unabhängig da-von ergeben haben, wer wo regiert. Diese Fehlentwick-lungen sind vorhin schon angesprochen worden.Deswegen möchte ich sie nur noch einmal aufzählen: eineweitere kräftige Zunahme des Flächenverbrauchs, dieSuburbanisierung, die Zersiedlung in den Umlandsge-bieten der Verdichtungsräume – mit einem geradezu ra-santen Tempo in den neuen Bundesländern –, die sozialePolarisierung und die sich daraus ergebende Segregationmit all den Spannungen – nicht nur in den großen Städ-ten – und die schrumpfenden Städte.Besonders dramatisch ist die Entwicklung in den neuenBundesländern, aber auch in den Bereichen im Westen,wo der Strukturwandel besonders tiefgreifend war. DieKonsequenz ist – auch das ist in den neuen Bundesländernam deutlichsten zu beobachten – das Ausbluten der In-nenstädte. Hinzu kommen höchst unterschiedliche Ent-wicklungen. Diese gab es zwar schon immer, auch in deralten Bundesrepublik. Aber jetzt gibt es ein dramatischesGefälle, sodass man kaum noch von gleichwertigen Le-bensverhältnissen in unserem Land sprechen kann.Es ist eine Fehlentwicklung, die in diesem Berichtnüchtern und klar beschrieben wird, dass der ländlicheRaum zunehmend ins Abseits gerät. Auf die demographi-sche Entwicklung wird erst gar nicht eingegangen. Alldas, was wir jetzt in Teilen unseres Landes beobachtenkönnen, werden wir nach einiger Zeit in der gesamtenBundesrepublik erleben.Es gibt Hinweise im Raumordnungsbericht darauf– deshalb ist die heutige Debatte zum Einstieg in die Pro-blematik so wichtig –, was zu tun ist. Wenn wir es mit demLeitbild der Städtebau- und Wohnungspolitik wirklichernst meinen, nämlich mit der Nachhaltigkeit – ichmöchte hier betonen: Es ist ganz wichtig, auch die sozialeDimension der Nachhaltigkeit im Auge zu behalten –,dann ist dringender Handlungsbedarf gegeben. Es gibtschon einige positive Ansätze: Verstärkung der Städte-bauförderung und Ausbau des Programms „SozialeStadt“. Es gibt auch sehr positive Ansätze im Hinblick aufdie Bestandsförderung innerhalb der Förderung des so-zialen Wohnraums. Sicherlich ist auch die energetischeModernisierung der alten Wohnungsbestände ein wichti-ger Punkt. Ich habe mich gefreut, dass Herr Bodewig alsneuer Minister als erstes die Bedeutung der Initiative„Preiswertes und ökologisches Bauen“ unterstrichen hat.Das alles wird aber nicht ausreichen. Wir brauchen zu-mindest eine Neujustierung der Förderinstrumente. Indiesem Zusammenhang sollten wir die Eigenheimzulagenicht zum Tabu erklären, was auch immer der „Weser-Kurier“ geschrieben haben mag.
Ich sage hier frank und frei: Wir werden sicherlich auchüber die Themen Bodenwertsteuer und Grundsteuer dis-kutieren müssen. Wir werden uns nicht davor drückenkönnen.
Die Leerstandsproblematik in den neuen Bundeslän-dern ist geradezu als eine Chance zu verstehen, weil hier
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Renate Blank14638
der Problemdruck so massiv ist, dass wir zügig handelnmüssen. Verstehen Sie es bitte nicht als Zynismus, wennich sage: Wir können und werden hier Erfahrungen sam-meln, mit welchen Instrumenten und mit welchen Metho-den wir diesen Fehlentwicklungen begegnen können. Voruns liegt sicherlich sozusagen ein Problemgebirge. Abergleichzeitig haben wir die Chance, mithilfe von anderenstädtebaulichen Entwicklungskonzepten Instrumente zuetablieren, die diese Fehlentwicklungen wenigstens stop-pen und vielleicht sogar ein Stück weit zurückdrängenkönnen.Deswegen ist es in der Tat wichtig, dass wir hier zügigzu Entscheidungen kommen. Dabei – ich glaube, das istdeutlich geworden – geht es auch, aber nicht nur um Geld.Dies ist sozusagen der Bereich, in dem wir beweisen kön-nen, ob wir es mit einer Städtebau- und Wohnungspolitikernst meinen, die sich tatsächlich, nicht nur verbal, demLeitbild der Nachhaltigkeit verpflichtet fühlt.Schönen Dank.
Wir sind damit am
Schluss der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3874 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksa-
che 14/3947. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der
Unterrichtung durch die Bundesregierung zum Europä-
ischen Raumentwicklungskonzept, des Entwurfs der Mit-
teilung der Kommission an die Mitgliedstaaten betreffend
die Zusammenarbeit zur Förderung der Entwicklung des
europäischen Raums und der Entschließung des Europä-
ischen Parlaments zu diesem Entwurf die Annahme einer
Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hau-
ses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Peter Letzgus, Dirk Fischer ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibus-
unternehmen erhalten und sichern
– Drucksache 14/4934 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollegin
Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Der Bus ist – ich glaube, das ist un-bestritten – das Rückgrat des öffentlichen Personennah-verkehrs.
Mit der Ökosteuer verteuern Sie den ÖPNV. Erste Aus-wirkungen in Form einer Erhöhung der Nutzerpreise gibtes bereits. Aber nicht nur im ÖPNV, sondern auch in derTourismusbranche führt die Ökosteuer zu erheblichen Be-lastungen und zu einer Schwächung ihrer internationalenWettbewerbsfähigkeit. Des Weiteren haben Subventions-praktiken in EU-Nachbarstaaten zu einer ernsten Exis-tenzkrise des deutschen mittelständischen Gewerbes ge-führt.Wenn die Bundesregierung es mit der politischen För-derung des ÖPNV ernst meint, dann hat sie nun Gelegen-heit, Flagge zu zeigen, indem sie den Bus von der Öko-steuer befreit, ja sogar Verbrauchsteuerermäßigungenoder Verbrauchsteuerbefreiungen im Rahmen der EWG-Richtlinie 92/81 sowie die Mineralölsteuerbefreiung fürden ÖPNV einführt.Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koali-tion, Handeln ist gefragt; denn die Rahmenbedingungenfür das deutsche Omnibusgewerbe haben sich gegenwär-tig erheblich verschlechtert. Das Gewerbe ist so auf Dauerweder konkurrenz- noch überlebensfähig. Deshalb müs-sen die Defizite schnellstmöglich korrigiert werden. Innahezu allen Ländern der europäischen Mitgliedstaaten,ausgenommen Deutschland, werden Steuerbefreiungbzw. Steuererleichterungen gewährt, um die bustouristi-schen Verkehre und die Buslinienverkehre attraktiver zugestalten.Zwei Drittel aller Fahrgäste im ÖPNV sind auf den Busangewiesen. Wir brauchen den Bus; nicht jeder hat einenBahn-, S-Bahn-, U-Bahn- oder Straßenbahnanschluss.Selbst Bahnchef Mehdorn weiß, dass auch die Bahn aufden Bus angewiesen ist.
Seine Aussagen und Aktivitäten – siehe Busgesellschaf-ten – weisen deutlich darauf hin.Der Bus sichert direkt und indirekt rund 750 000 Ar-beitsplätze in Deutschland. Die deutsche Automobilin-dustrie gehört weltweit zu den führenden Omnibusanbie-tern und auch die Touristikbranche ist auf den Busangewiesen. Das alles sind Fakten, die die Bundesregie-rung nicht außer Acht lassen kann.Die Bundesregierung muss ordnungs- und finanzpoli-tische Rahmenbedingungen schaffen, die die Existenz
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Wolfgang Spanier14639
mittelständischer Strukturen gegenüber dem Verdrän-gungswettbewerb durch Großkonzerne im Verkehrsge-werbe wirksam sicherstellen; denn nur der Erhalt mittel-ständischer Strukturen kann eine wirtschaftliche undfunktionsfähige Mobilität und einen bezahlbaren ÖPNVin Deutschland in Zukunft garantieren.
Mittelstandsfreundlichkeit darf nicht nur in Sonntags-reden gelten, sondern muss praktische Politik sein. Dazugehört auch, dass im Rahmen der EU-Erweiterung undinsbesondere unter Berücksichtigung des Beitrittsosteuropäischer Staaten für Übergangsfristen gesorgtwird, mit denen die Belange unserer privaten mittelstän-dischen Verkehrs- und Omnibusunternehmen angemes-sen berücksichtigt werden. Die finanziellen Grundlagenfür den ÖPNV in der Fläche und in den Ballungsräumensind langfristig sicherzustellen und es dürfen keine weite-ren zusätzlichen steuerlichen oder sonstigen finanziellenBelastungen für das umweltfreundliche VerkehrsmittelBus eingeführt werden. Im Gegenteil müssen, wie ich be-reits ausgeführt habe, Entlastungen erfolgen.Damit das deutsche Omnibusgewerbe im künftigenWettbewerb bestehen kann, müssen Fairness und Trans-parenz gewährleistet sein. Kein Verkehrsbetrieb darf be-vorzugt werden und marktbeherrschende Strukturen dür-fen nicht zugelassen werden. Die Vorteile des mittel-ständischen Omnibusgewerbes, nämlich fahrgastorien-tiertes unternehmerisches Denken, Zuverlässigkeit, Si-cherheit, Pünktlichkeit und schlanke Organisationsstruk-turen, müssen verstärkt zum Zuge kommen. Wir forderndie Bundesregierung auch auf, Schieflagen im Wettbe-werb – auch im europäischen – zu beseitigen.Eine Schieflage ist aus meiner Sicht auch die Dum-pingpreis-Offensive für Gruppenreisen der DeutschenBahn. Die Bahn gewährt Gruppenreisenden bis zu75 Prozent Rabatt gegenüber dem Regeltarif und machtkein Hehl daraus, dass sich dieses Preisgebaren in ersterLinie gegen die Reisebusunternehmer richtet. Eigentlichmüsste die Bahn doch wissen – ich sage nur: sieheEXPO 2000 –, dass sich Dumpingangebote nicht rechnen.Nötig sind auch mehr Finanzmittel für die Infrastruktur,damit Investitionen getätigt werden können, um die ver-kehrspolitische Zielsetzung zu erfüllen, eine möglichstumweltverträgliche und zugleich möglichst sichere Mo-bilität für alle Bürgerinnen und Bürger zu erhalten und zuverbessern.Das deutsche Omnibusgewerbe braucht eine gute, zu-verlässige und zukunftsorientierte Verkehrspolitik. Stim-men Sie deshalb unserem Antrag zu!
Nun hat der Kollege
Hans-Günter Bruckmann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ziel unserer Politik ist es, dieWettbewerbsfähigkeit der deutschen Verkehrsunter-nehmen zu erhalten und auch für die Zukunft zu sichern.Ich gehe davon aus, dass wir uns alle in diesem Hausehierüber einig sind.Die Bundesregierung und die sie tragende Koalitionsind sich der Bedeutung der Omnibusunternehmen als be-vorzugter Träger der Alltags- und Freizeitmobilität inDeutschland sehr bewusst. Die Fakten liegen klar auf derHand. Der Omnibus ist nach dem Auto das zweitwichtigs-te Beförderungsmittel. Im öffentlichen Personennahver-kehr ist der Bus sogar die Nummer eins, Frau Blank.Insbesondere die vielen mittelständisch orientiertenund strukturierten Busunternehmen zeichnen sich durchEigeninitiative, Mut, Fantasie und Innovation aus undschaffen es auf diese Art und Weise, in der Branche sehrerfolgreich zu sein. Denn eines zeichnet sie aus: Sie sindanpassungsfähig. So schaffen sie es, allen Unkenrufenzum Trotz, den veränderten Rahmenbedingungen letzt-endlich gerecht zu werden.Meine Damen und Herren, wir alle kennen die ver-stärkten Tendenzen zur Individualisierung im Verkehrund wissen, dass die Attraktivität des Autos weiter zuneh-men wird und dass dies für die Strukturentwicklung derVerkehrsnachfrage nicht ohne Folgen bleiben wird. Des-halb müssen Unternehmer und Manager der Verkehrs-wirtschaft neue Antworten auf die Herausforderungen derMobilitätsentwicklung finden.Eine Antwort hat die Bundesregierung durch das Eck-punkte-Papier zum öffentlichen Personennahverkehrgegeben. Dies haben Sie, Frau Blank, gerade angespro-chen. Darin sind drei Kernbotschaften enthalten: Die ersteKernbotschaft lautet: Wir geben ein Signal für eine Qua-litätsoffensive, um mehr Kunden für Bus und Bahn zu ge-winnen.Die zweite Kernbotschaft ist: Verkehrsunternehmenund Beschäftigte müssen sich auf mehr Wettbewerb ein-stellen. Den Ordnungsrahmen dafür müssen wir fair ge-stalten.Die dritte Kernbotschaft ist: Gemeinsam mit den Län-dern wollen wir effiziente und verlässliche Infrastruktu-ren und finanzielle Rahmenbedingungen schaffen.Laut Antrag geht die CDU/CSU davon aus, dass unserdeutsches Omnibusgewerbe auf Dauer weder konkur-renz- noch überlebensfähig ist. Eine Schwächung derWettbewerbsfähigkeit des deutschen Omnibusgewerbesaufgrund der Ökosteuer und der Kraftstoffpreissteigerungwird geltend gemacht.Es wird außerdem unterstellt, dass die mittelständischenVerkehrsunternehmen nach dem Verordnungsentwurf derEuropäischen Kommission über die Liberalisierung desÖffentlichen Personennahverkehrs einem ruinösen Konkur-renzkampf mit europaweit tätigen Konzernen ausgesetztsind,
während die kommunalen Verkehrsbetriebe aus dem An-wendungsbereich dieser Regelung herausgenommen wer-den sollen.
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Renate Blank14640
Wir nehmen die Sorgen der Betroffenen sehr ernst. Wirsehen es als unsere Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass derInnovations- und Jobmotor Mittelstand reibungslos undauf hohen Touren – wie es die Techniker ausdrücken –läuft.
Das wichtigste Ziel dabei ist, die unternehmerische Ei-geninitiative zu fördern. Mit der Steuerreform 2000 – Ih-nen ja nicht unbekannt – hat die Bundesregierung hier denentscheidenden Schritt getan und den Steuerzahler in derZeitspanne 1998 bis 2005 um 83 Milliarden DM sowieden Mittelstand – was von der rechten Seite dieses Hau-ses immer wieder gefordert wird – um 30 Milliarden DMentlastet.
Ein besserer Beitrag zur Mittelstandsförderung findet sichaus meiner Sicht in der jüngsten Geschichte des Deut-schen Bundestages nicht.Weiter fordern Sie als Problemlösung die Abschaffungder Ökosteuer. Zielsetzung der ökologischen Steuerre-form ist es, Energie über den Preis zu verteuern, um Ein-sparpotenziale zu aktivieren und mit den daraus erzieltenMehreinnahmen die Lohnnebenkosten zu senken – einZiel, das eigentlich auch von der rechten Seite dieses Hau-ses befürwortet wird.Außerdem verschweigen Sie in Ihrem Antrag, dass beider Mineralölsteuererhöhung für den Öffentlichen Perso-nennahverkehr nur der halbe Erhöhungssatz gilt. Diesunterscheidet sich sehr deutlich von dem, was in den 90er-Jahren von Ihrer Seite getan worden ist. Sie haben die Mi-neralölsteuer erhöht, dies aber weder zur Senkung derLohnnebenkosten noch zur Entlastung der Verkehrswirt-schaft als solcher eingesetzt. Wir haben es mit unseremAnsatz geschafft, die Wettbewerbssituation für die Omni-busverkehrsunternehmen zu verbessern.
Die Annahme, dass wegen der Ökosteuer der Anteil derAuslandsreisen deutscher Urlauber – so steht es in IhremAntrag – zulasten der Inlandsreisen zunehmen werde,wird durch eine Saisonumfrage des Deutschen Industrie-und Handelstages widerlegt, wonach der Deutschlandtou-rismus an Fahrt gewinnt und für diesen Sektor eine guteGeschäftsgrundlage ist. Dies ist ein Punkt, den wir zurKenntnis zu nehmen haben und der für uns positiv zu wer-ten ist.
Sie fordern, die finanziellen Grundlagen für den Öf-fentlichen Personennahverkehr nachhaltig zu sichern.Dies wird vonseiten der Bundesregierung bereits erfüllt.Wir setzen 15 Milliarden DM dafür ein. Über das Ge-meindeverkehrsfinanzierungsgesetz gewährt der Bundden Ländern Finanzhilfen, wobei die Länder letztendlichüber die Verteilung dieser Mittel zu entscheiden haben.Des Weiteren gehen Sie in Ihrem Antrag auf die anste-hende Novelle des Regionalisierungsgesetzes ein. WieSie wissen, ist die Verantwortung für den im Gesetz an-gesprochenen SPNV durch die Bahnstrukturreform wie-der auf die Länder übergegangen. Die Verantwortlichensind dort. Die Länder erhalten für die Bewältigung dieserAufgaben 13,4MilliardenDM – eine Menge! Im Zuge derBahnreform ist gleichermaßen verabredet worden, eineRevisionsklausel einzuführen. Die Bundesregierung istaufgefordert, in diesem Jahr einen Vorschlag zu machen,wie diese anstehenden Veränderungen geregelt werdenkönnen. Ich bin mir sicher, dass sie das auch tun wird.In Ihrem Antrag sprechen Sie sich auch für die ver-stärkte Förderung von erd- und biogasbetriebenen Bussenaus. Die Regierungskoalition setzt sich ausdrücklich fürdie Markteinführung dieser technischen Produkte ein. AlsTechniker muss ich betonen: Die Erdgastechnik ist aus-gereift; sie muss nur eingesetzt werden. – Im Rahmen derÖkosteuer haben wir bei Verwendung dieser Technik inBussen bis zum Jahre 2009 eine Mineralölsteuerermäßi-gung erreicht. Diese Regelung, die bis zum 31. Dezember2000 galt, ist bis 2009 verlängert worden. Dies ist also einrichtiger Schritt.
Dann möchte ich auf den Verordnungsentwurf der Eu-ropäischen Kommission zur Liberalisierung des öffent-lichen Personennahverkehrs zu sprechen kommen. Ichkann die Bundesregierung nur dafür loben, dass sie beiden entsprechenden Verhandlungen in Brüssel gesagt hat:Der Verordnungsentwurf findet in dieser Form nicht un-sere Zustimmung.Ich freue mich, dass wir uns im Ausschuss für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen am Mittwoch der letztenWoche in dieser Frage darauf geeinigt haben, die Bun-desregierung hierbei zu unterstützen. Dabei sind ein paarEckpunkte wichtig: Der ÖPNV ist ein Bestandteil der Da-seinsvorsorge. Wir haben uns in diesem Bereich für Wett-bewerb ausgesprochen. Aber dieser Wettbewerb muss zueinem hohen Qualitätsniveau im Hinblick auf den ÖPNVführen. Die Öffnung des Marktes ist ein gewünschtes Ziel.Arbeits- und Sozialstandards auf hohem Niveau müssenBestandteil von Ausschreibungen sein. Wir gehen einStückchen weiter und sagen: Im Rahmen der Neuordnungdieses Marktes, auf dem 250 000 Menschen tätig sind,sollen die Verkehrsunternehmen ausreichend lange Über-gangsfristen erhalten, damit sie sich auf die in Europa ver-änderten Rahmenbedingungen einstellen können.
– Herr Dr. Meister, Sie werden sich daran erinnern kön-nen, dass wir in einer Protokollnotiz festgestellt haben: Dagibt es welche, die sagen, acht Jahre seien ausreichend,und andere, die sagen, sechs Jahre seien ausreichend. – Wirmeinen, es muss im Zuge der europäischen Harmonisie-rung möglich sein, eine Struktur zu schaffen, die dazuführt, dass unser öffentlicher Personennahverkehr in
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Hans-Günter Bruckmann14641
Europa die Nummer eins ist. Ich denke, das ist ein guterAnsatz.
Dann sprechen Sie in Ihrem Antrag ein anderes Themaan: den Güterkraftverkehr. Mit dem BGL und den an-deren, die sich mit diesem Thema – auch mit sehr vielSachverstand – auseinander zu setzen haben, haben wirintensiv diskutiert. Wir haben gesagt: Wir müssen einenAbbau der Wettbewerbsverzerrungen erreichen. Das Bun-deskabinett hat im Januar dieses Jahres einen Vorschlaggemacht, der davon ausgeht, dass in unserem Güter-kraftverkehr keine Billiglöhne gezahlt werden sollen. Wirmüssen sehen, dass wir die europäische Harmonisierungso weit umsetzen, dass die in diesem Bereich Beschäftig-ten eine gute und faire Chance haben. Wir werden sehen,ob das gelingt, wenn wir uns im Ausschuss damit ausei-nander zu setzen haben. Wir sollten noch in diesem Jahreinen diesbezüglichen Gesetzentwurf einbringen, um denGüterkraftverkehr durch Sofortmaßnahmen in Deutsch-land zu schützen. Ich denke, das werden wir leisten.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss,obwohl ich noch eine Redezeit von zwei Minuten hätte.Aus meinen Ausführungen können Sie erkennen, dass diewesentlichen Teile Ihres Antrages bereits durch Regie-rungshandeln auf den Weg, auf die Straße bzw. dieSchiene, gebracht worden sind. Ich freue mich, dass wirin der Frage der EU-Verordnung zur Liberalisierung imÖPNV eine gemeinsame Position erzielt haben. Ichdenke, Ihr Antrag ist eigentlich überflüssig. Aber wir wer-den ihn, wie sich das in diesem Hause so gehört, im zu-ständigen Ausschuss beraten.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Nun hat Kollege der
Ernst Burgbacher, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr KollegeBruckmann, wenn ich die zwei Minuten von Ihnen jetztnoch bekommen würde, könnte ich auf einige Argumentemehr eingehen. Wegen der Kürze der Zeit muss ich michauf wenige beschränken. Ich will aber gern das aufgrei-fen, was Sie gesagt haben.Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibusun-ternehmen zu erhalten und zu sichern ist der gemeinsameWille in diesem Haus. Nur haben Sie an dieser Stelle ei-nen Punkt zu wenig gewürdigt: Wir haben den Euro undwir werden insbesondere ab dem 1. Januar des kommen-den Jahres vor einer veränderten, verschärften Wettbe-werbssituation stehen. Das wird in Ihrer Politik überhauptnicht berücksichtigt. In der Praxis benachteiligen Sie diedeutschen Omnibusunternehmen massiv gegenüber de-nen aus anderen Ländern. Ich werde das gleich anhand ei-nes Beispiels nachweisen.Was die CDU/CSU hier fordert, geht zum größten Teilin die richtige Richtung, kein Zweifel. Einiges – lassenSie mich das hier sagen – hätte auch schon früher ver-wirklicht werden können. Es steckte nicht immer dernötige Drive dahinter. Einiges wollten wir gern haben, ha-ben es aber nicht durchgesetzt. Jetzt gilt es, aus der Poli-tik, die Sie gemacht haben, auszusteigen und die richtigenEntscheidungen zu treffen.
Lassen Sie mich das am Beispiel der Ökosteuer klar-machen. Herr Bruckmann, Sie stellen das so dar, als seidas keine Belastung für die Branche. Tatsache ist: DieÖkosteuer führt zu einer Belastung von durchschnittlich4 000 DM pro Bus und Jahr. Tatsache ist, dass zum Bei-spiel in Frankreich laut höchstrichterlichem Urteil dieÖkosteuer ausgesetzt wurde und darüber hinaus Subven-tionen gezahlt werden. Fragen Sie doch einmal einen Bus-unternehmer in Baden-Württemberg – der ja im hartenWettbewerb mit den Franzosen steht –, was das heißt. Eingroßes Busunternehmen hat schon aufgegeben und an-dere sind in extremen Schwierigkeiten. Deshalb heißtWettbewerbsfähigkeit erhalten: Weg mit dieser Öko-steuer; denn sie schadet unseren deutschen Anbietern.
Ich möchte einen Bereich herausgreifen, nämlich dieBusunternehmer, die im Tourismus tätig sind. Sie stehenim knallharten Wettbewerb mit anderen. Das ist halt heuteso. In wenigen Jahren hat es eine Entwicklung gegeben,wie sie so niemand vorhersehen konnte. Jetzt packen Siebei uns die Ökosteuer drauf. Sie novellieren das Betriebs-verfassungsgesetz. Das alles führt zu neuen Kosten und zuneuen Hürden.
Wenn Sie noch auf die Idee kommen, die Fahrtzeiten- undPausenregelungen von Busfahrern auf die Betriebsräte zuübertragen, dann brauchen wir auch in diesem Bereichzwei statt einen.
Wir brauchen keine zusätzlichen Belastungen; wirbrauchen mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt, gerade auchfür mittelständische Unternehmen.
Ich will an dieser Stelle sagen: Ich bin sehr gespannt da-rauf, wie sich der Bundeswirtschaftsminister in dieserKontroverse entscheiden wird. Der Mittelstand erwarteteine klare Entscheidung gegen diese Novellierung. Daranmuss sich der Bundeswirtschaftsminister messen lassen.
Wir brauchen keine höheren steuerlichen Belastungen;wir brauchen deutlichere Entlastungen. Deshalb müssenSie sich vorhalten lassen: Die Steuerreform ist grob mit-
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telstandsfeindlich. Sie haben die kleinen und mittlerenUnternehmen eben nicht entlastet. Dazu kommt die Än-derung der AfA-Tabellen. Fragen Sie doch die Busunter-nehmer, was dies konkret für sie heißt! Das heißt: Wirwerden keine so modernen Busse mehr haben. Das be-deutet auch für die Automobilindustrie eine massive Be-nachteiligung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie aufder einen Seite hier so tun, als ob Sie durch scheinbar öko-logische Maßnahmen sauberere Luft erreichen könnten,dann sollten Sie auf der anderen Seite denen, die durch einökologisches Verkehrsmittel dazu beitragen, nicht an dieKehle gehen, sondern sollten ihnen die Luft dafür lassen,sich im europäischen Wettbewerb behaupten zu können.Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):Ich habe noch gar kein Kabinett. – Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Busverkehr
steht oft im Schatten der verkehrspolitischen Diskussion.
Es wird sehr viel über die Bahn und über Autobahnen dis-
kutiert. Das ist eigentlich nicht angemessen. Deshalb bin
ich dankbar, dass der Antrag der CSU/CDU – ich sage es
einmal in dieser Reihenfolge, weil das wahrscheinlich
auch die Reihenfolge der Autorenschaft ist –
die Gelegenheit bietet, hier zum Thema Busverkehr mit-
einander ins Gespräch zu kommen.
Der Busverkehr hat eine ungeheure Bedeutung – Herr
Kollege Bruckmann hat das ausgeführt und auch in Ihrem
Antrag wird das deutlich –, und zwar sowohl im öffentli-
chen Personennahverkehr, den es in vielen Städten – in
den meisten – ohne die privaten Unternehmen, die koope-
rieren, gar nicht gäbe, und natürlich auch im Segment des
Reiseverkehrs. Es ist vor allem die mittelständische Struk-
tur unserer Busverkehrsunternehmen, die dafür sorgt, dass
dieser Bereich innovativ und leistungsstark ist.
Der Bus ist ein umweltfreundliches Verkehrsmittel.
Zusammen mit den Bahnen – S-Bahn, U-Bahn, Straßen-
bahn, Regionalbahn – bildet der Bus das System des öf-
fentlichen Verkehrs, das auch nach Einschätzung unserer
Fraktion das Rückgrat eines zukunftsfähigen Mobilitäts-
systems darstellt.
Genau deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben
wir – anders, als es Ihr Antrag ein bisschen zu suggerie-
ren versucht – ganz bewusst und gezielt den gesamten öf-
fentlichen Verkehr, vom Anrufsammeltaxi über den Lini-
enbus bis zum ICE, zur Hälfte von der Ökosteuer freige-
stellt.
Der halbe Ökosteuersatz bedeutet einen relativen Wettbe-
werbsvorteil gegenüber dem PKW-Verkehr. Diesen Vor-
teil haben wir sehr bewusst geschaffen. Das hat auch Wir-
kung. Die aktuellen Zahlen zur Verkehrsleistung weisen
das aus: Wir haben eine zunehmende Verkehrsleistung im
öffentlichen Verkehr und einen Rückgang beim Benzin-
verbrauch im Individualverkehr.
Das ist so gewollt. Deshalb ist die alte Leier von der an-
geblichen Behinderung der Erfolgschancen des Busses im
Verkehrssystem einfach dissonant und schrill.
Auch Ihr Vergleich mit dem Flugzeug trifft es natürlich
nicht; denn die Urlauberin oder der Urlauber, die bzw. der
nach Mallorca fliegt, geht nicht dem Busverkehr verloren.
Es ist ganz klar: Der Konkurrent zum Busverkehr ist der
PKW, ist der Individualverkehr. Auch Ihr Vergleich mit
den Auslandsverkehren überzeugt mich nicht. Sagen wir
einmal, eine Pilgergruppe – ich nehme ein christliches
Beispiel, da die CDU/CSU den Antrag gestellt hat – fährt
mit dem Bus nach Rom. In Deutschland kostet der Liter
Diesel heute – ich habe die Daten aktuell beim ADAC ab-
gefragt – trotz Ökosteuer 1,65 DM. In Italien kostet der-
selbe Liter Diesel 1,75 DM. Hören Sie also auf mit dem
Gejammer. Der Busfahrer wird schauen, dass er in
Deutschland tankt, nicht in Rom; denn in Deutschland ist
es trotz Ökosteuer immer noch günstiger als in Italien.
Ihre Argumentation ist doch nicht überzeugend.
Herr Kollege
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Burgbacher?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja, bitte.
Herr Kollege Schmidt,
nur noch einmal zur Klarstellung: Sie haben gerade be-
hauptet, der gesamte Busverkehr sei nur mit dem halben
Ökosteuersatz belastet.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Nein, ich habe gesagt, der Linienbusverkehr.
Der Tourismusbusver-kehr wird also mit dem vollen Ökosteuersatz belastet, istdas richtig?
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Ernst Burgbacher14643
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Ich habe wörtlich gesagt und sage Ihnen dasnoch einmal – den Satz kann ich auswendig, ich sage ihnauf jeder Veranstaltung draußen im Land –: Wir haben be-wusst den gesamten öffentlichen Verkehr – öffentlichenVerkehr! –, vom Anrufsammeltaxi über den Linienbus biszum ICE, zur Hälfte von der Ökosteuer freigestellt.
Das ist zutreffend, das ist richtig, das ist gewollt und dasist auch erfolgreich.
Nun komme ich dazu, warum es gar nicht stimmenkann, dass die Ökosteuer die entscheidende Größe hin-sichtlich der Wettbewerbschancen des Busverkehrs ist.Sie begründen das selber in Ihrem Antrag. Sie schreibenmit Recht: Der Bus verbraucht einen halben Liter Dieselauf 100 Kilometer pro Fahrgast. Der Bus ist sozusagen ein0,5-Liter-Auto. Wenn wir eine Busreise etwa von Frank-furt in den Bayerischen Wald organisieren – zweimal300 Kilometer; einmal hin, einmal zurück –, bedeutet daseinen Verbrauch von 3 Litern Diesel pro Fahrgast. Wo istdie Ökosteuer darin? Mit den beiden Stufen, die wir jetzthaben, sind das 36 Pfennig Ökosteuer für die gesamteReise, hin und zurück. Wenn Sie mir jetzt erzählen wol-len, dass diese 36 Pfennig preis- und spielentscheidendsind, dann muss ich sagen: Mit so einer Argumentationmachen Sie sich nur lächerlich.
Die wahren Probleme und die wahren Themen, die unsbeschäftigen sollten, liegen ganz woanders. Sie werdenim zweiten Teil des Antrags, nämlich bei der Novellierungder EG-Richtlinie 11/91 zum Thema Wettbewerb im öf-fentlichen Nahverkehr, auch angesprochen.Hier möchte ich deutlich sagen: Es ist eine Konsequenzdes Maastrichter Vertrages, dass mit öffentlichen Geldern –und es gehen in Deutschland 8Milliarden DM in den Bus-verkehr – auch effizient umgegangen werden muss. Esmuss ausgeschrieben werden, es muss Wettbewerb ge-ben. Das ist eine ungeheure Chance für die privaten Bus-unternehmen. Das heißt, Wettbewerb ist ein Instrument,um Qualitätsziele zu erreichen, Wettbewerb ist kein Zielan sich. Die Ziele, um die es geht, sind Qualitätsziele imInteresse des Fahrgastes: guter Service, attraktives Ange-bot, natürlich auch anständiger Preis; aber es ist eben keinPreisdumpingwettbewerb. Deshalb müssen und werdenwir bei der Umsetzung dieser Richtlinie in das nationaledeutsche Recht darauf achten, dass wir diese Qualitäts-merkmale als unverzichtbare Bestandteile der Reformge-setzgebung festschreiben. Dazu müssen dann auch dieLänder mit Vergabegesetzen beitragen. Das gilt auch fürSozialstandards der Beschäftigten.Um es zusammenzufassen: Auch eine andere Diskus-sion, die immer mal wieder mitschwingt – was ist besser,Bus oder Bahn? –, ist unsinnig. Wir brauchen beides, wirbrauchen die Vernetzung, das System aus Bus und Bahn.Wir brauchen auch eine effiziente staatliche Finanzierungdieser Systeme. Bus und Bahn gehören im Interesse derReisenden zusammen.Ich freue mich auf produktive Ausschussberatungen;denn dort haben wir die Chance, noch qualifizierter mit-einander ins Gespräch zu kommen und zu sortieren, wowir uns einig sind, aber auch, wo wir fundamentale Un-terschiede haben.Danke.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dasswir hier einen Antrag behandeln, der leider in die falscheRichtung geht, der eher wie ein Lobbyantrag wirkt, derunausgereift und einseitig ist. Zu Recht werben die öf-fentlichen Verkehrsmittel oft mit dem Begriff „Bahnenund Busse“. Hier wird ein Teil herausgenommen und ver-sucht, dafür spezielle Lobbyarbeit zu machen. Das ordnetsich ein in die gesamte Ökosteuerdebatte, die von IhrerSeite, von der CDU und der CSU, zum Teil sehr demago-gisch geführt wurde, wobei es Künstlerpech ist, dass seit-dem die Spritpreise um circa 20 Prozent gesunken sind.Zu Ihrer Klage, Frau Blank und andere, in Bezug aufdie Europäische Union und den ruinösen Wettbewerb istzu sagen: Das ist richtig. Es stimmt auch, dass das für denLKW zutrifft. Es stimmt vor allem auch, dass das eineEntwicklung ist, die in den letzten zehn bis 20 Jahren inerheblichem Maße gerade von Ihrer Seite gefördertwurde. Alle Vorschläge, die hier gemacht werden, sindVorschläge, die diesen ruinösen Wettbewerb noch weiterverstärken werden: durch Abbau von Mehrwertsteuer,durch Abbau von Ökosteuer, durch neue Steuersenkungenusw.Wir sagen durchaus: Es ist besser, wenn Menschen stattmit dem Auto und dem Flugzeug mit dem Bus fahren. Wirsagen aber auch, dass es da, wo Schienen vorhanden sind,besser wäre, wenn diese genutzt werden würden. Wirglauben, hier wird eine schädliche Konkurrenz – Bus ge-gen Bahn oder beim Güterverkehr Binnenschifffahrt ge-gen Bahn – aufgebaut. Die externen Kosten bei Bussenliegen immer noch wesentlich über denen bei der Schiene,vor allem was Fläche, Fahrwerkzerstörung, Abgase undLärm betrifft. Deswegen meine ich auch, dass man dasSystem des öffentlichen Verkehrs in seiner Gesamtheit se-hen muss, um zu erkennen, wo es sinnvoll ist, die Bin-nenschifffahrt, Busse oder Schienenfahrzeuge einzuset-zen.Damit meine ich auch, dass die jetzige Entwicklung,dass auf weiten Strecken, Stichwort „Pilgerfahrt nachRom“, Busse eingesetzt werden, im Grunde eine ver-rückte Entwicklung ist. Man müsste vielmehr bei weitenStrecken gerade die Bahn, die Schiene, bevorzugen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 200114644
Ein letztes Wort zu den Arbeitsplätzen: Die CDU/CSU argumentiert in ihrem Antrag, 15 000 Menschenseien direkt in der Busproduktion beschäftigt. Dann sagenSie:Der Bus sichert zudem auch circa 750 000 Menschenin Deutschland direkt und indirekt ihre Arbeitsplätze.Frau Blank, in der Bahnindustrie arbeiten heute 23 000Menschen, bei der Bahn 220 000 Menschen, bei Stadt-bahnen, soweit schienengebunden, noch einmal 150 000Menschen. Grob hochgerechnet heißt das, dass dieSchiene – Produktion und Verkehr – ungefähr 1,5 Milli-onen Menschen direkt oder indirekt den Job sichert. Ichwürde gern einmal einen überfraktionellen Antrag sehen,der mit diesem Arbeitsplatzargument Lobbyarbeit für dieSchiene leistet.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Letzgus, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Derheute vorliegende CDU/CSU-Antrag, Kollege Schmidt,„Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibusunterneh-men erhalten und sichern“
müsste eigentlich bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Koalition, auf wachsende Begeisterungstoßen; denn er gibt Ihnen Gelegenheit, Ihre verfehlte Ver-kehrspolitik in Sachen ÖPNVund Busunternehmen zu re-vidieren, indem Sie ihm zustimmen.
Dass der Bus ökonomisch und ökologisch ein sehrsinnvolles und effizientes Verkehrsmittel ist, dürfte un-strittig sein. Jeder Autofahrer wird das merken, wenn ereinmal einen Bus mit folgendem Aufkleber vor sich hat:Hier könnten 30 PKWvor Ihnen herfahren. Ich glaube, je-der Autofahrer, der überholen will, wird dadurch erst ein-mal ruhiger. Weil der Bus besonders umweltfreundlichund ökonomisch und ökologisch ein sehr sinnvolles Ver-kehrsmittel ist, verdient er unsere spezielle Aufmerksam-keit und Förderung.Als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Oppo-sition waren, war all das, was die damalige Regierung fürden ÖPNV und die Busunternehmen gemacht hat, nichtgut genug. So konnte man nach dem Regierungswechseleigentlich erwarten, dass eine Flut von Förderungsmaß-nahmen den Bus auf die Überholspur bringen würde. Je-doch weit gefehlt.Mit der Einführung der Ökosteuer, von der Sie denÖPNV völlig unverständlicherweise nicht komplett aus-genommen haben, haben Sie Ihre ursprünglichen Bekun-dungsabsichten konterkariert.
Sie wissen genau, dass diese Ökosteuer absolut nichts mit„öko“ zu tun hat.
Das ökologisch sinnvolle Verkehrssystem Bus wird er-heblich belastet. Für die deutschen Busunternehmenverschlechtert sich die Wettbewerbssituation. KollegeBruckmann, Sie sprachen davon, dass der Bustourismusin Deutschland zurzeit wieder besseren Zeiten entgegen-geht. Das freut uns. Das hat aber weniger mit der tollenSituation der deutschen Busunternehmen, sondern viel-mehr mit der Euro-Schwäche zu tun; denn die Touristenkommen überwiegend aus den Dollar-Ländern und profi-tieren von dem schwachen Euro. Insofern trifft die in un-serem Antrag enthaltene Forderung nach Abschaffungdieser so genannten Ökosteuer den Nagel auf den Kopf,
da damit die ursprünglich vorgesehene Lenkungsfunktion– das gestehe ich Ihnen zu – nicht nur nicht erreicht wird,sondern sich in ihr Gegenteil verkehrt.Die Markteinführung von mit Erd- und Biogas betrie-benen Bussen im ÖPNV als wichtiger Beitrag zur Lösungaktueller verkehrsbedingter Umweltprobleme ist ver-stärkt zu fördern. Dieser Punkt in unserem Antrag – dashatten Sie erwähnt – ist unstrittig. Das ist verdammt nötig,zumal wir wissen, dass die CO2-Belastung in letzter Zeitleider wieder angestiegen ist.In unserer Ausschusssitzung am 24. Januar dieses Jah-res, in der wir unter anderem die Pläne der EU-Kommis-sion hinsichtlich der bevorstehenden Liberalisierung desÖPNV-Marktes in der EU diskutierten, kamen wir – Ko-alition und Opposition – insgesamt zu fast gleichen Auf-fassungen. Wir sind uns einig, dass der Wettbewerb imÖPNV dazu führen muss, die Dienstleistungen kos-tengünstiger, kundenfreundlicher und in verbesserterQualität anzubieten. Weiterhin bleibt notwendig – auchdas ist unstrittig –, dass neben den Technik-, Qualitäts-,Umwelt- und Sicherheitsstandards auch die Arbeits- undSozialstandards auf hohem Niveau erhalten bleiben müs-sen. Lohndumping muss verhindert werden.Die Existenz unserer mittelständischen Busunterneh-men – das sind in Deutschland circa 400 öffentliche undetwa 5 000 private Unternehmen – ist gegenüber dem Ver-drängungswettbewerb durch Großunternehmen im euro-päischen Verkehrsgewerbe wirksam sicherzustellen. Zu-stände wie in Dänemark – das wissen Sie –, wo sich dieZahl der Busbetriebe halbiert hat – von den verbliebenenUnternehmen sind 40 Prozent in ausländischer Hand –,oder auch in Schweden, wo drei Großunternehmen60 Prozent aller Busleistungen halten – zwei von diesendreien sind ebenfalls in ausländischer Hand –, müssen inDeutschland verhindert werden.Flexible, ausreichend lange Übergangsfristen müssenden deutschen Unternehmen die Möglichkeit einräumen,sich den neuen Marktgegebenheiten anzupassen. Diesmuss für die Unternehmen bedeuten, – ich will michhier nicht darüber streiten, ob „ausreichend lange“ sechsoder acht Jahre sind – sich möglichst schnell auf diekommende Marktöffnung einzustellen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Dr. Winfried Wolf14645
Im Hinblick auf den EU-Beitritt der osteuropäischenStaaten sind Übergangsfristen notwendig, mit denen dieBelange unserer mittelständischen Verkehrs- und Omni-busunternehmen angemessen berücksichtigt werden. Ins-gesamt muss in Zukunft ein fairer Wettbewerb garantiertwerden, die notwendige Transparenz gesichert sein undein ruinöser Preiswettbewerb vermieden werden. Die fi-nanziellen Grundlagen für den ÖPNV in der Fläche undin den Ballungsräumen müssen langfristig gesichert wer-den.Dies alles sind Punkte, die eigentlich unstrittig sindund die Sie auch in unserem Antrag wiederfinden. Inso-fern kann ich das, was Sie, Kollege Bruckmann, gesagthaben, unterstreichen. Im Wesentlichen sind wir uns ei-nig.
Also: Gehen Sie in sich, überzeugen Sie Ihre Kolleginnenund Kollegen und stimmen Sie unserem Antrag zu!Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4934 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der PDSEinsetzung eines Untersuchungsausschusses– Drucksache 14/5145 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei diePDS-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der KolleginHeidi Lippmann das Wort.Heidi Lippmann (von der PDS mit Beifall be-grüßt): Vielen Dank! – Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Wie notwendig die Einsetzung eines Untersu-chungsausschusses zum Einsatz von Uranmunition ist,zeigen die in den vergangenen Wochen bekannt geworde-nen Informationen bzw. Teilinformationen. Doch lassenSie uns einen Punkt vorweg klären: Der Einsatz vonUranmunition ist längst nicht so harmlos, wie der Vertei-digungsminister uns in den vergangenen Wochen glaubenzu machen versucht hat. Nicht umsonst warnen weltweitWissenschaftler und Ärzte vor den möglichen Folgen derInkorporation von durch Beschuss freigesetzten Uranpar-tikeln – unabhängig davon, ob zusätzlich noch andere ra-dioaktive Bestandteile, zum Beispiel Plutoniumspuren,enthalten sind oder nicht.Auch im Verteidigungsministerium wurde bereits imMai 1999 darauf hingewiesen, dass es neben dem Strah-lungsrisiko ein toxikologisches Risiko gibt. Ich zitiere:Eine längerfristige Gefahr ergibt sich durch die Kon-tamination von Wasser, Trinkwasser und Boden. Da-her sollten bei der Einrichtung von Biwaks dieGeländeteile gemieden werden, auf denen eine Kon-tamination durch Beschuss stattgefunden hat oderwo kontaminierter Staubniederschlag den Bodenverseucht hat.Obwohl dies bekannt war, hat die rot-grüne Bundesre-gierung über einen langen Zeitraum hinweg alle Anfragenüber die von Uranmunition ausgehenden Gefahren mitder Standardantwort abgetan: Die Bundeswehr besitztdiese Munition nicht, eigene Untersuchungen liegen nichtvor.Obwohl jeder Luftwaffenoffizier im Verteidigungsmi-nisterium weiß und wusste, dass die Standardbewaffnungvon A-10-Bombern seit Jahrzehnten uranhaltige Munitionist, hat man erst auf eine offizielle NATO-Bestätigung ge-wartet, bevor man den im Kosovo stationierten Truppenkonkrete Schutzmaßnahmen befahl.Ebenso hat die Vorgängerregierung reagiert bzw. nichtreagiert. Beiden ist gemeinsam, dass sie durch ihr Nicht-wissen-Wollen den Einsatz dieser Munition durch US-amerikanische Truppen im Golfkrieg, in Somalia, in Bos-nien, im Kosovo und vermutlich auch in Serbien undMontenegro toleriert haben. Ich bin überzeugt davon,dass die Lagerung von DU-Munition, die Ausstattung derAbrams-Panzer und die so genannten „Unfälle“ durch Al-liierte in Deutschland bekannt waren – ebenso wie dieVersuche, die mit DU-Munition von deutschen Rüstungs-unternehmen durchgeführt wurden.Es ist auch davon auszugehen, dass es sich bei den bis-her bekannt gewordenen Informationen lediglich um dieSpitze eines Eisberges bzw. – anders gesagt – eines Uran-berges handelt. All dies gilt es aufzuklären. Nicht mehrund nicht weniger fordern wir mit unserem Antrag aufEinsetzung eines Untersuchungsausschusses.
Daran sollte jeder und jede in diesem Haus Interessehaben: im Interesse der Opfer in der Zivilbevölkerung, diees durch den Einsatz von Uranmunition, insbesondere inden letzten zehn Jahren, gegeben hat, im Interesse der inBosnien und im Kosovo stationierten Soldaten sowie imInteresse künftiger Opfer, die möglich sind, wenn dieseMunition nicht umgehend verboten und geächtet wird.
Unabhängig davon, ob die Uranmunition die Ursachefür die bei Soldaten in ganz Europa aufgetretenenLeukämiefälle ist oder nicht, steht fest, dass das Inkor-porieren winzigster Teile nach Jahren zu schweren Organ-und Nervenschädigungen und zu unterschiedlichstenKrebserkrankungen führen kann. Es steht weiter fest, dassBöden und Gewässer kontaminiert sind und die Ra-dioaktivität aufgrund der physikalischen Gesetzmäßigkeitdes Zerfallsprozesses über Jahrzehnte und Jahrhundertehinweg noch anwachsen wird.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Peter Letzgus14646
Die US-Truppen haben nicht umsonst die durch Be-schuss in Grafenwöhr kontaminierten Böden entsorgt.Sollte man nicht zumindest die gleiche Fürsorge auch derBevölkerung in der Golfregion und auf dem Balkan zu-kommen lassen?
Der Kollege Nolting forderte kürzlich „brutalstmögli-che Aufklärung“. Die PDS-Fraktion fordert lückenloseAufklärung und bittet Sie alle hierbei um Unterstützung.
Eine lückenlose Aufklärung ist auch erforderlich ange-sichts der heute Abend von der ARD ausgestrahlten Sen-dung „Es begann mit einer Lüge – Deutschlands Weg inden Kosovo-Krieg“.Die Herren Scharping und Fischer, die beide nicht dasind, sind aufgefordert: Klären Sie endlich die Halbwahr-heiten und Unwahrheiten auf, die Sie während des Ko-sovo-Krieges der deutschen Öffentlichkeit zugemutet ha-ben! Gestehen Sie endlich ein, dass der so genannteHufeisenplan ein Produkt des Verteidigungsministeriumswar, dass die Vorfälle in Racak vorschnell zum Massakererklärt wurden und dass das angebliche Konzentrations-lager in Pristina sowie viele andere Gräuelgeschichten er-forderlich waren, um Ihren so genannten humanitärenKrieg zu rechtfertigen.
Übernehmen Sie endlich die Verantwortung für IhrHandeln und machen Sie Schluss mit den Unwahrheiten!Diese Forderung bezieht sich sowohl auf den Krieg ins-gesamt als auch auf den Einsatz von Urangeschossen.
Frau Kollegin
Lippmann, Sie müssen zum Ende kommen.
Ein letzter Satz: Angesichts
der von Herrn Scharping wiederholt erhobenen Vorwürfe
gegen Ihre Vorgängerregierung sollte es in Ihrem ureige-
nen Interesse sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen, alle Vorkommnisse im
Zusammenhang mit Uranmunition aufzuklären. Dieses
gebietet sowohl die Fürsorgepflicht gegenüber den Solda-
ten als auch die völkerrechtliche Verantwortung der
Bundesrepublik Deutschland.
Nun hat Kollege Gerd
Höfer, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Ich bin etwas überrascht, dass
ich jetzt schon das Wort erhalte, weil der Redeablauf et-
was anders verabredet war. Aber da dieses Thema uns seit
längerer Zeit beschäftigt, kann ich mit vorauseilendem
Gehorsam ahnen, was nach mir noch gesprochen wird,
wobei ich das, was die Kollegin Ulrike Merten sagen
wird, natürlich besonders unterstützen werde.
Wir haben es in diesem Falle mit einer doppelten Desin-
formation und Desorientierung zu tun: so, wie es gerade
die Kollegin Lippmann gemacht hat – das ist ja eine alte
Geheimdienstpraxis –, und so, wie es F.D.P. und CDU/
CSU fortsetzen werden. Besonders fasziniert hat mich
eben der Satz – den ich schon im Physikunterricht des
zehnten Schuljahres nicht hätte bringen können –, dass die
Halbwertzeit die Radioaktivität bestimmter Elemente er-
höht. Die Halbwertzeit ist die Zeit, in der radioaktive
Stoffe unter Abgabe von Radioaktivität bei einer Verrin-
gerung der Ausscheidung zerfallen; Sie können das in Bec-
querel oder in Sievert messen.
Sie stehen damit in einem engen Kontext mit Ihrem
Fraktionsvorsitzenden, der sich bei der letzten Debatte
über DU-Munition nicht entblödet hat zu sagen, er habe
den Begriff „abgereichertes Uran“ in einem Physiklexi-
kon nicht gefunden, dieser Begriff sei eine Erfindung der
Politik, um die Folgen von abgereichertem Uran zu ver-
harmlosen. Sie sehen daran, wie schwer es ist, mit ideo-
logisch geprägten Parteien zu diskutieren: Innerhalb ihrer
Ideologie haben sie mit Sicherheit immer Recht. Das ist
eben der geschlossene Kreislauf einer Ideologie. Es ist
aber ein starkes Stück, die Naturwissenschaften so weit zu
verbiegen, nur um seinem Ziele näher zu kommen. Im
Physikunterricht des zehnten Schuljahres hätte man mir
das, was Sie gerade erzählt haben, nicht abgenommen.
Ihre Ausführungen entbehren jeglicher Solidität.
Die Assoziationskette ist eindeutig: Wenn irgendje-
mand „Uran“ hört, denkt er automatisch an Atombombe,
an Kernkraftwerk und an die schlimmen Folgen, die zu er-
leiden sind durch den Abwurf von Atombomben, was in
keiner Weise zu rechtfertigen wäre.
Die Assoziationskette wird genutzt, um Ängste zu
schüren und sich gleichzeitig als Aufklärer darzustellen:
Man fordert einen Untersuchungsausschuss, der dann
dazu instrumentalisiert werden soll, diese Ängste weiter
zu verbreiten, sie mit der Politik zu verbinden und in der
Politik die Sache an einem Namen festzumachen. Dieser
Name ist dann der des Verteidigungsministers.
Das ist das politische Ziel, das verfolgt wird mit den un-
sauberen Mitteln, wie ich sie gerade versucht habe darzu-
stellen.
– Ich verstehe zwar kein Wort, aber ich nehme an, dass der
Zwischenruf nicht sehr qualifiziert war, sonst könnten Sie
eine Zwischenfrage stellen. Dagegen hätte ich eigentlich
nichts, auch wenn ich mit Rücksicht auf die anderen Kol-
legen nicht so recht weiß, ob ich sie zulassen sollte.
Kollege Höfer, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fink?
Ja.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Heidi Lippmann14647
Ich bitte doch einmal, zu er-
klären, seit wann man Parlamentarische Untersuchungs-
ausschüsse instrumentalisieren kann.
Das müssen Sie die Kollegen vonder CDU fragen. Die üben das gerade umgekehrt,
indem sie sagen, dass der Untersuchungsausschuss einKampfinstrument sei – um damit zu verschleiern, dass derAnlass des Untersuchungsausschusses kriminelle Ma-chenschaften gewesen sind.Aber Sie werden sich heute in einer besonderen Nähezur CDU und CSU befinden, vermute ich. Wenn es nichtso eintreten wird, dann haben wir ein gutes Stück an In-formationspolitik geleistet.
– Im Gegensatz zu Ihnen werde ich vor 75 eh nicht ver-nünftig, und das hat so seine Gründe.Der zweite Teil der Desinformation geht über die Für-sorgepflicht: Man sagt, alle diese Dinge müssten unter-sucht werden, und behauptet, dass dieser Komplex nichthinreichend untersucht sei, weil die Zahlen derer, die in-zwischen untersucht worden sind, nicht ausreichendseien,
davon ausgehend, dass die Kollektive, die parallel gestal-tet worden sind, zu klein sind.Meine Damen und Herren, ich werde jetzt etwas ernst-hafter. Das gebietet das Thema.
Selbst wenn zehn Jahre lang untersucht wird – und darü-ber hinaus –, würde man feststellen müssen, ob über einestatistische Wahrscheinlichkeit, die signifikant ist, gesi-chert ist, dass die Zahl der Leukämiefälle, die ja inzwi-schen, wie Frau Lippmann sagt, europaweit aufgetretensind, zunimmt.
– Ich habe selektiv zugehört und ich weiß auch genau, wasich sage.Man kann nicht behaupten, dass man dann, wenn mandie Untersuchungen weiter ausdehnte, zu Schutzmaßnah-men komme, die möglicherweise verhindern würden,dass zum Beispiel Leukämie oder Lungenkrebs auftritt.Es ist leider so, dass in der Bundesrepublik Deutschlandjährlich etwa 6 000 neue Leukämiefälle auftreten.
– Ich habe mich bei Universitäten und an sonstigen Stel-len erkundigt, wie sich das bei diesem Thema gehört. Ichhabe auch die Gutachten gelesen, die vom Verteidi-gungsministerium vorgelegt worden sind, die aber viel-fach einfach negiert werden. Hier in der Öffentlichkeitwird darüber gar nicht gesprochen, auch nicht über dieBemühungen, die da laufen; im Verteidigungsausschussist es nicht öffentlich, da kann man ja anders damit um-gehen. Auch das ist eine Frage der selektiven Wahrneh-mung.Das würde also bedeuten, dass man Latenzzeiten mitbetrachten muss. Einer der Professoren, die ich angerufenhabe, hatte die Meldung gelesen, dass ein Soldat, der imKosovo war – hinterher stellte sich heraus, in Mostar –,Leukämie hatte. Er sagte mir, dass diese DU-Munition,selbst wenn sie viel gefährlicher wäre, als hier geschildertwird, schon aufgrund der Latenzzeit nicht ursächlich fürseine Leukämie hätte sein können. In 30 Jahren wird esaber so sein, dass sich irgendjemand daran erinnert, dasser in der infrage stehenden Zeit ja in Bosnien-Herzego-wina oder im Kosovo gewesen ist. Dann wird er soforteine finale Verbindung herstellen zwischen dem Aufent-halt in diesem Gebiet und der Erkrankung.Da diese Erkrankungen allerdings nicht signalisieren,dass der Auslöser dieses oder jenes gewesen ist, sie bei-spielsweise auch durch Erbdisposition ausgelöst werdenkönnen – natürlich auch durch Rauchen und Ähnliches –,wird man einen Zusammenhang nur über die statistischenMethoden herstellen können, jedoch ohne die Finalität,dass ein gewisser Auslöser möglich oder wahrscheinlichist.Wenn diese Disposition aber nicht signifikant ist, dannwird es sehr schwierig sein, im Einzelfall die Finalitätnachzuweisen. Das gilt genauso im Hinblick auf die As-bestdisposition; nur besteht hierbei ein Vorteil: Asbestkann man im Körper zumindest noch lokalisieren. DasLokalisieren von Stäuben ist sehr schwierig und das vonStrahlen ist unmöglich.Die Frage nach der Herstellung von Verantwortlichkeitkann auch durch größere Massenuntersuchungen nichtmit hundertprozentiger Sicherheit beantwortet werden.Das muss man der Ehrlichkeit halber all denjenigen sa-gen, die von diesen Dingen betroffen sein könnten. Dasheißt: Wenn man behauptet, viele Untersuchungen bräch-ten letztendlich Erkenntnis, dann gaukelt man Sicherheitnur vor. Wer dem Inspekteur des Sanitätswesens auf-merksam zugehört hat, der wird für diese Behauptung Be-stätigung finden. Dasselbe gilt für diejenigen, die an Uni-versitäten, welcher Art auch immer, nachfragen.Es gibt weitere umfassende Untersuchungen in derBundeswehr – ich nehme an, dass Staatssekretär Kolbowdarauf eingehen wird –; es gibt eine umfassende Untersu-chung zum Beispiel über die Kontaminierung von Was-ser. Sie haben verschwiegen, dass vorhergehende Unter-suchungen das Ergebnis erbracht haben, dass eine solcheKontaminierung nicht festgestellt werden konnte. In demFall besitzt die Radioaktivität ausnahmsweise den Vorteil,dass man sie, sofern noch vorhanden, lokalisieren kann.Das trifft aber nur dann zu, wenn sich die Munition zer-legt hat und wenn Stäube gebildet worden sind. Es trifftnicht zu, wenn die Munition in der Erde stecken geblie-ben ist und nicht getroffen hat, also unversehrt ist.
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Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: DieSorgfältigkeit, die das Verteidigungsministerium in die-sen Bereichen walten lässt, ist hervorragend. Bisher hatsich herausgestellt, dass eine Gefährdung für die Soldatendurch die eingesetzte DU-Munition auszuschließen ist.Das werden weitere Untersuchungen von im Kosovo ein-gesetzten Kollektiven – es finden dabei Vergleiche mit an-deren Gruppen statt – bestätigen.Ich danke Ihnen für das Zuhören.
Ich erteile der Kolle-
gin Ursula Lietz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus-gelöst durch die ungenügende Informationspolitik desVerteidigungsministeriums in Bezug auf Geschosse mitabgereichertem Uran präsentiert uns die Fraktion der PDSheute Abend einen Antrag auf Einsetzung eines Untersu-chungsausschusses.Zunächst einmal muss ich feststellen: Die Informati-onspolitik, die uns der Verteidigungsminister zu diesemThema geliefert hat, war schlecht.
Dadurch ist der Eindruck entstanden, hier solle eher ver-tuscht und verschwiegen als aufgeklärt werden. DieseVorwürfe sind mehr als berechtigt und sie sind im Vertei-digungsausschuss durch Wortmeldungen mehrerer Frak-tionen mehrfach deutlich gemacht worden. Dennoch wer-den wir dem Antrag der PDS nicht zustimmen. DieCDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass es keines Un-tersuchungsausschusses bedarf, um die Vorgänge rund umBesitz und Einsatz von DU-Munition aufzuklären.Zunächst kann ich der PDS aber eine Formalie nicht er-sparen. Sehr verehrte Frau Kollegin Lippmann, Sie solltensich künftig vor der Beantragung eines Untersuchungsaus-schusses mit dem Grundgesetz vertraut machen. Sie habeneinen Untersuchungsausschuss gemäß Art. 44 GG bean-tragt. Da es sich bei diesem Thema um eine Angelegenheitdes Verteidigungsausschusses handelt, hätte Art. 45 a GGund nicht Art. 44 GG bemüht werden müssen. Wenn wirIhrem Antrag folgten, dann müsste sich der Verteidigungs-ausschuss selbst als Untersuchungsausschuss konstitu-ieren.
Verfassungsrechtlich ist Ihr Antrag eindeutig unzulässig.Was soll der Untersuchungsausschuss denn überhauptbezwecken? Sie wollen geklärt wissen, welche Verant-wortung die Bundesregierung für den Einsatz von abge-reichertem Uran während des Kosovo-Krieges hatte, wel-che Bemühungen die Bundesregierung zur Aufklärungangestellt hat und ob sie der Sorgfaltspflicht gegenüberden Bundeswehrsoldaten nachgekommen ist. Wenn mannicht mehr weiter weiß, gründet man einen Arbeitskreis.Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Keines der hier auf-geführten Ziele wird durch einen Untersuchungsaus-schuss eher erreicht. Keine dieser Fragen hilft den Solda-ten jetzt weiter.Worum geht es in der Sache eigentlich? Ich habe schonin meiner Rede am 18. Januar an dieser Stelle darauf hin-gewiesen, dass bestimmte Maßnahmen umgesetzt werdenmüssen.Dazu gehört erstens, dass wir schnell wirklich alleBundeswehrsoldaten erfassen, die im Kosovo mit DU-Munition in Berührung gekommen sind oder gekommensein könnten. Wir müssen ihnen die Möglichkeit der me-dizinischen Untersuchung anbieten, übrigens wieder-holt, wenn es sein muss, über mehrere Jahre. Diese Un-tersuchungen müssen mit einheitlichen Standards und inAbsprache mit anderen NATO-Partnern, die auf dem Bal-kan an den Friedensmissionen SFOR und KFOR teilge-nommen haben, durchgeführt werden.Zweitens. Wir brauchen schnellstens klares Datenma-terial aller NATO-Länder aus DU-kontaminierten Gebie-ten im Kosovo, um unsere gemeinsamen Mess- und Er-fassungsanstrengungen intensivieren und gemeinsameDatenbanken erstellen zu können.Drittens. Auch über Besitz und Verwendung DU-halti-ger Munition in Deutschland, ob durch die Bundeswehr,durch andere Verbündete oder die ehemalige Westgruppeder sowjetischen Streitkräfte, ist Aufklärung notwendig.Mittlerweile sind wir da ja schon etwas weiter und wer-den auch ohne einen Untersuchungsausschuss zu Ergeb-nissen kommen.Zu bemängeln bleibt allerdings ganz klar, dass dieseInformationen vonseiten des Verteidigungsministers im-mer erst scheibchenweise gegeben wurden. Die Einbe-stellung des amerikanischen Geschäftsträgers sollte dannnoch vom eigenen Fehlverhalten ablenken.
Wir haben die gewünschten Informationen von unserenamerikanischen Freunden mittlerweile bekommen. Wennsich die Bundesregierung ein wenig um ein besseres Ver-hältnis zur neuen US-Administration kümmern würde,wäre es ein Leichtes, wieder das Vertrauen herzustellen,das zwischen Deutschland und den USA unter der Regie-rung Helmut Kohl bestanden hat.
Wenn der Verteidigungsminister einerseits im Auftragder Bundesregierung im NATO-Rat um ein Moratoriumbei der Verwendung von Munition mit abgereichertemUran ersucht und andererseits das Thema zynisch vorlaufenden Kameras selbst herunterspielt, dann darf sichdas größte NATO-Land Europas nicht wundern, wenn sei-nen Anliegen kaum noch Gewicht beigemessen wird.Bei all diesen drängenden Fragen bringt uns einUntersuchungsausschuss überhaupt nicht weiter. Er be-sitzt nicht die fachliche Kompetenz, um solche wissen-schaftlichen Fragen fundiert zu klären. Das Ergebnis wäre
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Gerd Höfer14649
einmal mehr ein riesiger organisatorischer Aufwand. DasZusammenstellen der jetzt dringend benötigten Ergeb-nisse, die den Soldaten und deren Familien die Un-sicherheit nehmen und weiterhelfen, würde dadurch sogareher noch verzögert. Unter Umständen geben wir – auchdas halte ich für sehr wichtig und bedenkenswert – einfalsches Signal an unsere Verbündeten, mit denen wirdiese Probleme ja gemeinsam lösen sollen.
Meine Damen und Herren auf der äußersten Linkendieses Hauses, es geht Ihnen primär gar nicht um Auf-klärung über den Einsatz von abgereichertem Uran. WennSie ehrlich sind, sagen Sie doch einfach, dass Sie dieLage, in die uns der Verteidigungsminister durch mangel-hafte Informationspolitik gebracht hat, dazu nutzen wol-len, generell gegen den Balkaneinsatz und die Bundes-wehr zu polemisieren und sie schlecht zu reden. Das,meine Damen und Herren von der PDS, werden wir nichtzulassen.
Wir stehen voll und ganz hinter der Bundeswehr und ihrenSoldaten und auch hinter dem Einsatz auf dem Balkan.Das will ich hier ausdrücklich noch einmal betonen.Wir wollen in die Zukunft schauen. Wir wollen, dassjetzt gehandelt wird. Vergangenes kann zwar nicht unge-schehen gemacht werden – es ist Tatsache, dass der Ein-satz von uranhaltigen Geschossen während des Kosovo-Krieges stattgefunden hat –,
aber jetzt hilft nur noch eine klare, zukunftsweisende Stra-tegie, mit der wir die möglichen negativen Folgen diesesDU-Einsatzes minimieren.Die Tatsache, dass wir einen Untersuchungsausschussablehnen, sollte das Verteidigungsministerium auf garkeinen Fall als Freibrief für seine Handlungsweise verste-hen. Ganz im Gegenteil: Im Verteidigungsausschuss undauch hier im Plenum wurde der Verteidigungsministermehrmals aufgefordert, die Karten offen auf den Tisch zulegen; er hat es aber nicht getan. Auf Fragen hat er ent-weder ausweichend oder gar nicht geantwortet. Stattdes-sen hat er in seinem Hause immer wieder neue Listen pro-duzieren und verteilen lassen, die seine Aktivitäten unterBeweis stellen sollten.Die erste gab es am 8. Januar. Einezweite Dokumentation wurde uns am 29. Januar zurNachbesserung auf den Tisch gelegt. Wir werden weitereFragen stellen und wir werden Antworten darauf bekom-men. Das kann ich Ihnen versprechen.Das Krisenmanagement in dieser Sache ist mangel-haft. Man hat zu viel beschwichtigt, statt den Sachverhaltzu untersuchen und aufzuklären. Dabei hat man sichunnötig in Widersprüche verstrickt: Auf der einen Seiteerklärt man DU-Munition für unbedenklich; auf der an-deren Seite führt man im Nachhinein strenge Sicher-heitsmaßnahmen ein – was richtig ist. Dass da eineSchere aufgeht, hat sich der Verteidigungsminister sel-ber zuzuschreiben.Geradezu peinlich und, wie ich finde, ausgesprochenunsachlich war allerdings der Selbstversuch mit Munitionbeim letzten Besuch im Kosovo.
Der Verteidigungsminister weiß sehr wohl, dass, wenn eszu Schäden gekommen sein sollte, diese entweder auf denerst nach Jahren feststellbaren Auswirkungen desSchwermetalls oder auf einer Exposition mit Uranstaubund möglicher Plutoniumwirkung, für die es keineSchwellenwerte gibt, die aber ebenfalls erst nach Jahren– so lange tagt kein Untersuchungsausschuss – erkennbarsind, beruhen. Der Minister hat mit diesem, wie ich finde,sehr unseriösen Auftritt, der auch noch im Verteidigungs-ausschuss geplant war, aber dort Gott sei Dank nicht statt-gefunden hat, einmal mehr zu seiner Unglaubwürdigkeitbeigetragen. Die Mehrheit dieses Hauses glaubt ihm beidiesem Thema nicht mehr und die Mehrheit der ihm un-tergebenen Soldaten scheint dies auch nicht mehr zu tun.Das Verteidigungsministerium mauert bei der Fragenach Asbestkontamination. Das Verteidigungsministe-rium mauert bei der Frage nach abgereichertem Uran.Man gibt leider auch bei der Frage nach Schädigungendurch Radargeräte kein besonders gutes Bild ab.
Man erreicht damit, dass die Medien auf Spekulationenangewiesen sind, weil offene Informationen oftmals nichtausreichen. Briefe von Soldaten, die wir als Abgeordnetein diesen Tagen wahrscheinlich alle empfangen, sprechenda eine beredte Sprache. Sie klagen darüber, dass bei die-sem Thema Konfusion herrscht.Es mag sein, dass der Petitionsausschuss des Deut-schen Bundestages in den nächsten Jahren noch einiges zutun bekommt. Aber einen Untersuchungsausschuss dazubrauchen wir nicht.Herr Fink, zu Ihrer Zwischenfrage: Wir haben in die-sen Tagen sehr deutlich festgestellt, und zwar am Beispieldes Parteispenden-Untersuchungsausschusses, was dabeiherauskommt, wenn ein Untersuchungsausschuss partei-politisch missbraucht wird. Ein solcher Ausschuss verliertsehr schnell an Durchschlagskraft und Überzeugungs-kraft. Wenn wir so verfahren würden, würden die Solda-ten sehr schnell das Vertrauen in unser Handeln verlieren.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Munitionmit abgereichertem Uran ist ein diffiziles Thema. Zwar ist– da hat Herr Höfer Recht – nicht eindeutig bewiesen, in
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Ursula Lietz14650
welchem Ausmaße sie schädlich ist. Allerdings bestehtder begründete Verdacht, dass sie zu gesundheitlichenLangzeitschäden für die Zivilbevölkerung und für die ein-gesetzten Männer und Frauen, ob mit oder ohne Uniform,führt.Dieser Verdacht wird nicht nur durch Aussagen vonkritischen Wissenschaftlern, sondern auch durch die stei-gende Krebsrate bei der Bevölkerung in den Gebieten desIrak, in denen während des zweiten Golfkrieges dieseMunition eingesetzt wurde, untermauert. Aus diesemGrunde reicht aus unserer Sicht der begründete Verdacht– es gibt in der Tat zahlreiche Indizien – für eine schnelle,internationale Initiative zur Ächtung uranhaltiger Muni-tion aus. Wir wissen, dass es schwierig wird, dies auf derEbene der internationalen Rüstungskontroll- und Abrüs-tungsverhandlungen in die Wege zu leiten und umzuset-zen. Wir sprechen uns aber ganz klar für rasches Handelnaus.Wir kennen den Streit aus Auseinandersetzungen umdas Atomkraftwerk Krümmel und von vielen anderenStandorten, wo ein Gutachten dem anderen widerspricht,wo die Politik sich aus der Verantwortung zieht und woman den potenziellen Opfern den Nachweis der Ursacheüberlässt. Das können wir politisch nicht verantworten.Solange der Verdacht besteht, darf diese Munition nichteingesetzt werden. Deswegen freue ich mich, dass sichauch der Bundeskanzler in dieser Frage sehr klar geäußerthat. Herr Schröder hat nämlich gesagt: Ich halte es nichtfür richtig, eine solche Munition zu verwenden.
Wir bedauern es, dass die richtige Initiative der Bun-desregierung – ich halte sie sehr wohl für richtig undwichtig –, zusammen mit der italienischen Regierung einMoratorium in der NATO formal durchzusetzen, geschei-tert ist. Fakt ist aber auch, dass es einen Konsens gibt,diese Munition derzeit nicht einzusetzen.
Meine Fraktion ist allerdings der Überzeugung, dass dieseunklare Positionierung der NATO nicht die endgültigesein kann.
Die grüne Partei hat sich bereits auf dem BielefelderParteitag 1999 für die Ächtung uranhaltiger Munitionausgesprochen. Meine Fraktion hat diesen Beschluss ausdem letzten Jahr im Januar dieses Jahres bekräftigt. Wirwerden uns daher aktiv um diese Initiative zur Ächtungvon Uranmunition bemühen und unabhängige Institutio-nen nach Möglichkeit in ihrer Arbeit unterstützen.
Die Ausführungen der PDS klingen so, als sei die An-gelegenheit ad acta gelegt. Das Parlament hat sich aberdes Themas angenommen, nicht nur im Verteidigungs-ausschuss. Auch der Unterausschuss Abrüstung, Rüs-tungskontrolle und Nichtverbreitung hat sich aus aktuel-lem Anlass mit dem Thema beschäftigt. Wir werden da-rüber weiter intensiv beraten.Ich sage in Richtung PDS ganz klar: Sie versuchen, einsehr wichtiges Thema zu instrumentalisieren.
Wir wollen die Beratung im Ausschuss und einen politi-schen Konsens der Parteien, den wir brauchen. Auch inder Frage der Antipersonenminen brauchten wir diesenKonsens, um die Ächtung dieser Waffengattung inter-national durchzusetzen. Wir müssen also gründlich vor-gehen.
Frau Beer, gestatten
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmann?
Ja.
Frau Kollegin Beer, stim-
men Sie mir zu, dass die Anfragen von verschiedenen
Fraktionen, die in den vergangenen Wochen im Verteidi-
gungsausschuss schriftlich eingereicht wurden und an
den Verteidigungsminister gerichtet waren, bis heute im
Detail nicht beantwortet sind? Stimmen Sie mir des Wei-
teren zu, dass Sie eines der wenigen Mitglieder dieses
Ausschusses sind, das sich ausreichend informiert fühlt?
Stimmen Sie mir ferner zu, dass Sie diejenige waren, die
im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung einem Antrag auf sofortige Ächtung
der DU-Munition nicht zugestimmt hat? Sie haben
vielmehr gefordert, man solle erst einmal die gutachter-
liche Stellungnahme der UN und weiterer Institutionen
abwarten.
FrauKollegin Lippmann, es wird Sie jetzt überraschen, dassich Ihnen in allen drei Punkten nicht zustimme.Erstens. Auch wir haben sehr ausführliche Fragen zudem Bereich der DU-Munition gestellt, was die Anwen-dung auf deutschen Truppenübungsplätzen sowohl durchdie Alliierten als auch möglicherweise durch die russi-schen Streitkräfte betrifft.
– Entschuldigung, Sie wollten doch eine Antwort haben.Wir haben Eingaben von Soldaten und auch Schreibenvon Kollegen aus dem bayerischen Landtag sehr ernst ge-nommen, die seit 1987 die Angelegenheit verfolgen.Wenn die Bundesregierung bzw. das Verteidigungsminis-terium innerhalb kurzer Zeit geantwortet hätte, dann hättedie Antwort nur aus Phrasen bestehen können. Ich geheaber davon aus, dass unsere Fragen gründlich geprüft wer-den, dass wir im parlamentarischen Rahmen aufgrund derArbeit der Sommer-Kommission eine ausreichende Ant-wort bekommen und dass wir nicht auf die Schnelle
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– nach dem Motto „hopp, hopp“ – eine verharmlosendeDarstellung auf den Tisch gelegt bekommen.
– Frau Kollegin, ich bin mit der Antwort noch nicht fer-tig. Sie haben drei Fragen gestellt.Zweitens. Wir haben klar gemacht, wo die Informa-tionsdefizite liegen, insbesondere was den Einsatz uran-haltiger Munition in Somalia und in Bosnien betrifft. Ichmöchte hier nur am Rande darauf hinweisen, dass dieserVorgang in der Verantwortung der alten Bundesregierungliegt.Drittens. Sie haben vorhin eine falsche Position vonmir wiedergegeben. Ich hätte gern gewollt, dass wir eineentsprechende Initiative schneller durchsetzen. Ich habemich aber auf einen Kompromiss eingelassen. Wir habenuns darauf geeinigt, die entsprechenden Daten abzuwar-ten, um die Frage beantworten zu können, ob Plutoniumin der Munition enthalten ist oder nicht. Wir haben gesagt,wir wollen vorher eine völkerrechtliche Bewertung derFrage. Denn wenn Deutschland noch einmal so erfolg-reich wie bei den Antipersonenminen eine internationaleÄchtung durchsetzen will – wir sollten das auch im Be-reich Splitterbomben prüfen –, dann sollten wir nicht vor-eilig handeln, sondern diese Initiative mit fundiertemWissen und Sachverstand einleiten. Das ist im Interesseder Menschen, der Soldaten und aller Beteiligten.Ich komme zum Schluss. Ich verstehe, dass die Oppo-sition – das ist schließlich ihr Geschäft – einen Antrag aufdie Einsetzung eines Untersuchungsausschusses stellt.Ich bin aber überzeugt – das habe ich eben auch ausge-führt –, dass wir keinen politischen Schlagabtausch brau-chen, wenn es um die Interessen von Menschenleben, umdie Interessen der Soldaten, deren Einsatz wir zu verant-worten haben, geht. Wir erwarten vom Bundesverteidi-gungsministerium, dass die eingesetzte Arbeitsgruppeunter Leitung von Dr. Sommer eine zügige Aufklärungbetreibt und dass das Parlament über alle Fragen unter-richtet wird, die noch nicht beantwortet sind. Denn ich binder Überzeugung, dass nur rasches und transparentesHandeln Grundlage dafür sein kann, verloren gegangenesVertrauen in die Politik und in die militärische Führungwieder herzustellen.Transparenz, Information und schnelles Handeln, dassind die Dinge, die wir brauchen, und nicht einen Unter-suchungsausschuss, der alles bis in den nächsten Wahl-kampf zu tragen versucht und dann doch – wie in der Re-gel in der Vergangenheit – seine Akten ohne Ergebnisschließt.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. lehnt den An-trag der PDS ab, da sich das Thema für einen Untersu-chungsausschuss nicht eignet, obwohl ein Fehlverhaltenim Bundesverteidigungsministerium sehr wohl nahe liegt.
Gefragt sind jetzt schnelle Aufklärung und schnellesHandeln. Denn es geht darum, die Ängste von 70 000 deut-schen Soldaten, die im Kosovo und in Bosnien eingesetztwaren, und ihren Familien durch die Beseitigung allerUnsicherheiten zu beenden.
Ein Untersuchungsausschuss ist hierfür zu langsam. Erverstärkt auch eher unbegründete Ängste, als sie schnellabzubauen. Ein Untersuchungsausschuss ist übrigens einsehr starkes Instrument des Parlaments, das nicht durchallzu häufigen Gebrauch an Wirkung verlieren sollte.Der Antrag der PDS ist überdies befremdlich, da keinWort vom Schutz der Zivilbevölkerung darin zu lesenist. Gerade in dem Sektor des Kosovo, in dem unsere Bun-deswehr Verantwortung trägt, ist die besagte Munition be-sonders häufig eingesetzt worden. Die Bevölkerung, ge-rade Kinder, lebt mit der Gefährdung, die jetzt sehr genauund schnell analysiert werden und zu besonderen Infor-mationskampagnen vor Ort führen muss.Minister Scharping muss sich fragen lassen: Wurde imNATO-Rat vor dem Eingreifen der NATO im Kosovo überdie Verwendung von DU-Munition durch die USA ge-sprochen? Dies liegt deshalb nahe, da die Engländer, dieebenfalls über diese Munition verfügen und sie früher ein-gesetzt haben, in diesem Fall davon abgesehen haben, sieeinzusetzen. Welche Gründe hatten die Engländer, dieseMunition nicht einzusetzen? Wurde darüber gesprochen?Hat Scharping bei seinen Gesprächen in Moskau mitdem dortigen Verteidigungsminister Aufklärung darübererzielt oder auch nur Aufklärung verlangt, ob die sowje-tischen Truppen in der DDR, die diese Munition ja auchhatten, mit dieser Munition geübt haben und ob auf dendortigen Übungsplätzen möglicherweise noch immer Ge-fahren für die Bevölkerung in den neuen Bundesländernlauern?
Wann gingen dem BundesverteidigungsministeriumErkenntnisse über die Gefährdung von Personen durchdas Einatmen von Feinststäuben zu, die beim Einschlagvon DU-Munition entstehen? Wann wurde dem Ministe-rium bekannt, dass in dieser Munition auch Spuren vonPlutonium enthalten waren?Wie wurde auf bekannt gewordene Gefährdungen rea-giert? Wurde das Ministerium seiner Informations- undFürsorgepflicht gegenüber den Soldaten tatsächlich ge-recht? Oder ging es zu Unrecht davon aus, dass es sichhier, wie Scharping noch vor zwei Wochen sagte, um einevernachlässigbare Gefahr handele?
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Nein, die Tagesbefehle, mit denen die Soldaten an-geblich informiert wurden, müssen genau untersucht wer-den, ob sie ihren Aufgaben gerecht geworden sind.Wie kann es zum Beispiel sein, dass sich Scharping im-mer wieder auf einen Tagesbefehl vom 14. Juni 1999 be-ruft, in dem in der Tat in sechs Zeilen von insgesamt20 Seiten über DU-Munition berichtet und entsprechendeVorsorge nahe gelegt wird? Tatsache ist doch, dass auchdie Festplatte von Soldaten, nämlich ihr Gehirn, nicht inMegabytes, in Speicherkapazität, sondern ganz schlichtin Gehirnwindungen bemessen wird. Übrigens: Das giltnicht nur für Soldaten, sondern auch für Ministerialbe-amte.
Ich möchte den sehen, der einen 20-seitigen Informa-tionsbrief als Vorsorgehandlung bekommt und der danachnoch weiß, was in sechs bestimmten Zeilen dieses langenKonvoluts enthalten war.Nein, die Art, wie Scharping mit diesem Problem um-gegangen ist, ist nicht in Ordnung. Die Soldaten erwartenvon ihrem obersten militärischen Vorgesetzten ein Ver-halten, das Vertrauen einflößt, kein Rumgeeiere, bei demes zunächst heißt, die Gefahr sei vernachlässigbar, undzwei Tage später wird, wie er sich auszudrücken pflegt,der amerikanische Geschäftsträger einbestellt, weil plötz-lich für die Soldaten unerträgliche Gefährdungen festge-stellt worden seien. Wir erwarten vom Verteidigungsmi-nister in Zukunft ein ganz anderes Verhalten und werdendieses auch einfordern.
Ich erteile der Kolle-
gin Ulrike Merten, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehr verehrteKolleginnen und Kollegen! Bei der Diskussion über denEinsatz von Munition mit abgereichertem Uran hatte ichzeitweilig den Eindruck – ich finde, einige Beiträge heuteAbend waren dafür ein beredtes Beispiel –, dass es weni-ger um die nötige Transparenz und Aufklärung ging alsvielmehr um das Erzeugen von Aufregung und um ge-steuerte Panikmache.
Wir wissen doch, welche Assoziationen in den Köpfenbei dem Begriff „Uran“ entstehen. Deswegen ist das ver-antwortungslos.
Es ist einfach verantwortungslos, dieses hoch sensible po-litische Thema parteipolitisch auszuschlachten.
Nein, nicht die Sorge um die Soldaten und die betroffeneZivilbevölkerung standen im Mittelpunkt des Bemühensder Oppositionsparteien, sondern eindeutig der politischeEffekt, was nicht heißt, meine Damen und Herren, dassder zielführende Gedanke jeweils gleicher Natur gewesenwäre.Noch einmal: Es geht um Aufklärung, nicht um Aufre-gung. Ich will in diesem Zusammenhang nur drei Punktenennen.Bereits im Februar 1997 – darauf hat auch MinisterScharping hingewiesen –, lange bevor es konkrete Hin-weise auf DU gab, sind eindeutige Schutzmaßnahmengetroffen worden. Sie zielten darauf ab, vor Strahlenex-position zu schützen. Ebenso ging es darum, Inkorpora-tion bzw. Kontamination wegen unsachgemäßer Lage-rung und kampfbedingter Freisetzung von radioaktivenStoffen und Abfällen zu verhindern.
Im Juni 1999 wurde mit der täglichen Weisung desHeeresführungskommandos das einrückende deutscheKFOR-Kontingent darauf hingewiesen, dass möglicher-weise DU-Munition gegen gepanzerte Ziele eingesetztworden sei und dies im Umkreis von 50Metern zu schwa-cher radioaktiver Strahlung führen könne.
Diese Weisungen wurden wiederholt ergänzt und ich sageIhnen: Es gibt inzwischen kompendiendicke Vorlagen, indenen Sie das genau nachlesen können.Außerdem hat die Bundesregierung schon imMai 1999 von sich aus auf das toxische Risiko von DU-Munition hingewiesen.
– Frau Lippmann, es wird dadurch nicht richtiger, dass Sieimmer lauter rufen.
Seit diesem Zeitpunkt ist der Bundestag bzw. der Vertei-digungsausschuss kontinuierlich – häufig vom Ministerselbst – unterrichtet worden.Wenn wir unsere Soldatinnen und Soldaten fragen,fühlen sie sich in der Mehrzahl – in der Mehrzahl! – überDU-Munition durchaus gut informiert.
Glauben Sie mir, ich habe in den letzten Wochen mit sehrvielen Soldaten gesprochen, die im Einsatz waren, auchmit Soldaten in Augustorf. Diese Region ist ja besondersverunsichert worden. Die Soldaten belastet derzeit nichtso sehr die Sorge vor einer möglichen Gefährdung durchDU-Munition, sondern
die Verunsicherung ihrer Familien, die sowieso schon ver-unsichert und besorgt sind, wenn ihre Männer, Freundeund Lebenspartner im Einsatz sind. Diese Verunsicherungschwappt jetzt im Übrigen auch in den Kosovo hinein.
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Hildebrecht Braun
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Das, was ich eben aufgeführt habe, zeigt ganz deutlich,dass kontinuierliche Aufklärung erfolgt ist und auch wei-terhin erfolgt und dass die Soldaten dies sehr wohl wissen.
Kollegin Merten, hier
möchte jemand eine Zwischenfrage stellen, und zwar der
freundliche Kollege Braun.
Bitte schön, Herr Braun.
Frau Kolle-
gin Merten, Sie sagen, die Soldaten seien aufgeklärt und
informiert worden. Trifft es zu – oder ist Ihnen bekannt, ob
es zutrifft –, dass Heeresflieger nicht informiert waren, die
Soldaten zu beschossenen Panzern geflogen haben,
die diese entsorgen sollten, weshalb die Heeresflieger mit
ihren Hubschraubern in unmittelbarer Nähe solcher Pan-
zer gelandet sind und dort naturgemäß Staub aufgewirbelt
haben – das ist beim Landen von Hubschraubern nun ein-
mal so –, mit der Folge, dass sie selbst, aber auch die Sol-
daten, die sie dorthin transportiert haben, in hohem Maße
gefährdet wurden?
Herr Kollege Braun, ich habe
eben gesagt, dass sich die Mehrzahl der Soldaten gut auf-
geklärt fühlt. Ich glaube, man kann den Aussagen der Sol-
daten durchaus Glauben schenken. Das, was Sie eben an-
führten, muss noch einmal sehr genau nachgeprüft
werden. Sollte die Aussage zutreffen, können wir auch da-
rüber reden.
Wir haben, wenn es um Information und Transparenz
geht, aber auch immer wieder gesagt: Dies kann nicht nur
für Deutschland gelten, sondern die Forderung nach
Transparenz und Information müssen wir auch an die
USA richten, die als einzige mit Uran gehärtete Munition
auf dem Balkan verschossen haben.
Festzustellen bleibt: Von der Bundeswehr wurde und
wird keine DU-Munition verwendet, weil sie keine be-
sitzt. Ich meine, kein Staat sollte sie verwenden. Aber jen-
seits der grundsätzlichen Bewertung stand Folgendes auf
der Tagesordnung: Ergeben sich Gefährdungen für Solda-
ten und die Bevölkerung aus den Stäuben von DU-Muni-
tion? Welches Gefährdungspotenzial entsteht unter Um-
ständen durch die Kontamination des Bodens? Dieses
Problem – ich finde, darauf muss man seriöserweise hin-
weisen – stellt sich allerdings auch, wenn man auf Uran-
munition verzichtete und stattdessen Wolfram einsetzte.
Das muss man hinzufügen und man darf nicht so tun, als
ob man mit dem Verzicht alle Probleme gelöst hätte.
Inzwischen wissen wir ziemlich verlässlich, dass für
die Soldaten zu keiner Zeit eine ernsthafte Gefährdung
durch DU-Munition bestanden hat, immer davon ausge-
hend, dass die befohlenen Schutzvorschriften eingehalten
wurden.
Wir können also abschließend noch einmal festhalten:
Es gibt weder ein Informationsdefizit geschweige denn
schuldhafte bzw. fahrlässige Versäumnisse. Nur wenn sol-
che bestünden, machte ein Untersuchungsausschuss wirk-
lich Sinn.
Die im Antrag der PDS geforderte Verantwortung der
Bundesregierung wurde von dieser zu jeder Zeit wahrge-
nommen. Darum sparen Sie sich endlich Ihre Aufgeregt-
heit! Nehmen Sie stattdessen zur Kenntnis, was an Auf-
klärung geschehen ist und laufend geschieht. Wir lehnen
den Antrag der PDS natürlich ab.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir stimmen über den Antrag der Fraktion der PDS auf
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, Drucksache
14/5145, ab. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stim-
men des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert
Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang Bosbach, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsände-
– Drucksache 14/4558 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Benno Zierer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinewerten Damen! Meine Herren! Der Schutz von Religi-onsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungensowie ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeu-gungen ist, soweit christliche Bekenntnisse betroffensind, durch den § 166 StGB nur unzureichend gesetzlich
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Ulrike Merten14654
geregelt. Der Grund liegt in folgender Voraussetzung, dienach dem bisherigen Gesetz für die Strafbarkeit erfülltsein muss: Die Beschimpfung muss geeignet sein, den öf-fentlichen Frieden zu stören. Aber das Vorliegen dieserEignung wird von den Gerichten bei der Beschimpfungchristlicher Bekenntnisse regelmäßig verneint.Die Begründung vonseiten der Gerichte lautet, Chris-ten in Deutschland ließen die Verhöhnung ihres Glaubensin der Regel über sich ergehen. Sie verhalten sich deshalbso, so meine ich, weil es nicht in ihrer Mentalität liegt, ge-gen eine Verhöhnung mit gewalttätigen Mitteln vorzuge-hen. Das Fehlen öffentlicher Empörung oder gar mit Ge-walt ausgeführter Empörung zeige aber, so die Gerichte,dass die betreffende Verhöhnung nicht geeignet gewesensei, den öffentlichen Frieden zu stören.
Die Folge ist: Einstellung des Verfahrens oder Frei-spruch für die Verhöhnenden und somit im ErgebnisStraflosigkeit der Verhöhnung selbst. Auf diese Weise hatsich § 166 StGB in der Praxis auch bei groben Be-schimpfungen religiöser und weltanschaulicher Bekennt-nisse, soweit sie christlich sind, als wirkungslos erwiesen.Dieser Zustand der Straflosigkeit ist nicht länger hin-nehmbar.
Auch der laizistische Staat sollte ein natürliches Interesseam Schutz religiöser Glaubensinhalte haben, da der Ver-lust von Werten, die Orientierung bieten und Solidaritätstiften, nicht ohne Auswirkungen auf Staat und Gesell-schaft bleiben kann.
Gerade in der heutigen Zeit mit ihren Sinnkrisen und Be-ziehungsdefiziten, mit ihrem ausufernden Individualis-mus kommt religiösen Inhalten und Bekenntnissen einestabilisierende Wirkung zu. Diese stabilisierende Funk-tion muss geschützt werden.Die CDU/CSU-Fraktion legt deshalb auf Bundestags-drucksache 14/4558 einen entsprechenden Gesetzent-wurf vor. Das Hohe Haus war bereits im Jahre 1998 miteinem ähnlichen Antrag befasst, der als Gruppenantrageingebracht worden war. Zu Ende der Legislaturperiodeverfiel er dann aber der Diskontinuität.
Gegenstand des vorliegenden Gesetzentwurfes ist derbessere Schutz religiöser und weltanschaulicher Überzeu-gungen durch einen geänderten § 166 StGB. In den bei-den Absätzen des bisherigen § 166 StGB wird der Passus,dass die Beschimpfung geeignet sein muss, den öffentli-chen Frieden zu stören, gestrichen. Beschimpfung alleinsoll künftig ausreichen. Ich möchte das noch deutlicherformulieren: Strafbar soll sein, wer öffentlich oder durchVerbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oderweltanschaulichen Bekenntnisses anderer beschimpft.
Um eine Kollision mit der im Grundgesetz verbrieftenMeinungs- und Kunstfreiheit zu vermeiden, soll nachdem vorliegenden Gesetzentwurf nicht schon jedes leichtabfällige religiöse Werturteil als Beschimpfung eingestuftwerden, sondern nur eine „durch Form und Inhalt beson-ders verletzende Äußerung der Missachtung“. Dadurchwird sichergestellt, dass das Recht auf freie Meinungs-äußerung und die Freiheit der Kunst dort eine Grenze ha-ben, wo Religionsbeschimpfung als eine Form von psy-chischer Gewalt bewusst auf Verletzung, Provokation undTabubruch zielt.Wie die Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheitzeigen, nehmen die Angriffe insbesondere auf christlicheBekenntnisse an Schärfe und Intensität zu. Beispiele sinddie „Heiligsprechung“ eines Homosexuellen durch eineehemalige Prostituierte in einem dem päpstlichen Ornatähnlichen Kleid bei einer Demonstration gegen den Papst-besuch in Berlin im Juni 1996 sowie Nacktaufnahmen aufdem Vierungsaltar des Kölner Doms. Darüber hinaus las-sen zahlreiche Spielfilme und Bühnenstücke zunehmendjegliches Maß an Toleranz und Achtung vor der religiösenÜberzeugung anderer vermissen.
Mit Betroffenheit und Empörung haben viele Bürgerund kirchliche Stellen auf derartige Angriffe reagiert, undzwar in Form von Strafanzeigen, Eingaben und Be-schwerden. Aber in zahlreichen Entscheidungen und Ur-teilen haben Staatsanwaltschaften und Gerichte die straf-rechtliche Verfolgung dieser Angriffe abgelehnt. DieBegründung lautete: Die Beschimpfung sei nicht geeignetgewesen, den öffentlichen Frieden zu stören.Diese ablehnenden Bescheide und Urteile stoßen zu-nehmend auf Unverständnis. Zu Recht weisen die Betrof-fenen darauf hin, dass es ihnen nicht zugemutet werdenkann, zu friedensstörenden Mitteln zu greifen, um vorgröbsten Verletzungen ihrer religiösen Gefühle geschütztzu werden. Dem Gesetzentwurf liegen deshalb folgendeGedanken zu Grunde: Erstens ist es Pflicht eines jeden,bei der Behandlung von Dingen, die anderen heilig sindoder ihr Weltbild maßgeblich prägen, Zurückhaltung zuüben.
Zweitens gibt es Handlungen, die diese Pflicht so gröblichverletzen, dass nach allgemeinem Rechtsempfinden einestaatliche Strafe geboten ist.Kardinal Ratzinger
hat in einem Vortrag über die geistigen Grundlagen Euro-pas Ende November vergangenen Jahres in der Landes-vertretung Bayern hier in Berlin Folgendes ausgeführt– ich zitiere ihn wörtlich –:
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Benno Zierer14655
In unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird gottlobjemand bestraft, der den Glauben Israels, sein Got-tesbild, seine großen Gestalten verhöhnt. Es wirdauch jemand bestraft, der den Koran und die Glau-bensüberzeugungen des Islam herabsetzt. Wo es da-gegen um Christus und um das Heilige der Christengeht, erscheint die Meinungsfreiheit als das höchsteGut, das einzuschränken die Toleranz und die Frei-heit überhaupt gefährden oder gar zerstören würde.Ich meine, diese Worte bezeichnen genau das Ziel, umdas es in dem Gesetzentwurf geht, nämlich dass die Ehr-furcht vor dem Heiligen überhaupt, die Ehrfurcht vor Gottauch demjenigen zumutbar ist, der selbst nicht an Gott zuglauben bereit ist.Strafbar soll daher sein, wer öffentlich oder durch Ver-breiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder desweltanschaulichen Bekenntnisses anderer beschimpft.Der Begriff des „Beschimpfens“ ist in der Rechtspre-chung inhaltlich hinreichend definiert. Daher besteht– darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen – keine Ge-fahr, der novellierte § 166 StGB könne zu einer Waffe imWeltanschauungskampf oder zu einem Zensurparagra-phen werden.Die derzeitige Rechtslage ist unbefriedigend. Die Ge-setzesänderung ist darum dringend notwendig. Das wer-den die Koalitionsfraktionen einsehen und werden ihreZustimmung – das bleibt zu hoffen – nicht verweigern.Haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion
erteile ich dem Kollegen Joachim Stünker das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Derrechtspolitische Sinn oder besser gesagt: die Sinnhaftig-keit des vorliegenden Gesetzentwurfes zum gegenwärti-gen Zeitpunkt, im Jahre 2001, erschließt sich mir nichtund hat sich mir auch nach Ihren Ausführungen, Herr Kol-lege, nicht erschlossen.
In der Überschrift heißt es: „Stärkung des Toleranz-gebotes durch einen besseren Schutz religiöser und welt-anschaulicher Überzeugung gemäß § 166 StGB“. Wasverbirgt sich hinter diesem Oberbegriff? Wo ist die rechts-politische Notwendigkeit, der sachliche Grund für die be-gehrte Änderung des Strafgesetzbuches? Welches tatsäch-liche Verhalten der Bürgerinnen und Bürger soll damitneu unter Strafe gestellt werden? Welche Handlungen sol-len damit letztendlich pönalisiert werden? Die Nachfor-schungen und rechtshistorischen Recherchen, die häufigsehr aufschlussreich sind, haben mich zu der Überzeu-gung gebracht, dass uns der vorliegende Gesetzentwurf,wenn er denn beschlossen würde, rechtspolitisch über30 Jahre zurückwerfen würde.
Die Unionsfraktion tummelt sich auch in der Rechts-politik noch immer im Meinungskampf der 60er-Jahre desvergangenen Jahrhunderts. Es ist der Reformgesetzgeberdes Jahres 1969 gewesen, der mit dem Ersten Gesetz zurReform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 den bis heutegeltenden Tatbestand des § 166 StGB, den Sie nun ändernwollen, geschaffen hat,
ein Reformgesetzgeber, der – übrigens in der Zeit der ein-zigen großen Koalition, die es in der Nachkriegsge-schichte gegeben hat – zum Ausgang der Nachkriegsres-tauration auch unser Strafgesetzbuch entstaubt hat, der einliberales Strafrecht geschaffen hat, ein Strafrecht, dasnicht der ethisch-moralischen Bevormundung der Staats-bürger zu dienen hat, sondern ein Strafrecht, das den öf-fentlichen Frieden in den Grenzen der Bundesrepublik zugewährleisten hat.
Große Namen in der Rechtswissenschaft, aber insbe-sondere bedeutende Rechtspolitiker der Fraktionen vonCDU/CSU, SPD und F.D.P. in diesem Hause stehen fürdiese Liberalisierung des Strafrechts. Der Deutsche Bun-destag hatte seinerzeit wegen der großen Bedeutung die-ses Nachkriegsvorhabens mit Bedacht den Sonderaus-schuss für die Strafrechtsreform eingesetzt. Dieser hatseinerzeit in 101 Sitzungen unter großer wissenschaftli-cher Beteiligung bedeutender Strafrechtslehrer getagt.Geprägt haben diesen Ausschuss und die damalige Dis-kussion Namen wie Dr. Güde, Dr. Müller-Emmert,Dr. Dehler, Frau Dr. Diemer-Nicolaus und Herr Schlee –um nur einige Namen zu nennen. Sie alle sind Rechtspo-litiker, deren Wirken bis heute, quer über die Parteigren-zen hinweg, seine Bedeutung nicht verloren hat.
Diese Liberalisierung des Strafrechts ist dann noch vorder Bundestagswahl des Jahres 1969, also noch in der Zeitder großen Koalition, in diesem Hohen Hause weit frakti-ons- und parteiübergreifend beschlossen worden.
– Herr Kollege Geis, seien Sie doch nicht so aufgeregt,hören Sie doch auch mal zu.
Nun zu der Neuregelung: Im 11. Abschnitt des Straf-gesetzbuches, unter der Überschrift „Straftaten, welchesich auf Religion und Weltanschauung beziehen“, ist in§ 166 seit diesem Zeitpunkt die Beschimpfung von Be-kenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschau-ungsvereinigungen unter Strafe gestellt, und zwar imHöchstfall mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Aber derReformgesetzgeber von 1969 hat gegenüber der bis dahingeltenden Regelung mit der Einfügung der so genannten
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Geeignetheitsklausel diese Handlungen eben nur dannunter Strafe gestellt, wenn sie geeignet sind, den öffentli-chen Frieden zu stören.
Das bedeutet: Nicht der Schutz des geistigen Friedens,sondern die Aufrechterhaltung des öffentlichen Frie-dens in der Ausprägung, die er durch den Toleranzgedan-ken erfahren hat, ist Aufgabe des Tatbestandes. Geschütztwerden sollen Fairness und Anstand in der religiösen undweltanschaulichen Auseinandersetzung, die als solchedurchaus erwünscht ist, aber nicht in der Form friedens-störender Beschimpfungen geführt werden darf. Die Vor-schrift schützt damit den öffentlichen Frieden, nicht aberdas religiöse Empfinden des Einzelnen und nicht densachlichen Inhalt religiöser oder weltanschaulicher Be-kenntnisse. Das war und ist der Kerngehalt der damaligenNeuregelung.
Mit Ihrem heutigen Änderungsantrag möchten Sie, lie-ber Herr Geis und liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU, dies nunmehr wieder umdrehen. Die imJahre 1969 Mindermeinung gebliebene Auffassung zumSchutzzweck dieser Norm soll 32 Jahre später zur Mehr-heitsmeinung gemacht werden. Sie wollen den Schutzdieser Vorschrift wieder dahin ausdehnen, dass diegeäußerte Missachtung des religiösen und weltanschauli-chen Bekenntnisses Dritter als solche unter Strafe gestelltwerden soll.Den Protokollen der damaligen umfassenden Aus-schusssitzungen und den wissenschaftlichen Aufsätzen istzu entnehmen, dass seinerzeit zu dieser Frage die gleichenArgumente wie heute hier vorgetragen ausgetauscht wor-den sind. In der Folgezeit gab es in den Jahren 1986 und1998 hierzu gleich lautende Gesetzesanträge des Frei-staates Bayern, die über den Bundesrat eingebracht wor-den waren, die aber samt und sonders ohne Erfolg geblie-ben sind. Ich frage mich: Warum haben Sie in dieser Zeitmit Ihrer Mehrheit nicht das umgesetzt, was Sie uns heutehier wieder vorlegen? Sie haben die Möglichkeit gehabt!
Ich empfinde es als zynisch, heute in der Opposition die-sen Antrag wieder vorzulegen, den Sie damals, 16 Jahrelang, mit eigenen Mehrheiten nicht haben umsetzen kön-nen.Herr Kollege Geis, der jetzt vorliegende Antrag istwortwörtlich abgeschrieben aus den Initiativen von 1986und 1998.
Es sind dieselben Begründungen wie seinerzeit. Es habensich seitdem also rechtstatsächlich betrachtet keine neuenVerhältnisse ergeben, die ein Handeln des Gesetzgebersnotwendig machen würden. Die Antwort auf Ihr Begeh-ren bleibt daher auch heute die gleiche wie seinerzeit: Ichund wir stehen ohne Einschränkungen für die Achtung desreligiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses Dritterein – keine Frage. Diese Achtung findet im Übrigen zumBeispiel in § 167 StGB – Unterschutzstellung der Reli-gionsausübung – ihre weitere Ausprägung. Diese Ach-tung hat auch uneingeschränkt in allen staatlichen Institu-tionen zu erfolgen – keine Frage.Die im gesprochenen Wort oder in Darstellungen derKunst zum Ausdruck gebrachte Missachtung aber, die denöffentlichen Frieden nicht stört, kann und darf in einer sä-kularisierten Gesellschaft nicht unter Strafe gestellt wer-den. Das gebietet die Gewährleistung der Meinungsfrei-heit nach unserer Verfassung. Ich und jeder andere magdiese geäußerte Missachtung, von der Sie gesprochen ha-ben, missbilligen. Darum geht es hier aber nicht. Insoweitist aber ein von Amts wegen auszuübender und durchzu-setzender staatlicher Strafanspruch, den jeder Staatsanwaltverfolgen muss, nach unserer Überzeugung ausdrücklichfehl am Platze. Der gesellschaftliche Meinungskampf, derAustausch von Argumenten
darf hier über das Strafrecht letzten Endes nicht ausge-schlossen werden. Wir werden daher diese Vorschriftnicht ändern, Herr Geis.In gewissem Sinne ist aber dieser Vorgang, dass Sie dieüber 30 Jahre alten Anträge heute wieder vorlegen, symp-tomatisch, Herr Kollege Geis.
– Das habe ich doch gerade gesagt. Sie haben nicht zu-gehört.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Frak-tion, Sie sind – auch rechtspolitisch – konservativ und res-taurativ in der Vergangenheit stehen geblieben. Die mo-dernen Anforderungen der heutigen Zeit haben Sie nichterkannt, ganz zu schweigen von den Anforderungen derZukunft an die Justiz.
Sie sind nicht in der Lage, dieser Gesellschaft neue Im-pulse zu geben.
Deshalb sind Sie zu Recht im September 1998 abgewähltworden.
So sind Ihre rechtspolitischen Initiativen in Ihrer Le-gislaturperiode samt und sonders Ladenhüter aus der Ver-gangenheit gewesen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Joachim Stünker14657
Sie haben uns bis heute nur alte Gesetzesvorhaben aus derVergangenheit vorgelegt,
die durchzusetzen zu Ihrer Regierungszeit mit Ihrem Ko-alitionspartner nicht gelungen ist und die der Diskonti-nuität unterlagen. Es sind alles Ladenhüter gewesen, HerrKollege Geis.
Nicht in einem einzigen Fall haben Sie eigene Kreativitätgezeigt.
Ich lade Sie daher herzlich ein, Herr Kollege Geis, ma-chen Sie sich fit für den konstruktiven Dialog, lassen Sieuns die justizpolitischen Herausforderungen der Zukunftdiskutieren, und hören Sie endlich auf, im 21. Jahrhundertausschließlich der Vergangenheit zugewandt zu sein.
Dann können wir in diesem Lande rechtspolitisch frucht-bar diskutieren.Schönen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Die Tatsache, dass die CDU/CSU-Frak-tion heute diesen Gesetzentwurf neu einbringt und wir inerster Lesung darüber diskutieren, hängt unter anderemdamit zusammen, dass in der letzten Legislaturperiodemeine Fraktion dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion nichtzugestimmt hat und wir dafür gesorgt haben, dass es nichtzu einer entsprechenden Beschlussfassung des Parla-ments gekommen ist.
Es ist auch kein Geheimnis, dass gerade für Liberaledas Thema „Meinungsfreiheit“ ein Urthema ist.
Trotzdem wird es Sie vielleicht überraschen, dass ich hiergar nicht mit den Stereotypen arbeiten möchte, die wirbisher zum Teil in der Debatte erlebt haben.
Denn es ist auch ein anderes wichtiges liberales Themaangesprochen worden, das Thema „Toleranz“. Ich meine,dass die Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und To-leranz, Respektieren von Überzeugungen insbesondereeiner Minderheit durchaus das Nachdenken wert ist, undzwar in mehrfacher Hinsicht.Zunächst wollte der Gesetzgeber, der in der großen Ko-alition damals durchaus auch mit dem Willen der F.D.P.den § 166 neu gefasst hatte, die Strafbarkeit nicht beseiti-gen. Er wollte aber erreichen, dass es eine Klausel gibt,die dafür sorgt, dass nicht jede kleine Handlung tatsäch-lich vor dem Strafrichter landet, weil auch das die Aus-prägung der Meinungsfreiheit tangiert.Aber ich meine, dass nach einer so langen Zeit aucheine Überprüfung angebracht ist, um zu sehen, ob das,was sich damals der Gesetzgeber vorgestellt hat, nämlichgravierende Vorgänge weiter unter Strafe zu stellen,tatsächlich eingetreten ist. Wenn man sich die Urteile an-schaut, hat man den Eindruck, dass jedes, aber auch wirk-lich jedes Argument recht ist, jeweils immer zugunstenvon Meinungsfreiheit zu entscheiden. Daher ist dies einThema, das heute durchaus viel aktueller ist, als mancheglauben. Denn das, was wir im Augenblick an Problemenin dieser Gesellschaft, an Gewalt gegenüber anderenMenschen erleben, hat nach meiner Auffassung auch mitdem Mangel an ethischen Korsettstangen zu tun.
– Lieber Herr Stünker, warten Sie doch einfach einmal ab,bevor Sie diese Zwischenrufe machen, die mit meinenbisherigen Ausführungen überhaupt nicht zu rechtfertigensind.
Ich denke, dass uns die Frage der ethischen Korsett-stangen beschäftigen muss. Der Wegfall von Ethik hatunter anderem zu den heutigen Verhältnissen geführt. Obman dagegen mit dem Strafrecht vorgehen sollte – ichgehe gleich auf Sie ein –, ist eine Frage, auf die wir eineAntwort finden müssen.
Ich glaube, es wäre eine zu leichte Antwort, wenn wir mitder Strafvorschrift argumentierten. Sie kann da und dortdurchaus ergänzend wirken, wie sich das auch bei unsererDiskussion über den Rechtsradikalismus gezeigt hat, beidem wir zu Strafvorschriften greifen.Von daher sollten wir weder auf der einen noch auf deranderen Seite Zäune aufziehen, sondern uns darüber un-terhalten, ob die Strafvorschrift zeitgemäß und notwendigist und ob wir sie überhaupt brauchen. Was können wirtun, um die ethischen Mängel in der Gesellschaft, die sichan solchen Symptomen zeigen, zu verringern? Auf einesolche ernsthafte Diskussion freue ich mich.Ich will etwas zu Minderheiten sagen. Christen sindin dieser Gesellschaft Minderheiten. Das zeigt, wie gut esdieser Gesellschaft geht; denn alle wissen, dass Religion
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Joachim Stünker14658
nur dann bei vielen Menschen Konjunktur hat, wenn siein Not sind. Eine Minderheit wie die Christen hat An-spruch auf Toleranz in unserer Gesellschaft. Dafür wer-den wir Freie Demokraten genauso wie für die Mei-nungsfreiheit eintreten. Wie gesagt: Wir freuen uns aufdiese Diskussion und werden uns aktiv in sie einbringen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! GeschätzterKollege van Essen, die Frage, ob ethische Orientierun-gen in Politik und Gesellschaft eine Bedeutung haben,wird sich bei den Themen entscheiden, die wir in dieserWahlperiode noch diskutieren müssen, nämlich: Was ma-chen wir im Bereich der Forschung und der Medizin?
Von welchem Menschenbild lassen wir uns leiten? Wiebegründen wir die Gesetzgebung in diesem Bereich? Hiergibt es ethische Konflikte, die wir intensiv diskutierenmüssen. Dann werden wir auch für die Prinzipien, die da-hinter stehen, in der Gesellschaft wieder den nötigen Res-pekt haben. Der Strafgesetzgeber und der Staatsanwaltwerden zur ethischen Orientierung in diesen Fragen durchdas Meinungsstrafrecht herzlich wenig beitragen können.
Pünktlich zur Karnevalszeit präsentiert uns die Unionolle bayerische Gesetzeskamellen.
Der vorliegende Entwurf geht auf eine CSU-Initiativezurück. Er hat in der letzten Wahlperiode im Bundesratdie nötige Mehrheit verfehlt. Dieses Mal wird er im Bun-destag scheitern. Zu Recht: Die vorgeschlagene Ände-rung in § 166 StGB ist überflüssig. Kriminalpolitisch be-deutet sie ein Zurück ins 19. Jahrhundert. Nur zurErinnerung: 1871 wurde der so genannte Gottesläste-rungsparagraph in das Strafgesetzbuch eingeführt. 1969– Herr Stünker hat es dargelegt – wurde er reformiert.Wer im Sinne des heutigen Unionentwurfes jede Formgotteslästerlicher Äußerungen rückhaltlos unter Strafestellen will, verletzt letztendlich das Grundgesetz.
Meinungs- und Kunstfreiheit werden in bedenklicherWeise tangiert. Religions- und kirchenkritische Äußerun-gen werden nahezu verboten.
Herr Kollege, Sie selber haben in Agenturmeldungen dieHosen heruntergelassen und gezeigt, worum es Ihnenging. Ihnen ging es zum einen um den Fall einer – zuge-geben – geschmacklosen Aktion auf einer Demonstration.Zum anderen ging es Ihnen um ein Theaterstück, das Sieverbieten möchten.
Ich habe das Stück nicht gesehen, aber ich vermute, es un-terliegt im weitesten Sinne der Kulturfreiheit.Wenn sichmanche Menschen beleidigt fühlen, dass Jesus als Ho-mosexueller in einem Theaterstück erscheint, dann stelltsich die Frage, wer mit welcher Auffassung wen beleidigt,wenn er dies für eine gedankliche Unmöglichkeit und Be-schimpfung hält.Sie haben dieses Theaterstück als Beispiel dafür ge-nannt, was Sie mit § 166 StGB unter Strafe stellen wollen.
Sie haben die Grenzen dessen überschritten, was durchdie Kunst- und Kulturfreiheit geschützt ist.
Allein die Worte Gott oder Christus in einem humorvol-len oder satirischen Kontext in den Mund zu nehmen wärefür die Bürgerinnen und Bürger viel zu riskant. Will manals Strafgesetzgeber in diesem Bereich überhaupt reagie-ren, braucht man tatbestandliche Korrektive. Bei § 166 istes die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens.Würden wir an dieser notwendigen Strafbarkeitsschwellenicht festhalten, könnten wir gleich ein Gesetz zurBekämpfung sämtlicher Geschmacklosigkeiten auf denWeg bringen, weil das meiste davon fürwahr geschmack-los ist.
Dann aber, meine Damen und Herren von der Union, hättesich Ihr neuer Generalsekretär mit seinem den Bundes-kanzler diffamierenden Rentenplakat längst strafbar ge-macht.
Ich gebe meiner Kollegin von der SPD-Fraktion, Frauvon Renesse, Recht: Einer Strafrechtskeule, wie sie dieCDU/CSU heute hier vorschlägt, bedarf es nicht, abgese-hen davon, dass sich die ohnehin überlasteten Ermitt-lungsbehörden über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmenicht besonders freuen würden. Auch den Strafrichternam Amtsgericht täten wir keinen Gefallen, müssten siedoch künftig Verfassungsrichter spielen; denn in jedemEinzelfall wäre zu prüfen, ob die Meinungs- oder Kunst-freiheit nicht höherwertig einzuschätzen ist. Dann könntegenau das passieren, was Sie von der Union auch nichtwollen können: Manche Geschmacklosigkeiten würdenmit der Publizität eines Strafverfahrens quasi per Rich-terspruch hoffähig gemacht.
Das wäre wirklich das falsche Signal.
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Jörg van Essen14659
Aber ich will auch noch aus persönlicher Betroffenheitsprechen, nämlich als karnevalserprobter Kölner. Man-cher Büttenredner in meiner Heimatstadt müsste jetzt,hätte Ihr Gesetz eine Chance, sein Manuskript überprüfenund gegebenenfalls umschreiben. Dieses Zurück zum tie-rischen Ernst wird es mit uns nicht geben; es wäre auchkeinem Rheinländer wirklich zuzumuten. Gehen Sie näm-lich gedanklich einmal in die Geschichte der christlichenReligion und Kultur zurück, werden Sie feststellen, dasses für einen Katholiken immer dazugehörte, dass die Weltwährend des Karnevals Kopf steht und am Aschermitt-woch mit der Buße die Absolution kommt. Dazu gehört esauch, sich über den örtlichen Bischof lustig zu machen,was in den letzten Jahrhunderten auch nicht immer nurgeschmackvoll war. Aber es gehörte zur christlichen Kul-tur dazu, so etwas möglich zu machen.
Meine Herren von der Union, es würde auch helfen,wenn Sie sich die geltende Rechtslage etwas genauer an-schauten, weil ein Punkt, den Sie in der Begründung Ih-res Gesetzentwurfs anführen, nämlich dass Nackte einenGottesdienst stören oder ein Gotteshaus betreten, nach§ 167 zweifelsfrei und völlig zu Recht wegen Störungder Religionsausübung strafbar ist. Selbstverständlichist so etwas in einem Gotteshaus nicht zulässig.
– Das war eine Aktion im Kölner Dom.
Selbst wenn ein Schwein ans Kreuz genagelt und dies imInternet verbreitet wird, wird das heute nach § 166 be-straft.
– Ich kann Ihnen das Urteil schicken. So urteilt die Recht-sprechung heute. Sie sind darüber offenbar schlecht in-formiert, Herr Geis.Der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dassmanche Arten von Beschimpfungen oder negativenÄußerungen über Religionsgemeinschaften auch alsVolksverhetzung oderBeleidigung bestraft werden kön-nen.
Kollege Beck, Sie
müssen bitte Ihre Rede beenden. Sie sind schon deutlich
über der Zeit.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ich kann mich noch sehr gut an einige Vorfälle erin-
nern, bei denen auf Grundlage des heutigen § 166 Karne-
valsveranstalter umdisponieren und Plakate oder Tünnes-
Kreuze abhängen mussten. Diese Dinge wurden nur
wegen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens einer
breiten Öffentlichkeit überhaupt bekannt. In der Regel
wurden die Verfahren hinterher – zu Recht – eingestellt,
weil diese Dinge nicht den öffentlichen Frieden gestört
haben, sondern allenfalls eine Einzelperson sich in ihrer
Meinung gestört fühlte. Letztendlich waren dies Mei-
nungsäußerungen, die wir im politischen Meinungsstreit
oder durch Plakate von Parteizentralen üblicherweise
auch übereinander verbreiten.
Man kann bei vielen Dingen darüber diskutieren, ob
man sie gut oder schlecht findet, man kann oft auch darü-
ber diskutieren, wie man miteinander umgeht. Das ist
dann aber ein kultureller, ethischer Diskurs, wie es Herr
van Essen angesprochen hat. Aber wir dürfen nicht alles,
was wir schlecht finden, immer schon gleich bestrafen.
Wir müssen hier über die Anerkennung der Werte in der
Gesellschaft streiten, ohne immer gleich zum Hilfsmittel
des Strafrechtes zu greifen.
Ich erteile für eine Kurz-
intervention der Kollegin Margot von Renesse das Wort.
Meine Kurzinterventionbezieht sich auf die Rede des Kollegen van Essen.Herr Kollege van Essen, es ist sicherlich richtig, dasswir in manchen Punkten eine Verwilderung der Sitten er-leben und dabei merkwürdigerweise auf die Symbole derchristlichen Kirche Bezug genommen wird und das häu-fig – wie der Kollege Beck sagte – nicht immer sehr ge-schmackvoll, ja im Gegenteil sogar außerordentlich ge-schmacklos. Es ist, als ob Leute im Anschluss an diegroßen Kirchenkritiker des 18./19. Jahrhunderts nochheute dazu aufgerufen wären, einer machtvollen inquisi-tionshaltigen Kirche nun endlich nach dem Motto „Écra-sez l’infâme“ die Zügel anzulegen und ihren Mut undihren Geist zu beweisen. Das ist nicht der Fall.Man stellt das merkwürdigerweise auch bei Leuten, dievon Muslimen und anderen Religionen große Behutsam-keit verlangen und mitunter sogar selbst an den Tag legen,fest. Beleidigt und beschimpft wird oft die arme Witwe,die in die Kirche geht. Sie ist diejenige, die geschützt wer-den muss, aber auch geschützt wird, und zwar durch denParagraphen, den Herr Beck angesprochen hat, derStörungen des Gottesdienstes durch Beleidigung unddurch andere Dinge unter Strafe stellt.Ich habe aber Probleme damit, wenn das Strafrecht be-nutzt wird. Wenn Sie von einem ethischen Diskurs spre-chen, geben wir Ihnen alle Recht. Der ethische Diskurswird aber in der Regel nicht durch das Strafrecht verbes-sert. Wenn Sie von ethischen Korsettstangen sprechen, dieSie im Strafrecht vermuten, fürchte ich, Sie werden mitethischen Brechstangen arbeiten. Das bringt in der Regelweder den Menschen Geschmack bei, noch bringt es To-leranz. Es bringt aber unter Umständen – wie Herr Beckrichtig sagte – freisprechende Urteile, die ein entspre-chendes Verhalten mit TÜV-Stempel versehen, was wiralle als Übel empfinden würden.
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Volker Beck
14660
Kollege van Essen.
Frau Kollegin von Renesse,
die Einschätzung, dass es in diesem Bereich Gefahren
gibt, teile ich mit Ihnen. Ich teile auch die Auffassung,
dass das Strafrecht bei Diskussionen durchaus nicht im-
mer hilfreich ist, insbesondere dann, wenn das eintritt,
was Sie gerade dargestellt haben, nämlich dass ein Ver-
fahren gegen Betroffene mit Freisprüchen oder Ein-
stellungen endet. Auch darin stimme ich Ihnen zu.
Trotzdem denke ich – das war meine Anregung –, dass
wir diesen Antrag zum Anlass nehmen sollten, über diese
Fragen zu diskutieren. Wir sollten das Thema nicht so be-
handeln, wie es heute in der Debatte zum Teil geschehen
ist, als das Problem dargestellt wurde, als sei es rückwärts
gewandt, wenn wir uns heute damit beschäftigen und uns
dafür interessieren. Das Ganze wurde in die Nähe des
Karnevals gerückt. Ich glaube, dass man in diesen Fragen
mit einer tieferen Herangehensweise nach einer Antwort
suchen muss.
Ich denke auch, dass darüber diskutiert werden kann,
darf und muss, welche Auswirkungen es auf die Gesell-
schaft hat, wenn Gesellschaften kein Tabu mehr kennen.
Auch das ist eine Frage, die mich persönlich beschäftigt.
Wenn wir einen solchen gesellschaftspolitischen Dis-
kurs führen, halte ich das für außerordentlich hilfreich
und förderlich und dann werden wir auch die Frage, ob
das Strafrecht dabei eher förderlich oder eher hinderlich
ist – was Ihre Überzeugung ist –, viel besser beantworten
können. Das Thema ist für sich betrachtet bereits einer
Diskussion wert. Bei dieser Auffassung bleibe ich.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsi-
dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Stär-
kung des Toleranzgebotes, wie sie der vorliegende Ge-
setzentwurf fordert, hätte unsere Gesellschaft dringend
nötig. Ich denke an die tägliche Demütigung von Auslän-
dern, Obdachlosen und das Verhalten von Bürgerinnen
und Bürgern gegenüber den Schwächsten in unserem
Lande. Leider aber soll nicht denen gegenüber Toleranz
stabilisiert werden, sondern es geht – so wie es im Ge-
setzentwurf gefordert wird – um einen besseren Schutz re-
ligiöser Überzeugungen.
Diesem Anliegen stimme ich als Christ natürlich zu,
bin aber der Meinung, dass eine christliche, religiöse
Überzeugung durch die bestehenden Gesetze – das hat der
Kollege Stünker ausgeführt – hinreichend gewährleistet
ist. Allerdings lassen mich Beispiele aus jüngster Zeit da-
ran zweifeln, dass Toleranz auch gegenüber persönlichen
Überzeugungen von Angehörigen nicht christlicher Reli-
gionen gewährleistet wird. Ich erinnere dabei an Diskus-
sionen darüber, ob es toleriert werden kann, dass eine Frau
nach islamischem Brauch an einer deutschen Schule mit
Kopftuch unterrichtet oder ob einer islamischen Ge-
meinschaft erlaubt werden kann, in einem auch von Chri-
sten bewohnten Viertel eine Moschee zu errichten. In die-
sen Diskussionen ist ein bedrohlicher Mangel an Toleranz
sichtbar.
Im vorliegenden Entwurf wird aber die Notwendigkeit
der Stärkung des Toleranzgebotes speziell Christen gegen-
über gefordert und der öffentliche Friede der Gesellschaft
dem untergeordnet. Öffentlicher Friede ist für mich ein
wichtiges demokratisches Rechtsgut, das gerade von Chris-
ten aus Glaubensüberzeugung geschützt werden muss.
Wo im Weltanschauungsstreit mit künstlerischen Mit-
teln oder aber banal Spielregeln der Zumutbarkeit verletzt
werden, sollten zumindest Christen prüfen, ob sie gerade
im Konflikt zur Klärung nicht Freiheitsstrafen durch den
Gesetzgeber, sondern biblische Kriterien zur Verständi-
gung gelten lassen sollten – haben doch gerade Christen
einen spezifischen Beitrag zum Schutz der Mei-
nungsfreiheit zu leisten.
Wir möchten die Schutzpflicht des Staates, „dafür
Sorge zu tragen, dass in der Gesellschaft die Vorausset-
zungen dafür gegeben sind, von der Glaubens- und Ge-
wissensfreiheit auch tatsächlich Gebrauch zu machen“,
dadurch stärken, dass § 166 Abs. 1 und 2 Strafgesetzbuch
nicht geändert wird, sondern der Erhalt des öffentlichen
Friedens das Kriterium bleibt.
Das zweifellos wichtige Toleranzgebot muss an ande-
rer Stelle diskutiert und vom Gesetzgeber weitreichend
verbindlich gemacht werden. Da stimme ich dem Kolle-
gen van Essen voll und ganz zu. Aber dazu bedarf es an-
derer Formulierungen, weil dann die Toleranz gegenüber
Religionen und Weltanschauungen ausländischer Mitbür-
ger im Mittelpunkt zu stehen hat. Dabei wäre grobe Be-
schimpfung als Tathandlung ein Aspekt unter vielen an-
deren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Drucksache
wird ein Vorfall nicht expliziert erwähnt; Kollege Beck hat
darauf hingewiesen. Es ist zu vermuten, dass er der aktu-
elle Anlass für die parlamentarische Initiative der Union
ist. Es ist das zweifellos umstrittene Stück „Corpus Chris-
ti“, das in seinem Uraufführungsland Baden-Württemberg
zu heftigen Diskussionen und sogar zu Demonstrationen
wegen Beleidigung christlichen Glaubens geführt hat.
Ich werde mich gerade wegen des Respekts vor der
Freiheit der Kunst hüten, hier meine Meinung zur Qualität
des Stückes und der Aufführung abzugeben, sondern
möchte nur fragen: Ist es nicht gerade Sinn von Kunst,
hier von Theater, zu provozieren, herauszufordern? Der
öffentliche Friede, so ist festgestellt worden, wurde nicht
gestört.
Ich frage mich allerdings nach den Kriterien dafür, wann
religiöse Gefühle verletzt werden. Gibt es doch viele Mit-
bürgerinnen und Mitbürger, die sich keineswegs verletzt
fühlen durch Nachrichten von verhungerten Kindern und
ermordeten Ordensfrauen in Lateinamerika, –
Kollege Fink, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
– die aber auf eine ironischeDarstellung einer profanen Heiligsprechung durch eine
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Staffage-Päpstin mit einem Aufschrei reagieren. Das istnatürlich geschmacklos. Ich bezweifle nicht den Schmerzder Verletzung, aber welche Art von Gefühl hat ein Rechtauf Rechtsschutz?Verehrte Kolleginnen und Kollegen, besonders von derCDU/CSU, aus den wenigen von mir genannten Gründenstimmen wir dem Entwurf eines Strafrechtsänderungs-gesetzes nicht zu.
Ich erteile dem Kolle-
gen Norbert Geis das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte überhaupt
nicht verschweigen, dass die Anregung, diesen Gesetz-
entwurf in dieser Legislaturperiode erneut einzubringen,
von den beiden großen Kirchen gekommen ist. Das ist
wahr.
– Auch von der evangelischen Kirche. – Aber es geht nicht
nur um den Schutz der christlichen Überzeugung, sondern
es geht natürlich generell um den Schutz der religiösen
Überzeugung eines jeden, nicht nur der religiösen Über-
zeugung eines Christen. Es geht auch um den Schutz der
weltanschaulichen Überzeugung eines jeden, nicht nur
der weltanschaulichen Überzeugung eines Christen. Das
ist generell so.
Es wird hier sehr stark abgestellt auf die Christen,was
wahr ist, weil ja das Moment des öffentlichen Friedens für
Christen oft nicht in Anspruch genommen werden kann
oder auch nicht in Anspruch genommen wird seitens der
Gerichte. Deswegen unternehmen wir den Versuch, die-
sen Gesetzentwurf erneut einzubringen.
Ich möchte noch einen zweiten Gedanken hinzufügen.
Wenn man die gesetzliche Regelung im Strafgesetzbuch
so lässt, wie sie im Augenblick ist, dann ist sie das Papier
nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. Mit Recht haben die
Grünen in der letzten Legislaturperiode den Antrag ein-
gebracht, diesen § 166 ganz zu streichen. Das ist nämlich,
Herr Stünker, die Konsequenz. So, wie dieser Paragraph
jetzt im Gesetzbuch steht, findet er keine Handhabe.
Ich möchte die Anregung von Herrn van Essen auf-
greifen und bitte, einmal ernsthaft darüber nachzudenken,
ob wir nicht doch zu einer Regelung kommen können, mit
der wir dem Anliegen, das in diesem Gesetzentwurf zum
Ausdruck kommen soll, gerecht werden.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 14/4558 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulf Fink,
Rainer Eppelmann, Katherina Reiche, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kriegsfolgen- und Kriegslastenbeseitigung in
den neuen Ländern
– Drucksache 14/5092 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Ulf Fink, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute, wennauch zu später Stunde, mit dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der die Kriegsfolgen- und dieKriegslastenbeseitigung in den neuen Bundesländern zumInhalt hat. Wir fordern in diesem Antrag die Bundesregie-rung auf, zu prüfen, ob aus dem Bundeshaushalt zusätzli-che finanzielle Mittel bereitgestellt werden können, umprivate Haushalte, Städte und Gemeinden in den neuenBundesländern, die von Bomben und Munitionsfundenaus dem Zweiten Weltkrieg betroffen sind, in angemes-sener Weise zu unterstützen.Zehn Jahre nach der staatlichen Wiedervereinigungmachen sich nämlich die Folgen und die Lasten des Zwei-ten Weltkriegs in Ostdeutschland noch immer wesentlichdeutlicher als im alten Bundesgebiet bemerkbar. Die stän-dig wiederkehrenden Meldungen über neue Blindgänger-und Munitionsfunde aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen:Auf diesem Gebiet muss gehandelt werden.
Durch ein neu entwickeltes geographisches Informati-onssystem ist es in Brandenburg möglich geworden, dievorhandenen Luftbildaufnahmen der ehemaligen Alliier-ten neu auszuwerten und die belasteten Flächen genauerzu bestimmen. Wir wussten schon früher, dass Branden-burg das Bundesland ist, das durch Kampfmittel am aller-meisten belastet ist. Wir haben damals angenommen, dasses sich um eine Fläche von 180 000 Hektar handelt. Mitt-lerweile wissen wir dank dieses neu entwickelten geogra-phischen Informationssystems, dass nicht nur 180 000Hek-tar, sondern sage und schreibe 400 000 Hektar Landkampfmittelbelastet sind. Dabei sind die früher militärischgenutzten Flächen, also die so genannten Konversions-flächen, noch nicht mitgerechnet, die man mit mindestensweiteren 100 000 Hektar in Rechnung stellen muss.Brandenburg ist damit unbestreitbar das Bundeslandmit der größten kampfmittelbelasteten Fläche. Ein Blick
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Dr. Heinrich Fink14662
in die Geschichte zeigt, woran das liegt: In Brandenburghaben die großen Schlachten um die Seelower Höhen undum Halbe/Teupitz stattgefunden, von den Bombenangrif-fen rund um Berlin ganz zu schweigen. Von Blindgänger-funden sind die Brandenburger Städte Oranienburg, Neu-ruppin, Potsdam und Frankfurt/Oder besonders belastet.Allein im Stadtgebiet von Oranienburg sind seit 1990mehr als 90 Blindgänger entfernt worden. Leider gibt esnach wie vor keine endgültige Entwarnung. Im Gegenteil:Als außerordentlich tückisch erweisen sich Blindgängermit chemischen Langzeitzündern, die vorwiegend in Ora-nienburg und Lehnitz aufgefunden werden. So kam es inder Vergangenheit zu unvorhergesehenen Detonationenmit Schäden an Sachen und Personen.Es freut mich sehr, dass heute als Zuschauer der Bürger-meister von Oranienburg und wichtige Mitglieder der Stadt-verordnetenversammlung an dieser Debatte teilnehmen.
Neben der latenten Gefahr, die von Bomben- und Mu-nitionsüberresten ausgeht, besteht ein großes Problemauch in den immensen Kosten, die mit der Auffindung,Bergung und Beseitigung des brisanten Materials verbun-den sind. Im Moment ist die Kostenfrage wie folgt gere-gelt: Die finanziellen Aufwendungen des staatlichenMunitionsbergungsdienstes oder der privaten Bergungs-unternehmen werden grundsätzlich von den Landeshaus-halten übernommen. Es handelt sich dabei aber nur um dieKosten, die mit der Bergung und dem Abtransport derKampfmittel selbst verbunden sind. Folgekosten, diedurch den Einsatz der Feuerwehr, Maßnahmen der Ord-nungsämter oder eine etwaige Staatshaftung entstehen,tragen die betroffenen Städte und Gemeinden selbst.Auch der von einem Blindgängerfund betroffene Bür-ger kann von den Kosten grundsätzlich nicht freigestelltwerden. Will er bauen, obwohl die Wahrscheinlichkeit ei-nes Bombenfundes besteht, muss er in jedem Falle für dieGebühren aufkommen, die zum Beispiel im Zusammen-hang mit der Auswertung der Luftbildaufnahmen entste-hen. Beauftragt er unmittelbar ein Kampfmittelräumungs-unternehmen mit der Suche, muss er die Kosten der Sucheselbst bezahlen. Hat der Bürger im guten Glauben bereitsgebaut und wird im Nachhinein ein Blindgänger auf sei-nem Grundstück gefunden, ist er in ordnungsrechtlicherHinsicht ein Zustandsstörer. Für Maßnahmen, die er dannveranlasst, um eine Bergung zu ermöglichen, haftet ergrundsätzlich mit seinem privaten Vermögen. Jeder kannsich vorstellen, dass das den Ruin von Menschen bedeu-ten kann.
Erst kürzlich musste ein ganzes Wohnhaus in Lehnitz ab-gerissen werden, weil sich unter dem Gebäude ein Blind-gänger befand.Nun hätten Bürger und Städte kostenmäßig gar nichtszu befürchten, wenn es sich bei den aufgefundenen Blind-gängern und Munitionsüberresten ausschließlich umdeutsche, das heißt ehemals reichseigene Munition han-deln würde; denn dann würde eine Kostenübernahmedurch den Bund aufgrund des Allgemeinen Kriegsfolgen-gesetzes erfolgen. Nur handelt es sich hier nicht umKampfmittel des Deutschen Reiches, sondern um Kampf-mittel der ehemaligen Alliierten, sodass keiner zahlt. Ichmeine – das muss in dieser Klarheit hier gesagt werden –,es haben nicht Oranienburg, Neuruppin oder Frankfurt/Oder und auch nicht das Land Brandenburg den ZweitenWeltkrieg geführt, sondern wenn einer dafür verantwortlichist, ist es das Deutsche Reich. Rechtsnachfolger des Deut-schen Reiches ist nicht Oranienburg, ist nicht Neuruppin,ist nicht Brandenburg, sondern nun einmal der Bund.
Insofern ist es doch nur recht und billig, dass der Bund alsRechtsnachfolger des Deutschen Reiches seine Verpflich-tungen auch für alliierte Kampfmittelfunde und die damitverbundenen Kosten anerkennt.In diesem Zusammenhang bietet es sich an, auch dasThema Konversionsflächen in die politische Diskussionmit einfließen zu lassen. Auch hier gibt es nämlich eineFülle massiver und ungelöster Probleme. So können zumBeispiel bei mir im nördlichen Teil des Oberhavelkreisesbei Fürstenberg riesige Flächen bisher nicht genutzt wer-den, weil dort eben nach wie vor Bomben gefunden wer-den – von anders kontaminierten Flächen nicht zu reden.Hier muss ergänzend Zusätzliches getan werden.Beim vorliegenden Antrag, den wir zuerst einmal inden Ausschüssen beraten werden, handelt es sich um einenAntrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ich bin meinen– heute zwar nicht vollständig anwesenden – 244 Unions-kollegen dafür dankbar, dass sie einmütig für diesen Antraggestimmt haben. Das war keine Selbstverständlichkeit.Deswegen möchte ich den Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion meinen Dank aussprechen.Meine Hoffnung ist, dass es gelingt, auch die Mitglie-der der anderen Fraktionen, natürlich insbesondere derRegierungsfraktionen, für die Unterstützung dieses An-trags zu gewinnen. Ich zähle dabei auf die ostdeutschenKolleginnen und Kollegen in den Regierungsfraktionen,besonders natürlich auf die Brandenburger Abgeordneten.
Ich hoffe sehr, dass es den Mitgliedern der Regierungs-fraktionen doch nicht unmöglich ist, die Bundesregierungaufzufordern, zu prüfen, ob sie nicht den Bürgern und Ge-meinden in den neuen Bundesländern besser als bisherhelfen kann. Das dürfte doch nicht zu viel verlangt sein.
Es wäre nur ein Umweg, erst einmal in den Petitions-ausschuss, in diesen oder jenen Ausschuss zu gehen. DerAntrag ist so klar, so eindeutig, sachlich so begründet,dass man eigentlich auch ohne Ausschussberatung überihn abstimmen könnte. Nun gut, jetzt soll er erst einmal andie Ausschüsse gehen. Dennoch hoffe ich sehr, dass dasendgültige Votum des Deutschen Bundestages nicht langeauf sich warten lässt, dass die Regierungsfraktionen mit-helfen, dass wir rasch durch die mitberatenden Aus-schüsse – den Ausschuss für Angelegenheiten der neuenLänder und den Innenausschuss – kommen, um dann zueinem Votum im Haushaltsausschuss zu kommen. Ichmeine, es dürfte nicht zu viel verlangt sein zu sagen: Lasst
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Ulf Fink14663
uns gemeinsam helfen, dass wir spätestens im März einensolchen Beschluss des Deutschen Bundestages vorliegenhaben! Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bun-desländern haben es verdient.
Ich erteile das Wort
Kollegin Angelika Krüger-Leißner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz beson-ders begrüße ich zuerst die vielen Oranienburger, dieheute gekommen sind.
Es sind, glaube ich, sogar mehr als wir hier unten. Aberdas ist der späten Zeit geschuldet. Ich finde es ganz rich-tig, dass der Bürgermeister heute mit vielen Stadtverord-neten hier ist und diese Debatte verfolgt.Es geht um ein brisantes Thema in vielen Städten undvielen Ländern. Für uns Oranienburger ist es das ThemaNummer eins. Seit 1991 vergeht nicht ein Monat, manch-mal sogar nicht einmal eine Woche, wo wir nicht von denMeldungen in der Presse erschreckt werden. So konntenwir zum Beispiel am 17. Mai des letzten Jahres lesen:In Oranienburg ist am Mittwoch erneut eine ameri-kanische Zehn-Zentner-Bombe aus dem 2.Weltkriegentschärft worden. Für die 71. Bombenentschärfungseit der Wende hatten rund 4 500 Menschen für meh-rere Stunden ihre Wohnungen verlassen müssen.Durch die weiträumigen Absperrungen wurden derPersonennahverkehr unterbrochen und die Bundes-und Wasserstraßen gesperrt.Nachrichten wie diese kennen die Oranienburger, aberauch die Marwitzer, die Lehnitzer und die Hennigsdorferzur Genüge. Das ist keine Seltenheit mehr. Die Schlag-zeilen der letzten Jahre lauteten oft „Bombenlast bedrohteine Stadt“, „Oranienburg ist ein Pulverfass“ oder „Bom-bensorgen ohne Ende“.Immer standen diese Meldungen in engem Zusam-menhang mit den bevorstehenden Evakuierungen, die dieKitas, die Schulen, die Betriebe, alle öffentlichen Ein-richtungen, sogar die Stadtverwaltung selbst betrafen undvor allem viele Bürger aus ihren Wohnungen holten. Da-mit waren natürlich auch viele Sorgen und Ängste sowiedie Frage verbunden, wie es weitergehen wird.Oranienburg war als Zentrum der Rüstungsindustrieim Zweiten Weltkrieg häufig das Ziel von Luftangriffender Alliierten. Wir wissen das. 60 Prozent der Stadt wur-den von über 22 000 Bomben der Alliierten zerstört. Soverwundert es nicht, dass besonders dieses Gebiet inDeutschland mehr als 50 Jahre nach Kriegsende nach wievor ein Schwerpunkt der Kampfmittelräumung ist und dieeinzelnen Bürger, die Stadt und auch das Land Branden-burg in besonderem Maße belastet sind, ganz zu schwei-gen von den Bauverzögerungen, den Auswirkungen derMedienpräsenz zu diesem Thema auf Unternehmer undInvestoren und den damit verbundenen Standortnachtei-len. So verwundert es ebenfalls nicht, dass seit 1997 ver-stärkt der Hilferuf nach finanzieller Unterstützung erging,sowohl an das Land Brandenburg als auch nach Bonn.An dieser Stelle muss man sich fragen: Wer trägt dennnun eigentlich die Lasten und die Folgekosten bei derKampfmittelberäumung? Gibt es Lücken im Gesetz oderUnklarheiten in der Zuständigkeit? Wie sieht die Situationkonkret aus? Ich will auf diese Fragen kurz eingehen.Grundsätzlich ist die Beseitigung von Kampfmittelnaus der Zeit der beiden Weltkriege nach der föderalenKompetenzverteilung des Grundgesetzes eine Aufgabeder Länder, an der sich der Bund in nicht unerheblichemMaße beteiligt. Man kann dies in Art. 30, Art. 83 undArt. 104 a des Grundgesetzes nachlesen. Der Bund erstat-tet den Ländern aufgrund einer seit den 50er-Jahren be-stehenden so genannten Staatspraxis, die sich auf Art. 120des Grundgesetzes und auf das Allgemeine Kriegsfolgen-gesetz stützt, die Aufwendungen für die Kampfmittel-beräumung auf bundeseigenen Liegenschaften sowie fürdie Bergung und Vernichtung so genannter reichseigenerMunition. Entsprechend dieser Staatspraxis werden denLändern die Kosten für die geborgene ehemalige reichs-eigene Munition auf Antrag erstattet.Dies gilt nicht für die Beseitigung der Kampfmittel derfrüheren Alliierten. Diese Kosten bleiben beim Land undden betroffenen Städten und Gemeinden hängen. Auf dieKommunen, im speziellen Fall auf die Stadt Oranienburg,fallen alle Kosten, die durch die Aufwendungen im Zu-sammenhang mit den Bombenentschärfungen entstehen,wie zum Beispiel Kosten für Absperrungen, Evakuie-rungen, Einsatz von Ordnungskräften oder bauliche Fol-gekosten wie Baufreimachung.Lassen Sie uns nun gemeinsam nachvollziehen, was inden letzten Jahren auf dieser gesetzlichen Grundlage pas-siert ist. Schon in den Jahren 1995, 1996 und 1997 wand-ten sich der Bürgermeister der Stadt Oranienburg und dieStadtverordnetenversammlung mit der Bitte um Hilfe andas Land Brandenburg. Der damalige InnenministerAlwin Ziel hat dieses Anliegen sehr ernst genommen undsich intensiv für eine gezielte Bombensuche auf derGrundlage der Auswertung von angekauften amerikani-schen Luftbildern eingesetzt.Der staatliche Munitionsbergungsdienst des LandesBrandenburg hat allein für diese Region 1996 7,5 Milli-onen DM, 1997 9,5 Millionen DM, 1998 10,2 Milli-onen DM, 1999 6,1 Millionen DM und im letzten Jahr8,3 Millionen DM aufgebracht. Dieses Jahr geht es wei-ter. Um die Relation zu verdeutlichen: Das sind nur einDrittel der Gesamtkosten für das Land Brandenburg.Dennoch reichen diese Mittel nicht aus, alle Kosten,insbesondere die Folgekosten, zu decken. So gelang esdem damaligen Innenminister, noch zusätzliche Mittel ausdem Ausgleichsfonds des Landes für die Gemeinden undStädte als Sonderregelung zu organisieren. Aber für dieStadt Oranienburg blieben und bleiben trotz großer Unter-stützung des Landes nach wie vor noch erhebliche Lasten.So erging in dem brisanten Jahr 1997 der Hilferuf auchnach Bonn. Bürgermeister und Stadtverordnetenvorsit-zende schrieben an den damaligen BundesinnenministerKanther und an den Bundesverteidigungsminister Rüheund erwarteten Unterstützung.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Februar 2001
Ulf Fink14664
Zwei Abgeordnete der F.D.P., Jörg van Essen – er ist nochanwesend – und Jürgen Türk, gaben den OranienburgernRückendeckung. Ich frage nun Sie, Herr Fink: Was habenSie während dieser Zeit unternommen, um den Oranien-burgern zu helfen?
Die Antwort kennen wir: nichts.So erhielt die Stadt Oranienburg vom Bundesinnenmi-nister eine freundliche Absage. „Finanzielle Unterstüt-zungen bei der Bewältigung der Probleme können nichtzugesagt werden“, hieß es. Auch Herr Rühe sagte denOranienburgern keine finanzielle Unterstützung zu, aberdie Hilfe in dringenden Notfällen der Evakuierung undzur Absicherung der Gefahrenbereiche durch die Soldatenvor Ort.An dieser Stelle möchte ich den Soldaten der Märki-schen Kaserne in Lehnitz für ihre engagierte und stetigeZusammenarbeit bei der Kampfmittelberäumung herzlichdanken. Auf sie war und ist immer Verlass.
– So ist es.Infolge der gesamten Entwicklung beschloss im Sep-tember des letzten Jahres die Stadtverordnetenversamm-lung von Oranienburg und dann auch die Lehnitzer Ge-meinde im November, sich an den Landtag und an denDeutschen Bundestag mit einer Petition zu wenden. BeideAntworten liegen noch nicht vor.Dafür haben wir nun einen CDU/CSU-Antrag auf demTisch des Hauses liegen. Man muss sich zunächst dieFrage stellen: Ist dieser Antrag geeignet, die Probleme,die wir in Oranienburg, in Brandenburg, aber auch inDeutschland insgesamt mit der Kampfmittelberäumunghaben, zu lösen?Neben der durchaus richtigen Auflistung der Zustän-digkeiten von Gemeinde, Land und Bund stellen die An-tragsteller in Punkt I fest, dass der Bund nach dem Allge-meinen Kriegsfolgengesetz in den Fällen, in denen es sichum Kampfmittel der Alliierten handelt, nicht zuständigist, also keine Handlungsgrundlage gegeben ist. Geradeum diese Kampfmittel aber handelt es sich in den vorhergenannten Fällen in Oranienburg und Umgebung über-wiegend. Dessen ungeachtet wird von der CDU/CSU inPunkt II gefordert, dass die Bundesregierung prüfen soll,ob nicht zusätzliche finanzielle Mittel für die Stadt, dieGemeinde, aber auch für Privatpersonen in den neuenBundesländern bereitgestellt werden können.Ich denke, jeder der hier Anwesenden, vor allem aberdie vielen Oranienburger zu Hause können sich denken,welchen Erfolg ein solcher Antrag haben kann. Ich fragemich also: Was soll er bewirken? Für wen ist er gemacht?Warum geht er nicht an die Wurzel allen Übels, sondernzielt nur auf Almosen oder auf eine einmalige Aktion ab,die die Problematik, die wir in den nächsten Jahren wei-terhin haben werden, nicht grundlegend wird beseitigenhelfen? Selbst der jetzige Innenminister des Landes Bran-denburg, Herr Jörg Schönbohm, hat bereits erkannt, dasses sich bei den Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg„um ein Problem handelt, das auch weitere Generationenbeschäftigen wird“.Ich frage weiter: Ist es überhaupt nur ein Problem derneuen Bundesländer, das es rechtfertigt, eine Sonderlö-sung für diese zu schaffen? Und wenn ja: Warum wurdesie nicht 1990 mit dem Einigungsvertrag in Angriff ge-nommen?
Sie sehen, der Antrag wirft eine Menge Fragen auf, diemeiner Ansicht nach nicht genügend durchdacht sind. Ichfürchte, er wird zur Lösung dieser Problematik keine be-friedigende Antwort geben können. Er sieht aus wie einSchnellschuss, der mit den Ängsten und Sorgen, vor allemaber mit den Hoffnungen der Menschen ein böses Spieltreibt. Ich frage mich: Kann er so, wie er gestellt ist, dieErwartungen überhaupt erfüllen oder verspielt er nicht dieChance einer neuen, grundlegenden Regelung?
Eines kommt mir besonders fraglich vor. Warum istnicht von den Antragstellern auch das Land Brandenburgeinbezogen worden, das an einer grundsätzlichen Rege-lung ein besonderes Interesse haben müsste?Meine Herren von der Opposition – Damen sind lei-der keine mehr anwesend –, purer politischer Aktionis-mus ist schon immer ein schlechter Berater gewesen undbringt in der Sache letztendlich keinen entscheidendenSchritt voran. Ich muss Ihnen deutlich sagen: Das istauch nicht die politische Ebene, auf der ich mich bewe-gen möchte.
Ich nehme das Anliegen und die Besorgnis der Bürge-rinnen und Bürger in meinem Wahlkreis sehr ernst.Selbstverständlich werden die zuständigen Ausschüsse– dies ist in erster Linie der Haushaltsausschuss und inzweiter Linie der Ausschuss für Angelegenheiten derneuen Länder – diesen Antrag beraten und prüfen. Aberdas ist mir zu wenig.
Kollegin Krüger, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fink?
Ja.
Frau Kollegin Krüger-Leißner,ich habe von Ihnen gehört, dass Sie dieses Problem eben-falls für lösungsbedürftig halten. Sie haben gesagt,dass Ihnen dieser Antrag noch nicht weit genug gehe,sondern dass er die Probleme noch tiefgreifender lösensollte. Deshalb frage ich Sie: Sie sind seit zwei Jahren imDeutschen Bundestag. Warum haben Sie noch keine ei-gene Initiative ergriffen?
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Angelika Krüger-Leißner14665
Das ist wirklich
eine bodenlose Frechheit. Ihre Kollegen von der F.D.P.
haben 1997 versucht, die Stadt zu unterstützen. Da waren
Sie ganz still und haben sich nicht gerührt. Aber jetzt ma-
chen Sie den Mund auf.
Ich bin noch nicht am Ende meiner Rede. Ich habe eine
Initiative ergriffen
und hoffe, dass Sie sich dieser anschließen können.
– Wenn ich weiterreden darf, werde ich gern noch etwas
dazu sagen.
Ich habe gesagt, es ist mir zu wenig, was in dem An-
trag steht, zumal er erhebliche Mängel hat. Ich habe mich
in diesen Tagen an den Innenminister des Landes Bran-
denburg mit der Bitte gewandt, gemeinsam mit der Stadt
Oranienburg, den weiteren betroffenen Gemeinden, dem
Landkreis und den Landtagsabgeordneten und mir über
eine neue generelle Lösung in der Kampfmittelbe-
räumung zu beraten und auch an die gesetzlichen Grund-
lagen zu gehen.
Ich könnte mir aufgrund der besonderen Betroffenheit
des Landes Brandenburg eine Initiative, gerichtet an alle
anderen Bundesländer, ob alt oder neu, vorstellen, die bis
in den Bundesrat hineingeht.
Denn eines ist klarzustellen: Die Beseitigung von Kriegs-
lasten und -gefahren aus dem Zweiten Weltkrieg ist keine
teilungsbedingte Sonderlast der neuen Länder, sondern
eine Aufgabe, die in ganz Deutschland zu leisten war und
weiterhin zu leisten ist.
– Auch wenn es Ihnen nicht passt: Auch an dieser Stelle
ist der Antrag falsch. Denn auch in Nordrhein-Westfalen
sind heute noch viele Gemeinden von diesen Lasten be-
troffen.
Ich gehe davon aus, dass der Innenminister des Landes
Brandenburg angesichts der Brisanz dieses Themas an
dieser Beratung interessiert ist und sie so bald wie mög-
lich einberuft. Ich lade Sie, Herr Fink, abschließend dazu
ein, sich daran zu beteiligen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Jürgen Koppelin, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich bekenne ganz offen, dassmeine Fraktion sehr viel Sympathie für den Inhalt des An-trages hat und ebenfalls der Auffassung ist, dass wir die-ses Problem lösen müssen. Aber es gibt durchaus auchBedenkenswertes, das die Kollegin gerade vorgetragenhat. Das wollen wir nicht außer Acht lassen.
Insofern spreche ich auch als Haushälter meiner Fraktion,obwohl ich mich freue, dass der Kollege Jörg van Essenanwesend ist, der dies früher bereits unterstützt hat. Er istnicht nur Jurist, was ja bekannt ist. – Ich habe mir einigesdazu aufschreiben lassen, wie die Juristen zu dem Themastehen, aber das will ich Ihnen ersparen, weil ich denke,dass dies den Betroffenen nicht hilft. – Er kommt auch ausHamm. Ich habe mir sagen lassen, dass Hamm diePartnerstadt von Oranienburg ist. Deswegen freue ichmich außerordentlich, dass er hier ist.
In der Sache können wir vielleicht Übereinstimmungerzielen und insofern werden wir auch nach Lösungen su-chen. Aber wir versuchen vor allem deshalb Lösungen zufinden, weil es nicht angehen kann – das ist ja an Bei-spielen deutlich geworden –, dass die betroffenen Bürgerdarunter leiden, dass es ein Kompetenzgerangel gibt. Ir-gendwie muss die Politik eine Lösung finden.
Wir können es nicht hin und her schieben, während derBürger in einem Haus sitzt, unter dem man etwas gefun-den hat.Was mich stört – das sage ich in Richtung Union ganzoffen –, ist, dass Sie sich – ich will es einmal so aus-drücken – nicht fair genug mit der Angelegenheit be-schäftigt haben. Mich stört einfach, dass Sie nur von denneuen Bundesländern sprechen.
Ich lade Sie herzlich ein, nach Kiel oder nach Hamburg zukommen. Sie hören dort mindestens einmal pro Woche inden Verkehrsmeldungen, dass Straßen gesperrt sind, weiletwas geräumt werden muss. Was sagen mir denn meineFreunde in Schleswig-Holstein, Hamburg oder anderswo,
wenn wir das beschließen? Sie sagen: Entschuldigung,warum wir denn nicht? Es ist doch nicht nur ein Problem derneuen Bundesländer. Wir haben alle das Problem, der einemehr, der andere weniger. Das will ich nicht bestreiten.Kollege Fink, eine weitere Bemerkung kann ich mir al-lerdings auch nicht verkneifen. Anscheinend haben Sie dieVerantwortung des Landes völlig außer Acht gelassen.
Wo ist die Initiative des Landes Brandenburg im Bundes-rat? Wo ist die Initiative anderer Länder? Wir wären ja
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durchaus bereit, uns dann darüber zu unterhalten. Sie stel-len den Innenminister in Brandenburg. Da können Siesich nicht vor der Verantwortung drücken. Haben Siedenn einmal mit Ihrem Innenminister gesprochen? HabenSie ihm diesen Antrag vorgelegt und haben Sie gefragt, ober nicht über eine Bundesratsinitiative aktiv werdenkönne? Sie haben uns hier nicht mitgeteilt, was Ihr In-nenminister dazu sagt. Insofern, als mir das Hin- und Her-schieben der Verantwortung nicht gefällt, unterstütze ichausdrücklich das, was meine Vorrednerin gesagt hat.Ich könnte es mir jetzt ganz leicht machen. Ich habeeinmal nachgesehen: Sie waren über mehrere Jahre hin-weg auch Landesvorsitzender der CDU in Brandenburg.Seinerzeit hätten Sie auch die Initiative ergreifen können.Das ist doch eine wichtige Funktion gewesen.
Ich will in dieser Polemik und in dieser Art nicht wei-termachen, weil es den Betroffenen nicht hilft.
Wir versprechen als Freie Demokraten: Wir sind bereit– auch im Haushaltsausschuss –, den Betroffenen, vor al-lem den Privaten, zu helfen. Aber ich erwarte auch die Ini-tiative der Bundesländer im Bundesrat. Das ist für michdas Entscheidende. Unser guter Wille ist da. Der Wille istaber da – ich sage es noch einmal –, weil wir die Betrof-fenen nicht darunter leiden lassen können, dass sie dieProbleme haben.Ich habe vorhin bereits die Rechtsprechung erwähnt.Ich will Ihnen das nicht alles vortragen. Zustandsstörer– so haben Sie es, glaube ich, gesagt – lautet dann plötz-lich die Bezeichnung. Was sind das überhaupt für Be-griffe? Der Betroffene erfährt davon und steht plötzlichvor dem Nichts. Das kann nicht angehen. Dabei wollenwir ihn nicht alleine lassen. Insofern haben Sie unsere Un-terstützung bei der Beratung.Ob es in die Richtung geht, die Sie mit Ihren Formu-lierungen anstreben, bezweifle ich erheblich. Das Zielwird sein, den Betroffenen zu helfen. Das jedenfalls ist dieZielsetzung der Freien Demokraten.Vielen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass alle, dieheute Abend zu diesem Thema sprechen, die sich mitdem Thema beschäftigt haben, Verständnis für die Sor-gen der Betroffenen haben, ist klar. Trotzdem weiß ichnicht, ob dieser etwas melodramatische Auftritt, der sichmit der Einführung von Herrn Fink hier zusammenge-braut hat, gerechtfertigt ist. Es ist natürlich wohlfeil,jetzt, wo im Bundeshaushalt ein Konsolidierungskurs be-gonnen hat,
mit solchen Anträgen zu kommen. Ich werde ja sehen, wieSie reagieren, wenn wir den Länderfinanzausgleich imSonderausschuss regeln, wenn wir dafür sorgen wollen,dass die ostdeutschen Länder und vor allen Dingen dieostdeutschen Kommunen in ihrer Finanzkraft deutlichbesser gestellt und damit vielleicht auch selbst in die Lageversetzt werden, diese Probleme anzupacken.
Dann werden wir sehen, wie Sie sich verhalten und ob Siein der Lage sind, ostdeutsche Interessen in diesem Bereichwahrzunehmen und uns da zu unterstützen.Ich denke, es macht wenig Sinn, eine Einzelfrage he-rauszugreifen und diese dann kleckerweise finanziell zulösen. Es ist sinnvoller, wenn wir versuchen, im Länder-finanzausgleich die Kommunen und die Länder im Osteninsgesamt deutlich besser zu stellen.
Es sind schon Einzelmaßnahmen ergriffen worden; dasmüssten Sie auch wissen. Beispielsweise sind 200 Milli-onen DM in den Bundeshaushalt eingestellt worden, umeine Verbrennungsanlage zu bauen, die chemischeKampfstoffe beseitigt. Sie geht meines Wissens diesesJahr in den Probebetrieb, ist im Prinzip also fertig.Es ist also schon begonnen worden. Fraglich ist jedoch,ob es sinnvoll ist, die Probleme kleckerweise zu lösen. Wirwissen im Prinzip seit zehn Jahren, dass es in den fünf neuenLändern – ich komme aus Sachsen, da haben wir ähnlicheProbleme – keine zu DDR-Zeiten durchgeführte ordentlicheflächendeckende Räumung gegeben hat. Das war vielleichtauch nicht möglich, weil uns die Alliierten-Karten, auf de-nen die Abwürfe verzeichnet waren, nicht vorlagen.Es gibt vielleicht auch einen gewissen Nachholbedarf;das will ich gar nicht bestreiten. Es geht aber nicht so weit,dass man sagen könnte, dass sei eine nur ostdeutsche Pro-blematik. Wenn wir uns daran orientieren, plädiere ichdafür, die Verwaltungspraxis beizubehalten, aber zuversuchen, die Finanzierung zu stabilisieren. Im Prinzipscheitert es ja daran, dass die Länder und Kommunennicht genug Geld haben, um dort tätig werden zu können.Ob wir jetzt in dem Beratungsverfahren noch einmalprüfen, inwieweit man bezüglich der Alliierten-Munitionnoch einmal extra verhandeln kann, würde ich gern imPaket diskutieren, und zwar mit den betroffenen Ländernim Zusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich, umeine gemeinsame Lösung zu finden; denn das wäre für dieanderen, für die westdeutschen Bundesländer genauso in-teressant. Diesen Weg halte ich für gangbar und würdejetzt keinen Schnellschuss aus dem Bundeshaushalt be-fürworten. Das wäre nicht vernünftig.Sie könnten es sich leicht machen. Aber im Prinzip istdiese Problematik schon seit den 50er-Jahren auch im
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Jürgen Koppelin14667
Altbundesgebiet Thema gewesen. Die ostdeutschen Län-der sind nun schon zehn Jahre lang Bestandteil derBundesrepublik Deutschland – jetzt ist es Ihnen eingefal-len. Ich denke, es ist eine sehr offensichtliche Veranstal-tung, die Sie hier betrieben haben. Das schadet demThema und nutzt der Sache überhaupt nicht.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rolf Kutzmutz von der PDS-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal sind lange
Redezeiten nicht nützlich; denn wir alle verfügen über
dieselben Informationen. Ich habe teilweise in den Pres-
seerklärungen des Innenministeriums und denen des Mu-
nitionsbergungsdienstes nachlesen können, was Kollegen
hier gesagt haben. Ich will es nicht wiederholen. Wir alle
können Meldungen nachvollziehen, die besagen, dass
Bombenfunde dazu geführt haben, dass – wie in Orani-
enburg – bis zu 10 000 Menschen von Evakuierungen be-
troffen sind. All das bewegt uns.
Ich kann aber bei allen Auffassungsunterschieden, die
wir manchmal haben, eines nicht nachvollziehen, liebe
Kollegen von den Koalitionsfraktionen. Wenn Sie sagen,
es schade der Sache, dass hier etwas aufgerufen worden
sei, dann muss ich sagen: Wenn es nicht aufgerufen wor-
den wäre, würde überhaupt nicht darüber gesprochen.
– Ja, Herr Nooke, manchmal müssen wir es selber machen.
Wenn es nicht aufgerufen worden wäre, hätten wir heute
Abend nicht diskutiert, es gäbe keinen Anlass, im Aus-
schuss zu beraten. Für die Bürger in Oranienburg, in Neu-
ruppin, in Brandenburg, aber auch in den alten Bundeslän-
dern – da gebe ich Ihnen, Herr Koppelin, schon Recht –
spielt es eine Rolle. Nur, eines ist Fakt: In den ostdeutschen
Kommunen spielt es auch deshalb eine noch größere Rolle,
weil sie finanziell nicht so ausgestattet sind wie Kommu-
nen in den alten Bundesländern. Das wissen Sie auch.
– Sie können nicht die Sozis, wie Sie sagen, auch noch
dafür verantwortlich machen, dass die Amerikaner ihre
Messblätter nicht an uns, sondern an Sie geliefert haben.
Das will ich der Klarheit halber feststellen. Deshalb soll-
ten wir uns auch ernsthaft damit beschäftigen.
In Neuruppin ist kürzlich eine Straße aufgerissen wor-
den, die gebaut worden war, weil man die Messblätter zu
spät bekommen hat. Es bestand ein Verdacht. Bei Beste-
hen eines Verdachtes muss so etwas getan werden. Die
120 000 DM, die das gekostet hat, müssen jetzt erst ein-
mal aufgebracht werden.
Baut ein Bürger ein Haus – Herr Fink hat darauf hin-
gewiesen; ich will das hier wiederholen –, hat er großes
Glück, wenn er es auf einem als unbelastet deklarierten
Grundstück tun kann. Er hat auch Glück, wenn er, soll
sein geplantes Bauvorhaben in einer Gegend durchge-
führt werden, in der sich eventuell Munition befindet,
noch rechtzeitig gewarnt wird. Schlimmer wird es, wenn
das Haus bereits steht. Auch da gebe ich den Kollegen der
CDU/CSU Recht: Das ist insbesondere für Privatleute ein
Problem, weil dann die Kosten natürlich eine immense
Größenordnung erreichen.
Hier wurde gesagt – ich unterstreiche das –, der vorlie-
gende Antrag greife ein für viele Menschen und Kommu-
nen insbesondere im Osten schwerwiegendes Problem
auf, und zwar auch deshalb, weil er ein Prüfauftrag ist.
Der Antrag besteht aus ganzen vier Zeilen, wenn man ihn
richtig liest. Es ist doch überhaupt nicht gerechtfertigt,
sich darüber aufzuregen. Wir können in den zuständigen
Ausschüssen kritisch darüber sprechen. Wir müssen dann
eine Lösung finden, die möglichst vielen Menschen kon-
kret hilft. Nur, lassen Sie uns nicht zu lange warten. Man
kann einen solchen Antrag auch zerreden.
Herr Kollege Fink, dabei ist völlig legitim, dass Sie of-
fensichtlich einem Vorhaben des Innenministers des Lan-
des Brandenburg etwas nachgeholfen haben. Denn in ei-
ner Presseerklärung wird darauf verwiesen, dass das Land
erstens natürlich in der Fürsorgepflicht steht und zweitens
überlegen sollte, ob nicht eine Bundesratsinitiative ergrif-
fen wird. Das hat nun die Fraktion der CDU/CSU für das
Land Brandenburg übernommen. Auch das halte ich für
legitim. Im Interesse der Kommunen, der Länder und der
betroffenen Menschen sowie im Interesse der Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter der staatlichen Munitionsber-
gungsdienste und der privaten Kampfmittelräumungsfir-
men – das sind schlimme Worte; denn sie sind sehr lang –
möchte ich feststellen: Lassen Sie uns schnell beraten und
schnell helfen. Trotz Schnelligkeit kann man durchaus ei-
nen Beschluss fassen, der allen helfen kann.
Danke schön.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Antrags auf
Drucksache 14/5092 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 9. Februar 2001, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche allerseits eine angenehme Nachtruhe.
Die Sitzung ist geschlossen.