Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Ich komme zunächst zu den Amtlichen Mitteilungen.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Ihnen in der Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern.1. Erste Beratung des von dem Abgeordneten Manfred Müller und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung der Beschäftigten des Bundes mit den Beschäftigten des Landes im Land Berlin - Drucksache 13/1383 -2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz , Steffi Lemke, Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jährliche Vorlage eines „Berichtes zur Entwicklung der deutschen Einheit" durch die Bundesregierung - Drucksache 13/2572 -3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Ernst Bahr, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit - Drucksache 13/2586 -4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Dr. Christine Lucyga, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Altschulden ostdeutscher Gemeinden auf gesellschaftliche Einrichtungen - Drucksache 13/2587 -5. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Roll Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Änderung des Bundesberggesetzes - Drucksache 13/2497 -6. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Jahresversammlung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Washington unter Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Winfried Wolf und der Gruppe der PDS: Prüfung von Alternativen zur Magnetschwebebahn - Drucksache 13/2570 -8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Albert Schmidt , Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stopp der Vorbereitungsmaßnahmen für den Transrapid und Planung einer ICE-Verbindung Hamburg-Berlin - Drucksache 13/2573 -9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera Lengsfeld, Gila Altmann , Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Notwendigkeit von ökologischen Kinderrechten; Gefährdung von Kindern durch Umweltgifte - Drucksache 13/2574 -10. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen der Steuerausfälle in Höhe von 40 Mrd. DM auf die Haushaltslage des Bundes11. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung - Drucksache 13/2576 -Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen worden.Darüber hinaus ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 3 m - Zweiter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen -, 19 a - Agrarsoziales Sicherungsgesetz -, und 20 e - Soziale Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit - abzusetzen.Des weiteren mache ich darauf aufmerksam, daß das Thema der heutigen Regierungserklärung zur Jahresversammlung des IWF und der Weltbank in Washington erweitert wurde. Es heißt nunmehr:Jahresversammlung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Washington unter Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung und ihrer einnahme- und ausgabemäßigen Auswirkungen auf die öffentlichen HaushalteSind Sie mit den interfraktionellen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 31 und die Zusatzpunkte 1 bis 4 auf:3. a) Abgabe einer Erklärung der BundesregierungFünf Jahre deutsche Einheit
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5074 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthb) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungMaterialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern- Drucksache 13/2280 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitAusschuß für VerkehrAusschuß für Umwelt, Naturschutzund ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,Technologie und Technikfolgenabschätzung Sportausschußc) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungAufbau Ost - Die zweite Hälfte des Weges- Stand und Perspektiven -Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung in den neuen Ländern- Drucksache 13/2489 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
InnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitAusschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschußd) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur teilweisen Erstattung des bei der Währungsunion 1990 2:1 reduzierten Betrages vorerst für ältere Bürgerinnen und Bürger sowie Alleinerziehende- Drucksache 13/1737 -Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuße) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Nutzer und zur weiteren Erleichterung von Investitionen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet
- Drucksache 13/2022 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebauf) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes in den neuen Bundesländern- Drucksache 13/2444 -Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugendg) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDSEntwurf eines Verfahrensgesetzes zu Artikel 44 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31. August 1990- Drucksache 13/1080 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Innenausschußh) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDSBestandsaufnahme des Vermögens der DDR- Drucksache 13/1834 —Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß
RechtsausschußAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaui) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Hans-Joachim Hacker, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDVerbesserungen bei der Rehabilitierung von SED-Unrecht über die Verlängerung von Antragsfristen hinaus- Drucksache 13/2445 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnungj) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Odendahl, Dr. Ulrich Böhme , Stephan Hilsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNovellierung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland"- Drucksache 13/2367 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5075
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthk) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen Warnick und der weiteren Abgeordneten der PDSMoratorium zum Schutze der redlichen Nutzer und Nutzerinnen vor der zivilrechtlichen Durchsetzung von Rückübertragungsansprüchen im Beitrittsgebiet- Drucksachen 13/613, 13/2578 -Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael Luther Hans-Joachim HackerHeinz Lanfermann1) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft und der weiteren Abgeordneten der PDSZusage der deutschen Kreditwirtschaft „zusätzlich eine Milliarde DM in den Privatisierungsprozeß von sanierungsfähigen Unternehmen der Treuhandanstalt im eigenen Risiko einzubringen" vom Februar 1993- Drucksachen 13/589, 13/1568 -ZP1 Erste Beratung des von dem Abgeordneten Manfred Müller und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung der Beschäftigten des Bundes mit den Beschäftigten des Landes im Land Berlin- Drucksache 13/1383 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußRechtsausschußZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz , Steffi Lemke, Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENJährliche Vorlage eines „Berichtes zur Entwicklung der deutschen Einheit" durch die Bundesregierung- Drucksache 13/2572 —Überweisungsvorschlag: InnenausschußZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Ernst Bahr, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDJahresbericht zum Stand der deutschen Einheit- Drucksache 13/2586 —Überweisungsvorschlag: InnenausschußZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Dr. Christine Lucyga, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAltschulden ostdeutscher Gemeinden auf gesellschaftliche Einrichtungen- Drucksache 13/2587 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß HaushaltsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung drei Stunden vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Deutschland hat mit der wiedergewonnenen Einheit eine grosse Leistung vollbracht und bewiesen, dass es auch unter schwersten Belastungen ein stabiler und verlässlicher Partner bleibt.
Mit diesen Worten faßte die „Neue Zürcher Zeitung" in diesen Tagen ihre Bilanz von fünf Jahren deutsche Einheit zusammen.
In der heutigen Debatte, meine Damen und Herren, werden wir uns selbst Rechenschaft darüber ablegen, was wir Deutschen seit dem 3. Oktober 1990 mit vereinten Kräften erreicht haben. Ich denke, ebenso wichtig ist, daß wir miteinander offen und auch nachdenklich über den Weg unseres Landes in die Zukunft, d. h. in das 21. Jahrhundert, sprechen. Die vergangenen fünf Jahre sind heute bereits ein Stück gemeinsamer Geschichte. In dieser Zeit haben wir alle uns verändert.
Das wiedervereinigte Deutschland ist mehr als nur eine um fünf neue Bundesländer erweiterte Bundesrepublik. Wahr ist auch, daß die überwältigende Mehrheit der Menschen in der früheren DDR die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gewollt, ja herbeigesehnt hat. So stehen wir heute gemeinsam auf dem Boden des Grundgesetzes, der freiheitlichsten Verfassung unserer Geschichte, der Sozialen Marktwirtschaft und der westlichen Wertegemeinschaft mit ihren europäisch-atlantischen Institutionen.
Nicht nur wir, die Deutschen, haben Veränderungen durchgemacht. Auch unser internationales Umfeld erlebte einen Wandel, dessen Dramatik - das sollten wir nie vergessen - das Geschehen in Deutschland vielfach in den Schatten stellte.
Ich erinnere nur an das Ende der Sowjetunion, an den Krieg im früheren Jugoslawien, an Entwicklungen wie den Friedensprozeß im Nahen Osten oder
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
die Wende zum Guten im südlichen Afrika, an die Schaffung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht und den Beitritt neuer Mitglieder zur EU.
Jede dieser Veränderungen berührt uns alle. Gemeinsam tragen wir die Risiken, gemeinsam aber nutzen wir auch die Chancen, die sich aus diesen Veränderungen ergeben. Bei allen Sorgen dürfen wir nicht vergessen, daß andere mit weitaus größeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs empfinden wir Deutschen noch einmal besonders stark, was für ein Glück es bedeutet, daß wir unsere Einheit in Frieden und freier Selbstbestimmung erreichen konnten.
Wir verdanken dies vor allem unseren Freunden und Partnern in der Welt. Allen voran nenne ich George Bush und Michail Gorbatschow. Ohne sie hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben.
Für die Wiedervereinigung fanden wir die Zustimmung aller unserer Nachbarn. Dies war auch eine Frucht des Vertrauens, das alle Bundesregierungen, das alle meine Vorgänger seit 1949 durch eine Politik der Stetigkeit und Verläßlichkeit in Europa und weltweit gewonnen haben.
Meine Damen und Herren, unsere größte Hochachtung verdienen jene tapferen Frauen und Männer, die wegen ihres Einsatzes für die Achtung der Bürger- und Menschenrechte durch das DDR-Regime bespitzelt, verfolgt, eingekerkert oder ausgebürgert wurden.
Wer einmal - wir wollen das nicht vergessen - die Käfige im Zuchthaus von Bautzen gesehen hat, der weiß, daß das SED-Regime unmenschlich und verbrecherisch war.
Diese Tatsache klar und deutlich auszusprechen, schulden wir allen Opfern der kommunistischen Diktatur.
Viel verdanken wir den Menschen der früheren DDR, die im Herbst 1989 zu Hunderttausenden auf die Straße gingen, um gegen das kommunistische Regime zu demonstrieren. Die Demonstrationen in Leipzig, in Dresden und in vielen anderen Orten brachten vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Freiheitswillen der Menschen zum Ausdruck. Sie bewiesen zugleich, daß es richtig war, am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes festzuhalten und die Geraer Forderungen Honeckers abzulehnen, d. h. alles zu tun, um die deutsche Frage offenzuhalten.
Manches Mal war es nicht leicht gewesen, dem Zeitgeist zu widerstehen. Viele hatten an die deutsche Einheit nicht mehr geglaubt, und manche waren sogar bereit, dieses Ziel zu verraten. Deswegen danke ich allen Deutschen in Ost und West, die in diesen vier Jahrzehnten Geduld und Hoffnung nicht verloren haben.
Die politische Führung der DDR war im Herbst 1989 politisch und moralisch am Ende. Sie stand wirtschaftlich vor dem Bankrott. Der Bevölkerung hat sie dies verschwiegen. Manche wollen das auch heute noch nicht wahrhaben. Sie wollen unser Land erneut spalten. Aber ich denke, dies wird ihnen nicht gelingen.
Unser ganz besonderer Respekt gilt auch den Frauen und Männern, die nach dem 18. März 1990 als Abgeordnete der erstmals frei gewählten Volkskammer den demokratischen Neuanfang gestalteten und wagten. Sie haben an gute deutsche Traditionen angeknüpft und die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen wiedererrichtet. Sie haben sich für den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 entschieden.
Auch in den Gemeinden und auf der Ebene der Länder haben viele mit großem Engagement Demokratie aufgebaut und gestaltet. Darunter waren nicht wenige - das sollten wir mehr erwähnen und hervorheben -, die sich zuvor nie mit politischen Dingen befaßt hatten. Sie haben einen ganz ungewöhnlichen persönlichen Einsatz geleistet,
und wir haben gesehen, was in den Gemeinden, Städten, Kreisen und Ländern der früheren DDR entstehen konnte. Dem Föderalismus als einem bewährten deutschen Verfassungsprinzip wurde eine neue Chance eröffnet.
Schließlich verdanken wir unseren erfolgreichen Weg seit 1989 den Menschen im Westen Deutschlands: an Rhein und Ruhr, in Hamburg und in Bayern, in Holstein und in Württemberg.
Sie haben sich sehr viel solidarischer verhalten, als oft zu hören und zu lesen ist.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Die Deutschen in West und Ost haben in den vergangenen fünf Jahren Opfer gebracht; es waren für manchen durchaus schmerzliche Opfer. Niemand sollte die Opfer oder Kosten kleinreden - aber es sind Kosten, die das Erbe des DDR-Sozialismus verursacht hat: eine marode Wirtschaft, ein verantwortungsloser Umgang mit der Umwelt, eine hoffnungslos veraltete Infrastruktur. Das kommunistische System hat 18 Millionen Deutsche daran gehindert, die angemessenen Früchte ihrer Leistung und ihres Leistungswillens zu ernten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen fünf Jahren sind wir bei der Vollendung der inneren Einheit ein gutes Stück vorangekommen. Das sieht jeder, der mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer fährt. Die Menschen spüren das in ihrem persönlichen Umfeld. So entspricht die Infrastruktur in den neuen Bundesländern bereits heute vielfach weltweitem Spitzenstandard. Als Beispiel nenne ich die Telekommunikation, die über ein hochmodernes Netz verfügt. Zehn Stunden Wartezeit auf ein Ferngespräch von Rostock nach Düsseldorf gehören der Vergangenheit an.
Zahlreiche Industrieunternehmen in den neuen Ländern arbeiten heute mit Anlagen, die zu den modernsten der Welt gehören. Ich brauche hier nicht nur das Opel-Werk in Eisenach zu erwähnen; es gibt viele solcher Beispiele. Wir wissen, eine moderne Verkehrsinfrastruktur ist mitentscheidend für den wirtschaftlichen Aufbau und die Herstellung vergleichbarer Lebensverhältnisse. Die Fortschritte, die seit der Wiedervereinigung erreicht wurden, sind offensichtlich: Tausende Kilometer Schienenwege, Straßen und Wasserstraßen wurden neu gebaut oder erneuert. Die Fahrzeit auf der Eisenbahnstrecke von Frankfurt am Main nach Dresden wurde um eine ganze Stunde verkürzt, um ein Beispiel zu nennen. Der Standard der Autobahnen ist zwischen den alten und den neuen Ländern weitgehend angeglichen.
Wir wissen, meine Damen und Herren, wenn ich dies hier sage, daß trotz aller Erfolge noch eine schwierige Wegstrecke vor uns liegt und daß Umstrukturierungen und Neuaufbau noch lange nicht abgeschlossen sind. Wir wissen auch, daß vor allem die Männer und Frauen in den neuen Ländern in diesen fünf Jahren viele Opfer bringen mußten, vor allem auch die völlige Veränderung ihrer persönlichen Lebensverhältnisse nicht nur erfahren und manchmal erleiden, sondern auch selbst neu gestalten mußten. Wer einmal in den großen Industriekombinaten, etwa im Chemiedreieck, in Leuna, Bitterfeld oder Halle, war und dort mit Betriebsräten, Betriebsleitern und den Belegschaften gesprochen hat, der hat eine Vorstellung davon, was in diesen wenigen Jahren den Menschen zugemutet wurde und was sie sich selbst zugemutet haben.
Deswegen will ich ein besonderes Wort des Dankes gerade denjenigen sagen, die vor Ort diese Verantwortung getragen haben: Betriebsratsvorsitzende,
Unternehmensleiter, die in einer Weise Verantwortung übernommen haben, wie wir sie selten im westlichen Teil Deutschlands in diesen Jahren erlebt haben.
Wir haben neben den Problemen, die in diesen Jahren mit dem Zusammenbruch der Märkte im Osten Europas, vor allem der früheren Sowjetunion, über Nacht zu erwarten waren, noch eine weitere Verschärfung der Situation vor allem auch mit der Folge der Arbeitslosigkeit erfahren. Dies alles gehört in dieses Bild. Unter kaum einer anderen Erblast des SED-Regimes hatten die Menschen so sehr zu leiden. Deswegen war und ist in diesem Felde besondere Solidarität geboten. Von 1991 bis 1994 sind im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung 240 Milliarden DM von West nach Ost geflossen. Mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Maßnahmen der Fortbildung konnte Millionen von Menschen geholfen werden. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es seit der zweiten Jahreshälfte 1993 eine spürbare Aufwärtsentwicklung. Seit dem Tiefstand der Beschäftigung hat sich die Zahl der Erwerbstätigen um rund 240 000 erhöht.
Gewinner der deutschen Einheit - das sage ich mit Nachdruck - sind in den neuen Ländern die Rentner. Wir haben eine selbstverständliche moralische Verpflichtung gegenüber der Generation gesehen, die zuerst unter dem Krieg und dann unter der kommunistischen Diktatur zu leiden hatte. Am 30. Juni 1990 betrug die Rente höchstens 600 Mark Ost. Das war ein Drittel der verfügbaren Rente eines Durchschnittsverdieners in den alten Bundesländern nach über 40 Versicherungsjahren. Heute erhält ein Rentner in den neuen Bundesländern bei gleichem beruflichem Werdegang wie ein Rentner im Westen mit über 1 500 DM fast 80 % der Westrenten. Die Rentenausgaben in den neuen Bundesländern erhöhten sich von knapp 17 Milliarden Mark Ost im Jahre 1989 auf über 69 Milliarden DM in diesem Jahr. Ich halte dies für eine der größten sozialen Leistungen in der Geschichte unseres Landes.
Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung hat das Gesundheitswesen der neuen Länder im wesentlichen das Niveau Westdeutschlands erreicht. Die Patienten können heute ihren Arzt frei wählen, und sie haben Zugang zu moderner Medizintechnik, zu allen Arzneien, Heil- und Hilfsmitteln. Sie kommen jetzt in den Genuß von Leistungen, die in der DDR-Zeit oft nur einer kleinen Gruppe von Privilegierten vorbehalten waren.
Das jahrzehntelange sozialistische Wirtschaften hat zu schlimmen Belastungen von Boden, Luft und Wasser geführt. Um die Planziele zu erreichen, wurden gravierende Gesundheits- und Umweltschäden in Kauf genommen. Wir konnten die ökologischen Belastungen erheblich vermindern und viele Umweltschäden sanieren. Aber, meine Damen und Her-
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
ren, gerade auf diesem Feld ist noch viel zu tun. Die Bewahrung der Schöpfung ist nicht zuletzt Ausdruck unserer Verantwortung gegenüber künftigen Generationen.
Die Jungen in Deutschland haben heute die begründete Aussicht auf ein Leben in Frieden und Freiheit. Wann je war das in der jüngeren deutschen Geschichte der Fall? Für die persönliche Lebensplanung junger Menschen ist eine gute Ausbildung von zentraler Bedeutung. Es ist deshalb ganz besonders wichtig, daß jedem Jugendlichen, der dies wünscht und der die Anforderungen erfüllt, ein Ausbildungsplatz angeboten wird. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben, daß es in den alten wie in den neuen Bundesländern Jahr für Jahr gelungen ist, eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügung zu stellen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es gibt keinen Grund, die noch vor uns liegenden Herausforderungen zu unterschätzen oder gar den Aufbau Ost für abgeschlossen zu erklären. Aber es gibt auf der anderen Seite auch überhaupt keine Berechtigung, weltweit anerkannte Fortschritte zu zerreden und Pessimismus zu verbreiten.
Die beispiellose Dynamik in den neuen Ländern sollte uns allen Ansporn sein, mit Realismus und Zuversicht auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Nach wie vor sind die neuen Bundesländer die stärkste Wachstumsregion in Europa. Im ersten Halbjahr 1995 ist das Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahreszeitraum um rund 7 % gestiegen. Erst kürzlich hat die OECD in ihrem Deutschland-Bericht vorausgesagt, daß dies auch weiterhin so bleibt. Bis Ende 1995 werden seit der Wiedervereinigung aus öffentlichen Kassen über 600 Milliarden DM in die neuen Länder geflossen sein. Das ist eine unvorstellbar große Summe, und das wird auch weltweit anerkannt.
Aber diese Zahlen sagen für sich allein noch nichts aus. Hinter diesen Zahlen steht die gemeinsame Kraftanstrengung der Menschen aus den neuen wie aus den alten Ländern, die mit Entschlossenheit, Leistungswillen und Mut zur Zukunft den Neuanfang im Osten der Bundesrepublik gestalten. Jenen, die ständig über Dauer und Finanzierung des Aufbaus Ost klagen, halte ich ganz einfach entgegen: Wer ja sagt zur deutschen Einheit, darf die notwendige Aufbauhilfe nicht verweigern. Jede D-Mark, die dort ausgegeben wird - das vergessen manche, die so reden -, ist eine Investition in eine gemeinsame gute Zukunft aller Deutschen.
Ich bin sicher, meine Damen und Herren, daß wir die
materiellen Fragen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit lösen werden. Ich sage allen: Es mag
sein, daß die Zeitachse sehr unterschiedlich ist und daß dieses und jenes länger dauert. Aber für mich ist sicher, daß wir es schaffen. Entscheidend wird sein, daß wir in Deutschland, egal, woher wir kommen, wo wir unsere Heimat haben, aufeinander zugehen und begreifen, daß wir wieder in einem gemeinsamen Vaterland leben, und daß diejenigen, die wie ich das Glück hatten, zeit ihres Erwachsenenlebens in Freiheit leben zu dürfen, dabei den größeren Schritt machen und auf unsere Landsleute in den neuen Ländern zugehen müssen, daß wir - ich sage es noch einmal ganz einfach formuliert - mehr mit- und weniger übereinander reden. Das scheint mir eine der entscheidenden Voraussetzungen zu sein.
Der größte Gewinn für uns alle ist die Einheit in Freiheit. Die Freiheit ist nicht bezahlbar. Ihren wahren Wert kann nur derjenige erfassen, der Unfreiheit erfahren hat. Deshalb müssen auch künftige Generationen wissen, was Mauer und Schießbefehl bedeutet haben, damit sich ähnliches nie mehr wiederholt.
Ich nehme für mich nicht das Recht in Anspruch, jene zu verurteilen, die sich unter den damaligen Verhältnissen in der DDR angepaßt haben. Ich weiß nicht, wie ich persönlich mich verhalten hätte, wäre ich in Leipzig statt in Ludwigshafen geboren und aufgewachsen. Ich bin gegen pauschale Verdächtigungen.
Sie werden dem Alltag unter dem SED-Regime nicht gerecht.
Wir Deutsche müssen unsere Vergangenheit in Ost und West als gemeinsames Erbe annehmen. Wir sind aufgerufen, uns ehrlich mit der ganzen deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Nur mit Offenheit und Wahrhaftigkeit können wir wirklich zueinander finden.
Die Menschen in den neuen Ländern verdienen Respekt für die Lebensleistung, die sie unter den Bedingungen des DDR-Regimes erbracht haben. Zu diesem Respekt gehört, daß die Deutschen im Westen mehr Verständnis für die Unsicherheiten und Belastungen aufbringen, die diese gewaltigen Umstellungen im Osten Deutschlands bedeuten.
Aber - das gehört auch ins Bild - auf der anderen Seite müssen die Deutschen in den neuen Ländern verstehen, daß beispielsweise der Wohlstand in der alten Bundesrepublik nicht über Nacht vom Himmel gefallen ist und daß das sogenannte Wirtschaftswunder der 50er Jahre das Ergebnis einer jahrelangen Aufbauleistung von Millionen fleißiger Menschen im Westen auf der Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft war.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
- Auf diesen Gedanken bin ich bei Ihnen nie gekommen.
Herr Abgeordneter, wenn Sie vielleicht weniger emsig in Wort und Schrift gewesen wären, hätten Sie es heute leichter.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der 3. Oktober 1990 war der Beginn einer neuen und glücklichen Periode in der Geschichte unseres Volkes. Gemeinsam haben wir die Gunst der historischen Stunde genutzt. Die über vier Jahrzehnte währende Teilung hatte uns stärker voneinander entfernt, als die meisten von uns - auch ich - damals angenommen haben. Aber wo heute Bayern und Sachsen, Mecklenburger und Rheinländer einander begegnen, ist die innere Einheit unseres Vaterlandes schon gelebte Wirklichkeit. Dies ist - ich will es hervorheben - beispielsweise bei der Bundeswehr der Fall. Die Integration unserer Streitkräfte und das Miteinander der Soldaten sind ein großer Erfolg, und ich danke allen, die dazu beigetragen haben.
Die innere Einheit, nach der wir streben, ist nicht Einheit in Gleichförmigkeit, sondern Einheit in Vielfalt. Richard Schröder, der Vorsitzende der SPD-Fraktion in der frei gewählten Volkskammer, hat dies kürzlich in folgenden Worten zum Ausdruck gebracht:
Wenn sich Ostdeutsche und Westdeutsche so gut - und so schlecht - verstehen wie Ostfriesen und Bayern, ist die Einigung gelungen.
Probleme werden wir dann trotzdem noch reichlich haben. Denn unsere deutschen Einigungsprobleme sind wahrhaftig nicht die größten in der Welt.
Jeder von uns, meine Damen und Herren, ist seiner Heimat besonders verbunden, und das ist gut so. Deutschland ist unser Vaterland und Europa unsere Zukunft. Wir Deutsche würden vor der Geschichte versagen, wenn wir jetzt in unserem Einsatz für das vereinte Europa nachließen. Es geht dabei um Wohlstand und soziale Sicherheit, aber vor allem - ich betone: vor allem - geht es um den Frieden und die Freiheit für künftige Generationen.
Ich habe keinen Zweifel daran, daß wir die Aufgaben meistern werden. Wir haben gute Grundlagen für einen gemeinsamen Aufbruch in die Zukunft gelegt. Jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen, um ganz Deutschland, unsere Bundesrepublik Deutschland, fit zu machen für das kommende Jahrhundert.
Deutschland wird seine schöpferischen Energien für Werke des Friedens und der Freiheit und der Gerechtigkeit einsetzen. Es wird ein Ort guter Nachbarschaft sein und in der Völkergemeinschaft als zuverlässiger Freund handeln und auftreten. Dieses Ziel, meine Damen und Herren, ist jede Anstrengung wert.
Es spricht jetzt der Vorsitzende der Fraktion der SPD, Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Deutschen sind mit ihren staatlichen Möglichkeiten selten so verantwortungsbewußt umgegangen wie bei der Vereinigung am 3. Oktober 1990.
Wenn wir an diesem fünften Jahrestag zurückdenken, dann denken wir an einen Epochenbruch, aber auch daran, daß jene Anerkennung verdient haben, die entscheidend zum ersehnten Ziel der deutschen Vereinigung beigetragen haben.
Mit großem Respekt erinnern wir an die demokratische Opposition, aber auch an jene Menschen, die ausgewiesen wurden, noch mehr an jene, die in den Gefängnissen leiden mußten, an jene Menschen, die in zunächst kleiner und dann wachsender Zahl und unter großen persönlichen Opfern der kommunistischen Repression trotzten und für politische Freiheit und Menschenrechte eintraten.
Unser Dank gilt der evangelischen Kirche, in der eine Vielzahl von Gemeinden und Synoden in vielfältiger Weise Freiheitsräume erschloß, staatliche Bevormundung unterlief und demokratische Bestrebungen förderte.
Ich erinnere an die Ausreisenden, die damals unter großen persönlichen Risiken und teils dramatischen Umständen mit einer großen Fluchtbewegung den Ruf „Wir bleiben hier!" erst zu einer wirklichen Bedrohung in der Diktatur gemacht hatten.
Ich erinnere auch an die Hunderttausenden, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen und mutig den Weg zu freien und demokratischen Wahlen öffneten, die Voraussetzung für die Einheit der Deutschen waren.
Rudolf Scharping
Es ist wahr: Wir sind auch anderen zu Dank verpflichtet: der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, deren Zustimmung die Gewaltfreiheit der SED-Entmachtung erst möglich gemacht hat,
und den Ungarn und Polen - den Ungarn wegen der mutigen Grenzöffnung und den Polen, weil ihre reformerischen Umwälzungen Ermutigung schufen und innerhalb der DDR Reformbewegungen inspirierten.
Wir sind auch und insbesondere unseren westlichen Partnern, unter ihnen besonders den Vereinigten Staaten von Amerika, zu Dank verpflichtet, die entschlossen die deutsche Vereinigung förderten und entscheidenden Anteil am Abschluß des Zweiplus-Vier-Vertrages hatten.
Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, will ich darauf aufmerksam machen, daß die deutsche Einheit erst auf den Grundlagen stabiler Westbindung und vertrauensbildender Ostpolitik möglich geworden ist.
Deshalb sagen wir in allem Freimut: Dazu haben viele beigetragen. Wir wollen weder die Verdienste von Willy Brandt und Helmut Schmidt verschweigen - wir anerkennen sie vielmehr ausdrücklich - noch die Leistungen der damaligen Bundesregierung, des Bundeskanzlers Helmut Kohl und des Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher.
Meine Damen und Herren, in einem solchen, historisch einmaligen, komplexen Prozeß gibt es sicher auch unvermeidbare Fehler; ich konzediere dies ausdrücklich. Neben unvermeidbaren Fehlern allerdings gibt es auch vermeidbare.
Herr Bundeskanzler, wer Ihre Regierungserklärung gehört hat, wird den Eindruck nicht los, daß es Ihnen im wesentlichen um die Verbreitung eines Gefühls, nicht aber um die Formulierung von Politik geht.
Sie haben die Worte „blühende Landschaften" erneut bemüht. Nach unserer Auffassung gehört schon viel dazu, sich erneut auf eine Aussage zu berufen, die quasi als Schlüsselglied für eine Politik der Täuschung und der Übervorteilung der Ostdeutschen steht.
Denn entgegen Ihrer späteren Behauptung, diese Aussage sei nur vor dem Hintergrund zu verstehen, daß die Bundesregierung den tatsächlichen Zustand von Infrastruktur, Kapitalstock oder Arbeitsproduktivität nicht richtig eingeschätzt habe, haben Sie tatsächlich um wahltaktischer Vorteile willen mit der Hoffnung und mit der Erwartung nicht nur der 16 Millionen Menschen im Osten Deutschlands, sondern aller in Deutschland gespielt und die Unwahrheit über das gesagt, was auf die Menschen zukommen würde.
Auch das setzt sich heute fort. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland, namentlich im Osten Deutschlands, ausschließlich auf die Fehler von Planwirtschaft zurückzuführen, ist eine grobe historische Täuschung. Das spielt eine Rolle, erklärt aber längst nicht alles.
Natürlich muß in einem historisch einmaligen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturbruch manches verändert werden. Wir bestreiten nicht, daß dieser radikale Strukturbruch unvermeidbar war. Was wir allerdings bestreiten, ist, daß die Umstände so hätten gestaltet werden müssen, wie sie gestaltet worden sind.
Deshalb möchte ich doch darauf hinweisen, daß sich auf der Grundlage dieser Entwicklung eine erhebliche Veränderung vollzogen hat.
Man kann verstehen, daß in einem solchen Umbruch auch Mißmut, Enttäuschung und Unzufriedenheit entstehen. Aber eine solche Diagnose bleibt unvollständig und oberflächlich, wenn man nicht auch zur Kenntnis nimmt, daß sich im Osten Deutschlands eine bedrohlich veränderte Stimmung entwickelt hat.
Im Juli 1995 haben - demoskopischen Umfragen zufolge - viele Ostdeutsche gesagt, daß das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht gerecht sei. 50 % der Befragten im Osten hielten die Ordnung in der DDR, aber nur noch 38 % die Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland für gerecht. Während 1990 noch die große Mehrheit der befragten Ostdeutschen die Ursache für das Scheitern des DDR-Sozialismus im System selbst und nur
Rudolf Scharping
36 % in der Unfähigkeit der Politiker sahen, hat im Juli 1995 der Anteil derer, die die Politik und nicht das System für das Scheitern verantwortlich gemacht haben, mit 79 % eine geradezu erschreckende Größe erreicht.
Meine Damen und Herren, wer das nicht zur Kenntnis nehmen will, der weigert sich, Realität, Gefühl und Emotionen von Menschen zur Kenntnis zu nehmen.
Es ist geradezu unfaßbar, wie die Freude und die Begeisterung der Menschen in Deutschland, auch der Menschen im Osten Deutschlands, über das Ende des DDR-Sozialismus in eine Stimmung umgeschlagen sind, die man als zwiespältig, in der Tendenz allerdings als eindeutig beschreiben muß. Das ist eine Stimmung, die viel mit enttäuschten Hoffnungen zu tun hat.
Selbst wenn man konzediert - was ich ausdrücklich tue -, daß es in einem solchen Prozeß unvermeidbare Fehler gibt, so ist doch darauf hinzuweisen, daß es von Anfang an auch Stimmen gegeben hat, die nachdrücklich und - wie sich herausgestellt hat - zu Recht auf vermeidbare Fehler und falsche Weichenstellungen hingewiesen haben.
Von Anfang an haben Vertreter der Opposition in der damaligen DDR auf die Größe, die Langwierigkeit und auch auf die immensen Kosten des Umstellungsprozesses hingewiesen. Der damalige Finanzminister Romberg ist auf Grund des politischen Drucks aus der Regierung im Westen Deutschlands entlassen worden, obwohl seine Zahlen damals wesentlich näher an der Realität waren als die der Bundesregierung.
Man fragt sich: Wo ist denn ein Wort des Bedauerns z. B. gegenüber einem ehrlichen Mann, der genau - jedenfalls wesentlich genauer als diese Bundesregierung - gesehen hat, welche Aufgaben auf uns zukamen, welche finanziellen Leistungen das erforderte? Ich finde, es gehörte zur Souveränität einer Bundesregierung, die damals die Entlassung dieses Mannes bewirkt hat, wenigstens heute ein kleines Wort des Bedauerns wegen dieser groben Fehlentscheidung auszusprechen.
Das ist, Herr Bundeskanzler, nicht nur eine Frage der menschlichen Anständigkeit; es ist auch eine Frage der politischen Klarheit. Ihr ehemaliger Finanzstaatssekretär Köhler hat jüngst in einem bemerkenswerten Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit" folgendes formuliert:
Schon vor der Bundestagswahl im Oktober 1990 war klar, daß es nicht ohne Einnahmeverbesserungen gehen würde. Die Politik hat halt aus Gründen der politischen Opportunität entschieden, diese Erkenntnis nicht in den Vordergrund zu rücken.
Den Prozeß der deutschen Einheit, seine Enttäuschungen und Frustrationen kann man trotz aller Erfolge nicht beschreiben, wenn man nicht hinzufügt, daß im Jahr 1990 bewußt getäuscht worden ist, wie der damalige Finanzstaatssekretär ausdrücklich sagt.
Das hat auch mit der Finanzierung der deutschen Einheit auf Pump zu tun. Sie wird zu einer immensen Hypothek für künftige Generationen und zugleich für eine Belastung des europäischen Integrationsprozesses sorgen.
Meine Damen und Herren, mit diesen Weichenstellungen begann eine Reihe von Fehlentscheidungen strategischer Art, die man der Bundesregierung anlasten muß und die man nicht allein auf den Zustand der damaligen DDR zurückführen kann.
Diese Fehlentscheidungen haben viele Millionen Menschen in eine tiefe Existenzkrise gestürzt und vor allen Dingen tiefe Zweifel an der Redlichkeit der Politik hervorgerufen.
Es war - ich sage es noch einmal: im Rahmen eines notwendigen und unvermeidbaren Strukturbruches - eine Schocktherapie ohne wirkliche Flankierung. Industrielle Arbeitsplätze sind zusammengebrochen, 3,5 Millionen Arbeitsplätze gingen verloren. Es war im Zuge dieser strategischen Fehlentscheidungen konsequent, der Treuhandanstalt anfangs nur einen Privatisierungsauftrag zu erteilen, der sich aber in der Praxis häufig als Liquidationsauftrag erwies.
Meine Damen und Herren, wer 1989/1990 als Epochenbruch beschreibt und in der gegenwärtigen Diskussion hinzufügt, daß der Wandel in der Weltwirtschaft, mindestens die Europäisierung, häufig die Globalisierung des Wirtschaftens, ungehemmt voran-
Rudolf Scharping
schreitet, muß zugleich die Frage beantworten: Soll es die Leitlinie der Politik sein, die soziale Integration zu stärken - dann hätten wir eine vernünftige Leitlinie für die Gestaltung des deutschen Einigungsprozesses in der Zukunft -, oder wollen wir ignorant die falschen Weichenstellungen weiterverfolgen? Denn eine bloß auf Unternehmen und Erträge - so notwendig das alles ist - orientierte Politik wird am Ende nicht fähig sein, die soziale Erosion der Gesellschaft und auch den tiefen emotionalen und kulturellen Graben, den es in Deutschland immer noch gibt, zu überwinden.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat den strukturpolitischen Handlungsbedarf unterschätzt und war in seiner Aufmerksamkeit wohl auch zuwenig auf den Aufbau in Ostdeutschland konzentriert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Bundeskanzler war stolz auf dessen Sachkunde in internationalen und anderen Finanzfragen. Die Tatsache, daß dieser Mann jetzt ein anderes öffentlich wirksames Amt bekleidet, macht ihn etwas freier. Ich kann durchaus verstehen, daß dieser freie und kritische Geist in der Bilanzierung Ihrer eigenen Tätigkeit - das macht diese Regierungserklärung überdeutlich klar - bei Ihnen ganz und gar unerwünscht ist; denn er müßte zu selbstkritischen Bemerkungen führen.
Herr Bundeskanzler, was Ihr damaliger Staatssekretär Köhler gesagt hat, halte ich für eine vornehme Beschreibung von Inkompetenz und Ignoranz.
Mindestens ebenso verheerend für die wirtschaftliche Lage im Osten Deutschlands hat sich die Entscheidung der Bundesregierung ausgewirkt, die Rückgabe alten Eigentums der Entschädigung für altes Eigentum vorzuziehen.
Daraus ist das Investitionshemmnis Nummer eins im Osten Deutschlands geworden,
mit allen Folgen für den wirtschaftlichen Aufbau und die Arbeitsplätze.
So sehr man sich über gute Entwicklungen freuen kann: Die Bilanz bleibt unvollständig und wird zur Schönfärberei, wenn man auf solche Entwicklungen nicht genauso deutlich hinweist. So, wie Sie damals den Mut und die Bereitschaft zur Solidarität mit der Täuschung, man könne das aus der Portokasse machen, verspielt haben, beginnen Sie erneut, die Bilanz zu fälschen und schönzufärben und damit Mut und Solidarität zu untergraben, Mißmut und Enttäuschung zu fördern. Diese Regierungserklärung ist ein Hinweis darauf.
Die faktische Entindustrialisierung bedeutet für die Ostdeutschen, daß von hundert Erwerbswilligen ein Drittel keine reguläre Arbeit findet, ein Drittel Arbeitsplätze aus Transferleistungen findet und nur ein Drittel Arbeitsplätze aus eigener Wertschöpfung.
Die fehlerhaften Weichenstellungen der Bundesregierung zu Lasten und auf Kosten der ostdeutschen Bevölkerung waren eine Konsequenz aus der falschen gestalterischer Zielsetzung in der Vereinigungspolitik, nämlich einer Ausdehnung der alten Bundesrepublik auf die frühere DDR. Es gab keinen Politikbereich, Herr Bundeskanzler, in dem Sie nicht signalisiert hätten, daß der Osten gefälligst westliche Maßstäbe zu erfüllen habe.
Die politisch-kulturellen Folgen blieben nicht aus. Viele Menschen sahen sich ihrer eigenen Geschichte und Selbstachtung beraubt. Ihnen wurden generell Unterlegenheit und Zweitklassigkeit signalisiert. Das sind Verwerfungen, die das politische und gesellschaftliche Klima zwischen Ost und West in Deutschland nach wie vor stark belasten und die auch zu der beschriebenen Vertrauenskrise im Osten Deutschlands geführt haben.
Es ist diese Ignoranz, diese Geringschätzung von Erfahrungen, die ein politisches Milieu ostdeutscher Befindlichkeit hat entstehen lassen, die einer regionalistischen, regressiven und im Kern unpolitischen Partei einen starken Resonanzboden verschafft. Die relativen Erfolge der PDS sind ein direktes Ergebnis von Vereinigungspolitik, wie Sie sie gestaltet haben.
Wer, Herr Bundeskanzler, die zurückliegenden fünf Jahre bilanziert, wird feststellen: Nach ihren unbestrittenen Verdiensten beim Zustandekommen der deutschen Einheit hat die Bundesregierung, hat der Bundeskanzler bei der Gestaltung der deutschen Einheit schwere Fehler gemacht. Im Streit um die tauglicheren Lösungen gab es bessere Vorschläge.
Unbestreitbar richtig war der Vorschlag, die Finanzierung der deutschen Einheit auf eine allgemeine Grundlage zu stellen und von einer realistischen Einschätzung der Schwierigkeiten auszugehen.
Nachweislich war richtig, die Entindustrialisierung nicht so Platz greifen zu lassen und Vorschläge zur Erhaltung der industriellen Kerne zu machen.
Rudolf Scharping
Nachweislich hatten wir recht, daß ein Sanierungsauftrag für die Treuhand von Anfang an richtiger gewesen wäre als der Privatisierungsauftrag.
Nachweislich hatten wir recht mit der Befürchtung, daß die vorgesehene Behandlung der Eigentumsfrage eine fatale Folge für Investitionen und das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen hätte.
Nachweislich haben wir immer noch recht mit der Forderung, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik geben muß, um Zeit und Zuversicht für die Menschen zurückzugewinnen.
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund stehen wir vor neuen Herausforderungen und neuen Entscheidungen. Wohl wahr, in den letzten fünf Jahren sind über die Steuerkassen hinaus insgesamt rund 1 000 Milliarden DM in die neuen Bundesländer geflossen. Niemand kann seriös voraussagen, wann dieser Prozeß zu einem Ende kommt. Eines aber muß man sagen, und das sage ich Ihnen mit den Worten von Klaus von Dohnanyi: Von einem selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung kann nicht gesprochen werden. Von Dohnanyi schrieb im „Handelsblatt":
Das Wachstum ist immer noch vom Westtransfer geschenkt, und die Ausgangsposition wird durch den dramatischen Einbruch markiert, den die Wirtschaftsunion zwangsläufig auslösen mußte. Von diesem geringen Niveau aus bewirken auch hohe Zuwachsraten nur sehr kleine Schritte in Richtung auf die Angleichung zum Westen. Sehr wenig plus 10 ist zwar mehr, aber zunächst eben doch nur ein wenig mehr.
Meine Damen und Herren, man kann stolz sagen, es gibt hohe Zuwachsraten; aber das bleibt unvollständig und ist schönfärberisch, wenn man nicht das niedrige Niveau und die Tatsache berücksichtigt, daß viele Regionen im Osten Deutschlands in ihrer wirtschaftlichen Kraft hinter den schwächsten Regionen Portugals, Spaniens oder Griechenlands zurückbleiben.
Meine Damen und Herren, die Rede von der dynamisch wachsenden Region ist eine halbe Wahrheit. Der Aufschwung dort steht auf wackeligen Beinen, so wie sich leider auch der Aufschwung in Deutschland etwas abschwächt.
- Das hat, verehrter Herr Kollege, mit Miesmacherei überhaupt nichts zu tun, sondern mit einer ehrlichen Bilanz. Sie werden merken, daß eine ehrliche Bilanz das einzige Mittel ist, Vertrauen zurückzugewinnen, das auf eine fahrlässige Weise verspielt worden ist.
Im übrigen gibt es Leute, die Kassandra einen schlechten Ruf bescheinigen. Aber: Hätten die angeblich klugen Männer auf sie gehört, wäre Troja vermutlich nicht untergegangen.
Es ist nicht richtig, den Eindruck zu erwecken, wir seien schon über den Berg. Es ist auch nicht richtig, den Eindruck zu erwecken, wir könnten auf weitere Finanzhilfen verzichten. Aber mit dem Jahressteuergesetz 1996 wird die steuerliche Förderung von Investitionen ab 1997 um fast ein Drittel gekürzt, ab 1999 soll sie insgesamt auslaufen. Die Investitionsförderung geht um 15 Milliarden DM zurück. Im Bundeshaushalt 1996 kommt es zu massiven Kürzungen. Der Bewilligungsrahmen für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" wird auf 7 Milliarden DM gesenkt. Wer sich den Finanzplan 1995 bis 1999 anschaut, so unseriös er ist, stellt fest, daß weitere massive Einsparungen vorgesehen sind.
Es ist ziemlich absurd, die zehnprozentige Investitionszulage für den innerstädtischen Handel im Jahressteuergesetz zu beschließen - ich füge hinzu: auf unser Drängen -, auf der anderen Seite im Bundeshaushalt die Städtebauförderung um 100 Millionen DM zu kürzen.
Wer den mangelnden überregionalen Absatz ostdeutscher Produkte beklagt, hat recht, denn die ostdeutsche Wirtschaft trägt nur einen ganz geringen Teil zu unserem Export bei. Um so unverständlicher ist es, daß die Absatzförderung um ein Drittel gekürzt wird.
Jeder weiß, daß in Ostdeutschland reichlich Forschungs- und Entwicklungspotentiale vorhanden sind. Gleichzeitig werden die Mittel zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation gekürzt. Jeder redet von der Bedeutung von Umweltschutz, Energiesparen und Fernwärme, gleichzeitig aber werden die Mittel zur Sanierung der vorhandenen Einrichtungen im Bundeshaushalt auf Null gefahren. Es macht keinen Sinn, schöne Ziele zu beschreiben und dann Haushalte zu verabschieden, die nichts von dem einlösen, was in den Zielen beschrieben worden ist.
Wir sagen: Jawohl, die ostdeutsche Wirtschaft braucht massive staatliche Unterstützung. Sie braucht dauerhafte verläßliche Förderung. Ein abgebrochener wirtschaftlicher Aufbauprozeß würde zu noch höheren Arbeitslosenzahlen und im Ergebnis zu einem wachsenden Transfer führen.
Deshalb beschreiben wir fünf Defizite und geben eine Antwort auf sie.
Erstens. Es klafft eine riesige Lücke zwischen dem, was in den neuen Ländern konsumiert wird, und dem, was dort produziert wird. Diese Produktionslücke ist nicht, wie man annehmen könnte, verkleinert worden, sondern sie ist von 155 Milliarden DM auf 211 Milliarden DM gewachsen. Also sagen wir:
Rudolf Scharping
Es muß einen klaren Vorrang geben für die Förderung gewerblich-industrieller Arbeitsplätze und für die Stärkung des Mittelstandes im Osten Deutschlands.
Zweitens. Das Bruttoanlagevermögen pro Kopf der Bevölkerung ist im Osten heute nur halb so groß wie im Westen Deutschlands. Die Produktivität der Arbeitnehmer erreicht deshalb nur etwas über 50 % des westdeutschen Niveaus. Die Lohnstückkosten freilich liegen 30 % über dem westdeutschen Niveau. Deshalb sagen wir: Es wäre dringend erforderlich, daß diese Bundesregierung endlich eine Politik betreibt, die die Gesamtheit der Produzenten von den Kosten der Einheit entlastet und die Einheit so finanziert, wie es richtig ist, nämlich durch die Gesamtheit der Steuerzahler. Dazu hat Ihnen immer der Mut und immer die Konsequenz gefehlt.
Drittens. Die hohe Arbeitslosigkeit ist Ergebnis und Ausdruck des wachsenden Maßes an Unterbeschäftigung. Es ist nicht richtig, wenn die Statistik signalisiert, nur 13 % der Bevölkerung seien arbeitslos. Tatsächlich haben über 30 % der Menschen keine reguläre Arbeit. Wer verhindern will, daß eine weitere Auszehrung stattfindet, daß immer mehr Jüngere in den Westen Deutschlands wandern, daß andere ihre Heimat verlassen, wer verhindern will, daß daraus auch massive Folgen für die westdeutschen Gemeinden und Länder bei den öffentlichen Einrichtungen und bei der Infrastruktur entstehen, der muß dafür sorgen, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik gibt. Sich hier hinzustellen und zu behaupten, jeder habe einen Ausbildungsplatz gefunden,
das ist nicht nur eine Schönfärberei, Herr Bundeskanzler, sondern ein Hohn gegenüber den Zehntausenden junger Leute, die bis zuletzt mühsam darum gerungen haben, überhaupt eine Chance zu bekommen.
Viertens. Die ostdeutsche Wirtschaft ist zuwenig exportorientiert; folglich wird man hier helfen müssen. Die lediglich 12 Milliarden DM Exporterlöse der ostdeutschen Wirtschaft reichen nicht aus. Folglich sollten Sie mithelfen und Ihre Mehrheit dafür einsetzen, daß die Absatzförderung, die Exportförderung und vieles andere nicht gekürzt, sondern aufgestockt werden.
Fünftens. Im Osten Deutschlands erleben wir eine Pleitewelle, die mittlerweile die Erfolge der ersten Existenzgründungswelle zunichte zu machen droht. Es gibt nach wie vor zuwenig Unternehmer. Es gab einen Gründungsboom Anfang der 90er Jahre. Aber jetzt sind die Nettogewerbeanmeldungen im Osten
Deutschlands um 90 % zurückgegangen. Managementfehler, unzureichendes Marketing - das alles kann man beklagen. Vor allen Dingen aber ist die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen zu schwach. Eine Bundesregierung, die noch nicht einmal in der Lage ist, in Berlin ihre öffentlichen Bauaufträge unter der Bedingung zu vergeben - wie der Berliner Senat es tut -, daß Menschen anständige Tariflöhne gezahlt bekommen, ruiniert Unternehmen und Arbeitsplätze. Das ist das praktische Ergebnis Ihrer Politik.
Meine Damen und Herren, eine Bilanz fünf Jahre nach der deutschen Einheit bleibt unvollständig, wenn sie sich nur auf das Gefühl und nur auf die unbestreitbar guten Entwicklungen bezieht. Es gibt erhebliche Schwierigkeiten. Sie zu nennen ist die Voraussetzung dafür, daß sich Kraft entfaltet, um sie zu überwinden. Der Satz von Willy Brandt, daß zusammenwächst, was zusammengehört, ist unverändert richtig und bleibt Richtschnur unseres Handelns. Bei all den Schwierigkeiten und komplizierten Entwicklungen sagen wir: Wir brauchen Zeit. Folglich brauchen wir auch Geduld, vor allen Dingen im Osten Deutschlands, und Solidarität im Westen Deutschlands.
Wenn wir dazu auffordern, dann tun wir das in dem Bewußtsein, daß die schlimmen und tiefen Folgen der Spaltung im Inneren überwunden werden müssen und überwunden werden können im Interesse einer stabilen Demokratie und einer anerkannten Rechtsordnung, die Eckpfeiler inneren Friedens und Wohlstandes sind. Was wir aber ebenfalls brauchen, ist eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung, die auf der enormen Anpassungsleistung der Ostdeutschen und auf der großartigen Teilungsbereitschaft der Westdeutschen aufbaut.
Es kann gelingen, eine gesamtdeutsche Wirklichkeit zu gestalten, die ein besseres Deutschland bewirkt. Wenn wir eines Tages nicht mehr von „Westdeutschen" und „Ostdeutschen" im Sinne eines Spaltungsmerkmales reden, dann haben wir viel erreicht.
Zur Vollendung der deutschen Einheit auch auf politisch-kulturellem Gebiet hat Günter Kunert jüngst einen richtigen Hinweis gegeben. Er sagte:
Es will auch mir nicht einleuchten, warum so etwas wie eine Ausschaltung von Gegensätzen und Widersprüchen wünschenswert sei - eine Harmonie, die ausschließlich durch Uniformität zu gewinnen wäre, eine mentale Gleichheit, wie sie nur für Zombies vorstellbar ist. Unsere Werturteile und unsere Vorurteile werden wir ohnehin nicht los. Wir müßten nur mit ihnen gelassener umgehen.
Rudolf Scharping
Auch wenn es vielen in Deutschland schwerfällt: Gelassenheit und Entschlossenheit auf der Grundlage einer realistischen Bilanz, auf der Grundlage des festen Willens, begangene Fehler konsequent zu korrigieren, sind die Voraussetzungen dafür, daß wir Schaffenskraft und Gestaltungswillen der Bürgerinnen und Bürger weiter wecken und fördern. Beides brauchen wir in Deutschland mehr denn je.
Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich ist mir an diesem Tag und bei diesem Anlaß nicht zum Streiten zumute.
Ich finde, die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit ist auch nach fünf Jahren Grund zur Freude und Dankbarkeit.
Deswegen, Herr Bundeskanzler, möchte ich Ihnen für die CDU/CSU-Fraktion für Ihre Regierungserklärung danken und unsere Zustimmung ausdrücken. Sie haben vielen gedankt, die in den dramatischen Monaten 1989/90 Entscheidendes dazu beigetragen haben, daß die Einheit gelungen ist. Ich füge hinzu: In diesen Dank schließe ich ausdrücklich Bundeskanzler Helmut Kohl ein, ohne dessen mutiges Zupacken wir die Einheit auch nicht erreicht hätten.
Natürlich muß man immer zwischen Mut und Mißmut unterscheiden können. Für ein so großes Werk, wie nach 45 Jahren der Teilung und Sozialismus in einem Teil Deutschlands in kurzer Zeit die Einheit, Soziale Marktwirtschaft, wirtschaftlichen Wohlstand, soziale Sicherheit in ganz Deutschland herzustellen, braucht man mehr Mut als Mißmut. Deswegen sind wir mehr für die Regierungserklärung als für das, was Herr Scharping als Kontrastprogramm geboten hat.
Herr Kollege Scharping, ich will wirklich nicht noch einmal den Wahlkampf des Jahres 1990 führen. Sie haben mich in Ihrer Rede streckenweise an Ihren Vorgänger als gescheiterten Kanzlerkandidaten aus dem Jahre 1990 erinnert. Dieser hat damals in der Ratifizierungsdebatte zum Einigungsvertrag eine Dreiviertelstunde geredet. Aber er hat nicht einmal ja zur Einheit gesagt. Man mußte sich wirklich wundern, wozu er redet. So ähnlich war es auch bei Ihnen.
Wenn Sie aber am Anfang Ihrer Rede - das muß zurückgewiesen werden - von einer Politik der Täuschung und der Übervorteilung gesprochen haben,
dann muß ich Sie doch einmal fragen: Wie ist es denn 1989/90 gewesen? Kaum war die Mauer offen, haben die Sozialdemokraten von Wiedersehen statt von Wiedervereinigung gesprochen. Dann kam Herr Lafontaine und wollte das Aufnahmeverfahren für Übersiedler stoppen, damit der Prozeß möglichst wieder unterbrochen wird.
Dann ist man in der damaligen DDR herumgereist und hat gesagt: Es ist viel zuwenig, was der Westen zahlt. Gleichzeitig hat man im Westen gesagt: Es wird viel zu teuer.
Herr Romberg ist doch nicht auf Druck der Bundesregierung abgelöst worden, sondern auf Druck von Herrn Lafontaine.
- Herr Thierse, Sie wissen es ganz genau.
Deswegen will ich Sie daran erinnern. Auf Druck von Herrn Lafontaine ist Richard Schröder als Vorsitzender der SPD-Fraktion in der Volkskammer an die Seite geschoben worden, weil man aus der Großen Koalition und der gemeinsamen Verantwortung in der damaligen DDR herauswollte.
Ich nutze gerne die Gelegenheit, Lothar de Maizière und Günther Krause für ihren Beitrag zur deutschen Einheit zu danken.
Ich will es in aller Ruhe sagen. Zu einer ehrlichen Bilanz gehört auch, daß man über die Probleme, über das, was noch zu schaffen ist, redet. Aber man darf bei der ehrlichen Bilanz auch nicht vergessen, was erreicht worden ist und welches die ungeheuren Vorteile sind. Auch das muß gesagt werden, sonst ist es keine Bilanz, sonst ist es Miesmacherei. Mit Miesmacherei gewinnen wir die Zukunft nicht.
Zu der Bilanz gehört beispielsweise, daß sich die Menschen in Deutschland wieder frei bewegen können. Was das bedeutet, wissen die Menschen in Berlin noch sehr genau. Selbst ich kann mich noch erinnern, was es bedeutet hat, wie man aufgeatmet hat, wenn man aus dem Ostsektor wieder im Westen war oder wenn man auf der Interzonenbahn die Kontrolle hinter sich gebracht hatte.
Wir beklagen manchmal zu Recht ein Übermaß an Perfektionismus unseres Rechtsstaates. Aber den Druck, den man empfunden hat, wenn man in einem System war, wo kein Rechtsstaat herrschte, wo man
Dr. Wolfgang Schäuble
Willkür ohnmächtig ausgeliefert war, sollte man nicht vergessen. Deswegen sollte man unser System freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit bewahren und für die Zukunft vital erhalten.
Die Menschen können sich wieder frei von Bespitzelung, Angst und Unterdrückung in den neuen Bundesländern fühlen. Sie brauchen nicht mehr Angst zu haben, daß bis in den privaten Bereich Arbeitskollegen, Nachbarn, Freunde, selbst Ehepartner Spitzel sind. Das alles sind ungeheure Vorteile. Wir sollten sie bei der Bilanz an diesem Tag nicht vergessen.
Wahr ist auch, daß die wirtschaftlichen Probleme, die sich mit der Aufgabe stellten, quasi von einem Tag auf den anderen aus einem gescheiterten, maroden, bankrotten System des real existierenden Sozialismus eine Soziale Marktwirtschaft zu schaffen und die Menschen in kurzer Zeit an das Niveau von Wohlstand und sozialer Sicherheit, das sie aus dem Westen kannten und für sich mit der Wiedervereinigung erwarteten, heranzuführen, die grundstürzenden Veränderungen bedingten, die die Menschen im Osten mehr als wir im Westen aushalten müssen.
Deswegen ist das alles schwieriger geworden, als wir uns das 1990 vorgestellt haben und als wir 1990 geglaubt und gesagt haben. Ich habe es mir so schwer und so kostenintensiv 1990 auch nicht vorgestellt. Das kann man doch heute, fünf Jahre danach, bekennen. Aber es gehört auch dazu, daß es vor drei Jahren niemand für möglich gehalten hätte, daß wir im Jahre 1995 mit dem Aufbau im Osten und in ganz Deutschland wirtschaftlich so gut vorangekommen sind, daß die D-Mark stabil geblieben ist, die öffentlichen Haushalte nicht überlastet sind, wir dauerhaftes Wachstum haben und die Kriterien des Vertrags von Maastricht erfüllen. Dies alles hat vor drei Jahren kaum jemand für möglich gehalten.
Weil Sie, Herr Scharping, den früheren Kollegen von Dohnanyi erwähnt haben: Er hat einen Beitrag zur deutschen Einheit mit „Kein Grund für schlechte Laune" überschrieben. Ich hätte ihm gewünscht, daß Sie wenigstens die Überschrift zur Kenntnis nehmen.
Wahr ist auch, daß wir die Anstrengungen fortsetzen müssen. Deswegen behält der Aufbau Ost Vorrang in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der CDU/ CSU-Fraktion und, ich meine, der ganzen Koalition. Deswegen werden wir auch die Förderung von Investitionen, insbesondere im industriellen Bereich, in den neuen Bundesländern fortsetzen. Wir müssen uns stärker auf den industriellen Bereich konzentrieren; denn im Einzelhandel brauchen wir die Investitionsförderung nicht mehr so sehr, im industriellen Bereich haben wir aber nach wie vor einen starken Rückstand.
Herr Kollege Scharping, wenn Sie von „hohen Zuwachsraten auf niedrigem Niveau" sprechen, dann gehört zur Wahrheit doch auch das niedrige Niveau,
auf dem sich die hohen Zuwachsraten erfüllen. Dafür war das gescheiterte System des Sozialismus in der früheren DDR verantwortlich. Für die hohen Zuwachsraten, die wir jetzt haben, ist die Soziale Marktwirtschaft verantwortlich. So einfach ist das. Deswegen müssen wir den Weg der hohen Zuwachsraten fortsetzen.
Deswegen brauchen wir übrigens auch in der Zukunft die solidarische Hilfe aller Bundesländer.
Zu der Wahrheit des Jahres 1990 und auch der fünf Jahre seit der Vereinigung gehört, daß die Solidarität unter den Bundesländern auf dem Weg zur Vollendung der deutschen Einheit insgesamt noch ein Stück weit besser hätte sein können. Was die westdeutschen Länder beim Solidarpakt zum Teil gemacht haben, ist kein Ruhmesblatt. Damals sind Sie noch auf der Seite der Länder gesessen, Herr Scharping. Sie haben den Bund und die Steuerzahler kräftig ausgenommen, aber relativ wenig für den Aufbau Ost getan.
- Natürlich ist das wahr.
Ich könnte Ihnen auch noch vorhalten, was Ihre Kollegen gesagt haben, bei Herrn Schröder in Hannover angefangen, der gesagt hat „Keine Mark von niedersächsischen Steuerzahlern für den Aufbau Ost", bis zu Herrn Lafontaine, der schon seit dem Jahre 1989 und seitdem immer wieder nicht die Solidarität in Deutschland gefördert hat, sondern das Gegenteil getan hat. Am Ende hat man sich zu Lasten des Bundes und zu Lasten der Steuerzahler allenfalls auf Minimalkompromisse geeinigt.
Dieser Weg wird fortgesetzt. Noch immer haben wir die Gewerbekapitalsteuer in Deutschland nicht abgeschafft. Wir müssen sie aber abschaffen, damit die Investitionen in ganz Deutschland vorankommen und wir diese Steuer nicht auch noch in den neuen Bundesländern einführen müssen.
Zu der erbärmlichen Kampagne, die Ministerpräsident Eichel zu Beginn dieses Jahres im Landtagswahlkampf von Hessen mit der angeblichen Verschwendung von Steuergeldern beim Aufbau Ost geführt hat, sage ich:
So viele Steuergelder, wie Herr Eichel sie für seine Dienstvilla verschwendet hat, hat im Verhältnis dazu kaum jemals ein anderer verschwendet.
Dr. Wolfgang Schäuble
Das zeigt, daß Sie jede Gelegenheit nutzen, um die Menschen auseinanderzutreiben. Wir brauchen aber mehr Kraft für die Arbeit im Rahmen der Einheit. Deswegen sagen wir auch: Wir müssen die Anstrengungen solidarisch fortsetzen, um den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern, vor allem im industriellen Bereich, rasch so weit voranzubringen, daß wir ein vergleichbares Niveau mit dem Westen erreichen. So lange werden wir auch auf den Solidaritätszuschlag nicht vollständig verzichten können. Wir hoffen, daß wir ihn bald ein Stück abbauen können. Wir brauchen ihn aber so lange, bis wir im Osten im wesentlichen gleiche wirtschaftliche und soziale Verhältnisse erreicht haben.
Wer nicht bereit ist, die notwendige Solidarität zu zeigen, der versündigt sich an der Einheit.
Ich finde, wir sollten uns aus der Bilanz, aus dem Vergleich dessen, was erreicht worden ist, die Kraft bewahren, auch weiterhin solidarisch die erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen. Die größeren Anstrengungen, die mit der deutschen Einheit verbunden sind, bestehen doch letztlich in den ungeheuren Veränderungen, die die Menschen in den neuen Bundesländern, für die sich die grundlegenden Lebensverhältnisse in kurzer Zeit dramatisch verändern, aushalten müssen. Ich sage: Zu einer kritischen Bilanz fünf Jahre nach der deutschen Einheit würde für mich eher gehören - dazu habe ich von Herrn Scharping gar nichts gehört -, daß wir vielleicht im Westen die Chance der Erneuerung, die uns die deutsche Einheit geboten hat, nicht hinreichend genutzt haben.
Ich habe früh gesagt: Die Bereitschaft, durch Teilen die Teilung zu überwinden, wird sich vor allen Dingen darin bewähren müssen, daß wir auch im Westen bereit sind, Veränderungen mitzutragen und zu ertragen. Das ist eine Chance für ganz Deutschland. Wenn wir so wie die Sozialdemokraten und Rot-Grün jeden Besitzstand nur tabuisieren und jede Veränderung blockieren, werden wir die Zukunft verspielen.
Deswegen ist die größte Chance, die die deutsche Einheit uns allen eröffnet, die Chance zu begreifen, daß wir mit einem größeren Maß an Innovation, mit einem größeren Maß an Veränderungsbereitschaft, mit einem größeren Maß an Mut und nicht an Mißmut, auch liebgewordene Besitzstände auf den Prüfstand zu stellen, eine bessere Chance für eine gute Zukunft für alle Deutschen in West, Ost, Nord und Süd haben werden. Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen.
Es wird von vielen gesagt - man kann es an einem solchen Tag noch einmal sagen -: Im Osten hat der ganz eigene Lebensweg in diesen 40 Jahren vieles an Schwierigkeiten mit sich gebracht: die Introvertiertheit der Menschen, die eingesperrt waren, die nicht mit ausländischen Mitbürgern zusammengelebt haben und keinen Austausch mit dem Ausland hatten, mit dem Westen nicht, selbst mit Polen war der Austausch aus der Bundesrepublik intensiver als aus der DDR.
Aber im Westen haben wir uns in 40 Jahren wachsenden Wohlstands zu sehr angewöhnt, jeden Besitzstand zu verteidigen. Wir sind in der Gefahr, daß wir die Kraft zur Veränderung zunehmend verlieren. Wenn wir deswegen aus der deutschen Einheit, deren Lasten und deren Chancen wir gemeinsam tragen, Kraft für die Zukunft gewinnen sollen, dann sollten wir beides miteinander verbinden. Dann haben wir eine gute Chance, unser Land weiter voranzubringen.
Ich glaube, in einer Welt, in der sich so ungeheuer viel verändert, ist das, was wir in Deutschland in den letzten fünf Jahren mit großartigem Gewinn für alle Menschen auf den Weg gebracht haben und weiter voranbringen müssen, für uns eine Chance, eine Bewährungsprobe für unsere gemeinsame Zukunft zum Ende dieses Jahrhunderts und darüber hinaus.
Wir sollten bei diesen Überlegungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht auch einen Moment den Blick über unsere eigenen Grenzen hinaus richten. Es ist wahr: Die Einheit hat nicht in Deutschland begonnen. Die Entwicklung begann in Polen, und in Ungarn hat sie ihren Höhepunkt gefunden. Wir danken unseren Nachbarn in Polen, in Ungarn, in der Tschechei und in der Slowakei.
Wir sollten vielleicht bei allen Problemen, die wir in unserem eigenen Lande haben, auch an diesem Tag einen Moment an Aufmerksamkeit darauf verwenden, daß andere in Europa mit diesen ungeheuren Veränderungen ganz andere Probleme haben als wir in Deutschland. Gemessen an den Sorgen, die wir in Deutschland, die selbst unsere Mitbürger in den neuen Ländern haben, haben die Menschen in Mittel- und Osteuropa, die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion viel größere Probleme mit den historischen Veränderungen, mit denen auch historische Chancen verbunden sind. Deswegen lassen Sie uns nicht so kleinmütig und kleinkariert nur auf unsere eigenen Probleme schauen. Gerade weil wir unsere wiedergewonnene Einheit in Frieden und Freiheit unserer jahrzehntelangen konsequenten Politik der Westintegration, der europäischen Einheit und des Ausgleichs zwischen Ost und West verdanken, schulden wir unser Engagement unseren Nachbarn im Osten und der europäischen Einigung.
Wir wären der Chance nicht wert, die wir mit der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit gewonnen haben, wenn wir jetzt nicht unsere gemeinsame Kraft einbringen würden, um dieses Europa zu einem Kontinent sicheren Friedens in Einheit zu machen. Deswegen ist es unsere Aufgabe im vereinten Deutschland, uns jetzt um so mehr für die europäische Eini-
Dr. Wolfgang Schäuble
gung, und zwar für die Einigung ganz Europas und nicht nur bis zur Oder und Neiße, zu engagieren
und unsere Beiträge dazu zu leisten, daß die Europäische Union vorankommt, aber zugleich auch die Kraft und Dynamik bewahrt, sich nach Osten zu erweitern. Wir müssen unseren russischen Freunden immer wieder erklären, daß die europäische Einigung nicht gegen sie gerichtet ist, sondern auf Zusammenarbeit auch mit Rußland angelegt ist. Wir wollen nicht eine Konfrontation, sondern wir wollen Zusammenarbeit, weil wir nur in einem Europa der Zusammenarbeit den Frieden, die Freiheit, die Demokratie und die Menschenrechte sichern und zum wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand aller beitragen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden oft darüber: Wie können die Deutschen das, was sie nach 45 Jahren an unterschiedlichen Erfahrungen, an unterschiedlichen Lebenswegen und Lebenswelten trennt, überwinden? Es ist trennender, als viele, auch ich, 1990 geglaubt haben. Aber es ist eigentlich logisch. Jemand, der so alt ist wie ich, hat bis zur deutschen Einheit immer nur in einem geteilten Deutschland bewußt gelebt. Ich bin 1942 geboren. Soweit ich mich zurückerinnern kann, war Deutschland schon geteilt. Wir waren sehr getrennt, und die Menschen in der DDR waren eingesperrt. Deswegen sind unsere Einstellungen und Erfahrungen so unterschiedlich. Wir müssen aufeinander zugehen, miteinander, nicht übereinander reden, dürfen nicht auseinandertreiben, nicht die einen gegen die anderen ausspielen und nicht über die Probleme hinwegreden. Wir dürfen aber die Fortschritte, die erreicht worden sind, nicht vergessen und das Große und Gute neben dem, was weiter zu tun ist, nicht aus dem Blick verlieren.
Wir finden, glaube ich, am besten zusammen, wenn wir über unsere gemeinsamen Aufgaben, über unsere gemeinsame Verantwortung für unsere Zukunft und für die Zukunft Europas stärker nachdenken. Das Allerwichtigste für die nächsten Jahre wird neben der Fortsetzung der Hilfe für den Aufbau der neuen Bundesländer und der Lösung der Probleme, die noch zu lösen sind und die wir Woche für Woche, angefangen beim Renten-Überleitungsgesetz, im Bundestag bearbeiten müssen, sein, zu begreifen, daß wir eine gemeinsame Verantwortung haben, unser Land als eine stabile freiheitliche Demokratie auch in der Zukunft zu bewahren.
Für den Rechtsstaat, für den inneren Frieden ist eine Menge zu tun. Man muß den Rechtsstaat z. B. verteidigen und darf ihn nicht verkommen lassen, wie es bei den Chaostagen in Hannover geschehen ist. Wenn der Rechtsstaat nicht durchgesetzt wird, verkommen Freiheit und Recht.
Da gibt es noch anderes. Man sollte z. B. daraus lernen, daß man mit denjenigen, die nicht sicher für
Freiheit und Demokratie sind, nicht zusammenarbeitet.
Herr Scharping, als Sie von Kassandra und Troja geredet haben, habe ich an Magdeburg gedacht. Passen Sie auf, daß Sie mit Ihrer Zusammenarbeit mit der PDS nicht zum trojanischen Esel werden, der den Feinden der Demokratie das Tor neu öffnet!
- Herr Fischer, zu einer vernünftigen und realistischen Bilanz gehört z. B. auch, einmal zu vergleichen, was unter dem real existierenden Sozialismus an Umweltschäden angerichtet worden ist und was die Soziale Marktwirtschaft unter der Regierung von Helmut Kohl in den letzten fünf Jahren an Umweltschäden beseitigt hat. Darüber ist mit keinem Wort geredet worden.
- Das ist das Niveau, mit dem Sie über die Probleme der deutschen Einheit reden, Herr Kollege Fischer.
Das Allerwichtigste ist, daß wir begreifen - das wiederhole ich -, daß es die Verpflichtung für uns selbst in der Mitte Europas, aber auch für unsere Nachbarn in Europa in West und Süd und in Nord und Ost ist, zum Frieden, zur Freiheit und zur Demokratie in Europa beizutragen.
Weil wir die deutsche Einheit der europäischen Einigung, dem Mitwirken und dem Einsatz unserer Nachbarn und Freunde in Ost und West verdanken, schulden wir die deutsche Einheit dem Frieden in Europa. Deswegen müssen wir uns für die europäische Einigung sowie für die Bewahrung, Wiederherstellung und Sicherung des Friedens in Europa einsetzen, und zwar, Herr Kollege Fischer, nicht nach dem Prinzip: Wir kämpfen bis zum letzten Franzosen, wie Sie es schriftlich verkünden, sondern nach dem Prinzip, daß wir das, was wir von anderen fordern, auch selbst zu leisten bereit sind.
Wenn wir die Aufgaben und Herausforderungen so verstehen, vor die wir Deutsche uns heute gestellt sehen, sowie unsere Verantwortung für uns selbst und für andere wahrnehmen, kann uns dies helfen, zu uns selbst zu finden. Das ist vielleicht der beste Weg, unsere Identität zu erklären; wir sollten nicht abstrakt darüber diskutieren.
Dr. Wolfgang Schäuble
Ich bin ganz sicher, daß jeder gemeinsame Erfolg bei diesen Bemühungen die Frage klarer beantworten wird, wer wir sind und was wir wollen. Ich bin sicher, daß wir im Verstand wie im Herzen - denn beides, Ratio und Emotio, gehört zusammen; das Gefühl der Menschen ist auch wichtig - die Gemeinschaft begründen, die notwendig ist, schwierige Zeiten zu bestehen, die in der Zukunft gewiß vor uns liegen.
Die Herausforderungen und die Veränderungen in der Welt sind groß. Der Friede und auch die Umwelt bleiben bedroht. Die Demokratie muß immer neu bewahrt werden. Aber mir ist vor diesen Herausforderungen nicht bange. Ich finde, wir haben gerade fünf Jahre nach der deutschen Einheit überhaupt keinen Grund zu Pessimismus und Mißmut, sondern wir haben allen Grund zu Mut und Zuversicht. So - dessen bin ich sicher - dienen wir am besten der Einheit, und so sichern wir am besten unsere Zukunft.
Es spricht jetzt der Kollege Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich geglaubt, daß uns heute bei einigem zeitlichen Abstand zum 3. Oktober eine Diskussion mit Feiertagspathos erspart bleibt.
Schließlich ist ein Jubiläum ohne großen Jubel vorbei. Vielleicht können wir das nächste Mal sogar darauf verzichten, mit großem Zapfenstreich die Einheit der Armee als Zeichen unserer wiedererlangten Souveränität zu demonstrieren. Das brauchen wir am allerwenigsten.
Die Stimmung im Land hat sich zwischen Euphorie und Ernüchterung eingependelt. Weder die begeisterten Optimisten noch die Katastrophen voraussehenden Pessimisten haben recht behalten. Nach wie vor gehen im Osten Lage und Stimmung auseinander. Vielen geht es heute materiell besser als vor fünf Jahren. Sie fühlen sich politisch frei, aber sozial unsicher.
Die demokratischen Grundrechte gehören zur Grundausstattung dieser Republik, Werte, die gerade nach Jahrzehnten der Unterdrückung, der ideologischen Bevormundung und der geistigen Enge zählen. Andererseits sind die alten sozialen Sicherheiten weggebrochen und die neuen noch nicht greifbar oder ungewiß.
Im Osten wurde Enormes geleistet. Die Ostdeutschen mußten in kürzester Zeit die völlige Veränderung ihrer Lebensverhältnisse bewältigen, von der
Steuererklärung bis hin zum Rufzeichen im Telefon. Alles, aber auch alles hat sich verändert. Durch die Art der Vereinigung allerdings, die eine Mischung aus Beitritt und kollektivem Ausreiseantrag war, ist ihnen bei allem Für und Wider zunächst das abverlangt worden, was sie zuallererst abschütteln wollten: das erzwungene Anpassungsvermögen.
Die Westdeutschen haben diese rasante Lebensumstellung teils ganz persönlich und vor allem finanziell unterstützt. Sie haben hier in dankenswerter Weise Wichtiges und Wertvolles geleistet.
Doch für sie ist die neue Bundesrepublik eigentlich die alte geblieben. Leider wurde der Aufbruch des Ostens nur als Zusammenbruch des Systems verstanden, wurde die Chance zur Inventur in Ost und West verkannt oder nicht gewollt, wurde die demokratische Reformchance vertan. Hätte man den Elan zur politischen Veränderung aufgegriffen, wäre schnell klar geworden, daß die Ostdeutschen mehr als ein Dauerlamento, verschlissene Betriebe oder einen unaufgeräumten Keller voller Stasi-Akten in die Einheit einbringen.
Verschwunden ist der Instant-Glaube, daß man ein Westkonzentrat nur kräftig umrühren muß, um sofort die fertige Lösung zu bekommen. Heute ist klar: Es gibt keine schnellen und schon gar keine billigen Lösungen. Wir Ostdeutschen werden die verlorenen Jahre vermutlich erst in Generationen aufholen. Doch warum konnten und können wir uns darüber nicht verständigen? Politik muß doch Orientierung geben und mehr sein als schnelles Reagieren und Aussitzen.
Die Einheit, Herr Bundeskanzler, war kein Glücksfall, sondern die Selbstbefreiung einer aktiven Generation,
die ihre Leistungsbereitschaft ins vereinte Deutschland einbringen wollte und zusehen mußte, wie das Volkseigentum und die Arbeitsplätze verlorengingen, wie im Zeitraffertempo ein halbes Volk zum Hans im Glück geworden ist.
Warum konnte diese Bundesregierung den Bürgerinnen und Bürgern nicht wenigstens die Wohnungen zum symbolischen Preis überlassen,
wo sie doch weiß, daß Eigentum verpflichtet, wo sie doch weiß, daß es in der DDR keine Vermögensbildung gab, wo heute viele den drastischen Anstieg der Wohnkosten erleben, obwohl sich die Wohnungsqualität oder der Service der Wohnungsverwaltungen nicht verbessert hat? Sie erleben heute Mieterhöhungen als soziale Bedrohung und nicht als Einbindung in die neue Gesellschaft.
Werner Schulz
Immerhin wurden ja Banken und Betriebe für'n Appel und 'n Ei verkauft - übrigens ein Naturalzahlungsmittel, das seit der Währungsunion offenbar hoch im Kurs steht.
Ich möchte auch mit einer anderen Legende aufräumen, Herr Bundeskanzler; auch Herr Schäuble bedient das ja immer so wunderbar: „Verrat" und „Verweigerer der deutschen Einheit" . Das sind immer diese tollen Verschwörungsdiskussionen. Ich will Ihnen sagen, was es gab: keinen Verrat; es gab keine Visionen für dieses vereinigte Deutschland, keinen Bauplan, noch nicht einmal Skizzen.
Weder Ihre Deutschlandpolitik, die der Union, noch die Strategie „Wandel durch Annäherung" haben den Durchbruch geschafft. Selbst die Dissidenten, selbst wir, die wir vielleicht die einzigen wenigen waren, die dem SED-Regime noch Widerstand entgegengebracht haben, haben ja nicht geglaubt, daß sich der Mauerdurchbruch eines Tages ereignen könnte, daß ein bis an die Zähne bewaffneter Staat plötzlich zusammenbricht wie eine Plattenbausiedlung, in der die Armierung durchgerostet ist.
Vielleicht wäre es gut gewesen, Herr Bundeskanzler, Sie wären schon früher einmal in den Prenzlauer Berg zu den mutigen Bürgerrechtlern gefahren.
Dann hätten Sie etwas über deren Vorstellungen gehört, wie sie sich den Weg zur deutschen Einheit vorgestellt haben, nämlich durch einen demokratischen Prozeß, und dann hätten Sie nicht mit dieser Ignoranz das Vermächtnis des Runden Tisches, die Verfassung des Runden Tisches weggewischt.
Das bleibt als Makel stehen. Der Art. 146 GG zeigt, daß Sie über die Köpfe der Leute hinweg die deutsche Einheit gemacht haben. Sie haben den Ruf „Wir sind das Volk" nicht ernstgenommen, so wie gerade eine große Volkspartei in Bayern ganz weit neben der direkten Demokratie stand.
Noch immer fehlt ein politischer Entwurf für das vereinte Deutschland. Genauer betrachtet, lebt Deutschland noch immer in zwei Gesellschaften.
Das liegt auch daran, Herr Bundeskanzler, daß Sie am 3. Oktober 1990 nicht den Mut hatten, die Neuordnung Deutschlands anzugehen, daß Sie den Epocheumbruch nicht als Reformchance begriffen haben,
daß Sie in einer historischen Umbruchsituation darauf verzichtet haben, die Fülle der in der Gesellschaft vorhandenen Sachkompetenz und Bereitschaft zur Mitverantwortung aufzugreifen, daß Sie die Einheit eben nicht als Gestaltungschance begriffen, sondern als Wahlkampfrennen veranstaltet haben.
Ich erinnere: „Allianz für Deutschland" hieß die Allunionsversicherung, die sich heute schwertut, ihre Garantien einzulösen und ihre eigenen Schadensfälle zu übernehmen. Schon wieder wird der Solidaritätszuschlag ganz bewußt zum Wahlkampfthema gemacht. Schon wieder werden Sympathietests auf dem Rücken der Solidarität veranstaltet.
Nicht die innere Einheit ist unser Problem, meine Damen und Herren; das ist eher ein Suchbild mit fragwürdigem Inhalt. Die innere Einheit, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen, ist längst da, stärker, als uns offenbar bewußt ist. Heute läßt sich feststellen: Die Akzeptanz der staatlichen Vereinigung ist gewachsen, allerdings auch die Kritik an deren Folgen.
Niemand will die DDR wiederhaben oder erhebt ernsthaft die Forderung nach Zweistaatlichkeit. Dennoch besteht eine nationale Schieflage.
Was wir brauchen, ist ein inneres Gleichgewicht. Wie weit wir davon noch entfernt sind, kann jeder ermessen, der einmal drüben war. Vielleicht verschwindet in einigen Jahren sogar dieses Trennwort aus unserem Sprachgebrauch. Vielleicht ist das ein Kriterium dafür, wie die Einheit entsteht; so wie die Ostdeutschen lernen, daß die Zeit der Westpakete vorbei ist.
Von Anfang an hat ein solider, klar umrissener Lastenausgleich gefehlt. Er kam durch die Hintertür: Der Kanzler hat den Ostdeutschen versprochen, die D-Mark zu bringen, und den Westdeutschen gesagt, daß er sie ihnen nicht nehmen will. Das eine hat er gehalten, das andere nicht. An diesem wunden Punkt laborieren wir noch heute.
Es ist wahr, meine Damen und Herren, bisher ist viel erreicht worden: Ohne Fünfjahresplan ist der Aufbau in den neuen Ländern ein gutes Stück vorangekommen. Verwaltungen arbeiten, das Rechtssystem funktioniert, Löhne und Renten nähern sich - wenn auch manchem viel zu langsam - dem westdeutschen Niveau an, die Qualität der Infrastruktur wird immer besser, die Wiederbelebung der Wirtschaft zeigt erste Erfolge.
Werner Schulz
Es wäre verbohrte Opposition gegenüber dieser Regierung, nicht anzuerkennen, daß auch ihr Bemühen um den Aufbau Ost nicht völlig erfolglos war. Der Bundeskanzler hat eine Bilanz geboten, was er alles auf der Glanzseite seines Guthabens sieht. Allerdings verdeckt seine Regierungspolitik der Wort-und Wertschöpfung, daß er wichtige Chancen vertan hat, z. B., daß mit dem Neuaufbau der Verwaltung in den neuen Ländern auch eine Verwaltungsreform in ganz Deutschland hätte durchgreifen können.
So wurden die verkrusteten Strukturen, ein Wust an Vorschriften einfach unkritisch in den Osten übertragen. Hier wurde ein Investitionshemmnis ersten Ranges geschaffen. Hätte die alte Bundesrepublik in ihren Gründerjahren auf ein solch kompliziertes Regelwerk, auf eine solche Regelungsdichte zurückgreifen müssen, ich glaube, sie würden noch heute auf das Wirtschaftswunder der 50er Jahre warten.
Statt den industriellen Aufbau der neuen Bundesländer für den ökologischen Strukturwandel in ganz Deutschland zu nutzen, wurde die schnelle Privatisierung durch die Treuhand priorisiert und wurden westdeutsche Gebrauchsmuster übernommen. Statt die Hauptstadtfrage eindeutig im Einigungsvertrag zu regeln und mit dem schnellen Regierungsumzug nach Berlin ein Beispiel für den Umbau zu leisten, wurde eine quälende Ersatzdebatte zur deutschen Einheit zugelassen. Statt den Zusammenschluß für eine Bestandsaufnahme der sozialen Systeme zu nutzen, wurden die Sozialkassen für den Aufbau Ost zweckentfremdet. Nicht einmal ansatzweise wurde die deutsche Einheit als Ausgangspunkt für einen Reformprozeß genutzt.
Zwar hat jetzt die Bundesregierung das Hauptmanko des Einigungsvertrages, daß die neuen Länder die ersten vier Jahre nicht in den Länderfinanzausgleich einbezogen waren, durch einen Solidarpakt ausgeglichen, doch war dieser Pakt mehr ein Vertrag der Länder zu Lasten des Bundes, wie überhaupt der Beitrag der Länder zur deutschen Einheit nicht gerade ein Ruhmesblatt der föderalen Geschichte darstellt.
Ein wirklicher Solidarpakt im Sinne eines Grundkonsenses, im Sinne eines neuen Gesellschaftsvertrages, den diese Republik unbedingt braucht, steht allerdings erst noch aus.
Eine Regierung im vereinten Deutschland muß sich an der Zukunftsdebatte messen lassen. Hier einige Themen: Können wir unsere föderale Grundordnung auch angesichts der europäischen Entwicklung tatsächlich noch mit 16 bzw. 15 Ländern aufrechterhalten? Oder sollten nicht dem Beispiel Berlin-Brandenburg andere folgen? Was wird aus dem Aufbau einer modernen Infrastruktur? Was darf sie kosten? Was dürfen der Umzug nach Berlin und der
Ausgleich für Bonn kosten? Muß Bonn erst in Berlin nachgebaut werden, oder können nicht vorhandene Möglichkeiten besser genutzt werden? Welche Fördermittel und -maßnahmen erhalten andere Problemregionen? Schaffen wir mit Berlin-Bonn nicht einen schwer nachvollziehbaren Maßstab?
Wie kann der Sozialstaat durch die stärkere Beteiligung, durch das stärkere Engagement der Staatsbürger gesichert werden? Wie können die Renten gesichert werden - hier hat die Regierung sicherlich nicht ganz uneigennützig schon vieles getan -, und wie kann gleichzeitig den Kindern und Jugendlichen eine angemessene Perspektive eröffnet werden? Wieviel Beamte braucht dieser Staat, und wo braucht er sie? Das sind Fragen und vor allen Dingen auch Versäumnisse.
Aber in den letzten Jahren sind auch schwerwiegende Fehler passiert: So sieht der Einigungsvertrag keine Korrektur von Fehlentwicklungen vor. Es gibt keine Öffnungsklausel, nach der falsche Weichenstellungen berichtigt werden können. Er hat sich vielerorts als Korsett für den Gestaltungswillen im Osten erwiesen.
Oder nehmen Sie z. B. nur die Altschulden. Hier lauert ein Konflikt, gegen den die Zwick-, Schneiderund Graf-Affären wirklich Peanuts sind. Mit einem Federstrich wurden aus willkürlichen Verrechnungseinheiten D-Mark-Schulden in der Landwirtschaft, beim Wohnungsbau, in den Kommunen oder bei vielen Betrieben der Treuhand. Obwohl ansonsten alles abgewickelt wurde, alles negiert wurde, wurde hier einer der fragwürdigsten Posten aus dem Unrechtsstaat ohne Abstriche in den Rechtsstaat übertragen.
Gewinner sind die Banken, über die diese Forderungen gekommen sind wie die Sterntaler im Märchen. Die gleichen Banken, die die großen Gewinner der Einheit sind, lassen heute die ostdeutschen Existenzgründer bei der Vergabe von Risikokapital im Stich.
Wegen der sogenannten kommunalen Altschulden will der Bundesfinanzminister in der kommenden Woche sogar Mahnbescheide an 1 200 ostdeutsche Kommunen verschicken. Dabei brauchen wir keine buchhalterische, sondern eine politische Lösung.
Der Bundesfinanzminister leistet dem Aufbau Ost einen sehr fragwürdigen Dienst, wenn er weiterhin auf seiner sturen Position beharrt und womöglich ein weiteres Mal durch Karlsruhe belehrt wird.
Die Bundesregierung hat es bisher vorgezogen, auf eine Gesamtschau der Entwicklung zu verzichten. Seit fünf Jahren gibt es keine verbindliche Darstellung des Entwicklungsstandes, keine Zielvorgaben, keine Kriterien, keine Zeithorizonte. So begeistert, wie früher der Bericht zur Lage der Nation diskutiert wurde, so wenig scheint die Bundesregierung heute an Klarheit, Verbindlichkeit und Übersicht interessiert zu sein. Das Motto des Bundeskanzlers lau-
Werner Schulz
tet: Wer nichts verspricht, dem kann man nachher auch keine Vorwürfe machen, und der Vorwurf der Steuerlüge bleibt dem erspart, der sich zur Steuerpolitik gar nicht erst äußert.
Insofern brauchen wir einen Bericht zur Entwicklung der deutschen Einheit. Wir sollten nicht aus den Sensationsmeldungen deutscher Wochenmagazine über die nächsten Milliardengräber informiert werden, sondern diese Regierung hat die Auskunftspflicht.
Die kostenlose Einheit hat sich als grandiose Illusion erwiesen. Im fünften Jahr der deutschen Einheit hat die Staatsverschuldung eine neue Rekordmarke erreicht. Eine Haushaltskonsolidierung ist nicht in Sicht. Gespart wird allenfalls bei Sozialhilfe und Arbeitslosengeldern, also bei den Ärmsten in dieser immer noch reichen Gesellschaft. Es wäre schon gut gewesen, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, die Beamten und Selbständigen an der Rentenkasse und damit an der deutschen Einheit zu beteiligen. Dann hätten wir an dieser Stelle kein Milliardenloch.
Ost- und Westdeutsche wurden immer wieder im unklaren gelassen über die mit der Vereinigung verbundenen Umwälzungen und auch Belastungen. Das ständige Theater um Einführung, Abschaffung, Wiedereinführung und Absenkung des Solidarzuschlags ist ermüdend, frustiert und erzeugt Ablehnung. Die Regierung muß den Bürgern in Ost und West endlich klar sagen, was auf sie zukommt, welche Veränderungen notwendig sind und welche Lasten zu tragen sind.
Es wäre gut, wenn wir nicht gleich in die nächste Währungsunion hineinstolperten, wenn der Finanzminister zumindest aus dieser lernte und durch diskrete Hilfe den osteuropäischen Staaten die Annäherung an die EU ermöglichte, anstatt durch Indiskretion ein finanzpolitisches Kerneuropa heraufzubeschwören.
Die wichtigste und vorrangigste Aufgabe, an der sich jede Regierung im vereinten Deutschland messen lassen muß, ist die Eindämmung der Arbeitslosigkeit. Es gilt, neue Arbeitsplätze und damit Vertrauen in die Zukunft zu schaffen. Das ist zuallererst natürlich eine Herausforderung an die Wirtschaft.
Aber vorhandene Arbeit muß auch gerecht verteilt werden. Vielleicht können wir hier mit unseren Erfahrungen aus der Mangelgesellschaft behilflich sein, zumindest mit dem Wissen, daß etwas, was knapp ist, gerecht verteilt werden muß.
Geradezu paradox ist es allerdings, daß ausgerechnet der Kanzler, der die höchste Arbeitslosigkeit seit der Weimarer Republik zu verantworten hat, in einer Situation, in der ganze Jahrgänge in den Vorruhestand gehen, über das verdiente Rentenalter hinaus einen Dauerarbeitsplatz besetzen will.
Die politische Entscheidung zur Einheit Deutschlands war wirtschaftlich falsch. Damit wurde ein Schock ohne Therapie ausgelöst, der viele Betriebe die Existenz kostete. Das ist heute unumstritten. Damit ist zwar der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft gelaufen, aber er ist nicht gelungen. In diesem Zusammenhang von einer einzigartigen Erfolgsstory zu sprechen, wie der Wirtschaftsminister das tut, ist zumindest für einen ehemaligen Treuhanddirektor ein erschreckender Fall von Verantwortungsvergessenheit.
Zumindest ein paar Moritaten müßten ihm doch noch geläufig sein.
Sicher, der Aufschwung Ost findet statt, nur kann er nicht alle gebrauchen. Auch das ist eine herbe Erfahrung aus fünf Jahren Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, von der immerhin mehr erwartet wurde als eine Konkursverwaltung mit Sozialplan.
Noch steht die ostdeutsche Wirtschaft nicht auf eigenen Beinen, noch hängt das Wachstum am Fördermitteltropf. Noch ist die industrielle Basis zu schwach, und andere Wirtschaftszweige können nicht im erforderlichen Umfang wachsen.
Die Wertschöpfung in den neuen Bundesländern muß steigen, und das unter verschärften weltweiten Konkurrenz- und Wettbewerbsbedingungen. Immerhin haben Polen und Tschechien einen selbsttragenden Aufschwung auf niedrigem Niveau erreicht. Die neuen Bundesländer sind hingegen noch weit davon entfernt, ihr höheres Einkommen selbst zu erzeugen. Auch das hat Einfluß auf die Stimmung.
Fünf Jahre nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands gibt es noch nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern deren zwei, einen westdeutschen, dessen strukturelle Defizite jetzt ans Licht kommen, und einen östlichen, der sich trotz mancher positiven Entwicklung in einer immer noch schwierigen Situation befindet.
Heute gibt es kein Ostprodukt mehr mit bundesweiter oder gar internationaler Bedeutung, weder im Konsumgüter- noch im Investitionsgüterbereich.
In Ostdeutschland sind kaum noch größere Unternehmen. Es gibt keinen einzigen überregional wichtigen und wirklich ständigen Firmensitz. Infolgedessen zeigt sich die Industrie als die entscheidende Schwachstelle der ostdeutschen Wirtschaft. Hier ist Strukturpolitik erforderlich. Die Bundesrepublik hat es bisher vermieden, diese zu betreiben. Und da, wo sie Strukturpolitik gemacht hat, z. B. beim Stromvertrag, hat sie dafür gesorgt, daß ausgerechnet die aus-
Werner Schulz
Betretensten Wege des Westens in den Osten verlängert werden. Gerade mit der jetzt ausgebliebenen Sanierung des Fernwärmenetzes wird schwerer Schaden angerichtet.
Da, wo die Chancen des Ostens eigentlich liegen könnten, verweigert man ihm den Anschluß.
Deutsche Einheit - um ein Dichterwort aufzugreifen - ist „ein weites Feld" . Deswegen am Ende meiner Rede zwei Überlegungen:
Erstens. Die Deutschen haben im Osten wie im Westen in Nischengesellschaften gelebt. 40 Jahre DDR und Bundesrepublik, die Zeit vor und hinter der Mauer, sind vorbei. Die Politik und politische Generation des Mauerfalls muß lernen, mit großen Problemen und Konflikten zu leben.
Zweitens. Wir leben nach den Wendezeiten in West und Ost in einer Zeitenwende, in einer komplizierten ungewissen Umbruchsituation. Noch haben wir Zeit, wenn auch keine mehr zu verlieren. Die Zukunft Deutschlands wird sich daran entscheiden, wie wir den Reformstau auflösen, ob wir daran glauben, daß das westdeutsche Modell nicht nur nach Ostdeutschland, sondern auch ins nächste Jahrtausend übertragen werden kann, oder ob wir eine gemeinsame, eine gesamtdeutsche Antwort auf die veränderten Bedingungen in Europa und die weltweiten Herausforderungen finden.
Es spricht als nächster der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über einen Zeitraum von fünf Jahren deutscher Einheit. Ich glaube, es läuft schwieriger, als wir alle am Anfang ahnen konnten, es läuft aber besser, als wir bereit sind, uns gegenseitig öffentlich zuzugestehen und auch offen zu berichten.
Es gab im übrigen auch damals unterschiedliche Bewertungen. Wir alle haben noch Menschen im Gedächtnis, die wirklich die Vereinigung unseres Landes nicht wollten. Ich kenne solche und habe welchen gegenübergestanden, die vor der Wiedervereinigung gewarnt haben, wie der hessische Ministerpräsident Eichel; und der Herr Kollege Schäuble hat zu Recht den saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine zitiert. So war es.
Es gab einige, die zwar wußten, daß das historisch unumgänglich ist, aber sie hatten ernsthafte Probleme in der Verarbeitung. Und es gab welche, die hatten - wie auch wir - nicht daran geglaubt, daß die Vereinigung in diesem Jahrhundert stattfindet. Wer hat denn hier zehn Jahre vorher das Datum gewußt,
die Blaupausen gesetzt, die Termine vorbereitet und Juristen an einen Einigungsvertrag gesetzt? So war das doch nicht. Deshalb ist nicht die Kritik angebracht, es hätte eine große Vision gefehlt, sondern es war das Glück der Stunde. Ich weiß jedenfalls noch, daß seit dem 9. November 1989 wöchentlich 15 000 Menschen aus der damaligen DDR in den Westen kamen. Die sagten nicht nur: „Wir sind das Volk!", sondern sie sagten: „Wir sind ein Volk, und wir wollen zur D-Mark, wenn die D-Mark nicht zu uns kommt."
Diese kurze historische Stunde unter Beteiligung schon erwähnter Persönlichkeiten, insbesondere des damaligen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow, in diesem Zeitfenster der Geschichte genutzt zu haben, das war die Stunde von Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl, die die Vorgänge mitgestaltet haben,
und die Stunde der 17 Millionen, die in friedlicher Revolution die entscheidenden Anstöße gegeben haben.
Niemand konnte sich darauf vorbereiten. Niemand hat damit gerechnet. Wir können es als großes Glück empfinden, daß es gelungen ist. Das war die Situation vor fünf Jahren. Es war keine Vision, keine große Vorbereitung, nur ein Fünkchen Hoffnung - und dann das große Glück heute.
Nach fünf Jahren sagen wir: Wir haben vieles unterschätzt. Im Grunde geht es mir nicht nur um die Frage, wieviel Finanzen man aufwenden muß. Wir haben das tiefe Maß der geistigen und seelischen Zerstörung, die das ostdeutsche Regime angerichtet hat, gewaltig unterschätzt.
Daß es Geld kostet, wissen wir alle. Daß es aber hinter dem Skelett eines damals zusammenbrechenden Staates nichts an Infrastruktur, nichts mehr an politischer Beteiligung an einem Führungssystem und überhaupt kein Funke rechtsstaatlichen Bewußtseins gab, daß, wie Christian Graf von Krockow in seinem Buch „Die Deutschen vor ihrer Zukunft" schreibt, dieses System in 40 Jahren beim Menschen Antriebsarmut erzeugt hat, die wir heute überwinden müssen, ist die Wahrheit über den inneren Zustand, über die offen gesprochen werden muß.
Wenn wir nämlich weiterkommen wollen, genügt keine Bilanz der wirtschaftlichen Förderprogramme oder eine Betrachtung der strukturellen Schwächen oder eine unterschiedliche Diskussion über industrielle Kerne. Vielmehr stellt sich die Frage, ob unsere deutsche Gesellschaft die Kraft entwickeln kann, die nächsten Jahre noch erfolgreicher zu gestalten. Da müssen wir über Hemmnisse, Strukturprobleme und vieles mehr sprechen.
Herr Schulz, Sie haben zu Recht gesagt, daß es um die Erkenntnis geht, daß es kein „vor und hinter der Mauer" mehr gibt; das ist richtig. Wir müßten gemeinsam daran arbeiten, daß sich diese Erkenntnis
Dr. Wolfgang Gerhardt
in ganz Deutschland durchsetzt. Denn ich habe die große Befürchtung, daß viele im Westen geglaubt haben, daß die Vereinigung nur große Veränderungen für die Menschen im Osten bringe. Erst jetzt merken sie, daß es für uns im Westen genauso viele Veränderungen gibt.
Der Herr Kollege Schäuble hat zu Recht angesprochen, wir hätten die große Chance, viele strukturelle Schwächen, viele Schieflagen in unserem Denken und viele Veränderungsnotwendigkeiten auch im Westen mit der Wiedervereinigung zu beseitigen. Es ist wahr: Im Westen hat sich angesichts von Mauer und Stacheldraht in 40 Jahren wirtschaftlicher Wachstumsraten ein ähnliches Denken herausgebildet wie vielleicht bei vielen Menschen in einem staatsbetreuten System im Osten: zu hoffen, daß Politik nur Verteilung ist, daß der Staat schon alles regeln wird, daß man sich an jährliche Wachstumsraten wie an Besitzstände gewöhnt hat und dies nicht mehr hinterfragt und eine ganz geringe Bereitschaft da ist, Veränderungswillen auszudeuten.
Der Bundespräsident hat zu Recht gesagt: Wir werden das nicht schaffen, wenn wir nicht vor unserer Zukunft neue Grundlagen festmachen und uns neu orientieren.
Wir haben diese Chance in Deutschland bisher nicht ausreichend genutzt. Nach fünf Jahren Bilanz reicht nicht nur ein Rückblick; jetzt ist auch ein Ausblick notwendig. Da möchte ich über einige Korrekturen reden, die auch unsere Einstellungen betreffen.
Wir alle sagen: Wir brauchen Arbeitsplätze. Jeder, der hier im Hause anwesend ist, erklärt, es sei unerträglich, 3,7 Millionen Arbeitslose zu haben. Dies ist insbesondere das persönliche Schicksal vieler Menschen in den neuen Bundesländern, die ihre Hoffnung auf ein freiheitliches System und auf marktwirtschaftliche Ordnung gesetzt haben. An sich aber findet ein Wettstreit statt, der Menschen betrügt. Es gibt ganze politische Gruppierungen, die die Menschen glauben machen, Arbeitsplätze könnten durch staatliche Investitionen, durch einen zweiten Arbeitsmarkt, durch staatlichen Interventionismus und durch staatliche Transferleistungen geschaffen und langfristig gehalten werden. Das ist nicht wahr.
Wer dies den Menschen in den neuen Bundesländern erklärt, sagt ihnen nicht die Wahrheit. Arbeitsplätze werden geschaffen, indem es in diesem Land Menschen gibt, die bereit sind, Risiken einzugehen, die bereit sind, ein Produkt herzustellen und dafür bei der Bank einen Kredit aufzunehmen, die manchmal schlaflose Nächte haben und sich unruhig im Bett wälzen, weil sie darüber nachdenken, ob sie die Beschäftigtenzahl noch halten können. Noch immer signalisieren wir denen, die als persönlich Haftende
einen Betrieb führen, nicht, daß die Gewerbekapitalsteuer wegfallen und in den neuen Ländern gar nicht eingeführt werden sollte, wenn wir etwas für die Beschäftigung tun wollen.
Es reicht auch längst nicht mehr aus, zu sagen, die Lage sei nur entstanden, weil - sicherlich ein wichtiger Grund - die Märkte in den früheren RGW-Staaten weggebrochen sind. Das reicht nach fünf Jahren als Feststellung nicht mehr aus. Wir haben eine Globalisierung der Märkte, und wir haben verstärkten Wettbewerb in Hochlohnländern. Aber wir starren alle wie das Kaninchen auf die Schlange. Wir reagieren zu defensiv. Die gesamten Tarifvertragsparteien machen Tarifverträge, als säßen wir im Westen noch in den 50er Jahren.
Wir haben zuwenig Flexibilität,
wir berücksichtigen zuwenig betriebliche Besonderheiten, und wir haben ein vermeintliches Sichern von Arbeitnehmern, die Arbeitsplätze haben, und eine Hinderungsbarriere für diejenigen, die Arbeitsplätze suchen. Das offen auszusprechen bringt einem in Deutschland manchmal den Vorwurf der sozialen Kälte ein; aber das ist die Wahrheit. Arbeitsplätze werden in diesem Land entweder durch Produktivität und durch gegenseitigen Abgleich der Weltmarktchancen des Produkts und der Arbeitsplätze im Betrieb geschaffen werden können, oder wir werden dauerhaft keine Arbeitsplätze sichern können.
Einem Arbeitnehmer kann es nicht gleichgültig sein, wo ein Investor investiert. Einem Kapitaleigner kann es relativ gleichgültig sein, wo er sein Kapital hinträgt. Deshalb muß ihm die Politik Standortbedingungen in Deutschland schaffen, damit er hier investiert, weil wir hier für Arbeitsplätze verantwortlich sind.
Aber wir haben noch nicht genügend reagiert. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir doch alle, daß wir mit dem Standort Deutschland, mit unserer Steuerbelastung im Verhältnis zu europäischen Nachbarländern noch immer keinen klaren gleichen Wettbewerb haben. Wem es um Arbeitsplätze in Deutschland geht - der Freien Demokratischen Partei geht es wegen des inneren Zusammenwachsens um Arbeitsplätze in Deutschland -, der muß auch mit einer Steuerpolitik reagieren, damit hier investiert wird, und darf nicht in der Öffentlichkeit den Eindruck erwekken, es genüge, den Reichen etwas wegzunehmen, um die Probleme in Deutschland zu lösen. Das ist der fatale politische Fehler.
Meine Damen und Herren, wenn das innere Zusammenwachsen gelingen soll, müssen wir offener sein für den Wandel, müssen wir flexibler sein in der
Dr. Wolfgang Gerhardt
strukturellen Bewältigung, müssen wir mutiger werden in Veränderungen, und brauchen wir - wie das unser Bundespräsident ausgedrückt hat - eine stärkere gemeinsame Wagniskultur in Deutschland.
Nur dann wird es uns gelingen, eine vitale Gesellschaft für die Zukunft aufzubauen.
Nun wurde hier - das ist richtig - über Bürokratie geklagt. Meistens klagen diejenigen über Bürokratie, die wünschen, daß der Staat nahezu alle Probleme löst.
Ich habe jedenfalls die Erfahrung gemacht, daß sich im Westen in einer ganz anderen Ordnung bis heute massiv der Glaube verbreitet hat, daß der Staat so etwas wie ein Garant des Verfassungsauftrags zur Wachstumsvorsorge sei, und daß sich im Osten in der Mentalität der Menschen der Glaube breitgemacht hat, der Staat habe irgendeinen Knopf zur Verfügung, auf den er nur zu drücken brauche, um so als Problemlöser zur Verfügung zu stehen.
Das ist nicht wahr. Dieser Staat wird in eine gewaltige Legitimitätskrise geraten, wenn wir ihn öffentlich so darstellen lassen. Er ist nicht allein deswegen unser Staat, weil er für jedes Daseinsproblem eine Lösung anbieten müßte. Er ist ein Staat, der Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen kann und der gerne durch Entbürokratisierung zurückgenommen werden kann. Aber dann darf niemand hier im Hause vor Privatisierung, vor Verwaltungsvereinfachungen und vor Delegation von Aufgaben an andere zurückschrecken.
Dann muß er den Menschen sagen: Wir können gerne die Bürokratie zurücknehmen, wenn ihr selbst in diesem Lande mehr persönliche Verantwortung übernehmt. Das ist die Konsequenz.
Ich will das hier offen aussprechen: Probleme in unserem Land oder in dem gesellschaftlichen Denken sind sicher aus dem schnellen Tempo der Wiedervereinigung, aus dem Druck zur Lösung von Problemen und daraus, daß nicht genügend miteinander gesprochen wird, entstanden. Aber vor der Mauer und hinter der Mauer haben sich manchmal Verhaltensweisen breitgemacht, die die persönliche Verantwortung von der Freiheit abgekoppelt haben. So wird eine Gesellschaft das nicht schaffen. Zu einem freiheitlichen System gehört untrennbar verbunden die zweite Seite der Medaille: die persönliche Verantwortungsbereitschaft.
Die Menschen in unserer Gesellschaft koppeln - man muß nach fünf Jahren sagen: das müssen wir verändern - viele Problemlösungen von sich persönlich ab, geben sie an große Solidargemeinschaften ab und glauben, die Probleme kämen nie wieder in Form von Kosten und Beitragslasten auf sie zurück. Der Hang zum Handeln auf Kosten Dritter ist eine gefährliche Strömung. Wir müssen den Menschen in unserem Land sagen: Wenn ihr die Lösung eines Problems wollt, wird das nicht ohne Kosten geschehen können: entweder über direkte finanzielle Kosten oder über soziale Kosten, die sich auf Veränderungsbereitschaft und andere Verhaltensweisen beziehen. Alles so weiterzumachen wie bisher und die deutsche Einheit im Innern zu stärken wird so nicht gelingen.
Deshalb muß man nach fünf Jahren darauf hinweisen.
Im übrigen gibt es nicht nur die Bundesregierung. Es sind viele Akteure in unserem Land in Verantwortung. In einem freiheitlichen Rechtsstaat gibt es die „balance of power": Wir haben Länder. Wir haben eine Medienlandschaft. Wir haben Verbraucher und Produzenten. Wir haben Tarifvertragsparteien. Eines möchte ich nicht zulassen: daß sie alle die Eigenverantwortung beiseite ziehen und den politischen Lösungsdruck auf die Bundesregierung oder das Parlament erhöhen.
Wer in einer Demokratie lebt und stolz darauf ist, daß es in ihr verfassungsrechtliche Zuständigkeiten für Land und Kommune gibt, wer sich stetig darüber freut, daß die Tarifautonomie Wesensgestaltungskraft in einem freien, marktwirtschaftlichen System besitzt, der hat auch Verantwortung für das innere Zusammenwachsen dieses Landes und kann sich keinen schlanken Fuß machen und nur auf die Bundesregierung verweisen.
Alle Akteure haben damit zu tun.
Ein Stück des Ärgers über Politik und dessen, was wir an Verdrossenheit wahrnehmen, liegt auch daran, daß allzu viele in unserer Gesellschaft alles auf Bonn abladen, obwohl sie in der Gesellschaft eigene Verantwortung wahrnehmen müßten, eigenes Risiko eingehen müßten, eigenes Mißlingen zugestehen müßten und eigene Vorschläge machen müßten.
Der Kollege Schäuble hat darauf hingewiesen: Es darf uns wirklich nicht der Blick auf die tatsächlichen Probleme um uns herum verlorengehen. Unser Zusammenwachsen, das wir in den nächsten Jahren verstärken müssen, wird nicht erfolgreich sein, wenn weiter ein Stück Armutsgrenze durch Europa verläuft und wenn wir nicht Gesellschaften in den mittel- und osteuropäischen Staaten beachten, die noch nach europäischer Orientierung suchen.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Das heißt: Wir können uns nicht auf uns allein besinnen; wir haben die Verpflichtung, den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten die Chance eines Wegs nach Europa aufzuzeigen,
weil wir Deutsche unsere Rolle nicht dauerhaft und stabil finden können, wenn wir nicht in Europa eingebaut sind. Deshalb spreche ich diesen Punkt an und danke ausdrücklich der Bundesregierung und besonders Bundesaußenminister Kinkel für die tiefe Überzeugung, daß dieser so verstandene deutsche Weg mit dem Bundeskanzler der europäischen Einbettung gegangen werden muß.
Das innere Zusammenwachsen dieses Landes muß europäisch gelingen. Es kann nicht auf den alten Wegen, die in der Geschichte immer in Schwierigkeiten geführt haben, funktionieren.
Meine Damen und Herren, unser Staat macht Fehler; Politiker verschätzen sich; wir sind nicht sakrosankt in allem, was wir tun. Was wir in diesem Land nach fünf Jahren zustande bringen müssen, ist eine nüchterne und aufgeklärte Bindung der Gesellschaft an dieses Land, an diesen Staat. Wir müssen ein Stück Verfassungspatriotismus erreichen, der das innere Zusammenwirken - auch angesichts der Umfragen, die Herr Scharping zitiert hat - auf solide Grundlagen stellt.
Ein Staat wird nicht dauerhaft handlungsfähig sein, eine D-Mark wird nicht dauerhaft stabil sein, das innere Zusammenwachsen wird nicht dauerhaft gelingen, wenn wir uns nicht zu einer gemeinsamen Werbekampagne für die Grundlagen unseres Staatswesens verabreden, und zwar in allen politischen Gruppierungen und bei allen Begegnungen und im Umgang mit allen Menschen.
Eine geschriebene Verfassung reicht nicht. Wenn eine Gesellschaft ihre Verfassung nicht will und sie nicht täglich lebt, dann wird die Verfassung Probleme bekommen. Wir merken erste Anzeichen in Aggressivität; wir merken erste Anzeichen bei jungen Menschen, die Perspektivlosigkeit erleben.
Das zusammenwachsende Deutschland muß einen natürlichen Verfassungspatriotismus entwickeln. Das ist ein notwendiges Stück Identitätsfindung der Deutschen in europäischer Einbindung.
Wir haben alle Chancen, mit einem schlankeren Staat, mit einer nicht so großen Bürokratie, mit mehr Privatisierung, mit volkswirtschaftlich klugen Signalen für Arbeitsplätze, mit gemeinsamem Gegensteuern gegen das Bedrohungsempfinden von Menschen, mit Verzicht auf ideologische Grabenkämpfe im Bildungs- und Qualifizierungssystem und mit dem Wissen, daß wir in einer internationalen Gesellschaft leben, darauf hinzuwirken.
Unser Land hat größere Chancen, als es sie je in seiner Geschichte gehabt hat. Es befindet sich auf besserem Weg, als wir noch vor fünf Jahren geglaubt haben. Es liegt an uns und unseren Renovierungskünsten im Denken, die Schwierigkeiten, die vor uns stehen, zu beseitigen.
Auch wenn einige geglaubt haben, nur in den neuen Ländern müsse neu begonnen werden, so weiß doch jeder, daß das auch für die alten Bundesländer gilt; alle sind gefordert. Die großen politischen Veränderungen gehen an niemandem vorbei. Aber sie werden nur bewältigt werden können, wenn sich diese Gesellschaft auf drei Erfolgsstorys der Bundesrepublik Deutschland besinnt: technische Höchstleistungsfähigkeit des Landes, Marktwirtschaft und Sozialkonsens sowie außenpolitische Bündnisfähigkeit. Im Kern sind das die Gesichtspunkte, die das vereinigte Deutschland und seine Gesellschaft leiten sollten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was ich befürchtet habe, Herr Bundeskanzler, ist eingetroffen: Sie haben - ob nun gut oder schlecht - auf jeden Fall die Rede eines Bundespräsidenten gehalten. Es war ungeheuer präsidial: Sie haben die Geschichte aus Ihrer Sicht gewürdigt, haben sie dargestellt, haben Menschen gut zugesprochen, haben viel Moral verbreitet. Das ist typisch für einen Bundespräsidenten. Aber ein Bundeskanzler hat eigentlich die Aufgabe, Probleme zu benennen und Wege vorzuschlagen, wie man die Probleme lösen könnte. Davon war in Ihrer Rede wirklich nichts zu hören.
Da das schon eine ganze Weile so geht, kann ich nur empfehlen: Wenn Sie denn Bundespräsident werden wollen, bewerben Sie sich um das Amt!
- Ich habe gesagt: „bewerben Sie sich um das Amt"; ich habe nicht gesagt, daß er gewählt wird. - Aber als Regierung muß man sich den Problemen in dieser Gesellschaft stellen.
Es ist ja richtig: Die deutsche Einheit hat ganz unterschiedliche Veränderungen für die Menschen in Ost und West nach sich gezogen. Ich glaube, es gibt talsächlich eine kleine Gruppe in den neuen Bundesländern, die nur einen Verlust an Lebensqualität empfindet. Es gibt eine andere kleine Gruppe, die nur einen Zugewinn an Lebensqualität empfindet. Aber die große Mehrheit empfindet sowohl einen Verlust als auch einen Zugewinn an Lebensqualität.
Dr. Gregor Gysi
Diese Menschen sind nicht bereit, das miteinander aufzurechnen, sondern sie wollen gerne, daß das eine gelöst wird, auch wenn man das andere würdigt.
Es ist hier viel über Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gesprochen worden. Auch wir haben uns dazu erklärt, auch zu dem Zuwachs, den es diesbezüglich gegeben hat. Sie haben die Entwicklungen in der Infrastruktur hervorgehoben, auch das zu Recht.
Aber Sie haben z. B. das Wort Arbeitslosigkeit in Ihrer ganzen Rede nur ein einziges Mal benutzt. Das ist, glaube ich, zuwenig, um die Problemlage in unserer Gesellschaft darzustellen.
In keinem Falle haben Sie das „Aber" mit formuliert. Sie sprechen davon, daß ökologische Umweltschäden im Osten beseitigt worden sind. Sie reden aber nicht davon, wie das geschehen ist, in erster Linie nämlich dadurch, daß deindustrialisiert worden ist. Wenn Schornsteine nicht mehr rauchen, richten sie natürlich auch keine ökologischen Schäden mehr an.
Mancher Rückschritt stellt sich nachträglich als Fortschritt heraus. Wir haben uns in der DDR immer darüber geärgert, daß wir nicht so viele DeoSpraydosen und anderes haben. Dann stellte sich heraus, daß der Mangel an FCKW gar nicht so schlecht war. Manchmal ist ein Rückschritt auch fortschrittlich.
Es gab übrigens auch andere umweltpolitische Lösungen, die gar nicht so schlecht waren. Es tut mir leid, Herr Schäuble: Die Sekundärrohstofferfassung und -verwertung, die zwar aus ökonomischen Gründen in der DDR entstanden ist, war ökologisch aber durchaus vorteilhaft. Sie haben nicht einmal hingesehen, sondern sie erst einmal beseitigt. Jetzt beginnen Sie, sie ganz langsam wieder aufzubauen.
Sie haben gesagt, die Schienenwege sind verbessert worden. Das ist wahr. Aber wie viele Strecken haben Sie stillgelegt? Die DDR hatte das weitverzweigteste Schienennetz Europas.
Das war kein schlechter Anfang, wenn man die Transporte von der Straße auf die Schiene verlagern will. Doch Sie haben massenhaft Strecken stillgelegt, nur weil sie sich in einem engen Sinne nicht rechnen. Aber Ökologie rechnet sich nie in einem so engen Sinne. Daran muß man volkswirtschaftlich anders herangehen.
Wenn Sie immer von der Ineffizienz der Planwirtschaft sprechen, dann ist das wahr. Aber wenn Sie dabei zu erwähnen vergessen, daß natürlich keine Volkswirtschaft, auch die der alten Bundesrepublik Deutschland nicht, eine Aufwertung um 450 % verkraftet hätte und dieser Volkswirtschaft damit der eigentliche Todesstoß versetzt worden ist, ist das unehrlich. Sie müßten auch erwähnen, daß selbstverständlich mögliche Konkurrenz beseitigt wurde und daß wir deshalb eine verheerende wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern haben, die die Eigenerwirtschaftung der Mittel nicht zuläßt.
In der Regierungserklärung hat der Bundeskanzler wieder darauf hingewiesen, daß insgesamt schon 600 Milliarden DM von West nach Ost geflossen sind. Er erwähnt nie die zweite Seite. Warum eigentlich nicht? Abgesehen davon, daß die Zahl nicht stimmt, weil es eine Bruttozahl ist und dahinter lauter Zahlungen stehen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, z. B. Kindergeld - darauf hat man in Bayern genauso einen Rechtsanspruch wie in Mecklenburg-Vorpommern. Warum wird es eigentlich immer den einen vorgerechnet und den anderen nicht? -, glaube ich: Dahinter steckt eine Spaltungsabsicht; denn man redet den Westdeutschen permanent ein, wie teuer die Ostdeutschen sind. Es wird nie mit erwähnt, daß es einen riesigen Vermögenstransfer von Ost nach West gegeben hat. Wem gehören denn heute die Immobilien, die Banken, die Versicherungen, die Einrichtungen und Betriebe der ehemaligen DDR?
Das muß man doch wohl hinzufügen. Im übrigen hat man sie zum Teil, wie Werner Schulz sagte, für 'nen Appel und 'n Ei erworben.
Der Bundeskanzler hat hier erklärt: Gewinner der Einheit sind vor allem die Rentnerinnen und Rentner. - Das ist schon ein bemerkenswerter Satz, vergißt er doch, ein paar andere Gewinner zu erwähnen, z. B. die Banken und Versicherungen, die nämlich für wenige Millionen ganze Einrichtungen erworben haben und deren Forderungen dazu und die jetzt die Altschulden geltend machen, mit denen sie überhaupt nichts zu tun hatten, die sie nie finanziert haben und die allein zu ihrem Wohle sozusagen im Gesetzeswerk dieser Bundesrepublik Deutschland bleiben, obwohl sie Betriebe, Genossenschaften, Mieterinnen/Mieter und jetzt auch noch die Kommunen ruinieren. Das ist wirklich ein Skandal. Das sind die Gewinner der Einheit. Warum erwähnen Sie die nie mit? Warum immer nur die Rentnerinnen und Rentner?
Und dann muß ich Ihnen sagen: So pauschal stimmt das auch nicht. Es gibt Rentnerinnen und Rentner, denen es besser geht. Aber vergessen wir eines nicht: Die meisten von ihnen haben keine Sparguthaben, weil wir keine Vermögensbildung hatten. Das ist wahr.
- Aber Sie haben die Sparguthaben der Rentnerinnen und Rentner zum größten Teil halbiert und haben ihnen im Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und im Einigungsvertrag ver-
Dr. Gregor Gysi
sprochen, daß sie verbriefte Anteilsscheine bekommen, z. B. für ihre Wohnung oder sonstiges. Wo bleiben denn diese verbrieften Anteilsscheine? Das war eines Ihrer ganz typischen leeren Versprechen.
Dann gibt es Rentnerinnen und Rentner, die in der DDR eine lächerliche Mindestrente bekamen. Das ist wahr. Die bekommen sie jetzt weiter und keinen Sou dazu. Sie haben verbindlich geregelt, daß es keine Dynamisierung dieser Mindestrenten gibt. Damit haben Sie die Rentnerinnen und Rentner zu dauerhafter Armut verurteilt.
Und Sie haben nicht nur das Strafrecht im Rentenrecht eingeführt, sondern Sie haben darüber hinaus mit Auffüllbeträgen operiert und festgelegt - das verschweigen Sie natürlich -, daß ab 1. Januar 1996 - da werden sich Hunderttausende in den neuen Bundesländern umsehen - diese Auffüllbeträge in dem Maße gekürzt werden, in dem die Renten erhöht werden. Das heißt, über Jahre ändert sich an deren finanzieller Situation überhaupt nichts, obwohl es eine Teuerung der Lebensverhältnisse gibt.
Sie haben natürlich über ein Problem auch nicht gesprochen - sehr absichtsvoll -, nämlich über das Problem der Gleichstellung der Geschlechter. Die Situation der Frauen in der DDR war durchaus dadurch gekennzeichnet, daß auch wir ein Patriarchat hatten. Aber es gab schon Rahmenbedingungen, um sich darin besser zurechtzufinden als in der westdeutschen Gesellschaft. Dazu gehörte z. B. die Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch, dazu gehörte aber auch der Fakt der sozialen Unabhängigkeit dadurch, daß über 90 % der Frauen erwerbstätig waren. Heute stellen sie den größten Teil des Arbeitslosenheeres dar. Deshalb sagen Sie zu dieser Problematik keinen einzigen Satz. Das wäre aber ganz wichtig gewesen, um einmal zu erklären, wie Sie Arbeitslosigkeit und Altersarmut, die zum großen Teil weiblich ist, beseitigen, überwinden wollen.
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Häfner?
Ja. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Herr Kollege Gysi, da Sie gerade von Altersarmut sprechen, da Sie die Lage der Rentnerinnen und Rentner zu Recht beklagt haben und da Sie sich über das verbreitete Abkassieren zu Recht erregt haben, möchte ich Sie jetzt fragen, wie Sie das Verhalten Ihres Noch-Fraktionskollegen - oder besser: ehemaligen? - Heym beurteilen, der sich in den Deutschen Bundestag hat wählen lassen, danach für diese Arbeit nur äußerst sporadisch zur Verfügung gestanden hat
und der dann dieser Tage erklärt hat, er wolle nicht zu den Abkassierern gehören, den Raubzug in der Diätenfrage gegeißelt und seinen Rücktritt als Bundestagsabgeordneter erklärt hat, nun aber diesen Rücktritt nicht vollzieht, weil er wartet, bis er so die Anwartschaft für die Übergangsgelder erreicht hat, um sich dann Zigtausende einzustecken, abzukassieren und nach diesem Raubzug nach Berlin zurückzukehren.
Herr Abgeordneter, zu dieser Frage will ich gern Stellung nehmen.
Erstens war der eigentliche Gegenkandidat von Stefan Heym nicht Wolfgang Thierse, sondern Herr Dregger. Es haben sich die Berlinerinnen und Berliner in Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg sehr wohl und sehr bewußt für Herrn Heym entschieden und dafür, daß dieser den 13. Deutschen Bundestag eröffnet. Das hat er mit einer sehr guten Rede getan,
bei der Sie sich so insouverän wie immer erwiesen haben.
- Schreien Sie doch nicht so! Ich komme ja zu Ihrer Frage.
Zweitens war er in diesem Jahr sehr viel aktiver als viele Abgeordnete in diesem Saal, von denen man überhaupt noch nie etwas gehört hat. Das ist eine Tatsache.
Er hat z. B. in Prenzlauer Berg eine Stiftung für obdachlose Kinder gegründet, finanziert sie selbst und sammelt dafür Spenden. Das soll ihm erst einmal jemand hier in diesem Hause nachmachen.
Drittens ist er zurückgetreten, weil er nun einmal davon ausgeht, daß er als Alterspräsident eine Verpflichtung hat, dieses Haus mit zu repräsentieren, und deshalb eine Verantwortung für ein moralisches Minimum trägt. Deswegen konnte er den Diätenbeschluß, der hier gefaßt worden ist, nicht vertreten, und er wollte ein Signal setzen.
Dr. Gregor Gysi
Jetzt komme ich zum letzten Teil Ihrer Frage: Er hat keinen Verrat begangen. Ich habe ihn sehr gebeten, mit Rücksicht auf seine persönlichen Mitarbeiter den Rücktritt erst zum 31. Oktober zu erklären.
Die Abfindungssumme, die er bekommt - das hat er bereits erklärt -, wird für den von mir vorhin genannten Zweck gespendet. Das heißt, es ist alles blanker Unsinn, was Sie hier erzählen. Diesen Schriftsteller, der auch schon in der DDR sehr mutig war, werden Sie hier nicht kleinreden können; das werden Sie nicht schaffen.
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Laschet? - Ich habe Ihre Redezeit schon angehalten.
Ja. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Herr Kollege Gysi, Sie haben das jetzt mit der Frage der Mitarbeiter begründet. Glauben Sie nicht, daß eine so soziale Gruppe wie die PDS eine Mitarbeiterregelung bei dem Nachrücker hätte finden können, und würden Sie mir zustimmen, daß dies wirklich ein sehr dünnes Argument ist?
Nein, das ist nicht sehr dünn, sondern in diesem Falle sehr konkret, weil der Nachrücker wahrscheinlich völlig andere Aufgaben als Herr Heym haben wird.
Das ist ein großes Problem. Ich habe ihn deshalb ausdrücklich darum gebeten, seinen Rücktritt erst zum 31. Oktober zu erklären. Ich habe Ihnen gesagt, was mit der Abfindung passieren wird. Das war ein sozialer Schritt für seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Noch einmal zur Klarstellung: Herr Heym ist zurückgetreten und kassiert ab jenem Zeitpunkt keine Diäten mehr, im Unterschied zu uns. Diesen Fakt bekommen Sie nicht weg.
Herr Kollege Gysi, es besteht ein weiterer Wunsch nach einer Zwischenfrage, diesmal vom Abgeordneten Hirsch.
Ja.
Sie haben noch zwei Minuten.
Herr Kollege Gysi, stimmen Sie mir zu, daß es das souveräne und ureigene Recht eines Abgeordneten ist, ein Mandat anzunehmen oder es niederzulegen, wann er es selber für richtig hält?
Ich bin Ihnen für diese Frage dankbar,
weil Sie gerade damit dem Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages, Stefan Heym, die Souveränität zubilligen, die er hat. Er hätte es verdient, daß diese Souveränität in diesem Hause respektiert wird. Das dunkle Kapitel mit Bezug auf Stefan Heym bleibt Ihr Verhalten in der Eröffnungssitzung, und nichts anderes in diesem Bundestag.
Herr Gerhardt, Sie haben sich hier lange darüber aufgeregt, daß der Regierung und dem Staat zuviel Verantwortung für Dinge zugemessen wird, für die sie eigentlich keine Verantwortung tragen, und haben weiter gesagt, daß auch andere in die Verantwortung zu nehmen sind. Das ist für mich nur deshalb interessant, weil das eben einen Mangel in der Politik deutlich aufzeigt. Denn die regierenden Politikerinnen und Politiker nehmen für sich alles Positive in Anspruch, auch wenn sie wirklich nichts damit zu tun haben. Auch die stabile Mark z. B. ist doch nicht allein das Verdienst der Bundesregierung; daran sind ja doch ganz viele beteiligt. Ein Ausfluß der Tatsache, daß man als Kanzler jeden grünen Baum als sein eigenes Werk erklärt, ist natürlich, daß man dann auch für jeden verwelkten zur Verantwortung gezogen wird. Das hat dann auch eine gewisse Logik.
Auf eine Sache, die Sie überhaupt nicht erörtert haben, will ich zum Schluß noch eingehen: Wir haben gerade festgestellt, daß die geplanten Einnahmen im nächsten Jahr 20 Milliarden DM geringer ausfallen als bisher vorgesehen. Mich würde natürlich sehr interessieren, wie Sie diese Lücke schließen wollen. Ich hätte erwartet, daß der Bundeskanzler hier klipp und klar sagt, welche weiteren Leistungen gestrichen werden sollen, um diese Lücke im nächsten Jahr zu schließen. Dann hätten wir es wenigstens mit realen Ausgangsbedingungen zu tun, wenn wir hier miteinander diskutieren.
Dr. Gregor Gysi
Herr Schäuble, Sie sprechen immer davon, daß man auch einmal Besitzstände angreifen muß, daß wir uns zu sehr an bestimmte Besitzstände gewöhnt haben. Ich würde gerne wissen: Welche meinen Sie denn eigentlich? - Die der Vermögenden und der Reichen nicht und, wie wir in den letzten Wochen erlebt haben, die der Bundestagsabgeordneten auch nicht. Welche Besitzstände sind denn gemeint? - Immer die der sozial Schwachen und Schwächsten in dieser Gesellschaft.
Dort wird gekürzt: bei der Sozialhilfe, bei der Arbeitslosenunterstützung, bei der Arbeitslosenhilfe. Den Lohnabhängigen wird jeden Tag gesagt, es müsse noch eine Nullrunde - was in Wirklichkeit eine Minusrunde ist - geben. Immer wird bei den sozial Schwächeren dieser Gesellschaft gespart, nie bei den wirklich Vermögenden und den Reichen.
Nur, die Bundesrepublik Deutschland hat sich in den letzten fünf Jahren natürlich auch verändert, und zwar durch ein hegemoniales Streben, durch Militarisierung, durch einen völlig anderen Umgang mit Flüchtlingen, durch den Abbau von Rechten und durch den Abbau von Sozialstaatlichkeit.
Herr Kollege Gysi, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Noch nie hatte dieses Land so viele Arbeitslose, so viele Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger wie jetzt. Nutzen wir deshalb den fünften Jahrestag - meinetwegen auch für eine gewisse Würdigung, aber in erster Linie, um diese Probleme wirklich aufzugreifen und sie anders anzugehen, als das bisher geschehen ist!
Für die Bundesregierung erhält jetzt der Herr Bundesminister Waigel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wiedererlangung der politischen Einheit des deutschen Vaterlandes am 3. Oktober 1990 war ein Geschenk der Geschichte. Heute, nur fünf Jahre später, ist die Einheit zur Selbstverständlichkeit geworden.
Der Mauerbau am 13. August 1961 war kein Zeichen der Stärke der SED-Diktatur, sondern Ausdruck von Schwäche, von Ohnmacht und Ausdruck eines gescheiterten Sozialismus.
Der Freiheitswille der Deutschen konnte unterdrückt, aber nicht ausgelöscht werden. Das zeigen die unzähligen Versuche, über Mauer und Stacheldraht in das freie Deutschland zu kommen.
Im Wettbewerb der Systeme hat sich die freiheitliche Demokratie durchgesetzt. Wer auf „Wandel durch Annäherung" und auf die Zementierung der Zweistaatlichkeit Deutschlands setzte, wurde von
der historischen Entwicklung widerlegt. Es gehörte sicher zu den beglückenden Erlebnissen in den letzten Jahren, wenn man einmal nach Gera kam, die Stadt sah und wußte: Es war gut, daß wir den Geraer Forderungen von Herrn Honecker nicht nachgekommen sind, wie es manche von Ihnen teilweise getan hätten.
Meine Damen und Herren, die Wiedervereinigung Deutschlands, die Einheit in Freiheit, ist und bleibt das historische Verdienst von CDU/CSU und dieser Koalition.
- Der Beitrag von führenden Politikern Ihrer Partei daran war 1989 und 1990 sehr bescheiden.
Ich werde nicht vergessen: Als ich im Herbst 1989 sagte, die Einheit Deutschlands stehe auf der Tagesordnung der Weltpolitik, haben Sie dies als „üble Brunnenvergiftung " und „töricht" bezeichnet.
Niemand ist von der Geschichte so widerlegt worden wie Sie in den Jahren 1989 und 1990.
Wir sind - ich als Vorsitzender der CSU wie auch andere Parteien - unserer nationalen Verantwortung auch in unbequemen Zeiten treu geblieben. Man darf auch nicht vergessen, was andere vor uns getan haben. Man soll nicht vergessen, daß Hans Ehard, der seinerzeitige bayerische Ministerpräsident, 1947 die letzte gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz nach München eingeladen hat. Ohne Franz Josef Strauß und ohne Alfons Goppel hätte es die Offenhaltung der deutschen Frage durch einen mutigen Spruch aus Karlsruhe nicht so ohne weiteres gegeben. Auch daran zu erinnern ist legitim.
Die unionsgeführte Bundesregierung unter Helmut Kohl hat 1990 die Chance zur Wiedervereinigung entschlossen genutzt, die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Einheit, zur Wirtschafts- und Währungsunion, zum Überleitungsvertrag, zu den Zweiplus-Vier-Verhandlungen und zum Einigungsvertrag erreicht. Das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit, die wir in West und Ost gewinnen konnten, schufen der deutschen Politik den Freiraum, den sie in einer Zeit politischer Umbrüche in Deutschland und Europa unabdingbar benötigt. Entscheidend war, daß wir den schwierigen Prozeß der Schaffung eines geeinten Deutschlands stets in einen größeren europäischen, weltpolitischen Zusammenhang gestellt ha-
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
ben. Darum ist die Vollendung der deutschen Einheit letztlich immer nur in der Vollendung Europas möglich. Daran werden wir festhalten. Das ist das große Ziel der Deutschen und aller friedfertigen Europäer.
Auch der Weg über Art. 23 des Grundgesetzes war richtig. Andere haben sich verweigert und gezögert, haben Umwege vorgeschlagen und Ängste geschürt. Wir haben gehandelt. Durch den Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion wurde die Einheit unumkehrbar.
Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, hat wohl niemand geahnt, wie schnell die weiteren Schritte folgen würden. Politisch und ökonomisch ist die ehemalige DDR wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Vieles war nur noch Fassade, die tragenden Teile von Wirtschaft und Gesellschaft waren morsch. Dennoch: Das Ausmaß der volkswirtschaftlichen Zerrüttung hat selbst Experten überrascht: die ausgezehrte Substanz, der fortgesetzte Raubbau an der Natur. Wenn ein Mann wie Gysi hier herkommt und sagt, der mangelnde Gebrauch von Spraydosen habe auch sein Gutes gehabt, ist wirklich ein Höchstmaß an Niveaulosigkeit erreicht, das nur die PDS in dieses Haus hineintragen kann.
Ein radikaler Schnitt, um die schnellstmögliche und möglichst weitgehende Umstellung der Wirtschaft der DDR auf Weltmarktniveau zu erreichen, war nicht nur ordnungspolitisch richtig, sondern vor diesem Hintergrund politisch und ökonomisch der einzige Weg. Ein längerfristig angelegtes staatliches "Naturschutzreservat" für die ehemalige Staatswirtschaft der DDR hätte sich weder politisch durchhalten lassen noch ökonomisch ausgezahlt. Die rasche Einführung der Sozialen Marktwirtschaft war zusammen mit der am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Wirtschafts- und Währungsunion der unverzichtbare Grundstein für den wirtschaftlichen Neuaufbau in den neuen Ländern. Nur mit dem Vertrauenskapital der D-Mark gab es eine sichere Basis für den Strukturwandel, für Investitionen aus dem In- und Ausland und dafür, die Menschen zum Bleiben zu bewegen. Zugleich konnten wir den von vielen befürchteten Inflationsschub abwenden. In puncto Preisstabilität liegt Deutschland nach wie vor an der Weltspitze.
Die Umstrukturierung ruht auf drei Säulen: Investitionsförderung, Privatisierung und Aufbau der Infrastruktur. Zum Ausgleich von Standortnachteilen hat der Bund Investitionszulagen und Sonderabschreibungen gewährt. Für die Investitionszulage werden bis 1997 37 Milliarden DM bereitgestellt. Mit der Sonderabschreibung wurden bereits bis Ende 1993 Investitionen von über 200 Milliarden DM auf den Weg gebracht.
Eine der schwersten Aufgaben beim Umbau hatte die Treuhandanstalt. Die Treuhand hat Geschichte geschrieben. 15 000 Unternehmen und Unternehmensteile wurden privatisiert; in der „kleinen Privatisierung" wurden über 25 000 mittelständische Betriebe verkauft ebenso wie 46 000 Liegenschaften und 62 000 Hektar land- und forstwirtschaftliche
Nutzfläche. Herr Kollege Scharping, wenn Sie die Privatisierung in dem Zusammenhang kritisieren, dann sollten Sie sich noch einmal damit beschäftigen, daß nur mit Privatisierung Marktanteile gewonnen werden konnten
und diese Betriebe in Deutschland und im internationalen Wettbewerb Markt brauchten.
Der künftige Sitz des Bundesfinanzministers in Berlin ist das Rohwedder-Haus, der Sitz der Treuhandanstalt. Das Gebäude wurde von Reichsluftfahrtminister Hermann Göring gebaut. In den Jahren der Diktatur und des Krieges wurden in diesem Gebäude Befehle gegeben, die die Menschen vieler Völker ängstigten, bedrohten und töteten.
In diesem Haus arbeitete der Oberleutnant und Widerstandskämpfer Harro Schulze-Boysen. Wenige Tage vor Weihnachten 1942 wurde er hingerichtet. In einer Ausstellung im Rohwedder-Haus wurde ein Brief an seinen Vater gezeigt, den er kurz vor seiner Hinrichtung schrieb. In diesem Brief, den er verstekken konnte und der erst nach seinem Tod gefunden wurde, heißt es:
Die letzten Argumente
sind Strang und Fallbeil nicht, und unsre heut'gen Richter sind noch nicht das Weltgericht.
- Wie man bei dem Satz lachen kann, Herr Gysi, - -
- Trotzdem, es ist geschmacklos von Ihnen.
Meine Damen und Herren, dieses Gebäude überlebte die Berliner Bombennächte und den Kampf um Berlin im Frühjahr 1945. Die Kommunisten machten es zum provisorischen Sitz der Volkskammer und später zum „Haus der Ministerien", in dem die Größen der SED ein und aus gingen und die überwundene Diktatur durch eine neue ersetzten.
Nach der Wende bezog die Treuhandanstalt unter Leitung von Detlev Karsten Rohwedder das Haus. Er war ein Mann, dem der Begriff „patriotische Pflicht" nicht leere Formel in unverbindlichen Sonntagsreden, sondern konkreter Auftrag zur mutigen Obernahme auch schwerster Verantwortung war. Als es darum ging, das geschichtliche und schwere Werk der Vollendung der Einheit Deutschlands anzupakken, zögerte Rohwedder nicht lange. Für seine Bereitschaft und sein Engagement, die Hinterlassenschaft des SED-Regimes aufzuarbeiten, wurde er von Terroristen ermordert. Das Haus in Berlin trägt in dankbarer Erinnerung seinen Namen.
Das zeigt die ganze Wende; das zeigt die ganze Änderung der Geschichte. Auch ein Haus, seine Mauern, seine Steine können für Gut und Bös herhalten. Aber daß dort künftig gearbeitet werden wird im Sinne der Freiheit, im Sinne der Demokratie und
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
auch in Erinnerung an einen patriotischen Mann und Tausende von Frauen und Männern, die ihre Pflicht der deutschen Einheit und den Menschen in Ost und West gewidmet haben, zeigt den Wendepunkt in Deutschland, das macht uns dankbar, zufrieden und glücklich.
Fünf Jahre nach der deutschen Einheit ist das Ende der Übergangsperiode erreicht. Der Aufbau einer funktionsfähigen Verwaltung in den neuen Ländern ist geschafft. Ich danke den Tausenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des öffentlichen Dienstes, die bereit waren, ganz oder auf Zeit in die neuen Bundesländer zu gehen.
Am 9. Oktober 1990 habe ich das deutsch-sowjetische Überleitungsabkommen unterschrieben, den ersten Vertrag des souveränen Deutschlands. Heute, 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, steht kein russischer Soldat mehr auf deutschem Boden. Unsere Gegenleistung von 15 Milliarden DM war wohl die rentabelste Investition unseres Landes in diesem Jahrhundert.
Heute haben wir die Umstrukturierung der Wirtschaft weitgehend abgeschlossen, einen in vielen Branchen bereits selbsttragenden Aufschwung in den neuen Ländern angestoßen und die unabwendbaren Probleme sozial abgefedert. Bund, Länder, Kommunen, die Treuhand und ihre Nachfolger, Bahn, Post und die Kreditanstalt für Wiederaufbau werden bis Ende 1995 über 1 000 Milliarden DM in die neuen Länder transferiert haben. Das ist die größte Solidaritätsaktion der Geschichte. Die jährlichen Transfers in dreistelliger Milliardenhöhe in die neuen Länder entsprechen in etwa der Wirtschaftsleistung Portugals. Dadurch wurden und werden Millionen von Arbeitsplätzen gesichert oder neu geschaffen.
Wir haben die Prioritäten im Bundeshaushalt völlig zugunsten der Einheit verschoben und zugleich einen strikten Konsolidierungskurs eingehalten. Mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm und insbesondere dem Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm haben wir das schärfste Konsolidierungsprogramm der Nachkriegszeit entschlossen umgesetzt.
Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung steht Deutschland bei den finanzpolitischen Kennziffern wieder mit an der Weltspitze. Die neuen Länder zählen zu den wachstumsstärksten Regionen der Welt. Das Produktionswachstum ist auf einem stabilen Pfad zwischen 7 und 8 % eingeschwenkt. Der Arbeitsplatzaufbau hat sich jetzt auf eine Rate von fast 3 % jährlich beschleunigt. Nach einer Studie der OECD werden die neuen Länder bei einer Fortsetzung der Investitionsdynamik in zehn Jahren beim Kapitalstock den alten Ländern in nichts nachstehen.
Der „Economist" schrieb am 30. September 1995 zur deutschen Einheit:
Deutschland hat diesen Schlag für seine Finanzen weggesteckt, mit einer Währung, die stärker ist als je zuvor, einem niedrigen Defizit und einer intakten Handelsbilanz. Nach allen Maßstäben ist das ein spektakuläres Ergebnis.
Die Dimension der deutschen Einheit bleibt die Freiheit. Bei allem notwendigen Respekt vor der wichtigen Rolle des materiellen Wohlstands, der Ökonomie und der Finanzen: Es ging uns um die Freiheit von 16 Millionen Menschen, um das Schicksal Zehntausender in unmenschlichen Haftanstalten wie Bautzen und Hoheneck. Es ging um die persönliche Unversehrtheit von unzähligen Menschen, die politisch verfolgt, bespitzelt und schweren Repressalien der Staatssicherheit ausgesetzt waren. Es ging um das Recht des einzelnen, über sich und sein Leben selbst zu entscheiden.
Erinnert sei an Ernst Jünger, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feierte und sagte: „Wenn dein Bruder vor der Tür steht, läßt du ihn rein und fragst nicht, was es dich kosten wird. " Damit hat er die zum Teil erbärmliche Diskussion des Jahres 1990 in einem großen Sinne widerlegt.
Deutschland ist zum erstenmal in diesem Jahrhundert nach Nazi-Tyrannei, totaler Zerstörung und SED-Diktatur Gewinner der Geschichte. Die Vollendung der inneren Einheit konnte und kann nur dann gelingen, wenn wir die Folgen aus 40 Jahren Teilung und menschenverachtendem Sozialismus solidarisch tragen. Das ist - und daran können alle Neid- und Spaltkampagnen nichts ändern - vorbildlich gelungen.
Vor mir hat ein Redner gesprochen, der mit der deutschen Einheit sehr wenig zu tun hat. Die PDS hat als eine nur dem Namen nach gewandelte SED kein Recht, über die Entwicklung in Deutschland zu klagen. Um das Ausmaß der politischen Heuchelei der PDS bewußt zu machen, ist und bleibt die politische und historische Aufklärung über das SED-Unrechtsregime eine zentrale Herausforderung und Aufgabe.
Die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat festgestellt:
Der SED-Staat war eine Diktatur. Er war es nicht nur durch Fehlentwicklung oder individuellen Machtmißbrauch . . ., sondern von seinen historischen und ideologischen Grundlagen her ... Die Hauptverantwortung für das Unrecht, das von diesem Staat begangen wurde, trägt die SED.
Die Schuldigen von damals sind nicht zu Richtern von heute berufen.
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Wir haben die Einheit mit Überzeugung und Engagement gegen alle Widerstände angenommen und erfolgreich gestaltet. Mit der gleichen Haltung geht es jetzt Richtung Europa - für ein neues Jahrtausend in Frieden und Wohlstand.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Thierse.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Anfang einer angemessenen Bilanz nach fünf Jahren Einheit muß Dankbarkeit stehen. Alles andere empfände ich als unanständig.
Deshalb will ich als Ostdeutscher danke sagen für etwas, was ich auch nach fünf Jahren Einheit noch immer für nicht ganz selbstverständlich halte: für die Solidarität der Deutschen im Westen, mit der sie inzwischen die doch beträchtlichen finanziellen Lasten für den Aufbau im Osten tragen, nicht immer ganz freiwillig, aber doch ohne heftigen Protest. Danke schön dafür.
Dieses Dankeschön sage ich um so entschiedener, als ihnen ja etwas anderes versprochen worden war. Am 1. Juli 1990 sagte Bundeskanzler Helmut Kohl:
... für die Menschen in der Bundesrepublik gilt: Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen.
Trotz der Widerlegung dieses Versprechens ist Solidarität geleistet worden. Es waren die Solidarität der Westdeutschen und der Fleiß, die Leistungsbereitschaft und die Geduld der Ostdeutschen - beides zusammen -, die es ermöglicht haben, daß in den fünf Jahren viel, wirklich viel erreicht wurde.
Ein Zweites will ich, durchaus persönlich, vorweg sagen. Noch immer empfinde ich ein nicht auslöschbares Glücksgefühl über die deutsche Vereinigung.
Ich weiß, so wie mir geht es vielen, ja den meisten Deutschen in Ost und West, trotz aller Probleme, allen täglichen Ärgers, aller Widersprüche und aller Fehler. Tritt man nur ein paar Schritte zurück und schaut mit fremdem, mit verfremdendem Blick auf das, was in den fünf Jahren bisher passiert ist, vergleicht das Land und das eigene Leben mit dem Jahr 1989, blickt zudem nach Osten zu unseren Nachbarn, die mit uns das gleiche Schicksal im realen Kommunismus geteilt haben - beide Blickrichtungen erst vermitteln den richtigen Vergleichsmaßstab -, dann gibt es wahrlich genug Anlaß zu staunender Freude.
Aber Anlaß zum Jubel gibt es trotzdem nicht, auch nicht Anlaß zu einer Art nationalem Feldgottesdienst und, Herr Kollege Schäuble, auch nicht Anlaß zur Geschichtsfälschung.
Es ist schlicht falsch, daß Oskar Lafontaine es war, der Walter Romberg entlassen hat. Vielmehr war es Lothar de Maizière auf Drängen von Bundesfinanzminister Waigel. Ich weiß sehr genau, wovon ich rede, und ich erinnere mich noch an die hämischen, herabsetzenden Äußerungen von Ihnen, Herr Waigel, über Herrn Romberg.
Es gibt also Anlaß zu Dankbarkeit, aber zugleich Anlaß zu einer kritischen Bilanz.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waigel?
Ja. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Herr Kollege Thierse, können Sie eine einzige herabsetzende Äußerung von mir über den früheren Kollegen Romberg nennen?
Ich kann es nicht wörtlich sagen, weil ich die Unterlagen nicht dabeihabe.
- Entschuldigen Sie. Sie schleppen auch nicht alle Akten mit sich. -
Aber Sie waren es, der an Walter Romberg in aller Schärfe die Zahlen kritisiert hat, die er über die notwendige finanzielle Ausstattung der ostdeutschen Kommunen und Länder genannt hat. Sie haben gesagt, dies sei unverantwortlich. Lothar de Maizière hat daraufhin wegen dieses Konfliktes mit Ihnen Walter Romberg verboten, weiter an den Verhandlungen teilzunehmen.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Ja. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Nehmen Sie zur Kenntnis, daß es nicht einen einzigen solchen Ausspruch über Walter Romberg von mir gibt und daß
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Sie ihn deswegen auch nicht zitieren können? Sind Sie bereit, diesen Vorwurf zurückzunehmen?
Ich bin nicht bereit zurückzunehmen, daß Ihre scharfe Kritik an Walter Romberg
- nein, lassen Sie mich doch ausreden - dazu geführt hat, daß Lothar de Maizière die Entlassung von Walter Romberg bewirkt hat. Darum ging es. Dazu gehören auch herabsetzende Bemerkungen. Ich habe mit Walter Romberg gesprochen. Er hat mir dieses so berichtet, bevor wir damals die Konsequenz gezogen haben.
- Aus dem Gespräch mit Walter Romberg kann ich das belegen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Thierse, da Sie mir für meine Aussage, der Wechsel im Vorsitz der SPD-Fraktion in der Volkskammer von Richard Schröder zu Wolfgang Thierse habe mit Herrn Lafontaine zu tun, Geschichtsfälschung vorgeworfen haben, will ich Sie fragen: Ist es nicht wirklich wahr, daß Sie und Oskar Lafontaine im Wahlkampf 1990 mit der kooperativen Haltung des SPD-Fraktionsvorsitzenden Richard Schröder nicht einverstanden waren und daß mit Ihrem Vorsitz in der SPD- Fraktion die Konfrontation in der Großen Koalition und der Regierung unter de Maizière in der damaligen Volkskammer begann?
Herr Schäuble, Sie haben inzwischen die Frage verschoben.
- Herr Schäuble, ich bleibe dabei; denn ich bin der Betroffene.
Es hat damals bei dem Wechsel im Fraktionsvorsitz keinerlei Gespräch z. B. zwischen Oskar Lafontaine und mir gegeben, sondern es hat eine Auseinandersetzung in der Volkskammerfraktion über die Art und Weise gegeben, wie ein Ministerpräsident einer Großen Koalition einen Minister der SPD vor dem Hintergrund, den ich beschrieben habe, entläßt, ohne zuvor mit dem Fraktionsvorsitzenden oder dem Vorsitzenden der anderen Partei gesprochen zu haben. Dies war ein unerträglicher Vorgang.
Die Volkskammerfraktion meinte, diese Art der von Bonn aus diktierten Demütigung könnten wir uns nicht bieten lassen. Das war der Grund für den Wechsel in der Fraktionsführung von Richard Schröder zu mir.
Mit Oskar Lafontaine hat das überhaupt nichts zu tun. Wir brauchen dabei gar nicht zu verschweigen, daß es 1990 natürlich Differenzen zwischen Oskar Lafontaine und mir gegeben hat. Die hat es gegeben.
Ich will zu unserem heutigen Thema zurückkommen. Es geht ja nicht darum, Geschichte ständig neu zu bewältigen, sondern eine kritische Bilanz ist notwendig. Weder Schwarzmalerei noch Schönfärberei sind angemessen; denn die Lage und das Bild sind widersprüchlich. Wir sind - freundlich ausgedrückt - unterwegs, wobei die vor uns liegende Wegstrecke zeitlich wohl länger und nicht weniger schwierig sein dürfte.
Schon wieder von blühenden Landschaften zu sprechen, das ist - gelinde gesagt - eine Übertreibung. Viele werden das sogar als zynische Verfälschung ihrer Wahrnehmung empfinden; denn das ist die wirkliche, widersprüchliche Lage: Es ist viel erreicht worden.
Es wird gebaut, gebaut und gebaut. Unsere ostdeutschen Städte verändern sich. Die Verkehrswege, die Kommunikationsmöglichkeiten und die Dienstleistungen haben sich erheblich verbessert. Es macht Vergnügen, durch die Städte zu gehen, die man von früher kennt.
Das macht wirklich Freude.
Was ist die andere Seite? Es gibt ein deutliches Wirtschaftswachstum von 6 bis 8 %. Sie wissen aber selber: Auch dieses Wachstum wird bewirken, daß
Wolfgang Thierse
die Angleichung der ökonomischen Verhältnisse in Deutschland noch 10 bis 15 Jahre dauern wird. Dies ist eine nüchterne Tatsache. Ich sage das ohne Vorwurf.
Um die Zahlen zu nennen: Die gesamtwirtschaftliche Produktion in Ostdeutschland liegt noch immer nicht deutlich über dem Niveau von Ende 1989, Anfang 1990.
20 % der deutschen Bevölkerung erwirtschaften knapp 10 % des gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukts. Ostdeutschland erwirtschaftet nur 3 % des gesamtdeutschen Exports. Die Produktivität in Ostdeutschland entspricht nur etwa 50 % des Westniveaus. Die Nachfrage in Ostdeutschland ist wesentlich höher als das Bruttoinlandsprodukt.
Unser ostdeutscher Wohlstand ist also geborgt. Er stammt zu einem guten Teil von Transferleistungen, für die ich mich ausdrücklich bedankt habe und dankbar bin.
Auch die ostdeutsche Industrie ist noch nicht selbständig lebensfähig; die industrielle Basis der ostdeutschen Wirtschaft ist nach wie vor unzureichend und immer noch hochgradig gefährdet. Die Arbeitslosigkeit Ost ist dramatisch hoch. Vor allem fehlen 900 000 industrielle Arbeitsplätze, wie Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann neulich ausdrücklich bestätigt hat. Das sind Fakten - dies ist nicht Schwarzmalerei -; ich nenne sie, um die Vielzahl und die Schwierigkeit der Aufgaben zu beschreiben.
- Das gehört doch wohl zu einer kritischen Bilanz der deutschen Einheit.
Aus dieser schwierigen ökonomischen und sozialen Problemlage folgen eben die politischen Aufgaben. Die wichtigste ist: Wir brauchen eine kontinuierliche Fortsetzung der Förderung des Aufbaus Ost.
Alle unseligen Debatten über das „Milliardengrab Ost" - es war der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der im Januar die Melodie angestimmt hat, in die dann andere allerdings auch eingestimmt haben; das weiß ich - oder die ständige Auseinandersetzung um den Solidaritätszuschlag, wann oder wie schnell er gesenkt oder abgeschafft werden könnte, erzeugen sowohl ökonomische als auch psychologische Verunsicherung im Osten und wecken im Westen eher gefährliche Illusionen. Man soll das bleibenlassen. Wir brauchen Zuverlässigkeit in der Förderung des Aufbaus Ost.
Jetzt sparen zu wollen, zu schnell sparen zu wollen, das macht kaputt, was in den ersten fünf Jahren aufgebaut worden ist. Das sollten wir nicht tun. Deswegen verstehe ich auch nicht den Stolz von Herrn Waigel, mit dem er verkündet hat, daß 14 Milliarden DM beim Aufbau Ost eingespart worden sind. Wenn ich den Herrn Bundeskanzler richtig verstanden habe, ist das Sparen bei den Investitionen, ein Sparen an der gemeinsamen Zukunft. Stolz wäre ich darauf nicht.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf eine andere Seite der widersprüchlichen deutschen Situation zu sprechen kommen. Politisch geht es uns Ostdeutschen besser. Ganz klar! Wir haben die Freiheit gewonnen. Materiell geht es den meisten auch besser: sicherlich den meisten Rentnern, den meisten derjenigen, die Arbeit haben. Aber den anderen, den Frauen, denjenigen, die keine Arbeit haben, geht es nicht deutlich besser.
- Ich sage: Den Frauen, zumal denen mit Kindern, und den Arbeitslosen geht es nun wahrlich nicht besser. Das zu beschreiben ist doch eine Realität. Warum wehren Sie sich gegen die Realität?
Ich will ausdrücklich daran erinnern, daß mein und unser ostdeutsches Bedürfnis nach Einheit inhaltlich mit der Sehnsucht nach Freiheit und menschlich verträglichem Wohlstand identisch war. Es war etwas ganz und gar nicht Nationalistisches, und das finde ich wunderbar.
Ich sage deshalb auch, daß die Bemühungen der westdeutschen Politik - egal, ob von Sozialdemokraten, Liberalen oder Christdemokraten -, für die Freiheit und für Erleichterungen des menschlichen Lebens in der DDR zu sorgen, etwas ist, wofür man sich nicht schämen muß. Warum muß man die damalige, für viele Jahrzehnte gültige Entscheidung kritisieren, daß die Freiheit und die Verbesserung des menschlichen Lebens gegenüber der Einheit das Wichtigere sei? Daß dann in einem glücklichen historischen Moment beides zusammenfiel und daß diese Chance genutzt wurde, auch dafür bin ich dankbar. Aber deshalb muß man nicht im nachhinein all das, was vorher an vernünftigen politischen Bemühungen vorhanden war, denunzieren.
Ich habe gesagt, politisch geht es uns Ostdeutschen besser, materiell den meisten auch. Aber viele fühlen sich sozial unsicherer und meinen, daß es ihnen sozial schlechtergehe.
Dies ist eine widersprüchliche Grundbefindlichkeit, die sich in allen Meinungsbefragungen niederschlägt. Das ist so. Eine zunehmende Mehrheit der Deutschen in Ost und West sagt ja zur Einheit und
Wolfgang Thierse
hält sie für richtig. Nur eine verschwindende Minderheit der Ostdeutschen will die DDR zurück - Gott sei Dank! Aber ebenso meint eine abnehmende Zahl von Deutschen, daß diese Einheit geglückt sei, daß wir wirklich ein Volk seien, daß das vereinte Deutschland eine gerechte und soziale Gesellschaft sei.
Was ist passiert? Ich denke, viele Ostdeutsche erfahren die Kälte der Freiheit, nachdem sie die DDR als Diktatur, aber eben auch als eine ökonomisch wahnwitzig bezahlte Gesellschaft sozialer Fürsorge erfahren haben. Da ist etwas entstanden, was ich nicht kritisieren will: ein Grundbedürfnis nach sozialer Sicherheit. Deswegen meine ich, die Einheit wird nur wirklich gelingen, wenn wir eine Politik betreiben, die dem legitimen Grundbedürfnis nach sozialer Sicherheit - übrigens nicht nur der Ostdeutschen - gerecht wird.
Was ist passiert? Es gibt die vielfache Erfahrung der ungerechten Bewertung der eigenen Biographie, d. h. der eigenen Lebensleistungen und Lebenserfahrungen. Ich wiederhole deshalb meine Forderung, ja meine Bitte: Unterscheiden Sie zwischen dem Urteil über das gescheiterte politische und ökonomische System und dem Urteil über die Menschen, die in diesem System gelebt haben, über die Biographien, die darin gelebt worden sind. Denn sie sind nicht alle gescheitert; sie dürfen nicht alle gescheitert sein. Machen Sie diese Unterscheidung tagtäglich sichtbar; sie ist wichtig.
Es gibt des weiteren die vielfache Erfahrung sozialer Spaltung und Ungerechtigkeit zwischen Ost und West. Ich will nur ein paar Beispiele nennen, um zu zeigen, wo konkrete Politik sehr schnell Änderungen schaffen könnte.
Wir erleben als Ergebnis der wirtschaftlichen Transformation, auch der wirtschaftlichen Vorgeschichte und der Privatisierung eine Spaltung in Eigentümer, die eher Westdeutsche sind, und in Eigentumslose, die eher Ostdeutsche sind. Wir hatten keine Chance, an Privatisierungsprozessen wirklich gleichberechtigt teilzunehmen. 40 Jahre Frieden hat im Westen eine Erbengesellschaft entstehen lassen; im Osten wird noch lange nicht viel zu erben sein.
Kurt Biedenkopf drückt das so aus:
Auf sehr lange Zeit wird die Vermögensbildung unterschiedlich sein. Die ostdeutschen Haushalte haben keine Chance, die Westdeutschen in absehbarer Zeit im Bereich der privaten Vermögensbildung einzuholen. Dazu ist der westdeutsche Vorsprung zu groß.
Wir brauchen eine Politik der gerechteren Eigentumsverteilung in Deutschland, eine Offensive für Vermögensbildung gerade in Ostdeutschland.
Ich nenne ein weiteres Beispiel: das unterschiedliche Tarifniveau zwischen Ost und West. Es gibt dafür eine Menge Gründe. Aber warum gilt nicht der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"? Bundeskanzler Kohl hat auf einige wenige Beispiele hingewiesen, die zeigen, daß in Ostdeutschland moderne, hochproduktive Arbeitsstätten schon entstanden sind. Dies gilt auch für gute Teile des öffentlichen Dienstes. Die Erfahrung, daß trotz gleicher Arbeit, trotz gleich produktiver Arbeit die Ostdeutschen weniger verdienen, erniedrigt. Sie ist nicht nötig. Man kann das ändern, schneller als vieles andere.
Ein weiteres Beispiel für etwas, was man schnell ändern kann: die Anerkennung von Berufsabschlüssen aus Zeiten der DDR. Auch da gilt, daß selbst erfahrene und gut qualifizierte Menschen feststellen mußten, daß ihre beruflichen und akademischen Qualifikationen geringer bewertet wurden und werden als die vergleichbaren westdeutschen. Das kann man ändern. Das kostet noch nicht einmal etwas. Warum tut man es nicht?
Weil man es nicht tut, bestätigt man das Vorurteil von der westlichen Arroganz.
Ein anderes Beispiel: die Krankenbehandlung von Ostdeutschen in Westdeutschland. Ein weiteres Beispiel: das Gebaren der Treuhandanstalt und der Banken. Ostdeutsche Unternehmen, die durch Management-Buy-out private Unternehmen wurden, haben regelmäßig schlechtere Übernahmekonditionen erhalten als westdeutsche oder ausländische Interessenten. Warum ist das notwendig, da wir doch Eigentums- und Vermögensbildung in Ostdeutschland unterstützen sollten?
Solche Art Erfahrungen nicht notwendiger westdeutscher Dominanz bestätigen das alte, klägliche und lähmende Minderwertigkeitsgefühl der Ostdeutschen, das in 40 Jahren DDR entstanden ist. Es hilft dann nichts, ihnen auf die Schultern zu klopfen und zu sagen: Seid schön selbstbewußt.
Wir brauchen den grundlegenden Ansatz, daß die deutsche Einigung wirklich als ein Reformprojekt praktiziert wird. Nachdem sich in Ostdeutschland so vieles und so viele ändern mußten, gilt es jetzt endlich, zu begreifen, daß der Änderungsbedarf, der Reformbedarf für ganz Deutschland zunimmt. Dafür werden die Erfahrungen von Menschen aus 40 Jahren DDR und aus fünf Jahren dramatischer Wandlung zunehmend wichtiger.
Das wäre mein wichtigstes Resümee nach fünf Jahren: aus der deutschen Einheit ein Reformprojekt, viele Reformprojekte zu machen, z. B., Herr Gerhardt, die Entbürokratisierung des Staates. Mein erfolgreichster Satz, wenn ich zu Hause, in Ostdeutschland, Reden halte, heißt: Wir haben in der DDR doch
Wolfgang Thierse
immer in der Überzeugung gelebt, daß die Mischung aus preußisch-sächsisch-russischer Bürokratie nicht zu überbieten sei. Das war ein großer Irrtum. Da ernte ich regelmäßig Jubel.
Aus solcherart Erfahrungen wirklich ein Reformprojekt machen, das macht aus den Ostdeutschen Gleichwertige und Gleichberechtigte.
Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit wird gelingen. Davon bin ich überzeugt. Es wird aber noch lange dauern. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, einen jährlichen Bericht über das Erreichte und das Notwendige im Vereinigungsprozeß vorzulegen. Wir werden darüber streiten müssen und streiten können. Aber, meine Damen und Herren, mögen wir uns auch zu überbieten versuchen bei der Gestaltung der deutschen Einheit: Wir Sozialdemokraten halten mit. Meine und unsere Leidenschaft dabei ist nicht geringer als Ihre. Dessen kann ich Sie versichern.
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung Herr Minister Rexrodt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Deutschen haben die Herausforderung der Vereinigung in den letzten Jahren mit Bravour angenommen. Auch wirtschaftlich wird Trennendes überwunden, können wir langsam und kontinuierlich eine Angleichung der Lebensverhältnisse feststellen. Das wird im übrigen auch im Ausland so gesehen. Die SED-Diktatur hatte die Lebens- und Arbeitsgrundlagen der Menschen in den neuen Bundesländern durch ein Gesellschaftssystem zerrüttet, das seine geistigen Wurzeln im 19. Jahrhundert hat
und das zu Mißwirtschaft und zu subtilen Formen der Korruption, nämlich zur Privilegienwirtschaft, geführt hat. Das wird niemand bestreiten, meine Damen und Herren. Um so höher ist die Aufbauleistung im Osten zu bewerten. Die Menschen in den neuen Ländern haben den Strukturwandel auf sich genommen, und sie haben einen Strukturwandel bewältigt, der ihre gesamten Lebensverhältnisse von Grund auf verändert hat. Ich weiß nicht, ob eine in mancher Hinsicht behäbig gewordene westdeutsche Gesellschaft dazu so in der Lage gewesen wäre, wie das die Menschen im Osten bewältigt haben.
Der Aufbauprozeß ist zugleich eine großartige Solidaritätsleistung der Bürger in Ost- und Westdeutschland. Westdeutschland unterstützt diesen Prozeß nicht nur mit Geld, sondern auch mit großem persönlichen Engagement von Bürgern und vielen Unternehmen.
Eine nüchterne Bestandsaufnahme der Situation heute zeigt, daß zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Aussagen die Situation in den neuen Ländern am besten beschreiben. Einerseits sind wir auf dem Wege zur wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und menschlichen Einheit entscheidend weitergekommen. Andererseits ist das Ziel einer Wirtschaft, die sich aus eigener Kraft im Wettbewerb behaupten kann, noch nicht erreicht.
Die zweite Hälfte des Weges liegt noch vor uns. Das ist auch die Botschaft eines Berichts mit dem Titel „Aufbau Ost - die zweite Hälfte des Weges", den ich im Kabinett vor zwei Wochen vorgelegt habe und den die Bundesregierung zum fünften Jahrestag der deutschen Einheit verabschiedet hat. Die beiden wichtigsten Konsequenzen in diesem Bericht sind klar formuliert:
Erstens. Die Strategie der Bundesregierung für den Aufbau Ost hat sich als richtig erwiesen. Das bezweifelt inzwischen kein Beobachter mehr ernsthaft. Es hat nie eine konzeptionelle Alternative zu dem Weg gegeben, den wir eingeschlagen haben, meine Damen und Herren.
Zweitens. Der Aufbau Ost muß auch weiterhin ein Schwerpunkt deutscher Politik sein. Die Politik, die auf die Stärkung der Wachstumskräfte setzt, wird fortgesetzt.
Ich habe zum Thema Aufbau Ost einen hochrangigen Gesprächskreis mit Persönlichkeiten aus Ost- und Westdeutschland zusammengerufen, der regelmäßig die Entwicklungen in den neuen Ländern erörtern und die Bundesregierung beraten wird.
Ich gehe in diesem Zusammenhang auf etwas ein, was vorhin eingeklagt und eingefordert worden ist: ein Entwurf für die deutsche Einheit in der Zeit vor 1989/90: Meine Damen und Herren, wer sich in der Zeit vor 1989 mit einem politischen Entwurf für die Einheit Deutschlands befaßt und ihn öffentlich oder auch nur halböffentlich diskutiert hätte, der wäre als Utopist und kalter Krieger abgestempelt worden. Und heute wird dies eingefordert. Das ist nicht korrekt, meine Damen und Herren!
Ich möchte hier nicht alle Ergebnisse der Bilanz des Aufbaus im wirtschaftlichen Sinne vortragen, aber einiges denn doch hervorheben. So möchte ich sagen, daß Ostdeutschland die höchsten Wachstumsraten in Europa hat, aber die Eigenleistungsfähigkeit der Wirtschaft ist in der Tat noch nicht ausreichend. Es gibt eine Diskrepanz zwischen Produktion und Inlandsnachfrage von 220 Milliarden DM.
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Die Treuhandanstalt hat die größte echte Privatisierung in der Welt in erstaunlich kurzer Zeit abgeschlossen. Aber die dadurch geschaffene industrielle Basis ist immer noch viel zu schmal.
Ich wehre mich aber mit allem Nachdruck gegen das, was heute morgen hier gesagt worden ist - auch von Ihnen, Herr Scharping -, daß die Treuhandanstalt einen „Liquidationsauftrag" gehabt hätte. Wir haben in der Treuhandanstalt für 275 Milliarden DM Zeit gekauft, Zeit, die notwendig war, um die Betriebe umzustrukturieren, um die Betriebe auf den Wettbewerb in der Marktwirtschaft vorzubereiten, und eine Zeit, die dazu geführt hat, daß im großen Umfang westdeutsche und ausländische Unternehmen als neue Eigentümer in Erscheinung getreten sind, diese Unternehmen saniert haben, Arbeitsplätze gesichert und neue geschaffen haben. Dafür sind 275 Milliarden DM zur Verfügung gestellt worden! Wer da von einem „Liquidationsauftrag der Treuhand" spricht, der spaltet, und der sagt wissentlich die Unwahrheit.
Dann wird noch gesagt, wir hätten das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung nicht anwenden dürfen. Dieses Prinzip - das wissen alle, die sich damit befaßt haben - war aus verfassungsrechtlichen Gründen gar nicht umzukehren. Wir haben aber faktisch die Dinge durch die Tatsache umgedreht, daß wir eine Investitionsvorrangregelung verabschiedet haben, und diese Investitionsvorrangregelung hat - zugegeben nach anfänglichen Schwierigkeiten - dazu geführt, daß da, wo Arbeitsplätze geschaffen oder erhalten werden konnten, immer der Investor Vorrang vor der Rückgabe an den Alteigentümer - wie auch immer - gehabt hat. Diese Regelung hat sich bewährt, auch wenn sie kompliziert war. Den Rechtsstaat können wir nicht aus der Welt schaffen, meine Damen und Herren.
Seit 1994 verbessert sich die Lage am Arbeitsmarkt langsam, aber kontinuierlich. In diesem Jahr werden in den neuen Ländern etwa 170 000 Arbeitsplätze mehr vorhanden sein als im vorangegangen Jahr.
Aber es ist auch richtig, daß etwa ein Drittel der Arbeitsplätze insgesamt verlorengegangen sind. Ich sage auch ohne weiteres: Die Arbeitslosigkeit ist zu hoch. Wer aber meint, dieses Problem lösen zu können, indem noch mehr Geld in ABM und Umschulungsmaßnahmen gesteckt wird, der übersieht, daß dies alles zwar wichtige und notwendige Maßnah- men sind, die aber am Ende nur darauf hinauslaufen, daß wir an den Symptomen der Arbeitslosigkeit herumkurieren, aber nicht die wirklichen Ursachen angehen. Die wirklichen Ursachen liegen anderswo, die liegen darin, daß der Aufbauprozeß Zeit braucht und auf der Grundlage einer völlig verrotteten und
veralteten Wirtschaft erfolgen muß, die wir im Jahre 1990 in den neuen Ländern vorgefunden haben.
- Das gilt auch für Sie, Herr Fischer.
Meine Damen und Herren, wir haben heute in den neuen Ländern 480 000 neue Selbständige, 480 000! Da wird von Herrn Scharping zu Recht beklagt, daß die Nettozugänge bei den Selbständigen im vorigen Jahr nur noch 10 % der Zugänge der ersten Zeit ausgemacht hätten. Ich hätte mir auch mehr gewünscht. Aber es ist doch selbstverständlich, daß die Nettozuwachsraten abnehmen. Wenn wir die alten Zuwachsraten behielten, würde das darauf hinauslaufen, daß wir nach kurzer Zeit nur noch Selbständige in den neuen Ländern hätten. Das wäre ja erfreulich, ist aber nicht realistisch. - So wird auch mit Zahlen manipuliert und nicht das anerkannt, was gerade im Mittelstand an Neuem entstanden ist.
Es ist ebenfalls richtig, daß die Kapitalausstattung noch nicht ausreicht. Die persönlichen Lebensverhältnisse aber haben sich verbessert. Noch immer klafft zwischen Einkommen und Produktivität eine Lücke von 37 %. Deshalb, Herr Thierse, ist es zwar eingängig und nachvollziehbar, daß die Menschen - auch Sie hier im Bundestag, was sich ja gut macht - sagen: Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit! Das ist subjektiv richtig. Volkswirtschaftlich aber wäre ein solcher Schritt, d. h. die Zahlung gleicher Löhne und Gehälter wie im Westen, und dies in einer Volkswirtschaft mit einer Produktivitätslücke von 37 %, mit der Konsequenz verbunden, daß mit jeder Lohn- und Gehaltserhöhung die Wettbewerbschancen und damit die Arbeitsplätze in den neuen Ländern gefährdet würden. Das ist eine ökonomische Binsenwahrheit, die jeder berücksichtigen muß.
- Herr Thierse, ich habe eben volkswirtschaftlich argumentiert. Es ist ein Faktum, daß wir im Osten eine weite Spreizung der Produktivität haben,
daß es natürlich auch Betriebe gibt, deren Produktivität weit über der liegt, die wir im Westen haben, daß es aber auf der anderen Seite im Schnitt eine Lücke von 37 % gibt. Wenn die Löhne und Gehälter dann schnell angepaßt würden, verschlechterten sich die Wettbewerbsmöglichkeiten der Wirtschaft.
Ich will hier nicht belehrend erscheinen, möchte aber sagen, daß dies das Wissen eines Volkswirtschaftsstudenten im zweiten Semester ist. Das weiß jeder, der damit zu tun hat, bei allem Verständnis für das subjektive Einfordern gleicher Löhne.
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Meine Damen und Herren, der Rohbau des gemeinsamen Hauses in Deutschland ist geschaffen. Nun wird beklagt - auch Herr Thierse hat das gesagt -, daß viele Menschen noch nicht die soziale Sicherheit gefunden haben, die sie in der DDR gewohnt waren. Ich sage zunächst einmal: Sicherheit gab es, allerdings auf relativ niedrigem wirtschaftlichen Niveau. Diese Sicherheit wurde jedoch um den Preis der Tatsache gewährt, daß die volkswirtschaftliche Substanz in der DDR verwirtschaftet worden ist, daß dieses System nicht in der Lage war, die Reproduktion der Ressourcen vorzunehmen, wie es für eine Volkswirtschaft unumgänglich ist.
Wir stehen heute vor der Aufgabe, den neuen Ländern soziale Sicherheit soweit wie möglich zu gewähren und gleichzeitig die volkswirtschaftliche Substanz, das Produktivkapital und die Infrastruktur, zu erneuern und zu verbessern. Hier ist eine Titanen-aufgabe zu bewältigen.
Es ist die Aufgabe, das wiederherzustellen, was in der DDR an Substanz verwirtschaftet worden ist.
Daß dies nicht von heute auf morgen geht, ist klar. Wir müssen das Haus, das wir errichtet haben, wetterfest machen. Für ein Ausruhen auf den bisherigen Erfolgen besteht kein Anlaß. Unternehmen geht es in erster Linie um die Verbesserung von Kapitalausstattung und Finanzierungsbedingungen, um die Stärkung der Absatzfähigkeit und die Überwindung von nach wie vor bestehenden Managementdefiziten.
Wichtig sind vor allem mittelfristig sichere Rahmenbedingungen für Investitionen. Deshalb habe ich bereits im vergangenen Jahr ein mittelfristiges Förderkonzept vorgelegt, das jetzt mit dem Jahressteuergesetz in den Haushaltsverhandlungen umgesetzt worden ist. Die wichtigsten Fördermaßnahmen, wie z. B. die Investitionszulage und die Sonderabschreibungen, werden bis 1998 modifiziert fortgeführt und auf die Industrie und den Mittelstand konzentriert.
Neu ist die Aufnahme des mittelständischen Handels in die 10 %-Zulage. Dies habe ich im Jahre 1994 konzipiert. Die SPD ist, anders als das Herr Scharping heute morgen ausgeführt hat, nachträglich auf diesen Vorschlag aufgesprungen. Das ist die objektive Wahrheit, meine Damen und Herren.
Neuland für die Verstärkung der Kapitalausstattung betreten wir beispielsweise mit dem Beteiligungsfonds Ost, den ich vorgestern in Berlin vorgestellt habe. Zwischen 1996 und 1998 werden für mittelständische Unternehmen jährlich 500 Millionen DM langfristiges Eigenkapital bzw. nachrangige Darlehen für Investitionen, neue Strategien oder Forschungsaktivitäten bereitgestellt. Diese neue Regelung, die viele andere bestehende Regelungen ergänzt, lehnt sich an den alten § 16 des Berlinförderungsgesetzes an. Wir haben nunmehr auch die Grundlage dafür geschaffen, daß Unternehmen, die die schwierige Wachstumsphase, die wir zu durchlaufen haben, auf der zweiten Hälfte des Weges zu finanzieren haben, mit Eigenkapital ausgestattet werden können.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ein Wort zur Europäischen Kommission sagen, die uns bei diesem schwierigen Umstrukturierungsprozeß begleitet hat. In den letzten Monaten ist in Brüssel manches schwieriger geworden; das wissen wir. Aber die beachtenswerte kooperative Weise hat dafür gesorgt, daß wir den Aufbau so haben bewerkstelligen können, wie dies geschehen ist. An dieser Stelle einen herzlichen Dank auch an die Kommission in Brüssel.
Es besteht kein Zweifel: Es gibt viele Unternehmen in den neuen Ländern, die vor Insolvenzproblemen stehen. Viele Unternehmen beenden ihr kurzes Dasein. Dies alles hat verschiedene Ursachen, hat auch Ursachen in der Fehleinschätzung des Marktes, in der Tatsache, daß Managementwissen und manches andere nicht in dem Maße vorhanden war, wie wir es brauchten. Ich appelliere daher von dieser Stelle an die Banken und Finanzierungsinstitutionen, daß sie ihren Teil dazu beitragen, daß Unternehmer und Menschen, die in Selbständigkeit getreten sind, die Absicherung erhalten, die sie verdienen.
Es ist aber im übrigen nicht richtig, daß Banken in diesem Zusammenhang nur versagt haben. Unser Drängen in diesen Sektor hat dazu geführt, daß Banken in einem ganz erheblichen Umfang ihr Engagement verbreitert und vermehrt haben und daß es heute bei einem ordentlichen Unternehmenskonzept im allgemeinen möglich ist, an das Kapital heranzukommen, das man braucht.
Ich bin froh, daß es gelungen ist, die jungen Menschen in den neuen Ländern mit Lehrstellen zu versorgen. Das war eine große Kraftanstrengung, eine Anstrengung, die auch in den nächsten Jahren notwendig sein wird. Ich bin stolz darauf, daß dabei das duale System in seinen Prinzipien nicht in Frage gestellt worden ist. Mehr als 60 % der Ausbildungsverhältnisse in den neuen Ländern werden mit öffentlichen Mitteln finanziert. Das ist für eine vorübergehende Zeit notwendig und nicht vermeidbar gewesen. Auf Dauer können wir uns das nicht leisten. Ich appelliere daher an die Wirtschaft, daß sie in ihren Anstrengungen nicht nachläßt, jungen Menschen in den neuen Ländern in ordentlichen Ausbildungsverhältnissen eine Chance zu geben.
Mein Resümee lautet: Das internationale Vertrauen in die Stabilität und Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft steht trotz der finanziellen Lasten des Aufbauprozesses außer Frage. Die Konjunkturaussichten der westdeutschen Wirtschaft sind
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
trotz des zuletzt verlangsamten Wachstumstempos nach wie vor günstig. Die Aussichten für die neuen Länder sind gut. Dennoch wird die zweite Hälfte des Weges vielleicht weniger spektakulär, aber in vielen Aspekten komplizierter sein. Nach wie vor ist die Solidarität der Menschen in Ost und West gefragt und eingefordert.
Was die Bundesregierung angeht, so wird sie auch in Zukunft alles in ihrer Kraft Stehende tun, um dem Aufbauprozeß in den neuen Ländern zum Erfolg zu verhelfen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Merkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir feiern in diesem Jahr den fünften Jahrestag der deutschen Einheit.
Herr Schulz, ich finde, man kann nach wie vor sagen, daß es einen Grund zum Feiern gibt. Dies muß auch nicht erstarrte Rituale bedeuten. Denn bei den Menschen überwiegt - ich glaube, da sind wir uns einig - die Dankbarkeit und eine große Erleichterung über Offenheit und über Erweiterung. Genau diese Dankbarkeit und diese Erleichterungen machen es aus, daß das dunkle Kapitel von Stefan Heym, über das Herr Gysi heute gesprochen hat, nicht irgendwo liegt, sondern bei ihm selbst.
Daß er die Bücher, die ich zu DDR-Zeiten gerne gelesen habe, in der entscheidenden historischen Stunde nicht in die Realität umsetzen konnte, sondern daß er die Menschen nicht verstand, wenn sie erleichtert waren, daß sie endlich Schokolade und Kinderschuhe kaufen konnten,
daß er sie denunziert und in den Schatten gestellt hat, das ist, so sage ich, das dunkle Kapitel von Stefan Heym.
Meine Damen und Herren, diese Debatte sollte natürlich dazu dienen, darüber zu sprechen, was wir geschafft haben und was wir daraus für die Zukunft lernen können. Es war ziemlich schnell nach 1990 klar, daß die Schäden des Sozialismus viel größer waren, als wir alle gedacht hatten. Es war auch klar, daß wir zwar mit dem Marschgepäck des Einigungsvertrages eine Richtschnur hatten - übrigens eine gar nicht so schlechte Richtschnur -, daß wir uns aber auf komplett neue Lebensumstände einstellen mußten. Deshalb muß man heute fragen: Wir haben doch - das ist unstrittig - in diesen fünf Jahren Gigantisches geschafft; wie ist das gelungen, warum ist das gelungen, und wie können wir das für die gesamte Bundesrepublik Deutschland nutzen? Lassen Sie mich das an drei Beispielen aufzeigen.
Erstens. Es ist richtig: Es gab keinen Plan, wie man die deutsche Einheit realisieren könnte, und es war klar, warum es diesen Plan nicht gab. Aber es gab genügend Menschen aus dem Osten und aus dem Westen - das sage ich hier ganz ausdrücklich -, die in der entscheidenden Stunde bereit waren, neue Wege zu gehen.
Herr Schulz, es gehört sicher zu den Enttäuschungen des BÜNDNISSES 90 und der Grünen, daß die Menschen nicht eine andere Republik wollten. Sie wollten in den großen Grundzügen die Bundesrepublik Deutschland so, wie sie sie im Fernsehen gesehen hatten.
Das heißt aber nicht, daß diese neue, vereinigte Bundesrepublik Deutschland nicht auch Eigenschaften und Eigenarten bräuchte, die neu sind. Da sind wir in den neuen Bundesländern neue Wege gegangen. Wir sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen.
Ich nenne als ein Beispiel die Struktur des sächsischen Umweltministeriums. Dort gibt es Institutionen, die gemeinsam Genehmigungsverfahren durchführen und die nicht sozusagen jedes Medium einzeln behandeln.
Ich nenne die schnellen Genehmigungsverfahren für die Rauchgasentschwefelungsanlagen in Jänschwalde - ein Traum für alle westdeutschen Bundesländer, wenn das so schnell ginge.
Ich nenne die Braunkohleprojekte, die in unheimlich kurzer Zeit auf die Reihe gebracht wurden, und ich nenne das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, das uns erst in die Lage versetzt hat, schnell Straßen und Schienenwege in den neuen Bundesländern in Angriff zu nehmen.
Dies sind neue Wege, die für die gesamte Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung sein werden.
Aber ich sage auch: Man kann nicht die Bürokratie der alten Bundesrepublik beschimpfen und dann bei jeder Änderung und Deregulierung aufschreien und sagen, es handele sich um einen Kahlschlag der Umweltpolitik oder um eine Vernichtung des Rechtssystems. Genau dies geht nicht. Wenn wir Entbürokratisierung wollen, wenn wir Deregulierung wollen, dann müssen wir uns auch zu den Fragen bekennen, die damit aufgeworfen werden. Deshalb finde ich, daß gerade auf der Oppositionsseite sehr viel mehr Redlichkeit notwendig wäre,
wenn man auf der einen Seite neue Wege fordert und auf der anderen Seite im konkreten Falle selten bereit ist, diese Wege mitzugehen.
Dr. Angela Merkel
All diese neuen Wege waren nur möglich, weil die Menschen in den neuen Bundesländern bereit waren, mobil waren und nicht an Festgefahrenem festgehalten haben.
Zweitens. Ich möchte hier einmal darauf hinweisen, daß die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern in den letzten fünf Jahren erheblichen Belastungen ausgesetzt waren: Umstellungen in allen Lebensbereichen, Arbeitslosigkeit, Umschulung, neue Berufsfelder, aber eben auch das Wiedergutmachen von Schäden z. B. im Umweltbereich.
Wir haben 500 neue Kläranlagen gebaut; wir haben vieles geschafft. Aber wir haben es letztendlich nach den gleichen Prinzipien wie in den alten Bundesländern getan. Das heißt, auch in den neuen Bundesländern gilt das Verursacherprinzip. Dies bedeutet, daß wir z. B. bei einem Einkommen in Höhe von 75 % des Westniveaus erheblich höhere Abwassergebühren als in den alten Bundesländern haben. 5 DM pro Kubikmeter Abwasser sind in den neuen Bundesländern der Normalfall. Dies wird von den Menschen anerkannt und mitgetragen.
Das geschieht nicht aus Lethargie; vielmehr wird es in weiten Bereichen als Wiedergutmachung für das akzeptiert, was 40 Jahre Sozialismus angerichtet hatten.
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Ich wünschte mir auch in den alten Bundesländern, daß beim geforderten höheren Umweltstandard akzeptiert wird, daß dies nicht zum Nulltarif passieren kann.
Wenn sich der BUND auf der einen Seite hinstellt und sagt, die letzte Düngemittelverordnung der Bundesregierung sei ein Nichts, und auf der anderen Seite am Sonntag sagt, es könne nicht sein, daß die Abwasserpreise für die dritte Reinigungsstufe überhaupt steigen, dann halte ich dies für eine Art des Herangehens, wie man es in den neuen Bundesländern in dem Maße nicht findet. Die Menschen waren dort sehr bereit, neue Wege zu gehen.
Ein drittes Beispiel: In den alten Bundesländern ist in 40 Jahren ein relativ hoher Grad an Perfektion und Wohlstand erreicht worden. Ich habe manchmal den Eindruck, in den neuen Bundesländern hat man in den vergangenen fünf Jahren den Blick auf das Wesentliche besser beherrscht, als es hier in den alten Bundesländern heute an vielen Orten gang und gäbe ist.
Ich habe mich in diesen fünf Jahren immer wieder gefragt: Wissen viele in den alten Bundesländern eigentlich, daß der Wohlstand auch wieder zerrinnen kann? Wissen sie und haben sie die Erfahrung, daß
Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist? Die Menschen in den neuen Bundesländern haben sehr viel stärker das Gefühl, daß man sich für solche Dinge einsetzen muß.
Es ist für mich kein Zufall, daß sich das Leistungsprinzip in den neuen Bundesländern einer höheren Akzeptanz erfreut als in den alten Bundesländern.
Meine Damen und Herren, Beispiele von mutigem Herangehen, von schnellem Herangehen, von Erkenntnis des Wesentlichen sind von Ostdeutschen und Westdeutschen gemeinsam geleistet worden. Das möchte ich hier ausdrücklich sagen. Es gab viele Westdeutsche, die in die neuen Bundesländer gegangen sind, ohne zu fragen, was aus ihren Familien wird und vieles andere mehr. Diese Eigenschaften brauchen wir für die Gestaltung der zweiten Stufe der deutschen Einheit, und wir brauchen sie für die Diskussion in Gesamtdeutschland.
Ich kann nur sagen: Wir haben umweltpolitisch vieles geschafft. Wir haben das geschafft, weil wir bereit waren, den Menschen auch Risiken und Verantwortung zuzumuten.
Das Beispiel von den FCKW-Sprühdosen ist typisch für unsere völlig unterschiedlichen Herangehensweisen: Wir haben die FCKW-Produktion in der Bundesrepublik Deutschland auf Grund von marktwirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen eingestellt.
Wir sind nicht der Meinung, daß man dies irgendwie durch planwirtschaftliche Mangelwirtschaft erreichen muß.
Vielmehr kann man das durch die technologische Weiterentwicklung schaffen.
Dies ist doch genau der Punkt: Man kann die FCKW-Freiheit im Sozialismus nicht mit der FCKW-Freiheit in der Bundesrepublik Deutschland vergleichen.
Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten aus der deutschen Einheit folgendes lernen: Wir haben in der alten Bundesrepublik und in den neuen Bundesländern erhebliche Probleme. Wir fassen das immer unter dem Begriff „Standortdiskussion" zusammen. Dabei geht es um die Frage: Wie viele Menschen werden in Zukunft in dieser Bundesrepublik
Dr. Angela Merkel
Deutschland Arbeitsplätze, Lebensraum und Möglichkeiten finden, den Wohlstand zu erhalten, den wir uns geschaffen haben und der heute da ist? Diese Frage muß so debattiert werden, daß wir zu Änderungen bereit sind. Aber diese Änderungen werden wir nur schaffen, wenn sich nicht der Staat alles an Land zieht, sondern wenn wir an die Verantwortungsfähigkeit und die Risikofreudigkeit der Menschen glauben.
Das heißt, daß wir Freiräume schaffen müssen, daß wir die Möglichkeit schaffen müssen, Verantwortung zu übernehmen, damit man nicht in der Regulierung erstickt. Genau diesen Weg werden wir nicht nur in der Umweltpolitik, sondern in allen Politikbereichen gehen.
Ich sage Ihnen: Die Ergebnisse von fünf Jahren deutscher Einheit sind eher ermutigend gewesen. Ich wünsche mir, daß wir den Schwung der deutschen Einheit auf die gesamte Bundesrepublik ausdehnen können und nicht etwa nach fünf Jahren wieder in einen Trott verfallen, in dem wir nicht vorankommen.
Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Abgeordneten Wolfgang Thierse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten vorhin eine kleine Kontroverse um einen fünf Jahre zurückliegenden Vorgang. Ich habe mir inzwischen ein paar Zeitungen vom August 1990 bringen lassen, und ich will aus der „Welt" vom 12. August 1990 zitieren - wie Sie wissen, kein Parteiblatt der SPD. Da heißt es:
Romberg drohte gestern in einem Interview mit seinem Rücktritt, wenn die offenen Finanzfragen nicht gelöst würden. Beim jetzigen Stand der Verhandlungen um den Einigungsvertrag würden die DDR-Länder mit 90 Milliarden Mark Schulden zu „zweitklassigen Ländern". Würden keine wesentlichen Verbesserungen erzielt, müsse die DDR-SPD die Koalition verlassen, sagte Romberg.
Dann heißt es weiter:
Der DDR-Ministerpräsident hatte seinen Finanzminister am Donnerstag nach seinem Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn erstmals öffentlich kritisiert. Nach Informationen von WELT am SONNTAG war von ihm zuvor bei den internen Gesprächen im Kanzleramt bedeutet worden, daß Romberg ständig mit neuen Zahlenangaben die DDR-Bürger verunsichere, statt seine Amtsgeschäfte solide zu führen.
Aus anderen Zeitungen, die ich gerade durchgesehen habe, wird deutlich,
daß Herr Seiters und Herr Waigel Walter Romberg Verunsicherungskampagnen und Tatarenmeldungen vorgeworfen haben. Ich erinnere nur daran und sage: Dies ist ein Zitat vom 12. August. Drei Tage später war Walter Romberg entlassen wegen kritischer Warnungen, die von der Wirklichkeit weit übertroffen worden sind. Ich weiß von Walter Romberg und anderen: Dies war keine freie Entscheidung des damaligen Ministerpräsidenten.
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Waigel das Wort.
Herr Kollege Thierse, ich bin Ihnen für diese Klarstellung dankbar, weil Sie damit unter Beweis gestellt haben, daß das, was Sie mir von dem Podium zugerufen haben, nämlich ich hätte beleidigende und inkriminierende oder ähnliche Äußerungen über Romberg gemacht, der Wahrheit nicht standhalten. Darum bitte ich Sie nochmals, diesen Vorwurf, den Sie mir gegenüber gemacht haben, zurückzunehmen. Ich bin Ihnen jedenfalls für die Klarstellung dankbar.
Herr Waigel, ich will ausdrücklich sagen, daß ich daran festhalte, daß es die Kritik von Ihnen und anderen war
- lassen Sie mich ausreden -, die dazu geführt hat, daß Walter Romberg entlassen worden ist. Ich will ausdrücklich zurücknehmen, daß ich in meiner Rede von beleidigenden Äußerungen gesprochen habe.
Es waren die Schärfe Ihrer Kritik und der Druck aus Bonn, der dazu geführt hat. Dabei bleibe ich allerdings, weil ich sicher bin, daß das der tatsächliche Sachverhalt war.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Feiern zum fünften Jahr der deutschen Einheit liegen erst ein
Iris Gleicke
paar Tage hinter uns. Es wurde wieder viel von der Vollendung der Einheit geredet und von der notwendigen Angleichung der Lebensverhältnisse. Aber längst warten nicht mehr alle Menschen in Ostdeutschland voller Geduld und Gottvertrauen auf die versprochenen blühenden Landschaften.
Neben denjenigen, die ungeduldig und zornig auf die Einlösung der gegebenen Versprechen pochen, gibt es die Gruppe derer, die ihre Hoffnungen längst begraben haben. Von ihnen, den Verliererinnen und Verlierern der Einheit, wird nicht so gerne gesprochen. Arbeitslose Männer und vor allem Frauen jenseits der 50, Sozialhilfeempfänger, Jugendliche ohne Ausbildungsplatz: All diese Menschen sind ohne Hoffnung und Perspektive.
Als persönlich Betroffene spüren sie viel stärker als andere die soziale Kälte, die in diesem Land um sich greift. Mit einer unglaublichen Brutalität verbreitet sich tagtäglich die Kluft zwischen den Reichen und den Armen, zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Einheit. Daß es diese Gewinner und Verlierer natürlich auch im Westen gibt, daß fast ausschließlich die kleinen Leute in Ost- und Westdeutschland die Kosten der Einheit bezahlen, davon wollen natürlich diejenigen nichts hören, die unmittelbare politische und moralische Verantwortung für diese Entwicklung tragen.
Aus rein ideologischen Gründen setzten Sie das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" durch, dessen verheerende Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands noch immer nicht abzusehen sind. „Eigentum" selbst ist ein abstrakter Begriff, und doch wird um diesen Begriff ein Tanz wie um das goldene Kalb veranstaltet. Ist denn die Frage nach dem Wohlergehen desjenigen, der ein Eigentum nutzt, nicht mindestens ebenso wichtig wie die Frage nach den Interessen der Eigentümer?
Wir reden hier nicht von irgendeinem x-beliebigen Eigentum. Wir reden von Häusern und Wohnungen, in denen sich Menschen ein Heim geschaffen haben.
Die Demokratie verlangt hier einen sozialverträglichen Ausgleich zwischen den Interessen von Grundstückseigentümern und Grundstücksnutzern. Es ist jedoch weder mit dem Sachenrechtsänderungsgesetz noch mit dem Schuldrechtsänderungsgesetz gelungen, endlich wirkliche Rechtssicherheit und einen vollständigen Rechtsfrieden in Ostdeutschland zu schaffen. Das liegt auch am kaum noch durchschaubaren Dickicht der Gesetze und an der Rechtsprechung.
Woher soll ein Mensch auch wissen, was etwa die Verfügungssperre des § 3 Abs. 3 des Vermögensgesetzes in ihrer praktischen Konsequenz überhaupt bedeutet. Diese Verfügungssperre behindert ganz massiv notwendige Verbesserungen der Wohnqualität, und das sogar dann, wenn klar ist, daß keine Rückübertragung stattfinden wird. Wir wollen durch eine Lockerung dieser Verfügungssperre Investitionsmöglichkeiten verbessern.
Insgesamt dauern die Verfahren oft quälend lange; kein Mensch weiß, wann die Vermögensämter ihre Arbeit beendet haben werden. Deshalb wollen wir im Falle des redlichen Erwerbs eine Vorabentscheidung durch Teilbescheid. So, wie es bisher geschieht, darf man mit den Menschen nicht weiter umgehen.
Wie man bisweilen mit den Menschen umgeht, hat sich bis vor kurzem in einer erschreckenden Entwicklung in der Rechtsprechung gezeigt. Ich rede von den Fällen, in denen den staatlichen Behörden der DDR zivilrechtliche Fehler bei Grundstücksgeschäften unterlaufen waren. Hier ging man bis zum Juli diesen Jahres davon aus, daß diese Geschäfte unwirksam sind. Stellen Sie sich das einmal vor: Sie kaufen ein Grundstück von einer staatlichen Stelle. Ihr Geschäftspartner, also die DDR, begeht bei Abschluß des Geschäftes einen mehr oder weniger gravierenden Fehler. Davon können Sie natürlich nichts wissen; Sie haben keine Ahnung. Sie organisieren Steine und Zement; das halbe Dorf hilft beim Hausbau, und Sie leben dort glücklich und zufrieden viele Jahre mit Ihrer Familie. Dann gibt es die DDR auf einmal nicht mehr, sondern nur noch ein Beitrittsgebiet. Sie machen sich um Ihren Besitz keine Sorgen, obwohl man im fernen Bonn beschließt, daß „Rückgabe vor Entschädigung" gilt, und obwohl es auch für Ihr Grundstück einen Alteigentümer gibt. Denn Sie sind ja ein von Politikern und Juristen so genannter redlicher Erwerber, also ein ganz normaler ehemaliger DDR-Bürger, der nun auf den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland vertraut.
Aber dann kommen die Anwälte des Alteigentümers, durchleuchten die uralten Verträge und suchen nach zivilrechtlichen Mängeln. Und da haben Sie dann Pech. Denn diese gewitzten und gutbezahlten Juristen finden tatsächlich irgendwelche Fehler. Dann läuft nämlich auf einmal eine sogenannte zivilrechtliche Herausgabeklage bzw. eine Grundbuchberichtigungsklage, weil es in diesem vereinten Deutschland Gerichte gibt, die den so viele Jahre zurückliegenden Kauf eines Grundstücks für unwirksam erklären. Sie haben etwas redlich erworben, ohne es behalten zu dürfen.
Mal im Ernst gefragt: Wenn Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das so ergangen wäre, würden Sie dann noch an den Rechtsstaat, an Gerechtigkeit oder an den Sachverstand von politisch Verantwortlichen glauben?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Luther?
Aber gerne.
Frau Kollegin, Sie haben das ja jetzt sehr anschaulich in einem Beispiel dargestellt. Für mich steht bloß die Frage im Raum: Sind Sie mit mir nicht einer Meinung, daß sich durch die jetzt erfolgte, die jüngste Rechtsprechung dieser Fall erledigt hat?
Sehen Sie, Herr Kollege Luther, in meinem nächsten Satz wollte ich sagen, daß ich sehr froh bin, daß der Bundesgerichtshof im Juli durch eine Grundsatzentscheidung die bisherige Rechtsprechung in dieser Frage korrigiert hat, daß ich aber trotzdem der Auffassung bin, daß das jetzt gesetzlich festgeschrieben werden muß, damit die Nutzer auch wirklich geschützt sind und damit das angeschlagene Vertrauen in den Rechtsstaat wieder hergestellt wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, da Sie darauf hingewiesen haben, daß das Gericht so entschieden hat, möchte ich Sie fragen: Können Sie auch bestätigen, daß die Regierung diese Korrektur immer wieder abgelehnt hat und erst das Gericht die Regierung zur Ordnung rufen konnte, obwohl dies jahrelang thematisiert wurde und die SPD im Deutschen Bundestag das immer wieder gefordert hat?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, das will ich Ihnen sehr gerne bestätigen.
Wo wir gerade beim Vertrauen in den Rechtsstaat sind: Vor wenigen Monaten wurde in schwierigen und zähen, aber letztlich erfolgreichen Verhandlungen der Übergang in das Vergleichsmietensystem auf den Weg gebracht. Der Mieterbund, die SPD und die Bundesregierung haben die Mieterinnen und Mieter in aufwendigen Kampagnen beraten. Das hier gewonnene Vertrauen wird mutwillig und ohne Not aufs Spiel gesetzt, wenn sich die Bundesregierung nicht endlich dazu durchringt, den besonderen Kündigungsschutz um mindestens drei Jahre zu verlängern.
Es geht uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nun wirklich nicht darum, auf Dauer an unterschiedlichem Recht in Ost und West festhalten zu wollen. Wir wollen verhindern, daß wieder einmal ohne Rücksicht auf Verluste westdeutsches Recht über ostdeutsche Lebensverhältnisse gestülpt wird.
Wenn wir den Kündigungsschutz nicht verlängern, führt das z. B. bei Zweifamilienhäusern dazu, daß den Mietern ohne Angabe von Gründen und ohne den Nachweis eines Eigenbedarfs gekündigt werden kann, wenn der Vermieter selbst im Haus wohnt. Das darf ja wohl nicht wahr sein. Wo sollen die Menschen bezahlbare Wohnungen finden? Bei der jetzigen Wohnungssituation ist dies kaum möglich.
Aber angesichts der Fertigstellungszahlen im Wohnungsbau besteht ja durchaus Anlaß zur Hoffnung, daß innerhalb der nächsten drei Jahre so viele Wohnungen entstehen, daß kein gekündigter Mieter mehr Angst davor haben muß, keine Bleichgute Wohnung zu finden. Ich bleibe dabei: Der Kündigungsschutz kann erst dann auslaufen, wenn wir ihn nicht mehr brauchen.
Das Verständnis, das ich für sehr viele Vermieter habe, die in ihre Häuser einziehen wollen, bringe ich für den Präsidenten von Haus & Grund offengestanden nicht auf. Herr Jahn hat gestern gesagt, eine Verlängerung des Kündigungsschutzes wäre ein „Vertrauensbruch der Politik". Soll das vielleicht heißen, daß man in Ostdeutschland die Wohnungsnot verschärfen soll, damit das Vertrauen der Hauseigentümer in die Politik keinen Schaden nimmt?
Da bin ich wieder bei dem, was ich eingangs gesagt habe. In diesem Land wird viel zuviel über Eigentum geredet und viel zuwenig über diejenigen, die keines haben und vielleicht niemals eine Chance bekommen, welches zu erwerben.
Das, meine Damen und Herren, ist eine soziale Kälte, die schaudern macht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, bei der Bewertung von fünf Jahren deutscher Einheit sich die Stimmen und Meinungen unserer Nachbarn eindringlich anzuhören. In einem Kommentar im polnischen Rundfunk war dazu zu hören:
Die Deutschen haben innerhalb von fünf Jahren unglaublich viel vollbracht ... Man darf die Deutschen dazu beglückwünschen und sich selbst; denn von dem, wie sich die Situation in Deutschland entwickelt, von der deutschen Stabilität hängt auch die Stabilität in Europa ab, auch unsere.
Jürgen Türk
Und weiter:
Auf dem Weg in die Moderne läßt sich Ostdeutschland praktisch von nichts aufhalten.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will mit diesem Zitat die Probleme, insbesondere die noch hohe Arbeitslosigkeit, in keiner Weise kaschieren. Nur sollten wir bei allen schmerzhaften Schwierigkeiten nicht verkennen, daß wir durch die deutsche Wiedervereinigung im Vergleich zu den anderen Ländern im früheren Ostblock nicht nur einen leichteren Weg hatten, sondern auch eine weitaus stabilere Entwicklung genommen haben.
Dazu hat eine Investitionsförderung beigetragen, die in ihrem Umfang beispiellos ist und die rasche Entwicklung einer leistungsfähigen, modernen Infrastruktur in allen Bereichen ermöglichte. Wer die Veränderungen nicht sieht oder sie leugnet, ist entweder blind oder Opportunist.
Die wichtigste Botschaft für die Menschen in den neuen Ländern aber ist: Der Aufbau Ostdeutschlands geht weiter.
Es hätte auch keinen Sinn gemacht, auf der halben Wegstrecke stehenzubleiben, also Investitionsruinen zu schaffen. Niemand hindert uns aber daran, es noch besser zu machen und aus Fehlentwicklungen unsere Lehren zu ziehen. Aber nur wer nichts macht, macht keine Fehler.
Die Fortführung und Konzentration der Fördermaßnahmen auf Industrie und Mittelstand sind noch notwendig; denn Investitionsförderung heißt weiterhin Arbeitsplätze schaffen. Dazu gehört auch, daß die Kirchturmpolitik der Kommunen aufhört. Sie ist ineffizient. Dazu brauchen wir regionale Standortentwicklungsgesellschaften, die Synergieeffekte ausnutzen, die privat, marktwirtschaftlich und erfolgsabhängig arbeiten.
Wir brauchen die verstärkte Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf Forschung, Entwicklung und Ausbildung, denn Köpfe sind nun einmal unser eigentliches Kapital. Bei der noch vorhandenen Diskrepanz zwischen Löhnen und Produktivität in den neuen Ländern hilft kein Jammern, sondern nur gezielte Innovationsförderung beim Produkt, bei der Fertigung und beim Absatz. Weiterhin ist die Unterstützung eines forcierten Aufbaus des Justiz- und Verwaltungswesens notwendig. Dem neu entstehenden Mittelstand geht finanziell die Puste aus, weil er seine Forderungen nicht zügig eintreiben kann.
Ich fordere hiermit Bund und Länder auf, entscheidende Schritte gegen die wachsende Zahlungsunmoral zu unternehmen. Wir dürfen das Leistungsprinzip, was sich hier jahrelang bewährt hat, nicht abschaffen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist vorbei.
Ich bin sofort fertig.
Die F.D.P. und wir alle müssen uns für die Regelung der Altschulden der Kommunen einsetzen, denn wir können nicht einerseits den Kommunen Geld für den Infrastrukturaufbau geben und sie andererseits wieder belasten, indem wir ihnen diese Schulden aufbürden. Letztlich müssen wir auch endlich in Ost und West begreifen, daß das Festhalten an verkrusteten Denkstrukturen in Ost und West keine neuen Arbeitsplätze schafft: Neues Denken tut not. Es gibt noch viel zu tun. Packen wir es weiterhin gemeinsam an.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Paul Krüger.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich aus Sicht der heutigen Debatte auf fünf Jahre Einheit zurückschaue und darüber nachdenke, ist für mich persönlich der 9. Oktober 1989 ganz wichtig. Das war der Tag der ersten Massendemonstration in Leipzig. Er war für mich persönlich - ich glaube auch für viele andere in Ostdeutschland - ein ganz entscheidender, vielleicht sogar der entscheidende Tag in unserem Leben.
Zum erstenmal erhob sich in der DDR der Widerstand von 70 000 Menschen, ohne daß das System gnadenlos zurückgeschlagen hätte. Viele von uns spürten an diesem Abend intuitiv, nichts würde mehr so sein wie vorher. Warum sage ich das? Wenn ich manches, was heute gesagt wurde, höre, dann nimmt es schon wunder, wie die Einschätzung der Situation dieser Zeit heute gelitten hat.
Dieser Durchbruch des 9. Oktobers ließ erstmals aus einer tiefen Hoffnungslosigkeit für die Menschen in Ostdeutschland Hoffnung entstehen und wachsen; Hoffnung zunächst nur auf ein Ende des alten Systems. Damals haben wir überhaupt nicht gewagt, über Neues nachzudenken. Wir haben nur einen Schimmer davon gehabt, daß sich etwas verändern könnte. Uns war Monate später keineswegs klar, wie diese Veränderungen aussehen könnten. Wir haben vielleicht in manchen Diskussionen zaghaft gewagt, darüber nachzudenken, ob es irgendwann einmal eine Wiedervereinigung geben könnte. Wir haben damals oft gesagt - ich kann mich genau an die Zeit erinnern -: Wir werden von den Veränderungen, die jetzt anstehen, überhaupt nichts mehr haben. Vielleicht werden irgendwann unsere Kinder spüren, was es hieß, in diesem alten System zu leben, und was es heißt, jetzt Veränderungen zu haben.
So war es damals, und so haben wir es empfunden. Auch in Westdeutschland, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, waren viele von klaren Zukunftsvisionen weit entfernt. Ich habe mir gestern im Vorfeld der Rede einige aus der damaligen Zeit aktuellen Zeitschriften besorgt. Egon Bahr sagte am 1. Oktober 1989:
Laßt uns um alles in der Welt aufhören, von der Einheit zu träumen oder zu schwätzen.
Dr.-Ing. Paul Krüger
Unser Kollege Peter Glotz, der heute nicht an der Debatte teilnimmt, sagte noch am 23. Oktober 1989, also kurz bevor der Bundeskanzler in diesem Hause die zehn Punkte zur deutschen Einheit vorlegte, der Gebrauch des Wortes „Wiedervereinigung" sei opportunistisch und widerwärtig.
Vor diesem Hintergrund muten die Reden der heutigen Debatte sehr eigenartig an, um nicht zu sagen: kleinkrämerisch.
Sie sprechen Mißachtung des Erreichten aus und erinnern mich wirklich - wie unser Vorsitzender es sagt - an Miesmacherei.
Herr Scharping hat heute auch über Kosten der Einheit gesprochen. Wenn ich an den damaligen Kanzlerkandidaten und übrigens auch an die Grünen, die damals Interessantes von sich gegeben haben, denke, muß ich sagen, daß nur diejenigen eine Legitimation haben, über die Kosten der Einheit zu sprechen, die die Einheit wirklich wollten.
Da die Solidarität und die Wirtschaft heraufbeschworen wurden: Der damalige SPD-Kanzlerkandidat rief dazu auf, den Deutschen im Osten „nicht den Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik einzuräumen" , weil man Angst hatte, es könnte zu teuer werden. Ich habe aus der „Welt" vom 27. November 1989 zitiert.
Hier wurden immer wieder Methoden des „zweiten Arbeitsmarktes" heraufbeschworen. Dazu kann ich in freier Abwandlung eines Zitats von Ludwig Erhard nur sagen: Die beste Wirtschaftspolitik ist auch die beste Arbeitsmarktpolitik. Letztlich gibt es nur einen Arbeitsmarkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
Vor dem Hintergrund des Jahres 1989 kann man bei aller gebotenen Zurückhaltung und auch bei aller Sorge nur sagen: Das, was seitdem erreicht wurde, verdient unser aller großen Respekt. Das sehen auch alle unsere internationalen Partner so. Was wir erreicht haben, ist ein großer Erfolg.
Aber nicht nur die Ausgangsbedingungen waren schwierig, sondern auch die Zeit für das Erarbeiten und die Realisierung von Lösungen. Die Zeit war äußerst knapp. Das habe ich in der Volkskammer selbst miterleben dürfen. Freiheit wurde im Herbst 1989 zunächst nur durch Freizügigkeit erlangt. Bezüglich notwendiger Veränderungen setzte das damals alle Beteiligten unter einen enormen Zeitdruck. Unter diesen Bedingungen war eine ganz schnelle Wiedervereinigung der einzige gangbare Weg. Die erste Partei, die sich in Ost und West zu diesem Weg bekannte, war die CDU/CSU - in Ost und West. Das war für mich der Grund, damals in die CDU einzutreten.
Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, allen zu danken, die diesen Weg, auch aus diesem Hause heraus, unbeirrt beschritten haben: Ich denke an Helmut Kohl, ich denke an Theo Waigel, und ich denke auch an Lothar de Maizière. Ich glaube, ihnen allen gebührt unser ganz besonderer Dank, auch an einem solchen Tage.
- Natürlich auch der F.D.P., entschuldigen Sie.
Ich habe das vor dem Hintergrund meines Parteibeitritts gesagt. Ich wäre damals nicht auf die Idee gekommen, in die SPD einzutreten.
Als besonders enttäuschend habe ich es empfunden, daß die Berliner SPD-Regierung gerade an dem Tag, als Helmut Kohl in diesem Hause sein ZehnPunkte-Programm vorstellte, die Aufnahme von Übersiedlern aus der DDR einzuschränken beschloß. Die damalige SPD-Sozialsenatorin, Ingrid Stahmer, sagte am 28. November gegenüber dpa: „Wir können nicht mehr. " Hätte Frau Stahmer das zur gegenwärtigen Situation der SPD gesagt, wäre es wahrscheinlich zutreffender gewesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU, die CSU und auch die F.D.P.,
also die Koalition, waren die Parteien der Wiedervereinigung. Dies wird vom weitaus größten Teil der Bevölkerung in Ostdeutschland so gesehen. Wer dies versucht zu leugnen, hat ein unrealistisches Bild von den Empfindungen und Erwartungen der Menschen in Ostdeutschland.
- Ich habe dort gelebt, lieber Kollege.
Zu den Ergebnissen des Wiederaufbaus in den neuen Ländern ist heute viel gesagt worden - viel Richtiges, aber auch viel Falsches. Ich möchte mich deshalb an dieser Aufrechnung - wie ich es nennen möchte - der Geschichte nicht beteiligen.
Ich möchte feststellen, welch große Solidarleistung in den letzten fünf Jahren von der westdeutschen Bevölkerung für uns in den neuen Bundesländern trotz aller Unkenrufe aufgebracht wurde. Ich möchte unseren Landsleuten namens vieler Menschen aus dem Osten unseren großen Dank und unsere Anerkennung für die gelebte Solidarität in dieser Zeit aussprechen.
Ohne diese Solidarität wären wir wirtschaftlich wahrscheinlich auf einem ähnlichen Niveau wie Tschechien oder Polen heute. Wir sind aber - das
Dr.-Ing. Paul Krüger
muß ich in aller Deutlichkeit sagen - von einem selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung weit entfernt. Inzwischen sind zwar die Verhältnisse im Konsumbereich zwischen Ost und West fast ausgeglichen, aber die Schaffung von Arbeitsplätzen und der wirtschaftliche Aufschwung in Ostdeutschland bleiben nach wie vor ein zentraler Punkt unserer Politik.
Die Hauptaufgaben sind die weitere Sanierung und der Ausbau der Infrastruktur, die Sanierung und der Neubau von Wohnungen, die Ansiedlung und Entwicklung von verarbeitendem Gewerbe und Dienstleistungen, die Stärkung von Forschung und Entwicklung zur Erreichung von Innovation, über die heute bereits gesprochen wurde, und die Stärkung der Eigenkapitalbasis von Unternehmen.
Eine Konzentration auf diese Hauptaufgaben ist deshalb auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Haushaltssituation notwendig. Ich muß aber all diejenigen warnen, die, obwohl sie die Situation der ostdeutschen Wirtschaft vor Augen haben, jetzt über Sparen in Ostdeutschland nachdenken.
Die derzeitige Differenz zwischen Inlandsnachfrage in Ostdeutschland und Bruttoinlandsprodukt beträgt nach wie vor weit über 200 Milliarden DM. Der Aufbau Ost wird deshalb noch über Jahre hinaus unsere Aufgabe bleiben. Die Forderung nach weiterer Reduzierung der Ostförderung, die seit Jahresbeginn immer wieder insbesondere aus vielen westdeutschen Ländern kommt, kann ich deshalb nur, wenn ich es freundlich ausdrücke, als kurzsichtig bezeichnen.
Ich sage daher deutlicher: Wir brauchen zwar nicht mehr die Gießkanne, aber wir ertragen auch noch keinen Rasenmäher, geschweige denn - ich sage das mit allem Nachdruck - den Preßlufthammer; denn die Förderung Ostdeutschlands darf nicht zum Steinbruch der Finanzpolitik in Bund und insbesondere den westdeutschen Ländern werden. Wir brauchen weiterhin die Solidarität des gesamten deutschen Volkes, wie sie im Solidarpakt ihren Niederschlag findet.
Ein Bremsen hätte für die gegenwärtige gute konjunkturelle Entwicklung in Ostdeutschland fatale Folgen nicht nur in Form erheblicher finanzieller Zusatzlasten, sondern auch für die Psyche der Menschen, denen wir in den letzten Jahren sehr viel zugemutet haben, die aber auch Gott sei Dank sehr viel Neues erfahren durften. Leider klang vieles in der heutigen Debatte sehr belehrend. Ich möchte niemanden belehren, aber ich wünschte mir manchmal, daß wir mehr aufeinander hören, daß wir mehr zuhören.
Trotz aller Probleme und aller Schwierigkeiten der Menschen in den neuen Ländern haben diese Menschen mit viel Geduld und Risikobereitschaft, Konsequenz und Leidenschaft die Aufgaben dort in Angriff genommen. Denjenigen, die in Westdeutschland sagen, die Menschen seien unzufrieden, sage ich deutlich: Sie sind es nicht, sie sind manchmal verunsichert, verunsichert durch vieles, was sie neu lernen mußten. Dabei haben sie vor allem ein großes Problem, das ist die schwierige Eigentumssituation, die wir im Osten haben, das ist ein Bereich, in dem die Schere sich immer weiter öffnet. Das wurde heute bereits angesprochen.
Insofern glaube ich, haben wir weniger eine Mauer in den Köpfen als vielmehr eine Mauer zwischen den Brieftaschen. Wir sollten großes Augenmerk darauf legen, dieser Entwicklung staatlich - der Staat kann hier nicht allzuviel machen, das weiß ich, aber wir müssen der Situation klar ins Auge sehen - entgegenzuwirken.
Ich sehe die Probleme in Ostdeutschland, die uns der Sozialismus eingebrockt hat, ein Sozialismus, der immer die Gleichheit will, aber letztlich die Armut der Menschen erzeugt hat. Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Die sozialistischen Rezepte, die immer wieder hier in diesem Hause aus den Reihen der Opposition angeboten werden, werden die Probleme Ostdeutschlands nicht lösen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sitzen alle in einem Boot. Für die Bewältigung der zweiten Etappe auf dem Weg zur Wiedervereinigung ist besonders wichtig, daß nicht nur erkannt wird, daß wir ein Volk sind, sondern daß auch erkannt wird, daß wir auf Gedeih und Verderb in diesem einen Boot sitzen, daß nicht nur erkannt wird, daß wir solidarisch miteinander umgehen sollten, sondern daß auch erkannt wird, daß wir gemeinsam die Verantwortung für die Lösung der anstehenden Probleme tragen und daß die erfolgreiche Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft nur in gemeinsamer Verantwortung geschehen kann.
So hoffe ich, daß auch die heutige Debatte zu mehr Verständnis und vor allen Dingen zu mehr Gemeinsamkeit trotz aller Kontroversen beitragen wird.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Hacker, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Krüger, wenn man Ihren Appell ernst nehmen würde, dann wären, so muß ich sagen, die Äußerungen von Ihnen über den Weg zur deutschen Einheit, über die Situation im Herbst und im Winter 1989/90 überflüssig gewesen. Sie haben die damalige Situation in einer beschönigenden Art und Weise beschrieben. Ich glaube, das, was Herr Kubatschka vorhin sagte, ist zutreffend. Ihnen fehlt ein gewisses Maß an Geschichtsverständnis.
Ich würde Sie einladen, schauen Sie sich doch einmal das erste Statut der damals noch SDP genannten
Partei, der ersten Oppositionspartei in der zu Ende
Hans-Joachim Hacker
gehenden DDR, an und insbesondere das, was wir am 7. Oktober 1989 zur Frage der deutschen Einheit gesagt haben! Wenn Sie in einer beweihräuchernden Art und Weise die Position der Koalitionsparteien zur deutschen Einheit darstellen und die Situation im Jahr 1989 schildern, dann rate ich Ihnen auch: Schauen Sie in die Unterlagen des KoKo-Untersuchungsausschusses, wie dort die Positionen dieser Regierungskoalition im Oktober 1989 beschrieben worden sind! Ihnen würden die Augen aufgehen. Ich rate Ihnen das dringend.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Grundsatzdebatte zur Situation in Deutschland fünf Jahre nach der Herstellung der staatlichen Einheit ist für meine Fraktion mit dem Dank an diejenigen Frauen und Männer verbunden, die sich während der Zeit der Teilung für Einigkeit und Recht und Freiheit eingesetzt haben und dafür in Gefängnisse und Zuchthäuser der SBZ und DDR geschickt wurden. Während der Zeit der Teilung wurde in der Öffentlichkeit Westdeutschlands an den Mut dieser Frauen und Männer erinnert und deren Schicksale gedacht. Verbunden wurde damit auch die Zusage des freien Deutschlands, den Opfern von Unterdrückung und Tyrannei verpflichtet zu sein. Das muß um so mehr für das vereinte Deutschland gelten. Rehabilitierung und Wiedergutmachung von Unrecht waren auf dem Gebiet der DDR erst nach der friedlichen Revolution 1989 möglich. Der gesamtdeutsche Gesetzgeber steht heute in der Pflicht, Defizite in der Rehabilitierungsgesetzgebung endlich zu beseitigen.
Ihnen, meine Damen und Herren, liegt heute ein Entwurf der SPD-Bundestagsfraktion vor, mit dem wir ein Paket von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Opfer des DDR-Systems vorschlagen. Die Bundesregierung hat dem Bundesrat ebenfalls einen Gesetzentwurf zur Änderung der beiden SEDUnrechtsbereinigungsgesetze zugeleitet. Mit ihm sollen die Antragsfristen in den beiden Artikelgesetzen jedoch lediglich um zwei Jahre verlängert werden.
Die Bewertung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung ist auf einen kurzen Nenner zu bringen. Er wird der Situation der Opfer nicht gerecht, da er die Ergebnisse der bisherigen Umsetzung der Rehabilitierungsgesetze nicht aufgreift.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist handwerklich nicht zu beanstanden. Seine einsamen zwei Artikel bringen für die Betroffenen jedoch in materiell-rechtlicher Hinsicht nichts.
In den letzten Monaten hat sich meine Fraktion intensiv mit der Frage der Stellung der Opfer nach vorliegender umfangreicher Erfahrung bei der Umsetzung der Rehabilitierungsgesetze beschäftigt. Diesem Ziel diente auch eine öffentliche Anhörung am 12. September dieses Jahres in Berlin, bei der Betroffenenverbände, Sachverständige, Landesbehörden und Vertreter der Bundesregierung ihre Erfahrungen darlegen konnten. Die Ergebnisse und Schlußfolgerungen aus dieser Anhörung decken sich im wesentlichen mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission des Schweriner Landtages, die sich mit dem Leben in der DDR, mit dem Leben nach 1989 und mit der Aufarbeitung und Versöhnung beschäftigt.
Es sind erhebliche Mängel und Lücken in beiden SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen festzustellen. Der Gesetzgeber ist dringend gefordert, durch Novellierung der beiden Gesetze die Situation der Opfer zu verbessern.
Genau diese Zielstellung verfolgt der Ihnen von meiner Fraktion vorgelegte Antrag auf Drucksache 13/2445.
Ich komme an dieser Stelle nicht umhin, festzustellen, daß die von den Betroffenen vorgetragene Kritik und deren Forderungen von meiner Fraktion bereits teilweise in der zweiten Lesung der beiden Gesetzentwürfe als Defizite benannt wurden.
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte in der Plenarsitzung am 17. Juni 1992 sowie am 11. März 1994 insbesondere kritisiert, daß im „Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz die Vererblichkeit" und die Höhe der Haftentschädigung unzureichend geregelt sind.
Die von meiner Fraktion eingebrachten drei Änderungsanträge sind von Ihnen, meine Damen und Herren aus der Koalition, damals jedoch abgelehnt worden.
Ebenso ist die vom Rechtsausschuß eingeforderte Regelung für Opfer von Verschleppungsmaßnahmen östlich von Oder und Neiße bis heute nicht befriedigend erfolgt. Dafür trägt diese Bundesregierung direkt die Verantwortung.
Während bei der Regelung der offenen Vermögensfragen im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz die Bundesregierung Milliardenbeträge bewilligt hat, sind die Zahlungen für Schäden an Leib und Leben sowie die Ausgleiche für oft lebenslange Benachteiligungen sparsam, um nicht zu sagen kümmerlich ausgefallen - eine derartige Schieflage, die die Frage nach den Wertmaßstäben dieser Bundesregierung aufwirft.
Ich wäre an dieser Stelle gerne auf die Aussagen des Bundeskanzlers eingegangen, der hier richtigerweise über Käfige in Bautzen und das gelbe Elend gesprochen hat. Ich hätte ihm gerne die Frage gestellt: Wo sind die Konsequenzen?
Welche Maßnahmen schlägt er heute vor, um die Situation der Opfer zu verbessern? Es ist Zeit, daß die Bundesregierung und die Koalition in dieser Frage eine moralische Wende vollziehen.
Hans-Joachim Hacker
Die Zeit der Sonntagserklärungen und Lippenbekenntnisse gegenüber den Opfern muß endlich ein Ende haben.
Diese Forderungen an Sie, die Kolleginnen und Kollegen der Koalition, leuchten wohl jedem ein, der sich mit den Ergebnissen der bisherigen Rehabilitierungsgesetzgebung für die Betroffenen auseinandergesetzt hat.
Die SPD-Bundestagsfraktion stellt den Antrag auf deutliche Nachbesserungen nicht leichtfertig, weil auch wir wissen, daß der zur Diskussion gestellte Antrag in seiner Ausführung Geld kostet. Wir stellen diesen Antrag jedoch vor dem Hintergrund der Verantwortung für die Frauen und Männer, die dem Unrecht in der damaligen SBZ und der DDR Widerstand entgegengebracht haben oder die allein wegen der Inanspruchnahme bzw. der Einforderung von Bürgerrechten politisch drangsaliert und verfolgt worden sind.
Es kann nicht sein, daß in Deutschland und insbesondere in der Gesetzgebung dieses Hohen Hauses der Immobilienwert höher eingestuft wird als der Wert für Gesundheit, für Lebenschancen, ja der Wert für Leben an sich.
Meine Damen und Herren, wir fordern erstens die Erhöhung der Kapitalentschädigung im strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz sowie die Erweiterung der Vererblichkeitsregelung und zweitens die Einführung einer moralischen Rehabilitierung bei Verwaltungsunrecht. Wir wollen dem Schicksal der Betroffenen gerechter werdende Regelungen für die Verschleppungsfälle östlich von Oder und Neiße erreichen, insbesondere im Wege der Nachbesserung der Stellung und Möglichkeiten der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge.
Zur Situation der Zwangsausgesiedelten könnte ich an dieser Stelle viel sagen. Hier muß nachgebessert werden. Es geht nicht an, daß eine Rückzahlung für Erstattungsbeträge und für Inventar eingefordert wird, wenn dieses Inventar längst untergegangen ist.
Zum letzten. Es muß auch bei den Rentenanwartschaften eine Verbesserung für die Verfolgten erreicht werden.
Es ist heute, wenige Tage nach dem fünften Jahrestag der Wiedervereinigung, sicher der geeignete Termin, sich dieser Aufgabe zu stellen. Für viele Betroffene, die auf das Handeln des Bundestages warten, ist die mit dem SPD-Antrag eingeleitete Debatte die letzte Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erlangen.
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe, weise ich auf den neuen § 45 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung und insbesondere darauf hin, daß wir für die Kernzeit-Debatten ein bestimmtes Quorum brauchen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christa Luft, PDS.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gestanden, nach den bisherigen Beiträgen der Regierungsvertreter und der Koalitionsabgeordneten frage ich mich nun schon seit Stunden: Wen wollen und können Sie eigentlich nach fünf Jahren deutscher Einheit damit noch ansprechen oder gar mobilisieren, daß Sie die Abgeordneten hier im Saal und die Wählerinnen und Wähler, die sie zu vertreten haben, in zwei Schachteln tun? Die einen sind die Guten, die Einheitsbefürworter, und die anderen sind die Bösen, die gegen die Einheit waren. Ich muß Ihnen sagen, daß dies im Lande niemanden mehr interessiert; jedenfalls beobachte ich das so. Das ist keine konstruktive Fragestellung, das spaltet künstlich.
Die Einheit gibt es doch inzwischen. Ich kenne in meinem Wahlkreis, in Berlin-Lichtenberg und in Berlin-Friedrichshain, niemanden, der sich ein geteiltes Land zurückwünscht. Da malen Sie einfach Schreckgespenster an die Wand, und Sie stempeln die Bürgerinnen und Bürger ab, die sich darüber Gedanken machen, was jetzt noch falsch läuft und was geändert werden muß. Das Thema Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit ist doch zu schade, als daß es als Wahlkampfschlager dient und in Parteienpolemik verkommt, so wie das hier heute geschieht.
Der Bundeskanzler, Herr Schäuble und Herr Waigel haben gesagt, die weltweit anerkannten Fortschritte in Deutschland und bei der Umgestaltung im Osten unseres Landes solle man nicht zerreden. Das ist sicher gut. Aber verstehen Sie denn nicht, daß die Menschen in den neuen Bundesländern - ich nehme an, auch in den alten Ländern - ihre Empfindungen, ihre Gefühle, ihre Emotionen, ihre Wertungen nicht daran messen,' ob die Bundesrepublik Deutschland den Maastricht-Kriterien entspricht oder wie sie in der ausländischen Presse dargestellt wird?
Sie machen ihre eigenen Beobachtungen, sie machen ihre eigenen Erfahrungen. Und da Sie sich gern mit Ergebnissen von demoskopischen Umfragen schmücken, wenn sie Ihnen schmeicheln, müssen Sie nun aber auch aushalten, was sogar Frau NoelleNeumann vor wenigen Tagen herausgefunden hat. Sie veröffentlichte in ihrer „Allensbach-Umfrage", daß im Gegensatz zu 1990, als noch jeder zweite Ostdeutsche in seiner Erwartungshaltung eine gute Meinung von der Sozialen Marktwirtschaft hatte, es jetzt nur noch jeder dritte ist. Das ist doch ein Signal, das Politik zur Kenntnis nehmen muß. Ich will überhaupt keine Debatte über Vorzüge der Planwirtschaft oder der Marktwirtschaft entfalten; das ist nicht das Thema. Sie müssen dieses Signal aufnehmen!
Dr. Christa Luft
Die Menschen im Osten erkennen doch, daß man der Arbeitsplatzmisere nicht mehr mit Wirtschaftswachstum, also nach dem alten Muster, beikommen kann. Herr Gerhardt kann sich auch nicht darauf zurückziehen, daß er die Risikobereitschaft der Menschen bemüht, die sie benötigen, um zu Arbeit zu kommen. Ich muß Ihnen sagen: Mehr Risikobereitschaft als in den neuen Bundesländern findet man vermutlich gegenwärtig selten auf der Welt.
Es ist gut, daß jeder ein Recht auf gewerbliche Freiheit hat. Aber es gibt kein Recht auf Anfangskapitalausstattung. Das ist doch eine Wahrheit, der Sie sich stellen müssen. Es ist gut, ein Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes zu haben; niemand möchte das mehr missen. Aber es gibt für Millionen keine Aussicht, einen Arbeitsplatz zu bekommen, und schon gar kein Recht darauf. Dieser Frage müssen Sie sich stellen.
Jugendliche in den neuen Ländern und zunehmend in den alten Ländern erkennen, daß dem Ausbildungsnotstand nicht mit Talkrunden beim Kanzler oder mit schnell aufgelegten Notprogrammen beizukommen ist, so wichtig sie in der jetzigen Lage auch sein mögen. Hier braucht man andere Regelungen. Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt zur Manövriermasse geworden. Sie wollen das nicht und werden mobil machen.
Die Wohnkostenbelastung übersteigt in ihrem Tempo das Maß der Einkommenssteigerung. Im übrigen ist diese Entwicklung wider den Einigungsvertrag. Immer mehr Menschen fürchten um ihr sicheres Dach. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen, und das müßte Sie an einem solchen Tage zu politischem Handeln veranlassen. Viele Handwerker in meinem Wahlbezirk - insbesondere in Friedrichshain waren immer massenhaft Handwerker angesiedelt - sagen: Den Sozialismus mit all den Problemen, die wir dort hatten, haben wir überstanden.
Jetzt werden wir pleite gehen, weil wir die Gewerberaummieten nicht mehr zahlen können. Diese Dinge müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Frau Merkel, ich kann Ihnen zustimmen. An Schokolade gibt es wirklich keinen Mangel mehr, auch nicht an Kinderschuhen. Ich finde das gut, was die Kinderschuhe angeht. Schokolade, meine ich, hat es
in der DDR immer genügend gegeben. Das Problem ist also gelöst.
- Wer das Beispiel mit der Schokolade anführt, muß eine solche Reaktion vertragen können. Sie können noch so laut schreien, das wird niemanden überzeugen.
Die jetzt angebotenen Lösungen für die drückendsten sozialen und wirtschaftlichen Probleme überzeugen nicht mehr. Daher haben Sie die Menschen in eine neue Orientierungskrise gestürzt. Das muß ich Ihnen sehr deutlich sagen.
Die D-Mark und - das sage ich ausdrücklich - ihre Stabilität gilt es zu schützen. Aber sie darf doch nicht das einzige sein, was die Menschen in Ost und West verbindet. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung dafür, mit allem, was in Ost und West vorhanden ist, sorgsam umzugehen. Wir müssen es zum wiederholten Male anmahnen: Mit dem, was die ostdeutschen Menschen an Arbeit und Opfern eingebracht haben, sind Sie verschwenderisch und selbstherrlich umgegangen. Dies muß endlich ein Ende haben.
Wenn Sie den jüngsten Bericht des Bundesrechnungshofes gelesen haben, dann wissen Sie, wie er den Umgang, z. B. mit dem Auslandsvermögen, das die DDR hinterlassen hat, rügt. Viele, viele andere Dinge kommen täglich hinzu.
Zeit, Frau Kollegin.
Sie sind es den westdeutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern schuldig, daß Sie mit dem, was brauchbar war und nach wie vor brauchbar ist, ordentlich umgehen.
Frau Kollegin, Zeit.
Ja. - Sie müssen den westdeutschen Bürgerinnen und Bürgern reinen Wein einschenken, daß die ostdeutschen Landsleute nicht nur Schulden mit eingebracht haben. Ich darf Ihnen zum Abschluß diese Zahl nennen: Selbst wenn man alles, was Sie belieben als Altschulden zu betrachten, addiert, dann kommen auf die 16 Millionen ehemalige DDR-Bürger 1990, vor der deutschen Einheit, je 13 540 DM.
Frau Kollegin Dr. Luft, ich bitte um Entschuldigung. Würden Sie einen Augenblick zuhören? -
Ja.
Es geht nicht, daß Sie, wenn ich zweimal „Zeit" sage und Sie ja sagen, einfach weitermachen.
Einmal habe ich es gehört! Ein zweites Mal nicht!
Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
Ich komme zum letzten Satz: Sie müssen den Westdeutschen wie den Ostdeutschen reinen Wein über die Verhältnisse einschenken. Das wird mobilisieren, aber nicht, wenn dieses Parteiengezänk hier weiter anhält.
Das Wort hat der Kollege Gerhard Schulz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fünf Jahre deutsche Wiedervereinigung, fünf Jahre Aufbau Ost, ich glaube, wir haben allen Grund, uns über das Erreichte zu freuen. Ich brauche dem, was der Bundeskanzler gesagt hat, nicht mehr viel hinzuzufügen.
Die erbrachten Leistungen haben zwei Gesichter, und diese zwei Gesichter zeigen, daß Deutschland gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlichen Möglichkeiten, daran arbeitet, Trennendes zu beseitigen.
Der eine Teil leistet einen gewaltigen finanziellen Beitrag, um zu erreichen, daß das Aufbauwerk gelingt. Dies erfolgt durch Steuergelder, die für die Entwicklung der Infra- und Wirtschaftsstruktur eingesetzt werden, und durch Beitragsgelder, die die Leistungen für das Gesundheitswesen und die Rente ermöglichen, die aber auch dafür sorgen, daß es trotz des großen Umbruchs keine großflächige Not und soziale Katastrophen gibt. Herr Kollege Scharping hat vorhin mangelndes Solidaritätsbewußtsein angesprochen. Ich finde: Genau das Gegenteil ist der Fall. Auch ich möchte von dieser Stelle aus den westdeutschen Mitbürgern ein recht herzliches Dankeschön für diese Leistung sagen.
Die andere Seite dieses Gemeinschaftswerkes ist das, was in Ostdeutschland geleistet und - ich muß es so sagen - erduldet wurde und erduldet wird. Wenn es trotz des großen Umbruches - immerhin 80 % der Industrie sind verschwunden, und allein im Bereich Braunkohle wurden 100 000 Arbeiter arbeitslos - zu keinem Aufruhr kam, so hat das zwar auch etwas mit der durch viel Geld ermöglichten sozialen Abfederung zu tun, aber hauptsächlich mit der
Bereitschaft der Menschen in Ostdeutschland, es als notwendig zu ertragen und sich weitgehendst nicht von den Pessimisten und Miesmachern anstecken zu lassen, sondern optimistisch zu bleiben. Nur noch einmal zur Erinnerung: Die CDU hat in Sachsen dort die größten Wahlerfolge, wo die Probleme am größten sind. Die Ostdeutschen haben, wo immer es möglich war, zugepackt. 84 000 in der Mehrzahl neugegründete Unternehmen sprechen eine beredte Sprache. Hier möchte ich meinen ostdeutschen Landsleuten ein Danke sagen.
Wir können stolz auf das Erreichte sein, zufrieden sein können wir nicht. Die Erfolgsmeldungen trüben mitunter den Blick für das, was noch geschehen muß, um das Werk des wirtschaftlichen Zusammenwachsens erfolgreich abzuschließen. Der Schlüssel des Erfolgs beim wirtschaftlichen Aufbau Ost lag und liegt noch immer in einer Existenzgründungswelle von kleinen und mittelständischen Betrieben, die weltweit ihresgleichen sucht. Hier wurde das Fundament für den wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen. Hier finden die meisten Lehrlinge eine Lehrstelle, und hier gibt es die meisten Arbeitsplätze. Im Kammerbezirk Leipzig z. B. beschäftigt jeder Handwerksbetrieb im Durchschnitt 13 Mitarbeiter; der Bundesdurchschnitt liegt bei sieben bis acht Mitarbeitern.
In diesem Bereich hat die Regierungskoalition mit ihrer Förderpolitik bisher hervorragende Arbeit geleistet. Für die Zukunft wird es aber von maßgeblicher Bedeutung sein, welche Schwerpunkte wir bei der Förderpolitik setzen werden. Dabei muß oberste Priorität haben, das Fundament, also die kleinen und mittleren Betriebe, in Ostdeutschland zu stabilisieren. Wer glaubt, jetzt hier sparen zu können, der gefährdet eklatant das, was bisher so erfolgreich aufgebaut wurde.
Der Bundeswirtschaftsminister hat am Dienstag zum Start des Eigenkapitalhilfefonds Ost gegenüber der Öffentlichkeit klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, daß diese Unternehmen gerade jetzt unter erheblicher Eigenkapitalschwäche leiden. Er übernimmt damit das Ergebnis vieler Analysen. Die mei- sten Unternehmen in den neuen Bundesländern haben ihr Ziel, wettbewerbsfähig zu werden und sich am Markt behaupten zu können, erst zur Hälfte erreicht. Der schwierigere Teil des Weges liegt noch vor ihnen. Sie müssen mit neuen Produkten auf den Markt, die zu entwickeln mitunter viel Aufwand erfordert, und sie müssen trotz Eigenkapitalschwäche lebens-, ja überlebenswichtige Investitionen tätigen, um weiterhin wachsen zu können. Diese Unternehmen brauchen Hilfe, um ihre Existenz zu festigen. Hier kann mit wesentlich weniger Mitteln, als in der Vergangenheit für die Gründung aufgebracht wurden, viel erreicht werden. Es können weniger Mittel sein, aber es dürfen nicht zu wenige sein. Ich rede von Forschungsförderung und Existenzfestigung.
Das setzt den Maßstab und formuliert die Notwendigkeit unserer zukünftigen Förderpolitik. Es ist zugleich die politische Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Konkret heißt das: Es ist eine falsche
Gerhard Schulz
Weichenstellung, wenn wir die Mittel für Forschung und Entwicklung in Ostdeutschland so weit herunterfahren, wie es im Haushaltsplanentwurf 1996 vorgesehen ist. Es ist eine falsche Weichenstellung, wenn wir die Verpflichtungsermächtigungen für das Eigenkapitalhilfeprogramm Ost vom 1,7 Milliarden DM auf 900 Millionen DM fast halbieren.
Dieses Programm ist' das erfolgreichste Förderprogramm der Bundesregierung, mit dem bis Mitte 1995 rund 130 000 ostdeutsche Unternehmen gefördert wurden. Diese Unternehmen beschäftigen heute 1,3 Millionen Mitarbeiter. Einschnitte in die immens wichtige Politik der Eigenkapitalstärkung werden zu Lasten der wirtschaftlichen Dynamik Ostdeutschlands gehen und damit zu Lasten Gesamtdeutschlands. Hier zu viel zu kürzen, zu viel zu sparen - damit spreche ich auch die eigene Fraktion und die Koalitionsfraktion an - heißt an der falschen Stelle sparen.
Meine Damen und Herren, wir sind unserem Ziel, eine wettbewerbsfähige ostdeutsche Wirtschaft aufzubauen, ein großes Stück nähergekommen. Noch sind wir in den Haushaltsverhandlungen, und ich denke, daß wir miteinander reden können und reden müssen, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen. Die Aufgabe für die nächsten Jahre wird sein, die ostdeutschen Unternehmen und vor allem den Mittelstand zu stabilisieren und Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Wachstum zu schaffen. Daß wir dazu in der Lage sind, zeigen die bisherigen Leistungen beim wirtschaftlichen Aufbau. Ich vertraue darauf, daß es dabei bleibt.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein paar Bemerkungen zu den Anträgen der PDS.
Erneut haben wir heute Anträge auf dem Tisch, die sich, wie auch schon in der letzten Sitzungswoche, mit dem Einigungsvertrag befassen. Es handelt sich dabei zum Teil um einen Aufguß von PDS-Initiativen aus der letzten Legislaturperiode. Die PDS hat den Einigungsvertrag als politisches Betätigungsfeld entdeckt. Hier will ich mich einer inhaltlichen Entgegnung enthalten und auf die alten Debatten in der letzten Legislaturperiode verweisen.
Eines jedoch kann nicht unwidersprochen oder un-kommentiert bleiben. Wer 1990 jedes einzelne Wort des Einigungsvertrages politisch bekämpft hat, kann sich heute nicht als Verteidiger der Inhalte dieses Vertrages verkaufen.
Das nimmt Ihnen niemand ab, meine Damen und Herren, weder im Westen noch im Osten unseres Landes.
Eine zweite Bemerkung zum Antrag der PDS über die Währungsunion und das DDR-Vermogen: Ich hätte es sehr angemessen gefunden, wenn Sie sich in gleicher Intensität um die Offenlegung Ihres SED- Vermögens gekümmert hätten.
Das haben wir hier aber nicht erlebt.
Was aus diesem Antrag spricht, ist der blanke Populismus. Natürlich gab es 1990 optimistische - ich bin versucht, auch zu sagen: naive - Vorstellungen, man könne die Privatisierung des früheren Staatsvermögens der DDR, einschließlich der Betriebe, am Ende mit einem Gewinn abschließen. Aber am Schluß standen 360 Milliarden DM, die in den Erblastentilgungsfonds als Schuldenbetrag eingestellt werden mußten.
Haben Sie sich jemals überlegt, daß man, wollte man dieses angebliche Vermögen heute verteilen, jeden Ostdeutschen vom Baby bis zum Greis mit durchschnittlich 22 500 Mark Schulden pro Kopf belasten müßte?
Aber Sie verteilen Rosinen, wo es gar keine Rosinen mehr zu verteilen gibt. Das ist der blanke Populismus, meine Damen und Herren.
Völlig unerträglich wird es allerdings im Begründungsteil Ihres Antrages. Dort besitzen Sie auch noch die Frechheit und beziehen in die Bilanz des sogenannten Volkseigentums - bei dem Sie sich übrigens endlich dazu durchringen sollten, anzuerkennen, daß es kein Volkseigentum, sondern Eigentum des Politbüros und seiner Helfershelfer war, aber das nur am Rand -
Rolf Schwanitz
die Mauergrundstücke ein. Nachdem Sie vorher die Mauergrundstücke im Begründungsteil des Antrages aufgeführt haben, heißt es dann am Schluß:
Die genannten ... Wertangaben ... belegen eindeutig, daß es ... um erhebliche Vermögenswerte geht, die die Bürgerinnen und Bürger der DDR als Volkseigentum in die deutsche Einheit eingebracht haben .. .
Meine Damen und Herren, daß die Mauergrundstücke in das politische Erbe Ihrer Partei gehören, bestreitet niemand. Aber lassen Sie bitte die Menschen dabei aus dem Spiel. Die haben mit diesen Unrechtstaten nichts zu tun.
Meine Damen und Herren, die Menschen in Ostdeutschland brauchen Ermutigung und Zuversicht. Da stimme ich mit dem, was der Bundeskanzler heute gesagt hat, überein. Sie brauchen aber auch Klarheit und Wahrheit über ihre tatsächliche Lage. Wahr ist: Seit der Wiedervereinigung ist den Menschen in Ostdeutschland ein historisch einmaliger wirtschaftlicher, sozialer und politischer Strukturumbruch zugemutet worden. Praktisch ist die gesamte Industrielandschaft von Rostock bis Plauen, von Eisenach bis Frankfurt/Oder zusammengebrochen, mit verheerenden Folgen für den Arbeitsmarkt. Eine Veränderung solchen Ausmaßes hat es in Deutschland in der Neuzeit noch nicht gegeben. Von diesem Strukturumbruch hat sich Ostdeutschland trotz aller Fortschritte seither noch nicht wieder erholt. Das ist die Wahrheit, an der Sie sich heute auch in der Regierungserklärung vorbeigedrückt haben, genauso wie in den letzten Jahren zuvor.
Doch welchen Preis mußten die Menschen in Ostdeutschland für den beängstigenden Optimismus und auch für die in den letzten Jahren zu beobachtende Entschlußlosigkeit der Bundesregierung bezahlen? Wenn nur noch 30 % der Menschen in den neuen Bundesländern der Sozialen Marktwirtschaft Positives abgewinnen können, dann ist das auch die Schuld dieser Bundesregierung, denn sie hat den Menschen in Ost und West mit geschönten und völlig unrealistischen Prognosen die wirklichen Probleme des Vereinigungsprozesses vernebelt.
Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Mauer in den Köpfen der Menschen erneut gewachsen. Aus Verdruß und Enttäuschung wählt ein Fünftel der Ostdeutschen die Erben der kommunistischen Staatspartei der DDR. Das ist auch ein Stück Verantwortung dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren.
Und was macht die Bundesregierung angesichts dieser Lage? Sie verdrängt, sie verharmlost weiter, anstatt heute hier in dieser Debatte eine schonungslose Bilanz auf den Tisch zu legen.
Ich gebe nur einige Beispiele für die Art dieser Politik des Verdrängens und Beschönigens. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen, die die Bundesanstalt für Arbeit Monat für Monat veröffentlicht, spiegeln das wirkliche Ausmaß der Unterbeschäftigung in den neuen Bundesländern überhaupt nicht angemessen wider.
Wenn es heißt, daß gut 13 % der Menschen in Ostdeutschland arbeitslos sind, dann ist das weniger als die halbe Wahrheit. Rechnet man nämlich die 80 000 Kurzarbeiter, die 200 000 Menschen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die 270 000 Teilnehmer an Weiterbildungsmaßnahmen, die über 100 000 Fälle, die nach § 249h AFG beschäftigt werden, und die 380 000 Vorruheständler und Bezieher von Altersübergangsgeld hinzu, dann sind es neben der offiziellen Zahl von 1 Million Arbeitslosen noch einmal über 1 Million Menschen, die eigentlich auch arbeitslos sind, aber in Maßnahmen der Arbeitsverwaltung versteckt werden.
Insgesamt liegt die Zahl der Unterbeschäftigten in Ostdeutschland bei über 2 Millionen; das sind über 30 % aller Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern. Dabei sind noch nicht einmal die Hunderttausende von Menschen berücksichtigt, die ihre Heimat verlassen haben bzw. von Ostdeutschland nach Westdeutschland pendeln müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Es ist richtig, daß die Zahl der Erwerbstätigen nicht in allen, aber doch in einigen Regionen des Ostens in den letzten Monaten leicht zugenommen hat. Das jedoch ändert nichts an der absolut katastrophalen Lage des Arbeitsmarktes in Ostdeutschland. Wir sind noch meilenweit von einem Niveau entfernt, das eine mit Westdeutschland vergleichbare Beschäftigung darstellt, meine Damen und Herren.
Zu Beginn des Jahres 1990 gab es 9,7 Millionen Arbeitsplätze in der DDR. Innerhalb von nur wenigen Monaten brach praktisch das gesamte Industriepotential zusammen; Millionen Menschen mußten ihren angestammten Arbeitsplatz verlassen oder wurden arbeitslos. Heute, fünf Jahre nach diesem Zusammenbruch, fehlen noch immer 2 bis 3 Millionen Arbeitsplätze, fast 1 Million allein im industriellen Sektor, wie der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Klaus Murmann, kürzlich feststellte.
Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich, was diesen Menschen angetan wurde, was es bedeutet, wenn sich Millionen Menschen ausgegrenzt und nutzlos vorkommen, was das für das Zusammenleben der Menschen in den Städten und Gemeinden bedeutet?
„Wenn im Westen 80 % aller Industriearbeitsplätze verlorengegangen wären, dann hätten wir eine revolutionäre Situation gehabt, und die Republik hätte in Flammen gestanden."
Rolf Schwanitz
Wer das gesagt hat, ist niemand, der die Menschen in Ostdeutschland zu Haß und Gewalt aufstacheln will. Das war vielmehr der Unternehmer und Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Tyll Necker.
Er hat offensichtlich eher ein Gefühl für die Tiefe und das Ausmaß des Strukturbruches, der den Menschen zugemutet worden ist. Sie haben dieses Mitgefühl heute jedenfalls nicht gezeigt.
Meine Damen und Herren, ich will gern noch ein weiteres Beispiel für Ihre Politik des Verdrängens und Wegschauens nennen. Es ist ein besonders ärgerliches Beispiel, weil die Bundesregierung das Problem nun schon seit Jahren vor sich herschiebt. Ich meine die Lösung der sogenannten Altschuldenfrage ostdeutscher Kommunen für gesellschaftliche Einrichtungen.
Ich kann die Haltung Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, in der sogenannten Altschuldenfrage in der Tat nicht nachvollziehen. Es ist doch überhaupt nicht einzusehen, warum Rostock, Halle, Magdeburg, Leipzig und Hunderte anderer Städte Millionen von Altschulden aus DDR-Zeiten bezahlen sollen, während Dresden oder Ostberlin und die überwiegende Mehrheit der Städte und Gemeinden schuldenfrei sind. Dabei haben alle genau das gleiche gemacht, nämlich Kindergärten, Schulen, Schwimmhallen und Sportplätze gebaut.
Es ist doch verrückt: Sie, Herr Bundeskanzler, wollen Mahnbescheide an Kommunen schicken, die bereits heute bis zur Halskrause verschuldet sind und selbst kaum über eigene Einnahmen verfügen, um ihre Pflichtaufgaben erfüllen zu können. Sollen denn diese Gemeinden ihre Verwaltungsaufgaben liegenlassen und den Bau von Schulen, Straßen und Kläranlagen einstellen, damit die dubiosen Altschulden aus DDR-Zeiten an die Bundesregierung zurückgezahlt werden können? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Ich habe durchaus Sympathie - das sage ich an dieser Stelle ganz offen - für die Auffassung der ostdeutschen Gemeinden, wenn sie sagen, die sogenannten Altschulden seien eigentlich gar keine Schulden, sondern gehörten dem Grunde nach als Zuschüsse aus dem Staatshaushalt der DDR behandelt und heute als Verbindlichkeiten in den Erblastentilgungsfonds eingestellt.
Obwohl ich für diese Position Verständnis habe, warne ich vor langwierigen rechtlichen Auseinandersetzungen auf diesem Gebiet. Heute ist etwas anderes wichtig: Die betroffenen Gemeinden in Ostdeutschland brauchen fünf Jahre nach der Vereinigung endlich Klarheit über ihre Finanzen.
Deshalb sagen wir: Die Bundesregierung muß das Problem der Altschulden politisch lösen. Was wir brauchen, ist die Bereitschaft zu einer pragmatischen Lösung; was wir brauchen, ist der Wille zum Kompromiß auf der Regierungsseite.
Es reicht nicht mehr aus, daß Herr Bohl Sondierungsgespräche mit den Staatssekretären in den Staatskanzleien der neuen Länder führt. Die Blockadepolitik des Finanzministers muß beendet werden. Bund, Länder und ostdeutsche Gemeinden müssen an einen Tisch.
Die Zeit, Herr Kollege!
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Egal ob es um die Altschulden, um die Arbeitslosigkeit oder um Investitionsfragen geht - Verdrängen und Beschönigen sind der falsche Weg. Was wir von dieser Bundesregierung erwarten, sind Wahrheit und Klarheit, und hier werden wir in den nächsten Jahren ansetzen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Gysi, PDS.
Herr Präsident! Herr Schwanitz hat in seiner Rede erneut darauf hingewiesen - das hat er auch schon in einer früheren Debatte getan, und dazu will ich mich äußern -, daß diejenigen, die jede Zeile des Einigungsvertrags abgelehnt hätten, nicht berechtigt seien, nunmehr Änderungen und Ergänzungen zu diesem Einigungsvertrag zu fordern.
Erstens möchte ich Sie, Herr Schwanitz, bitten, meine damalige Rede in der Volkskammer vollständig zu lesen. Dann werden Sie bei aller Kritik und Ablehnung des Einigungsvertrags - übrigens hat nicht allein die PDS ihn abgelehnt, sondern auch eine andere Fraktion hat dies getan - auch einen Satz finden, in dem ich gesagt habe, daß in diesem Einigungsvertrag auch einiges positiv geregelt ist. Obwohl wir ihn heute ablehnen - so habe ich damals gesagt -, gehe ich davon aus, daß es die PDS ist, die als erste diese Bestandteile verteidigen und auf der Einhaltung des Einigungsvertrags bestehen wird.
Daß es augenscheinlich schon so gekommen ist, zeigt sich - so behaupte ich - zumindest daran, daß diese Abgeordnetengruppe über den Einigungsvertrag wesentlich mehr spricht als die Fraktion da drüben, die ihn damals ausgehandelt hat, und das hat auch Gründe.
Zweitens haben Sie gesagt, daß die Bundesregierung die Verantwortung dafür trage, daß ein Fünftel der Menschen in den neuen Bundesländern PDS
Dr. Gregor Gysi
wählt. Abgesehen davon, daß ich auch eine gewisse Verantwortung bei uns sehe, denke ich, daß Sie mit Ihren Reden auch einen Beitrag dazu leisten, daß die Leute PDS wählen.
Herr Kollege Schwanitz.
Herr Gysi, ich hätte mir als erstes gewünscht, daß Sie hier vor allem etwas zu dem Thema Mauergrundstücke sagen.
Dazu habe ich bei Ihnen kein Wort gefunden. Aber das, denke ich, spricht auch für sich.
Ich will Ihnen ganz klar sagen: Bevor ich einen solchen Satz sage, lese ich selbstverständlich im Protokoll der Volkskammer nach. Ich habe Ihre Reden nachgelesen. Was Sie dort über den Einigungsvertrag und seinen Inhalt gesagt haben, war das blanke Schüren von Angst, von Verängstigung, von Unsicherheit. Sie haben behauptet, die Leute würden verarmen, die Rentner würden pauschal zu Sozialhilfeempfängern mutieren. Ich kann Ihnen nur raten, Ihr damaliges Manuskript selbst noch einmal nachzulesen. Das ist ein Element, das in die Geschichte eingehen wird und das vor der gesamten Diskussion steht, in der Sie sich jetzt sehr bemühen, sich als der scheinbare Hüter des Einigungsvertrages zu profilieren.
Den Menschen ist sehr wohl noch im Kopf, wer diese Verträge ausgehandelt hat, wer diesen Weg mitgegangen ist und wer diesen Verträgen trotz Bauchschmerzen an einigen Stellen zugestimmt hat und wer sich von Anfang an verweigert hat und heute dem Populismus frönt.
Angesichts der fortgeschrittenen Zeit, Herr Kollege Gysi, lasse ich eine weitere Kurzintervention nicht zu und schließe die Aussprache.
- Ich bitte um Entschuldigung. Diskutieren Sie mit mir nicht über die Geschäftsordnung!
Interfraktionell wird die Überweisung der in der Tagesordnung aufgeführten Vorlagen an die dort genannten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage mit den Materialien zur deutschen Einheit - Drucksache 13/2280, Tagesordnungspunkt 3 b - soll zusätzlich dem Sportausschuß, der Gesetzentwurf der SPD zur Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes - Drucksache 13/2444, Tagesordnungspunkt 3 f - soll zusätzlich dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich halte eine Mittagspause von 20 Minuten für nicht in Ordnung. Unter Menschenrechtsgesichtspunkten ist eine halbe Stunde das mindeste. Ich unterbreche deshalb die Sitzung für die Mittagspause bis 14.10 Uhr. Wir setzen die Beratung dann mit der Großen Anfrage der Fraktion der SPD zur Arbeitszeitflexibilisierung fort.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Rudolf Dreßler, Gerd Andres, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Entwicklung und Stand der Arbeitszeitflexibilisierung in Deutschland
- Drucksachen 13/1334, 13/2581 -
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rudolf Dreßler, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Beantwortung einer Großen Anfrage der SPD-Fraktion zum Stand und der Entwicklung der Arbeitszeitflexibilisierung in Deutschland. Die Bundesregierung hat fünf Monate gebraucht, um die Anfrage der SPD- Fraktion zu beantworten. Ich denke, wir sollten über diese Ergebnisse hart in der Sache und mit Blick auf die Arbeitslosigkeit, auf die Arbeitsplatzabwanderung und die notwendigen Neuerungen in der Wirtschaft ohne Scheuklappen reden.
Die Antworten auf diese Große Anfrage sind geeignet, Mythen, die sich im Laufe der Zeit um die Flexibilisierung der Arbeitszeit gebildet haben, in die Wirklichkeit zurückzuholen, j a, sie vielleicht sogar zu zerstören.
Mythos Nummer eins: Die Arbeitszeitflexibilisierung sei der Schlüssel für den Weg der deutschen Wirtschaft in eine wettbewerbssichere Zukunft, so heißt es. Mein Kommentar: Das ist falsch. Denn ausweislich der Antworten der Bundesregierung weiß die Politik über viele Aspekte der Flexibilisierung nichts oder fast nichts, was sich mit Fakten belegen ließe. Auf 29 von insgesamt 49 Fragen meiner Fraktion antwortet die Bundesregierung, es gebe hierzu kein hieb- und stichfestes, nachprüfbares Material. Es handelt sich dabei nicht um Nebenaspekte, sondern um zentrale Fragen der Flexibilisierung. Auf die
Rudolf Dreßler
Frage, welche Ursachen es habe, daß tarifvertragliche Flexibilisierungsmöglichkeiten nicht genutzt würden, lautet die Antwort: keine empirischen Erkenntnisse.
Nicht einmal die Frage, wie lange Schichten in Deutschland im Schnitt dauerten, kann beantwortet werden. Wieder heißt es: keine empirischen Erkenntnisse. So geht es weiter.
Aber stets ist bei Vertretern der Regierung zu hören, viel mehr Flexibilisierung sei notwendig,
die Arbeitsstrukturen müßten gehörig umgekrempelt werden. Oft genug ist in diesem Zusammenhang zu hören, die Arbeitnehmerschaft sei zu träge und zu anpassungsunwillig geworden.
Wie kommen Repräsentanten der Bundesregierung dazu, so etwas zu sagen, wenn sie nicht einmal wissen, wie lange heute im Schnitt ein Schichtarbeiter oder eine Schichtarbeiterin in Deutschland an den Maschinen stehen muß?
Beschäftigt die Regierung Hellseher, die den Ministern stecken, was die Statistik nicht hergibt? Was ich nicht weiß, kann ich nicht zur Grundlage von Politik machen.
Das ist an sich kein Grund zur Traurigkeit, aber - so denke ich - ein Anlaß, sich zu besinnen.
Ich halte den Materialband zum jüngsten Agrarbericht der Bundesregierung in der Hand - wie alle sehen können, ein voluminöses Werk, das fast keine Frage zur Agrarwirtschaft sachlich unbeantwortet läßt. Ist es nicht erstaunlich, daß das schon klassische Exportland Bundesrepublik Deutschland über den Sektor Landwirtschaft ein fast lückenloses Netz von Daten zu werfen weiß, aber auf dem angeblichen Königsweg zur Sicherung der Wettbewerbsstärke in Industrie und Dienstleistung himmelschreiend große weiße Flecken hinnehmen muß? Müßte eine Regierung, die seit Jahren landauf, landab den Segen wachsender Flexibilisierung predigt, nicht ein enormes Interesse daran haben, solche Wissenslücken zu tilgen? Ich frage: Warum tut sie das nicht?
Könnte es sein, daß diesem Zustand ein gestörtes, auch oberflächliches Verhältnis zu den Wissenschaften zugrunde liegt, die sich mit den realen Bedingungen an den Arbeitsplätzen beschäftigen? Oder ist es einfach so, daß die Bundesregierung nicht wissen will, welche betriebliche Wirklichkeit in Deutschland gegeben ist?
Der zweite Mythos: In den meisten Beiträgen der konservativen Politik über die Rolle der Gewerkschaften und der Betriebsräte bei der Modernisierung des Produktionsapparates wird eine eigentümlich starre, man könnte auch sagen: fortschrittsgegnerische Haltung unterstellt. Dieser Mythos will weismachen, es stünden sich kluge, Innovation und Märkte witternde Unternehmer auf der einen Seite und betonköpfige Gewerkschafter, die Betriebsräte, auf der anderen Seite gegenüber.
Auch dieser Mythos zerbröselt. Die Regierung signalisiert nun selber, daß in Gewerkschaften und Betriebsräten eine große Willigkeit steckt, sich durch Vorschläge und Regelungen mit den neuen Formen der Verteilung von Arbeit während der wöchentlichen Produktionsperiode auseinanderzusetzen.
Ich frage: Wann schlägt sich diese Einsicht in den gesellschaftspolitischen Manuskripten der Konservativen und der Wirtschaftsliberalen nieder?
Mythos Numero drei: Ein Dreh- und Angelpunkt der Regierungsposition ist die Behauptung, die Maschinen laufen in Deutschland nicht lange genug. Jetzt wird klar, daß die seit 1989 immer wieder aufgestellte Behauptung, in Deutschland drehen sich die Räder im Schnitt und pro Woche lediglich 53 Stunden, auf zweifelhaften Annahmen basiert.
Anderen, höheren Werten für das verarbeitende Gewerbe wird jedenfalls nicht mehr die Gültigkeit von vornherein abgesprochen. Damit zertrümmert die Regierung einen Mythos, an dessen Entstehen sie selbst eifrig beteiligt war. Ich begrüße das und füge hinzu: Große Schadenfreude will sich bei mir nicht einstellen; dazu ist die Lage der Wirtschaft und von Millionen arbeitswilliger Menschen zu ernst.
Längere Maschinenlaufzeiten können notwendig sein. Sie sind aber andererseits keineswegs ein Zeichen höchst effizienter Arbeitsorganisation. Oft genug steht hinter der Forderung nach längeren Maschinenlaufzeiten die Tatsache, daß Unternehmer es nicht schaffen, dem eingesetzten Kapital im gegebenen Rahmen eine höhere Produktivität zu geben.
Ich finde es daher, milde gesagt, erstaunlich, daß man generell längere Maschinenlaufzeiten verlangt, daß aber andererseits nur gut 30 % der im Schichtbetrieb arbeitenden Unternehmen über den Einschichtbetrieb hinausgekommen sind. Wie paßt das alles eigentlich zusammen?
Mythos Numero vier: Die Antworten der Regierung vermitteln ein sehr differenziertes Bild über den Komplex der Samstags- und Sonntagsarbeit. Wenn ich mir die hysterische Diskussion der vergangenen Monate über die Notwendigkeit einer Erhöhung der Zahl der Werktage vor Augen führe, dann konnte man den Eindruck haben, allein an dieser Frage entscheide sich das Schicksal der deutschen Wirtschaft.
Rudolf Dreßler
Davon kann jetzt überhaupt keine Rede mehr sein. Auch dieser frische Mythos verblüht. Tatsächlich existiert lediglich ein sektoral sehr eingeschränkter, von Branche zu Branche höchst unterschiedlicher Druck in Richtung Samstag und Sonntag.
Erkennbar wird freilich, daß das Arbeitszeitgesetz der Regierung einen Dammbruch in dieser Frage herbeiführt. Es ist ein Dammbruch, für den es keinen zwingenden ökonomischen Grund gibt. Wer heute dafür plädiert, die tarifvertraglichen Grenzen der Samstagsarbeit zu beseitigen, damit der Samstag ein voll gültiger Werktag werden kann, und wer den Sonntag zum Reparatur- und Einrichtetag der Produktion machen will, der hat in Wahrheit eine kulturelle Revolution im Sinn.
Auch der Sonntag wird dann unter dem angeblichen Zwang der betrieblichen Verhältnisse aus dem Reparatur- und Einrichtetag heraus- und in den regulären Werktag hineinwachsen.
Das ist wie bei den nebeneinandergestellten Dominosteinen: Fällt der erste, dann fallen alle anderen auch. Wie dann der Zusammenhalt der Familien gewahrt wird, wie sich eine Gesellschaft entwickelt, die ihren Leim verliert, bleibt ungewiß.
Ich frage mich, ob sich der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU ähnliche Fragen stellt; denn er ist doch derjenige, der für seine Partei den großen Diskurs über das Menschsein aus christlicher Sicht in der heutigen Zeit anführt. Wenigstens Problembewußtsein scheint in der Regierung vorhanden zu sein, ausweislich ihrer Antworten.
Warum ist die weiter voranschreitende Flexibilisierung der Arbeitszeit dennoch so wichtig? - Weil es für unser Land unabdingbar ist, die zentrale Größenordnung der Lohnstückkosten auf einem Pfad zu halten, der unsere Konkurrenzfähigkeit sichert. Löhne und die lohnbezogenen Zusatzkosten, die Produktivität und die Maschinenlaufzeiten sowie die Strukturen der Arbeitsteilung laufen wertmäßig in der zentralen Richtgröße der Lohnstückkosten zusammen.
Über die Löhne entscheiden die Tarifvertragsparteien. Sie haben das bis heute in gesamtwirtschaftlich verantwortungsbewußter Weise getan. Von dieser Seite gibt es nachweisbar keinen schädigenden Einfluß auf die Entwicklung der Lohnstückkosten. Über die Lohnnebenkosten entscheiden die Tarifvertragsparteien und vor allem der Gesetzgeber. Während der Kostendruck durch tarifvertragliche Nebenkosten merklich zurückgegangen ist, hat die Bundesregierung hingegen immer weiter draufgesattelt. Betriebswirtschaftlich gesehen war die Lohnnebenkostenpolitik der Regierung ein echter Konkurstreiber.
- Frau Babel, Sie sollten ganz, ganz ruhig sein. Wer 1981 mit seiner Stimme
in diesem Parlament ohne mit der Wimper zu zucken auf die Arbeitslosenversicherung zweieinhalb Punkte knallt
- 1991, Entschuldigung -, damit die Lohnnebenkosten jährlich um über 20 Milliarden DM nach oben treibt und sich hier hinstellt und die Unschuld vom Lande mimt, ist, um es höflich zu sagen, Frau Babel, desavouiert.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
Herr Kollege Dreßler, mein kleiner Zwischenruf, daß auch die SPD bei der Steigerung der gesetzlichen Lohnnebenkosten beteiligt war, bezog sich auf die von uns allen beschlossene Pflegeversicherung. Da waren die Skrupel, die gesetzlichen Lohnnebenkosten zu steigern, auf Ihrer Seite überhaupt nicht entwickelt. Sie haben damals sogar die Kompensation, den Ausgleich, um den wir uns immerhin bemüht haben, den wir dann auch gemeinsam gefunden haben, abgelehnt. Bezüglich der Skrupellosigkeit, die Nebenkosten zu steigern, kann sich die SPD nicht aus der Verantwortung ziehen.
Fragezeichen!
Sind Sie dieser Meinung, Herr Dreßler?
Ich habe das schon als Frage verstanden. Frau Kollegin Babel, ich glaube, daß Sie und die F.D.P. in dieser Frage die Proportionen wieder einmal auf den Kopf stellen. Sie haben im März 1991 für eine Steigerung von zweieinhalb Punkten in der Arbeitslosenversicherung freudig Ihre Hand gehoben. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Bundesverband der Deutschen Industrie protestierten nicht einmal mit einer Presseerklärung. Dann wollte die SPD, zugegebenermaßen mit der CDU/CSU und gegen Sie, 0,7 % Beitragspunkte zusätzlich draufsatteln, um Millionen von Pflegebedürftigen zu helfen.
Daraufhin sagten Sie, das sei die Zerrüttung der deutschen Volkswirtschaft. Frau Babel, wer soll Ihnen eigentlich diesen Unsinn noch abnehmen? Wer, bitte schön?
Rudolf Dreßler
Ich habe gesagt, betriebswirtschaftlich - und das ist nachzuweisen - war die Lohnnebenkostenpolitik der Regierung ein echter Konkurstreiber. Vorräte für eine weitere Steigerung der Produktivität und zur Sicherung einer akzeptablen Lohnstückkostenentwicklung stecken zweifelsfrei im Übergang zum Mehrschichtsystem, also in der Maschinenlaufzeit und in weiteren Verbesserungen der Organisation von Arbeitszeit. Hier ist übrigens bei den Tarifvertragsparteien eine Menge in Bewegung gekommen. Sie haben keine neuen Mythen aufgebaut, sondern Tabus beiseite geschoben. Ich wünschte, daß dies von der Regierung endlich einmal angemessen gewürdigt würde. Heute wäre die Gelegenheit dazu.
Es geht meiner Fraktion darum, diesen Prozeß sozialrechtlich abzusichern, zu ergänzen und auch voranzutreiben, wo immer es im Konsens mit den Tarifvertragsparteien möglich ist. Wir werden arbeitszeitrechtlich, mitbestimmungsrechtlich und arbeitsschutzrechtlich initiativ werden. Die SPD-Fraktion sieht sich übrigens durch die Bundesregierung in ihrer Auffassung bestätigt. Der von der Bundesregierung modellhaft wiedergegebene Zusammenhang zwischen der Zahl der Erwerbstätigen seit 1984, der Arbeitszeit je Erwerbstätigem und der Entwicklung des Arbeitsvolumens belegt, daß sich hohe Löhne, kürzere individuelle Arbeitszeiten und flexible Arbeitszeiten heute und in der Zukunft sehr wohl miteinander vereinbaren lassen.
Ein Risikofaktor auf diesem Weg ist gewiß die Politik der Bundesregierung. Sie ist zu einer Art Hemmschuh für eine schnelle Entwicklung der Produktivität unter sozial akzeptablen Bedingungen geworden. Jüngst hat ein Bonner Mittelstandsinstitut errechnet, daß auf den Unternehmen bürokratisch verursachte Kosten in einer Größenordnung von 58 Milliarden DM liegen. Hauptsächlich sind dies Kosten, die auf eine komplizierte Steuergesetzgebung zurückgehen. Das sind, von der Größenordnung her gesehen, 4,5 Beitragspunkte in der Rentenversicherung. Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sind ja bereits in dieser Sache tätig geworden; von der Regierung, von den Koalitionsfraktionen sieht man nur Wegtauchen. Sie stellen sich dieser Sache nicht; sie wollen nach der Melodie „weiter so" operieren. Aber es sind Kosten.
Sagen nun heute vielleicht dem Bundestag die Regierung oder die Koalitionsfraktionen, was sie denn zu tun beabsichtigen, um von dieser hypothekengroßen Last wieder herunterzukommen? Die Antworten der Regierung zur Arbeitszeitflexibilisierung sind unzureichend. Es wurde die Chance vertan, einer außerordentlich wichtigen Debatte den nötigen Sachstand zu geben. Daher fürchte ich, daß sich die Koalitionsfraktionen und die Regierung entschlossen haben, das böse Treiben mit ungerechtfertigten Schuldzuweisungen fortzusetzen.
Es gibt, meine Damen und Herren, keine aufrichtige gesellschaftspolitische Gewinn- und Verlustrechnung in Deutschland mehr. Mit Formeln vom Beharren und einer mangelnden Bereitschaft zur geistigen Beweglichkeit - sie sind interessengeleitet, vor allem aber taktisch - versucht man nach wie vor von seiten der Koalition, einen Popanz aufzubauen.
Die angeblichen Fortschrittsgeister und selbsternannten Modernisierer wollen den Standort Deutschland sichern. Ich habe eher den Eindruck, wir müssen die Zukunft des Standortes Deutschland vor ihnen schützen.
Wir kennen die in diesem Zusammenhang geführten Debatten um die Arbeitskosten in Deutschland: Sie seien zu hoch, und das gefährde unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit.
- Hoch sind sie, das ist richtig.
Ich fürchte, bei manchen Teilnehmern an dieser eigentümlichen Diskussion hilft noch nicht einmal ein Ökonomiestudium, um ihnen begreiflich zu machen, daß nicht die Arbeitskosten, sondern ausschließlich ihr Verhältnis zum Wert der Gütermenge, die mit dieser Arbeit produziert wurde, Aufschluß über die Wettbewerbsfähigkeit gibt.
Frau Dr. Babel, Lohnstückkosten sind dazu eben die Maßgröße. Aber wer von den selbsternannten Erneuerern der deutschen Volkswirtschaft macht sich schon die Mühe, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen? Wer will denn noch wissen, daß die Lohnquote in Deutschland in den 90er Jahren unter den Stand in der Mitte der 60er und zu Beginn der 70er Jahre gefallen ist? Wer von dieser Regierung will denn noch zur Kenntnis nehmen, daß die Lohnstückkosten in Deutschland zwischen 1973 und 1994 um 94 %, in unseren wichtigsten Konkurrenzländern aber um 270 % gestiegen sind?
Modernisierung auf der Basis von Tatsachenverdrängung: Wozu soll das eigentlich im Ergebnis führen? Ich habe den Eindruck, daß die Diskussion um den Standort Deutschland im Hinblick auf die Motivation, mit der sie geführt wird, bei Ihnen mindestens soviel mit Lohndrückerei zu tun hat wie mit der Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Wer von Ihnen nimmt denn noch zur Kenntnis, daß unser Handel mit den oft als Vergleich herangezogenen „Tiger" -Staaten Südostasiens und mit den lohngünstigeren Staaten Süd- und Osteuropas nicht nur sprunghaft gestiegen ist, sondern daß auch die Bilanz dieses Handels ausgeglichen ist? Sieht so eigentlich eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit aus?
Welcher der sogenannten Modernisierer weiß eigentlich, daß die deutsche Handelsbilanz gegenüber Japan beim besonders hart umkämpften Automobilbau mittlerweile positiv ist, der Wert der deutschen
Rudolf Dreßler
Automobilexporte nach Japan also größer ist als der Wert der japanischen Exporte nach Deutschland? Ich frage: Liegt auch das an mangelnder Wettbewerbsfähigkeit? - Ich sehe an den erstaunten Gesichtern: Die Herrschaften haben sich um diese Daten bis heute nicht gekümmert. Wir haben heute nachmittag also auch eine Art Nachhilfestunde.
Aber ich frage: Ist es nicht eine Schande, daß Deutschland bei den Investitionen in Humankapital - hat das nicht irgend etwas mit Sozialstaat zu tun? - weit, weit zurückgefallen ist und heute unter „ferner liefen" rangiert? Dies nämlich ist ein Zeichen mangelnder Modernisierungsbereitschaft der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen.
Nichts darf beschönigt werden; nichts darf vertuscht werden. Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes für die Zukunft sichern wollen, dann müssen wir uns kräftig ins Zeug legen, müssen den Wandel organisieren und die Hindernisse beiseite räumen, die zukünftiger Prosperität entgegenstehen. Aber das kann nur gelingen, wenn die Analyse der Gegenwart unsere derzeitigen Vorzüge und Schwächen korrekt widerspiegelt. Auf der Grundlage einer mißinterpretierten Gegenwart können keine fruchtbaren und erfolgreichen Prognosen für zukünftige Politik wachsen.
Wer Weichen zum Erfolg stellen will, der muß zuallererst das Gleis kennen, auf dem der Zug des Erfolges fährt. Mit der Beantwortung der Großen Anfrage hat sich die Bundesregierung, wie man sieht, bei 29 Fragen geweigert, dieses Gleis zu betreten. Das ist das eigentlich Schlimme an der Beantwortung unserer Großen Anfrage.
Darf ich die Parlamentarischen Geschäftsführer bitten, einmal zu uns zu kommen? -
Das Wort hat der Kollege Andreas Storm, CDU/ CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere heutige Debatte zum gegenwärtigen Stand der Arbeitszeitflexibilisierung ist natürlich vor dem Hintergrund der Frage zu sehen: Kann durch eine andere Organisation der individuellen wie auch der betrieblichen Arbeitszeiten ein Beitrag zur Bewältigung der drückenden Beschäftigungskrise geleistet werden?
Die jüngsten Arbeitsmarktdaten zeigen nach längerer Zeit erstmals wieder einen Anstieg der Arbeitslosigkeit im Vorjahresvergleich an. Aber nicht erst seit der Bekanntgabe der Septemberzahlen muß allen Beteiligten zweifelsfrei klar sein: Die derzeitige Krise unterscheidet sich fundamental von den Rezessionen der 70er und 80er Jahre. Wer dafür die Schuld bei der Bundesregierung sucht, Herr Dreßler, der zeigt, daß er weder das Ausmaß noch die Ursachen der Probleme auf dem Arbeitsmarkt wirklich begriffen hat.
Dazu gehört, Herr Dreßler, daß in den Statistiken über die Lohnstückkosten, die Ihnen vorschweben, natürlich alle unsere traditionellen Konkurrenten auftauchen, unsere neuen Konkurrenten im Osten aber überhaupt noch nicht aufgeführt sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn in den letzten Monaten immer mehr Industrieunternehmen dazu übergegangen sind, über eine mögliche Verlagerung von Teilen ihrer Produktion nach Polen, Ungarn oder in die Tschechische Republik nicht mehr nur zu reden, sondern dies auch in die Tat umzusetzen, dann ist dies wirklich eine dramatische Situation.
Denn wir sind uns hier im Hause sicherlich darin einig, daß eine radikale Lohnkürzung - eine Senkung auf das Lohnniveau unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarländer - als Lösungsweg wohl ausscheidet. Aber diese konkurrierenden Standorte haben ja mittlerweile nicht mehr nur den gewaltigen Kostenvorteil. Auch im Hinblick auf die Qualität der produzierten Waren und auf die Leistungsfähigkeit der Arbeitskräfte stehen sie uns in den meisten Fällen nicht mehr nach.
Eine zweite Herausforderung kommt hinzu: Wenn es in jüngster Zeit gleich mehreren südkoreanischen Automobilproduzenten gelungen ist, innerhalb von nur wenigen Monaten auf dem deutschen Absatzmarkt Fuß zu fassen, dann macht das deutlich: Das Wort von der Globalisierung der Märkte ist längst kein Schlagwort mehr, das ist mittlerweile Realität geworden. Wenn heute hochwertige Dienstleistungen, z. B. Ingenieurleistungen, aus Indien bezogen werden können, dann zeigt dies die dramatischen Folgen der revolutionären Entwicklung auf dem Gebiet der Informationstechnologien weltweit an. So etwas war vor zehn Jahren noch völlig unvorstellbar.
Vor dem Hintergrund dieser völlig veränderten Rahmenbedingungen müssen auch alte, liebgewordene Besitzstände zur Disposition gestellt werden. Wer glaubt, alles könne so bleiben, wie es ist, der verkennt den Ernst der Lage.
Treffend hat dies der Bundespräsident Roman Herzog vor wenigen Tagen auf den Punkt gebracht, als
Andreas Storm
er sagte: Was wir brauchen, ist eine neue Wagniskultur.
Dabei sind gerade für die Arbeitszeit drei Dinge ganz besonders zu beachten. Das hat die Beantwortung der Anfrage gezeigt. Erstens. Die westdeutsche Industrie hatte 1994 mit rund 1565 Stunden pro Arbeitnehmer die kürzeste Jahresarbeitszeit aller Industrieländer. Zweitens. Von 1980 bis 1994 wurde die effektiv geleistete Jahresarbeitszeit in der Industrie in den alten Bundesländern um 10 % gekürzt.
Herr Kollege Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Köhne?
Nein.
Das ist nicht nur die stärkste relative Arbeitszeitverkürzung aller Industrieländer. Das bedeutet im Vergleich von Westdeutschland zu den Vereinigten Staaten, die die Arbeitszeit auf 2 000 Stunden pro Jahr verlängert haben, daß der Abstand mittlerweile 58 Arbeitstage beträgt. Das sind 12 Arbeitswochen.
Drittens. Gleichzeitig, Herr Dreßler, leisten wir uns immer noch die niedrigsten Betriebszeiten. Das sind in der Tat nicht 53, sondern 60 Stunden pro Woche. Aber nach der aktuellen Arbeitsmarktumfrage der EU liegt Westdeutschland mit diesen 60 Stunden 9 Stunden unter dem Durchschnitt der Europäischen Union und am unteren Ende der Rangskala.
- Diese Zahlen stammen aus der Beantwortung der Großen Anfrage. Lesen Sie sie nach.
Diese Zahlen zeigen, es gibt ein erhebliches Flexibilisierungspotential bei Arbeits- und Maschinenlaufzeiten, das zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit genutzt werden könnte. Hier liegt in der Tat eine große Chance in der Schaffung von Teilzeitplätzen, bei der uns die Niederlande ein ganzes Stück weit voraus sind, denn in den Niederlanden ist heute jeder dritte Arbeitsplatz ein Teilzeitplatz. Bei uns ist es erst jeder sechste.
Herr Kollege Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Ja, gern.
Herr Kollege Storm, ungeachtet der Tatsache, daß Ihre Zahlen sehr umstritten sind, doch einmal folgende Frage: Würden Sie mir nicht zugestehen, daß es heute in der Bundesrepublik möglich ist, sowohl über 24 Stunden als auch nur über 6 Stunden einen Betrieb laufen zu lassen? Das ist also nicht eine Frage der Rahmenbedingungen, sondern es ist so, daß die Betriebe einfach nicht genügend Auslastung haben, um ihre betrieblichen Nutzungszeiten entsprechend wahrnehmen zu können, die ihnen sowohl Tarifverträge als auch gesetzliche Möglichkeiten geben.
Herr Kollege, das ist nicht nur eine Frage der Auslastung der Betriebe. Aber ich gebe Ihnen in einem Punkt recht. Wir müssen in der Tat überlegen, warum die Möglichkeiten der Flexibilisierung nicht alle genutzt werden. Damit bin ich beim Punkt Teilzeitarbeit. Die Bundesregierung hat zu Recht in ihrer Antwort festgestellt, daß auch im Management die Vorteile der Arbeitszeitflexibilisierung, insbesondere auch von Teilzeitarbeit in Verbindung mit längeren Betriebszeiten, noch nicht alle erkannt sind. Deswegen müssen wir hier Aufklärungsarbeit leisten, denn die Vorteile sind mit den Händen zu greifen.
Das Konzept der Mobilzeit, also die Verbindung von Teilzeitarbeit, Arbeitszeitflexibilisierung und verlängerter Betriebszeit, ist ein wichtiges Instrument zur Lösung der Beschäftigungskrise. Es ist ein intelligentes, weil offensives Konzept. Die traditionellen Vorschläge zur generellen Arbeitszeitverkürzung sind in dem radikal veränderten Umfeld, das ich skizziert habe, kein geeigneter Weg. Es handelt sich nämlich um defensive Strategien.
Herr Dreßler, da Sie heute gerne Untersuchungsergebnisse hören möchten: Das Institut der deutschen Wirtschaft hat in einer Untersuchung über die Zusammenhänge zwischen Arbeitszeit, Produktivität und Beschäftigung seit 1980 folgendes festgestellt.
Erstens. In Deutschland hat die starke Arbeitszeitverkürzung weder den erwarteten Beschäftigungsschub noch den entsprechend hohen Produktivitätsschub gebracht.
Zweitens. Dagegen haben jene Länder, deren Wirtschaftswachstum über dem internationalen Durchschnitt liegt, ihre Arbeitszeiten entweder verlängert - das waren die USA oder Kanada -, unverändert gelassen - das war beispielsweise Norwegen -, oder sie hatten ein sehr hohes Arbeitszeitniveau am Ausgangspunkt, nämlich Japan.
Drittens. Die Niederlande - ich habe sie vorhin schon genannt - hatten zwar eine vergleichsweise geringe Arbeitszeitverkürzung, aber sie hatten auch die größten Beschäftigungserfolge. Das ist keineswegs auf eine globale tarifliche Arbeitszeitverkürzung zurückzuführen, sondern auf gezielte Flexibilisierungsstrategien, beispielsweise die massiv verstärkte Teilzeitarbeit.
Meine Damen und Herren, all dieses zeigt: Defensive Strategien, die allein auf die Umverteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens zielen, sind der falsche Weg. Es gilt vielmehr, durch offensive Mobilitätsstrategien zu einer besseren Auslastung der Maschinen und einer höheren Produktivität beizutragen; denn erst dadurch kommen ein Beitrag zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der bei uns bestehenden Unternehmen und damit mehr Wettbewerbschancen für deren Produkte und Dienstleistungen zustande. Dadurch werden Beschäftigungspo-
Andreas Storm
tentiale erschlossen; denn es ist ein Beitrag sowohl für ein höheres als auch - und darum muß es uns in erster Linie gehen - für ein beschäftigungsintensiveres Wachstum.
Gerade auf dem Feld der Arbeitszeitflexibilisierung helfen die alten Klamotten von der branchenweiten tariflichen Stange oft nicht mehr weiter.
Hierbei gilt es, Maßanzüge zu schneidern, die auf die speziellen Bedürfnisse des jeweiligen Betriebes abgestellt sind. Dazu sind Kreativität, Phantasie und Innovationsbereitschaft bei allen Beteiligten vonnöten. Das ist unsere große Chance zur Krisenbewältigung in Deutschland. Nutzen wir sie.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem ein Repräsentant der Koalitionsfraktionen die Maschinenlaufzeiten in Deutschland zum wiederholten Male - so sage ich einmal - interessengeleitet, wahrscheinlich wieder mit einem Manuskript der Bundesregierung, fälschlich darstellt,
sehe ich mich veranlaßt, Ihnen einen Auszug aus der neuesten Untersuchung des Instituts für Arbeit und Technik zu zitieren.
Da hier eine Auseinandersetzung mit Statistik geführt wird, muß ich Sie mit einigen methodischen Bemerkungen langweilen.
Die von der Bundesregierung verwendeten Zahlen sind falsch. Das Ifo-Institut hat 1989 in Deutschland nicht den gleichen Fragebogen verwendet wie die EG in den anderen Ländern. Je nach Erhebungsmethode kann man für die Bundesrepublik Betriebszeiten zwischen 49 und 80 Stunden pro Woche berechnen. So wie man Entfernungen nur vergleichen kann, wenn man das gleiche Maß verwendet, benötigt man auch für einen internationalen Vergleich von Betriebszeiten identische Meßkonzepte.
Die mit der europäischen Enquete vergleichbare Zahl für die Bundesrepublik lautet 73 Stunden pro Woche . . .; dies sind fast 20 Stunden oder 37 % mehr als vom Ifo und der EG behauptet. Auf Grund des hohen Gewichts der deutschen Industrie in der EG steigt damit auch der europäische
Durchschnitt von 66 Stunden Betriebszeit pro Woche auf 72 Stunden.
Die Betriebszeit in der Bundesrepublik liegt also über dem europäischen Durchschnitt.
Für die Politik sind solche fehlerhaften Untersuchungen gefährlich: Sie muß sich auf die Richtigkeit von Daten verlassen können, um zu tragfähigen Schlußfolgerungen zu gelangen.
Genau das ist der Punkt: Die Daten der Bundesregierung sind nicht tragfähig; sie sind falsch. Darum kann man auch nicht - wie gerade von Ihnen bewiesen - zu richtigen Schlußfolgerungen kommen.
Herr Kollege Storm.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Dreßler, wir können diesen Methodenstreit sicherlich jetzt nicht hier lösen. Aber man muß sich doch auf die offiziellen Quellen stützen. Das, was die Europäische Kommission
mit der sogenannten direkten Erhebungsmethode in der 94er EU-Arbeitsmarktumfrage vorgelegt hat, was europaweit im Umlauf ist, besagt, Herr Kollege Dreßler, daß wir in Westdeutschland in der Industrie 60 Stunden Betriebszeit pro Woche hatten, in Ostdeutschland 62 Stunden und daß das nächste Land Spanien mit 65 Stunden ist. Das heißt, wir sind nachweislich das Land
mit den niedrigsten Betriebszeiten in der Woche.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Große Anfragen dienen gemeinhin dem Ziel, den Fragenden über einen Sachverhalt aufzuklären. Der Kollege Dreßler hat zu Recht gesagt, daß die Regierung in der Tat in vielen Fragen passen mußte oder wollte.
Trotzdem ist es so, daß der Bundesregierung mit dieser Anfrage zu der Erkenntnis verholfen worden
Marieluise Beck
ist, daß sie doch sehr viel mehr weiß, als sie stets zu wissen vorgibt,
und daß das ständige Klagelied der Regierung und insbesondere des Bundeswirtschaftsministers, daß sich der Standort Deutschland quasi im Würgegriff der Gewerkschaften befinde und ein Übermaß an sozial- und arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften ökonomische Prosperität schlechtin unmöglich mache, mit der Beantwortung dieser Großen Anfrage obsolet wird.
Das gilt übrigens auch für das Lamentieren über die Schlußlichtposition, die die deutsche Wirtschaft angeblich bei den Betriebsnutzungszeiten innehat. Genau das, was der Kollege Dreßler vorgelesen hat, ist in der Tat richtig; selbst in der Anfrage wird zugestanden, daß nach dem Motto: Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe, mit unterschiedlichen Berechnungsmethoden alles herbeige-rechnet werden kann.
Die Bundesregierung will das herbeirechnen, weil sie den Deregulierungskurs verfolgt, daß die Betriebsnutzungszeiten in der Bundesrepublik angeblich so horrormäßig tief lägen, was den Tatsachen nicht standhält.
Das Fazit aus der Großen Anfrage ist schnell gezogen. In den vergangenen zehn Jahren hat es in der Wirtschaft und damit auf dem Arbeitsmarkt einen rasanten Prozeß der Flexibilisierung der Arbeitszeiten und damit verbunden eine Veränderung der Arbeitsverhältnisse gegeben. Dieser Prozeß findet trotz oder wegen der gesetzlichen Bestimmungen statt. Er findet trotz oder wegen gewerkschaftlicher Politik statt.
Ich möchte Sie daran erinnern, daß allein im VW- Werk Kassel über 150 verschiedene Arbeitszeitenregime tariflich ausgehandelt worden sind. Wollen Sie da etwa behaupten, es gebe keine Flexibilität in deutschen Unternehmen? Diese ist über gewerkschaftliche Tarifpolitik herbeigeführt worden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Mein lieber Kollege Fischer, bitte schön.
Frau Kollegin Beck, finden Sie es angemessen, daß angesichts der Bedeutung, die die Bundesregierung und namentlich der Bundeskanzler
und der Bundeswirtschaftsminister diesem Thema immer zugesprochen haben, die Bundesregierung bei dieser Debatte gegenwärtig nur durch Parlamentarische Staatssekretärinnen und Staatssekretäre vertreten ist?
Lieber Kollege Fischer, da ich nie etwas Schlechtes von der Regierung denken würde, vermute ich, daß sie sich gerade in die Untiefen der Statistiken einarbeitet, um einer Debatte standhalten zu können.
Wer sich heute immer noch hier hinstellt, wie das der Kollege Louven gern tut - ich bin froh, daß er da ist -, und nach wie vor so tut, als müßten endlich die Fesseln der Regulierung gesprengt werden, damit modernes Wirtschaften wieder möglich wird, der will etwas anderes: Er will mittels einer gnadenlosen Deregulierung im Unternehmerinteresse den Wilden Westen einführen.
Niemand wird es bestreiten: Die verschärfte nationale und internationale Konkurrenz, die sich beschleunigende Innovationsgeschwindigkeit auf der Produktseite wie bei den Fertigungstechnologien und der Kostendruck der immer kapitalintensiver ausgestatteten modernen Produktionsapparate haben die Notwendigkeit für eine neue Zeitökonomie mit sich gebracht.
Neue Zeitökonomie: Sie kann Vorteile aber auch Nachteile haben. Sie kann in der Tat mehr Souveränität und damit verbunden mehr Freiheit für die Beschäftigen bedeuten. Sie kann aber auch heißen, daß sich die Menschen einem immer gnadenloser werdenden Zeitdiktat der Produktions- und Gewinninteressen der Unternehmen unterordnen sollen.
Wer die Janusköpfigkeit dieser Entwicklung bestreitet, der handelt entweder fahrlässig oder bösartig. Die Politik muß begreifen, daß diese Entwicklung neben Chancen eben auch große Risiken in sich birgt. Sie muß deswegen die Gestaltungsaufgabe endlich annehmen, die diese Veränderungen mit sich bringen; sonst müssen wir uns eines Tages vorwerfen lassen, daß wir der sozialen Zersplitterung der Gesellschaft nichts entgegengesetzt haben. Zur Gestaltung gehört vor allem auch, keine Asymmetrie zwischen der Macht der Unternehmen und der der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zuzulassen.
Dazu gehört die Anpassung der rechtlichen Bestimmungen, so daß der Schutz und die Selbstbestimmung der Menschen nicht über Bord gehen.
In der Tat, Flexibilisierung ist ein scheinbar unaufhaltsamer Prozeß. Aber wir müssen auch sehen, daß es dabei widerstreitende Interessen gibt. Die Unter-
Marieluise Beck
nehmen verfolgen mit der Flexibilisierung drei Ziele. Erstens. Es geht um die Ausweitung der Betriebsnutzungszeiten, um den teuren Maschinenpark möglichst intensiv zu nutzen. Zweitens. Der Arbeitskräfteeinsatz soll an die Schwankungen der Marktnachfrage oder der Produktion angepaßt werden. Der Begriff der „atmenden Fabrik" ist übrigens ein genialer Euphemismus für diese Interessenlage.
Drittens. Der Arbeitseinsatz soll durch die Einsparung von Zuschlägen verbilligt werden.
Aber auch die Beschäftigten haben Interesse an einer weniger starren Arbeitsorganisation. Erstens. Lage und Dauer der Arbeitszeit kann nicht in allen Lebensphasen gleich gestaltet sein. Frauen mit Kindern wissen davon wahrlich seit Jahrzehnten ein Lied zu singen. Zweitens. So wie die sozialen Verhältnisse sich immer stärker ausdifferenzieren, steigt das Bedürfnis nach Zeitsouveränität und Vielfalt. Warum sollte nicht der, der sich weiterbilden möchte, für eine gewisse Zeit seine Arbeitszeit und damit auch sein Einkommen reduzieren? Drittens. Die Erwerbstätigkeit der Frauen wird immer mehr zur Normalität. Konsequenterweise muß die Arbeitszeit der Männer eigentlich schrumpfen, da ihnen die treusorgende Ehefrau zu Hause nicht mehr den Krempel wegräumt.
Die Normalarbeitszeit muß also neu definiert werden, wenn sich die sozialen Strukturen so gewaltig ändern, wie sie es mit der Gleichstellung der Frauen tun.
Aber es ist eben nicht selbstverständlich, daß diese Interessen der Unternehmen und der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu einem harmonischen Ausgleich kommen. Millionen von Erwerbslosen, das ständige Drohen mit der Abwanderung von Unternehmen aus Deutschland sind gewaltige Druckmittel in der Hand von Unternehmen, wenn es darum geht, die eigenen Interessen gegen die Interessen der Beschäftigten durchzusetzen.
Deswegen gilt es, die Schutzfunktionen, die sich bisher auf die Normalarbeitszeit beziehen, aufrechtzuerhalten und auf die sich verändernden Arbeitszeiten und Arbeitsverhältnisse auszuweiten.
Das wäre eine Modernisierung der Arbeitspolitik, wie unsere Gesellschaft sie wirklich braucht. Hier liegt die Aufgabe für die Politik. Das ist unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, auch wenn die Bundesregierung dies weit von sich weist und z. B. betont, daß sie trotz der rasanten Veränderungen bei den Arbeitsverhältnissen keinen Anpassungsbedarf beim Mitbestimmungsrecht sieht.
Aber es gibt noch eine dritte Gruppe, die ein elementares Interesse an der Neuverteilung von Zeit im Arbeitsprozeß hat und haben muß. Das sind die Millionen der vom Arbeitsprozeß Ausgegrenzten, die wir - niemand kann das bestreiten - mit Sicherheit im kommenden Jahrzehnt weiterhin haben werden, wenn die vorhandene Arbeit nicht umverteilt wird.
Wer behauptet, die Beseitigung der Massenerwerbslosigkeit sei ihm wirklich ein Anliegen, der muß alle Kraft in die Umverteilung der vorhandenen Arbeit stecken, oder er macht sich unglaubwürdig.
5 bis 6 Millionen Erwerbslose, meine Damen und Herren, haben ein Recht, einen neuen Gesellschaftsvertrag einzufordern. Unsere Gesellschaft hat die soziale und demokratische Verpflichtung, zwischen allen Bürgern und Bürgerinnen dieser Republik eine solidarische Umverteilung von Arbeit und damit Wohlstand herbeizuführen. Dazu müssen alle Ansätze genutzt werden, die darauf zielen, endlich mit dem Unsinn Schluß zu machen, daß ein Teil der Gesellschaft bis zum Umfallen arbeiten kann und andere gar nicht arbeiten können. 1960 hatten wir eine durchschnittliche tarifliche Jahresarbeitszeit von 2 123 Stunden. 1994 hatten wir einen Durchschnitt von 1 669 Stunden. Warum sollten es im Jahr 2000 nicht 1 500 und im Jahr 2005 1 350 Stunden sein? Das ist die Antwort auf millionenfache Erwerbslosigkeit in dieser Gesellschaft.
Dies wäre die Arbeitszeitverkürzung und damit Umverteilung in großen Schritten,
die überhaupt nur eine Chance böte, die Millionen von neuen Arbeitsplätzen bereitzustellen, die die Ausgegrenzten brauchen.
Dazu gehört ein gesetzliches Regelwerk für Alterswahlarbeitszeit. Dazu gehört die Teilzeit nach Wahl in den verschiedensten Formen samt Rückkehrrecht auf den Vollerwerbsarbeitsplatz. Es funktioniert mit der Teilzeitarbeit nicht, weil die Leute nicht zurückkehren können. Dazu gehört die Umwandlung von Zuschlägen für Nachtschicht und Wochenendarbeit in Freizeit, wie es in Dänemark bereits gemacht wird. Dazu gehört das Recht auf Sabbatjahre, die sabbaticals, z. B. für die Weiterbildung. Dazu gehört auch das Recht auf Arbeitszeitreduzierung bei Elternschaft, wieder mit dem Rückkehrrecht auf einen Vollzeitarbeitsplatz.
In all diesen Vorschlägen liegen Beschäftigungspotentiale. Mit all diesen Vorschlägen werden tatsächlich Möglichkeiten für Zeitsouveränität eröffnet, aber im Sinne der Beschäftigten, meine Damen und Herren.
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage gar keinen Hehl daraus gemacht, daß sie in dieser Hinsicht den Löffel abgegeben hat. Das Arbeitszeitgesetz verfolge in erster Linie gesundheitspolitische Ziele, steht in der Antwort. Weiter wird gesagt:
Für darüber hinausgehende gesetzliche Arbeitszeitbeschränkungen aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ist das Arbeitszeitgesetz nicht das geeignete Regelwerk.
Marieluise Beck
Das ist das Ende von Politik. Der Arbeitsminister macht das Licht aus. Ich kann nur fürchten, daß im Zuge der zunehmenden Rationalisierung seine Stelle demnächst mit einem k.w.-Vermerk versehen wird.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Fuchs, SPD.
Herr Präsident! Angesichts der Bedeutung dieser Debatte und angesichts der Bedeutung, die Wirtschaftsminister Rexrodt der Flexibilisierung der Arbeitszeit beimißt, beantragt die SPD-Fraktion, daß er herbeigerufen wird und wir die Sitzung so lange unterbrechen, bis er da ist. Wir vermuten, daß ihm die Erkenntnisse der Parlamentarier durchaus weiterhelfen werden. Im übrigen haben wir die Parlamentsreform so verstanden, daß nicht nur die Parlamentarier in der Kernzeit anwesend sein sollten, sondern durchaus auch die Minister.
Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag von den anderen Fraktionen das Wort gewünscht? - Bitte.
Herr Präsident! Der Minister ist bereits unterrichtet und ist auf dem Weg hierher. Ich nehme an, er wird innerhalb der nächsten Minuten anwesend sein. Ich bitte deshalb, die Debatte fortzuführen.
Weitere Wortmeldungen habe ich nicht. Mir liegt ein Geschäftsordnungsantrag vor, den ich geschäftsordnungsmäßig behandeln muß. Das tut man durch Abstimmung. Das kann ich dem Haus nicht ersparen.
Infolgedessen frage ich: Wer will dem Geschäftsordnungsantrag der SPD-Fraktion zustimmen? Ich bitte um das Handzeichen. - Gegenprobe! -
Das Präsidium ist der Auffassung, daß das zweite die Mehrheit war.
Wir setzen die Beratung fort. Das Wort hat die Kollegin Dr. Gisela Babel.
Darf ich um Ruhe bitten! Das Wort hat die Kollegin Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal muß man der Opposition dankbar sein - nicht, weil sie gerade den Raum verläßt, sondern weil sie mit ihrer Großen Anfrage der Bundesregierung Gelegenheit gibt, das Thema Arbeitszeitflexibilisierung umfassend darzustellen. Für die Zusammenfassung insbesondere durch die Mitarbeiter des Bundesarbeitsministeriums kann ich hier durchaus Dank sagen.
Ich bezweifle allerdings, daß die Fragesteller mit den Antworten in den meisten Fällen zufrieden sind; denn, meine Damen und Herren, die Antworten bestätigen ja nun eindeutig nicht die Politik der SPD. Im Gegenteil, die Tatsachen belegen, daß ihre Kernforderungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht zu mehr, sondern zu weniger Arbeitsplätzen führen würden. Die Antworten belegen auch, daß die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung in den zurückliegenden Legislaturperioden richtige Schritte eingeleitet haben.
Ihren Fragen liegt zugrunde, daß es in den letzten Jahren einen enormen Flexibilitätsschub gegeben hat. Das stimmt. Die Unterzeichner der Großen Anfrage meinen jetzt aber, daß sowohl in gesetzgeberischer als auch in tarifvertraglicher Hinsicht an Flexibilität nun genug getan sei. In Teilbereichen hätten sie gern ein gewisses Zurückrudern der Bundesregierung und der Koalition. Sie schlagen mit ihren Fragen inzident vor, daß es zu Einschränkungen der flexiblen Arbeitszeit kommen soll. Beispielsweise fragen sie nach den gesetzlichen Möglichkeiten zum Abbau von Überstunden.
Zu meinem Bedauern haben Sie aber nicht die drängende Frage gestellt, warum die Unternehmen in Deutschland lieber auf Überstunden ausweichen, anstatt neue Arbeitnehmer einzustellen.
Verzeihen Sie, Frau Kollegin. - Es ist zu laut. Nun ist schon nur das halbe Haus besetzt; aber dieses halbe Haus könnte wenigstens etwas ruhiger sein. - Bitte!
Sie fragen, wie Überstunden in Deutschland abgebaut werden können, und bringen damit zum Ausdruck, daß Sie Überstunden als ein mögliches Quantum für neue Arbeitsplätze ansehen. Sie fragen aber nicht, warum eigentlich die Unternehmen in Deutschland eher auf Überstunden ausweichen, anstatt neue Arbeitnehmer einzustellen, meine Damen und Herren.
Dr. Gisela Babel
Damit wird deutlich, daß Sie dieses Problem durch dirigistische Eingriffe lösen würden, anstatt sich den drängenden Fragen einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu stellen.
Daß es anders geht, sehen wir jetzt an dem sich abzeichnenden Tarifvertrag im Baugewerbe, wo über ein Jahresarbeitszeitkontingent verhandelt wird und hier natürlich flexible Arbeitszeitvolumen in den einzelnen Jahreszeiten möglich werden. Ich glaube, daraus sollten wir die Konsequenz ziehen: Nicht mehr der Achtstundentag ist das Arbeitszeitmodell der Zukunft, sondern es wird völlig unterschiedliche Arbeitszeitkontingente in Zukunft geben.
Unbegreiflich, meine Damen und Herren, ist auch, daß der DGB und mit ihm die SPD immer noch gegen sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse in privaten Haushalten polemisieren.
Aufschlußreich ist die Antwort der Bundesregierung zum Thema Arbeitszeitverkürzung; und hier komme ich nun zum Mythos der SPD. Die Reaktion auf den zuerst schleichenden und dann immer offensichtlicheren Arbeitsplatzverlust in den zurückliegenden Jahren hieß allzuoft Arbeitszeitverkürzung, und das Wunderwort hieß „Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich" . In der Metallindustrie hat die Gewerkschaft die 35-Stunden-Woche durchgesetzt.
Die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeiten ging in vielen Fällen mit innerbetrieblicher Flexibilität einher. Die Laufzeiten der immer teureren Maschinen mußten von den immer kürzeren Arbeitszeiten entkoppelt werden, um so teure Investitionen wirtschaftlich überhaupt noch rechtfertigen zu können.
Aber, meine Damen und Herren, inzwischen müßten selbst den hartgesottensten Arbeitszeitverkürzern Zweifel an der Richtigkeit dieser Politik gekommen sein. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich hat in Deutschland nicht dazu geführt, daß neue Arbeitsplätze entstanden sind, sondern sie hat zum Verlust von Arbeitsplätzen geführt.
Das ist auch klar: Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß Arbeitskosten steigen und eine höhere Belastung entsteht. Diese höheren Fertigungskosten haben Arbeitsplätze vernichtet. Diese Zahlen finden wir in der Antwort der Bundesregierung, und bezeichnenderweise haben weder die Kollegen der SPD noch die der Grünen sich mit diesen Zahlen beschäftigt.
Während noch 1984 8,3 Millionen Arbeitnehmer durchschnittlich 1 690 Stunden im Jahr gearbeitet haben, waren es im Jahre 1995 nur noch 7,9 Millionen, die rund 1 500 Stunden gearbeitet haben. Das heißt, wir haben durch Arbeitszeitverkürzung heute weniger Beschäftigung als vorher.
Nicht einmal in den konjunkturell äußerst günstigen Jahren ist es uns also gelungen, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Wir haben sie verloren, und gerade in diesem industriellen Bereich drohen ja weitere Arbeitsplatzverluste infolge zu hoher Lohn- und Lohnzusatzkosten.
Die Erkenntnis, daß diese Form der Arbeitszeitverkürzung nicht zu mehr Beschäftigung geführt hat, wird zusätzlich durch jüngste wissenschaftliche Studien des Instituts für Wirtschaft belegt. Arbeitszeitverkürzung kann, insbesondere wenn sie mit Neu-und mehr Teilzeitarbeit verbunden ist, zu mehr Beschäftigung führen. Aber sie kann es dann nicht, wenn sie zusätzlich Arbeitskosten belastet, Beschäftigung nicht sichert, sondern im Gegenteil vernichtet.
Meine Damen und Herren, wir haben in dem Arbeitszeitgesetz weitere Flexibilisierungen durchgesetzt. Ich kann hier sagen, daß diese Aktion dafür gesorgt hat, daß mit Sonn- und Feiertagsarbeit in Ausnahmefällen 2 700 Arbeitsplätze gesichert worden sind. Ich darf daran erinnern, daß auch gegen dieses Gesetz die SPD schwere Bedenken geäußert hat, obwohl es doch diesen sichtbaren und positiven Effekt gehabt hat.
Meine Damen und Herren, insgesamt ist Arbeitszeitflexibilisierung ein richtiger Weg zur Sicherung von Arbeitsplätzen, und zweifellos braucht der Arbeitsmarkt weitere Flexibilisierungsschübe. Ein Anfang kann hier die Flexibilisierung der Ladenschlußzeiten sein, laut Ifo-Institut allein 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Auch hier brauchen wir mehr Flexibilität, um Arbeitsplätze im Einzelhandel zu sichern und zu schaffen.
Die Koalition hat in der Vergangenheit bewiesen, daß sie in der Lage ist, die Rahmenbedingungen für flexiblere Arbeitszeiten sozialverträglich zu verbessern. Auf diesem Wege werden wir fortfahren. Dabei hat uns die SPD in dieser Debatte bisher jedenfalls nicht sehr gestört.
Ich bedanke mich.
Frau Kollegin Fuchs, Sie wollten einen Antrag zur Geschäftsordnung stellen, wenn ich das richtig vernommen habe.
Herr Präsident! Angesichts der Leere dieses Saales und der Weigerung der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion, die Sitzung zu
Katrin Fuchs
unterbrechen, bis der Minister anwesend ist, beantragen wir die Feststellung der Beschlußfähigkeit.
Meine verehrten Kollegen, ich muß Sie auf die geänderte Geschäftsordnung hinweisen. Aus § 45 Abs. 4 ergibt sich, daß in der Debatte, in der wir uns jetzt befinden, die Beschlußfähigkeit gegeben ist und die Sitzung nur dann unterbrochen werden kann, wenn weniger als ein Viertel der gesetzlichen Mitglieder anwesend sind. Ich stelle fest, daß mehr als ein Viertel der gesetzlichen Mitglieder anwesend sind.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Manfred Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Storm, zunächst einmal der Hinweis, daß das Zahlenwerk der Bundesregierung für mich noch lange keine offizielle Statistik ist, sondern mich viel eher an ein Gefälligkeitsgutachten erinnert, mit dem die Bundesregierung ihre Deregulierungsvorstellungen noch pseudowissenschaftlich unterlegen will.
An meine liebe Vorrednerin, Frau Dr. Babel, gerichtet: Ich wußte ja, daß von Ihnen das Thema Ladenschlußgesetz in die Debatte eingebracht wird. Aber lassen Sie sich vielleicht einmal von jemandem, der aus diesem Bereich kommt, der bis vor einem Jahr dort tätig war, noch einmal daran erinnern: Die Anzahl der Arbeitsplätze im deutschen Einzelhandel hängt allein davon ab, wie hoch die Massenkaufkraft in dieser Gesellschaft ist. Die Konservativen sind derzeit dabei, die Massenkaufkraft weiter zu senken. Das heißt, die Verbindung von Arbeitsplätzen und Massenkaufkraft ist die eigentliche Lösung des Problems der Arbeitsplätze auch im Einzelhandel.
Im übrigen: Die Antwort der Bundesregierung auf die Frage nach dem Stand der Arbeitszeitflexibilisierung befördert dennoch eine gute und eine schlechte Botschaft. Ich beginne mit der schlechten, weil sie nämlich bis zum Überdruß bekannt ist: Die Flexibilisierung der Arbeitszeit wird mit nicht abreißender Eintönigkeit als ein Unterfall der Standortsicherung behandelt, als könnte die Bundesregierung die Menschen dieses Landes nur noch als nationale Wettbewerbsgemeinschaft verstehen, als ginge es nicht in erster Linie um die Lebensarbeitszeit dieser Men-
schen und als gäbe es nur noch wirtschaftliche Interessen, die sich ausschließlich auf den Weltmarkt beziehen. Das Thema hat wirklich mehr verdient als die übliche Standortlyrik.
Insofern - jetzt komme ich zu der guten Botschaft - hat es mich mit großer Genugtuung erfüllt, daß mittlerweile offenbar auch die Bundesregierung zu der Einsicht gekommen ist, daß sich - ich zitiere - kürzere Arbeitszeit und Erhöhung der Beschäftigung miteinander verbinden lassen. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist das Thema: Wir müssen kürzere Arbeitszeit und mehr Beschäftigung miteinander verbinden.
Herr Kollege, ich darf Sie einen Augenblick unterbrechen. - Werte Kollegen, es mag sein, daß einiger Anlaß besteht, über die Geschäftsordnungslage zu sprechen. Ich wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie das so machten, daß die wünschenswerte Aufmerksamkeit für den Redner erhalten bleibt.
Herr Kollege Müller, Sie haben das Wort.
Ich würde mich außerordentlich freuen, wenn diese Einsicht inzwischen auch bei der Regierungskoalition Platz greifen würde. Dann können wir auch die Aussage des Herrn Bundeskanzlers, daß die Forderung nach der 35-Stunden-Woche dumm und töricht ist, endgültig der Vergangenheit überlassen und sie dem historisch bekannten Phänomen des Blackout zuordnen.
Die IG-Metall, die sich noch vor wenigen Jahren dumm und töricht schimpfen lassen mußte, konnte Anfang dieses Monats den Beginn der 35-StundenWoche feiern,
und sie hat dazu eine überzeugende Bilanz vorgelegt: Von den drei Millionen Arbeitsplätzen, die zwischen 1982 und 1992 geschaffen wurden - diese Daten sind in Ihrem Zahlenwerk zu finden -, geht eine Million, also ein ganzes Drittel, auf das Konto der Arbeitszeitverkürzung.
Sie können die vorliegenden Statistiken noch so sehr bemühen, um die angebliche Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu beklagen, Tatsache ist, daß mit der Arbeitszeitverkürzung ein derartiger Produktivitätsfortschritt erreicht wurde, daß die Bundesrepublik nach Feststellung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsförderung in den 90er Jahren erstmals in die Spitzengruppe der produktivsten In-
Manfred Müller
dustrieländer aufgestiegen ist. Sie belegt nach der DIW-Untersuchung in der Produktivität - der Kollege Dreßler hat schon darauf hingewiesen - je Erwerbstätigen den vierten und in der Berechnung nach Einwohnern sogar den zweiten Platz.
Vielleicht an der Stelle noch einmal der Hinweis: Es kommt nicht darauf an, wieviel Arbeitszeit eine Gesellschaft verbraucht, um Güter zu produzieren, sondern es kommt auf den Wert der Güter in einer Gesellschaft an. Insofern ist die isolierte Betrachtung allein der Arbeitszeit, der Jahresarbeitszeit, der Wochenarbeitszeit, völlig unerheblich für die Einschätzung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Aber auch darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden.
Die westdeutschen Lohnstückkosten stiegen von 1973 bis 1994 nur um 94 %, während die der wichtigsten Konkurrenten fast um das Dreifache, nämlich um 270 % kletterten. Das ist die eigentliche Realität am Wirtschaftsstandort Deutschland. Und Realität ist auch, daß diese Leistung nicht nur von den abhängig Beschäftigten erbracht wurde und erbracht wird, sondern daß die Arbeitszeitverkürzung von den abhängig Beschäftigten mit außerordentlich moderaten Lohnforderungen honoriert und nachträglich sogar mit realem Lohnabbau bezahlt wurde.
Jetzt, so möchte man meinen, ist es an der Zeit, über Flexibilisierung im Zusammenhang mit weiteren Arbeitszeitverkürzungen zu reden. Das ist das Ergebnis Ihres Zahlenwerks. Doch die Antwort der Bundesregierung geht an diesen Chancen vorbei, wenn man einmal von dem gerade zitierten Lichtblick der rückwirkenden Einschätzung absieht.
Nach wie vor wird der Popanz angeblich zu kurzer Jahresarbeitszeiten und knapp bemessener Maschinenlaufzeiten aufgezogen, um nichts anderes zu erreichen als einen weiteren Angriff auf die Tarifverträge und die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften.
Ja, Sie müssen sogar zugeben, daß die tarifvertraglichen Flexibilisierungsmöglichkeiten weitaus größer sind, als sie von den Unternehmen genutzt werden. In der Bundesrepublik gibt es längst schon eine Entkoppelung von Arbeitszeit und Maschinenlaufzeiten. Nach Angaben des WSI-Tarifarchivs stiegen die Betriebszeiten von 1984 bis 1990 um mehr als sieben Stunden, obwohl die persönliche Arbeitszeit im gleichen Abschnitt um 2,4 Stunden sank.
Nun gibt die Bundesregierung in ihrer Antwort selbst zu, auf welch schwankendem Boden die Behauptung von den zu kurzen deutschen Betriebszeiten steht. Verläßt man sich jedoch nicht auf die eine oder andere Interpretation oder gar den Vergleich völlig unvergleichlicher Untersuchungen, sondern verläßt sich ausschließlich auf das Statistische Amt der Europäischen Union, dann sieht die Sache mit den deutschen Maschinenlaufzeiten schon gänzlich anders aus.
Nach den Angaben der amtlichen Statistik liegen die wöchentlichen Betriebszeiten in der deutschen Industrie bei 73 Stunden und damit sogar noch um eine Stunde über dem europäischen Durchschnitt. Daß dies die eigentliche Realität ist, erhellt noch eine
andere Zahl, nämlich die der regelmäßigen Nachtarbeit. In der deutschen Industrie arbeiten nach Angaben der amtlichen europäischen Statistik 9,8 % der Beschäftigten regelmäßig auch nachts, während es im europäischen Durchschnitt nur 6,7 % sind. Und da wollen Sie weiterhin behaupten, die deutsche Wirtschaft leide unter zu kurzen Betriebszeiten?
Flexibilisierung, das sagen auch die Experten des DIW, ist weniger ein Instrument der Standortsicherung als ein Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Auch hierauf haben viele Vorredner schon hingewiesen. So möchte ich hinzufügen: Es ist ein Instrument zur Verbesserung der Lebensbedingungen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Arbeitszeitflexibilisierung ist kein Selbstzweck, vielmehr leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen und trägt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und zur Sicherung vorhandener Arbeitsplätze bei.
Durch eine flexiblere Arbeitsorganisation werden Unternehmen in die Lage versetzt, das in die Produktionsanlagen investierte Kapital besser zu nutzen. Dadurch sinken die Kapitalkosten, und die Wettbewerbsfähigkeit steigt.
Zudem schafft Arbeitszeitflexibilisierung mehr Zeitsouveränität für den Arbeitnehmer, z. B. zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich begrüße, daß wenigstens bei dieser Einschätzung Einigkeit herrscht.
Auch die Gewerkschaften haben die Chancen der Arbeitszeitflexibilisierung erkannt.
Die Rollen der Beteiligten bei der Gestaltung der Arbeitszeit sind aber klar, um auch hier Mißverständnisse, die in den Redebeiträgen schon aufgetaucht sind, auszuräumen. Der Gesetzgeber ist aus Gründen des Gesundheitsschutzes für den unverzichtbaren Rahmen verantwortlich.
Die Tarifvertragsparteien entscheiden unter Berücksichtigung der branchenspezifischen Erfordernisse über die regelmäßige Wochenarbeitszeit, Frau Beck. Und die Festlegung der konkreten Betriebs- und Arbeitszeiten ist Sache der Betriebspartner.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Köhne?
Bitte schön.
Herr Staatssekretär! Ihre Rechnung, daß die Kapitalkosten dann sinken, wenn höhere Maschinenlaufzeiten durch flexiblere Arbeitszeit eingeführt werden, kann ja nur dann aufgehen, wenn gleichzeitig mit diesen Maschinen der Absatz steigt. Ist das richtig?
Natürlich müssen die entsprechenden Arbeitszeiten auch genutzt werden können, und ich unterstelle, daß es auch nur da geschieht, wo sie genutzt werden können. Deshalb haben wir das ja auch auf die Sonntagsarbeit ausgedehnt, wo das in vielen Textilbetrieben heute gut funktioniert.
Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber hat seine Hausaufgabe gemacht und die Rahmenbedingungen für die flexible Gestaltung der Betriebs- und Arbeitszeiten mit dem neuen Arbeitszeitgesetz verbessert. Mit diesem Gesetz haben wir im Juli 1994 einen allein am Gesundheitsschutz orientierten Arbeitszeitrahmen geschaffen, den die Tarifpartner und Betriebe ausfüllen müssen. Die Spielräume der Tarif- und Betriebspartner für eine flexiblere und intelligentere Verteilung von Arbeitszeiten wurden erweitert, der Gesundheitsschutz bei Nachtarbeit wurde verbessert.
Bei der Sonntagsarbeit haben wir zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und zur Sicherung der Beschäftigung eine vorsichtige Öffnung vorgenommen. Bilanziert man heute, nach einem Jahr, die Auswirkungen der neuen Regelungen, so läßt sich feststellen, daß alle Bundesländer in verantwortlicher Weise von ihren Genehmigungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht haben. Der von vielen Kritikern vorhergesagte Dammbruch bei der Sonntagsarbeit ist ausgeblieben, meine Damen und Herren. Dort aber, wo es nötig war, ist dies möglich geworden, und das zum Nutzen der Betriebe und der Arbeitsplätze.
Die Zahlen belegen den Ausnahmecharakter. In den ersten elf Monaten seit Inkrafttreten des Arbeitszeitgesetzes wurden 175 Ausnahmegenehmigungen für Sonn- und Feiertagsarbeit erteilt. Dadurch hat sich die Gesamtzahl der Arbeitnehmer, die an Sonn- und Feiertagen arbeiten, um gerade einmal 0,05 % erhöht. Die Arbeitsplätze der rund 14 000 betroffenen Arbeitnehmer aber wurden gesichert; mindestens 3 000 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen.
Der neue SPD-Bundesgeschäftsführer Müntefering, noch im Amt als Sozial- und Arbeitsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, rühmt sich ja, die meisten Ausnahmegenehmigungen für die Sonntagsarbeit erteilt zu haben.
Lieber Kollege Dreßler, vielleicht nehmen Sie auch das einmal zur Kenntnis.
Wichtig ist: Wir brauchen mehr maßgeschneiderte Arbeitszeiten, keine von der Stange. Das neue Losungswort sozialen Fortschritts und zukunftsorientierter Beschäftigungspolitik heißt Differenzierung: Differenzierung in Tagesteilzeit, Wochenteilzeit, Jahresteilzeit, von mir aus bis hin zu dem vom Minister genannten Sabbatjahr. An die Stelle von starren Zeiten muß mehr Mobilzeit treten. Wir brauchen unterschiedliche Lösungen für unterschiedliche Bedürfnisse.
Die Automobilindustrie ist längst auf diesen Zug aufgesprungen. Hier ist von atmenden Fabriken - das Wort „atmend" wurde von Frau Beck gerade etwas kritisiert; wir haben es nicht erfunden, sondern VW selbst -, schwingenden Vier-Tage-Wochen bei BMW und Arbeitszeitkorridoren bei Opel die Rede.
Lassen Sie mich auch kritisch anmerken, daß viele andere Unternehmen noch nicht die Chancen nutzen, die ihnen der Gesetzgeber einräumt. Vorhandene Spielräume zur Flexibilisierung sind nämlich da. Trotzdem wird weiterhin an der Verbandsmauer geklagt und gejammert, im Betrieb aber praktisch zuwenig gemacht.
Viele Unternehmen nutzen auch die Chancen nicht, die ihnen schon die Tarifverträge bieten. Es ist modern geworden zu behaupten, viele Tarifverträge hinkten der betrieblichen Realität hinterher. Sicherlich stimmt das für einige, längst aber nicht für alle. Vor allem muß man zunächst einmal in die Verträge schauen und sie lesen.
Viele Tarifverträge regeln zwar die Dauer der Wochenarbeitszeit - das ist richtig -, sie schreiben deshalb aber noch längst nicht vor, daß die Arbeitszeit in jeder Woche gleich verteilt sein muß. Die Tarifverträge lassen in der Regel die ungleichmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf Tage, Wochen oder Jahreszeiten zu. Die Ausgleichszeiträume, innerhalb deren die durchschnittliche Arbeitszeit erreicht sein muß, betragen überwiegend zwölf Monate. In der chemischen Industrie ist bei projektbezogenen Tätigkeiten sogar ein Zeitraum bis zu 36 Monaten zulässig.
Darüber hinaus bieten Tarifverträge vielfach Flexibilisierungsmöglichkeiten durch die Einbeziehung des Samstags in die Regelarbeitszeit, soweit die Zustimmung der Betriebsparteien dafür vorliegt. Sonn- und Feiertagsarbeit wird durch die Tarifverträge dort, wo sie ausnahmsweise gesetzlich zulässig ist, ebenfalls nicht ausgeschlossen.
Hans-Joachim Gottschol von Gesamtmetall hat recht, wenn er die arbeitszeitpolitische Phantasielosigkeit vieler Betriebe bei der Umsetzung der Tarifverträge beklagt. In dieses Bild paßt, daß nach der 1994 von der EU-Kommission durchgeführten Erhebung zu den Betriebszeiten Deutschland auf einem der hinteren Plätze liegt. Diese Zahl haben wir übernommen, Kollege Dreßler. Es sind nicht Zahlen der
Parl. Staatssekretär Horst Günther
Bundesregierung, die Sie kritisiert und als falsch bezeichnet haben, sondern es sind Zahlen, die wir von der EU-Kommission übernommen haben. Sie müssen die Kommission entsprechend anklagen.
Es gibt leider in vielen Betrieben Mängel in der Betriebs- und Arbeitsorganisation, die sich im schärfer werdenden internationalen Wettbewerb fatal auswirken können. Als Ersatz müssen in vielen Bereichen die Lohnnebenkosten als Diskussionspunkt herhalten.
Das Kraftwerk, das sieben Tage in der Woche rund um die Uhr Strom liefert, braucht keine Betriebszeitdiskussion. In Teilen der Industrie, die mit sehr teuren Produktionsanlagen arbeiten, kann die Verlängerung der Betriebszeit überlebensnotwendig sein.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der Umfang der Samstagsarbeit entgegen der in der letzten Zeit vielfach erhobenen Forderung seit 1989 in allen Wirtschaftsbereichen, insbesondere aber im verarbeitenden Gewerbe eine rückläufige Tendenz aufweist.
Es ist daher notwendig, immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Betriebe dort, wo es sinnvoll ist, den gesetzlich und tarifvertraglich gegebenen Rahmen stärker nutzen müssen - in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Arbeitnehmer. Unternehmensleitungen und Betriebsräte sind dabei gleichermaßen gefordert, meine Damen und Herren.
Kollege Dreßler, wenn Sie sagen, wir hätten 29 Fragen nicht beantwortet, ist das eindeutig falsch. Ich habe eben noch einmal nachgesehen. Wir haben nur acht Fragen nicht beantwortet. Darunter sind solche Fragen wie - ich lese das vor -: In wieviel Betrieben wurde seit 1984 die einschichtige Arbeitsorganisation zugunsten mehrschichtiger Betriebsnutzung aufgegeben?
Oder: Wieviel Stunden beträgt die längste betrieblich vereinbarte und wieviel Stunden beträgt die kürzeste betrieblich vereinbarte Schicht in Deutschland?
Lieber Kollege Dreßler, Sie beklagen, durch die Steuergesetzgebung würden die Betriebe mit Milliardenbeträgen belastet. Diese komplizierten Fragen in der Erhebung der Tarif- und Betriebsarbeit verursachen bei den Betrieben erst recht Arbeit und damit Kosten. Das kann ich Ihnen sagen.
Herr Staatssekretär, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Köhne zu?
Ja, bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben gesagt, daß die Samstagsarbeit rückläufig sei. Das ist sicherlich richtig. Nach meiner Kenntnis der betrieblichen Situation ist es aber so, daß Samstagsarbeit dann vor allen Dingen Sonderschichten sind, wenn mehr Waren abgesetzt werden können. Jetzt stelle ich die Frage: Wie paßt das denn zusammen mit Ihrer Antwort auf meine vorhergehende Frage? Ist es nicht einfach so, daß momentan Überkapazitäten vorhanden sind, beispielsweise vor allem in der Automobilindustrie, so daß die Frage der Kapitalverwertung eine ganz andere und überhaupt nicht das Problem von flexiblen Arbeitszeiten ist?
Sie dürfen diese beiden Fragen mit Sicherheit nicht vermischen. Die Samstagsarbeit geht stundenmäßig zurück. Das ist ganz klar festgestellt und hat mit Ihrer vorhergehenden Frage im Grunde nichts zu tun. Es kann Überlappungen in diesem Bereich geben. Sie unterstellen sie aber, und ich unterstelle diese nicht.
Meine Damen und Herren, die Kritik, die im Zusammenhang mit nicht beantworteten Fragen gekommen ist, weise ich hiermit zurück. Diese Kritik ist unberechtigt. Deshalb, lieber Kollege Dreßler, sollten Sie noch einmal nachschauen. Ich sage Ihnen: Besser keine Antwort auf eine Frage, die man gar nicht stellen kann, als eine falsche!
Schönen Dank.
Ich erteile der Abgeordneten Doris Barnett das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren über eines der Reizthemen dieser Nation, zu dem die SPD im Mai dieses Jahres eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet hat, nämlich den Stand der Arbeitszeitflexibilisierung in Deutschland. Angeblich - das hören wir ja dauernd - ist die hiesige Unbeweglichkeit einer der Negativposten, die die Bundesregierung und die Arbeitgeberverbände im Rahmen der Standortdebatte ins Feld führen.
Ich hatte, offen gestanden, als Antwort den großen Wurf erwartet. Ich war sicher, daß wir von den Wortgewaltigen Handlungsvorschläge erfahren, wie wir es richtig machen sollen. Die SPD hat Ihnen, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, eine echte Chance gegeben. Was Sie uns da aber bieten, ist eher ein Trauerspiel.
Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten drei Jahre kommt diesem Thema doch überragende Bedeutung zu. Jedes Instrument, mit dem wir für mehr Beschäftigung und eine bessere Ausnutzung des Kapitalstocks sorgen, muß sehr sorgfältig auf seine wirtschaftliche Wirksamkeit geprüft werden.
Doris Barnett
Mit Bedauern muß ich jetzt feststellen, daß sich die Bundesregierung dieser Mühe nur mit Unlust unterzogen hat.
Wie mein Kollege Rudolf Dreßler Ihnen bereits vorrechnete, gibt es auf etwa die Hälfte unserer Fragen - ich komme darauf zurück -, nämlich 29 aus 49, nicht die erbetenen, mit Zahlenmaterial belegten Antworten. Das zeigt nur zu deutlich, daß die Bundesregierung offensichtlich dazu neigt, eher auf Grund von Vermutungen und alten Glaubenssätzen denn auf Grund von harten Fakten ihre Politik zu formulieren.
Herr Günther, wenn Sie die hohen Kosten kritisieren, die solche Statistiken erfordern, sage ich: Mein Gott, auf welcher Grundlage sollen wir denn Entscheidungen treffen, wenn wir keine Fakten haben?
So erscheint es mir reichlich absurd, den Gewerkschaften bzw. der SPD mangelnden Willen zur Arbeitszeitflexibilisierung vorzuwerfen. In der Realität sieht es nämlich so aus, daß nicht nur die Beschimpften, sondern auch die Wirtschaft bereits sehr viel weiter sind als die Bundesregierung, die, wie ich fürchte, Gefangene ihres alten Denkens ist.
Denn wie mir scheint, will die Bundesregierung nach wie vor über den Hebel Mobilzeit erreichen, daß Lohnverzicht und jederzeit abrufbare Springertätigkeit denkbare Arbeitsmodelle werden. Was wir in Deutschland aber nicht brauchen, insbesondere nicht für unsere sozialen Sicherungssysteme, sind noch mehr „Mc-Jobs", und das schließt die Scheinselbständigkeit mit ein.
Tatsächlich ist vieles zwischen den Tarifvertragsparteien bereits geregelt, ohne daß der Gesetzgeber eingreifen muß bzw. gefragt wird. Deshalb fand ich den Beitrag „Tarifvertragssysteme: Beweglich und innovativ" im „Bundesarbeitsblatt" von diesem Monat sehr interessant, Herr Blüm. Er zeigt nämlich deutlich, wie individuell die Arbeitszeit von den Tarifpartnern bereits formuliert wird. Gerade in diesem Fall bedeutet eine Öffnung nämlich einen echten Fortschritt, vorausgesetzt, daß dabei nicht wichtige soziale Rechte auf der Strecke bleiben.
Nicht nur die Unternehmensleitungen, sondern auch die Beschäftigten sind bereit, neue Konzepte mitzutragen. Verschiedene Arbeitszeitmodelle in unterschiedlichen Branchen zeigen das deutlich. In meiner Heimatstadt Ludwigshafen läuft zur Zeit bei der BASF ein Versuch: Hier können die Informatiker innerhalb ihrer Projektgruppe ihre Arbeitszeit bis zu zehn Stunden täglich je nach Bedarf frei einteilen. Sie können so im Verlauf des Jahres ein Arbeitszeitkonto von bis zu 75 Stunden ansparen. Das kommt daher - darauf wurde schon hingewiesen -, daß der Tarifvertrag der chemischen Industrie es den Tarifpartnern vor Ort überläßt, die Regelarbeitszeit innerhalb eines Zeitkorridors festzulegen.
Daß flexible Arbeitszeit mit einem Jahresarbeitszeitkonto auch in der Produktion und selbst im 24Stunden-Schichtbetrieb funktioniert und von den Arbeitnehmern angenommen wird, beweist inzwischen ein großer Süßwarenhersteller in Süddeutschland, wo auf diese Art saisonale Produktionsschwankungen ausgeglichen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Beispiele zeigen doch, daß unser Tarifvertragssystem einen idealen Rahmen für Reformen bietet, die beide Seiten wollen und akzeptieren.
Aber: Veränderte Pflichten für die Beschäftigten erfordern auch eine Anpassung ihrer Rechte. Das heißt ganz konkret: Ein Mehr an Arbeitszeitflexibilität erfordert ein Mehr an Verantwortung. Die Arbeitnehmer müssen intensiver als bisher an der Betriebsorganisation beteiligt sein und bessere Mitbestimmungsrechte erhalten.
Als im letzten Jahr das neue Arbeitszeitrecht verabschiedet wurde, haben die Koalitionsparteien CDU/CSU und F.D.P. die Einbeziehung der SPD-Vorschläge im Hinblick auf enger gefaßte Schutzbestimmungen verhindert. Versprochen wurde uns dafür eine neue ökonomische Perspektive. Vergessen wurden aber wesentliche Ziele wie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und ein wirksamer Arbeitsschutz. Eine arbeitsmarktpolitische Initiative blieb ganz außen vor.
Wenn wir heute über die Folgen diskutieren, die die Flexibilisierung der Arbeitszeit mit sich bringt, sollten wir meiner Meinung nach fünf wichtige Aspekte nicht aus den Augen verlieren:
Erstens. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz muß bei allen Überlegungen Priorität haben. Intelligente Schichtmodelle führen, wie jüngere arbeitsmedizinische Untersuchungen zeigen, zu niedrigeren Krankenständen.
Zweitens. Die bereits in vielen Firmen und Behörden praktizierten Arbeitszeitmodelle setzen eine stärkere Eigenverantwortung der Beschäftigten voraus; Eigenverantwortlichkeit stärkt und motiviert.
Drittens. Teilzeitbeschäftigung kann arbeitsmarktpolitisch sehr wirksam sein. Es hat mich jedoch, offen gestanden, etwas verwundert, daß in Ihrer Antwort ausgerechnet der öffentliche Dienst als vorbildlich dargestellt wird.
Gerade die Teilzeitbeschäftigung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen, von der Bundesregierung im Frühjahr 1994 der Presse gegenüber als großer Wurf gefeiert, entpuppt sich in der Praxis eher als Flop. In meinem Wahlkreis wurde einer Bundesbeamtin lange Zeit - mit dem nachweislich nicht stichhaltigen Argument der dienstlichen Erfordernisse - eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit um 40 % verweigert.
Doris Barnett
Viertens. Ein selbstbestimmtes Zurückfahren der Arbeitszeit kann einen gleitenden Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand ermöglichen. Wichtig ist mir aber, daß Teilzeitarbeit keinen sozialen Absturz im Alter nach sich zieht.
Fünftens. Ich sage ausdrücklich, daß mich Sonntags- und Feiertagsarbeit als Patentrezept für höhere Produktivität nicht überzeugt.
Die Bundesregierung stellt in ihrer Antwort - Herr Günther hat das hier auch vorgetragen - auf unsere diesbezügliche Frage selbst fest, daß innerhalb des letzten Jahres auf Grund von Ausnahmegenehmigungen - man sollte Ausnahme und Regel unterscheiden - zur Sonntagsarbeit bundesweit lediglich 3 000 neue Stellen geschaffen wurden. Ist die Steigerung von 0,01 % tatsächlich die Aushöhlung eines wichtigen kulturellen und gesellschaftlichen Gutes wert? Ich glaube nicht.
- Das sind Ausnahmen. Wollen Sie denn den Sonntag plötzlich als Regelarbeitszeit einführen? 3 000 neue Stellen sind im Verhältnis zu fast 6 Millionen Arbeitslosen nicht allzuviel, Frau Babel.
Ich persönlich sehe größere Potentiale, wenn es uns gelänge, die 1,6 Milliarden Überstunden pro Jahr anzugehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Kollegin Barnett?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie wissen genausogut wie ich, daß der Deutsche Bundestag vor einem Jahr relativ hohe Meßlatten aufgelegt hat, bevor man sonntags im produzierenden Gewerbe arbeiten kann. Eine Bedingung sind z. B. 144 Stunden Maschinenlaufzeit.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie mir nicht recht geben, daß die 3 000 zusätzlichen Arbeitsplätze nicht das einzige Argument bei der Betrachtung dieser Frage sind. Wir haben z. B. dadurch, daß in der Textilindustrie, wo die Einrichtung eines Arbeitsplatzes in einer Spinnerei oft 13 Millionen DM kostet, sonntags die Maschinen laufen können, eine Menge Arbeitsplätze erhalten.
Herr Kollege Laumann, darauf möchte ich Ihnen nur eines antworten: Ich habe - wie sicherlich auch Sie - einen Brief der KAB bekom-
men, in dem man sich ausdrücklich gegen den Sonntag als Regelarbeitstag ausspricht.
Deswegen sage ich hier: Ausnahmegenehmigungen nur mit ganz hohen Meßlatten, wenn es unbedingt sein muß, aber doch nicht als Lösung der Probleme. Man darf das doch nicht als Möglichkeit betrachten, die Arbeitszeit weiter zu flexibilisieren.
Wenn Sie mir da recht geben, bin ich Ihrer Meinung.
Wir Sozialdemokraten treten zusammen mit den Gewerkschaften dafür ein, daß die Chancen konsequent genutzt werden, die flexiblere Arbeitszeitmodelle bieten. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, verwechseln das aber permanent mit der arbeitszeitlichen Verfügbarkeit von Arbeitskräften für Unternehmen.
Auch Betriebszeiten sind - entgegen den sattsam bekannten Überzeugungen der Koalition - kein Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der deutschen Wirtschaft. Die Vorteile des Standorts Deutschland beruhen nicht zuletzt auf gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wenn es uns gelingt, diese durch attraktive Arbeitszeitregelungen zu motivieren, tun wir mehr für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen als mit einfallslosem Lohn- und Sozialdumping.
Meine Hoffnung ist, daß wir zusammen mit den Gewerkschaften und vielen fortschrittlichen Betrieben zu einer flexiblen Arbeitszeit und somit zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie kommen und - darin stimme ich mit den Gewerkschaften und Personalvorständen überein - daß wir es schaffen, die Schichtarbeiter aus ihrer gesellschaftlichen Isolation herauszulösen.
Eine Menge guter Vorschläge für mehr Zeitsouveränität sind bei uns in der Erprobung oder sogar schon im praktischen Einsatz. Es liegt jetzt an uns Parlamentariern, die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu formulieren. Packen wir es an!
Ich erteile dem Abgeordneten Johannes Singhammer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier und heute im Deutschen Bundestag geht es nicht niehr darum, das Für und Wider von flexiblen Arbeitszeiten zu erörtern. Vielmehr geht es darum, die Tarifpartner zu ermuntern, durchzusetzen, was notwendig ist. Flexible Arbeitszeiten, mobile Arbeitszei-
Johannes Singhammer
ten sind ein Eckstein einer vernünftigen Arbeitsmarktpolitik, einer zukunftsgerichteten Gesellschaftspolitik und einer gerechten Familienpolitik.
Die Essenz des Schlagworts „Globalisierung der Wirtschaft", das heute schon gefallen ist, bedeutet doch, daß das Tempo des ökonomischen Wandels nicht mehr von uns allein bestimmt werden kann, sondern vielfach von anderen vorgegeben wird. Und wer stehenbleibt, gerät bald in einen uneinholbaren Rückstand. Der internationale Standortwettbewerb wird schärfer. Es muß uns doch zu denken geben, wenn sich 75 Regionen als Produktionsort für einen neuen Kleinwagen bewerben, aber Mercedes sich nicht für die Errichtung eines Werkes in Deutschland, sondern in Frankreich entscheidet. Es muß uns zu denken geben, wenn Siemens in Großbritannien ein neues High-Tech-Werk errichtet und Deutschland zunehmend Arbeitsplätze exportiert, gleichzeitig aber immer noch
- ich komme noch dazu, Herr Fischer - jährlich viele Tausende von Arbeitskräften importiert.
Herr Kollege Singhammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Herr Kollege Singhammer, Sie haben gerade die Tarifpartner ermuntert, mehr Flexibilität zuzulassen. Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß es bei VW z. B. heute schon 200 diverse Arbeitszeitmodelle gibt? Oder können Sie mir einen Tarifvertrag nennen, der z. B. die Samstagsarbeit verbietet? Geht es Ihnen denn wirklich nur um mehr Flexibilität, oder geht es Ihnen in Wirklichkeit um die Zuschläge, die unter Umständen für Überstunden bezahlt werden müssen? Dann sollten Sie das auch sagen.
Herr Kollege, es geht darum, den gesetzlichen Rahmen, der ausreichend und genügend ist, auszunutzen. Da gibt es noch eine ganze Menge Spielraum, das wissen Sie. Die Beispiele, die Sie genannt haben, sind mir bekannt. Ich kann Ihnen noch weitere nennen, beispielsweise von der Firma BMW, die Arbeitszeitmodelle erfolgreich praktiziert. Ich werde im weiteren darauf eingehen, wie man Unternehmen, vor allem mittelständische Unternehmen, motivieren kann, auf diesem Gebiet noch mehr zu tun.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Frage ist doch: Wie können wir der Kostenfalle entrinnen? Wir haben mit die höchsten Lohn- und Lohnnebenkosten, mit die geringsten Arbeits- und Maschinenlaufzeiten - auch wenn Sie die Zahlen anzweifeln -, das dichtestgeknüpfte soziale Netz und die höchsten Umweltstandards. Die damit verbundenen hohen Kosten bedrohen unseren Standort - man kann es wenden, wie man will -, indem sie die Investoren abschrecken. Die Konsequenz kann doch nicht heißen, Stundenlöhne von 3,70 DM wie in der Tschechischen Republik zu zahlen oder an die niedrigen Umweltstandards ehemals realsozialistischer Wirklichkeit anzuknüpfen. Ein Ausweg - deswegen diskutieren wir heute - heißt: optimierter Einsatz vorhandener Produktionsmittel. Dies bedingt mobile Arbeitszeiten. Die Beantwortung der Anfrage der SPD durch die Bundesregierung zeigt eindeutig, daß hier noch ein großer Schatz an Ressourcen in Deutschland auf seine Hebung wartet; das Wachstumspotential längere Maschinenlaufzeiten ist bei weitem nicht ausgeschöpft. Nach einer Untersuchung der Unternehmensberatung McKinsey können in Deutschland 2 Millionen neue Arbeitsplätze allein dadurch entstehen, daß vorhandene Arbeitsplätze flexibler gestaltet werden.
Als ein Indiz für die Richtigkeit dieser Feststellung möchte ich Ihnen eine Zahl nennen: Die Arbeitslosenquote bei den Frauen war in der Vergangenheit immer deutlich höher als bei den Männern. In diesem Jahr liegt sie erstmals darunter. Einen Grund sehe ich darin, daß die Quote der mobilen Arbeitsplätze bei den Frauen von 24 % im Jahre 1970 auf 33 % im Jahre 1993 gestiegen ist.
Herr Kollege Singhammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Köhne?
Gerne.
Herr Kollege, können Sie einmal illustrieren, wie dadurch, daß Arbeitsplätze flexibler gestaltet werden, neue Arbeitsplätze geschaffen werden? Vor allen Dingen: Wie begründen Sie die Zahl von zwei Millionen?
Ich freue mich ja immer, wenn sich ein Vertreter der offiziellen Nachfolgepartei der SED sich in Wirtschaftsfragen zu Wort meldet. Die Zahlen sprechen für sich. Ich werde Ihnen gleich noch ein Beispiel von der Firma BMW bringen. Warten Sie es ab; dann können Sie es noch einmal, auf Punkt und Komma genau, von mir hören.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Mobilarbeitszeitplätze sind aber auch eine familienpolitische Notwendigkeit. „Vereinbarkeit von Familie und Beruf" heißt das Stichwort. Ob wir auf dem Weg in eine familien- und kinderfreundliche Gesellschaft vorankommen, entscheidet sich auch daran, wie weit wir die Gleichgültigkeit gegenüber Familien mit Kindern auch in der Arbeitswelt überwinden. Wer sich mit großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit der Förderung
Johannes Singhammer
und Erziehung seiner Kinder widmet, ist zeitlich gehandikapt. Eine alleinerziehende Mutter, eine Frau, die nach einer Kinderpause wieder in das Berufsleben zurückkehrt, kann eben über ihr Zeitbudget nicht so frei verfügen wie ein kinderloser Teilnehmer am Arbeitsmarkt. Wer holt die Kinder rechtzeitig vom Kindergarten ab?
Was ist, wenn der Erstkläßler alleine vor der Haustür steht oder als Schlüsselkind zu Hause sofort nach Schulschluß quer durch die Programme zappt?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Beck?
Ja.
Herr Kollege, wenn Sie in Ihren Äußerungen so weit gehen und von einer sozialen Vernachlässigung in bezug auf die Menschen sprechen, die ihre Kinder nicht ordentlich betreuen, können Sie mir dann bitte beantworten, wie Millionen von Vätern das über Jahre hinweg so haben halten können und in dieser Art und Weise gearbeitet haben? Haben die also ihre Kinder sozial nicht versorgt?
Frau Beck, Sie haben meine Aussage ganz richtig dahin gehend verstanden, daß ich auf diese Problematik, auf das Unwohlsein von vielen Frauen - selbstverständlich auch von Männern, von Vätern - hingewiesen habe, wenn sie auf Grund von ungünstigen Arbeitszeiten nicht wissen, was los ist, wenn ihre Kinder beispielsweise von der Schule nach Hause zurückkehren. Das ist doch so. Das wissen Sie; das weiß auch ich. Das bedarf eigentlich keiner weiteren Klarstellung.
- Ich komme gleich dazu, Herr Fischer.
Die Elternverantwortung als Privatsache abzutun ist keine qualifizierte Form der Gleichbehandlung, sondern mehr ein Akt der Rücksichtslosigkeit, die eben dem Kinderlosen Konkurrenzvorteile bringen kann. In den alten Bundesländern wollen 89 % der Frauen und immerhin 35 % der Männer, die in einem Haushalt mit sechs- bis zwölfjährigen Kindern leben, Mobilzeitbeschäftigung.
Die andere Seite der Medaille ist: Was können wir tun? - Das heißt natürlich auch, daß die Arbeitszeitgestaltung gesellschaftlich eingebettet werden muß. Das beginnt bei den Öffnungszeiten von Ämtern und Geschäften, und das hört bei den Betreuungszeiten
in den Kindergärten und bei den Unterrichtszeiten in den Schulen nicht auf. Auch der verwirklichte Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gehört dazu.
- Natürlich.
- Das frage ich dann die Bundesländer.
Wir brauchen hier vor allem auch bei den Tarifparteien Bewegung. Nichts wäre fataler als eine „Tyrannei des Status quo".
- So ist es.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen. Was kann die Politik tun? - Die Rahmenbedingungen sind gesetzt. Die Politik kann die Tarifpartner in den Betrieben informieren, ermuntern und beraten. Das geschieht bereits; das geschieht z. B. durch das Modellprojekt für ein Betreuungsangebot zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in kleinen und mittelständischen Betrieben, weil es gerade dort oft an Informationen fehlt, welche vielfältigen Möglichkeiten es für Teilzeitarbeit gibt. Ich begrüße die Teilzeitoffensive der Bundesregierung, die Kampagne des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Mobilzeit. Daß Fortschritte möglich sind, zeigt der Anstieg gerade beim öffentlichen Dienst des Bundes. Allein im Zeitraum von 1992 bis 1994 ist ein Anstieg von 10,5 % auf 15,7 % zu verzeichnen gewesen.
Mein Appell auch an die Tarifparteien lautet daher: Die Zukunft liegt in mehr Zeitsouveränität und weniger Gängelung. Wer weiter auf Arbeitszeit von der Stange setzt, läuft Gefahr, bald auf den alten Ladenhütern sitzenzubleiben.
Ich erteile nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Entwicklung und der Stand der Arbeitszeitflexibilisierung sind ein zentrales Thema für den Standort Deutschland. Da muß es schon befremden, wenn das DIW - natürlich mit dem entsprechenden Echo von Herrn Dreßler - jeden standortpolitischen Handlungsbedarf leugnet.
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
Damit kein Mißverständnis entsteht: Natürlich gehört Deutschland nach wie vor zu den leistungsfähigsten Ländern der Welt.
Das ist auch ein Verdienst dieser Regierung.
Natürlich kann man nachweisen, daß wir in der Vergangenheit in mancherlei Hinsicht besser abgeschnitten haben als andere Länder in der Welt.
Aber eine solche Analyse wird unredlich, wenn man übersieht, daß es offensichtliche Hemmnisse für Investition und Innovation gibt, z. B. bei der Steuer- und Abgabenbelastung, bei der Regulierungsdichte und bei Freiräumen für private Initiativen. Eine solche Analyse wird für die politische Diskussion untauglich, wenn nur in die Vergangenheit gesehen wird und entscheidende aktuelle Entwicklungen im globalen Wettbewerb, z. B. mit Blick auf Osteuropa, vernachlässigt werden. Unverantwortlich gar wird eine solche Analyse dann, wenn so getan wird, als sei die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein „normales" Problem.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Abbau der hohen Arbeitslosigkeit - es ist ja gut, wenn wir hier einer Meinung sind - ist die wichtigste Aufgabe, vor der wir gemeinsam, also Wirtschaft, Gewerkschaft und Politik, stehen. Aber das vorhandene Arbeitsvolumen durch Arbeitszeitverkürzung umzuverteilen ist kein Weg, um die Beschäftigungsprobleme zu überwinden.
Denn die Struktur der Arbeitslosen entspricht nicht der Struktur der Beschäftigten. Zu fordern ist also nicht die Verteilung des Mangels. Der kleiner werdende Kuchen darf also nicht immer trickreicher verteilt werden.
Vielmehr brauchen wir einen größeren Kuchen. Wir brauchen mehr Wirtschaftsdynamik, d. h. Mobilisierung von Produktivitäts- und Beschäftigungspotentialen durch Flexibilisierung der Arbeitszeit.
Die Ihnen vorliegende Antwort der Bundesregierung enthält im Hinblick darauf zwei wesentliche Botschaften. Die erste lautet: Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist und bleibt eine notwendige Konsequenz der Arbeitszeitverkürzung. Die zweite Botschaft lautet: Die Möglichkeiten der Flexibilisierung werden nicht überall voll genutzt.
Zum ersten. Die Arbeitszeit flexibilisieren heißt unsere Wettbewerbsfähigkeit sichern. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, was Flexibilisierung der Arbeitszeit eigentlich bedeutet: Sie ermöglicht erstens, kapitalintensive betriebliche Anlagen so produktiv wie möglich zu nutzen, indem die individuelle
Arbeitszeit von der maschinellen Betriebszeit entkoppelt wird. Hierdurch können unangemessene Kostenbelastungen vermieden und zusätzliche Beschäftigungswirkungen erzielt werden. Sie hilft zweitens, kunden- und marktbedingte Schwankungen elastischer und kostensparender aufzufangen. Sie ist drittens mitentscheidend bei der Frage, ob neue Investitionen in Deutschland getätigt werden. Schließlich - das macht ihren besonderen Charme aus - bietet sie auch einen Weg für den einzelnen Arbeitnehmer, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren.
Die zweite Botschaft lautet - ich sagte es bereits -: Die Möglichkeiten der Flexibilisierung werden nicht überall voll genutzt. - In dieser Bewertung stimmen wir mit Ihnen, Herr Dreßler, ja durchaus überein. - Dies gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die Beschäftigung in Deutschland. Die Bundesregierung hat ihre Aufgabe, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, angenommen. Sie hat mit dem neuen Arbeitszeitgesetz, das seit dem 1. Juli 1994 gilt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine größere Flexibilisierung der Arbeitszeit geschaffen. In der bisher noch relativ kurzen Gültigkeitsdauer haben vor allem kapitalintensive Unternehmen die Möglichkeit wahrgenommen, auch an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten. Wohlgemerkt, am Arbeitsvolumen des einzelnen Arbeitnehmers ändert sich hierdurch nichts, nur an der Verteilung der Arbeitszeit - ein klassischer Fall von Arbeitszeitflexibilisierung. Hierdurch werden nicht nur Arbeitsplätze erhalten - das ist in einem Hochlohnland ja auch schon einiges -, sondern es werden auch neue geschaffen.
Aber der Punkt ist: Flexible Arbeitszeiten können nicht per Gesetz verordnet werden. Der Staat kann den Tarifpartnern nur den dazu erforderlichen Rahmen bieten. Das haben wir getan. Deswegen sind und bleiben die Tarifpartner aufgefordert, tarifliche Möglichkeiten der Flexibilisierung weiterzuentwikkeln und den Betriebspartnern vor Ort mehr Verantwortung und Spielraum zu überlassen. Die Betriebe sollten den bereits vorhandenen Rahmen stärker nutzen und ihre jetzigen Betriebs- und Arbeitszeiten überprüfen und optimieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Karl-Josef Laumann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es eigentlich ganz normal, daß heute die Debatte über die Große Anfrage der SPD, wie es in unserem Land mit der Arbeitszeitflexibilisierung aussieht, in weiten Bereichen auch eine Debatte über die Situation auf dem Arbeitsmarkt geworden ist. Das finde ich ganz normal, weil wir alle wissen, daß Arbeitszeit ein Punkt ist, der
Karl-Josef Laumann
mit dem Standort Deutschland etwas zu tun hat. Aber es ist nicht der einzige.
Ich gehöre dem Deutschen Bundestag nun seit fünf Jahren an und habe hier in dieser Zeit manche Arbeitsmarktdebatte erlebt.
Wissen Sie, ich stelle mir manchmal die Frage, was die vier oder viereinhalb Millionen Arbeitslosen eigentlich von uns erwarten, ob sie es wirklich so toll finden, daß die CDU der SPD die Schuld zuschiebt, die SPD der CDU, die Gewerkschaften den Unternehmern, die Unternehmer den Gewerkschaften. Haben diese Menschen nicht einfach einen Anspruch darauf, daß man die Situation analysiert? Muß man in einem föderalen Staatsaufbau, in dem jeder weiß, daß der Bund allein die Dinge auch nicht immer umsetzen kann, in dem man auch weiß, daß gerade in diesem Bereich Unternehmensverbände und Gewerkschaften - schlicht: die Tarifvertragsparteien - eine Riesenrolle spielen, nicht versuchen, zu einem gemeinsamen Handeln zu kommen, um die Voraussetzung für mehr Arbeit in Deutschland zu schaffen? Ich bin es leid, daß wir uns hier im Bundestag in immer zahlreicher werdenden Diskussionen damit abfinden, den Mangel anders zu verteilen. Vielmehr stellt sich doch zunächst einmal die Aufgabe, alles zu unternehmen, um möglichst viel sozialversicherungspflichtige Arbeit in Deutschland zu organisieren.
Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, daß das, was man produziert, was man anbietet, am Ende auch einen Preis braucht. Also hat es mit Geld, mit Kosten zu tun, und da sind nicht der Lohn und die Sozialversicherungsbeiträge die einzigen Kostenverursacher. Da müssen wir uns über Strom, über ökologische Standards und über viele andere Fragen unterhalten, die zusammen eine Kostenbelastung ausmachen.
Ich glaube schon, daß wir uns einmal stärker die Frage stellen sollten, ob es uns in der Politik nicht besser und billiger gelingen müßte, das Zusammenleben von 80 Millionen Menschen zu organisieren. Denn ich finde, bei 850 Milliarden DM Steuereinnahmen durch Bund, Länder und Gemeinden muß es doch möglich sein, das Zusammenleben in einem Land von 80 Millionen Menschen auf Dauer kostengünstiger zu organisieren, um im internationalen Kampf um Arbeit bessere Chancen zu haben.
Die Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit wirklich Meisterleistungen hingelegt., Entsteht ein
Problemchen, dann muß es der Staat lösen. Kann er es nicht finanzieren, werden die Abgaben erhöht.
Die Leute können und wollen das nicht mehr ertragen. Auch laufen wir Gefahr, nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein. Das ist die Wahrheit!
Setzen wir uns um Gottes willen einmal zusammen, um diese Probleme in den Gemeinden, in den Ländern und im Bund anzugehen! Gemeinsames Handeln ist hier erforderlich.
- Wir regieren im Bund, in manchen Ländern und vielen Gemeinden regieren Sie. Aber dieses Hin- und Herlavieren bringt uns nicht weiter. Doch ich habe die Hoffnung, daß die vielen Debatten, die wir im Bundestag und woanders über die Arbeitszeitproblematik geführt haben, bei der größten Oppositionspartei langsam auf fruchtbaren Boden fallen. Denn wenn ich mir vor Augen führe, was Herr Spöri sagt, was Herr Jens und Herr Schröder erklären, dann stelle ich fest, das dies das ist, was wir in der CDU seit vielen Jahren in diesem Hohen Hause vertreten.
In Wahrheit sind ein paar Probleme, die Sie zur Zeit haben, wohl auch damit verbunden, daß diese verschiedenen Meinungen aufeinanderprallen und Sie sehen müssen, wie Sie das bewältigen. Bitte warten Sie nicht so lange, diesen Streit zu schlichten, damit wir endlich gemeinsam entscheiden und die Dinge anpacken können, die die Arbeitnehmer in Deutschland brauchen, um mehr Arbeitsplätze zu bekommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Ja, gut. Machen wir!
Herr Kollege Laumann, ich verstehe, daß Sie Kostenfaktoren mit uns gemeinsam diskutieren wollen. Das ist in Ordnung. Was ich nicht ganz verstehe, ist, daß Sie ökologische Standards offenbar als Kostenfaktoren diskutieren wollen. Sie haben anscheinend nicht den Blick dafür, daß gerade die Verbesserung ökologischer Standards die Ertragssituation erheblich verbessern und sogar zu Kostenminimierung führen kann.
Es ist immer schlecht, wenn wir uns gegenseitig Lektüre abfragen. Aber ich darf Sie doch fragen: Kennen Sie das Buch von Ernst Ulrich von Weizsäkker „Faktor 4", in dem genau dieser Zusammenhang angesprochen wird? Es besagt, daß man einen dop-
Otto Schily
pelten Wohlstand durch einen halbierten Naturverbrauch zustande bringen kann. Das ist dann kein Kostenfaktor, sondern eine Verbesserung der Kostensituation.
Sehr geehrter Herr Schily, ich bekenne hier freimütig, daß ich dieses Buch nicht kenne.
Aber ich kenne in meinem Wahlkreis eine Gießerei, die ich als Beispiel anführen will.
Da arbeiten 200 Menschen. In dieser Gießerei fällt nun einmal Formsand, wenn man ihn auch oft recycelt hat, irgendwann als Abfallprodukt an und muß entsorgt werden. Diese Firma hat vor sieben oder acht Jahren für die Entsorgung der Formsande um die 200 000 DM bezahlt. Die gleiche Firma bezahlt dafür heute fast 1 Million DM.
Wenn eine solche Gießerei gegen Gießereien in Polen, in Tschechien, auch in Holland oder Frankreich antreten muß, ist das für denjenigen, der sich Gedanken über die Auftragseingänge machen muß, damit 200 Leute jeden Tag Arbeit bekommen, ein Punkt. Darüber denke ich nach; und dafür brauche ich nicht unbedingt ein solches Buch zu lesen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tauss?
Wer war zuerst dran? Frau Beck oder Herr Tauss?
Herr Tauss ist der nächste.
Ja, bitte.
Herr Kollege Laumann, ich habe zwei Fragen.
Ist Ihnen bekannt, daß es heute beispielsweise möglich ist, Gießereisande zu reduzieren, daß daraus Kosteneinsparungspotentiale erwachsen können und daß genau diese Programme „Arbeit und Technik" von Ihrem sogenannten Zukunftsminister als - ich zitiere ihn - „Spielwiese" bezeichnet worden sind?
Ist Ihnen weiter bekannt, daß es der von Ihnen zitierte Wirtschaftsminister des Landes Baden-Württemberg, Spöri, war, der im Gegensatz zum Bundeswirtschaftsminister damit begonnen hat, unter Beteiligung von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und anderen systematisch Dialoge zu organisieren, um Probleme zu lösen, und daß Sie erst damit begonnen haben, als die Krise da war, als das Kind also bereits in den Brunnen gefallen war?
Lieber Kollege, wissen Sie, wir sind da, wo ich herkomme, nicht auf den Kopf gefallen. Deswegen kennen wir schon die Möglichkeiten des Recyclings und haben da auch eine Menge getan.
Schließlich steht man aber doch irgendwann vor der Frage der Endlagerung. Mit dem Beispiel, stellvertretend für viele andere, wollte ich nur deutlich machen, daß die Endlagerung für die betreffende Firma durchaus ein Problem ist.
Herr Kollege Laumann, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Frau Beck?
Ich muß die von Herrn Tauss noch beantworten.
Oh, ich dachte, Sie wären fertig.
Dem, was Sie über den Dialog gesagt haben, entgegne ich: Ich halte sehr viel davon, daß man in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, in den unterschiedlichen Verbänden Dialoge führt. Das ist in der Demokratie eine ganz wichtige Sache.
Schauen Sie einmal, was zur Zeit im Bundeskanzleramt stattfindet. Die Spitzengespräche beim Bundeskanzler zwischen DGB, Wirtschaftsspitzen und den Spitzen der Bundesregierung
laufen doch ganz hervorragend.
Als wir vor einigen Wochen mit den Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Hohen Hause der IG Metall angehören, zusammengesessen haben, war festzustellen, daß einige von ihnen weiß wurden, als der Herr Zwickel erzählt hat, wie optimal das im Bundeskanzleramt abläuft.
Wissen Sie, der Helmut Kohl bewältigt auch noch diese Frage, daß sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht immer feindlich gegenüberstehen, sondern es gemeinsam anpacken, um den Standort Deutschland voranzubringen.
Bitte, Frau Beck.
Frau Beck, Sie haben eine Zwischenfrage.
Herr Laumann, ich möchte gern auf die Frage der ökologischen Kostenbelastung zurückkommen. Dabei ist es ziemlich egal, welche Bücher man gelesen hat. Das wissen Sie doch wohl; denn soviel weiß doch jeder in diesem Haus und muß es wissen: Es kann natürlich niemand bestreiten, daß es betriebswirtschaftlich für diese Gießerei im Jahre 1980 oder 1990 billiger ist, für 200 000 DM zu entsorgen. Wir wissen aber auch und können wissen, daß die nächste Generation oft herangezogen wird, diese billige Entsorgung, wenn es überhaupt noch geht, in Ordnung zu bringen und dafür die Kosten zahlt. Wir wissen, daß wir oft unverantwortlich auf Kosten der nächsten Generation leben, und zwar auch ökonomisch, nicht nur moralisch. Ist Ihnen das auch bewußt?
Sie erzählen einem Christdemokraten überhaupt nichts Neues, wenn Sie sagen, daß wir mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen, Frau Kollegin Beck, sehr vorsichtig umgehen müssen und daß wir Menschen sie in einer großen Verantwortung für die, die nach uns kommen, nutzen müssen.
Das ergibt sich schon aus einem ganz normalen religiösen Verständnis heraus. Ich will Ihnen das deutlich sagen.
Viele Dinge, die es eigentlich immer schon gegeben hat und die Sie jetzt als neu bezeichnen, sind in der Tradition, in der ich großgeworden bin, immer schon eine Selbstverständlichkeit gewesen.
Da haben Sie nichts Neues erfunden, und wir wollen das ja auch machen.Aber natürlich gibt es Zielkonflikte.
Wir müssen sehen, daß wir die Dinge Schritt für Schritt überbrücken; das geht nicht alles auf einmal. Wir beschäftigen uns zur Zeit in großem Maße mit der Wiedervereinigung, und das, was in Ostdeutschland geschieht, ist - das behaupte ich - eines der größten ökologischen Programme, die jemals in Europa stattgefunden haben.
Ich stelle mir wirklich die Frage: Müssen wir denn zur gleichen Zeit auch noch alle anderen möglichen Standards Gott weiß wie erhöhen, um die letzten 2 oder 3 % Umweltschutz zu erreichen?Ich glaube, wenn wir dort neue Kläranlagen bauen und dafür sorgen, daß die Formsände überhaupt recycelt werden können, ist es sinnvoll, große Mengen Geld in diese Projekte zu stecken. Dann muß man aber - ich will es einmal mit meinen Worten sagen - hier neune gerade sein lassen, um die Dinge finanzierbar zu halten.
Man muß das abwägen! Alles auf einmal geht selbst in einem so modernen Land wie Deutschland nach meiner Auffassung nicht.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt auf die Arbeitszeiten eingehen. Seit gut einem Jahr ist das neue Arbeitszeitgesetz in Kraft. Ich möchte für meine Fraktion feststellen, daß sich dieses Gesetz in der Tat bewährt hat. Wir haben damals gesagt, wir müssen die Arbeitszeiten soweit regeln, wie sie mit dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu tun haben.Ich glaube allen Ernstes daran, daß es besser ist, daß die Sozialpartner in den Betrieben, also Betriebsräte und Geschäftsleitungen, gemeinsam überlegen, wie die Arbeitszeiten in ihrem Betrieb für beide Seiten am besten festzulegen sind. Wir befinden uns in dieser Frage voll in der Mitbestimmungspflicht. Arbeitszeiten können in einem Betrieb nur mit dem Einverständnis des Betriebsrates und im Einvernehmen mit ihm festgesetzt werden. Das ist gut so. Ich glaube, daß die Vielfältigkeit, die wir in den Betrieben haben, von den Sozialpartnern in den Betrieben viel besser beurteilt werden kann als vom Deutschen Bundestag und auch - das ist meine Ansicht - von den Tarifvertragsparteien.
Es ist in der Tat so, daß die Arbeitszeiten in Deutschland viel bunter und unterschiedlicher sind, als man das landauf und landab in der Diskussion hört. Das ist doch ein Zeichen dafür, daß die Sozialpartnerschaft in den Betrieben funktioniert.Ich möchte heute auch noch etwas zur Sonntagsarbeit sagen. Als wir vor gut einem Jahr das Gesetz beraten haben und ich es für meine Fraktion vertreten habe, da sind wir von der SPD als „Sonntagskiller" bezeichnet worden.
- Sie waren damals noch gar nicht da, Herr Fischer. Da konnten Sie so etwas noch gar nicht sagen.Dieser Vorwurf war - das gilt nach wie vor - bösartig und ungerecht. Es zeigt sich, nachdem dieses Gesetz ein Jahr in Kraft ist, daß diese Vorwürfe ungerechtfertigt waren. Schauen Sie einmal: In ganz Deutschland haben rund 175 Firmen bei den zustän-
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5148 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Karl-Josef Laumanndigen Landesbehörden Sonntagsarbeit genehmigt bekommen. Davon sind etwa 14 000 Arbeitnehmer betroffen. Das bedeutet, daß wir eine Ausweitung der Sonntagsarbeit um 0,05 % gehabt haben. Sichtbarer dagegen ist, finde ich, der erhoffte Arbeitsplatzeffekt. Auch wenn Sie sagen, 3 000 Arbeitsplätze bundesweit seien für Sie kein Thema,
ich bin froh um jeden Arbeitsplatz, den wir dort halten konnten, und ich freue mich darüber, daß 3 000 Männer und Frauen das Brot für ihre Familien in diesen Arbeitsplätzen verdienen können und damit eine Zukunft haben.
Wir alle wissen, daß die Genehmigung bei einem namhaften deutschen Reifenhersteller in diesem Bereich allein in einer Einzelmaßnahme 200 Arbeitsplätze gesichert hat. Da kann man sagen, das seien Peanuts. Aber ich glaube, daß sich die Menschen in dieser Fabrik und in dieser Region freuen, daß das gelingen kann und daß sie die Möglichkeit zu arbeiten haben, weil ansonsten ihre Firma einfach nicht zu halten gewesen wäre. Bei der Abwägung, ob der Arbeitsplatz verlorengeht oder behalten werden kann, halte ich es als überzeugter und praktizierender Katholik auch vor dem lieben Gott für verantwortbar zu sagen: Dann muß sonntags halt gearbeitet werden.
Ich glaube, daß wir in diesem Hohen Hause gut beraten sind, uns - auch im Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes und der Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme für die Bedürftigen - stärker um die Voraussetzungen dafür zu kümmern, Arbeit in Deutschland zu behalten. Da brauchen wir nicht nur sozialpolitische Ideen, wir brauchen auch Ideen der Wirtschaftspolitiker; das sage ich einmal ganz deutlich. Da muß etwas mehr kommen als nur eine Debatte über den Ladenschluß.
Da muß auch einmal beraten und überlegt werden, wo es Investitionsstaus gibt. Alle Ausschüsse des Deutschen Bundestages sollten sich darüber einmal Gedanken machen. Dann müßte ein Bündel geschnürt werden, das wir dann gemeinsam durchsetzen. Ich glaube, dann hätten wir Erfolg.Danke schön.
Es liegt keine Wortmeldung zu diesem Tagesordnungspunkt mehr vor. Ich schließe damit die Aussprache. Eine Beschlußfassung ist nicht vorgesehen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 b und 19 c und den Zusatzpunkt 5 auf:
19. Überweisungen im vereinfachen Verfahren
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft und der Gruppe der PDS
Flexiblere Gestaltung der Förderprogramme
- Drucksache 13/1798 —
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen , Brigitte Adler, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verhandlung vor dem Internationalen Gerichtshof zur Frage der völkerrechtlichen Legalität des Einsatzes oder der Androhung des Einsatzes von Atomwaffen
- Drucksache 13/1879 —
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
ZP5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Änderung des Bundesberggesetzes - Drucksache 13/2497 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20a bis 20d und 20f bis 20n auf:
20. Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Belarus fiber die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/2047 -
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/2448 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 20. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Lettland über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/2046 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/2449 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. September 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jamaika über die gegenseitige Förderung und den Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/2045 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/2450 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. März 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Litauen über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen oder schweren Unglücksfällen
- Drucksache 13/1665 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/2517 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach Bernd Reuter
Manfred Such
Dr. Burkhard Hirsch
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
- zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über ein Gemeinschaftsprogramm zur finanziellen
Unterstützung der Förderung europäischer Energietechnologien 1995-1998
- zu dem Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Rates über ein Gemeinschaftsprogramm zur finanziellen Unterstützung der Förderung europäischer Energietechnologien 1995-1998 („THERMIE II")
- Drucksachen 13/269 Nr. 2.3, 13/1096 Nr. 2.4, 13/1962 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Otto Schmiedeberg Bodo Seidenthal
Simone Probst
Dr. Karlheinz Guttmacher
Wolfgang Bierstedt
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heinrich Graf von Einsiedel, Dr. Willibald Jacob, Andrea Lederer und der weiteren Abgeordneten der PDS
Verbot der Rüstungsexporte und Konversion der Rüstungsindustrie
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der EG-Harmonisierung des Exportkontrollrechts für Güter und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck
- Drucksachen 13/584, 12/8368, 13/725 Nr. 92, 13/2545 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
MwSt - geänderter Richtlinienvorschlag betr. Personenbeförderung
- Drucksachen 13/1234 Nr. 1.2, 13/2403 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Reiner Krziskewitz Detlef von Larcher
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 63 zu Petitionen
- Drucksache 13/2465 -
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 64 zu Petitionen
- Drucksache 13/2466 -
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
k) Beratung der Beschlußempfehlung des
Petitionsausschusses
Sammelübersicht 65 zu Petitionen - Drucksache 13/2467 -
1) Beratung der Beschlußempfehlung des
Petitionsausschusses
Sammelübersicht 66 zu Petitionen
- Drucksache 13/2468 -
m) Beratung der Beschlußempfehlung des
Petitionsausschusses
Sammelübersicht 67 zu Petitionen
- Drucksache 13/2469 -
n) Beratung der Beschlußempfehlung des
Petitionsausschusses
Sammelübersicht 68 zu Petitionen
- Drucksache 13/2470 -
Tagesordnungspunkte 20a bis 20 c: Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit den Republiken Belarus und Lettland sowie mit Jamaika über die gegenseitige Förderung und den Schutz von Kapitalanlagen, Drucksachen 13/2047, 13/2046 und 13/2045.
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf den Drucksachen 13/2448 bis 13/2450, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, dann lasse ich über die drei Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Das ist der Fall. Dann machen wir das so. Ich bitte diejenigen, die diesen drei Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die drei Gesetzentwürfe einmütig angenommen worden sind.
Dann kommt Punkt 20d: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Republik Litauen über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen oder schweren Unglücksfällen, Drucksache 13/1665.
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 2517, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Es kommt nun Punkt 20f: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu Verordnungsvorschlägen der Europäischen Union zur finanziellen Unterstützung der Förderung europäischer Energietechnologien, Drucksache 13/1962.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der SPD angenommen worden ist gegen die Stimmen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS. •
Ich komme zu Punkt 20g: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu einem Verbot der Rüstungsexporte und zur Konversion der Rüstungsindustrie auf Drucksache 13/2545 Buchstabe a.
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/584 abzulehnen. Wer für die Ablehnung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung bei vier Stimmenthaltungen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zum Bericht der Bundesregierung zum Stand der EG-Harmonisierung des Exportkontrollrechts für Güter und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck auf, Drucksachen 12/8368 und 13/2545 Buchstabe b.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Ich bitte um das Handzeichen! - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der Gruppe der PDS einmütig angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu einem geänderten Richtlinienvorschlag zur Höhe der Mehrwertsteuer bei der Personenbeförderung auf, Drucksache 13/2403. Das ist Punkt 20h.
Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen! - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung einmütig angenommen worden ist.
Ich komme zu den Punkten 20i, j, k und 1 und rufe die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 13/2465 bis 13/2468 auf. Das sind die Sammelübersichten 63 bis 66.
Wer für diese Beschlußempfehlungen stimmt, den bitte ich um das Handzeichen! - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß diese Beschlußempfehlungen bei Stimmenthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der PDS angenommen worden sind.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/2469 auf. Das ist Punkt 20m, die Sammelübersicht 67.
Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen! - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition angenommen ist.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Dann rufe ich Punkt 20n auf: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/2470. Das ist die Sammelübersicht 68.
Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der SPD und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen worden ist.
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Jahresversammlung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Washington unter Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung und ihrer einnahme- und ausgabemäßigen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch diejenigen, die im Moment den Saal verlassen, sind an einer funktionierenden wirtschaftlichen Entwicklung der ganzen Welt sicherlich genauso interessiert wie an der Flexibilisierung der Arbeitszeit und der Arbeitswelt in der Bundesrepublik Deutschland, denn beides gehört selbstverständlich zusammen.
Gestern früh bin ich von der traditionellen Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank sowie von den Gesprächen im Rahmen der G 7 zurückgekehrt. Ich bedanke mich auch bei der Delegation des Deutschen Bundestages für die gute Zusammenarbeit und für die Unterstützung während dieser Tagung.
Einmal mehr sind Deutschland und insbesondere die deutsche Finanzpolitik durch den Internationalen Währungsfonds und im Kreis der G 7 positiv bewertet worden. Deutschland verzeichnet beeindrukkende Fortschritte beim Abbau des Haushaltsdefizits.
Die Konzeption der symmetrischen Finanzpolitik, Defizitreduktion und Steuersenkung bis zum Jahr 2000 zu verbinden, ist ausdrücklich begrüßt worden.
Wie schon vor sechs Monaten bleibt auch die jüngste Weltwirtschaftsanalyse des Internationalen Währungsfonds bei ihrem positiven Gesamteindruck. Der
weltweite Aufschwung setzt sich ungebrochen fort, zwar in einem etwas langsameren Tempo als zunächst angenommen; von einer Trendwende kann aber keine Rede sein.
Deutschland liegt beim Wachstum an der Spitze der G 7 und bleibt damit ein Motor der Weltwirtschaft. Das gilt, auch wenn der IWF in Anbetracht der Ergebnisse des ersten Halbjahres die Zahlen für Deutschland leicht nach unten korrigiert hat. Wir können 1995 auch weiterhin mit 21/2 % Realwachstum rechnen, und 1996 bleibt das Wachstum in Deutschland auf einem dynamischen Pfad. Nach dem bislang kräftigen Wachstum von Export und Investitionen können wir auf Grund der Steuer- und Abgabenentlastungen in Höhe von etwa 27 Milliarden DM im nächsten Jahr mit einer deutlichen Zunahme des Verbrauchs rechnen.
Auch die Entwicklung in den USA ist durchaus positiv. Heute kann mit einem „soft landing" der amerikanischen Konjunktur gerechnet werden. Für Japan hat der Währungsfonds seine Prognosen stärker revidieren müssen. Hier spiegeln sich insbesondere die Aufwertung des Yen und die Bankenkrise wider.
Erfreulich ist das kräftige Wachstum in zahlreichen Entwicklungs- und Schwellenländern. Das hohe Wachstum in diesen Ländern ist inzwischen zu einem andauernden positiven Faktor der Weltwirtschaft geworden.
Auch in den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas - in 17 von 26 - zeigen sich positive Wachstumsraten. Meine Damen und Herren, ich halte es für einen beeindruckenden Erfolg erstens der Reformanstrengungen in diesen Ländern und zweitens der internationalen Kooperation durch IWF, Weltbank und andere Institutionen, wenn heute 17 von 26 Transformationsländern positives Wachstum aufweisen.
Auch in Rußland - das haben die Diskussion mit den russischen Vertretern im G-7-Gespräch und beim Interimskomitee sowie meine bilateralen Gespräche mit dem stellvertretenden Ministerpräsident Tschubais und dem Finanzminister Yasin gezeigt - sind positive Zeichen zu sehen. Die Inflationsrate sinkt seit Jahresbeginn. Die Entwicklung des Sozialprodukts und des Haushaltsdefizits verläuft günstiger als erwartet.
Gerade in Deutschland spüren wir die Handelsimpulse einer dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung in Polen, in Tschechien, in Slowenien, in Ungarn oder in den baltischen Staaten. In diesem Ergebnis zeigt sich der Erfolg von Marktwirtschaft und Demokratie ebenso wie der einer Politik der Liberalisierung der nationalen Volkswirtschaften und der Weltmärkte.
Bei der Inflation ist die Lage weltweit so gut wie schon lange nicht mehr. Die Inflationsgefahren sind gering.
National wie international bleibt die Arbeitslosigkeit eine Hauptsorge der Finanzpolitik. In Deutschland hat in den neuen Bundesländern ein deutliches Beschäftigungswachstum eingesetzt. Laut neuesten
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Untersuchungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft beträgt die Rate jetzt 3 % pro Jahr. Auch in den alten Bundesländern ist die Arbeitslosenquote nach internationalem Standard mit 6,5 % niedriger als in vielen anderen Ländern. Aber der Arbeitslosensockel ist zu hoch, das Tempo des Abbaus der Arbeitslosigkeit ist unzureichend. Ein international einheitliches Rezept gibt es nicht. Dazu sind die Ursachen der Arbeitslosigkeit und die Strukturelemente der Arbeitsmärkte zu unterschiedlich. Eine Strategie ist allerdings in jedem Fall und in jedem Land die richtige: Eine entschlossene Wachstumspolitik schafft die Arbeitsplätze von morgen.
Wachstum braucht Investitionen. Nur das Ersparte kann investiert werden. Dafür müssen in jedem Land und weltweit die Voraussetzungen stimmen. Insbesondere in den Industrieländern, in denen die Ersparnisbildung noch zu wünschen übrigläßt, muß ein Kurswechsel stattfinden. In der jetzigen weltwirtschaftlichen Situation, bei weiterhin hohem Kapitalbedarf hat daher nach Ansicht des Internationalen Währungsfonds und der G 7 die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte oberste Priorität. Daneben muß die Ersparnisbildung bei den Bürgern und der Wirtschaft gefördert werden. Diese Schlußfolgerung zieht auch die G-10-Studie „Sparen und Investieren", die wir im Kreis der Minister verabschiedet haben.
Auch hier hat Deutschland seine Hausaufgaben mutig angepackt. Unter den G-7-Ländern weisen wir das niedrigste strukturelle Defizit aus. Traditionell haben wir eine im internationalen Vergleich hohe Sparquote. Im Zeichen der Einheit haben wir von Beginn an auf Konsolidierung, Einsparungen und Umschichtungen gesetzt. Schließlich haben wir mit der symmetrischen Finanzpolitik bis zum Jahr 2000 eine ehrgeizige, aber glaubwürdige Strategie vorgelegt, die auch das volkswirtschaftliche Sparen noch weiter voranbringt.
Zentrale Themen in den Gesprächen der G 7, der G 10 und des Interimsausschusses waren die Krisenvermeidung und das Krisenmanagement in der Währungspolitik. Zur Krisenvermeidung wurde ein neues Dateninformationssystem des IWF beschlossen. Ziel ist es, die Übermittlungsgeschwindigkeit, die Genauigkeit und die Transparenz bei den relevanten Daten zu erhöhen. Natürlich kann es trotzdem auch weiterhin zu Währungskrisen kommen. Hier haben wir über ein Krisenfinanzierungsinstrument gesprochen. Dabei handelt es sich aber nicht um ein neues Finanzierungsinstrument, nicht um eine neue Fazilität, sondern um ein Verfahren zur beschleunigten IWF-Krisenhilfe. Grundsätzlich besteht darüber Einvernehmen; die technischen Details müssen noch geklärt werden.
Die Notwendigkeit einer angemessenen Finanzausstattung des IWF steht für uns außer Frage. Wir sind grundsätzlich der Meinung, dies bis 1998 über eine Quotenaufstockung zu gewährleisten. Über das Volumen oder die Verteilung läßt sich aber heute leider noch nichts sagen. Sollten die Mittel des Fonds in einem Notfall einmal knapp werden, bleibt dem Fonds die Möglichkeit, die bestehenden Kreditlinien
der „Allgemeinen Kreditvereinbarungen" in Anspruch zu nehmen. Hier haben wir uns auf eine Verdoppelung auf 34 Milliarden Sonderziehungsrechte unter Einbeziehung weiterer Länder verständigt.
Mit diesen Ergebnissen hat das Treffen von Währungsfonds und Weltbank einmal mehr seine wichtige Koordinierungsaufgabe erfüllt. Die Märkte haben klare Signale der währungspolitischen Kooperation erhalten, und mit den Ratschlägen für die Finanz- und Wirtschaftspolitik können wir uns voll und ganz identifizieren.
Meine Damen und Herren, ich bin gerade noch rechtzeitig von der Herbsttagung zurückgekehrt, um einige Dinge zur aktuellen Haushaltslage des Bundes und zu den finanzpolitischen Perspektiven richtigstellen zu können.
- Wissen Sie, lieber Herr Diller, Sie haben gestern gemeint, die große Nummer abziehen zu können. Sie haben im Vorfeld geglaubt, unterstellen zu können, man habe mich vor den Ausschuß zitieren müssen.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Ich bin nach einigen anstrengenden Tagen und zwei Stunden Schlaf im Kabinett und in einer Reihe von Veranstaltungen gewesen und selbstverständlich mit größtem Vergnügen zu Ihnen in den Haushaltsausschuß gekommen.
Ihre Hoffnung, daraus ein Theater mit Zitierung und Vorführung und ähnlichem mehr entfachen zu können, hat sich wieder einmal als eine typische SPD-Seifenblase entpuppt.
Herr Diller, Sie hätten überhaupt keinen Anlaß, etwas zu sagen, wenn ich bis zum 18. Oktober abwarten und erst danach zu der Steuerschätzung Stellung nehmen würde.
Wir haben uns korrekt an das gehalten, was uns die Steuerschätzung im Mai dieses Jahres vorgegeben hat. Der Bund wie jedes Land ist daran gehalten, die Zahlen zeitnah einzusetzen. Es hätte gar keinen Anlaß der Kritik Ihrerseits gegeben. Sie werden diese Zeit auch noch abwarten müssen. Danach wird von dieser Koalition in der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses das Notwendige vorgeschlagen und verabschiedet werden.
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Es paßt Ihnen nur nicht, daß wir auf Grund der bisherigen Erfahrung bis zum August selber in die Öffentlichkeit gegangen sind
und uns schon jetzt vorgenommen haben, an eine entsprechende Antwort auf Steuermindereinnahmen, die wahrscheinlich entstehen werden, zu denken. Dieses Mehr an Transparenz auch noch zu kritisieren, verstehe ich nicht. Sie haben nur Pech gehabt. Sie haben gemeint, das würde eine Riesenpropaganda für Sie werden. Sie haben sich getäuscht. Es wurde etwas erschlagen vom Rücktritt von Verheugen. Insofern haben Sie natürlich Pech gehabt mit der Verbreitung von Negativdarstellungen.
Sie haben, lieber Herr Diller, in den letzten Jahren nichts dagegen gehabt, wenn die Zahlen der Steuerschätzung positiv abwichen. Sie haben überhaupt keine Stellung dazu genommen, wenn wir jedes Jahr etwa 19 bis 20 Milliarden DM weniger Schulden gemacht haben.
Daß Sie jetzt eine Debatte haben wollen, wenn die neueste Steuerschätzung mit Mindereinnahmen rechnet, kann ich natürlich verstehen. Nur werden Sie daraus keine Aktion gegen die Regierung starten können. Ich gehe davon aus, daß Sie sich genauso wie die Koalition an einem noch strengeren Konsolidierungskurs beteiligen werden, um die Ziele zu erreichen, die wir uns für 1995 und 1996 bei der Eingrenzung der Kredite vorgenommen haben.
Bisher habe ich von Ihnen allerdings nur gehört, daß Sie sich den notwendigen Konsolidierungsmaßnahmen, die wir vorschlagen und die im nächsten Jahr durchgeführt werden sollen, verschließen. Wer sich aber der Konsolidierung verschließt und dann die Defizite beklagt, der handelt natürlich schon ein bißchen heuchlerisch und pharisäerisch. Den Vorwurf müssen Sie sich prophylaktisch im Hinblick auf Ihre nächste Rede jetzt schon gefallen lassen.
Meine Damen und Herren, Sie werden aber durch diese Debatte das, was OECD, IWF, Europäische Kommission und andere festgestellt haben, nicht aus der Welt hinausreden können. Selten hat Deutschland in der objektiven Einschätzung der großen internationalen Organisationen und ihrer Stäbe sowie in der Bewertung durch unsere Freunde und Partner in aller Welt so gut abgeschnitten wie in diesem Herbst.
Trotz der im internationalen Maßstab einmaligen finanziellen Herausforderungen durch die Wiedervereinigung steht Deutschland bei der Stabilität und der Solidität der öffentlichen Finanzen an der Spitze der entwickelten Industrienationen.
Bereits seit 1994 erfüllen wir neben Luxemburg die strengen Maastricht-Kriterien für die Haushaltsdisziplin. Die Preissteigerungen sind zuletzt auf den niedrigsten Stand seit Ende der 80er Jahre gesunken und betragen nur noch 1,7 Prozent. Die Zinsen für Investitionen liegen in Deutschland europaweit am niedrigsten. Niemand hätte vor fünf Jahren für möglich gehalten, daß wir im Jahre 1995 trotz aller Probleme, die vor uns stehen, so gut dastehen würden.
Meine Damen und Herren, nach den aktuellen Einschätzungen müssen die Erwartungen für das nominale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts für 1995 und für 1996 jeweils um rund einen Dreiviertelpunkt nach unten korrigiert werden. Das ist zum Teil die Folge der deutlich verbesserten Preisstabilität und zum anderen auch Resultat einer vorübergehenden realen Wachstumsverlangsamung, die allerdings nach Aussagen nahezu aller Experten wohl schon 1996 wieder von stärkerer Dynamik abgelöst wird.
Was das konkret für die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden bedeutet, wird die Steuerschätzung am nächsten Mittwoch zeigen. Ich halte es jedoch für notwendig und fair, auf der Grundlage der aktuellen Einnahmenentwicklung die Öffentlichkeit frühzeitig darauf hinzuweisen, daß der Bund in diesem und im nächsten Jahr jeweils rund 10 Milliarden DM bei den Steuereinnahmen einbüßen wird. Für Länder und Gemeinden werden sich die Verluste in ähnlicher Größenordnung bewegen.
Über Schätzabweichungen kann man hin und her diskutieren, aber ein mit großem Tamtam angekündigtes politisches Tribunal können Sie daraus nicht machen; denn auch Ihnen müßte bekannt sein, daß sowohl an der gesamtwirtschaftlichen Vorausschau als auch an der Steuerschätzung der gesamte ökonomische Sachverstand in unserem Land beteiligt ist. Forschungsinstitute, Sachverständigenrat, Bundesbank, Länder und Gemeinden, alle tun ihr Bestes, um die Zukunft so genau wie möglich vorauszusagen. Dabei kann der Punkt nicht genau getroffen werden, vor allen Dingen nicht bei einem solchen zeitlichen Abstand. Wenn man natürlich wie Sie Haushalte fast nie rechtzeitig verabschiedet, sondern fast immer ins nächste Jahr hineinkommt, dann wird der normale Haushalt jedesmal zum Nachtragshaushalt.
Insofern kann man sich dann auf aktuellere Steuerschätzungen verlassen, als wenn man - wie wir - die ganzen letzten 12 bis 13 Jahre, mit Ausnahme eines Jahres, den Haushalt jeweils rechtzeitig im Jahr zuvor verabschiedet.
Die Gründe für die geringeren Einnahmeerwartungen liegen zum einen in der abgeschwächten Wachstumsentwicklung und zum anderen in steuerlichen Sonderfaktoren, die zum Teil sogar positiv zu bewerten sind. Vieles spricht dafür, daß vor allem eine Inanspruchnahme der steuerlichen Fördermaßnahmen für den Aufbau Ost, die höher war als erwartet - insbesondere Investitionszulagen und Sonderabschrei-
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
bungen -, zu den Mindereinnahmen erheblich beigetragen hat. Das ist ein Zeichen dafür, daß diese Maßnahmen wirken und der Aufholprozeß in den jungen Bundesländern kräftig vorankommt.
Ein großer Teil der Einnahmeverluste beruht auch auf hohen Erstattungen bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer durch die Veranlagung des Rezessionsjahres 1993. Diese Erstattungen haben mit Steuerhinterziehung oder einer Begünstigung der Besteuerung von Selbständigen nichts zu tun. Es geht schlicht darum, daß zuviel gezahlte Steuer rechtmäßig zurücküberwiesen wird. In aller Regel werden diese Beträge in den Betrieben für neue Investitionen und neue Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.
Wenn sich aber der Kollege Diller dazu versteigt zu behaupten, die Löcher seien durch Steuerhinterziehung und Übersubventionierung cleverer Hochverdiener gerissen worden, frage ich Sie, meine Damen und Herren: Warum wenden Sie sich dann nicht an die SPD-Finanzminister? Sie haben doch die Mehrheit im Bundesrat. Warum kommt denn nicht von dort mehr Aktivität, um das eventuell zu verhindern? Sie können doch uns damit nicht treffen. Die Steuerverwaltung liegt bei den Ländern. Deshalb kommt dieser Vorwurf wie ein Bumerang an Sie zurück. Sie wissen ganz genau, daß Ihnen der sachkundige Kollege Schleußer schon x-mal erklärt hat, daß Ihre Luftbuchungen nicht stimmen.
Steuerausfälle in Höhe von jeweils 10 Milliarden DM in den beiden Jahren 1995 und 1996 bedeuten natürlich eine erhebliche Veränderung der bisherigen Planungsgrundlagen. Dennoch unser Konsolidierungskurs und unsere Konsolidierungsziele werden davon nicht grundsätzlich berührt. Nach heutiger Einschätzung wird es trotz der erheblichen Einnahmeverminderungen im Bundeshaushalt 1995 keine wesentliche Überschreitung der geplanten Neuverschuldung von rund 50 Milliarden DM geben. Den Mindereinnahmen stehen Entlastungen auf der Ausgabenseite und Verwaltungsmehreinnahmen gegenüber, die unter sonst gleichen Bedingungen zu einer erheblichen Defizitminderung geführt hätten.
An wesentlichen Entlastungen sind zu nennen: geringere Zinsausgaben auf Grund der stabilitätsbedingten geringeren Kapitalmarktzinsen, geringerer Mittelabfluß im Bereich der Nachfolgeeinrichtungen der Treuhandanstalt, geringerer Zuschußbedarf für die Bundesanstalt für Arbeit und deutliche Verwaltungsmehreinnahmen in den Bereichen Gewährleistungen und Liegenschaften.
Der Bundeshaushalt 1996 ist von den parlamentarischen Gremien noch nicht beschlossen. Ich kann und will dem Haushaltsausschuß nicht vorgreifen, der erst bei der Bereinigungssitzung am 26. Oktober seine Beschlüsse über die Haushaltsstruktur und die Haushaltseckwerte treffen wird. Eines aber ist schon heute klar: Wir wollen alle Mittel und Wege nutzen, um die erwarteten Steuerausfälle aufzufangen und die Kreditaufnahme so niedrig wie möglich zu halten. Deshalb müssen wir an der vollständigen Umsetzung der beschlossenen Entlastungsmaßnahmen im Bereich der Arbeitslosenhilfe festhalten und die BAföG-Strukturreform wie vereinbart verabschieden.
Absehbare Minderausgaben im kommenden Haushaltsjahr, z. B. im Bereich der Zinsen und des Erblastentilgungsfonds, müssen vollständig zur Begrenzung der Nettokreditaufnahme verwandt werden. Schließlich wollen wir auch alle zur Verfügung stehenden Privatisierungspotentiale konsequent ausnutzen.
Die im Vertrag von Maastricht niedergelegten Grenzen für die öffentliche Verschuldung und die jährliche Kreditaufnahme binden übrigens Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen. Jede politische Verantwortungsebene hat deshalb ihren Beitrag zu leisten, damit Deutschland auch in den kommenden Jahren Spitzenreiter bei der Konsolidierung und der Stabilität bleibt.
Trotz der jüngsten Prognosekorrekturen können wir mit Mut und Zuversicht in die Zukunft sehen. Die private Nachfrage wird als wichtigste Konjunktur- und Wachstumsstütze kräftig anziehen.
Zur Stärkung des Wachstums müssen wir auch noch steuerpolitische Bremsklötze beseitigen. Deshalb erwarte ich nach den Signalen aus der SPD-Bundestagsfraktion und aus den SPD-regierten Ländern, daß es gelingt, jetzt die Unternehmensteuerreform zu verabschieden.
Dabei werden wir uns auch über die Ergänzung des Steuersystems nach Umweltgesichtspunkten unterhalten.
- Ihr Konzept, Herr Fischer, mit einem Benzinpreis in Höhe von 5 DM ist ein Konzept der Ungerechtigkeit, weil sich dann nur noch Reiche das Autofahren leisten können. Das wollen wir nicht.
- Sie sind doch der größte Arbeitsplatzverhinderer der Bundesrepublik Deutschland, Herr Fischer.
Unser Konzept soll in den drei Lebensbereichen Verkehr, Wohnen und Arbeiten ansetzen. Wichtig ist: Unter dem Strich sollen die Bürger und Unternehmen nicht mehr belastet werden.
Daher wollen wir alle Maßnahmen in dem Bereich gegenfinanzieren, in dem sie wirksam sind.
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Die Förderung von Telearbeitsplätzen wollen wir zusammen mit der Unternehmensteuerreform realisieren. Zusätzlich prüfen wir, wie an Hand eines präzisen Katalogs umweltorientierte Investitionen direkt gefördert werden können. Bei der Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums wollen wir energiesparende Investitionen fördern. Dazu prüfen wir auch die Präferierung von Niedrigenergiehäusern.
Im Bereich des Verkehrs haben wir bereits Ansätze einer schadstofforientierten Kfz-Steuer und eine Spreizung der Mineralölsteuer nach Umweltgesichtspunkten. Jetzt soll die Kfz-Steuer emissionsorientiert umgestellt werden; hier sollen dann auch Motorräder einbezogen werden. Die Verbreitung umweltfreundlicher Benzinsorten werden wir steuerlich weiter flankieren.
Wenn wir in der Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik Wachstum und Beschäftigung in den Mittelpunkt stellen, werden wir das Vertrauen im In- und Ausland bewahren und die erreichten Fortschritte im wiedervereinigten Deutschland kräftigen und ausbauen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Karl Diller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach diesen Ausführungen des Herrn Finanzministers verstehe ich, warum er den ganzen Vormittag hinter den Kulissen massiv versucht hat, die für morgen eigentlich vereinbarte Aktuelle Stunde zur Lage der Staatsfinanzen zu verhindern.
Denn erneut hat er sich über die Deckungsmöglichkeiten und die wahren Risiken seines Haushalts gegenüber der Öffentlichkeit völlig ausgeschwiegen.
Die Koalition kneift. Heute soll dieses Thema unter „ferner liefen" behandelt werden.
Es ist ein mieses Stück, die wahre Finanzlage des Bundes zu vertuschen.
Sehr geehrter Herr Waigel, es ist auch ein mieses Stück Ihres Hauses, zum gleichen Zeitpunkt, zu dem Sie die Bundestagsfraktion der CDU/CSU und in einem Hintergrundgespräch eine Auswahl von Journalisten über die Haushaltsrisiken des Jahres 1996 informieren, den Berichterstattern zum zuständigen Einzelplan jede Auskunft über die Haushaltsentwicklung des Jahres 1995 und die Risiken des Jahres 1996 zu verweigern. Dies ist einmalig.
Schieben wir einmal diese ganzen Schönbuchungen weg, dann stellen wir nüchtern fest: In diesem Jahr hat der Finanzminister - das hat er gestern im Haushaltsausschuß eingeräumt - ein Deckungsloch von 10 bis 12 Milliarden DM. Im nächsten Jahr werden es mindestens 10 Milliarden DM sein. Im nächsten Jahr hat er außerdem nicht etatisierte Lasten aus dem Jahressteuerergebnis von 1,6 Milliarden DM zu finanzieren. Ferner hat er seinen Vorschlag noch nicht in trockenen Tüchern - und er wird ihn auch nicht in trockene Tücher bekommen -, den Arbeitslosen, die lange arbeitslos sind, im nächsten Jahr 3,4 Milliarden DM bei der Arbeitslosenhilfe zu streichen.
Auch seine Absicht, die Lufthansa weiter zu privatisieren, wird ein Flop. Die in diesem Jahr eingestellten 1,5 Milliarden DM und die im nächsten Jahr veranschlagten 1,7 Milliarden DM sind aus EU-rechtlichen Gründen mehr als fraglich. Bisher ist nichts von diesem Geld eingegangen.
Auf Grund der Konjunktur- und Arbeitsmarktentwicklung wird die Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr sicherlich nicht ohne Zuschuß auskommen. Denjenigen Menschen, die hoffen, im nächsten Jahr aus ihrer Arbeitslosigkeit wieder in eine Erwerbstätigkeit zu kommen, wird Herr Waigel - das hat er im Haushaltsausschuß eingeräumt - ihre Hoffnungen nicht erfüllen können. Er geht davon aus, daß die Arbeitslosigkeit auf dem jetzigen Niveau bleibt. Dies bedeutet, daß viele Leute kein Arbeitslosengeld mehr beziehen werden und in die Arbeitslosenhilfe fallen, d. h. ein Haushaltsrisiko beim Bund werden.
Hinsichtlich der addierten Haushaltslöcher geben Sie selbst für nächstes Jahr 12 Milliarden DM zu. Für die restlichen 6 bis 8 Milliarden DM fehlt ebenfalls jede glaubwürdige Deckung.
Ihr Versuch, bei 60 Milliarden DM Nettoneuverschuldung zu bleiben, müßte jetzt eigentlich untermauert werden. Seit 14 Tagen sprechen Sie öffentlich dieses Problem an; bis heute sind Sie jeden Beweis schuldig geblieben, wie Sie diese Deckungslöcher konkret stopfen wollen.
Dann ist ein solcher Regierungsentwurf natürlich
Makulatur. Wir bestehen darauf, daß die Bundesregierung nach der Bundeshaushaltsordnung eine se-
Karl Diller
riöse Ergänzungsvorlage zu ihrem Haushaltsentwurf vorlegt.
Gestern konkret genagelt, ist er wie Pudding.
Da sagt er: Also, wir streben eine globale Minderausgabe nicht an, wir schließen sie aber auch nicht aus. Eine solche globale Minderausgabe, d. h. ein Streichen quer über den gesamten Haushalt, ist dann mindestens in einer Größenordnung von 5 Milliarden DM fällig.
Deshalb ist die Behauptung des Kollegen Roth, nun sei es Aufgabe der Koalition im Haushaltsausschuß und des Parlaments insgesamt, für eine Deckung zu sorgen, kühn.
Bisher haben die Beratungen des Haushaltsausschusses - wir waren gestern mit der Hälfte fertig - eine Haushaltsverbesserung von 380 Millionen DM erbracht.
Gestern haben wir anschließend den Verteidigungshaushalt beraten.
Kürzungsvorschläge der SPD-Fraktion in der Größenordnung von rund 400 Millionen DM haben Sie abgelehnt. Man kann angesichts einer solchen Entwicklung der Staatsfinanzen einen solch großen Haushalt wie den Verteidigungshaushalt nicht von Kürzungen ausnehmen, meine Damen und Herren.
Der Wohnungsbauminister verspricht inzwischen eine Erhöhung des Wohngeldes. Er verschweigt völlig, woher das Geld dafür kommen soll. Der Verteidigungsminister bittet den Haushaltsausschuß, seinen Haushalt von Kürzungen auszunehmen. Der Verkehrsminister bittet heute den Haushaltsausschuß, ihm doch 500 Millionen DM zusätzlich zu bewilligen, weil er sonst im nächsten Jahr überhaupt nichts Neues anfangen könne. Das wird noch ein Hauen und Stechen im Kabinett bzw. in der Koalition geben,
um diese Geschichte glattzuziehen.
Herr Waigel, von den Steuerausfällen sind allenfalls - da waren wir uns gestern im Ausschuß einig -7 bis 8 Milliarden DM konjunkturell erklärbar. Der
Rest geht zum überwiegenden Teil auf eine völlige Fehleinschätzung Ihres Hauses hinsichtlich der Möglichkeiten der Steuerverkürzung durch Abschreibungsvergünstigungen und der Gestaltungsmöglichkeiten im Steuerrecht zurück.
Die neuesten Daten bezüglich der veranlagten Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer weisen eine Erwartung für das laufende Haushaltsjahr von 26 Milliarden DM aus. Eingegangen sind 2,4 Milliarden DM,
d. h., 9 % des von Ihnen Erwarteten sind erst eingegangen. Diese Entwicklung läßt nur einen Schluß zu: Die ungerechte Verteilung der Steuerlast in diesem Lande hat sich dramatisch verschärft.
Nun müssen wir befürchten, daß die Koalition in den weiteren Beratungen keine konkreten Dekkungsvorschläge vorlegen wird, daß sie aber die durch Steuerverkürzungen und Übersubventionierung in die öffentliche Haushalte gerissenen Löcher durch weitere Belastungen breiter Kreise der Bevölkerung in letzter Minute zu stopfen versuchen wird, möglicherweise in Form einer globalen Minderausgabe, durch Eingriffe in Sozialleistungen, aber auch durch Kürzungen im Investitionsbereich.
Meine Damen und Herren, das jetzige Steuerdesaster ist das Ergebnis Ihrer Politik, die denen hilft, die sich eigentlich selber helfen können müßten.
Das Schreckliche, das Unsoziale, das Unchristliche und das Unsolide Ihrer Politik ist, daß Sie die nötigen Deckungsmassen für diese Politik wieder durch zusätzliche Einschnitte bei den breiten Bevölkerungskreisen holen wollen.
Einer solchen Politik werden wir unseren entschiedenen Widerstand entgegensetzen, Herr Waigel, darauf können Sie sich verlassen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Wilfried Seibel das Wort.
Herr Präsident! Ich möchte auf die Ausführungen des Kollegen Diller kurz Bezug nehmen. In dem erwähnten Berichterstattergespräch wurden auf Nachfragen aus der Runde an den Staatssekretär keine aktuellen Zahlen über die vorliegenden Tendenzen für die Steuerschätzung gegeben. Als ich an dem Abend nach Hause kam,
Wilfried Seibel
den Fernseher anstellte und die Pressemeldung des Ministeriums hörte, die maximal eine Stunde nach Ende unseres Berichterstattergesprächs herausgegeben worden sein kann, habe ich mich in der Tat geärgert.
- Ich sagte ja, daß es mich geärgert hat. Nehmen Sie es doch hin.
Ich bin im Detail zwar etwas anderer Meinung, aber Kollege Diller hat ein paar Analysen gegeben, die zu diesem Ergebnis führen. Nun könnte es passieren - wir wissen, daß es nicht passieren wird -, daß Sie, Herr Diller, in die Verantwortung geraten könnten, in der Herr Waigel heute steht.
Da wäre ich dankbar, wenn Sie uns noch ein paar Anmerkungen dazu machen könnten, wo die 20 Milliarden DM, die jetzt fehlen, von der SPD erwirtschaftet würden. Durch neue Steuern oder durch Einsparungen an welcher Stelle?
Wenn Sie uns dazu etwas sagen könnten, würde das die Glaubhaftigkeit Ihres Vortrags wesentlich erhöhen.
Herr Kollege Diller, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.
Herr Präsident! Auf die Frage des Kollegen Seibel eine einfache Antwort: Sie regieren, und es ist Ihre Bringschuld.
Wenn Sie außerdem Anregungen für vernünftige Vorschläge suchen, dann schauen Sie einmal nach, was im Zuge der Beratungen über das Jahressteuergesetz alles an Einsparmöglichkeiten durch die Verminderung von Abschreibungsmöglichkeiten und ähnlichen Dingen durch die Bundesländer vorgeschlagen worden ist. Dort finden Sie ein großes Feld, das weit über die Summe hinausgeht, die jetzt zur Debatte steht. Wenn Sie davon nur einen Teil umsetzen, werden Sie den in Rede stehenden Betrag einsparen können. Obendrein hätten diese Maßnahmen den Vorteil, daß jedenfalls nicht die kleinen Leute getroffen würden.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Hansgeorg Hauser das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Diller, das, was Sie von den Einsparungen im Rahmen des Jahressteuergesetzes gesagt haben, meinen Sie doch wohl selber nicht ernst. Was an Einsparungsvorschlägen gemacht wurde, wäre für die Wirtschaft eine Horrorliste zur Vernichtung von Arbeitsplätzen gewesen. Das wollen wir hier doch weiß Gott nicht beschließen.
Die Jahrestagungen von IWF und Weltbank sind nun schon seit mehr als einem halben Jahrhundert ein wichtiges Forum für Fragen der internationalen Wirtschafts-, Währungs- und Entwicklungspolitik. Auch wenn hier in erster Linie globale Probleme auf der Tagesordnung stehen, bleibt doch ein enger Bezug zur nationalen Politik jedes einzelnen Teilnehmerstaates.
Angesichts der Globalisierung der internationalen Finanz- und Devisenmärkte, die in den letzten Jahren in einem geradezu atemberaubenden Tempo zugenommen hat und wo Tag für Tag unvorstellbare Summen rund um den Globus bewegt werden, hat auch die nationale Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik unmittelbar internationale Auswirkungen. Die internationalen Märkte reagieren in kürzester Zeit auf nationale wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen. Es ist deshalb richtig, daß auch Abgeordnete des Deutschen Bundestages aller Parteien, die über diese nationale Politik zu befinden haben, an den Jahrestagungen teilnehmen.
Die Bilanz der nunmehr 51 Jahre des Bestehens von IWF und Weltbank ist unter dem Strich als Erfolg zu werten. Sicherlich gab es Krisen - ich erwähne hier nur die Mexiko-Krise -, und sicherlich wird es auch weiterhin Krisen geben. Aber dies ist zu meistern, weil sich alle - ich denke hier insbesondere an die führenden Industrienationen - ihrer gemeinsamen Verantwortung bewußt sind und - ich füge das hinzu - sich auch gegenseitig informieren. Zumindest haben sie sich das gegenseitig so versichert.
Es geht dabei sicherlich nicht nur um finanzielle Leistungen. Mich hat insoweit der Satz aus der Eröffnungsrede des neuen Weltbankpräsidenten Wolfensohn schon beeindruckt, daß das Lächeln eines Kindes der wahre Maßstab für ein erfolgreiches Entwicklungsprojekt sei. Aber Geld ist nun einmal erforderlich, und gemeinsame Verantwortung bedeutet insoweit eben auch, daß alle Mitgliedsländer ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Das schließt nicht aus, die Notwendigkeit der Bereitstellung neuer Mittel und deren Verwendung kritisch zu hinterfragen und notfalls auch einmal Mittel zu sperren, um zu verhindern, daß Geld zum Fenster hinausgeworfen wird. Ich glaube aber, daß die Weltbank aus Fehlern der Vergangenheit gelernt hat und Präsident Wolfensohn mit seinem Rezept der Entbürokratisierung einer stärkeren Effektivitätskontrolle und einer gesteigerten partnerschaftlichen Ausrichtung der Arbeit auf dem richtigen Weg ist.
Meine Damen und Herren, die diesjährige Jahrestagung von IWF und Weltbank hat aber auch eine eindrucksvolle Bestätigung der deutschen Finanzpolitik und die Anerkennung der persönlichen Lei-
Hansgeorg Hauser
stung von Finanzminister Waigel auf diesem Gebiet gebracht. Der IWF erteilt Deutschland in seiner jüngsten Weltwirtschaftsanalyse, dem World Economic Outlook, gute Noten. Deutschland hat unter allen G 7-Ländern das geringste strukturelle Defizit im Haushaltsaldo. Und die Empfehlungen des IWF an die Industrieländer lesen sich fast so, als seien sie von Theo Waigels finanzpolitischem Grundsatzprogramm abgeschrieben. Das IWF fordert, der öffentlichen Haushaltskonsolidierung oberste Priorität einzuräumen. Der deutschen Finanzpolitik wird ausdrücklich bescheinigt, daß sie mit ihren Konsolidierungserfolgen für Europa ein gutes Beispiel gesetzt hat.
Diese internationale Anerkennung der Leistungen der deutschen Finanzpolitik ist um so höher zu bewerten, als sie unter schwierigsten finanzpolitischen Rahmenbedingungen, nämlich der erfolgreichen Bewältigung der Jahrhundertaufgabe der deutschen Einheit, zustande gekommen ist, was den übrigen Mitgliedstaaten der G 7 wohl bewußt ist und was wir in unseren Gesprächen immer wieder bewundernd als Erfolg bestätigt bekommen haben.
Meine Damen und Herren, es ist schon eine komische Situation. Das gesamte Ausland lobt unsere Finanzpolitik, in der Europäischen Union sind wir mit Luxemburg das einzige Land, das die strengen Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages bereits jetzt voll erfüllt hat, die D-Mark ist stark wie eh und je, nur die Opposition weigert sich beharrlich, die Leistungen der deutschen Finanzpolitik zur Kenntnis zu nehmen. Mangels eigener Alternativen bleibt ihr dann nur das Mittel der Miesmacherei und Panikmache. Wir haben soeben ein treffendes Beispiel gehört.
Nein, meine Damen und Herren, es bleibt dabei, zu Theo Waigels symmetrischer Finanzpolitik gibt es keine Alternative. Nicht finanzierbare ideologische Wunschvorstellungen, die mit dem Mäntelchen einer ökologischen Steuerreform nur unzureichend kaschierten Steuererhöhungspläne, wie sie die SPD und die Grünen vollmundig zuhauf zu bieten haben, sind Gift für die Konjunktur, für Wirtschaft und für Arbeitsplätze.
- Liebe Frau Scheel, wenn Sie schon dazwischenrufen: Das Öko-Pamphlet der Grünen erwähnt mit keinem einzigen Wort „Arbeitsplätze". Das ist bezeichnend für Ihr Programm.
- Lesen Sie Ihr eigenes Papier nach. Das Wort „Arbeitsplatz" kommt nicht vor.
Eine stetige, auf Stabilität und Konsolidierung gerichtete Finanzpolitik ist aber nicht nur im nationalen Bereich geboten, sie ist vielmehr auch die entscheidende Voraussetzung für stabile Währungsrelationen. Nur durch eine derartige Politik, nicht durch
internationale Feuerwehrfonds, ist das Funktionieren der internationalen Finanzsysteme auf Dauer zu sichern. Die Entwicklungen an den internationalen Finanz- und Devisenmärkten am Anfang dieses Jahres haben dies nochmals deutlich gezeigt.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Episode schildern, die am Rande der Tagung am 10. Oktober geschah. Wir saßen in dem großen Versammlungssaal, prall gefüllt mit mehreren tausend Teilnehmern, die zwar dem jeweiligen Redner zuhören, aber gleichwohl eine gewisse Geräuschkulisse erzeugen.
Viele unterhalten sich, blättern Tagungsunterlagen durch usw., ähnlich wie bei uns im Parlament.
In dem Moment - Sie haben das sehr richtig erkannt -, als vom Vorsitzenden Finanzminister Waigel das Wort erteilt wird, verändert sich diese Kulisse schlagartig.
Die Kopfhörer für die Übersetzungen werden noch einmal gerichtet, die Notizblöcke und die Kugelschreiber herausgeholt, um sich Notizen von der Rede zu machen, die Atmosphäre im Saal ist von einer gespannten Aufmerksamkeit aller gekennzeichnet.
Meine Damen und Herren, ich glaube, diese kleine Episode zeigt mehr als alle IWF-Berichte, Statistiken und sonstigen auf den Jahrestagungen erstellten Materialien, welch hohe Anerkennung die deutsche Finanzpolitik unter Federführung von Theo Waigel im internationalen Bereich erfährt.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn wir alle nach dieser Rede des Kollegen Hauser tief ergriffen sind,
möchten wir doch zum Thema zurückkommen und
z. B. über die internationale Schuldenkrise reden,
die ja noch nicht zur Sprache kam und die immer
Ludger Volmer
noch eines der Hauptprobleme der internationalen Finanzpolitik ist. Denn anders, als der Finanzminister es dargestellt hat, leben ja nicht alle Länder und Staaten in Wohlstand, sondern nur ein Teil von ihnen, während es den anderen schlechter geht als je, nämlich den 40 ärmsten Ländern. Damit meine ich besonders die afrikanischen Staaten südlich der Sahara.
Vor einem Jahr wäre beinahe die Volkswirtschaft Mexikos kollabiert, und alle schrien: „Eine Schuldenkrise ", als wäre nicht das gleiche 15 Jahre vorher schon einmal passiert, mit ähnlichen Auswirkungen. Das zeigt uns eigentlich nur, daß die gesamte Finanzpolitik in den Jahren zwischen 1980 und 1995 auf der internationalen Ebene nichts anderes war als eine Durchwurstelei, die es nicht im mindesten geschafft hat, die strukturellen Probleme zu beseitigen.
In diesem Zusammenhang gibt es einen Hauptskandal. Er besteht darin, daß die 40 ärmsten Länder, die ich gerade erwähnt habe, mittlerweile zu Nettofinanziers von IWF und Weltbank geworden sind. Die multilateralen Organisationen leben mittlerweile auf Kosten der ärmsten Länder. Diese Länder sind mit 30 Milliarden DM bei IWF und Weltbank verschuldet, und ihre Schuldenlastquote, gemessen am Export, beläuft sich mittlerweile auf 220 %. Das muß man sich einmal vorstellen. Das ist der Hauptskandal. Da kann man sich nicht hinstellen und sagen: Es geht bergauf in der Weltwirtschaft. - Vielmehr muß nach Wegen gesucht werden, wie diesen ärmsten Ländern die Schulden erlassen werden können.
Nun will ich gar nicht so weit gehen und sagen, daß man dem Vorschlag der Grünen folgen und den ärmsten Ländern die Schulden insgesamt erlassen soll und den Ländern mit mittlerem volkswirtschaftlichem Einkommen die Hälfte ihrer Schulden; zur Finanzierung dessen sollten die Weltbank und der IWF teilweise ihre Goldreserven verkaufen. So weit will ich gar nicht gehen.
Vielmehr will ich nur den Vorschlag einbringen, der in der Weltbank selber erarbeitet wurde. Dort wurde vorgeschlagen, daß ein internationaler Entschuldungsfonds eingerichtet wird, der mit 11 Milliarden DM finanziert werden soll. Damit hätte die Entschuldung der Ärmsten finanziert werden können. Für die Gläubigerseite hätte das nicht einmal einen Schuldenverzicht bedeutet. Damit wäre das internationale Finanzsystem nicht einmal tangiert worden. Aber selbst zu diesem maßvollen Vorschlag hat die Bundesregierung nein gesagt. Diese Bundesregierung blockiert, wo sie nur blockieren kann, verhindert jede vernünftige Schuldenstrategie oder läßt sie höchstens insoweit zu, als die Kuh, die man melken will, nämlich die sogenannte Dritte Welt, nicht krepieren darf, sondern noch ein bißchen Milch gibt, so daß die reichen Industriestaaten und insbesondere
die Volkswirtschaft des Herrn Theo Waigel davon profitieren.
Wir hätten erwartet, daß eine offensive Schuldenstrategie betrieben wird. Statt dessen blockiert die Bundesregierung mittlerweile auch die einzige halbwegs effektive Fazilität der Entwicklungsfinanzierung, nämlich die IDA.
Das geschieht unter dem Vorwand, daß Amerika nicht zahlt. Es ist ein Skandal, daß die USA nicht zahlen. Aber es ist doch die absolut falsche Konsequenz, wenn die Bundesregierung, unterstützt durch den Haushaltsausschuß, den wir herzlich bitten, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken, nun beschließt, ebenfalls nicht zu zahlen bzw. die Zahlungsquote so weit herunterzudrücken, daß man nicht mehr zahlen muß als die USA. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die IDA-Fazilität gerade zu greifen beginnt und der IDA-Topf revolviert, d. h. sich selber wieder auffüllt, so daß das jährliche „replenishment", die Wiederauffüllung, immer geringer ausfällt. Warum machen Sie das einzige im Moment wirklich funktionsfähige entwicklungspolitische Instrument auf der multilateralen Ebene kaputt? Darauf möchte ich eine Antwort haben.
Zum Schluß noch einen Satz zur Haushaltspolitik und zur Arbeitsmarktpolitik bei uns. Sie haben keine Schuldenstrategie, sondern sie setzen immer noch darauf, daß der Internationale Währungsfonds mit seiner Auflagenpolitik alle Länder dazu zwingt, möglichst viel für den Export zu produzieren und den Schuldendienst zu leisten, auch dadurch, daß in den Ländern die Löhne gesenkt und die Sozialausgaben weiter heruntergedrückt werden. Sie zwingen teilweise die Schwellenländer zum Lohn- und Sozialkostendumping und beschweren sich dann hinterher, die Löhne seien überall so niedrig, daß wir mit unseren angeblich zu hohen Löhnen nicht mitkommen. Dies wiederum nehmen Sie zum Vorwand, um auch hier Lohndrückerei und Sozialabbau durchzusetzen.
Sie sollten Ihre Weltwirtschaftsstrategie gründlich überdenken. Sie sollten eine Schuldenstrategie entwickeln, die es allen Ländern der Welt erlaubt, eine nachhaltige Entwicklung zu betreiben. Ich glaube, dann werden sich die sogenannten Standortprobleme der Bundesrepublik völlig anders darstellen. Es ist teilweise die kleinkrämerische Ängstlichkeit dieser Bundesregierung, die konservative Phantasielosigkeit, die dazu führt, daß die Standortprobleme geschaffen werden durch eine falsche internationale Finanzpolitik, die sie angeblich lösen will.
Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Politik gründlich zu überdenken. Es zeigt sich auch bei der Entwicklungsfinanzierung und bei der Schuldenpolitik: Eines der Hauptprobleme für den Standort
Ludger Volmer
Deutschland ist die falsche Politik der Bundesregierung.
Vielen Dank.
Herr Abgeordneter, es besteht noch der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Da Sie noch etwas Redezeit haben, könnten Sie sie auch noch zulassen. - Bitte.
Warum, Herr Volmer, sind Sie, wenn Sie an diesen Punkten so interessiert sind, nicht im Finanzausschuß, wenn die Dinge besprochen werden?
Weil ich gleichzeitig im Auswärtigen Ausschuß bin. Auch da werden die Dinge besprochen. Das ist oft das Problem der kleineren Fraktionen, daß ihre Mitglieder in mehreren Ausschüssen sein müssen.
Im übrigen weise ich darauf hin, daß ich seit 1985 dieses Thema im Bundestag bearbeite und dementsprechend oft an den Jahrestagungen von IWF und Weltbank teilgenommen habe.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die kurze Diskussion eben erinnert mich an die boshafte Bemerkung von Helmut Schmidt vor vielen Jahren, der Auswärtige Ausschuß sei der Rotary Club, der Wirtschaftsausschuß der Lions Club des Parlaments, in anderen müsse gearbeitet werden. Dann verstehe ich, daß Sie in den Auswärtigen Ausschuß gehen.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich bei der Bundesregierung, daß sie uns einen Bericht über die Jahrestagung der Bretton-Woods-Organisationen gibt. Ich finde es schon bemerkenswert, Herr Diller, daß der Provinzialismus der SPD soweit geht, daß Sie nicht einmal eine Debattenrunde diesem Thema widmen können.
- Das wird ja alles in der zweiten Runde diskutiert. Der Kollege Weng wird zum Haushalt Stellung nehmen, verehrte Frau Matthäus-Maier. Aber gelegentlich kann man doch einmal über die Grenzen unseres eigenen Landes hinwegsehen. Ist das um alles in der Welt bei Ihnen überhaupt nicht möglich?
Ich verstehe ja, wie sehr Sie mit sich selbst beschäftigt sind. Aber es gibt noch etwas außerhalb der SPD und auch außerhalb der Bundesrepublik.
Meine Damen und Herren, die Bretton-Woods-Institutionen sind in die Jahre gekommen. Die Welt, in der sie 1944 geschaffen wurden, existiert so nicht mehr. Das GATT hat sich gut gehalten, die Welthandelsorganisation hat das aufgenommen. Der multilaterale Freihandel steht auch in Zukunft außer Frage.
Wir sind auch hoffnungsvoll, daß die Weltbank - Herr Hauser hat das erwähnt - ihre neue Rolle finden wird. Sie hat weiterhin eine wichtige Aufgabe als Entwicklungsbank. Ihr neuer Präsident, James Wolfensohn, zeigt die notwendige Entschlossenheit, endlich die organisatorische Straffung der Weltbank anzugehen.
Wir begrüßen es, daß er - ein wichtiger Schritt - z. B. das umstrittene Arun-Staudamm-Projekt in Nepal storniert hat. Das war das größte Objekt der Weltbank, aber gleichzeitig ein Symbol für Arroganz, für Gigantomanie und für umweltpolitische Blindheit einer inzwischen überlebten Entwicklungspolitik.
Die International Finance Corporation, IFC, die heute noch nicht erwähnt wurde, ist nicht ganz unumstritten, weil sie durch die Förderung privater Investitionen in Entwicklungsländern in Konkurrenz zu den privaten Banken tritt. Aber sie hat gut gearbeitet. Von der Weltbank geförderte Infrastrukturprojekte sind zwar eine notwendige Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung vieler Länder, aber es ist gerade die Förderung privater Investitionen, die selbsttragende wirtschaftliche Kräfte erst aktiviert. Deswegen halten wir es für bedenklich, Herr Finanzminister, daß der IFC Mittel fehlen. Was haben die Deutschen auf dem Treffen der Weltbank dazu gesagt?
Herr Volmer, Sie haben mit Recht erwähnt, daß die Situation der IDA, der International Development Association, also der Organisation für die ärmsten Entwicklungsländer, zur Zeit beklagenswert ist. Aber es ist völlig falsch, dafür die Bundesregierung und den Bundesfinanzminister verantwortlich zu machen. Herr Waigel hat - dafür bedanken wir uns - öffentlich dazu aufgefordert, daß die Amerikaner hier ihrer Verantwortung gerecht werden, was nicht der Fall ist. 1,25 Milliarden Dollar will Präsident Clinton haben. Der Senat will ihm 775 Millionen Dollar und das Repräsentantenhaus nur 575 Millionen Dollar dafür geben. Wir müssen bei den USA Solidarität und internationale Verantwortungsübernahme einfordern.
Aber was wir nicht fordern dürfen, ist der generelle Schuldenerlaß quer durch die Bank. Er ruiniert die Kreditfähigkeit dieser Länder.
Dr. Otto Graf Lambsdorff
- Sie haben es eben nicht getan. Das ist eine Übung bei Ihnen. Jeder distanziert sich vom eigenen Parteiprogramm und verkündet dann hier seine eigenen Positionen. Da haben Sie von Herrn Fischer gut gelernt, Herr Volmer.
Am stärksten muß allerdings die Rolle des Internationalen Währungsfonds hinterfragt werden. Denn hier klaffen Wunschtraum und Realität am weitesten auseinander. Es war die Aufgabe des IWF im Bretton-Woods-System, die internationale Währungsordnung durch Kredite zum Ausgleich von Zahlungsbilanzdefiziten zu stabilisieren. Nach dem Ende von Bretton Woods erfolgt nun der Ausgleich von Zahlungsbilanzdefiziten durch die flexiblen Wechselkurse. Weltweit ist ausreichend Liquidität vorhanden. So stark wie die internationalen Finanzmärkte kann der Internationale Währungsfonds nicht werden. Er soll es auch nicht. Denn nur die internationalen Finanzmärkte gewährleisten die Effizienz der internationalen Kapitalverwendung und nicht der IWF. Die Frage muß lauten: Wird der Internationale Währungsfonds diesen Anforderungen gerecht?
Professor Allan Meltzer vom American Enterprise Institute und andere haben daraus längst Schlußfolgerungen gezogen und fordern die Abschaffung des IMF. Für sie ist der IMF degeneriert. Er sei zum Umverteilungsmechanismus zwischen Staaten geworden. Undemokratisch sei er, heize Inflation an und vermindere den Druck auf Reformen. Diese Kritik kann man nicht leichtfertig abtun. Der IWF scheint nach dem Verlust seiner traditionellen Aufgaben auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern zu sein. Er gerät mit seinen Entwicklungsaktivitäten zunehmend in Konkurrenz zur Weltbank. Wollen wir das unterstützen oder hinnehmen?
Der Ablauf der Mexiko-Krise unterstützt die Skepsis, die Meltzer, andere und auch ich über die künftige Rolle des IWF haben. War es sinnvoll, IWF-Mittel bereitzustellen, um die Spekulation institutioneller amerikanischer Investoren in Peso-Bonds abzusichern? Das war ganz etwas anderes, Herr Volmer, als die Krise vor 15 Jahren, eine völlig andere Ursache. Es wäre Aufgabe der USA gewesen, den Wechselkurs Peso/Dollar zu stützen.
Sie konnten nicht einfach nationale Aufgaben auf internationale Institutionen abwälzen. Die Globalisierung der Finanzmärkte bedeutet nicht die Globalisierung von Spekulationsrisiken über den Währungsfonds. Erst recht nicht ist der deutsche Steuerzahler der „lender of last resort" für Währungsspekulationen.
Außerdem zeigt sich in der Mexiko-Krise klar das Problem des sogenannten „moral hazard", der durch das IWF-Einspringen entsteht. Es wird noch leichter für Staaten und für private Spekulanten, höhere Risiken einzugehen. Ihr Engagement muß nur groß genug sein, dann übernimmt die Staatengemeinschaft ihre Verluste.
In diesem Zusammenhang würde es uns interessieren, Herr Bundesfinanzminister, ob Deutschland eigentlich bei der IWF-Aktion zur Bekämpfung der Mexiko-Krise schlicht über den Tisch gezogen wurde. Stimmt es, daß der deutsche Exekutiv-Direktor in der entscheidenden Sitzung noch nicht einmal eine Tischvorlage hatte?
Es blieben mehr Fragen offen: Deutschland hat die Erhöhung der Quoten in vernünftigem Umfang, wie ich finde, zugesagt. Aber welche Auswirkungen wird das für den Steuerzahler bei uns haben? Welche Leistungen erbringen die Vereinigten Staaten? Wenn sie nicht mitziehen, ist die Quotenerhöhung eine kurzatmige Veranstaltung.
Wir haben - Sie haben es berichtet - die Verdoppelung der Allgemeinen Kreditvereinbarung mitgetragen. Welche Rolle werden die G 10 künftig spielen, wenn neue Länder außerhalb der G 10 in den Kreditrahmen einbezogen werden?
Eine weitere Frage, Herr Waigel: Haben Sie die Forderung nach weiterer Erhöhung der Sonderziehungsrechte deutlich zurückgewiesen?
- Danke schön.
Was Herr Camdessus dort will, ist eine Ausdehnung der Liquidität. Es mangelt uns nicht an Liquidität auf der Welt. Die Vertagung auf eine Expertengruppe ins Frühjahr 1996 erscheint mir eher als halbherziger Versuch, sich da um eine klare Entscheidung zu drücken.
Ist auf der Jahrestagung des Fonds die Rolle der Industrieländer für die Weltwirtschaft erörtert worden? Was wurde über die Konsequenz ihrer Schuldenpolitik und ihrer geringen Sparquoten festgestellt? Treiben die Industrieländer nicht zunehmend ein Crowding out auf den Weltkapitalmärkten, das dann zu Lasten der Entwicklungsländer geht? Sind es damit nicht die Industrieländer, die die Mittel für andere begrenzen?
Zu welchen Ergebnissen ist die IWF-Tagung bei der Beurteilung der Lage Japans gekommen? Japan ist in kürzester Zeit vom Musterknaben zum Schlußlicht der G 7 geworden. Ein Weg aus der Krise ist nicht sichtbar. Die Geldpolitik ist ausgereizt. Defizite des öffentlichen Haushalts begrenzen den Spielraum der Finanzpolitik. In der japanischen Entwicklung schlummern zunehmend größere Risiken, die weltweit mehr Gefahr bedeuten können, als sie von Mexiko jemals ausgingen.
Die Jahrestagung von IWF und Weltbank mag ein schönes gesellschaftliches Ereignis - das ist sie jedesmal - gewesen sein. In sachlicher Hinsicht war sie aber eine rechte 08/15-Veranstaltung. Das zeigt die Menge der bedeutenden Fragen, die nicht beantwortet wurden.
Eine letzte Bemerkung zur konjunkturellen Entwicklung: Herr Bundesfinanzminister, die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik haben gute Noten
Dr. Otto Graf Lambsdorff
vom IWF erhalten. Das ist erfreulich und zufriedenstellend für Sie und für uns. Der Internationale Währungsfonds hat aber auch auf die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die zu hohe Steuer- und Abgabenbelastung hingewiesen, bei der Sie, Herr Volmer, nichts weiteres zu tun haben, als unentwegt deren Erhöhung zu verlangen.
Wenn Sie sich einmal das Wahlprogramm der Berliner Grünen ansehen, lesen Sie: Arbeitsmarktabgabe, Investitionshilfeabgabe, Bemessungsgrundlage für Grund-, Erbschaft- und Vermögensteuer erhöhen, Primärenergiesteuer einführen. Es treibt einem die Tränen in die Augen, wenn man bedenkt, was Sie uns hier erzählen und was draußen in Wirklichkeit von Ihren Kollegen betrieben wird.
Das Grundproblem für die Menschen in Deutschland, die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, bleibt Kritik über das Lob des Währungsfonds hinweg. Sie bleibt ständige Herausforderung für Politik, Tarifpartner, Arbeitnehmer und Unternehmer, es doch noch etwas besser zu machen.
Treffen - auch auf höchstem Niveau - erlassen uns nicht die Aufgabe, unsere nationalen Hausaufgaben im Sinne der betroffenen Menschen zu lösen. Wer in unserer Situation an neuen Steuern und Abgaben bastelt, macht sich mitschuldig an der Verfestigung der Arbeitslosigkeit.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe-Jens Rössel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Jahrestagungen von IWF und Weltbank, an denen ich als Mitglied der gemeinsamen Delegation von Bundestag und Bundesrat teilgenommen habe, wurden von der Tatsache überschattet, daß - wie IWF-Direktor Michel Camdessus mitteilte - der Beitrag der Industriestaaten für die Entwicklungshilfe von den angestrebten 0,7 % des Bruttosozialprodukts auf unter 0,3 % gesunken ist.
Während die skandinavischen Länder oder die Niederlande über 0,7 % ihres Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe verwenden, krebste die reiche Bundesrepublik zum Vorjahresende lediglich bei bescheidenen 0,33 %.
Notwendig erscheint uns in diesem Zusammenhang die spürbare Aufstockung des bundesdeutschen Etats für die Entwicklungshilfe. Wir wenden uns in diesem Zusammenhang auch gegen die jüngsten Kürzungen im ohnehin niedrigen Etat des Geschäftsbereiches des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für 1996, wie sie durch die Mehrheit im Bundestagshaushaltsausschuß beschlossen worden sind. Derartige
Praktiken setzen das Ansehen der Bundesrepublik, vor allem unter den Ländern des Südens, leichtfertig aufs Spiel und ignorieren zugleich auch die mit der Entwicklungshilfe verbundenen Chancen für eine Forcierung unserer Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Entwicklungsländern.
Die Haushaltskonsolidierung in den Industrieländern - so wichtig sie auch ist - darf nicht auf Kosten der ärmsten Länder unseres Globusses erfolgen. Das wäre im wahrsten Sinne des Wortes kontraproduktiv. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich die Forderung der Gruppe der Entwicklungsländer, G 24, an die Industrieländer, ihre Entwicklungshilfe deutlich zu erhöhen.
Unsere volle Unterstützung findet natürlich auch deren Forderung an IWF und Weltbank, die Schuldenlast der Dritten Welt zu mindern. In einigen Entwicklungsländern - so die Zahlen - ist der Schuldendienst an die Weltbank schon jetzt höher als der Umfang neuer Hilfen. Das ist eine besorgniserregende Lage. Der vollständige Schuldenerlaß für die ärmsten Länder scheint uns unverzichtbar und muß auf die Tagesordnung aller damit befaßten Gremien.
In dieser Beziehung begrüßen wir ausdrücklich die Absicht des neuen Weltbankpräsidenten James Wolfensohn zur Reform dieser in der Vergangenheit oft und stark in Mißkredit verfallenen Institution. Auf der Jahrestagung sagte Präsident Wolfensohn u. a.: „Wir müssen näher an unsere Kunden heran. Für Arroganz ist kein Platz mehr im Entwicklungshilfegeschäft." Hoffentlich werden diese deutlichen Absichtserklärungen auch die dringend notwendige Tatenunterstützung haben. Das gilt ganz ausdrücklich auch bezüglich der Ankündigung von Präsident Wolfensohn, daß die Weltbank den sozialen Folgen ihrer Programme künftig mehr Bedeutung beimessen wolle. Das wäre tatsächlich ein Schritt in die richtige Richtung.
Die größte Gefahr für die Arbeit der Weltbank - Graf Lambsdorff sprach davon -, ja überhaupt für den weltweiten Kampf gegen Armut und Hunger geht derzeitig vom US-Kongreß aus. Die republikanische Mehrheit im Senat und im Repräsentantenhaus will die von Präsident Clinton für die Weltbank-Tochter IDA vorgeschlagenen Mittel von 1,4 Milliarden Dollar pro Jahr mindestens halbieren.
Das würde in der Tat schwerwiegende globale negative Folgen haben. Im Rahmen ihrer rigorosen Sparpläne drohen die Konservativen der Weltbank, die Jahr für Jahr etwa 25 Milliarden US-Dollar an Krediten vergibt, sogar damit, in Zukunft den Geldhahn gänzlich zuzudrehen. Schlimmstenfalls könnten sich andere Industriestaaten veranlaßt sehen, dann ebenfalls ihren Beitrag zur Wiederauffüllung von IDA herabzusetzen, und zwar mit all den verheerenden Wirkungen.
Was die Situation der Weltwirtschaft betrifft, so gibt es einige erfreuliche Entwicklungen, die vor allem in der günstigen Kombination von Wachstum und Geldwertstabilität begründet sind. Dennoch ist - auch das machten die Jahrestagungen in Washing-
Dr. Uwe-Jens Rössel
ton deutlich - die weltwirtschaftliche Entwicklung weiterhin mit viel Zünd- und Sprengstoff bestückt.
Das Grundübel - die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit - möchte ich hier selbstverständlich an erster Stelle nennen. Es ist - das macht auch das World Economic Outlook des IWF deutlich - in den Industrieländern allein mit einer sogenannten Wachstumsratenpolitik nicht zu bewältigen.
Ganz erhebliches Gefahrenpotential geht darüber hinaus nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit von der zunehmenden Abkoppelung der Finanzmärkte von den realwirtschaftlichen Prozessen aus. Im Gegensatz zur Realwirtschaft wachsen die Finanzmärkte weiter in einem wahnsinnigen Tempo. So werden mittlerweile börsentäglich ca. 1,5 Billionen US-Dollar umgesetzt. Das sind 50 % mehr als noch 1990.
Diese 1,5 Billionen US-Dollar entsprechen - man möge sich das einmal veranschaulichen - dem etwa 70fachen des täglichen weltweiten Exports von Waren und Dienstleistungen. All das wie auch das gesamte Problemfeld der Finanzinnovationen zeigt das große Risikopotential für die internationalen Finanz- nd Devisenmärkte.
Gestatten Sie mir abschließend eine Bemerkung zu dem Problemkreis Steuerausfälle. Dem Bundesfinanzminister Rechenfehler vorzuwerfen geht angesichts seiner alljährlich vorgelegten Finanzberichte tatsächlich an der Wirklichkeit vorbei. In einer Sache ist sich der Finanzminister stets treu geblieben: Seiner Finanzplanung lagen stets gesamtvolkswirtschaftliche optimistische Annahmen zugrunde, die später meistens - das ist das Problem - von der Realität widerlegt worden sind.
Sein finanztechnisches Herangehen, die Neuverschuldung gegenüber der früheren Finanzplanung bedeutend höher zu veranschlagen und zu behaupten, die Nettokreditaufnahme werde in späteren Jahren auf Rekordtiefe sinken, ist vielen längst bekannt. Vergleichen Sie bitte in diesem Zusammenhang die Aussagen im Finanzplan 1993, die für das Haushaltsjahr 1996 gemacht worden sind und die eine erwartete Nettokreditaufnahme in Höhe von 22 Milliarden DM beinhalteten, mit den Zahlen des vorliegenden Haushaltsentwurfs. Die tatsächliche Neuverschuldung wird nach den Plänen des Bundesfinanzministers mit dem Etatentwurf für 1996 mit 60 Milliarden DM veranschlagt. Das ist eine gehörige Differenz von immerhin 38 Milliarden DM.
Ich fasse zusammen: Der Steuerausfall in Milliardenhöhe war angesichts der dargestellten Vorgehensweisen aus unserer Sicht doch weitgehend vorhersehbar. Bundesregierung und Finanzminister haben der Öffentlichkeit ganz offenkundig lange Zeit schöngeredete Zahlen präsentiert, um das ganze Ausmaß der bevorstehenden Ausgabeneinschränkung insbesondere auf sozialem Gebiet zu verdekken. Offensichtlich soll Sozialabbau jetzt nicht mehr als ein Beitrag zur Sicherung des Standorts Deutschland
- ich weiß es nicht besser, Herr Hauser, aber ich versuche, meinen Standpunkt darzustellen -, sondern als Beitrag zur Sanierung des Bundeshaushalts erforderlich sein.
Zahlreiche Löcher, meine Damen und Herren, im Entwurf des Bundeshaushalts 1996 werden vom Finanzminister immer noch ignoriert, denn weder die Kürzungen bei der originären Arbeitslosenhilfe in Höhe von immerhin etwa 500 Millionen DM noch die Streichung des Bundeszuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit sind in trockenen Tüchern. Mindestens 11,2 Milliarden DM des Haushalts 1996 waren bereits vor Bekanntwerden der Steuerausfälle nur auf dem Papier eingespart worden. Wir meinen, derartige Praktiken sollten sich nicht fortsetzen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Jochen Feilcke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!
Die Entwicklungsländer verdienen unsere Unterstützung aus moralischen und gesellschaftspolitischen Gründen. Aber sie brauchen auch unsere Unterstützung, weil sie unser aller zukünftiges Wachstum repräsentieren. Gerechtes Wachstum bedeutet Stabilität für unseren Planeten.
Das sind die Worte des neuen Weltbankpräsidenten
Wolfensohn in seiner vielbeachteten Eröffnungsrede.
Gegen Ende dieser Rede faßte er seine unmittelbaren Prioritäten in sechs Punkten zusammen. Ich möchte die beiden erstgenannten Punkte in den Mittelpunkt meines Beitrags stellen.
Er sagte erstens:
Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um sicherzustellen, daß die Finanzierung für IDA ausreicht, um die Grundbedürfnisse der Empfänger zu decken, um zu verhindern, daß die weltweiten Anstrengungen, die Armut zu verringern, einen nicht wiedergutzumachenden Rückschlag erleiden.
An die Jahresversammlung gerichtet sagte er:
Ich bitte Sie bei diesen Bemühungen um Ihre das gewöhnliche Maß überschreitende Hilfe - sowohl für IDA 10 als auch für die Planung von IDA 11.
Zweitens sagte er:
Wir werden mit dem IWF und anderen zusammen daran arbeiten, das Problem der multilateralen Schulden für die höchstverschuldeten ärmsten Länder zu lösen.
Meine Damen und Herren, Wolfensohn sprach von den Herausforderungen, die Krisen wie in Bosnien, im Gaza-Streifen und Ruanda für die Entwicklung der Welt bedeuten, und nannte es eine bittere Ironie, daß gerade jetzt die Bedrohung der Entwicklungshilfe größer als je zuvor ist. Er bezog sich dabei auf
Jochen Feilcke
die Finanzierungskrise, mit der sich die konzessionäre Schwestergesellschaft der Weltbank, die Internationale Entwicklungsorganisation, IDA, konfrontiert sieht.
Im neuesten Weltbankbericht heißt es dazu, daß für die dreijährige IDA-10-Periode 1994 bis 1996 ein Teil der zweiten Rate der zugesagten Beiträge noch nicht verfügbar ist, da die US-Zahlungen ungefähr 8 % weniger als die Zusage betragen und weil zwei andere Geber, Deutschland und Kanada, von ihrem Recht Gebrauch machen, die Verfügung über ihre Beiträge proportional zu den US-Kürzungen zu sperren.
Wir müssen uns in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen, daß 90 % der IDA-Kredite an Länder mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von unter 600 US-Dollar gehen. Die Internationale Entwicklungsorganisation ist für die ärmsten Länder der wichtigste Partner bei den Wirtschaftsreformen, bei ihren Bildungs- und Umweltprogrammen und auch auf einigen anderen Gebieten, wie z. B. bei der Bekämpfung von Aids. Für ganz Hartgesottene sage ich: Wenn wir diese Länder nicht dabei unterstützen, auf die Beine zu kommen, dann machen sich die Bewohner dieser Länder auf die Beine und kommen zu uns.
Es ist sehr bedauerlich, daß die Haushaltskürzungen im US-Kongreß zum Zahlungsverzug gegenüber der IDA geführt haben. Die USA haben 20 % der Gesamtbeiträge zugesagt, und sie erheben auch den Anspruch, die IDA-Politik weitgehend zu bestimmen und die entsprechenden Positionen in dieser Institution zu besetzen.
Hinzu kommt, daß jeder Dollar, den die Amerikaner zurückhalten, dazu führen kann, daß die IDA über fünf Dollar weniger verfügt, wenn sich die Geber so verhalten wie Deutschland und Kanada. Ich halte es nicht nur für legitim, sondern geradezu für geboten, darüber nachzudenken, wie die USA dazu gedrängt, vielleicht sogar gezwungen werden können, ihre Verpflichtungen zu erfüllen.
Die Zurückhaltung der deutschen Beiträge bestraft jedoch nicht die Amerikaner, sondern bestraft die Ärmsten in der Welt, nach dem Motto: Die Ärmsten haben selbst schuld, daß die deutschen Beiträge ausbleiben; warum sorgen sie nicht dafür, daß die Amerikaner ihre Verpflichtungen erfüllen? Es ist nicht die alleinige Verpflichtung der Amerikaner, den Ärmsten zu helfen. Unsere Sperre bedeutet kaum einen Druck auf die Amerikaner. Sie bedrückt die Hilflosesten in der Welt.
Ich empfehle dringend, den rechtlichen Rahmen, der durch den Haushaltsvermerk im Einzelplan 23 formuliert worden ist, nicht mehr auszufüllen.
Hinzu kommt, daß ich es für schlecht halte, daß die Regierung im vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem Haushaltsausschuß handelt, ohne den fachlich
zuständigen Entwicklungsausschuß zu konsultieren. Wir sollten im Entwicklungsausschuß dieses Thema intensiv diskutieren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmitt?
Ja, gerne.
Herr Kollege Feilcke, kann ich nach Ihren begrüßenswerten Aussagen zur deutschen Zahlungspraxis zu IDA 10 davon ausgehen, daß Sie auch innerhalb Ihrer Fraktion gegenüber den Haushältern darauf hinwirken werden, daß der von Ihnen erwähnte Haushaltsvermerk aufgehoben wird?
Lieber Herr Kollege Schmitt, ich habe nicht von der Zahlungspraxis gesprochen; denn die deutschen Beiträge fließen. Es handelt sich hier um eine Sperre. Es ist ein Verhalten, das ich nicht begrüße, insbesondere weil mir im zuständigen Ausschuß dafür keine plausiblen Gründe dargelegt worden sind und ich bisher auch keine vernünftigen Gründe kenne. Sie können sicher sein, daß ich mich entsprechend meinen Worten verhalte.
Die Weltbank hebt hervor, daß nur bei ausreichender Verfügbarkeit von IDA-Ressourcen der mit den bisherigen Instrumenten und Maßnahmen verfolgte Ansatz, die ärmsten Länder bei der Bewältigung ihrer multilateralen Schuldendienstbelastung zu unterstützen, auch in Zukunft tragfähig ist. Ich begrüße, daß die Bundesregierung, daß Sie, Herr Entwicklungsminister Spranger, in Washington ausdrücklich erklärt haben, daß Sie bereit sind, auch über unkonventionelle Lösungen nachzudenken und an der Realisierung mitzuwirken.
Ein durchaus unkonventioneller und schon vielfach erwähnter Vorschlag einer Arbeitsgruppe der Weltbank ist ein multilateraler Schuldenreduzierungsfonds.
Dieser Vorschlag muß ernsthaft diskutiert werden. Ich meine, wir sollten im Parlament darüber sprechen, welchen Rat wir der Bundesregierung in dieser Frage geben.
Festzuhalten ist, daß die Arbeitsgruppe der Weltbank entsprechend der Forderung des G-7-Gipfels in Halifax gearbeitet hat, der
die Entwicklung eines umfassenden Konzeptes durch die Bretton Woods Institutionen, um Länder mit multilateralen Schuldenproblemen durch den flexiblen Einsatz vorhandener Instrumente und erforderlichenfalls neuer Mechanismen zu unterstützen
gefordert hat.
Jochen Feilcke
61 % der Auslandsverschuldung der ärmsten Länder sind bilaterale Verpflichtungen, 14 % sind Schulden gegenüber privaten Gläubigern und 25 % gegenüber multinationalen Institutionen. Diese 25 % sind zwar ein begrenztes, aber für einige Länder doch gravierendes Problem.
- Dazu kann ich mir, ehrlich gesagt, gar keinen Beifall wünschen, lieber Herr Kollege Schmitt.
- Man muß das sagen, aber ich finde das ein bedrükkendes Thema. Dabei kann ich keinen Beifall gutheißen. - Ich finde, das ist schlimm; das ist für viele Länder sehr schlimm.
Deshalb ist über den aufgelaufenen Schuldenüberhang unkonventionell nachzudenken. Viele Entwicklungsländer haben hier derartige Probleme, so daß wir über grundsätzliche Lösungen nachdenken müssen. Ich halte das für unumgänglich, zumal selbst die Weltbank - übrigens ebenso wie die Bundesregierung - inzwischen der Auffassung ist, daß mit dem traditionellen Instrumentarium eine „dauerhaft tragbare Schuldenbelastung" - „overall debt sustainability" - dieser Länder nicht mehr zu erreichen ist. Im Vergleich hierzu haben die bilateralen Geber hinsichtlich ihrer Forderungen gegenüber diesen Ländern schon seit langem durch zweiseitige Entschuldungsmaßnahmen zu einer substantiellen Entlastung beigetragen.
Der Vorschlag der Weltbank, einen multilateralen Schuldenfonds einzurichten, ist daher im Grundsatz zu begrüßen. Er sieht vor, multilaterale Schulden mit finanziellen Mitteln abzulösen, die etwa zur Hälfte aus bilateralen und zur anderen Hälfte aus multilateralen Quellen stammen. Die Konstruktion des Schuldenfonds ist so angelegt, daß die hohe Kreditwürdigkeit der Weltbank sowie ihr bevorzugter Gläubigerstatus nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.
Die Bundesregierung sollte sich daher an den nun beginnenden Erörterungen zur Einrichtung und Ausgestaltung des Fonds konstruktiv beteiligen. Dabei ist aber sicherzustellen, daß dies nicht zu Lasten der bilateralen und multilateralen Beiträge zur Wiederauffüllung von IDA 11 geht.
Die Weltbankpolitik befindet sich mit der deutschen Entwicklungspolitik in weitgehender Übereinstimmung. Das ist ein gutes Ergebnis. Herr Minister Spranger, dazu gratulieren wir Ihnen.
Wir haben die Hoffnung, daß wir mit Präsident Wolfensohn bei seinem Besuch diese Fragen im AWZ intensiv diskutieren können.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ingomar Hauchler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Finanzminister ist nicht mehr da. Offenbar interessiert er sich für dieses Thema nicht so intensiv, wie das von uns erwartet wird.
- Gut, Sie sind wieder da.
Herr Finanzminister, Sie haben hier keinen Bericht über die Weltbanktagung und die IWF-Tagung gegeben, sondern Sie haben eine Jubelarie gesungen.
Ich erinnere Sie daran, daß das Hauptthema von IWF- und Weltbanktagung nicht ist, daß man sich wie bei einem Klassentreffen über den Primus unterhält, sondern daß das Hauptthema ist, daß man gemeinsam Probleme löst. Da haben Sie schwer versagt.
Sie treten hier als Primus unter den Nationen auf. Sie sagen, die Transformationsländer seien auf einem guten Weg, bei uns sei sowieso alles „roger". Die ärmsten Länder erwähnen Sie gar nicht in Ihrer Rede, nicht mit einem Wort. Das zeigt den Geist, in dem Sie internationale Finanzpolitik betreiben.
In Washington wurden keine wirklichen Fortschritte bei irgendeiner der drängendsten Fragen der internationalen Finanz- und Entwicklungspolitik gemacht. Die Spekulation wird neue Blüten treiben. Die Währungen bleiben höchst instabil. Gegen destabilisierende Finanzkrisen à la Mexiko ist keine wirkliche Vorsorge getroffen worden. Die ärmsten Länder bleiben auf unbezahlbaren Altschulden sitzen. Die Entwicklungsfinanzierung wird zurückgefahren, obwohl Armut, Migration, Umweltzerstörung und die Weltbevölkerung dramatisch wachsen. Die internationalen Finanzinstitutionen sind finanziell geschwächt. Die Struktur und Aufgaben von Währungsfonds und Weltbank werden nicht reformiert. Es gibt keinerlei Ansätze in dieser Richtung.
Da sagen Sie: alles „roger" , ziehen Jubelarien ab und beschäftigen sich im größten Teil Ihrer Rede damit, über Ihre internen Haushaltsprobleme und Ihre Defizite, die Sie in der Haushaltspolitik haben, zu schwadronieren und uns vorzumachen, auch auf diesem Gebiet sei alles in Ordnung.
Dr. Ingomar Hauchler
Sie mißbrauchen diese Sitzung des Parlamentes in übelster Weise, um nationale Propaganda zu machen.
Ich habe gesagt, die Grundprobleme sind ungelöst. Welche Grundprobleme sind das? Herr Finanzminister, nichts ist vorangebracht worden, um die Instabilität des internationalen Währungssystems wirklich einzudämmen. Es gibt keinerlei Ansätze, weder in letzter Zeit noch dieses Mal, um ein Minimum an Ordnung in den internationalen Finanzbeziehungen sicherzustellen.
Es gibt keine Vorsorge dafür, daß immer größere Spekulationswellen die Möglichkeit der Notenbanken aushebeln, zu intervenieren, um zu stabilisieren.
- Es gibt Vorschläge von Kommissionen, auch von der BIZ, es gibt zahlreiche Diskussionen in dieser Hinsicht. Ich hätte erwartet, daß der Finanzminister wenigstens ein Wort zu diesem Thema sagt; denn es ist ein Hauptproblem, vor dem wir stehen.
Vielleicht versteht er davon nichts; das weiß ich nicht.
Nichts ist vorangebracht, um spontane Finanzkrisen eindämmen zu können. Mexiko hat dem internationalen Finanzsystem 38 Milliarden Dollar gekostet, 18 Milliarden Dollar allein vom IWF. Das blutet natürlich die Fähigkeit des IWF aus, an anderer Stelle konstruktiv Finanzpolitik und Entwicklungsfinanzierung zu betreiben.
Man schiebt durch eine falsche Strukturanpassungspolitik in Mexiko Hauptfinanzmittel des IWF in ein Land hinein, auf Druck der Amerikaner, die noch 20 Milliarden Dollar draufgelegt haben. Das ist skandalöse internationale Finanzpolitik. Die Reserven des IWF reichen nicht aus, um ähnliche dramatische Verwerfungen überhaupt begrenzen zu können.
Der Finanzminister sagte dazu nichts und tat dazu nichts in Washington. Er spielt den Bremser, den deutschen Kassenwart, statt vorwärtsdrängend
konstruktive Lösungen von deutscher Seite vorzulegen.
Völlig ungelöst ist die Verschuldung der Entwicklungsländer. Die Weltbank hat einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht - das ist alles vertagt worden; es wird in Washington alles vertagt, wenn man zusammenkommt -, wie man vor allem die multilaterale Verschuldung zurückfahren könnte, und zwar in einer gemeinsamen Anstrengung und ohne allzuviel Geld. Aber darüber ist überhaupt nicht geredet worden. Das ist vertagt worden.
Herr Feilcke, Sie wissen, wenn Sie die Zeitung lesen,
daß gerade die ärmsten Länder, für die dieser Fonds der Weltbank gedacht war, heute zu 50 % multilaterale Schulden zahlen.
Vor einigen Jahren haben sie nur 20 % ihrer Schuldenzahlungen an die multilateralen Institutionen geleistet. Heute müssen sie 50 % zahlen, weil die Schuldenerlasse, die Schuldenstundungen, in der Regel nur noch bilateral und auf dem Gebiet der privaten Geschäftsbanken erfolgten, die Multis aber voll und ganz auf jährlicher Zahlung bestehen und die ärmsten Länder, für die sie sich eigentlich einsetzen sollten, in die Krise hineintreiben, und zwar durch Rückzahlungen für Projekte, für die es längst keine entsprechende produktive Basis mehr gibt. Das ist doch Katastrophenpolitik. Das kommt doch alles einmal auf uns zurück - mit krasser Armut, mit Umweltzerstörung, mit armutsbedingter Umweltzerstörung. So kann man das Ganze auf die Dauer nicht angehen.
In Gefahr ist die Entwicklungsfinanzierung. Der IWF müßte sich - Sie haben darauf hingewiesen, Graf Lambsdorff - auf die eigentlichen Aufgaben besinnen. Das sind der Ausgleich von Zahlungsbilanzen, der Ausgleich von Wechselkursschwankungen, die Stabilisierung der Finanzströme und ein Minimum an internationaler Kreditaufsicht.
Was macht der IWF? Er kann das gar nicht, weil ihn die Großen gar nicht lassen. Was macht er statt dessen? Er nimmt der Weltbank die Aufgaben weg. Er geht in die Entwicklungsfinanzierung. Chaos, organisatorisches Chaos in Washington, und Sie, Herr Finanzminister, sind mit verantwortlich! Sie sind der drittgrößte Aktionär in diesem Bereich.
Die Entwicklungsfinanzierung blutet aus. International ist natürlich genügend Liquidität vorhanden, Graf Lambsdorff, aber doch nicht für viele Transformationsländer und ärmste Länder. Das ist doch das Problem. Das hängt mit der Entwicklungsfinanzie-
Dr. Ingomar Hauchler
rung zusammen. Da muß man etwas tun. Wir unterstützen den Weltbankplan, daß man sich zusammensetzt und versucht, auch bei der Bedienung der multilateralen Schulden einen Weg zu finden.
Der IWF und seine Großaktionäre tun auch nicht wirklich etwas gegen die Verschuldung der Industrieländer. Wer ist denn verantwortlich für die Situation, daß wir seit vielen Jahren tendenziell hohe Zinsen haben? Die Ursachen liegen doch in den Haushaltsdefiziten der großen Industrieländer. Wie wirken sie sich aus? Zinstreibend, beschäftigungshemmend und investitionshemmend. Damit hängen wieder ein niedriges Wachstum und eine Haushaltsmisere zusammen, wie wir sie in vielen Industrieländern kennen.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Folgen Sie nicht den USA! Ziehen Sie sich nicht auch noch aus der Finanzquelle für die ärmsten Länder der Welt, aus der Internationalen Entwicklungsagentur, zurück. Tun Sie es nicht! Schaffen Sie eine Lösung, damit keine negative Kettenreaktion in der Entwicklungsfinanzierung mit darauf folgenden Riesenproblemen zustande kommt!
Natürlich wissen wir, daß die Weltbank und die IDA Probleme hinsichtlich ihrer Programme haben. Da muß reformiert werden, entbürokratisiert werden. Die Programme müssen mehr auf das innere Potential der Länder gerichtet werden und nicht nur auf verinselte Großprojekte. Da muß einiges geschehen, und ich hoffe, daß auch der Entwicklungsminister dazu Vorschläge machen wird.
Meine Damen und Herren, zum Schluß: Wer ist denn verantwortlich dafür, daß die Grundprobleme, die wir seit Jahren hier diskutieren, die ständig in der internationalen Presse diskutiert werden, nicht gelöst werden? Ich habe sie vorher ja kurz aufgelistet. Wer hat die Macht, die Dinge zu ändern? - Die Macht, es zu ändern, hätten letzten Endes nur Europa, USA und Japan. Und in Europa haben die Deutschen die größte Verantwortung; sie könnten hier etwas bewegen.
Was ist mit den USA los, mit dem Hauptaktionär der internationalen Finanzinstitutionen? Riesendefizit mit Verschuldung und zinstreibenden Wirkungen. Der Dollar wird benutzt zur Manipulation der Wechselkurse, um den Kampf um die Märkte zu führen. Und Rückzug aus der internationalen Finanzierung. - Das sind die USA.
Japan: Riesenbankenkrise, eine riesige Überbewertung von Grundstücken, von Sicherheiten. Darauf wird eine riesige Finanzblase mit den Risiken und Milliardenverlusten, die wir ja kennen, aufgebaut.
Und die Bundesrepublik legt sich zurück, beschränkt sich auf die Rolle des Kassenwarts, des Bremsers und übernimmt nicht die ihr mögliche Rolle, in dieses Vakuum von Führungslosigkeit auf diesem Gebiet hineinzugehen und konstruktive Ideen vorzutragen.
Wenn es anders ist, belehren Sie mich bitte in der nächsten Zeit.
Ich denke, wir Deutsche verspielen eine Chance im internationalen Rahmen, uns als konstruktive Motoren der Stabilisierung des Finanzsystems darzustellen, als konstruktives Land, um die Probleme der Dritten Welt zu lösen. Lassen Sie uns nicht nur defensiv agieren, Jubelarien abfahren, sondern auch selbst betrachten, was wir auf diesem Gebiet besser, konstruktiver machen können.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist leider vorbei.
Jetzt hat der Abgeordnete Wolfgang Weng das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der ursprünglichen Rednerreihenfolge sollte ich Theo Waigel vor Herrn Diller retten. Jeder hat bei der Rede von Herrn Diller gemerkt, daß dies nicht nötig war, weil dieser mit sehr dünnem Wasser gekocht hat. Herr Kollege Diller, Sie müssen natürlich aufpassen, daß Sie nicht so gräßliche Horrorgemälde malen, daß Sie nachher selber vor diesen entsetzlichen Gemälden davonlaufen. Vermutlich sind Sie deswegen zeitweise draußen gewesen.
Meine Damen und Herren, man muß bei einem erfahrenen Kollegen wie Theo Waigel, noch dazu wenn er Schwabe ist, nicht nur fragen, was er gesagt hat und wann er es gesagt hat, sondern auch, was er mit einer bestimmten Aussage erreichen wollte. Das haben wir bei den Äußerungen über die italienische Währung in den vergangenen Wochen gesehen.
Wenn der Bundesfinanzminister mit seinen veröffentlichten Äußerungen zu möglichen Mindereinnahmen des Bundes erreichen wollte, daß im laufenden Haushaltsverfahren alle zusätzlichen Ausgabenwünsche gebremst werden, dann ist das lobenswert, vor allem auch, wenn es sich um Ausgabenwünsche der Opposition handelt. Er hat das Ziel aber noch nicht völlig erreicht. Wir haben im laufenden Haushaltsverfahren feststellen müssen, daß Ihre Äußerungen noch nicht genügend gewirkt haben, Herr Waigel. Sie sind aber ehrenwert.
Die Bewußtseinsbildung darüber, daß wir uns auch in diesem Jahr in einer schwierigen Haushaltssituation befinden, daß wir diese aber auch Zug um Zug, Jahr für Jahr meistern, kann in keinem Fall ein Fehler sein.
Was der Finanzminister mit seinen Äußerungen ganz sicher nicht erreichen wollte, Herr Kollege Diller, ist eine Unterbrechung des geordneten Haushaltsverfahrens, das die Koalition mit ihrer Mehrheit seit vielen Jahren durchsetzt. Es ist - ich sage das mit Blick auf den Ablauf in diesem Jahr - schlimm genug, daß der SPD-majorisierte Bundesrat den Bundesetat 1995 so lange verzögert hat, daß tatsächlicher Schaden entstanden ist.
Dr. Wolfgang Weng
Wir werden 1996 - da erwarten wir auch Ihre Mithilfe, wir haben es bei Ihnen angemahnt, Sie haben es selber kritisiert; aber wie das bei der SPD zwischen Bund und Ländern leider dauernd ist, arbeiten Sie ja nicht zusammen, sondern der eine fährt dem anderen in die Parade - wieder dafür sorgen, daß ein gesichertes Verfahren abläuft, daß wir jede Destruktion mit der Mehrheit der Koalition hier im Deutschen Bundestag verhindern werden. Darauf dürfen sich die Bürger verlassen.
Deswegen haben wir in der Konsequenz gestern den Versuch der SPD im Haushaltsausschuß abgeschmettert, das Verfahren zu verschlechtern. Es muß für die Sozialdemokraten bitter gewesen sein, daß noch nicht einmal alle ihre grünen Wunschpartner an ihrer Seite waren, als sie beantragten, die Verhandlungen abzubrechen.
Daß der Finanzminister auf die schwierige Situation hinweist, gehört durchaus zu seinem Amt, auch dann, wenn er im Augenblick nicht mehr Herr des Verfahrens ist. Die Steuerschätzung liegt ja nicht bei ihm; das ist hier dargestellt worden. Wenn wir, der Haushaltsausschuß, in der kommenden Woche über die Zahlen der Steuerschätzung verfügen, dann werden wir für das gesamte Parlament vorbereitend handeln müssen, und dann werden wir handeln.
Meine Damen und Herren, es ist bekannt, daß für 1996 schon jetzt eine Reihe von Risiken zu bewältigen sind, die in einer Größenordnung zwischen 5 und 10 Milliarden DM liegen dürften. Wenn durch die Steuerschätzung tatsächlich eine zusätzliche Lücke von 10 Milliarden DM bei den Einnahmen entsteht, werden wir das in abschließender Beratung in Ordnung bringen müssen. Aber erst mit dem genauen Zahlenwerk vor Augen können wir entscheiden, was im einzelnen zu tun ist, weil ja wahrscheinlich eine Summe von Maßnahmen notwendig ist.
Es wird ganz sicher in der Erwartung dieser Mindereinnahmen eine veränderte Fortschreibung der Finanzplanung geben müssen. Der Basiseffekt für die kommenden Jahre sorgt dafür, daß nach 1997 Veränderungen eingeplant werden müssen. Dies muß nach Auffassung der F.D.P. so geschehen, daß die geplante Nettoneuverschuldung in den Folgejahren nicht erhöht wird.
Ob bezüglich des Jahres 1996 selbst Sparbemühungen, ob eventuell zusätzliche Einnahmen aus Privatisierung, auch Verwaltungseinnahmen es ermöglichen - der Finanzminister hat ja hier eine Reihe von substantiellen Möglichkeiten genannt -, die geplante Nettoneuverschuldung von ca. 60 Milliarden DM für den Bund einzuhalten, wird in 14 Tagen zu entscheiden sein. Wir werden uns darum bemühen, es ist unser Ziel, diese Nettoneuverschuldung nicht höher als 60 Milliarden DM werden zu lassen.
Meine Damen und Herren, wenn Theo Waigel im „Handelsblatt" vom 2. Oktober mitgeteilt hat, das Defizit im Bundeshaushalt werde nicht steigen - das
war die Schlagzeile, die wir natürlich begrüßen -, dann weiß er, daß dies auch davon abhängt, ob die Koalition geplante gesetzliche Maßnahmen durchhält. Die Koalition muß auch Entscheidungen treffen, die dafür sorgen, daß die Bundesanstalt für Arbeit nicht außerhalb der Planung im nächsten Jahr doch Bundeszuschüsse benötigt.
Wenn uns hierbei, Herr Kollege Diller, die Opposition hilfreich an die Seite tritt, dann dient das der Sache wesentlich mehr, als wenn sie versucht, das geordnete laufende Haushaltsverfahren zu unterbrechen. Wir werden dieses Verfahren im November geordnet zu Ende bringen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Oswald Metzger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon eine gespenstische Debatte, die wir hier führen, weil man sich nicht entscheiden kann: Führen wir eine Debatte über IWF, wie es der Regierungserklärung entspricht und wozu Kollegen wie Graf Lambsdorff und Kollege Feilcke bemerkenswerte Äußerungen gemacht haben, oder führen wir eine Diskussion - wie sie der Kollege Diller in der ersten Runde eingeleitet hat - über das, was der Finanzminister an tagespolitischer Hiobsbotschaft hier in Deutschland erlebte, nachdem er weihrauchumwölkt aus den USA wieder zurück nach Deutschland flog und gestern fast unmittelbar danach in den Haushaltsausschuß einzog?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Bitte.
Da Sie zu Recht monieren, daß jetzt zwei Dinge vermischt werden, würden Sie das Hohe Haus bitte darüber aufklären, daß es die Absicht aller Beteiligten, insbesondere aller Haushaltspolitiker, egal von welcher Partei, war, die Themen zu trennen: morgen früh eine Aktuelle Stunde zu den Haushaltslöchern von 40 Milliarden DM durchzuführen und heute eine Debatte über die IWF und die Jahrestagung zu führen?
Ich habe selber viele Jahre miterlebt, daß das selbstverständlich getrennt wurde. Sind nicht auch Sie der Meinung, daß das eine sehr unglückliche Verkoppelung ist, die ausschließlich - so wurde mir gesagt - auf Herrn Waigel zurückzuführen ist?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie bestätigen, was
Oswald Metzger
ich in meinem Eingangsstatement gesagt habe. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Theo Waigel hat Probleme. Deshalb scheut die Regierung die Diskussion in Form einer Aktuellen Stunde zur besten Fernsehzeit am Vormittag.
Machen wir uns doch nichts vor: Dieser Finanzminister hat sich selbst am 5. September - ich habe die Rede gerade noch einmal gelesen - den Glorienschein eines erfolgreichen Haushaltssanierers aufgesetzt, der die Leute im nächsten Jahr um 20 Milliarden DM Steuern entlastet, der einen solide finanzierten Haushalt vorgelegt hat und der von symmetrischer Finanzpolitik redet.
Eine symmetrische Finanzpolitik bedeutet aber nicht, die Nettoneuverschuldung zu erhöhen und gleichzeitig Steuern und Abgaben zu senken. Es sollte vielmehr beides gesenkt werden.
Inzwischen hat Sie doch die Wirklichkeit eingeholt. Sie stehen vor der Situation, daß Sie voraussichtlich weitere 10 Milliarden DM finanzieren müssen.
Die Lösung des Problems, Kollege Hauser, wird diese Koalitionsregierung in der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses übernächste Woche nur dadurch erreichen, daß sie beispielsweise PostbankVeräußerungserlöse mit einstellt, den Mineralölsteuerzahlungstermin wieder einmal vorzieht, um taktisch zu manipulieren, und globale Minderausgaben beschließt.
So wird es voraussichtlich ablaufen.
Sie werden im Jahre 1995 noch in die Situation kommen, daß die Nettoneuverschuldung höher ist als geplant. Das ist ein Faktum.
Außerdem ist eines ganz merkwürdig: Der Finanzminister sagte gestern im Haushaltsausschuß, er würde seinen Amtskollegen einen Brief schreiben, in dem steht, daß sie dieses Jahr doch bitte schön weniger Geld ausgeben sollten als geplant. Was aber habe ich in allen Beratungstagen im Haushaltsausschuß gehört? - Die Verteidigungspolitiker vervespern 843 Millionen DM, die sie eigentlich übrig hätten, indem sie Rüstungsbeschaffungsprojekte des nächsten Jahres vorziehen. Dann ist das Geld weg.
Wäre Theo Waigel so konsequent wie sein Amtskollege in Baden-Württemberg, der CDU-Politiker Mayer-Vorfelder, hätte er eine haushaltswirtschaftliche Sperre verfügt und könnte auf diese Art und Weise wenigstens in diesem Jahr Vorsorge treffen, nicht mit einer neuen Verschuldungsbelastung in das Jahr 1996 zu gehen. Das scheut er wie der Teufel das Weihwasser.
Ich komme zu einem weiteren Gesichtspunkt. Noch im September, vor gut fünf Wochen, hat Waigel gesagt: Die Konjunktur floriert. Inzwischen hat die Regierung selber ihre Erwartungsdaten reduziert. Der Rückgang der Konjunktur hat genau das bestätigt, was ich im September auf die Formulierung gebracht habe: Dieser Haushalt hat keine Knautsch-zone. Jede konjunkturelle Delle, die Entwicklung der Arbeitsmarktdaten und die nächste Steuerschätzung werden das Schiff aus dem Ruder bringen. Genau das tritt ein.
Diese Regierung hat eine Bringschuld. Der Finanzminister hat dem Parlament zu sagen, wie er sich die Deckung vorstellt. Das erwarte ich. Er kann sich nicht hinstellen und den Leuten sagen: „Ich entlaste euch um 20 Milliarden DM bei den Steuern im nächsten Jahr" , wenn zwischenzeitlich klargeworden ist, daß z. B. der Rentenversicherungsbeitrag stärker steigt, als im September bekanntgeworden ist. Dann nämlich zahlt der Durchschnittsverdiener pro Jahr mehr zusätzlich an den Staat, als er gleichzeitig an staatlicher Entlastung erfährt.
Das wird im nächsten Jahr nicht zur erhofften konjunkturellen Wende beim privaten Konsum führen, zumal natürlich nicht nur der Bund Steuereinnahmen verliert, sondern auch Länder und Gemeinden. Ich habe an dieser Stelle schon einmal gesagt: Der größte Investitionshaushalt dieser Republik ist der kommunale. Was angesichts der Steuerschätzung, die die Kommunen betrifft, und der Auswirkungen des Jahressteuergesetzes in den kommunalen Investitionshaushalten im nächsten Jahr passiert, das können Sie sich schon jetzt an fünf Fingern ausrechnen.
- Deshalb hilft nur eines, Kollege Weng: Dieses Parlament, und zwar alle Fraktionen, muß begreifen, daß der Staat sparen muß. Ausgabenblöcke müssen zurückgefahren werden. Es darf auch keine Chance geben, über zusätzliche Einnahmeverbesserungen den Haushalt zu konsolidieren.
Oswald Metzger
Diese Erfahrung muß man als Haushaltspolitiker auch in der eigenen Fraktion immer wieder vertreten.
Das aber müssen Ihre Haushaltspolitker genauso Ihren Fachpolitikern gegenüber vertreten.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dankward Buwitt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich halte die Entscheidung des Altestenrats - und da werden nach meiner Information unsere Tagesordnungen besprochen - für völlig richtig. Alles steht ja in einem großen Zusammenhang. Wir können nicht über unseren Beitrag zum IWF und zur Weltbank reden, wenn wir dies nicht geradlinig aus der Finanzpolitik hier in diesem Land entwickeln und diese nicht einbeziehen.
Es ist doch wahrscheinlich kein Zufall, daß der erste Redner der SPD diesen Themenbereich völlig ausgeklammert und sich sofort auf das Thema gestürzt hat, dessentwegen die ganze Veranstaltung hier überhaupt gemacht wird.
Ich dachte, Herr Diller, Sie würden neue Vorschläge machen. Ich dachte, Sie würden sich an der Lösung der Fragen beteiligen. Wenn es für Sie nur eine Bringschuld ist,
dann meine ich: Warten Sie doch die Steuerschätzung ab; warten Sie ab, welche Lösungen wir bringen, und dann können Sie diese immer noch kritisieren. Aber wahrscheinlich befürchten Sie, daß dann für Ihre Rede nicht mehr viel übrigbleibt.
Nein, im Prinzip geht es wahrscheinlich um etwas anderes: Sie suchen den Strohhalm, um von innerparteilichen Schwierigkeiten abzulenken. Aber man muß kein Biologe sein, um Ihnen zu sagen, daß es solche Strohhalme nicht gibt.
Ich halte es genauso wie Herr Weng für einen besorgniserregenden Vorgang, daß die SPD gestern im Haushaltsausschuß versucht hat, die Beratungen des Haushalts 1996 abzubrechen.
Das war ein sehr, sehr durchsichtiges Manöver und keinesfalls richtig. Denn ohne die Situation zu verniedlichen - auf die Risiken ist bereits mehrmals hingewiesen worden -, ist es doch so: Es fehlen uns knapp 2 % der Einnahmen, und schon erklärt die SPD ihren haushaltspolitischen Bankrott. Sie folgt damit dem leuchtenden Beispiel der offenkundig unfähigen rot-grünen Koalition in Hessen.
Wir werden uns dieser Bankrotterklärung der SPD nicht anschließen und haben deshalb gestern diesen Antrag im Haushaltsausschuß auch zurückgewiesen. Wir haben die feste Absicht, die heute erkennbare Belastung im vorgegebenen Rahmen aufzufangen. Die Nettokreditaufnahme soll auch nach unserer Auffassung die Größenordnung von rund 60 Milliarden DM nicht überschreiten.
Ich denke, es muß hier noch einmal gesagt werden: Es ist ein starkes Stück, wenn Herr Scharping der Bundesregierung vorwirft, sie habe die Öffentlichkeit belogen, die bisherige Schönfärberei sei eine Beruhigungspille für die Öffentlichkeit. Der PDS- Redner hat das übrigens genauso gemacht.
Die bisherigen Annahmen zu den Steuereinnahmen in den Jahren 1995 und 1996 beruhen - wie hier gesagt worden ist - auf den Angaben des Arbeitskreises Steuerschätzung, in dem neben der Bundesregierung und den Sachverständigen selbstverständlich die Länder, und hier mehrheitlich die SPD-regierten Länder, vertreten sind. Diese übernehmen dann ja auch diese Zahlen für ihre Haushalte. Ich kann verstehen, daß es Auseinandersetzungen mit den Landesfürsten gibt, aber die Länder werden doch nicht so dumm sein, sich selber zu belügen. Das wäre doch der größte Blödsinn, den man sich vorstellen kann.
Es ist schon bezeichnend, daß die SPD denjenigen als Lügner bezeichnet, der als erster öffentlich eine Fehleinschätzung korrigiert. Im übrigen erweckt der SPD-Vorsitzende wissentlich und zu Unrecht den Eindruck, die Steuerausfälle beträfen allein den Bund. Tatsächlich sitzen die Länder und die Gemeinden fast mit der Hälfte im selben Boot.
Nun holt Herr Diller wieder die alte Leier über die „Umverteilung von unten nach oben" heraus. Als wir die Sonderabschreibungen beschlossen haben, war uns natürlich klar, daß sie Geld kosten. Sie sollten einen Anschub für Investitionen in den neuen Bundesländern geben. Diejenigen, die durch diese Investitionen Arbeit und Wohnung gefunden haben, werden das wahrscheinlich nicht wie Herr Diller als unchristlich bezeichnen.
Wir wollten diesen Anschub und haben jetzt die Möglichkeit, Reduzierungen vorzunehmen, nachdem dieser Anschub erfolgt ist.
Wir haben keinen Anlaß, die solide Arbeit des Bundesfinanzministers zu kritisieren.
Dort, wo neue Erkenntnisse punktuelle Nachbesserungen des Regierungsentwurfs erforderlich machen, werden wir das Notwendige tun. Mitte nächster Woche werden wir die Ergebnisse des Arbeitskreises Steuerschätzung vorliegen haben. Die Ein-
Dankward Buwitt
zelheiten zu notwendigen Anpassungen des Haushaltsplanentwurfs werden dann rechtzeitig zur Bereinigungssitzung und zur zweiten und dritten Lesung auf dem Tisch liegen.
Herr Waigel hat bereits angesprochen - aber die SPD ist wahrscheinlich schon zu lange in der Opposition und hat das mit Sicherheit vergessen -, daß es im Haushalt nicht nur Mindereinnahmen und Mehrausgaben gibt, sondern genauso Mehreinnahmen und Minderausgaben. Minister Waigel hat ausgeführt - das ist richtig -, daß Minderausgaben in Milliardenhöhe z. B. bei den Zinsausgaben und bei den Zinserstattungen anfallen. Die nachdrückliche Konsolidierungspolitik der Bundesregierung hat dazu geführt - auch dies ist hier falsch dargestellt worden -, daß wir 1994 und 1995 insgesamt 40 Milliarden DM weniger Schulden gemacht haben als ursprünglich geplant.
Die Stabilitätspolitik der Koalition hat nicht nur bei internationalen Organisationen, wie heute ausgeführt worden ist, z. B. bei der Weltbank oder bei der OECD, sondern vor allen Dingen auch auf den internationalen Finanzmärkten Vertrauen gefunden und Vertrauen für die D-Mark geschaffen. Dieses Vertrauen spiegelt sich im langfristig steigenden Wert der D-Mark im Verhältnis zu fast allen Partnerwährungen wider. Hierauf beruht auch der deutliche Zinsrückgang der vergangenen Monate, der uns neben den geringeren Schulden dieses und des vergangenen Jahres Minderausgaben in Milliardenhöhe ermöglicht.
1996 werden uns nicht nur die schon 1995 wirksamen Entlastungen bei Zinsen und Zinserstattungen behilflich sein, sondern auch zusätzliche einmalige Einnahmen wie beispielsweise die gerade jetzt in der Öffentlichkeit diskutierte Veräußerung der Anteile des Bundes an der Postbank. Wir haben heute nachmittag im Haushaltsausschuß darüber gesprochen. Ich denke, man kann sich nicht immer nur hinstellen und klagen. Vielmehr wird man auch die Möglichkeiten zur Entlastung des Haushalts wahrnehmen müssen, z. B. die Privatisierung. Die Privatisierung bringt nicht nur Geld in die Kassen des Bundes; vielmehr legt sie auch in vielen Bereichen die Aufgaben in Hände, die sie letztendlich besser und kostengünstiger erfüllen können, als es der Bund selber kann.
Es gibt bei weitem keine Entwarnung. Wir werden alle Sparmaßnahmen, die irgendwie möglich und vertretbar sind, ausnutzen müssen. Hierbei jedoch gerade den Verteidigungshaushalt heranzuziehen, der in den letzten Jahren den größten Beitrag zur Einsparung im Bundeshaushalt gebracht hat, halte ich schlicht und einfach für falsch.
Denn man kann nicht die Opfer jedes Jahr neu verlangen. Man muß einsehen, daß irgendwann eine Grenze erreicht ist.
Zu unseren Aufgaben gehört natürlich auch, alle Möglichkeiten zur Erhöhung der Einnahmen wahrzunehmen. Dazu gehört natürlich die Ertüchtigung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Sie führt automatisch zu einer Einnahmeerhöhung bei unseren
Haushalten, sei es beim Bund, bei den Ländern oder den Gemeinden.
Wir haben vorhin über die Arbeitszeitflexibilität gesprochen, wir haben über die Frage der Maschinenlaufzeiten, die damit natürlich zusammenhängt, diskutiert. Die Genehmigungsverfahren bei den Behörden müssen sich dem unterwerfen. Das Abstandsgebot muß durchgesetzt werden, um Arbeit attraktiv zu machen, und viele andere Dinge müssen geschehen.
Ich denke, daß es notwendig ist, daß man sich dieser Diskussion stellt und nicht nur kritisiert und alles als gottgegeben hinnimmt.
Der Deutsche Bundestag wird den Haushalt 1996 Ende dieses Monats mit der Mehrheit der Koalition verabschieden. Dieser Haushalt wird die Entwicklung der letzten Wochen und Monate berücksichtigen. Aber er wird ohne jeden Zweifel in der Kontinuität der Stabilitäts-, Wachstums- und Konsolidierungspolitik der letzten Jahre stehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Recht herzlichen Dank.
Herr Kollege, es gab eben den Wunsch nach einer Zwischenfrage; aber nun ist es vorbei.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg-Otto Spiller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß Deutschland im jüngsten IWF-Bericht gute Noten erhalten hat, erfreut natürlich auch die Sozialdemokraten.
Aber wir überlesen nicht wie Sie, Herr Minister Waigel, die Zusatzbemerkung des IWF, daß auch in Deutschland noch viel zu tun bleibe, damit die viel zu hohe Arbeitslosigkeit und die viel zu schwere Steuer- und Abgabenlast der Bürger abgebaut würden.
Wir sind nicht bereit, die Augen davor zu verschließen, daß Ihr Entwurf des Haushalts 1996, Herr Minister, auf ausgesprochen dünnem Eis basiert, weil er Steuereinnahmen in Ansatz bringt, an die Sie offensichtlich inzwischen selbst nicht mehr glauben.
Jörg-Otto Spiller
Die jetzt aufgetretenen Steuerausfälle werfen eine Vielzahl von Fragen auf. Wendet man sich den Ursachen zu, dann sieht man, daß die Steuerausfälle ausschließlich im Bereich der veranlagten Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer auftreten. Es hat also eine weitere Verschiebung in der Steuerlastverteilung gegeben. Die Arbeitnehmer, denen die Lohnsteuer direkt vom Arbeitslohn abgezogen wird, und die Verbraucher, die bei jedem Einkauf Umsatzsteuer zahlen müssen, werden immer mehr zum Hauptfinanzier des Staates.
Dagegen geht der Beitrag, den Unternehmen, Selbständige und Vermögensbesitzer leisten, immer weiter zurück.
Wir hatten 1994 in Deutschland ein Körperschaftsteueraufkommen von nur noch knapp 20 Milliarden DM. Im Vergleich dazu: Das Lohnsteueraufkommen lag bei 266 Milliarden DM, 13mal soviel. Im bisherigen Verlauf des Jahres 1995 ist das Körperschaftsteueraufkommen nochmals deutlich gesunken. Bei der veranlagten Einkommensteuer ist im bisherigen Jahresverlauf die Summe der Erstattungen sogar höher gewesen als die Summe des Steueraufkommens.
Mir ist unbegreiflich, wie bei diesem Hintergrund das einzige, was der Koalition im Zusammenhang mit Steuern einfällt, immer nur die Ankündigung ist, wir brauchten eine neue Steuerentlastung im Unternehmensbereich und im Bereich der Selbständigen. Wir reden über andere Belastungen, über Abgaben von Arbeitnehmern überhaupt nicht mehr.
Wir vermissen bei der Bundesregierung, aber auch bei der sie tragenden Koalition eine größere Wahrhaftigkeit. Es geht nicht an, daß Sie je nach Gelegenheit und politischem Bedarf bittere Wehklage über den Niedergang Deutschlands als Wirtschaftsstandort führen oder aber unser Land geradezu zum ökonomischen Musterknaben hochloben, an dessen Wesen, wenn schon nicht die ganze Welt, so doch wenigstens alle Industrieländer genesen können.
„Das Arsenal der deutschen Finanzdiplomatie", schrieb kürzlich die „International Herald Tribune", „enthält kein Florett, sondern nur schwere Säbel." Solche Kommentare, Herr Waigel, kommen nicht von ungefähr, und sie müssen auch uns beunruhigen.
Behutsamkeit und leisere Töne wären für Deutschland angemessener. Sie wären um so angemessener, als die internationalen Finanzmärkte in ihrer derzeitigen Verfassung ohnehin zu nervösen Überreaktionen neigen.
Ein höheres Maß an Wechselkursstabilität erreichen wir nicht mit internationalem Kräftemessen, sondern nur durch internationale Zusammenarbeit.
Herr Hauser, Sie haben davon berichtet, daß sich bei der Rede des Bundesfinanzministers auf der Tagung von IWF und Weltbank im Saal andächtige Stille ausgebreitet habe. Vielleicht haben Sie trotz Ihrer Ergriffenheit auch das Aufatmen am Ende der Rede gehört, und zwar darüber, daß der Herr Minister diesmal weder unbedachte noch schulmeisterliche Bemerkungen über andere Länder gemacht hat.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Rauen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem internationalen Lob für die deutsche Finanzpolitik beim G-7-Treffen fällt es mir schwer, mich auf die Frage der Steuerschätzung zu beschränken, aber ich will es tun, damit die Opposition nicht sagen kann, wir von der Union wollten darüber nicht reden.
Die Steuereinnahmen von Januar bis August 1995 deuten darauf hin, daß die Steuereinnahmen in diesem Jahr gegenüber der Mai-Schätzung um etwa 20 Milliarden DM nach unten korrigiert werden müssen. Das hat uns heute der Finanzminister mitgeteilt.
Durch den Basiseffekt 1995 müssen mit großer Wahrscheinlichkeit dann auch die Steuereinnahmen für 1996 nach unten korrigiert werden. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Daraus politisch Honig saugen zu wollen, wie das die Opposition versucht, ist in der Sache total daneben und ein untaugliches Manöver, um von den eigenen Schwierigkeiten abzulenken.
In der Mai-Schätzung wurde für 1995 für alle Gebietskörperschaften noch mit Steuereinnahmen von rund 846 Milliarden DM gerechnet. Wenn diese nun um 20 Milliarden DM oder 2,3 % nach unten korrigiert werden müssen, dann liegt dies durchaus im Rahmen üblicher Fehlerquellen von Schätzungen. Man muß auch den Schätzern konzedieren, daß bei der Einführung einer neuen Steuerart wie der des Solidaritätszuschlags oder bei Erstattungen aus Rezessionsjahren, die ja jetzt veranlagt werden, das Verhalten und die Reaktion von Steuerpflichtigen schwer vorausschaubar sind und deshalb die Schätzung erschwert wird. Von daher ist es verständlich, daß die größten Korrekturen bei der veranlagten Einkommensteuer und bei der Körperschaftsteuer vorzunehmen sind.
Aus konstant bleibenden Lohnsteuereinnahmen jedoch zu schließen, die Bundesregierung verlagere die Steuerlast planmäßig von den Unternehmen zu
Peter Harald Rauen
den Arbeitnehmern, wie der finanzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Herr Poß, dies im August getan hat und heute in Ansätzen auch Karl Diller, läßt darauf schließen, daß bei beiden erhebliche Defizite bei der Beurteilung steuerrechtlicher und steuertechnischer Tatbestände bestehen.
Die Lohnsteuer ist keine eigenständige Steuer, sondern eine besondere Erhebungsform der Einkommensteuer. Sämtliche Anrechnungen und Erstattungen der Arbeitnehmer werden heute im Rahmen der Pflicht- oder Antragsveranlagung verrechnet und kürzen in erheblichem Umfang die kassenmäßigen Einnahmen bei der veranlagten Einkommensteuer. Die Erstattungen betrugen z. B. in 1983 gerade 13 Milliarden DM, heute sind es bereits 36 Milliarden DM.
Heute werden zwei Drittel des Lohnsteueraufkommens vom oberen Viertel der Lohnsteuerpflichtigen getragen. Dies sind Besserverdiener wie leitende Angestellte im weitesten Sinne, aber auch Hunderttausende von ehemals Selbständigen, die heute Geschäftsführer von GmbHs sind. Damit wird deutlich, daß die Lohnsteuer nicht mehr die Steuer des klassischen Arbeitnehmers ist.
Darüber hinaus - das hat Herr Kollege Buwitt schon gesagt - bringen eine Reihe von befristeten Fördermaßnahmen im Interesse des Aufbaus und der Umstrukturierung in den neuen Bundesländern zwangsläufig aktuell Mindereinnahmen bei der Körperschaftsteuer und der veranlagten Einkommensteuer mit sich.
Meine Damen und Herren, die jüngst veröffentlichten Daten des Statistischen Bundesamts für das erste Halbjahr 1995 signalisieren eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums um rund 0,7 % vom Bruttosozialprodukt gegenüber der Projektion der Bundesregierung vom Frühjahr 1995. Hierdurch ist ein Teil der Steuermindereinnahmen erklärt, denn ein Prozent Wirtschaftswachstum bringt rund 15 Milliarden DM Steuern und Abgaben in die staatlichen Kassen.
Mich besorgt besonders, daß wir nach den Daten des Statistischen Bundesamts in Deutschland trotz Wirtschaftswachstum einen Rückgang der Beschäftigung haben. Statt mit plus 0,25 % nach der Projektion vom Frühjahr müssen wir nach Angaben des Statistischen Bundesamts mit einem Rückgang um 0,5 % rechnen. Das wären rund 240 000 Beschäftigte weniger als projektiert und damit weniger Steuer- und Abgabenzahler als für die Steuerschätzung angenommen.
Hier liegt für alle Parteien die größte Herausforderung überhaupt. Es muß gelingen, für mehr Beschäftigung in Deutschland zu sorgen. Das wird nicht durch mehr, sondern nur mit weniger Staat geschehen.
Die Bundesregierung geht mittelfristig hier den einzig richtigen Weg: Senkung der Staatsquote bei
gleichzeitiger Senkung der Steuer- und Abgabenquote.
In den 80er Jahren stieg in den alten Bundesländern die Beschäftigtenzahl um 3,5 Millionen Menschen deshalb an, weil die Staatsquote verringert und die Steuern und Abgaben reduziert wurden. Die Finanzierung der deutschen Einheit hat vorübergehend eine Konsolidierung der Staatsfinanzen über die Einnahmenseite erforderlich gemacht, also über höhere Steuern und Abgaben. Das war nicht anders zu machen.
Dennoch muß mit Blick auf mehr Beschäftigung die Steuer- und Abgabenbelastung wieder reduziert werden. Das geht nur durch die Konsolidierung der Finanzen über die Ausgabenseite, um die dadurch geschaffenen Finanzspielräume in Form von Steuer- und Abgabensenkungen an die arbeitenden Menschen weitergeben zu können.
Der Bundesfinanzminister leistet zur Erreichung dieses Zieles Vorbildliches.
Der Haushalt 1996 und die mittelfristige Finanzplanung sehen eine durchschnittliche Ausgabensteigerung bis 1999 von jährlich lediglich 1,3 % vor. Wenn neben dem Bund auch die Länder, die Gemeinden und die Sozialversicherungsträger den politischen Willen und die Kraft aufbringen, die jährlichen Ausgabensteigerungen deutlich unter dem Zuwachs des nominalen Bruttosozialprodukts zu halten, werden die notwendigen Finanzspielräume geschaffen, mit denen Steuern und Abgaben in Deutschland gesenkt werden können, damit wieder mehr Beschäftigung erreicht werden kann.
Es wäre gut, wenn die Opposition dort, wo sie in Ländern und Kommunen Verantwortung trägt, alles tun würde, dieses Ziel zu erreichen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Konstanze Wegner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeshaushaltsentwurf 1996 steckt voller Risiken. Das haben wir hier mehrfach gesagt. Durch die Steuerausfälle werden diese Risiken noch verschärft, und zwar ganz besonders auch im Bereich des Arbeitsmarktes.
Die Regierung hat noch vor kurzem einen Rückgang der Arbeitslosenzahl für 1996 um 350 000 prognostiziert, und zwar um 200 000 in den alten Ländern, und um 150 000 in den neuen. In den Unterlagen, die ich als Berichterstatterin zu meinem Einzelplan bekom-
Dr. Konstanze Wegner
men habe, wird der vermeintliche Aufschwung der Konjunktur noch ganz wortreich bejubelt, und es wird festgestellt, die Bundesanstalt für Arbeit werde 1996 ohne Bundeszuschuß auskommen.
Wie sieht die Realität aus? - Im September lag die Arbeitslosigkeit zum ersten Mal wieder über dem Vorjahreswert, und die ersten sieben Monate des Jahres 1995 zeigten eine Arbeitslosenzahl von im Schnitt 3,635 Millionen. Der Präsident der Bundesanstalt, Jagoda, war von Anfang an wesentlich vorsichtiger als die Regierung und hat die Arbeitsmarktlage kritisch eingeschätzt.
Der allerkritischste ist auf einmal der Finanzminister. Lieber Kollege Waigel, Sie haben gestern im Haushaltsausschuß gesagt, Sie glaubten nicht, daß sich die Lage am Arbeitsmarkt 1996 wesentlich verbessern würde. Diese Einsicht kommt Ihnen reichlich spät. Denn daß hier ein Haushaltsrisiko liegt, war lange vorher sichtbar.
Wenn aber die Regierung trotz der gleichbleibenden Arbeitslosigkeit an der Streichung des Zuschusses für die Bundesanstalt für Arbeit festhalten wird, so wird die Bundesanstalt letztlich weniger Geld für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung haben. Das bedeutet dann automatisch einen Anstieg der Zahl von Langzeitarbeitslosen, und dieses bedeutet wiederum mehr Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe, die ja auch der Bund zahlt.
Wir sehen hier den bekannten Verschiebebahnhof Nummer eins innerhalb des Bundeshaushalts. Denn was die Regierung bei der Bundesanstalt an Mitteln für eine aktive Arbeitsmarktpolitik einspart, muß sie auf der anderen Seite bei der Arbeitslosenhilfe aufstocken. Hier, verehrter Finanzminister, liegt ein weiteres Haushaltsrisiko: Der vorgesehene Ansatz von 14,8 Milliarden DM wird meines Erachtens nicht ausreichen. Aber auch dies war vorher absehbar.
Sie wissen das auch. Deshalb versuchen Sie, sich durch materielle Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe von insgesamt 3,4 Millarden DM zu entlasten. Damit werden - das muß man mit aller Deutlichkeit sagen - die Langzeitarbeitslosen zusätzlich bestraft und die Kommunen zusätzlich belastet. Allein die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe wird 38 000 neue Sozialhilfeempfänger schaffen und die Kommunen 600 Millionen DM zusätzlich kosten. Es handelt sich hier um den bekannten Verschiebebahnhof Nummer zwei:
Der Bund entlastet sich - Umverteilung von oben nach unten - auf dem Rücken der Gemeinden.
Die Regierung setzt damit eine verhängnisvolle Entwicklung in Gang. Denn die vorgelagerten sozialen Sicherungssysteme werden immer weiter ausgedünnt, und der Fehlbedarf wird der Sozialhilfe zugeschoben, die damit völlig wesensfremde Aufgaben übernehmen muß.
Damit entlastet sich die Bundesregierung - von „Sanierung" kann man in diesem Haushalt nicht reden - auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft und legt zugleich die Axt an die Wurzeln der kommunalen Selbstverwaltung.
Herr Minister, Sie haben einen unrealistischen Haushaltsentwurf auf der Basis geschönter Eckwerte vorgelegt.
Die Steuerausfälle haben diese schwierige Situation noch verschärft. Sie sitzen tüchtig in der Tinte. Korrigieren Sie Ihre Fehlplanung, aber tun Sie dies nicht auf dem Rücken der Arbeitslosen und nicht auf dem Rücken der Gemeinden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Waigel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich ganz kurz auf einige aufgeworfene Fragen eingehen.
Graf Lambsdorff, Sie haben nach ESAF gefragt. Wir wollen dieses Programm selbsttragend fortführen und setzen alles daran, daß es - auf jeden Fall von uns, aber auch von anderen; Sie wissen, woran es hakt - fortgeführt wird.
Die Auffüllung des IDA-Etats ist dringend geboten, ist unverzichtbar. Mein Appell geht an die großen Industrieländer, vor allen Dingen an eines - ich habe es auch öffentlich benannt -, hier nicht zurückzustehen.
Der sauberste Weg, um das Standing des Internationalen Währungsfonds zu erhalten, ist eine Quotenaufstockung. Jede andere Diskussion ist nur sekundär hilfreich, führt oft in die Irre. Die Quotenaufstockung ist der ehrliche Weg: Man muß in seinen nationalen Parlamenten geradestehen dafür, daß hier etwas bereitgestellt wird.
Ich sehe keinen „global need" für die SZR. Dabei bleiben wir. Die Voraussetzungen, unter denen die SZR zustande gekommen sind, sind nicht mehr gegeben. Es gibt heute genügend Währungsreserven.
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Aber es gibt ein Problem: Die neuen Mitgliedsländer konnten damals natürlich nicht bedacht werden und verweisen heute zu Recht darauf, daß sie nicht diskriminiert werden dürfen.
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, und die muß gelöst werden. Da wir für unsere Position aber keine Mehrheit bekommen, ohne in einem bestimmten Bereich etwas für die Entwicklungsländer zu tun, haben wir uns auf den Kompromiß geeinigt, den die G-7-Staaten in Madrid vorgelegt haben.
Es wäre gut, wenn auch der IMF selbst das, was die Deutsche Bundesbank mitzutragen bereit ist, akzeptiert und in dieser Richtung auf die Entwicklungsländer einwirkt. Ich habe dem Vertreter Rußlands gesagt, sein Land wäre gut bedient, wenn es das tatkräftig unterstützen würde, anstatt sich darauf zu verlassen, daß der Etat überproportional aufgestockt wird.
Was Japan anbelangt, kann ich nur sagen: Wir haben beim G-7-Treffen alles auf den Tisch gelegt, die Fragen gestellt. Ich bin von Ihrem Kollegen Haussmann gebeten worden, in dieser Frage sehr diplomatisch vorzugehen. Ich will mich der Attitüde und dem Sprachgebrauch der Staatsmänner der Luxusklasse nicht verschließen
und deswegen vorsichtig formulieren, um auf die Interessen anderer Länder gebührend Rücksicht zu nehmen.
Das haben ja auch Sie, Graf Lambsdorff, zeitweilig getan, obwohl Sie bekannt sind für eine sehr offene und klare Sprache. Eigentlich liegt mir diese Art des Gesprächs mehr als das diplomatische Verschweigen von Tatbeständen.
Zur Mexiko-Krise. Das Management war für uns nicht akzeptabel. Wir haben das ganz klar - nicht erst jetzt, sondern bereits bei der G-7-Sitzung im Februar - zum Ausdruck gebracht. Diese Fehler werden sich nicht mehr wiederholen.
Anderer Meinung als Sie bin ich, was die Rolle des IMF insgesamt anbelangt. Er hat sicher nicht mehr die Aufgaben von 1944/45. Aber der Transformationsprozeß der mittel- und osteuropäischen Länder und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion wäre ohne den IMF und die Qualität seiner Programme nicht möglich gewesen. Ohne die 60 oder 70 Anpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds für die Entwicklungsländer wären diese nicht auf den Kurs von Wachstumsländern gekommen, die teilweise die Industrieländer beschämen, weil sie eine höhere Ersparnisbildung haben als die Industrieländer.
Der stellvertretende russische Ministerpräsident Tschubais hat dazu erklärt, daß die Qualität der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds mindestens genauso wichtig sei wie die Kredite, die sie bekämen. Es ist für die Länder innenpolitisch, Graf Lambsdorff, geradezu eine Möglichkeit der leichteren Umsetzung, die sie sonst in den nationalen Parlamenten bei den Schwierigkeiten - denken Sie an Rußland und andere Staaten - sonst wohl kaum hätten.
Kollege Hauchler, Sie haben auf einige Dinge hingewiesen. Ich hätte Sie gern bei der Reise dabeigehabt, denn ich habe festgestellt, daß Sie sich mit vielen Fragen sachkundig auseinandersetzen. Was den multilateralen Fonds anbelangt, gibt es bisher keinen offiziellen Vorschlag der Weltbank, auch noch keinen autorisierten des neuen Weltbankpräsidenten. Sobald dieser vorliegt, werden wir uns damit konstruktiv auseinandersetzen.
Was die ärmsten Länder anbelangt, wissen Sie sicher, daß wir seit 1979 9 Milliarden DM an Schuldenerlaß durchgeführt haben, allein Deutschland. Damit stehen wir, vielleicht zusammen mit Frankreich - ich kann es im Moment nicht genau feststellen -, mit an der Spitze bei dem, was in diesem Bereich geleistet worden ist.
Sie wissen, daß wir im Pariser Club, in dem nicht nur die Probleme der ärmsten Entwicklungsländer, sondern auch andere wichtige Umschuldungsprobleme gelöst werden müssen, ebenfalls die Hauptlast der Verantwortung tragen und dazu beitragen, daß anderen Ländern die Luft zum Atmen gegeben wird.
Kollege Weng, Sie haben die Rolle des Haushaltsausschusses treffend dargestellt. Kollege Metzger, wenn Sie wieder eine Sperre wollen, an die in einem solchen Zusammenhang natürlich zu denken wäre, dann treffen Sie die gesetzlich nicht festgelegten Haushalte; dann treffen Sie auch die Investitionsseite; dann treffen Sie neben der Bundeswehr, bei der Sie meinen, es könnte weiter gespart werden - ich glaube es nicht -, Forschungshaushalt, Verkehrshaushalt und andere mehr. Das muß man sich gut überlegen. Sie haben in Ihrer freien Rede keine Antwort darauf gegeben, wo die Ausgabenblöcke gekürzt werden sollen. Wo ist Ihr konstruktiver Beitrag zum Umbau des Sozialsystems?
Da sind Sie bisher jede Antwort, lieber Herr Metzger, schuldig geblieben.
Herr Kollege Spiller, Sie waren dabei, als wir im Finanzausschuß eine, wie ich meine, gute Diskussion über Europa, Subsidiarität in Europa und den weiteren Fortgang des Konvergenzprogrammes bis zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion hatten. Sie haben auch selber Fragen gestellt. Ich habe keinen einzigen Ihrer Kollegen oder auch einen anderen Kollegen dabei erlebt, der das, was ich dort gesagt habe, auch nur andeutungsweise kritisiert hätte. Niemand hat das getan, auch nicht Sie. Aber dann hinauszugehen, um mir vorzuhalten, daß das, was ich dort gesagt habe, was dort Ihre Zustimmung
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
gefunden hat, unbedacht sei und Schaden angerichtet hätte, was damals Ihr Fraktionsvorsitzender und Ihr Fraktionsgeschäftsführer getan haben, ist eine Doppelzüngigkeit, die ich nicht Ihnen persönlich, sondern anderen vorwerfe.
Sie wissen sehr wohl, daß ich zu unterscheiden weiß, wenn ich öffentlich oder in internationalen Gremien auftrete und was ich in internen Diskussionen sage. Dann muß man sich entscheiden, ob in einem Finanzausschuß oder einem Haushaltsausschuß noch eine offene, eine ehrliche, eine sachkundige Diskussion mit Abgeordneten stattfindet
oder ob ich gezwungen werde, mich in diplomatischen Floskeln und in Sprechblasen zu ergehen. Ich ziehe die ehrliche, offene, sachkundige Auseinandersetzung, auch mit Abgeordneten der Opposition, vor.
Herr Minister, einerseits ist die angemeldete Redezeit vorbei. Sie wissen natürlich, daß Sie jederzeit länger sprechen dürfen. Andererseits - ich weise Sie nur darauf hin - besteht der Wunsch bei Herrn Spiller nach einer Zwischenfrage. - Bitte.
Herr Minister, sind Sie bereit, zu bestätigen, daß Sie niemand in diesem Hause wegen Ihrer Äußerungen im Finanzausschuß kritisiert hat? Ich habe selbst auch im Plenum bestätigt, daß ich nicht davon ausgegangen bin, daß Sie damit gerechnet haben, daß Ihre Äußerungen in der nichtöffentlichen Sitzung des Finanzausschusses vergröbert und verkürzt von einem Pressedienst in die Welt gesetzt werden.
Aber, Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung, daß Ihr Interview, das Sie anschließend der „Bild"- Zeitung gegeben haben, in Italien und in anderen Ländern Europas noch mehr Wirbel verursacht hat als zuvor die Äußerungen in der nichtöffentlichen Sitzung?
Zunächst bin ich Ihnen, Herr Kollege Spiller, ausdrücklich dankbar, daß Sie richtig, korrekt und fair die Diskussion
und auch die Tatsache, daß ich für die Transformation einer Äußerung keine Verantwortung trage, dargestellt haben. Aber: In der „Bild"-Zeitung habe ich mit Sicherheit nichts gesagt, was zu irgendeiner Verwirrung beitragen könnte. Vielmehr hat - ich habe Verständnis dafür; es läßt mich relativ ruhig - Ihr Fraktionsgeschäftsführer zuvor gesagt, ich hätte damit ungeheuren Schaden angerichtet, der Bundeskanzler müsse mich abmahnen und das nächste Mal entlassen. Ihr Fraktionsvorsteher sprach von volkswirtschaftlichen Schäden. Das ist doch geradezu abstrus. Sie, Herr Spiller, haben es richtig dargestellt. Aber Ihre Kameraden, die nicht dabei waren, haben gemeint, sie könnten daraus Honig für ihre parteipolitische Suppe gewinnen. Das ist ihnen gründlich mißlungen.
Ihre Darstellung ist korrekt und fair. Ich bedanke mich dafür. Weil das ein guter Schluß ist, höre ich auf.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hauchler.
Frau Präsidentin! Herr Finanzminister, Sie zwingen mich zum Nachsitzen, denn Sie haben die Gelegenheit genutzt, einiges von dem nachzuholen, was Sie in Ihrer Rede versäumt haben. Sie sind jetzt auf einige Punkte eingegangen, die das internationale Finanzsystem betreffen.Ich bin damit aber nicht zufrieden. Sie haben viele Fragen, die ich und andere gestellt haben, nicht beantwortet: die nach der Leistungsfähigkeit des Internationalen Währungsfonds, ob wir genügend Reserven haben, um Spekulationswellen begegnen zu können, ob wir die Finanzierung für die Entwicklung der ärmsten Länder werden leisten können. Sie haben nicht gesagt, welche Haltung die Bundesregierung zu diesen Fragen einnehmen will. Sie haben sich in der Sache gedrückt.Eine Sache sollten Sie wirklich einmal überprüfen: Sie sollten vorsichtig sein, die Anpassungsprogramme des IWF, die nach der Mexiko-Krise gelaufen sind, als Hauptleistung des Internationalen Währungsfonds anzusehen. Statistiken besagen, daß es in vielen dieser Länder, in denen die Anpassungsprogramme gelaufen sind, zu einem rasanten Herunterfahren der Sozialhaushalte gekommen ist, zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu einem Zurückfallen der Investitionsquote, der Bildungsprogramme und der Gesundheitsprogramme und zu einer Steigerung armutsbedingter Umweltzerstörung.Alle Anpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds zielten von Anfang an - und so wurden sie weitergeführt - darauf ab, eine internationale Finanzkrise zu verhindern und mit allen Mitteln, die möglich sind, und unter allem Druck der Industrieländer letzten Endes zu erreichen, daß die Entwicklungsländer zahlungskräftig bleiben. Es wurde in deren Haushalten an Stellen geschnitten, an denen ihr eigenes Potential zerstört wird. Das wird uns langfristig schaden, Herr Minister.Anpassungsprogramme müssen sein. Zum Teil haben sie gute Früchte getragen. Aber sie müssen in Zukunft, sozial und ökologisch orientiert, flankiert werden. Ich bitte Sie, sich hierfür einzusetzen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5177
Dr. Ingomar HauchlerNicht nur die Entwicklungsländer brauchen Anpassungsprogramme, sondern auch die Industrieländer. Da hat der Internationale Währungsfonds überhaupt nichts geleistet: im Hinblick auf die Haushaltsdefizite, im Hinblick auf die Währungsstabilisierung, im Hinblick auf die Möglichkeit, daß die Realwirtschaft das weltwirtschaftliche Geschehen dominiert und nicht die internationalen Finanzströme über Wechselkurse Standorte gefährden und bestimmen, ob Arbeitslosigkeit entsteht oder nicht. Da gibt es noch eine Menge zu tun.Kommen Sie herunter von der deutschen Arroganz! Wir Deutsche brauchen nach der Vereinigung nicht wieder Militärphantasien und Geldarroganz. Wir machen uns sonst unbeliebt in der Welt. Wir brauchen Freunde, wir brauchen Kooperation vom Ansatz her, aber nicht ein ewiges schulmeisterliches Getue auf den internationalen Konferenzen.Viele Leute aus Entwicklungsländern und aus anderen Ländern können es manchmal nicht mehr hören. Ich kann den Kollegen Spiller verstehen, der gesagt hat, die Delegierten auf der Jahrestagung in Washington hätten nicht nur die Hörer aufgesetzt, um Ihnen intensiv zuzuhören, sondern am Schluß auch aufgeatmet, weil sie von deutscher Arroganz nichts mehr wissen wollten.
- Ich habe alles genau verfolgt.
Ich schließe damit die Aussprache und rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b und die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
5. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Feststellung des Bedarfs von Magnetschwebebahnen
- Drucksache 13/2345 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Allgemeinen Magnetschwebebahngesetzes
- Drucksache 13/2346 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Winfried Wolf und der Gruppe der PDS
Prüfung von Alternativen zur Magnetschwebebahn
- Drucksache 13/2570 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Rechtsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Albert Schmidt , Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Stopp der Vorbereitungsmaßnahmen für den Transrapid und Planung einer ICE-Verbindung Hamburg-Berlin
- Drucksache 13/2573 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Dirk Fischer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verwirklichung der Magnetschwebebahn zwischen Hamburg und Berlin verlangt konsequent die Schaffung der dafür notwendigen planerischen und rechtlichen Voraussetzungen. Nachdem bereits in der letzten Legislaturperiode das Magnetschwebebahnplanungsgesetz verabschiedet worden ist, ist es wichtig, jetzt das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz und das Allgemeine Magnetschwebebahngesetz ohne Verzögerung zu verabschieden.
Der Transrapid erhielte dann die gleichen Chancen wie Straße und Schiene, für die durch das Schienenwegeausbaugesetz, das wir neu erarbeitet haben, und das Fernstraßenausbaugesetz, das sich bereits bewährt hat, die gleiche Rechtsgrundlage geschaffen wurde. Ein entsprechendes Gesetz für die Bundeswasserstraßen ist in Vorbereitung.
Unumstrittene verkehrspolitische Vorteile des Transrapid sind ein attraktives, schnelles Fahrleistungsangebot, die Entlastung der Straße, die Verringerung des Flugverkehrs auf den Kurzstrecken, freie Kapazitäten für den wachsenden Güterverkehr auf bestehenden Schienenwegen, deutlich geringerer Energieverbrauch als im Bereich von Straße, Flugverkehr und Schiene, Entlastung der Umwelt von Schadstoffen und Lärmemissionen.
Dirk Fischer
Es ist schon bezeichnend, daß die Grünen gerade bei den letzten Punkten nicht in Freude ausbrechen. Ich glaube, daß hier etwas bewußt nicht zur Kenntnis genommen wird, das durch unzweifelhafte gutachterliche Stellungnahmen hinreichend belegt ist.
Man kann nicht den TÜV einmal gebrauchen und im anderen Fall den TÜV für nicht geeignet halten, Begutachtungen vorzunehmen.
Auch aus diesen verkehrspolitischen Gründen neben den arbeitsmarktpolitischen und wirtschaftspolitischen Aspekten lassen wir uns von der Realisierung der Magnetschwebebahn nicht abbringen.
„Zukunftsvorsorge im Verkehrswesen heißt Erneuern, Weiterentwickeln und Umsetzen des erreichten technologischen Vorsprungs in die Praxis",
das forderte die SPD bereits 1984 in einem Programm, das „Forschung und Technologie für den Verkehr - das Konzept der SPD" hieß. Sie hat das damals, vielleicht um einem künftigen Koalitionspartner Freude zu bereiten, ganz in Grün gekleidet veröffentlicht.
Dieses Programm „Forschung und Technologie für den Verkehr - das Konzept der SPD" wurde verantwortlich von dem damaligen forschungspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Steger, und dem damaligen verkehrspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Klaus Daubertshäuser, der Öffentlichkeit vorgestellt.
Ich meine, es spricht für sich, daß man diese Dinge heute nicht mehr wahrhaben will.
Da muß ich gar nicht den damaligen Verkehrsminister Georg Leber bemühen, der im Jahr 1971 von einem historischen Moment gesprochen hat, als er das erste Magnetbahnprinzipfahrzeug in Betrieb genommen hat.
Damals herrschte in den Kabinetten Brandt und Schmidt große Begeisterung für die neue Technik. Ehmke, Matthöfer, Hauff und von Bülow forderten fasziniert sowohl von der Technik als auch von den künftigen Einsatzmöglichkeiten dieser Technologie ohne Wankelmut und Technologiefeindlichkeit den Transrapid. Sie sagten: Wir brauchen ihn, um auch für den Höchstgeschwindigkeitspersonenverkehr eine Alternative für das nächste Jahrtausend zu haben.
Völlig widersprüchlich, konfus und unfähig, auch nur eine halbwegs klare Position zum Transrapid einzunehmen, zeigt sich die SPD heute. Rudolf Scharping ist offenbar überfordert, klare Verhältnisse für diese zukunftsweisende Technologie in seiner Partei herzustellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Land Schleswig-Holstein sieht in der geplanten Transrapid-Strecke positive erzielbare Verlagerungseffekte von der Straße auf die Schiene, was nur möglich wird durch ein Verkehrssystem wie den Transrapid, das in der Lage ist, den Schienenverkehr wirkungsvoll zu entlasten und diesen damit in seiner Leistungsfähigkeit wesentlich zu steigern.
Dieser Mensch dackelt nun Frau Simonis hinterher, die im Bundesrat am 20. September dieses Jahres, als diese Gesetzentwürfe beraten worden sind, Fundamentalopposition formulieren und Transrapid zu einem Vorortbahnsystem degradieren zu müssen meinte. Ich finde es schon sehr traurig, wenn dieser Mann wider bessere Einsicht jetzt derartige Positionen unterstützt.
Ein perfekteres Wirrwarr als innerhalb der SPD kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen. Es kommt noch hinzu, daß die SPD-Länder im Bundesrat teilweise mit Nein, teilweise mit Ja abgestimmt oder sich teilweise enthalten haben, als diese Gesetze dort zur Beratung anstanden. Aber immerhin sind wir dankbar, daß die SPD-Länder zumindest teilweise für eine sehr schöne Zustimmungsmehrheit des Bundesrates bei diesen Gesetzentwürfen gesorgt haben.
Meine Damen und Herren, prägen Wankelmut, Entschlußlosigkeit und fundamentale Abneigung bei der SPD das Bild, so ist das bedauerlich. Verwerflich und bodenlos unfair ist die Strategie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zum Thema Transrapid. Völlig bewußt werden schwarze Zahlen,
- falsche Zahlen über die Baukosten für die Transrapid-Verbindung Berlin-Hamburg veröffentlicht. Da spricht man von 9,6 Milliarden DM für die Streckeninvestitionen und hat fälschlicherweise die Investitionen für den Betrieb und für den Fahrweg zusammengezählt - eine wirklich schlimme Geschichte -, nur um populistisch Proteststimmen zu mobilisieren.
Richtig ist, daß nach wie vor rund 5,6 Milliarden DM auf die Investitionen für den Fahrweg entfallen.
Falsche Angaben zum Fahrweg, falsche Behauptungen über die Umsteigebeziehungen werden in die Welt gesetzt. Richtig ist, daß die Zentren Berlin und Hamburg mit einer Fahrzeit von unter 60 Minuten verbunden werden sollen. Falsch ist auch die Behauptung, der Bund würde das Betriebsrisiko der Betreibergesellschaft in weiten Teilen übernehmen. Richtig ist, daß das Betriebsrisiko einzig und allein der Privatwirtschaft überantwortet ist.
Dirk Fischer
Völlig irreführend ist die Idee der Grünen, der ICEAusbau der Strecke Hamburg-Uelzen-Stendal-Berlin könne eine gleichwertige Alternative sein. Richtig ist, daß mit dem alleinigen Ausbau des Abschnittes Uelzen-Stendal auf ICE-Standard das Problem keinesfalls gelöst wird.
Ich könnte weitere Investitionen in Höhe von etwa 2 bis 3 Milliarden DM aufzählen, die Sie unterschlagen haben und die Sie mit der Behauptung, die Maßnahmen würden nur 800 Millionen DM kosten, weit unterschätzt haben.
Leider, Herr Kollege, ist Ihre Redezeit abgelaufen.
Ich komme zum Schluß.
Dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN scheinen der Wirtschaftsstandort Deutschland, neue Exportmöglichkeiten und zukunftsträchtige Arbeitsplätze gleichgültig zu sein. Hier sind, bei Lichte besehen, die Totengräber für die deutsche Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, den Wohlstand und die künftige umweltgerechte Mobilität am Werk.
An dieser Stelle sind alle, die vernünftig sind, aufgerufen, dafür zu sorgen, daß diese Technologie bei uns zur Anwendung kommen kann. Wenn sie im Jahr 2005 in Betrieb genommen wird, dann will am Ende möglicherweise niemand mehr dagegen gewesen sein.
Ich bitte nach anständiger Ausschußberatung um Zustimmung zu diesen Gesetzentwürfen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Elke Ferner.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich muß schon sagen, Kollege Fischer, von Ihnen habe ich schon bessere Reden gehört,
die sachlicher waren und die nicht nur mit uralten Zitaten gespickt waren. Sie negieren völlig, daß wir im Gegensatz zu Ihnen dazugelernt haben und mittlerweile zu anderen Schlüssen gekommen sind.
Es geht heute nicht um das Für und Wider der Magnetschwebetechnik. Diese Frage hat meine Fraktion in der letzten Wahlperiode hinreichend beantwortet.
Eine Erprobung des Transrapid unter Echtbedingungen ... kann durchaus sinnvoll sein für eine technische und betriebswirtschaftliche Optimierung des Systems. Das wird nicht bestritten.
Das sagte unser Kollege Klaus Daubertshäuser an dieser Stelle am 10. März 1994. Dafür kann aber nur eine Strecke in Frage kommen, die verkehrspolitisch, finanzpolitisch und auch industriepolitisch einen Sinn macht.
Es geht heute um zwei Fragen. Erstens. Besteht Bedarf für eine 285 km lange Referenzstrecke von Hamburg nach Berlin, die allein für den Bau mindestens 5,6 Milliarden DM verschlingt und die parallel zu einer Schienenverbindung verläuft, die als Projekt 2 „Deutsche Einheit" zu einer 2-Stunden-l1-Minuten-Verbindung von Stadtzentrum zu Stadtzentrum ausgebaut wird?
Zweitens geht es um die Frage: Ist unter den Rahmenbedingungen des Bundeshaushaltes dieses Projekt bezahlbar, oder wird hier ein neues Milliardengrab geschaufelt?
Der Gesetzentwurf bestätigt leider alle Befürchtungen. Der Transrapid von Hamburg nach Berlin wird auf Dauer im europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz Schiene eine inkompatible Insellösung darstellen.
Er ist deshalb ein verkehrspolitischer Fremdkörper.
Das Finanzierungskonzept für diese Strecke ist aus finanz- und haushaltspolitischen Gründen vor dem Steuerzahler nicht vertretbar.
Die Gesamtentscheidung ist industrie- und standortpolitisch absurd.
Das Ergebnis ist: Für den Transrapid zwischen Hamburg und Berlin besteht absolut kein Bedarf.
Alle Gesamtverkehrsprognosen gehen von einem weiteren Wachstum der Verkehrsleistung aus, insbesondere im Güterverkehr.
Was wir deshalb brauchen, sind Strategien zur Verkehrsvermeidung, zur Verlagerung des Güterund Personenverkehrs auf die Schiene und eine umweltverträgliche Abwicklung des verbleibenden Straßenverkehrs.
Was trägt die Bundesregierung dazu bei?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Börnsen?
Ja, gerne.
Frau Kollegin, Sie behaupten, daß für die Strecke Hamburg-Berlin kein Bedarf besteht. Wie bringen Sie Ihre Behauptung überein mit dem Standpunkt der Hansestadt Hamburg wie auch des Bundeslandes Hessen, die sich beide vehement für die Durchsetzung der Referenzstrecke ausgesprochen haben und deutlich machen, daß es die idealste Strecke unter allen möglichen Varianten ist?
Ich werde nachher noch etwas zum Bundesrat sagen, Herr Kollege Börnsen. Im übrigen hat das Land Hessen, in dem die Grünen in der Regierung sind - das haben Sie richtigerweise gesagt -, dem Antrag im Bundesrat zugestimmt und ihn nicht abgelehnt.
Es gibt allerdings noch einen Zusatz, den der Bundesrat beschlossen hat und den ich in meiner Rede nachher noch vortragen will.
Ich behaupte zunächst einmal, daß es Ländern, die von dieser Verbindung profitieren und die eine schnelle Verbindung haben wollen, zunächst einmal egal ist, ob das Transportmittel Transrapid oder ICE heißt, wenn in ähnlicher Zeit
- Herr Kollege, seien Sie doch einmal sachlich - eine solche Verbindung auch über die Rad-Schiene-Technik herzustellen wäre.
Wenn die Länder aber aus eigener Tasche nichts dazuzahlen müssen, wie sie glauben - ich werde Ihnen nachher noch beweisen, daß das sehr wohl zu Lasten der Länder geht -, muß ich sagen, ist es nichts anderes als Kirchtumspolitik. Davon kann man keine Landesregierung freisprechen, egal ob sie rot, grün, schwarz oder sonstwie aussieht. Das ist nun einmal so, Herr Kollege Börnsen, und das wissen Sie genauso gut wie ich.
Ich habe gefragt: Was tut die Bundesregierung für die Zukunft unseres Verkehrssystems?
- Ja, sie kürzt gegenüber den bisherigen Planungen die Mittel für Schieneninvestitionen um 16 Milliarden DM für die Jahre 1996 bis 1999.
Schon im nächsten Jahr werden die Investitionen für das Schienennetz gegenüber heute um 2,3 Milliarden DM gekürzt. Welche Schienenprojekte dabei auf der Strecke bleiben, Herr Wissmann, hüten Sie wie ein Staatsgeheimnis, weil Sie den Menschen vor Ort bisher immer etwas anderes erzählt haben, inklusive aller Kolleginnen und Kollegen, die in ih-
ren Wahlkreisen erzählen: Das Projekt ist wichtig, I das kommt sofort. Gemacht wird es nicht, weil 2,3 Milliarden DM weniger zur Streckung oder zum Nichtbau von Schienenprojekten führen werden.
Ihre Kürzungsentscheidungen verstecken Sie hinter dem Vorwand leerer Kassen. Ich sage bewußt „Vorwand"; denn wenn für den mindestens 5,6 Milliarden DM teuren Transrapid Geld da ist, kann es nur ein Vorwand sein. Es ist offensichtlich Geld da, und dann braucht man im Schienenbereich nicht zu kürzen.
Sie wollen eine Entscheidung, die den Bundeshaushalt unwiderruflich mit nicht absehbaren Risiken belastet: 1997 mit einer halben Milliarde DM, 1998 mit 843 Millionen DM, 1999 und 2000 mit jeweils über 1 Milliarde DM.
Das bedeutet: Bei einem gesamten Schieneninvestitionsetat von 4 Milliarden DM im Jahr soll 1 Milliarde DM für ein einziges Projekt bereitgestellt werden, durch das bis 2005 überhaupt kein verkehrspolitischer Beitrag geleistet werden wird. Die üblichen Preissteigerungen kalkulieren Sie noch nicht einmal ein.
Was passiert aber dann? Für Schiene und Straße gibt es gesetzliche Regelungen, mit denen im Falle knapper werdender Mittel haushaltsmäßige Reißleinen gezogen werden können. Für den Transrapid gilt das nicht. Künftig soll der Transrapid weitgehende Privilegien vor allen anderen Verkehrsträgern genießen. Alle Verkehrsinfrastrukturplanungen können nur nach Maßgabe der „zur Verfügung stehenden Mittel" realisiert werden; für den Transrapid wollen Sie das nicht. Sie wollen auch keine Instrumente zur Kontrolle des Ausbaufortschrittes wie die Berichtspflicht des Ministers bzw. eine „regelmäßige 'Oberprüfung des Bedarfs" an Hand der „zwischenzeitlich eingetretenen Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung" .
Die Bahn ist bei zinslosen Investitionsdarlehen sogar zu Leistungen an den Bund in Höhe von jährlichen Abschreibungen gesetzlich verpflichtet. Beim Transrapid wollen Sie mit irgendeinem Betreiber irgendwann irgendeine Vereinbarung treffen. Das ist Ihr Konzept für den Transrapid. Das ist nicht nur unverantwortlich, sondern Sie trauen offenbar auch Ihren eigenen Prognosen über den finanziellen Erfolg des Projekts selbst nicht mehr.
Im Klartext heißt das: Nur weil Sie den Transrapid auf Biegen oder Brechen auf dieser Relation wollen, wird privaten Investoren die Tür zum Bundeshaushalt weit geöffnet. Diese Investitionen sollen ohne Rücksicht auf die Situation künftiger Bundeshaushalte durchgepeitscht werden: rund 60 % zu Lasten des Verkehrshaushalts, Herr Kollege Börnsen, und knapp 40 % zu Lasten der übrigen Investitionshaushalte.
Nur weil Sie den Transrapid bauen wollen, gibt es weniger oder keine neuen Ortsumgehungen, Einschnitte beim Schienenbau, weniger Geld für den
Elke Ferner
Wohnungs- und Hochschulbau sowie Kürzungen bei den Forschungs- und Umweltinvestitionen. Diese Kürzungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, betreffen alle investiven Bereiche des Bundeshaushalts und gehen zu Lasten der Länder, der alten wie der neuen, auch zu Lasten des Landes Berlin.
In Ihrem eigenen Finanzierungskonzept aus der 12. Wahlperiode sagen Sie: „Die Kostenrisiken für den Bundeshaushalt sind zur Zeit zahlenmäßig nicht abschätzbar." Ich ergänze: Diese Risiken sind weder jetzt noch zukünftig vertretbar.
Auch der Bundesrat hat erhebliche Zweifel an der Wirtschaftlichkeit. Bei aller Kirchturmpolitik in dieser Frage hat er empfohlen, den § 2 wie folgt zu ändern: „Die Betriebslasten sind nicht aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren. "
Die alten Planannahmen für dieses Projekt entsprechen nämlich mehr Ihrem Wunschdenken als betriebswirtschaftlicher Kalkulation: Da geistern immer noch Fahrgastprognosen von 14 Millionen Passagieren jährlich herum; das sind 1 600 Passagiere jede Stunde bei Tag und bei Nacht. Bei der Vorstellung, wie 1 600 Leute auf einem Bahnsteig stehen und warten und ein- und aussteigen, kann ich nur sagen: Viel Vergnügen! In den Spitzenzeiten werden es ja dann wohl noch mehr sein.
Solche Annahmen sind einfach lächerlich. Eine Ameisenwanderung zwischen Hamburg und Berlin wäre ein Klacks dagegen.
Bis zur Stunde zögert die Bahn AG, sich an der geplanten Betriebsgesellschaft zu beteiligen. Nachdem die Lufthansa definitiv nein gesagt hat, soll die Bahn jetzt 300 Millionen DM beisteuern.
Sie verlangt dafür zu Recht eine Kompensation, weil die Fahrgäste des Transrapid der Bahn fehlen werden.
Sie verlangen von der Bahn, sich selbst Konkurrenz zu machen, und hängen ihr den Transrapid als Klotz ans Bein, weil das Engagement der Bahn für die Privatindustrie unverzichtbar ist. Warum denn eigentlich? Sachverstand und Planungs-Know-how ließen sich doch wohl auch einkaufen. Nein, die privaten Investoren wissen nur zu genau, daß das Transrapid-Projekt gestorben wäre, bevor es angefangen hat, wenn die Bahn auf der Relation Hamburg-Berlin selbst ein gutes Angebot gewährleistete.
Wenn das Transrapid-Projekt schiefgeht, soll die Bahn auch noch mit für Verluste einstehen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nun wahrlich eine Perversion der Bahnreform.
Sie verschleudern Milliarden von Steuergeldern, wenn nicht alle Bestfallannahmen eintreffen. Normalerweise rechnet ein guter Kaufmann mit dem „worst case" und nicht mit dem „best case". Da sollten Sie sich vielleicht noch einmal überlegen, ob Sie auf dem richtigen Wege sind.
Sie erweisen damit auch der Industrie einen Bärendienst. Ein Verkehrssystem, das allein für den Bau 5,6 Milliarden DM kostet, nicht vor zehn Jahren in Betrieb geht und auf unabsehbare Zeit am öffentlichen Tropf hängt, ist für keinen potentiellen Kunden attraktiv.
Meine Fraktion hat deshalb von Anfang an ein abgespecktes, überwiegend privat finanzierbares Projekt auf einer kürzeren Strecke befürwortet. Sie hingegen vernachlässigen die Märkte und die Weiterentwicklung der Rad-Schiene-Technik und damit die Sicherung und Neuschaffung von Arbeitsplätzen. Industriepolitisch geht es nicht darum, ob unter irgendwelchen Extrembedingungen und mit hohem finanziellem Aufwand Höchstgeschwindigkeiten technisch realisiert werden können. Entscheidend wird allein sein, ob sie auch wirtschaftlich machbar sind.
Die Strecke Hamburg-Berlin erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Ein ICE-Ausbau, wie wir ihn schon beim Bundesverkehrswegeplan gefordert haben, macht verkehrspolitisch und wirtschaftlich mehr Sinn.
Nur weil Sie den Transrapid bauen, wird im ICE- Netz auf Dauer bei der Strecke Hamburg-Berlin eine große Lücke klaffen. Sie sehen hier Hamburg-Berlin, und die Eisenbahn fährt in der Hochgeschwindigkeitsphase schön drumherum.
Offensichtlich ist Ihnen, meine Damen und Herren in der Koalition - das kann man zum Schluß wirklich sagen -, der Realitätssinn völlig abhanden gekommen, zumindest in bezug auf die Zahlen des Bundeshaushaltes. Sie tragen damit die Verantwortung für eine neue Investitionsruine.
Ich erteile dem Abgeordneten Rainder Steenblock das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Rainder Steenblock
Herren! Lieber Kollege Fischer, wenn man sich Ihre Rede gerade anhören mußte, dann weiß man gar nicht, ob man Ihnen Borniertheit, Unkenntnis oder Naivität vorwerfen soll oder schlicht und einfach bösartige Demagogie, die Sie hier soeben haben walten lassen. Ich will zu Ihren Gunsten annehmen, daß Ihre Ausführungen von keiner großen Kenntnis getrübt worden sind, weil das ein Zustand ist, den man beheben kann.
Ich möchte abweichend von dem, was ich mir eigentlich vorgenommen habe, versuchen, Ihnen zu sagen, was gerade die finanzpolitischen Bedenken bei diesem Konzept sind. Ihre Ausführungen zeigen deutlich, warum der Finanzminister dieses Landes mit dem Rücken zur Wand steht, wenn Sie so leichtfertig mit Steuergeldern umgehen, wie Sie das bei diesem Projekt wieder vorhaben.
Die Kosten für den Transrapid - wir haben nie etwas anderes behauptet - liegen nach Angaben der Betreibergesellschaft und der MagnetschwebebahnPlanungsgesellschaft ungefähr bei 9 Milliarden DM. Diese Summe setzt sich zusammen aus 5,6 Milliarden DM, die der Bund zu tragen hat, und 3,3 Milliarden DM, die die Betreibergesellschaft trägt.
- Seien Sie einmal ganz ruhig, Herr Fischer! Es geht weiter.
- Ich kann Fahrweg und Rollmaterial unterscheiden. Sie wissen vielleicht, was Fahrweg beim Transrapid bedeutet. Das ist nämlich etwas anderes als eine Schienenstrecke. Dahinter steht eine ganz andere Technologie.
- Herr Kollege Fischer, hören Sie jetzt einfach einmal zu. Sonst lasse ich Sie eine Zwischenfrage stellen; das können Sie gerne machen. Dann geht das nicht von meiner Redezeit ab.
Es geht um 3,3 Milliarden DM Investitionen der Betreibergesellschaft. Nach Aussagen der Betreibergesellschaft kommen noch sonstige Kosten hinzu. Mit den Bauzeitzinsen und sonstigen Kosten erhöht sich diese Summe auf 4,8 Milliarden DM nach offizieller Mitteilung der Betreibergesellschaft.
- Ich komme gleich darauf zurück.
Die Kosten von 5,6 Milliarden DM, die der Bund tragen soll, werden aufgesplittet, u. a. in einen 2,4 Milliarden-DM-Kredit, der am Sankt-Nimmerleins-Tag zurückgezahlt werden soll.
- Ja, ja. Das ist festgelegt. Aber diese Festlegung schauen Sie sich einmal an! Das würde kein Kaufmann unterschreiben.
Diese 2,4 Milliarden DM erhöhen sich nach Angaben der Betreibergesellschaft mit den Bauzeitzinsen und sonstigen Kosten, die hinzukommen, auf 3,7 Milliarden DM. Die übrigbleibenden 3,2 Milliarden DM erhöhen sich - ich mache es kurz - auf 4,5 Milliarden DM, auch nach Angaben der Betreibergesellschaft.
Wenn Sie das einmal zusammenrechnen, kommen Sie auf 13 Milliarden DM, die die Magnetschwebebahn-Planungsgesellschaft als Kosten nach dem Preisstand von 1993 schon heute zugrunde legt.
Nicht berücksichtigt, lieber Herr Fischer, sind dabei die zusätzlichen Kosten, die durch eine Anbindung in die Innenstädte von Hamburg und Berlin entstehen werden. Weil es dafür noch keine Trassen gibt, sind auch noch keine Berechnungsgrundlagen vorhanden. Diese Kosten kommen dazu.
Nicht berücksichtigt sind die gesamten Infrastrukturkosten, wenn, wie beim Transrapid beabsichtigt, 50 % des Zubringerverkehrs mit dem Auto erzielt werden sollen. Das ist Berechnungsgrundlage auch der Planungsgesellschaft. Für die sieben Millionen Autofahrer, die zu den Transrapid-Bahnhöfen, und zwar nicht in die Hamburger City und nicht in die Berliner City, sondern zu den Vorortbahnhöfen in Hamburg-Billwerder und in Berlin-Westkreuz, fahren sollen,
brauchen Sie Infrastruktureinrichtungen, brauchen Sie Riesenparkplätze, wenn Sie diese Bestfallannahmen überhaupt erfüllen wollen.
Lieber Herr Wissmann, Sie wissen ganz genau: Wenn Sie diese Infrastrukturleistung nicht erreichen - das sagen auch die Planer in ihrem Gutachten -, dann wird ein anderer Fall eintreten. Wenn es nämlich zu Staus kommt, wird die Sache unattraktiv werden. Dann sinkt die Zahl der Benutzer von 14,5 Millionen nach der Bestfallannahme auf 9,2 Millionen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Friedrich?
Ja.
Herr Kollege Steenblock, ist Ihnen entgangen, daß die Betriebsgesellschaft für die Magnetschwebebahn Berlin-Hamburg nach Ihrem Interview festgestellt hat, daß die Magnetschwebebahn von Hamburg-Hauptbahnhof zu den großen
Horst Friedrich
Berliner Bahnhöfen, entweder Papenstraße oder Lehrter Bahnhof, geht, und daß Ihre Meinung, die Anbindung würde in Billwerder oder irgendwo am Stadtrand stattfinden, deswegen einfach falsch ist? Sind Sie bereit, diese Aussage der Magnetschwebebahngesellschaft zu akzeptieren, oder negieren Sie das weiterhin?
Herr Kollege Friedrich, ich danke Ihnen für diese Zwischenfrage. Sie macht deutlich, wie wenig Sie zuhören. Ich habe gerade gesagt: Bei einer Anbindung der Zentren geht die Magnetschwebebahn-Planungsgesellschaft davon aus, daß sieben Millionen Menschen mit dem Auto kommen müssen. 50 % der Benutzer müssen mit dem Auto kommen; das sind Bestfallannahmen, nicht meine Annahmen.
- Nein, gucken Sie sich doch mal die Planungsfälle an, die da aufgeschrieben sind, lieber Herr Friedrich!
Bleiben Sie mal stehen, Herr Friedrich, ich möchte Ihnen das jetzt gern noch zu Ende erzählen.
Also: Zusätzlich müssen gebaut werden die bisher noch völlig unkalkulierten Anbindungen Lehrter Bahnhof oder Papenstraße und Hamburg-Hauptbahnhof. Es gibt überhaupt noch keine Berechnungen, was das kostet. Das kommt zu den 13 Milliarden DM hinzu.
- Nein, die gibt es nicht. Die wissen ja überhaupt noch nicht, wohin sie wollen. Wie sollen sie dann die Trassenkosten berechnen? Das ist doch völliger Unsinn, was Sie hier dazwischenreden, Herr Börnsen!
Herr Friedrich, jetzt sind Sie dran. Diese Bahnhöfe, die zusätzlich zum Hauptbahnhof in Hamburg und zum Lehrter Bahnhof oder zum Bahnhof Papenstraße in Berlin gebaut werden müssen, weil der Zubringerverkehr mit dem Auto gebraucht wird, und die am Westkreuz in Berlin und im Hamburger Umland gebaut werden sollen - -
Herr Kollege Steenblock, einen Augenblick, bitte.
Meine Kollegen, wenn Sie den Redner nicht reden lassen, werde ich seine Redezeit verlängern. So geht das nicht!
Hier ist eine Zwischenfrage gestellt worden. Diese Zwischenfrage wird beantwortet. So lange halte ich die Uhr an. Aber wenn Sie dauernd dazwischenrufen, so daß der Redner nicht antworten kann, werde ich die Redezeit verlängern. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen.
Bitte, Herr Steenblock, fahren Sie fort.
Ich glaube, es ist klargeworden, Herr Friedrich, daß die Kosten in diesem Bereich nicht kalkuliert sind.
Der Kollege Fischer hat gesagt - ich muß das jetzt ein bißchen abkürzen -: Die Risiken trägt die deutsche Industrie. Ich lese Ihnen mal einen Paragraphen aus den Finanzvereinbarungen vor:
Risiken, die sich im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen --
Eine Sekunde, Herr Steenblock. - Herr Friedrich, es handelt sich um die Beantwortung Ihrer Frage. Hier ist es üblich, daß man die Antwort stehend entgegennimmt.
Herr Steenblock, Sie haben das Wort.
Ich werde das jetzt noch einmal vorlesen, um die Risikobereitschaft der deutschen Industrie deutlich zu machen. In den Finanzvereinbarungen heißt es:
Risiken, die sich im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Genehmigungsverfahren, mit der Zurverfügungstellung von Grund und Boden und aus höherer Gewalt ergeben, liegen bei der öffentlichen Hand.
Durch Verzögerungen im Planfeststellungs- oder Genehmigungsverfahren verursachte zusätzliche Kosten sind von der öffentlichen Hand zu tragen.
Das, was hier an Versorgungsmentalität der großen Unternehmen
deutlich wird, ist das, was den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet.
Die Risikobereitschaft eines Amtsschimmels ist sicherlich sehr viel größer und eher mit einem Rennpferd zu vergleichen als das, was die Industrie an dieser Stelle macht.
Rainder Steenblock
Ich möchte noch eine Sache kurz darstellen, um auch dieses Finanzgebaren deutlich zu machen. Die deutsche Industrie beteiligt sich an diesem mindestens 13 Milliarden DM teuren, vielleicht aber sehr viel teureren Projekt mit der gigantischen Summe von 500 Millionen DM, die Banken noch einmal zusätzlich mit 200 Millionen DM, und sie brauchen eine Risikoabsicherung.
Der Vorschlag, den sie sich ausgedacht haben, ist folgender: Die Magnetschwebebahn ist eine Inseltechnologie. Das weiß jeder. Da denkt man natürlich auch an Inselförderung. Es wird also vorgeschlagen, die alte Berlinförderung wieder aus dem Kasten zu ziehen. Bei Investitionen der Industrie soll es eine zwanzigprozentige Absetzbarkeit der Kapitalkosten nach dem Modell der Berlinförderung aus der Zeit geben, als Berlin nicht konkurrenzfähig war. Überlegen Sie einmal, was das für die ökonomische Beurteilung dieses Projekts bedeutet. Wenn Sie sich auf dieses Fördermodell für Berlin - das aus guten Gründen eine ganze Zeitlang als Standort nicht konkurrenzfähig war - bei der Transrapidförderung beziehen, dann sagt das alles über die ökonomische Qualität dieses Projekts aus.
Wir haben Alternativen dazu vorgelegt. Wir haben auch deutlich gemacht, daß der Transrapid - Frau Ferner hat es angesprochen - Investitionshemmnis Nummer eins werden wird, weil er Haushaltslöcher aufreißt und eine Technologie ist, die in diesem Bereich eher hinterwäldlerisch ist. Das, was Herr Fischer gesagt hat, hätte er 1937 zur Patentanmeldung des Transrapids oder der Magnetschwebebahn sagen müssen. So alt ist mittlerweile die Technologie, und sie hat sich nirgendwo auf der Welt durchgesetzt.
Deshalb: Setzen Sie auf die Rad-Schiene-Technik! Das ist eine Technik, die Sie exportieren können, das ist eine Technik, mit der Sie eine schnelle Anbindung bekommen, und das ist eine Technik, mit der hier in Deutschland zukunftssicher Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Herr Kollege Steenblock, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Steenblock, Sie haben ja nun in aller Schärfe deutlich zu machen versucht, wo die Schwachpunkte dieser Strecke und auch des Systems liegen.
Haben Sie diese Bedenken auch Ihren Kollegen in Hessen mitgeteilt, die ja im Bundesrat zweimal - einmal hat sich ja Ihr Kollege Fischer klammheimlich dort versteckt - dem zugestimmt haben? Treffen denn diese Argumente Ihren Kollegen in Hessen gegenüber nicht zu?
Herr Börnsen, ich will Ihnen einmal sagen, was ich den Kollegen in Hessen zu sagen versucht habe bzw. gesagt habe: Liebe Leute, der Transrapid wird als Hochtechnologie gehandelt. Völlig unbestritten ist aber, daß die Montage des Fahrweges unklar ist, weil es überhaupt noch keine Schrauben gibt, die den Druck aushalten. Sie brechen in der Versuchsanlage ständig ab. Die Planungsgesellschaft oder die Betreiber haben zugegeben, daß sie es vom Material her nicht hinkriegen. Sie bauen diesen Fahrweg nun so, daß sie immer den doppelten Schraubensatz benutzen, nicht weil diese Fahrwegsmontage dann hält, sondern nur, weil dann die Reparaturtrupps schnell genug da sind, um diese Schrauben tatsächlich wieder ersetzen zu können.
Das zeigt nicht nur, daß die Befürworter dieses Systems ab und zu einmal eine Schraube locker haben,
sondern zeigt auch, daß die technische Qualität dieses Systems hochbrisant ist.
Ich habe den Hessen noch etwas anderes gesagt: Liebe Leute, wenn ihr das System unterstützen wollt, dann schaut euch doch auch einmal die zentralen ökologischen Kriterien an, die immer genannt werden: Lärm, Energie. Die Untersuchungen, auch die offiziellen Untersuchungen der MVP, sagen, daß bei einer typischen, systembedingten Geschwindigkeit des ICE, und zwar des ICE der ersten Generation, nicht des neuen, der Lärm 83 Dezibel beträgt, und zwar bei seiner typischen Betriebsgeschwindigkeit. Das steht in den Unterlagen der Magnetschwebebahn-Planungsgesellschaft.
Bei einem ICE, lieber Herr Börnsen - ich sage Ihnen doch nur, was ich den Hessen gesagt habe -, beträgt die systembedingte Lärmemission 93 Dezibel, 10 Dezibel mehr. Das entspricht einer Verdoppelung des Lärms.
Bei einer Systemgeschwindigkeit des ICE der ersten Generation beträgt der Energieverbrauch pro Sitzplatz 78 Wattstunden. Bei dem Transrapid mit 400 Stundenkilometern, so wie er jetzt geplant ist, beträgt der Energieverbrauch pro Sitzplatz 150 bis 160 Wattstunden. Das heißt: Dieser ICE ist im Normalbetrieb doppelt so laut und verbraucht doppelt so viel Energie wie ein ICE der alten Generation.
Wenn Sie versuchen, den ICE technisch zu optimieren, kommen Sie auf sehr viel geringere Werte. Wenn Sie zudem beachten, daß der Transrapid nach Angaben der Planungsgesellschaft über 400 Kilometer pro Stunde fährt - das habe ich den Hessen gesagt -, nämlich 430 Kilometer, dann kommen wir bei der Lärmemission - -
Herr Kollege Steenblock, bei aller Liebe zur Sache: Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
Dann bekommen wir eine Tieffliegerlärmemission.
Die hessischen Grünen haben deshalb gesagt: Wir als Grüne lehnen dieses Projekt ab. Das tun auch wir im Bundestag. Wir haben eine Alternative.
Ich bitte Sie im Interesse der Finanzen dieses Landes und der Exportorientierung unserer Wirtschaft, dem zuzustimmen.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Klaus Röhl das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon hochinteressant: Nachdem der Transrapid zuerst ein technologisches und ökonomisches Monstrum war, ist er jetzt zu einem finanziellen und zudem zu einem reparaturtechnischen Monstrum geworden. Ich bin gespannt, was es für ein Monstrum darstellen soll, nachdem Sie sich für ein halbes Jahr zurückgezogen haben. Darauf bin ich sehr neugierig.
Ich komme nun erst einmal zum Sachlichen; streiten können wir uns später. In der heutigen ersten Beratung stehen zwei Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zum Bau der Transrapidstrecke Berlin-Hamburg zur Beratung an: erstens der Entwurf eines Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes und zweitens der Entwurf eines Allgemeinen Magnetschwebebahngesetzes. Das Bedarfsgesetz soll den Bedarf, das Allgemeine Magnetschwebebahngesetz den Betrieb sicherstellen.
Die leistungsstarke und vor allem umweltfreundliche Magnetschwebebahnverbindung trägt nicht nur dem Ziel der Verlagerung des Verkehrs von der Straße und der Luft auf die Schiene und der Entlastung der Bahnstrecken zugunsten des Regional-und Güterverkehrs Rechnung, Frau Ferner, sondern beweist auch den hohen Technologievorsprung der deutschen Industrie und sichert den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Wir dürfen uns beim Bau des Transrapid keine Zeit lassen. Japan wird im nächsten Jahr eine 42,8 Kilometer lange Magnetstraße für den Probebetrieb freigeben. Diese ist gleichzeitig Teilabschnitt einer zukünftigen Langstreckenverbindung. Das Versuchsprogramm soll im Jahre 1999 abgeschlossen sein, so daß dann die rund 500 Kilometer lange Strecke zwischen Tokio und Osaka in Angriff genommen wird. So macht man das woanders.
Wir dürfen diese Entwicklung nicht verschlafen. Wir müssen die hervorragenden Exportchancen für den Transrapid endgültig sichern.
Der Individualverkehr in unserem Land stößt an seine Grenzen, das Mobilitätsbedürfnis aber wächst weiter. Nur mit neuen, über die bisherigen Maßstäbe hinausgehenden Lösungen können wir dieses Problem bewältigen.
Es gibt keine bahntechnische Alternative zum Transrapid. Die Rad-Schiene-Technik der Eisenbahn hat den Endpunkt ihrer Evolution erreicht. Mit dem Transrapid ist ein innovativer Verkehrsträger entstanden, der in allen Eigenschaften und technischen Daten der bisherigen Bahn-Spitzentechnologie überlegen ist.
Es gibt keinen umweltfreundlicheren Verkehrsträger.
Der Fahrweg des Transrapid verbraucht, gleichgültig, ob aufgeständert oder ebenerdig, weniger Fläche als die Fahrwege des ICE und des IC. Das ist eine Tatsache. Es ist doch ökologisch, weniger Fläche zu verbrauchen.
Im übrigen strotzt der Antrag vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN vor Falschaussagen und Ungereimtheiten. Der Antrag der PDS hängt sich übrigens, wie üblich, nur an den vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an. Das ist also nur noch reine Mitfahrertendenz. Zeigt sich hier eine Wahlverwandtschaft? Hoffentlich nicht!
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN behauptet, die Fahrgastzahlenschätzung von 14,5 Millionen Fahrgästen pro Jahr sei unrealistisch. Die jüngsten Planungsergebnisse haben aber eine Absicherung der aufgestellten Prognosen ergeben. Durch ein neues Rechenmodell von Intraplan München ist das voll bestätigt worden. Die Herren Steenblock und Schmidt sind wie immer offensichtlich nicht auf dem aktuellsten Stand, wie aus ihrer Presseerklärung vom 10. Oktober zu erkennen ist. Da steht das wunderbar drin.
Aber lassen Sie mich noch ein paar Vergleichszahlen nennen. Für das völlig neue ICE-Projekt KölnRhein/Main erwartet man im Jahr 2000 pro Tag und Richtung 26 000 Reisende und im Jahr 2050 sogar 40 000. Und da bezweifeln die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen die realistischen Prognosen für den Transrapid von 14,5 Millionen! Eine rotgrüne Brille verdunkelt eben alles.
Weiterhin wird behauptet, der Transrapid bringe noch nicht einmal einen Zeitvorteil für die Fahrgäste, da die S-Bahn-Fahrt vom Ankunftsbahnhof bis zum Berliner Zentrum weitere 20 Minuten dauere. Als Berliner kann ich Ihnen nur empfehlen, einen Besuch vor Ort zu machen oder einen Stadtplan zur Hand zu nehmen. Der Lehrter Bahnhof ist im Zentrum, und es sind nur drei Stationen mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo oder zum Alex und nur eine zur
Dr. Klaus Röhl
Friedrichstraße. Übrigens, Westkreuz ist auch nur drei Stationen entfernt. Das sind zwei bzw. sechs Minuten Fahrzeit. Und das bei 55 Minuten Fahrzeit von Hamburg nach Berlin! Was könnte besser sein?
Übrigens, Sie beklagen, daß die Fahrgäste von Hamburg und Berlin ihre Autos stehenlassen sollen, und behaupten, es würden Autofahrerbahnhöfe errichtet. Ja, sollen die Leute denn nun vom Auto auf die Bahn umsteigen oder nicht?
Wollen Sie Park and Ride oder nicht? Wollen Sie den Umstieg vom Flugverkehr auf die Bahn oder nicht? Sie müssen sich doch einmal entscheiden!
Um auf die Fehlerhaftigkeit Ihres Finanzierungsprojekts einzugehen: Sie haben gründlich alle Zahlen verwechselt. Das sollte man Ihnen hier nachsehen. Das sollten wir im Ausschuß behandeln. Ich will uns damit nicht noch einmal belasten.
Auch bei der Frage des Betriebsrisikos haben Sie alles, was nicht dazugehört, mit in einen Topf geschmissen. Die Kosten für das Betriebssystem in Höhe von 3,3 Milliarden DM trägt die Industrie. Da wird vom Betriebsrisiko für die Bundesregierung gesprochen. Das ist falsch. Das Betriebsrisiko liegt bei der Privatwirtschaft. Im Gegensatz dazu trägt der Bund als alleiniger Gesellschafter bei der Deutschen Bahn alle Risiken, und eine Beteiligung privater Investoren ist erst absehbar, wenn eine Entschuldung erreicht und eine Rendite erwirtschaftet ist. Vergleichen Sie das einmal!
Sehr geehrte Kollegen, noch etwas zu zwei anderen Punkten des Antrages der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Da werden tatsächlich die ökologischen Vorteile geleugnet. Der Transrapid ist der energiefreundlichste Verkehrsträger. Der Energieverbrauch beim Betrieb ist um ein Drittel geringer als beim ICE.
Auch beim Lärmpegel erreicht der Transrapid erst oberhalb 400 km/h die Spitzenwerte des ICE, die bei diesem schon bei 250 km/h auftreten. Gemäß Bundesimmissionsschutzgesetz, wonach z. B. in der Nacht an Krankenhäusern und Schulen ein Immissionsgrenzwert von 47 dB nicht überschritten werden darf, kann der Transrapid in 25 m Entfernung fahren. Der ICE müßte bei gleichen Bedingungen einen Abstand von 120 m einhalten.
Herr Kollege Röhl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Steenblock?
Ich möchte lieber meinen Vortrag beenden. Die Zeit ist vorgeschritten. Wir unterhalten uns sowieso noch gründlich darüber.
Liebe Kolleginnen und Kollegen vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, Ignoranz ist eine gefährliche Gabe. Sie hat die Wirkung, völlig in die Irre zu führen. Die vorgeschlagenen Alternativen zum Transrapid sind grotesk. Der Neubau der Strecke Uelzen - Stendal oder der Strecke Büchen - Wittenberge, wie vorgeschlagen, soll angeblich weniger als 1 Milliarde DM kosten. Tatsächlich sind jedoch 30 bis 40 Millionen DM pro Doppelkilometer realistisch. Das sind dann insgesamt 3,2 bzw. 4,3 Milliarden DM, also drei- bis viermal so viel, wie Sie selber angeben.
Übrigens, wer protestiert denn vor Ort gegen jegliche Projekte? Das sind Ihre eigenen Basiskolonnen. Es ist immer wieder das gleiche.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN arbeitet wie immer mit völlig falschen Zahlen und Angaben.
Die angegebene Bahnfahrzeit von 82 Minuten für die Strecke Hamburg-Berlin entspringt reinem Wunschdenken. Die Koordination von Regional- und Güterverkehr bleibt da vollkommen unberücksichtigt.
Voreingenommenheit ist ein schlechter Ratgeber; sie führt immer zur Blamage.
Wir sagen ganz klar, daß es für uns keine Alternative zur geplanten Transrapid-Strecke gibt. Der Transrapid ist ein umweltfreundliches, energiesparendes Verkehrssystem, das allein uns in die Lage versetzt, Verkehrsprobleme der Zukunft speziell auf der Strecke Hamburg-Berlin zu lösen. Mut statt Kleinmut bringt uns voran!
Die Fraktion der F.D.P. steht zu beiden eingebrachten Gesetzentwürfen. Wir lehnen daher die Anträge des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS mit aller Entschiedenheit ab.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Eckart Kuhlwein das Wort.
Herr Kollege Röhl, Berlin ist schön, und ich habe damals dafür gestimmt, daß Berlin als deutsche Hauptstadt Regierungssitz wird. Aber daß Zehntausende von Menschen aus Berlin und/oder aus Hamburg jeden Tag hin- und herfahren
Eckart Kuhlwein
sollen, damit sich diese Strecke rentiert, vermag ich nicht nachzuvollziehen. Das ist eine Zumutung.
Sie haben nichts darüber gesagt, ob es den Bedarf für diese Strecke gibt. Wir reden ja über ein Bedarfsgesetz.
Beim Schienenwegeausbaugesetz wird der verkehrspolitische Bedarf festgestellt. Beim Fernstraßenausbaugesetz wird der verkehrspolitische Bedarf festgestellt. Hier wird über Technologie geredet, über Standortpolitik, über Industriepolitik. Ob es Bedarf für diese Strecke gibt, wo es doch eine Eisenbahnstrecke gibt, die Hamburg und Berlin verbindet, ist bisher nicht nachgewiesen worden. Das konnte uns auch der Bundesverkehrsminister heute im Haushaltsausschuß nicht sagen.
- Sie dürfen sich ruhig hinsetzen. Bei Kurzinterventionen muß man nicht stehenbleiben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
1. Die in dem Betreibermodell durchgeführten Wirtschaftlichkeitsberechnungen basieren auf unrealistischen Annahmen.
2. Die für Ostdeutschland und Berlin zugrundegelegten Entwicklungszahlen sind Zielprognosen, deren Eintreffen wenig wahrscheinlich ist.
3. Die Zahlen zum Fahrgastaufkommen einer Magnetschnellbahn entstammen einer inkonsistenten Kombination von „Bestfall-Annahmen" .
4. Die Erlösrechnung basiert auf einer unzulässigen Verknüpfung von Preis und Absatz.
5. Notwendige Zusatzkosten, unter anderem für Verknüpfungseinrichtungen, wurden nicht berücksichtigt.
6. Die Wirtschaftlichkeitsberechnung wurde nicht netz-, sondern streckenbezogen durchgeführt.
Meine Damen und Herren, dieses Urteil ist vernichtend.
Es gilt nach wie vor: Verzichten Sie auf dieses Projekt! Wir sollten aus Kalkar, aus dem Rhein-Main-Donau-Kanal, aus Wackersdorf gelernt haben: Bei Großprojekten, die aus staatlicher Großmannssucht entstanden sind, bewahrt nur rechtzeitige Umkehr vor Schaden.
Herzlichen Dank.
Herr Dr. Röhl, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.
Herr Kollege Kuhlwein, erst einmal herzlichen Dank für Ihre vorbereitete Rede. Da ich jede Meinung achte, bin ich stehengeblieben. Das ist ganz klar.
Sie haben da etwas aus der großen Sammlung der Anhörung vorgelesen.
Genausogut könnten wir andere Gutachten vorlesen. Wir haben Ihnen hier vorgetragen, wie die jüngsten Beurteilungen und Gutachten lauten. Auch das können wir nachlesen; dafür können wir uns einmal zusammensetzen.
Ich bitte Sie ganz herzlich, sich einfach einmal ganz still für sich hinzusetzen
und nachzudenken: Was ist günstiger für die Lösung der Verkehrsprobleme und für die Lösung der Probleme der deutschen Wirtschaft und die Arbeitsplätze? Machen Sie das bitte ohne Voreingenommenheit. Ich weiß, wie schwer es ist, von voreingenommenen Positionen herunterzukommen. Sie tun dann Ihren Parteimitgliedern und den Leuten aus der Arbeiterschaft, die Sie vertreten, einen größeren Gefallen, als wenn Sie hier dagegen reden.
Ich erteile dem Berliner Senator für Verkehr und Betriebe, Professor Dr. Haase, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Am Anfang steht der Dank Berlins an die Mitglieder des Deutschen Bundestages.
Dies sei ganz bewußt in einer Zeit populistischer Abgeordnetenschelte gesagt.
Senator Dr. Herwig Eberhard Haase
Speziell aber danke ich den Mitgliedern des Verkehrsausschusses. Sie haben gestern der Verlängerung des Verkehrswegebeschleunigungsgesetzes zugestimmt
und damit eine richtungsweisende Initiative der neuen Bundesländer zur Verbesserung des Planungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland unterstützt.
Wenn Bundeskanzler Kohl und der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen am morgigen Freitag den ersten Spatenstich für die Verkehrsanlagen im Zentrum Berlins durchführen, dann ist dies nicht allein sichtbarer Ausdruck für die Gemeinsamkeit zwischen Bund und Bundeshauptstadt. Zugleich ist dieser Akt Beleg dafür, daß die Berliner Verkehrsplanung vollendet ist und nunmehr umgesetzt wird. Vor allem aber ist dies ein deutliches Bekenntnis des Bundes zu seiner Hauptstadt.
Mit der Magnetschwebebahn Transrapid hat Deutschland die Tür aufgeschlagen zu einer völlig neuen Dimension der Bahntechnologie. Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten, sollten sich deshalb bei Ihrer Entscheidung nicht von ängstlicher Verzagtheit und krämerischen Rechnereien treiben lassen.
Bekennen Sie sich zu den damit verbundenen Chancen für den Wirtschafts- und Technologiestandort Deutschland. Wir haben erfahren - ich denke, zuletzt im südostasiatischen Markt schmerzlich erfahren -, was es bedeutet, die Herausforderungen auch in der Bahntechnik nicht ernst zu nehmen. Der ICE wurde zu spät ins Rennen geschickt, die Neigezugtechnik nicht einmal umgesetzt.
Anders die Situation beim Transrapid: Erstmals seit dem Krieg haben Deutschlands Ingenieure in der Verkehrstechnologie bei der Entwicklung eines hochleistungsfähigen, marktfähigen Systems mehrere Jahre Entwicklungsvorsprung. Selbst die Japaner, die mit Hochdruck an einem vergleichbaren System arbeiten, hinken noch - ich sage bewußt „noch" - hinter unserem Entwicklungsstand her.
Das bedeutet konkret: Entscheidet sich der Bundestag gegen die Magnetbahntechnik, werden, wie leider in der Vergangenheit nur allzuhäufig, andere das Geschäft machen.
Dann werden nicht Güter und Ideen exportiert, sondern Arbeitsplätze.
Der Senat von Berlin hat sich für den Transrapid entschieden. Er hat diese Zustimmung an bestimmte Bedingungen geknüpft.
Vor allem erwarten die Länder über ihre verständlichen, manchmal auch egoistischen Forderungen hinaus, daß die Finanzierung nicht zu Lasten der Bahnfinanzierung geht.
Unterstützen Sie bitte diese gemeinsame Position der Berliner Koalition.
Hier in Bonn bekümmert mich schon die innere Zerstrittenheit innerhalb der Opposition. Diese beschränkt sich ja nicht auf Fragen nach dem Vorsitzenden. Vielmehr geht es darum, ob die SPD sich der Zukunft öffnen will oder ob sie dem Lockruf der Grünen „Zurück zur Natur" folgt.
Sie wissen meine Damen und Herren, daß am 22. Oktober Berlin vor einer entscheidenden Wahl steht.
Da wundert es mich in der Tat, wenn die Hilflosigkeit der Berliner Sozialdemokraten in ihrem Wahlprogramm deutlich wird. Auf Seite 5 wird die Spitzenkandidatin zitiert: „Die 45 Kilometer nach Sperenberg sind im Zeitalter von ICE und Transrapid keine unüberwindbaren Entfernungen mehr." Auf Seite 51 desselben Programms heißt es dann aber: „Die Berliner SPD spricht sich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Daten und Fakten gegen den Bau einer Transrapidstrecke zwischen Berlin und Hamburg aus."
Lächerlich wird es, wenn dieselbe Partei die Stadt mit Wahlplakaten vollpflastert, die Berliner Flughäfen Tempelhof, Tegel und Schönefeld sofort zu schließen. Verständlich wird dann aber auch, wenn diese Partei in ihren Wahlschriften für mich als Verkehrssenator wirbt, wenngleich nicht immer mit den richtigen und zutreffenden Argumenten.
Wichtiger sind mir die Berliner Erfahrungen. Die gewaltigen Herausforderungen, zu denen auch der Transrapid zählt, lassen sich nur bestehen, wenn sie gemeinsam von Staat und Wirtschaft angenommen werden. Das gilt auch für die neue Finanzierungsform, die hier gefunden worden ist.
Die altbekannten Argumente wurden eben in der Diskussion vorgetragen. Verkehrspolitisch führt der Transrapid zu einer gewünschten Verlagerung der Verkehre von Straße und Flugzeug. Ohne Transra-
Senator Dr. Herwig Eberhard Haase
pid wird auf der Verbindung Berlin-Hamburg mittelfristig nicht nur der Flugverkehr anwachsen. Es müßte auch eine Hochgeschwindigkeitstrasse des Rad-Schiene-Systems gebaut werden.
Bei den Baukosten, meine Damen und Herren, bitte ich einzubeziehen, daß die Brückenbauwerke zu Lasten der Kommunen auch in Ihren Wahlkreisen gehen.
Ich überlasse es Ihnen auch, die durch den damit verbundenen Flächenverbrauch bedingte Versiegelung des Bodens in ökologische Relationen zum unterlüfteten System der Magnetbahnstelzen zu stellen.
Gleichwohl: Das eigentliche Problem der Diskussion über den Transrapid liegt nicht im Bereich dieser Stellvertreterkriege. Die tatsächlich entscheidende Frage lautet: Zieht sich Deutschland zurück auf die Technologie des 19. Jahrhunderts, oder wagt es den Schritt in das 21. Jahrhundert?
Der Transrapid, meine Damen und Herren, stellt hier einen Quantensprung dar, der nur vergleichbar ist mit der Erfindung der schienengebundenen Eisenbahn selbst.
Der Bundespräsident hat dieser Tage von einer neuen Wagniskultur gesprochen und eingefordert, diese zu entwickeln. Der Bundeskanzler hat auf der Berliner Wirtschaftskonferenz die Bundeshauptstadt als Visitenkarte für die Zukunft Deutschlands gewertet. Das ist beides richtig. Was das wiedervereinigte Deutschland braucht, ist der revolutionäre Schwung der Gründerzeit,
die Bereitschaft, neue Wege zu beschreiten, neue Märkte zu erobern und damit Arbeit und Arbeitsplätze für heutige und künftige Generationen zu sichern.
Manch einer, meine Damen und Herren, hat geschmunzelt, als ich im Vorfeld der Transrapiddiskussion vom Zwei-Tages-Trip nach Peking gesprochen habe. Zugegeben: Niemand weiß, wann eine solche Strecke gebaut wird. Sicher ist allerdings: Baut Deutschland nicht seine Referenzstrecke zwischen Hamburg und Berlin, wird bei dem möglichen Bau einer eurasischen Magnetschnellbahn im kommenden Jahrhundert zumindest die deutsche Wirtschaft nicht dabei sein.
Wichtig aber ist vor allem: Hier geht es nicht um eine Stummelstrecke, sondern um den Startpunkt für ein neues Netz.
Hier geht es um eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke in Europa. Und deshalb bin ich dem Bundesverkehrsminister Wissmann ausgesprochen dankbar dafür, daß es ihm gelungen ist, den Transrapid in den TEN-Projekten zu verankern.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Abschluß noch einen weiteren Aspekt anführen. Hierbei wende ich mich besonders an jene Abgeordneten, die die norddeutschen Flächenstaaten vertreten. - Ich bin sehr in Eile, Herr Präsident, und bitte, keine Zwischenfragen zuzulassen.
Meine Damen und Herren, verstehen Sie bitte den Transrapid nicht als ein System, von dem die Nachbarn der beiden deutschen Metropolen Berlin und Hamburg nichts haben als überflüssige Belastung. Die Wiedervereinigung Deutschlands hat dem Norden und dem Osten unserer Republik die einmalige Chance gegeben, in Konkurrenz zur südwestdeutschen Wohlstandsbanane zu treten, die im „Focus" dieser Woche so plastisch dargestellt wurde.
Der Transrapid kann und wird die Achse sein für einen künftigen nordostdeutschen Wirtschaftsraum, der sich von Dresden über Berlin, Potsdam, Schwerin und Hamburg bis nach Bremen erstreckt. Der Transrapid gibt den Ländern im Norden und Osten unserer Republik die Möglichkeit, sich zu einem Kompetenzzentrum in Sachen Hochtechnologie zu entwickeln. Um diese Chance nicht zu verspielen, meine Damen und Herren, sagen die Länder Ja zum Bau dieser hochinnovativen Strecke,
und für das Land Berlin möchte ich mich jetzt schon bei all denen bedanken, die nach längerer und sorgfältiger Abwägung zugunsten der Verbindung zwischen Deutschlands größten Städten entschieden haben, zwischen Hamburg als dem Tor zur Welt und der Bundeshauptstadt Berlin als Verkehrsdrehscheibe im Herzen Europas.
Vielen Dank.
Ich erteile nun das Wort dem Abgeordneten Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Das für das Projekt Magnetbahn gewählte Verfahren ist feudal. Der Satz des französischen Sonnenkönigs „L'état c'est moi!" wird hier von Betonbolschewisten wie dem Kollegen Fischer, vor mir dem Senator Haase und nach mir dem Minister Wissmann mit „Den Bedarf bestimmen wir selbst" aktualisiert.
Dr. Winfried Wolf
Das hat in der Verkehrsgeschichte Tradition. Der Zar ließ 1837 die erste russische Eisenbahnstrecke, knapp am Bedarf vorbei, von Petersburg nach seiner Sommerresidenz Zarskoje Selo bauen. Der preußische König ignorierte die sinnvollen Eisenbahnpläne von Friedrich List und konzessionierte 1838 als erstes eine Eisenbahnstrecke von Berlin, Potsdamer Bahnhof, nach dem Sitz der preußischen Könige.
Heute werden die Feudalfürsten der Wirtschaft bedient. Das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz dekretiert in § 1 schlicht:
Es besteht Bedarf für den Neubau einer Magnetschwebebahnstrecke von Berlin nach Hamburg.
In § 2 heißt es ex cathedra weiter, diese Bedarfsfeststellung sei sakrosankt, also „verbindlich".
Die Welt steht Kopf. Die Marktwirtschaft verläuft nach Plan gegen den Bedarf und an die Wand. Da fördert die Eisenbahn die Konkurrenz Magnetbahn, just seit sie als Aktiengesellschaft, also angeblich dem Markt verpflichtet, daherkommt. Da untersagt Bahnchef Heinz Dürr den Abdruck einer vernichtenden Kritik am Transrapid in einer bahnnahen Zeitschrift.
Da wird plötzlich eine Magnetbahn mit zwei Kopfbahnhöfen gebaut, wo uns doch soeben anhand des Berliner Lehrter Bahnhofs erklärt wird, daß nur noch Durchgangsbahnhöfe postmodernen Sinn machten. Da soll die Deutsche Bahn AG gar Mitbetreiberin des Transrapid werden, d. h. die eigene Konkurrenz fördern.
Letzteres hat übrigens Tradition: Auf Geheiß der NS-Führung mußte die Reichsbahn das Tochterunternehmen Reichsautobahn-Gesellschaft gründen, also die Konkurrenz durch den Straßenverkehr fördern.
Da stellt dieses Hohe Haus als Bedarf fest: Mindestens fünfmal mehr Menschen aus Hamburg haben nach Berlin und umgekehrt fünfmal mehr Berliner Schnauzen haben an die Alster zu schweben, fünfmal mehr, als die Summe aller heutigen Fahrten mit Auto, Flugzeug und Bahn ausmacht.
Die Wissenschaft wird für unzuständig erklärt. Man verbittet sich jedes Hineinreden eines Professors Aberle und des Wissenschaftlichen Beirats des Verkehrsministeriums als Eingriffe in ein immerhin im Wortsinne „schwebendes Verfahren".
Die Erde ist eine Scheibe. Galilei grüßt mit „Over, Roger". Gegeben wird das Stück „Dinosaurier im Jurassic Park" .
Ja, auf die Magnetbahn trifft der Begriff „ Dinosauriertechnik " zu. Sie widerspricht so gut wie allen Anforderungen moderner Verkehrsplanung: Die Magnetbahn ist nicht kompatibel mit anderen Verkehrsmitteln. Sie eignet sich nur für Personenverkehr und
zwingt zu parallelen Verkehrssträngen der Bahn. Sie ist noch energieaufwendiger als der bereits nicht energiesparende ICE, also beachtlich umweltschädigend.
Es handelt sich um eine 10 Milliarden DM teure Doppelinvestition;
gerade wurde die Strecke Hamburg - Berlin für vier Milliarden DM ausgebaut.
Unsere Gesellschaft wird sich den Betrieb am Ende schlicht nicht leisten können. Oder in den Worten des ehemaligen SPD-MdB Daubertshäuser aus dem Jahr 1983: „Ich sehe rund vier Milliarden DM Subventionen pro Jahr auf den Staat zukommen".
Schließlich bedient der Transrapid eine eng begrenzte Klientel, den Geschäftsreisefernverkehr, und eine künstlich produzierte neue Form des Vergnügungsverkehrs, das sogenannte City-hopping: Die Berliner sausen nach Hamburg ins „Phantom der Oper", die Hamburger verlustieren sich in Berlin an „Miß Saigon" mit Berliner Weiße. In beiden Städten wird gleichzeitig dezentrale Kultur abgebaut, um diese langen Wege zu fördern.
Sicher, es gibt noch die Argumente „Referenzstrecke", „Weltmarkt" und „Geschwindigkeit". Dazu lassen sich ein paar ernsthafte Fragen stellen.
Warum sollen fünf und mehr Milliarden DM Steuergelder für private Interessen der Industrie aufgewandt werden? Und wenn das schon sein muß: Warum nicht gleich die Referenzstrecke als feudales Geschenk in die saudische Wüste setzen? Dann bleibt immerhin das Problem „Wintertauglichkeit" ausgeklammert. Ist es nicht grotesk, daß in der jüngst hier debattierten Lateinamerika-Resolution der Bundesregierung ernsthaft der Export des noch nicht einmal real schwebenden Transrapid nach Südamerika proklamiert wurde? Als ob die dort nicht andere Probleme hätten!
Schließlich wäre zu fragen: Sollten wir statt des Anhimmelns eines Geschwindigkeitsrausches und statt des machistischen Glaubens an „Natur- und Technikbeherrschung" nicht den Forderungen nach „Entschleunigung", nach „Entdeckung der Langsamkeit" und damit nach gedanklicher Ruhe und einem Zugewinn an Demokratie Gehör gewähren, Forderungen, wie sie übrigens zuerst von dem Jesuitenpater Ivan Illich aufgestellt wurden?
Meine Damen und Herren, auslaufende Gesellschaftsmodelle haben die Eigenart, sich nicht nur in Kriegen zu erschöpfen, sondern sich auch in abstrusen Techniken totzulaufen. Die NS-Herren Speer und Hitler wollten partout eine gigantische Breit-
Dr. Winfried Wolf
spureisenbahn in die Welt setzen. Die sowjetischen Bürokraten planten, den Flußlauf der Wolga umzukehren. Und hier soll dekretiert werden, daß ein Bedarf an gesellschaftlicher Mobilität besteht wie in einem Hamsterrad mit Kugellager.
Sie müssen zum Schluß kommen.
Letzter Satz: Der Antrag der Grünen findet unsere volle Unterstützung. Der Antrag der PDS bietet die einmalige Gelegenheit, Vernunft zu beweisen - durch die einfache Feststellung, daß Wissenschaft nicht, wie bei Galilei, ausgeklammert werden kann.
Danke schön.
Herr Dr. Wolf, Sie haben, wie mir von mehreren Seiten bestätigt wird, in Ihrem Beitrag zwei Kollegen des Hauses als „Betonbolschewisten" bezeichnet.
Dieser Ausdruck kann in einer parlamentarischen Debatte nicht akzeptiert werden. Ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Werner Kuhn das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte ufert für meine Begriffe in Unsachlichkeit aus und befaßt sich überhaupt nicht mehr mit dem eigentlichen Problem, neue Technologien in Deutschland einzuführen.
Daß wir bei der Rad-Schiene-Technik absolut am Ende angekommen sind, sagt Ihnen jeder Fachmann.
Herr Steenblock, ich war über Ihren Beitrag hier einigermaßen bestürzt. Eine solche technische Naivität und derartiger kaufmännischer Dilettantismus haben mich vom Hocker gerissen. Wenn die Ingenieure und Kaufleute vor 150 Jahren solche Berichte beim Bau der Eisenbahn in Deutschland abgeliefert hätten, hätte der Kaiser die Eisenbahn verboten; denn es gab ja genügend Pferdekutschen.
Herr Dr. Wolf, Sie haben für die PDS den Platz von Frau Dr. Enkelmann im Verkehrsausschuß eingenommen, nachdem sie ausgeschieden ist, und baten um Nachsicht, daß Sie „fachlich noch nicht so gut drauf" seien, so daß wir Ihnen einiges nachsehen müßten. Heute haben Sie einen Beitrag abgeliefert, den man Ihnen nicht einfach nachsehen kann. Sie haben Äpfel mit Birnen verglichen und nicht ein bißchen Verständnis von Verkehrspolitik gezeigt. Das war reiner Populismus, reine Ideologie.
Sie als SED-Nachfolgepartei können es ja auch nicht anders. Früher in der DDR haben Sie einen Parteitag einberufen, als der 1-Megabit-Chip von CarlZeiss-Jena entwickelt werden sollte. Wissen Sie, wie lächerlich das war? Als Sie ihn dann fertig hatten, waren bei den anderen längst 8-Megabit-Chips produktionsreif. Diese Scheuklappen haben Sie immer noch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute sind schon viele richtige Dinge genannt worden, auch von Herrn Röhl. Aber wenn Sie, Herr Steenblock, nicht zwischen einer Geschwindigkeit von 50 Kilometern in der Stunde und einer Geschwindigkeit von 200 Kilometern in der Stunde unterscheiden können, tun Sie mir leid. Denn es ist eindeutig nachweisbar: Die Geräuschemission des Transrapid beträgt bei einer Geschwindigkeit von 200 ein Drittel von der der herkömmlichen Rad-Schiene-Verbindung.
Sie als Grüne müßten mich normalerweise umarmen und sagen: Jawohl, endlich haben wir die richtige Technologie.
Ihre spezifische Energie ist umweltschonend, sie hat geringere Schallemissionen.
- Ist ja in Ordnung, Frau Ferner. Ihr Rechenmodell hinkt eh; denn Sie haben immer vergessen, daß die Betreibergesellschaft für die Nutzungsgebühr im Fahrweg 2,4 Milliarden DM zahlt. Dann müssen wir nur noch 3,3 Milliarden DM finanzieren.
Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Steenblock?
Von Herrn Steenblock gern.
Das freut mich. - Lieber Kollege, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, daß man die erzeugten Lärmemissionen der Betriebssysteme ICE und Transrapid nur hinsichtlich ihres jeweiligen systemspezifischen Be-
Rainder Steenblock
reichs vergleichen kann? Sie dürfen nicht ständig Äpfel und Birnen miteinander vergleichen,
sondern müssen von den Lärmemissionen, die ein ICE und die ein Transrapid normalerweise im Betrieb erzeugen, also jeweils von den systembedingten Geschwindigkeiten ausgehen.
Ich habe nichts anderes gesagt als das: Wenn man die Lärmemissionen im Bereich der systembedingten Geschwindigkeiten vergleicht, dann ist der Transrapid doppelt so laut wie der ICE.
Darüber lache ich ja. Eine Rad-Schiene-Verbindung ist formschlüssig; sie alleine erzeugt schon Lärm. Beim ICE erzeugt zum einen der Luftwiderstand, der überwunden werden muß, durch das Entstehen von Turbulenzen und Verwirbelungen Geräuschemissionen, zum anderen die Rad-Schiene-Verbindung. Beim Transrapid fällt letzteres durch die Magnetschwebetechnik weg. Das Magnetpolster ist absolut geräuschlos. Es muß nur noch der Luftwiderstand - der natürlich Schallemissionen erzeugt - energietechnisch überwunden werden.
Dabei müssen Sie die gleichen Geschwindigkeiten auf eine Basis setzen. Dann werden Sie sagen: Jawohl, der Kuhn hat recht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will mich jetzt diesbezüglich nicht weiter über die Vorteile der Magnetschwebetechnik auslassen. Fakt ist einfach: Wenn jetzt nicht das Magnetschwebebahnplanungsgesetz und das Allgemeine Magnetschwebebahngesetz, nämlich für die Betriebszulassung, hier zügig beschlossen werden, dann werden wir im Know-how, in der High-Tech weiter an Boden verlieren.
Es ist Eile geboten. Die Zeit läuft uns davon. Wir müssen letztendlich auch auf Passagierzahlen reagieren, die sich in den nächsten zehn Jahren zwischen diesen beiden Ballungsräumen Hamburg und Berlin entwickeln werden. Wir haben zur Zeit 1,5 bis 1,8 Millionen Passagiere, die im Regionalverkehr auf der jetzt noch nicht einmal auf 160 Kilometer pro Stunde ausgebauten ganz normalen Eisenbahnstrecke fahren. Diese Zahl wird sich verzehnfachen.
- Jawohl, die Zahl wird sich verzehnfachen. Da können Sie sämtliche Fachleute noch einmal konsultieren. Ich sage Ihnen: Intraplan als entsprechendes Ingenieurbüro hat eindeutig unsere Aussage noch einmal bestätigt und gezeigt: Jawohl, die Prognose 14,5 Millionen Menschen an Fahrgastaufkommen in zehn Jahren ist absolut real. So werden wir auch planen und werden uns von Ihnen davon nicht abbringen lassen. Das Finanzierungskonzept steht ebenfalls.
- Das stimmt!
Wenn Sie es mit dem Umbau des Verkehrssystems in Richtung Ökologie wirklich ehrlich meinen, darin müssen Sie einfach sagen: Der Umstieg aus dem Flugverkehr ist sehr wichtig. Es wurde heute schon gesagt: Die Expreßflüge, die wir haben, können wir uns einfach nicht mehr leisten. Sie sagen doch selber immer wieder: Kerosinbesteuerung, CO2-Erzeugung usw.
- Aber die Magnetschwebetechnik ist doch eine Analogie dazu.
Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, heute war im Haushaltsausschuß genau der Verkehrshaushalt Thema der Beratung in der ersten Lesung, begleitend dazu natürlich die Gesetze, die den Transrapid betreffen. Wären Sie bitte so freundlich, zur Kenntnis zu nehmen, daß selbst im Gesetzestext steht, daß die Finanzierung erst noch durch Vertrag vereinbart werden muß. Es ist bisher nur ein Rahmen festgelegt, der im Gesetz steht.
Aber es steht im Text, daß das erst vertraglich ausgehandelt werden muß. Bevor dies nicht geschehen ist, würde ich mich an Ihrer Stelle hüten zu behaupten, daß die Finanzierung gesichert wäre.
Sie sollen eine Frage stellen.
Könnten Sie mir dazu bitte Ihre Meinung sagen?
Passen Sie einmal auf: Wir haben Rahmenbedingungen dafür beschlossen, daß wir die Finanzierung und den Bau einschließlich der Planung insgesamt in den nächsten zehn Jahren durchbekommen. Wenn Sie weiter die Blockierer
Werner Kuhn
spielen und tausend Einwände dagegen haben, einmal hü, einmal hott, im Bundesrat zum Teil ja, dann wieder nein, dann werden wir nie dazu kommen, diesen Rahmen auszugestalten und hinzubekommen.
Deshalb lade ich Sie herzlich dazu ein: Arbeiten Sie mit daran, daß wir das Modell auch zusammenbekommen, ansonsten werden wir, gerade im Städteschnellverkehr, in der entsprechenden Städteschnellverbindung, weiter an Boden verlieren. Wenn Sie sagen: Der ICE ist enorm besser, ökonomischer, und ich brauche dann auch nicht den Individualverkehr, wie wollen Sie das denn hinbekommen? Selbst wenn Sie eine Hochgeschwindigkeitsstrecke im ICE-Bereich bauen, Herr Steenblock, brauchen Sie immer noch die 14,5 Millionen Fahrgäste, die Sie transportieren wollen.
- Natürlich müssen Sie sie haben!
Billiger? Auch da kommen die Leute mit ihrem Pkw angefahren, stellen sich auf den Parkplatz und steigen um.
- Von wegen Insellösung, Frau Ferner. Es ist keine Insellösung. Oder werden Sie denn in der Sänfte im Hamburger Bahnhof vom ICE in den Regionalexpreß getragen? Genausogut können Sie doch umsteigen.
Das ist doch kompatibel. Etwas anderes kann mir doch keiner erzählen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin am Ende meiner Rede.
Lassen Sie uns die Transrapid-Projekte zügig in Angriff nehmen! Wir dürfen nicht anderen den Technologievorsprung überlassen. Eile ist geboten. Ich habe es Ihnen gesagt. Uns läuft die Zeit weg.
Vielen Dank.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Klaus Hasenfratz das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte meine Redezeit nicht dazu benutzen, auf den großen Unsinn des Kollegen Kuhn Antwort zu geben.
Mir geht es heute darum, klar festzustellen: Es geht nicht um Technikfeindlichkeit - ja oder nein -, sondern es geht hier um die zentrale Frage: Wie
setze ich die knappen Mittel so intelligent ein, daß erstens die zukünftige Leistungsfähigkeit unserer Verkehrssysteme ökonomisch und ökologisch optimal erreicht wird und zweitens die dazu notwendigen Innovationen für den Industriestandort Deutschland ein weltweiter Erfolg werden?
Mit Ihrer Entscheidung, Herr Wissmann, die Magnetschwebebahn ausgerechnet zwischen Berlin und Hamburg fahren zu lassen, erweisen Sie dem Industriestandort einen Bärendienst.
Ich möchte Ihnen kurz darlegen, warum.
Erstens. Die von der Projektlobby angenommene Zahl von 14,5 Millionen verkauften Tickets im Jahre 2010 - das sind 40 000 pro Tag - ist illusionär.
Wenn Sie sich dazu unterschiedliche Zahlen von unterschiedlichen Instituten holen, soll das dem Schönrechnen Ihrer Darlegung der Wirtschaftlichkeit dienen. Ihr eigener Wissenschaftlicher Beirat hat die Zahl schon auf 11 Millionen Tickets korrigiert. Damit fällt die gesamte Rentabilitätsrechnung in sich zusammen.
Zweitens. Ihre Hoffnungen auf Tausende neuer Arbeitsplätze sind bereits von einer Studie der Deutschen Genossenschaftsbank als irreal bezeichnet worden. Wegen der EU-weiten Ausschreibungen ist keineswegs sicher, daß die beteiligten deutschen Unternehmen den Löwenanteil des Milliardenprojektes unter sich aufteilen können.
Drittens. Der Transrapid ist ein Fremdkörper, nicht nur im Übergang zur Eisenbahn, sondern auch gegenüber den Verkehrssystemen der beiden Städte wie S-Bahn und U-Bahn. Kommt der Autofahrer mit dem Auto zum Transrapidbahnhof, wird es eng. Wenn die Hälfte der erwarteten 15 000 Passagiere mit dem Auto käme, müßten an den Stadtrandstationen jeweils mindestens 190 000 Quadratmeter für Parkflächen entstehen - ein städtebaupolitischer Schwachsinn.
Viertens. Die konfliktfreie Einfädelung in die Städte ist nach wie vor ungeklärt.
- Wo haben Sie die geklärt? Es wird immer von „oder da", „oder da", „oder da" gesprochen. Sagen Sie mir einmal: Was ist geklärt, wenn jemand laufend sagt „oder, oder, oder"?
Das ist vielleicht Ihre Auffassung von Geklärtheit.
Sie haben Mecklenburg-Vorpommern einen Haltepunkt in Schwerin versprochen. Wie der genau aussehen soll, weiß noch kein Mensch. Ihrer Pflicht, ein
Klaus Hasenfratz
solides Planungs- und Bedarfskonzept zu erstellen, können und wollen Sie nicht nachkommen; denn dann müßten Sie den verkehrs- und finanzpolitischen Offenbarungseid leisten.
Fünftens. Sie zwingen die DBAG mit dem Transrapid in die Rolle ihres eigenen Totengräbers. DIW-Berechnungen zufolge drohen der Bahn durch Umsteiger mögliche Umsatzausfälle von bis zu 300 Millionen DM jährlich. Der Transrapid-Berechnung liegt ein weitestgehend zurückgeschraubtes Bahnangebot zugrunde: ein Interregio-Takt von zwei Stunden - mehr ist nicht mehr drin. Die Bahn wird davon abgehalten, für die Strecke Hamburg-Berlin ein vernünftiges, attraktives Angebot für die nächsten Jahre zu entwikkeln.
Die Bürger von Hamburg und Berlin werden auf dieser Strecke vom Schnellverkehrsschienennetz auf Dauer abgekoppelt. Dies steht eindeutig im Widerspruch zur Bahnreform und wird garantiert durch ausländische Anbieter konterkariert, etwa den Dänen oder den Schweden.
Diese werden auf Grund der diskriminierungsfreien Zulassung Dritter zum Schienennetz mit der herkömmlichen Rad-Schiene-Technik die Strecke Hamburg-Berlin bedienen. Sie werden uns dann vorführen, wie man es macht.
Ich prophezeie Ihnen: Spätestens in zwei oder drei Jahren wird eine neue Diskussion vom Zaun gebrochen. Eine alternative ICE-Verbindung zwischen den beiden Städten ist nur eine halbe Stunde langsamer, aber bis zu 6 Milliarden DM billiger.
Sie hängen der DBAG einen Klotz ans Bein. Die Bahn soll ihre Systemvorteile nicht nutzen, darf nicht investieren und muß nach Ihrem Willen die Preise hochhalten. Am bösen Ende muß sie die Finanzlöcher stopfen, die Sie mit Ihrem unseriösen Verhalten aufgerissen haben.
Die SPD hat daher beantragt, die Strecke Hamburg-Berlin auf keinen Fall von dem europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn abzukoppeln, sondern auf eine Entwurfsgeschwindigkeit von 200 km/h zu verbessern.
Sechstens. Industriepolitisch ist das Referenzprojekt Berlin-Hamburg äußerst kritisch zu bewerten. Ich sehe beim besten Willen nicht, daß das Ausland für den angeblichen Verkaufshit Schlange steht. Da nicht zu erwarten ist, daß auf dieser Referenzstrecke alle nichttechnischen Ziele erreicht werden, muß die Sache nach hinten losgehen.
Von der Vielzahl internationaler Systemvergleiche in Brasilien, Taiwan oder China hat der Transrapid keinen einzigen gewonnen. Das sollten Sie sich einmal zu Gemüte führen. Der Transrapid mag das Nonplusultra für Nevada oder Australien sein, aber nicht für die Strecke zwischen Hamburg und Berlin.
Man sollte sich noch einmal klarmachen, wie absurd es ist, fast parallel zu einer existierenden Eisenbahnlinie Betonpfeiler in den Boden zu rammen, auf dem ein „Neunmilliardending" mit einem Nachfragepotential verkehrt, das in irgendwelchen Wolkenkuckucksheimen errechnet wurde.
Ich frage Sie noch einmal: Wo um Himmels willen sollen denn die Fahrgastmassen für dieses zusätzliche Verkehrsmittel herkommen, wenn sie jeden Zeitvorteil durch umständliche Zufahrts- und Zugangswege verlieren?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Ja.
Herr Kollege Hasenfratz, wie können Sie sich als Abgeordneter der SPD aus Nordrhein-Westfalen angesichts Ihrer doch sehr harten Philippika erklären, daß die neue Landesregierung, gestellt von SPD und Grünen, die ansonsten an Verkehrsfeindlichkeit kaum zu überbieten ist, in dieser Frage den beiden Gesetzen im Bundesrat nicht ein Nein entgegengesetzt, sondern sich lediglich der Stimme enthalten hat?
Es ist schon eigenartig, daß Sie sich bei der Abstimmung der einzelnen Länder immer die Pickmethode zu eigen machen: Wenn die Länder Ihren Gesetzentwürfen nicht zustimmen, sondern dagegen stimmen, dann erwähnen Sie diese Länder überhaupt nicht. Wenn es Ihnen nach der Pickmethode paßt, wenn sich ein Land enthalten hat oder - wie Hessen - dafür gestimmt hat, dann treten Sie hier groß auf.
Herr Kollege Hasenfratz, gestatten Sie eine zweite Frage des Kollegen Fischer?
Ja, bitte.
Herr Kollege Hasenfratz, wollten Sie mit dieser Bemerkung zum Ausdruck bringen, daß im Kabinett Rau keine inhaltliche Meinungsbildung zu dem Bundesratsvotum stattgefunden hat, sondern im Bundesrat rein nach dem Zufallprinzip votiert worden ist?
Dafür fehlt Ihnen das Geld, wenn Sie ein neues Milliardengrab für ein technisches Unikum schaufeln, das wir nicht brauchen und das auch sonst keiner will. Wer wie Sie im zusammenwachsenden Europa technische Insellösungen fördert, verhält sich in Wahrheit technikfeindlich.
Wir halten daran fest, daß das vorrangige verkehrs- und industriepolitische Ziel in Europa sein muß, ein leistungsfähiges, vollkompatibles gesamteuropäisches Schienennetz zu schaffen. Es hat mit solider Finanzpolitik zu tun, wenn wir feststellen, daß die finanziellen Risiken des Transrapids dem Steuerzahler aufgebürdet werden. Es ist vorausschauende Industriepolitik, wenn wir sagen, daß auf Dauer der internationale Markt für spurgebundene Hochgeschwindigkeitssysteme von der Rad-Schiene-Technik dominiert sein wird. Deshalb haben doch auch Sie, Herr Wissmann, im Juli anläßlich des Besuchs des chinesischen Staatspräsidenten den ICE in höchsten Tönen gelobt - oder?
Sie sind in einem Erklärungszwang, wenn Sie den ICE jetzt als die zweitbeste Lösung abstempeln. Wir haben gute Gründe, warum wir gegen den Bau einer 285 km langen und mindestens 9 Milliarden DM schweren Transrapid-Referenzstrecke zwischen Hamburg und Berlin sind.
Ich stelle noch einmal fest: Die Bundesregierung stürzt sich in ein neues unseriöses finanzpolitisches Abenteuer. Alle Abweichungen von den Planannahmen der sogenannten Wirtschaftlichkeitsberechnung gehen zu Lasten des Steuerzahlers. Dieses überdimensionierte Projekt ist verkehrspolitisch unsinnig, in seinen finanziellen Risiken für den Steuerzahler nicht zu vertreten und industrie- und exportpolitisch verfehlt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Verkehr, Matthias Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist von einigen Rednern von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN der Eindruck erweckt worden - einer hat gar das Wort „hinterwäldlerisch" gebraucht -, wir würden eine provinzielle Entscheidung treffen.
Nein, das meine ich nicht damit.
Herr Kollege Hasenfratz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ferner?
Herr Kollege Hasenfratz, können Sie mir bestätigen, daß es im Bundesrat, um einem Gesetz, einem Gesetzentwurf die Zustimmung zu erteilen, auf Ja-Stimmen ankommt und daß Nein- Stimmen genauso wie Enthaltungen keine Zustimmung sind und so das erforderliche Quorum nicht zustande kommt?
Das kann ich bestätigen.
Gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Fischer?
Ja, bitte.
Herr Kollege Hasenfratz, darf ich also Ihre Bemerkung so verstehen, daß das Kabinett Rau mit Beteiligung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD nach einer Meinungsbildung im Kabinett sehr bewußt das Bundesratsvotum so abgegeben hat, daß nicht mit Nein gestimmt worden ist, sondern daß man sich der Stimme enthalten hat?
Sie können noch hundert Fragen stellen, das können Sie trotzdem weder mir noch dem Ministerpräsidenten Rau unterstellen.
Ich frage Sie, Herr Wissmann: Wie wollen Sie das dringendste Verkehrsproblem - den Straßengüterverkehr - lösen? Es ist doch vor allem der rasant zunehmende Straßengüterverkehr, der uns mehr und mehr die Luft abschnürt. Nur das Rad-Schiene-System bietet die Chancen, die Güterströme langfristig ökonomisch und ökologisch zu bewältigen.
Um aber Güter von der Straße auf die Schiene und das Binnenschiff zu bekommen, brauchen wir nicht nur ein leistungsfähiges Schienensystem, sondern auch neue Container- und Verladetechniken, neue Logistiksysteme. Kurz gesagt: viel Geld für zukunftsträchtige technologische und organisatorische Innovationen. Hier liegen unsere Exportchancen.
Bundesminister Matthias Wissmann
Wie man diese Äußerungen zu bewerten hat, zeigt sich schlicht an einem Faktum aus der letzten Woche. In der letzten Woche hat uns die Nachricht erreicht, daß sich Japan entschließt, im nächsten Jahr den Probebetrieb einer Magnetbahnstrecke aufzunehmen und weitere Milliarden aufzuwenden, um den Anschluß bei dieser Technologie zu finden.
Ich frage mich: Wo steckt eigentlich die wirtschafts- und industriepolitische, die technologie- und verkehrspolitische Konzeption, wenn wir in einer Zeit, in der wir um Arbeitsplätze, um Perspektiven für junge Menschen in einem Hochlohn- und Hochleistungsland ringen, bei einer Technologie, bei der wir weiter sind als die Japaner, den Versuch abgeschlossen haben und die technische Einsatzreife bestätigt worden ist und die Japaner versuchen, uns hinterherzukommen, immer noch Leute haben, die den Transrapid wieder ins Museum fahren lassen wollen? Da kann ich den Sozialdemokraten nur sagen: Lernt von Tony Blair bei der Labour Party und gebt eure Politik auf, die in die Vergangenheit statt in die Zukunft weist!
Wir haben heute die beiden Entwürfe des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes und des Allgemeinen Magnetschwebebahngesetzes zu beraten. Es geht dabei darum, daß wir den vordringlichen Bedarf für diese Strecke feststellen, die Planfeststellungsbehörden entlasten und Zeit gewinnen. Zeit ist, wenn es um Hochtechnologie, wenn es um den Wettbewerb auf den Weltmärkten geht, am Ende bares Geld und hat Wirkungen für Arbeitsplätze.
Es kommt doch nicht von ungefähr, daß gestandene Sozialdemokraten zu mir kommen und sagen: „Tut alles, damit es schnell geht", daß der Bürgermeister von Hamburg, Henning Voscherau, für dieses Projekt einsteht, daß Betriebsratsvorsitzende von Thyssen-Henschel, von Siemens zu mir kommen und händeringend sagen: „Wir müssen Arbeitsplätze erhalten und entwickeln, helft uns, daß der Transrapid bald kommt", daß ein so abgeklärter und nüchterner Mann wie Georg Leber mir bei einer öffentlichen Veranstaltung zuruft, er sei froh, daß ich das Transrapid-Konzept durchsetze und durchtrage; er habe schließlich die Weichenstellungen in den 70er Jahren getroffen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie es nicht von uns hören wollen, dann nehmen Sie es doch Georg Leber ab, daß er mit dem Abstand auf Grund seines Alters auch heute noch weiß, was dem Land guttut. Es wäre gut, wenn Sie davon lernen würden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Argumente aufgreifen, die angesprochen worden sind: Insellösung. Inzwischen ist die Planungsgesellschaft dabei, die Einfädelung sowohl nach Hamburg als auch nach Berlin sicherzustellen. In Hamburg haben sich drei Varianten herauskristallisiert, die alle
am Hauptbahnhof enden. Von den in Berlin untersuchten elf Trassenvarianten sind ebenfalls drei übriggeblieben, denen allen gemeinsam ist, daß sie einen Gelenkpunkt im Bereich des Autobahndreiecks Charlottenburg berühren und von dort die Möglichkeit besteht, sowohl den Nordring zum Endbahnhof Lehrter Bahnhof als auch den Südring zum Endbahnhof Papenstraße zu benutzen. Also, das Argument, wir würden sozusagen auf der grünen Wiese enden, es gebe keine Vernetzung mit dem Nahverkehr und dem Schienenfernverkehr, wird durch die Realität aus der Diskussion herausgenommen. Der Transrapid wird keine verkehrspolitische Insel. Er wird ins europäische Netz integriert. Daß inzwischen die Europäische Union entschieden hat, ihn ins Transeuropäische Netz aufzunehmen, zeigt doch, daß Sie provinziell alleinstehen, wenn Sie den Transrapid immer noch ablehnen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ferner?
Gerne, Frau Kollegin Ferner.
Herr Minister, Sie haben mir mit dem Stichwort Berlin noch einmal einen Grund zu einer Zwischenfrage gegeben. Senator Haase hat soeben gesagt, daß Berlin an seine Zustimmung im Bundesrat bestimmte Bedingungen geknüpft hat. Sie schreiben in einem Buch, das der Senator mir vor der Sitzung überreicht hat und in dem es um die Verkehrsplanung in Berlin geht:
Der Senat hat im Bundesrat dem Magnetschwebebahnplanungsgesetz unter folgenden Voraussetzungen zugestimmt: daß u. a. wesentliche Randbedingungen erfüllt werden. Erste Randbedingung: Das mit dem Bund und der Deutschen Bahn AG abgestimmte Eisenbahnkonzept darf nicht zu Lasten der Bahn verändert werden.
Einer der nächsten Punkte:
Die Kostenübernahme, die sich aus der notwendigen Anbindung an den Fern-, Regional- und Nahverkehr ergibt, wird grundsätzlich nach dem Verursacherprinzip geregelt. -
Das heißt, die Kosten wären dann quasi von der Transrapid-Gesellschaft zu tragen. Was sagen Sie dazu, Herr Minister?
Frau Kollegin Ferner, die Antworten sind ganz einfach. Sie ergeben sich im übrigen auch schon aus früheren Stellungnahmen der Bundesregierung und aus dem, was wir beispielsweise morgen durch den Spatenstich des Bundeskanzlers erleben. Der Bund steht nicht nur zu seiner Zusage zum Transrapid, sondern steht auch zu seinen Zusagen zum Eisenbahnknoten
Bundesminister Matthias Wissmann
Berlin: Berlin-Magdeburg, Berlin-Potsdam, Berlin-Hannover und zur künftigen regionalen Schienenstrecke Hamburg-Berlin. Alles das gehen wir mit Hochdruck an. Ich werde beispielsweise Ende des Jahres die Fertigstellung des dritten Verkehrsprojekts „Deutsche Einheit", über Magdeburg nach Berlin, feiern können. Der Bundeskanzler macht morgen den ersten Spatenstich zu dem großen 10-MilliardenDM-Konzept „Eisenbahnknoten Berlin".
Wir nehmen von dem, was wir gemacht haben, nichts weg.
Meine Damen und Herren, sind wir doch einmal ganz offen: Keiner kann glauben, daß ein Verkehrsträger allein die riesigen Verkehrsprobleme der Zukunft lösen wird. Jeder muß wissen, daß wir bei den Verkehrszuwächsen - Schiene, Straße, Transrapid und Wasserstraße - eine optimale Vernetzung der Verkehrsträger brauchen.
Ich sage auch: Ich setze nicht auf eine Technologie. Mir ist die ICE-Technologie in ihren modernen Varianten, die jetzt zunehmend kommen, beispielsweise die ICE-Neigetechnik, genauso wichtig. Mir geht es am Ende darum, daß wir unsere Verkehrsprobleme lösen. Aber mir geht es in einem Hochkostenland, in dem wir um Arbeitsplätze ringen, auch darum, daß wir in ein Zeitalter gehen, in dem die Bahnen eine Renaissance erleben werden. Die Frage ist, ob wir mit den modernsten Technologien hier und weltweit dabei sind.
Meine Damen und Herren, ich war im Frühjahr mit einer Delegation der Bahnindustrie in China. - Liebe Kollegen, Herr Präsident, ich glaube, daß es bei solchen Gelegenheiten gut ist, wenn Emotion im Spiel ist, daß es aber auch gut ist, wenn man die Ruhe hat, über meine strategische Perspektive nachzudenken. - Ein Land wie China würde statt 2 Millionen PrivatPkws 480 Millionen Privat-Pkws haben, hätte es die durchschnittliche Autodichte von Westeuropa. Es ist doch ganz klar - und es war Gegenstand unseres Besuches in China -: Wir brauchen eine lange währende Kooperation der Bahnindustrien in ihren verschiedenen Ausformungen - U-Bahn-Systeme, S-Bahn-Systeme, Neigetechniksysteme, vielleicht auch Transrapid-Systeme -, um die Ressourcen dort optimal zu nutzen und auch zu ökologisch besseren Lösungen zu kommen.
Jetzt sage ich noch eines: Was wir in Deutschland nicht haben, sind Rohstoffe; was wir in Deutschland haben, sind Ideenreichtum, Kreativität, Erfindergeist.
Wer diese Stärken nutzt, der schafft die Arbeitsplätze von morgen, und wer sich verweigert, der verliert im Wettbewerb auf den globalisierten Märkten.
Das, meine Damen und Herren, ist der tiefere Grund, weshalb ich mich frage, warum eine Partei mit einer solchen Tradition wie die SPD bei diesem Thema so erbärmlich wackelt.
Heute wieder im Haushaltsausschuß: die einen dafür, die anderen dagegen.
Im Bundesrat: die einen Enthaltung, die anderen dafür. Mancher sagt dann noch hinter vorgehaltener Hand, daß er eigentlich für den Transrapid sei, und einigen Gesichtern habe ich hier vorhin angesehen, wie groß die Zweifel an der von dieser Stelle bekundeten Ablehnung sind.
Meine Damen und Herren, ich sage ganz offen: Für mich ist das nicht in erster Linie ein parteipolitisches Thema. Aber ich frage mich, wie Sie als SPD eigentlich aus der Krise kommen wollen, wenn Sie die Modernisierungsfragen so beantworten, wie Sie sie heute wieder beantwortet haben.
Sie können von einem ausgehen: Wir rechnen scharf, wir arbeiten solide, unsere Zahlen sind verläßlich.
Die Rentabilitätsrechnungen, Herr Kollege Hasenfratz, gehen davon aus, daß bereits ab 10 Millionen Passagiere Rentabilität erreicht wird. Die größten Skeptiker haben errechnet, daß wir im Jahr 2010 mehr als 10 Millionen Passagiere haben werden. Ich verweise auf einen Mann wie Herrn Professor Rothengatter, der ursprünglich kein Freund des Transrapid war.
Deswegen sage ich Ihnen: Wir werden dieses Konzept mit Entschiedenheit weiterführen; denn wir wissen, daß am Ende dieses Land positive Antworten hinsichtlich der neuen Technologien braucht, wenn es auch im kommenden Jahrhundert zukunftsfähig bleiben will. Meine Bitte ist: Denken Sie um und hängen Sie sich nicht von der Modernisierung ab! Es schadet dem Land - und am allermeisten schadet es Ihnen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Ernst Schwanhold das Wort.
Herr Kollege Wissmann, wir haben in diesem Land Probleme mit der Technikakzeptanz; das ist richtig.
Ernst Schwanhold
- Lassen Sie es einmal sein! Ich versuche doch, eine Antwort zu finden, auf die man sich verständigen kann. Ich bitte Sie, dies nicht durch Zwischenrufe zu unterbrechen. Sie können mir ja hinterher antworten.
Dies scheint das eigentliche Standortrisiko der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Das hat etwas mit kurzen Amortisationszeiten bei der Einführung von Techniken zu tun. Es hat aber auch etwas mit menschlichen Ängsten zu tun, die man nicht mit Reden, wie Sie sie hier gehalten haben, abbauen kann.
Deshalb bitte ich Sie sehr herzlich, auf die anstehenden Probleme angemessen einzugehen und auch die ökonomischen Probleme so zu würdigen, daß sich die Menschen, die sich darüber Sorgen machen, darin wiederfinden.
Ich mache noch eine Vorbemerkung: Ich bin für den Wettbewerb von Verkehrssystemen. Aber ich bin nicht für einen Wettbewerb um Subventionen, 'wenn parallele Strecken gebaut werden, die zwangsläufig beide in Defizite abgleiten müssen.
Deshalb: Suchen Sie nach einer Strecke, die sich rentabel betreiben läßt. Es ist ein gutes Verkaufsargument, eine Strecke vorzuführen, die sich selbst trägt und mit der man Geld verdienen kann.
Lassen Sie bitte die Bemerkung sein, daß die Betriebsräte zu Ihnen kommen und sagen, wir sollten den Transrapid bauen. Natürlich kommen Betriebsräte auch zu uns und sagen, wir sollten dieses oder jenes machen. Teilweise werden sie von den Unternehmensleitungen geschickt, die in ihren eigenen Unternehmen Mißmanagement betrieben haben. Was ist denn mit der DASA, was ist denn mit den Personalräten der Eisenbahn gewesen? Die sind doch zu uns gekommen, aber nicht, weil es Probleme mit der Technik gab, sondern weil es Probleme mit Mißmanagement sowie damit gegeben hat, daß keine Bereitschaft bestand, die Eisenbahn zu entschulden und das Betriebssystem von den Fahrwegkosten zu befreien.
Insofern bitte ich Sie sehr herzlich, dafür zu sorgen, daß Technikakzeptanz hergestellt werden kann und wir den Wettbewerb um intelligente Systeme eröffnen und nicht versuchen, ihn zu erschlagen.
Nehmen Sie bitte die betriebswirtschaftlichen Argumente außerordentlich ernst. Diese halte ich noch nicht für ausgeräumt.
Hinsichtlich der ökologischen Argumente würde ich Herrn Röhl bitten, das, was er in der vergangenen Periode in der Enquete-Kommission, der er angehört hat, eigentlich hätte hören sollen, nachzulesen. Dann hätten Sie vielleicht die eine oder andere Flanke nicht so offengelegt.
Herr Minister Wissmann, Sie können dazu Stellung nehmen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man stellt bei den Ausführungen des Kollegen Schwanhold fest, daß sich die Argumente der SPD ständig auf unterschiedlichen Ebenen bewegen.
Die einen sind gegen die Technik an sich,
- beispielsweise der Kollege Kuhlwein, der vorhin und heute morgen im Haushaltsausschuß eine Philippika gegen das Konzept des Transrapid gehalten hat -, die anderen stellen die Frage nach der betriebswirtschaftlichen Seite. Die Dritten stellen die Frage nach der genauen Fahrtstrecke. Was soll ich eigentlich hinter einer Sozialdemokratie vermuten, die nach genau 20 Jahren Tests, nach mehreren Jahren Streit über die Frage, wo die Strecke herlaufen soll, nach der Vorlage eines klaren Finanzierungskonzepts am Ende noch immer unfähig ist, eine klare Antwort auf die anstehende Frage zu geben?
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie darum: Entscheiden Sie, was Sie wollen, aber wechseln Sie nicht ständig die Ebenen Ihrer Argumente!
Denn am Ende stellt sich auch die Modernisierungsfrage der Sozialdemokratie in Deutschland.
Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/2345, 13/2346, 13/2570 und 13/2573 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich möchte noch mitteilen, daß die ursprünglich für morgen als erster Punkt der Tagesordnung vorgesehene Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD zu den Auswirkungen der Steuerausfälle auf die Haushaltslage des Bundes, wie im Ältestenrat vereinbart, entfällt, weil das Thema in der heutigen Regierungserklärung des Bundesfinanzministers erörtert worden ist.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 und den Zusatzpunkt 9 auf:6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Lennartz, Friedhelm Julius Beucher,
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5199
Vizepräsident Dr. Burkhard HirschDr. Angelica Schwall-Düren, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDKindergesundheit und Umweltbelastungen - Drucksache 13/1968 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera Lengsfeld, Gila Altmann , Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Notwendigkeit von ökologischen Kinderrechten; Gefährdung von Kindern durch Umweltgifte- Drucksache 13/2574 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Klaus Lennartz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach neuen Untersuchungen sind in den letzten Jahren bestimmte Formen von Gesundheitsbeeinträchtigungen und Krankheiten in der jungen Generation sehr stark angewachsen, insbesondere auch chronische Erkrankungen. Besonders im Bereich der Allergien sind alarmierende Entwicklungen eingetreten. Heute leiden nach Erkenntnissen der Bielefelder Universität etwa 5 % der Jugendlichen eines Jahrgangs unter Asthma. Weitere 5 % haben Neurodermitis. Etwa 10 % klagen über Heuschnupfen und fast 15 % über andere allergische Erkrankungen. 70 % aller Kinder leiden nach Erkenntnissen des Deutschen Kinderschutzbundes an psychosomatischen Beeinträchtigungen. Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden sogar unter Bluthochdruck.
Gegenüber den 50er Jahren haben sich die Verbreitungsdaten von Kinderkrankheiten verdoppelt, manche Wissenschaftler sprechen sogar von einer Verdreifachung.
Bei den allergischen Erkrankungen handelt es sich eindeutig um Erkrankungen, die ihre Ursachen in der Umweltverschmutzung haben. Allein - oder besser formuliert: mehr als - 1,5 Millionen Kinder leiden an chronischen Halshautreizungen - Alarmsignale, meine Damen und Herren, die sich zwar in wohlgesetzten Worten zum Weltkindertag niederschlagen, nicht aber in praktischer Arbeit dieser Bundesregierung.
Dabei liegen die Fakten auf der Hand. Die Zusammenhänge werden immer klarer. Wie neue Forschungen ergeben, sind Schadstoffe in der Luft und im Wasser, Chemikalien in der Nahrung, Blei im Trinkwasser sowie Lärm und Streß in großem Umfang an der Entstehung von Krankheiten beteiligt.
Die Bundesregierung hat seit 1987 etwa 60 Millionen DM in die Allergieforschung gesteckt. Inzwischen sind fast acht Jahre vergangen. Nachfragen beim Bundesumweltamt in Berlin ergeben allerdings, daß noch immer keine präzisen Ergebnisse und Auswertungen vorliegen sollen. Oder sollen diese Ergebnisse verschwiegen werden? Soll verschwiegen werden, daß die Zahl seit der letzten Untersuchung bereits um das Vierfache gestiegen ist? Hier erwarten wir von Ihnen, Frau Staatssekretärin, eine Antwort, warum Sie diese Daten verschweigen.
Die Forschung muß neu orientiert werden und ein größerer Praxisbezug, etwa durch intensive Zusammenarbeit mit Organisationen wie der „Arbeitsgemeinschaft allergiekrankes Kind" und anderen hergestellt werden. Statt dessen flüchtet sich die Regierungskoalition in Hilfsargumentationen, die ihre Untätigkeit nur abstützen sollen. Forschungsdefizite werden beklagt. Aber ein umfassendes Forschungsprogramm zum Thema Kindergesundheit und Umweltbelastungen ist nach wie vor nicht in Sicht.
Dies gilt auch für die Erforschung von Zusammenhängen zwischen hohen gesellschaftlichen Anforderungen wie der alltäglichen Reizüberflutung, schulischem Leistungsdruck oder sozialer Desorientierung und dem Konsum von Suchtmitteln wie Alkohol und Zigaretten.
- Selbstverständlich, Frau Kollegin. Da werden Sie meine Unterstützung haben. Ich wollte aber gern Ihren Vorschlag aus der CDU/CSU-Fraktion hören, was von der strafrechtlichen Verfolgung freizuhalten ist und was nicht.
Rauchen ist unter Kindern und Jugendlichen sehr stark verbreitet. Ein Drittel der Jugendlichen von 14 bis 17 Jahren bezeichnen sich als Gelegenheits- oder sogar als ständige Raucher. Mehr als die Hälfte der rauchenden Jugendlichen haben nach einer Studie der Bundeszentrale für politische Bildung den Slogan „Ich rauche gern" verinnerlicht. Gerade Kinder sind aus ihrer unterlegenen gesellschaftlichen Situation heraus für eine Werbung mit derartigen Attributen besonders empfänglich. Deshalb müssen - ich sage das sehr hart - die Schnittstellen zwischen Nikotinkonsum und Kindern gekappt werden.
Tabakwerbung ist auf die Produktinformation zu beschränken. Um Kindern den Zugang zu Tabak zu erschweren, müssen Zigarettenautomaten aus dem öffentlichen Straßenraum verschwinden.
Tabakprodukte dürfen grundsätzlich nicht an Minderjährige abgegeben werden. Ich formuliere das sehr klar: Es muß ein Vergabeverbot für Tabakprodukte ausgesprochen werden; sie dürfen nicht an
Klaus Lennartz
Kinder weitergegeben werden. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, daß das noch immer der Fall ist, obwohl die gesundheitlichen Schäden und Risiken bekannt sind.
Überall dort, wo sich Kinder bevorzugt aufhalten, muß ein striktes Rauchverbot herrschen. Dies gilt besonders für Spielplätze und auch für Schulen. Wir wissen heute, daß nicht nur Rauchen, sondern auch passives Mitrauchen zu großen Gesundheitsrisiken führt.
Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang der Schutz des werdenden Lebens im Mutterleib vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig. Konkrete Schritte hierzu sind zur Zeit leider nicht absehbar - ein Makel, der diese Koalition ja in vielen Politikfeldern prägt.
Die SPD-Bundestagsfraktion bekräftigt deshalb heute ihre Forderung nach mehr Aktion, nach mehr Aufklärung, nach mehr konkretem Handeln auf dem Feld der Kindergesundheit. Wir sind fest davon überzeugt, daß ein Generationenvertrag über eine gesunde Umwelt und über intakte Lebensbedingungen mit unseren Kindern erforderlich ist, wenn die übrigen Generationenverträge morgen überhaupt noch akzeptiert werden sollen. Ich spreche hier von den ökologischen Kinderrechten, die von uns förmlich eingeklagt werden müssen. Hier geht es darum - und wir bitten Sie, sich auch dazu zu bekennen -, wie Sie dazu außer in Ihren Reden zum Weltkindertag stehen.
Die junge Generation von heute ist die Gesellschaft von morgen. Wir sind der Auffassung, daß sich eine positive Zukunftshaltung unserer Kinder, eine positive Grundhaltung zur Technik nur fördern lassen, wenn die konkrete Umwelt unsere Kinder nicht krank machen wird. Ansonsten besteht doch förmlich eine Angst vor der Zukunft. Hier gilt es, Akzeptanz zu schaffen, umzudenken, und zwar gemeinsam.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb heute die Bundesregierung auf, ein umfassendes Forschungsprogramm „Kind, Gesundheit und Umwelt" aufzulegen, um die ökologischen Kinderrechte auf ein gesundes Leben zu verwirklichen. Wir fordern als ersten Schritt die Einrichtung einer Informations-und Datensammelstelle beim Umweltbundesamt.
Wir fordern eine umweltmedizinische Wirkungsforschung, z. B. durch die Aufstellung entsprechender Wirkungskataster durch ein Monitoringprogramm zur Erhebung der Gesundheitsdaten, die öffentlich zugänglich zu machen sind.
Wir fordern eine Qualitätskennzeichnung für kindergerechte Nahrungsmittel. Ich denke z. B. auch an den „Blauen Engel" für derartige Produkte. Darum geht es doch.
Dies sind nur einige Punkte aus unserem Antrag, den wir Ihnen heute mit 27 Punkten vorlegen. Die Gesundheit unserer Kinder sollte uns das wert sein.
Meine Damen und Herren, ich darf einen Satz zitieren: „Auch dürfte keine politische Entscheidung, etwa in der Verkehrs- und Umweltpolitik, ohne Rücksicht auf die Kinder getroffen werden. Die Zukunft unserer Kinder muß Maßstab unserer Politik sein. " Das ist richtig. Frau Bergmann-Pohl, dies können Sie Ihrer Ministerin ausdrücklich mitteilen. Dieser Satz steht. Aber ich bitte Sie: Dann handeln Sie auch danach, was Sie auf dem Weltkindertag formuliert haben! Unterstützen Sie diesen Antrag, wie er hier vorliegt! Gehen Sie auf diese Punkte ein, und halten Sie nicht nur Sonntagsreden am 26. September 1995!
Meine Damen und Herren, in der Verfassung des Freistaates Bayern steht geschrieben: „Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes." Danach sollten Sie handeln, meine Damen und Herren. Wir sind der Anwalt der Kinder nicht nur am Weltkindertag, sondern an 365 Tagen im Jahr. Darum geht es.
Ich erteile das Wort der Kollegin Editha Limbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einigen Wochen nahm ich an einer Podiumsdiskussion teil, bei der es auch um solche Fragen ging. Dort berichtete ein Kinderarzt von einer Untersuchung, bei der Kinder in den Vereinigten Staaten von Amerika und Kinder in der Bundesrepublik Deutschland befragt wurden. Sie wurden nicht danach befragt, wie sie sich verhalten, was sie machen, wie sie mit ihren Eltern zurechtkommen, sondern sie wurden schlicht und einfach gefragt: Was fällt dir beim Stichwort Gesundheit ein?
Den amerikanischen Kindern fiel ein: kein Junk food essen, nicht soviel Fernsehen gucken - ich sagte ja, sie wurden nicht gefragt, ob sie es tun oder nicht, sondern sie wurden gefragt, was ihnen einfällt -, viel draußen spielen, Sport treiben. Und was fiel den deutschen Kindern ein? Arzt, Krankenhaus, Apotheke, Spritze, Krankenschwester.
Ich meine, das zeigt etwas, was mit dem heute zu behandelnden Thema zu tun hat. Unabhängig davon, wie sie sich verhalten, wissen amerikanische Kinder offenbar besser, was ihrer Gesundheit guttut als deutsche Kinder. Das ist aber nicht allein Schuld der Politik, sondern das ist natürlich auch Schuld der Eltern, der Umwelt, des Fernsehens; da kann man jetzt eine ganze Menge Leute und Faktoren aufzählen.
Ich hatte nur so ein bißchen den Eindruck, als hätten die Kinder in Amerika den Gesundheitsbericht der Europäischen Kommission gelesen, in dem über die Determinanten, also die Dinge, die die Gesundheit bestimmen, folgendes steht. Negativ: Mißbrauch von Alkohol, von Tabak, von Drogen, von Arzneimitteln, zu wenig Bewegung und falsche Ernährung.
Editha Limbach
Und positiv dann natürlich genau das Umgekehrte - darunter sind viele Faktoren, die in der Familie eine Rolle spielen -: Zuwendung, Interesse, sich beheimatet fühlen und viele Dinge, die in einer Gesellschaft eine Rolle spielen, ob man nämlich die Kinder verjagt, weil sie ein bißchen Lärm machen, oder ob man in der Gaststätte fast Angst haben muß, ein Kind bei sich zu haben, weil es ja vielleicht kleckern oder den Ober einmal dumm angucken könnte. Gerade wenn man die Umwelt betont, muß man diese sehr umfassend betrachten. Ich selbst tue dies.
Ich habe mich etwas gewundert, Herr Lennartz, daß Sie in Ihrem Antrag zu diesem Thema, das natürlich und richtigerweise hochemotional ist, weil Umwelt und Kindergesundheit zusammentreffen, arg negativ begonnen haben. Ich finde, daß man immer dann, wenn man den Leuten erst Angst macht und anschließend sagt, was man dagegen macht, wenig Echo findet.
Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten darauf hingewiesen, daß z. B. die Kindersterblichkeit Gott sei Dank und erfreulicherweise enorm zurückgegangen ist. Ich hätte mich auch gefreut, wenn Sie darauf hingewiesen hätten, daß wir durch Vorsorgeuntersuchungen, Impfschutzmaßnahmen und dergleichen auf vielen Gebieten im Umgang mit Kinderkrankheiten sehr viel weiter sind, als es der Fall war, als wir kleine Kinder waren. Dann hätte ich gesagt: Heute aber haben wir neue Gefährdungen, über die wir nachdenken müssen, und zwar präventiv. Deshalb ist es richtig, wenn wir sagen: Auch eine gesunde Umwelt gehört zu den Voraussetzungen, damit Kinder und Erwachsene gesund leben können.
Ich bin aber ein bißchen traurig über Ihren Antrag, weil ich dachte, wir hätten uns gemeinsam einige kluge Schritte vornehmen können.
In diesem Antrag stehen eine ganze Menge von Punkten. Dort ist einfach alles, was nur geht, zusammengepackt.
Ich möchte hier keineswegs alle diese Punkte beurteilen, nehme aber einmal einen Punkt heraus, und zwar Punkt 18:
Maßnahmen gegen die ständig zunehmende Reizüberflutung von Kindern müssen ergriffen werden. Kinder im Alter von zehn Jahren sehen durchschnittlich zweieinhalb bis drei Stunden pro Tag fern.
Das ist leider wahr. Ich frage mich aber: Was soll denn die Bundesregierung dagegen machen? Soll sie verbieten, daß Kinder fernsehen? Dann müßten wir in jedem Haushalt jemanden neben das Fernsehgerät stellen, der aufpaßt.
Bei dieser Frage spielen Erziehung, ein anderes interessantes Angebot und übrigens auch Hilfen für
Eltern eine große Rolle. Wie sonst soll das gemacht werden?
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Wenn es beispielsweise so außerordentlich schwer ist, den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchzusetzen, dann wundere ich mich nicht, daß manche Eltern, durch alle möglichen Dinge überlastet, in ihrer Verzweiflung die Kinder gelegentlich einmal eine Stunde vor den Fernseher setzen, um sie ruhigzustellen. Hätten wir z. B. genügend Kinderbetreuungsplätze, hätten die Kinder wenigstens in der Zeit genug andere Anregungen und müßten nicht vor das Fernsehgerät gesetzt werden.
Kommen wir nun zu etwas anderem. Sie haben gesagt, Sie wüßten praktisch schon, welche Umweltschäden auf die Gesundheit einwirkten. Allerdings haben Sie gesagt, es müsse mehr erforscht werden. Das ist wahr. Wenn man aber auf der einen Seite sagt, da muß viel mehr erforscht werden, auf der anderen Seite aber schon weiß, welche Folgen auftreten, dann frage ich mich: Wie ernst ist Ihnen eigentlich das eine oder das andere?
Wenn ich das richtig gelesen habe, hat der Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung auf Anregung des Umweltausschusses das Büro für Technikfolgenabschätzung beauftragt, eine Studie zu einem Projekt „Umwelt und Gesundheit" zu entwickeln. Die Ergebnisse sollen im Mai 1996 vorliegen. Ich wäre froh, es kämen solche Ergebnisse dabei heraus, daß wir uns anschließend gemeinsam im Deutschen Bundestag daranmachen könnten, daraus Folgerungen zu ziehen und diese dann auch umzusetzen.
Natürlich haben Sie auch einige Punkte dargelegt, bei denen wir völlig mit Ihnen übereinstimmen: Grenzwerte beim Trinkwasser, Grenzwerte in anderen Bereichen. Selbstverständlich ist das dringend nötig. Das ist auch eine staatliche Aufgabe. In Erfüllung dieser Aufgabe setzt sich die Bundesregierung, vom Bundestag unterstützt, auf der europäischen Ebene für vernünftige Regelungen ein. Das ist allemal besser, als wenn wir nur versuchten, etwas national zu entwickeln und dies überall sonst nicht so funktioniert.
Genauso richtig ist Ihre Anregung bezüglich der Ausbildung der Mediziner, mehr zur Umweltmedizin überzugehen.
- Selbstverständlich ist das richtig. Wie Sie aber wissen, bestimmt nicht die Bundesregierung und auch nicht der Bundestag per Gesetz darüber, was in diesem Bereich passiert. Das heißt, wir müssen auf allen Ebenen dafür sorgen, daß das erfolgt.
Sie können nicht einfach hierherkommen und im Bundestag den Eindruck erwecken, als könne und müsse die Bundesregierung bzw. der Bundestag in
Editha Limbach
allen Feldern, vor allem auch dort, wo sie bzw. er es gar nicht kann, tätig werden.
Es gibt eine Menge Punkte in Ihrem Antrag - ich führe sie jetzt nicht einzeln auf -, wo es heißt: in Benehmen mit den Ländern. Wenn man einmal genau hinschaut, dann stellt man fest, daß es sich gerade um Länderaufgaben handelt. Über die Gesundheitserziehung in der Schule können wir hier im Bundestag soviel reden und uns so einig sein, wie wir wollen. Ich glaube auch, wir sind uns einig. Wenn das aber auf der Länderebene von den Kultusministern nicht umgesetzt wird, dann stehen wir da.
Wir können hier beschließen, was wir wollen, weil nicht wir die Kompetenz haben, sondern andere.
Ich meine, es gehört auch zur Fairneß, daß man in einen solchen Antrag nach Möglichkeit nicht alles Wünschenswerte hineinschreibt, sondern sehr konkret sagt: Da ist der Punkt, für den wir verantwortlich sind, und das wollen wir machen.
Deshalb, meine ich, ist es zwingend erforderlich, daß wir uns in den Ausschüssen mit diesen Punkten befassen, damit wir wirklich zu dem Ergebnis kommen, das wir für unsere Kinder brauchen.
Weil Sie so sehr auf die Umwelt hingewiesen haben, möchte ich folgendes sagen: Aus dem Bericht der EU-Kommission geht hervor, daß die häufigste Todesursache bei Kindern im Alter zwischen einem Jahr und 14 Jahren Unfälle sind.
- Ja, und das hängt durchaus mit der Umwelt zusammen, weil es natürlich auch Unfälle in den Räumen gibt, in denen Kinder spielen, auf den Straßen, auf denen sie sich aufhalten. Aber bis zum fünften Lebensjahr finden die meisten Unfälle von Kindern zu Hause statt.
Auch da frage ich mich: Sind das alles Dinge, die wir als Bundestag beschließen können? Natürlich können wir beschließen: Es finden ab sofort keine Unfälle mehr statt!
- Ja, natürlich ist das Quatsch, Herr Lennartz. Deshalb sage ich es ja auch. Aber so etwas könnte man Ihrem Antrag gelegentlich entnehmen.
Nein, wir müssen dazu beitragen, daß die Unfallgefahr gemindert wird. Das gehört auch zur Umwelt. Aber da frage ich mich z. B. auch, ob nicht manche Regelung auf Landesebene eher zu Unfällen beiträgt, statt sie zu verhindern.
- Ja, das will ich Ihnen sofort sagen. Es gibt viele hunderttausend Vorschriften für einen Spielplatz mit der Folge, daß er so sicher eingerichtet wird - ich weiß, daß da Haftungsgründe eine Rolle spielen; dafür war ich lange genug in der Kommunalpolitik tätig -, daß das Kind ein normales Verhalten - wenn es stolpert, rutscht, fällt oder sonst etwas - gar nicht mehr lernt. Ich kenne keinen Baum, der gleichmäßig dicke Äste hat, die kein bißchen dicker sein dürfen. Ich fände es viel schöner, wenn man den Kindern auf die Spielplätze Bäume setzte, auf denen man herumklettern darf und, weil man nicht so hoch klettert, sich allenfalls das Knie aufschürft, wenn man einmal herunterfällt.
Ich habe das nur gesagt, weil ich denke, daß vieles von dem, was Sie beklagen, auch eine Folge dessen ist, wie wir uns als Erwachsene und als Verantwortliche innerhalb der Politik, aber auch außerhalb der Politik auf die Situation von Kindern einstellen und diese erleichtern. Da gibt es den Bereich, in dem wir gesetzliche Möglichkeiten haben. Da gibt es den Bereich, in dem wir mit Einfluß ausüben können. Da gibt es den Bereich, in dem Länder oder Kommunen gesetzliche Möglichkeiten haben. Und es gibt auch den Bereich, in dem Eltern, Erzieher, Verwandte selbst verantwortlich sind. Das trifft auch für Rauchen, Trinken, Medikamentenmißbrauch und dergleichen zu.
Deshalb, meine ich, sollte man nicht, wie Sie das gemacht haben, immer wieder sagen, die Regierung müsse dieses und jenes tun, sondern statt dessen sagen, was wir alle gemeinsam auf allen Ebenen, auf denen wir Verantwortung haben, tun müssen, damit auch in Zukunft die Berichte, die wir über die Gesundheit unserer Kinder bekommen, so sind, daß wir uns freuen können, daß heute mehr Kinder gesund sind als vor vielen, vielen Jahren.
Ich erteile der Kollegin Vera Lengsfeld das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Limbach, ich muß wirklich sagen, daß mich Ihre Rede fassungslos gemacht hat. Sie hat mich fassungslos gemacht, weil Sie sich hier hinstellen und so tun, als debattierten wir dieses Thema das erste Mal in diesem Hohen Hause. Tatsache ist aber, daß wir die gleichen Anträge vor zweieinhalb Jahren schon einmal auf der Tagesordnung hatten. Die große Schande dabei ist, daß ich meine Rede, die ich im Mai 1993 gehalten habe, hier wortwörtlich wiederholen könnte, und sie hätte nichts an Aktualität eingebüßt.
Dann stellen Sie sich hier hin und sagen: Warum handelt ihr denn nicht? Die Einzelfallstudien sind alle da, die Daten kennen wir. - Aber wenn Sie die Daten kennen, was hat Sie dann veranlaßt, zweiein-
Vera Lengsfeld
halb Jahre lang untätig zu bleiben? Sie stellen doch die Regierung.
Wie kommen Sie dazu, uns ständig Schwarzmalerei vorzuwerfen und zu sagen, wir würden die Situation zu negativ beschreiben? Es ist doch eine Tatsache, daß die schleichende Vergiftung der Kindheit gravierende Folgen bei der heranwachsenden Generation hat. Es ist doch keine Schwarzmalerei, sondern Tatsache, daß 10 bis 15 Prozent der Kinder an Asthma erkrankt sind und daß sich die Zahl der an Asthma erkrankten Kinder in den vergangenen Jahren mehr als verzehnfacht hat.
Es ist doch einfach eine Tatsache, daß rund 10 Prozent aller Kinder unter Bronchitis leiden und daß 11 Prozent der Zehnjährigen bereits Heuschnupfen haben und jedes zweite Kind bei Allergietests empfindliche Reaktionen zeigt.
Es ist keine Schwarzmalerei, sondern Tatsache, daß 1,2 Millionen Kinder an Neurodermitis leiden und sich die Zahl der Kinder, die an dieser chronischen Hautreizung erkrankt sind, seit 1975 verdoppelt hat. In München haben mittlerweile 11 Prozent der Schulanfänger Neurodermitis; in Hamburg sind es sogar 20 Prozent.
Es ist keinerlei Schwarzmalerei, wenn man diese Tatsachen einmal nennt. Man kann das doch nicht wegdiskutieren, indem man sagt: Die Kindergesundheit hat sehr viel mit Umwelt und auch mit der Schadstoffbelastung zu tun. Das ist alles richtig. Bloß: Wo sind denn Ihre CDU-Stadträte, wenn es um Tempo 30 in Wohngebieten geht
aus Sorge um die Abgasbelastung, der Kinder ausgesetzt sind? Denn Kinder schlucken auf Grund ihrer geringeren Größe ein Zigfaches der Menge an Abgasen, die Erwachsene einatmen.
Ich frage mich wirklich seit zweieinhalb Jahren, was Sie daran hindert, diese Probleme endlich zu erkennen und zu handeln. Ich muß sagen, daß ich nach Ihrer Rede diese Frage immer noch nicht beantworten kann. Ich halte es für eine typische Reaktion der Regierungskoalition, daß damals in der Debatte Herr Rüttgers folgenden Zwischenruf fabriziert hat: „Das Leben ist halt lebensgefährlich!" Das ist eigentlich eine Äußerung, die ihn nicht gerade als Zukunftsminister qualifiziert.
Ich gebe gerne zu, daß wir es mit einem Problem zu tun haben, das nicht sehr einfach zu lösen ist; denn wenn man ökologische Kinderrechte wirklich ernst nimmt und wenn man der Verantwortung gegenüber unser aller Kinder gerecht werden will, dann brauchen wir nicht irgendwelche Reparaturen, sondern den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft.
Es ist klar, daß hinter ökologischen Kinderrechten die Frage nach den Prämissen der Industriegesellschaft und nach den Grundlagen der politischen Ethik steht. Ich will das einmal sagen, um die Dimension deutlich zu machen, um die es geht.
Wenn wir uns darüber klar sind, daß wir in diesen Dimensionen zu denken haben, dann hindert uns das doch keineswegs daran, konkrete erste Schritte vorzuschlagen. Ich kann nur wiederholen: Wir haben das bereits vor zweieinhalb Jahren getan. Wir haben das unter anderem deswegen getan, weil wir eine tiefe Mitverantwortung für das fühlen, was unseren Kindern passiert. Weil wir gemerkt haben, daß die Regierungskoalition unfähig ist, mit den entsprechenden Vorschlägen zu kommen, haben wir als Opposition entsprechende Vorschläge gemacht. Sie hätten diese Vorschläge aufgreifen können, und wir hätten dann heute auf einem ganz anderen Niveau diskutieren können, z. B. über die Umsetzung dieser Vorschläge und darüber, was sie gebracht haben.
Weil aber das alles nicht passiert ist und weil Sie, Frau Kollegin Limbach, eingefordert haben, wir sollten unserer Verantwortung gerecht werden, will ich Ihnen sagen, was unsere Fraktion als erste Schritte - aber wirklich nur als erste Schritte - vorschlägt. Das hätten Sie übrigens auch unserem Antrag entnehmen können; aber ich sage es hier noch einmal.
Wir brauchen als erstes verbindlich einklagbare Vorsorgewerte für alle Umweltschadstoffe, die den Schutz der Kinder garantieren. Diese Vorsorgewerte müssen Langzeiteffekte, Kombinationswirkungen und kurzzeitige Spitzenwerte sowie die besondere Empfindlichkeit der Kinder berücksichtigen. Die Schadstoffe müssen dort gemessen werden, wo die Kinder ihnen ausgesetzt sind, und zu Zeiten, zu denen Kinder hauptsächlich unterwegs sind.
Ärzte, Krankenschwestern und Medizinstudenten müssen für die Behandlung allergologischer und umweltbedingter Kinderkrankheiten aus- und weitergebildet werden. Wir halten für Kinderärzte eine toxikologische Grundausbildung für notwendig.
Versorgungseinrichtungen, auch mobile Umweltstationen, zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen müssen eingerichtet und Selbsthilfegruppen für umweltgeschädigte Kinder gefördert werden.
Schließlich müssen die Daten über die Belastung der Kinder durch Umweltgifte endlich, wie wir auch schon vor zweieinhalb Jahren gefordert haben, an zentraler Stelle gesammelt und ausgewertet werden.
Ich fordere auch noch einmal das Langzeitforschungsprogramm „Kind und Umwelt" ein, das auch längst hätte in Gang gesetzt werden müssen.
Vera Lengsfeld
Frau Kollegin Limbach, da Sie gesagt haben, daß die Regierungskoalition in Zukunft tätig werden will, bin ich optimistisch, daß Sie diese Forderungen nunmehr aufgreifen werden, und freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen.
Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge - es ist von meiner Vorrednerin schon gesagt worden - sind nicht neu. Vor allem der Antrag der SPD ist zu fast 100 % aus der letzten Legislaturperiode übernommen.
- Ich habe mir das sehr wohl angeschaut. Ich kann Ihnen auch die Drucksachennummer nennen. Ich kann es Ihnen hier vorführen. Das ist nicht wortwörtlich abgeschrieben. Sie haben zumindest soviel Kreativität bewiesen, daß Sie es etwas umgeschrieben haben, aber inhaltlich ist es das gleiche geblieben. Das ist jedenfalls festzuhalten. Damals ist dieser Antrag nach Beratung abgelehnt worden. Ich muß mich manchmal wirklich fragen, was hier alles noch einmal eingebracht wird, ob wir vielleicht eine Art Beschäftigungsprogramm brauchen.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ich habe den Eindruck, daß es Ihnen bei diesem Antrag nicht um die Sache geht, sondern um Aktionismus. Das kann man auch an einzelnen Stellen ganz klar nachweisen.
Wenn Sie von der SPD schon der Meinung sind, einen alten Antrag noch einmal aufwärmen zu müssen, dann aktualisieren Sie ihn doch wenigstens! Damit meine ich vor allem die Forderung nach einer Sommersmogverordnung. Als Sie Ihren Antrag stellten, war das Ozongesetz bereits vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden. Es war auch abzusehen, daß es mit der Mehrheit der SPD-geführten Bundesländer im Bundesrat ein paar Tage später eine Mehrheit bekommen würde. Sie greifen hier also etwas auf, was längst verabschiedet wurde, zwar nicht mit Ihren Ideen, nicht mit Ihren Werten,
aber es ist von uns eine Lösung gefunden worden,
die, wie ich nach wie vor finde, der Sache gerecht wird. Deswegen bin ich der Meinung, daß es einfach nicht redlich ist, solche Sachen noch einmal aufzuführen.
Es zeigt sich auch, daß Sie - wir haben zum Ozongesetz sogar eine Anhörung im Umweltausschuß durchgeführt - gegenüber vernünftigen Gründen überhaupt nicht aufgeschlossen sind, daß Sie überhaupt nicht bereit sind zuzuhören. Es gibt für Tempolimits zur Reduzierung bodennahen Ozons keine wissenschaftliche Grundlage. Das haben wir in diesem Plenarsaal mehrfach diskutiert, in der Anhörung diskutiert, im Umweltausschuß diskutiert. Und dennoch betreibt die SPD permanent weiter den Versuch der Volksverdummung, weil sie ständig ohne haltbare wissenschaftliche Grundlage Einschränkungen verhängen will.
Das Ziel, die Gesundheit der Kinder stärker zu schützen, ist, wenn es ernsthaft verfolgt wird, sicherlich viele Überlegungen wert. Dem verschließen wir uns überhaupt nicht.
Schließlich ist die Feststellung richtig, daß Erkrankungen bei Kindern, z. B. Allergien oder Atemwegerkrankungen, zunehmen. Häufig sind solche Erkrankungen aber nicht auf eine einzige Ursache oder einen Schadstoff zurückzuführen.
Gerade bei Allergien, die häufig unerkannt bleiben, ist oft schwer der Allergieauslöser herauszufinden.
Vermehrt werden umweltbedingte Faktoren als mögliche Ursachen für Erkrankungen in Betracht gezogen. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, denn die Wissenslücken sind noch zu groß, als daß man die Zunahme von Erkrankungen auf einzelne Faktoren zurückführen könnte.
Zu der ersten Forderung im SPD-Antrag sage ich: Datensammelstellen gibt es teilweise schon. Die Kollegin Limbach hat das Nötige zu einem entsprechenden Auftrag an das TAB auch schon ausgeführt. Insofern kann man nicht sagen, daß wir hier überhaupt nichts getan hätten.
Es wurde auch gerade auf einem Allergiekongreß in Bad Lippspringe klargestellt, daß vor allen Dingen Hausstaubmilben zu den häufigsten Auslösern allergischer Atemwegerkrankungen wie Asthma und Schnupfen gehören. Diese Parasiten findet man in nahezu allen Wohnbereichen, vor allem aber in Teppichböden, wo bis zu 10 000 Milben pro Quadratmeter leben. Ich sage dazu: Es ist unsere moderne Zivilisation, es sind unsere Wohnungsansprüche, die die Ausbreitung solcher Allergien begünstigen,
weil mit mehr Wohnraum natürlich auch mehr Belastung durch solche Schädlinge besteht. Das muß man einfach sehen.
Birgit Homburger
Die Umweltbelastungen in den letzten Jahren sind geringer geworden. Es ist nicht richtig, daß wir nichts getan haben.
Das hat die Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD 1993 bereits ausgeführt. Die Schadstoffeinträge in die Luft, in das Wasser, in den Boden und in Lebensmittel sind erheblich zurückgegangen. Dies gilt für eine ganze Reihe von Schadstoffen, und das können Sie in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage nachlesen.
Diese rückläufige Entwicklung spiegelt sich in den Belastungen der Menschen wider. Es wird z. B. schon seit einiger Zeit nicht mehr davon abgeraten zu stillen, denn die Konzentration von chlorierten Kohlenwasserstoffen und auch Dioxinen in der Muttermilch hat abgenommen.
Der Vorteil des Stillens überwiegt eindeutig gegenüber eventuellen Belastungen der Muttermilch.
Um die Umweltbelastungen zu verringern, wurde also schon einiges getan. Es gibt hier etliche Beispiele, z. B. die Verwendung von DDT, PCB, BCD und flüchtigen chlorierten Kohlenwasserstoffen wurde verboten, oder aber mit der 17. Bundes-Immissionsschutzverordnung wurden Dioxin- und Furan-Emissionen aus den Müllverbrennungsanlagen begrenzt. Sie können sich hier doch nicht hinstellen und sagen: Es hat sich nichts getan.
Aber es bleibt trotzdem noch etwas zu tun. Da gebe ich Ihnen recht. Die F.D.P. fordert weiterhin die Einführung des Bundesbodenschutzgesetzes,
damit endlich auch für die Bodenbelastung verbindliche Grenzwerte einheitlich festgelegt und Vorsorgemaßnahmen getroffen werden können. Ich habe den Eindruck, daß wir hier vor einem Durchbruch stehen. Ich sage Ihnen auch: Ihre Forderung, die Sie unter Punkt 14 aufgezählt haben, daß Sie allgemeingültige Grenzwerte für den Schadstoffgehalt, z. B. für Sandfüllungen haben wollen, wäre eine klassische Aufgabe für die TA Boden. Deswegen sind wir auch für das Bundesbodenschutzgesetz und für die untergesetzlichen Regelungen dazu. Das werden wir mit Sicherheit auch in dieser Legislaturperiode verwirklichen.
Ich kann Ihnen aber auch sagen: Das, was Sie unter anderem auch in diesem Antrag regeln wollen, daß Sie sagen, wir wollen die Kommunen auffordern, Mindestvorgaben für die Häufigkeit des Wechselns von Sand in den Sandkästen vorzuschreiben, dafür sind wir bei aller Liebe nicht zuständig.
Und ich sage auch ganz klar: Nicht nur der Staat hat Verantwortung zu tragen. Gerade was die Forderung zum Schutz der Kinder angeht, dürfen wir die Verantwortung der Eltern nicht vergessen. Es ist richtig, was Sie sagen, daß verstärkte Aufklärungsarbeit den Eltern bei ihren Entscheidungen helfen kann, so daß sie z. B. bei einer Auswahl von Reinigungsmitteln, Lacken, Teppichmaterialien, Möbeln und Spielzeug darauf achten können, daß diese schadstoffarm oder schadstofffrei sind. Dazu können wir sie aber nicht zwingen.
Natürlich haben Sie auch recht, wenn Sie in Ihrem Antrag feststellen, daß Eltern unverantwortlich handeln, die ihre Kinder dem Passivrauchen aussetzen. Hier gibt es überhaupt keinen Dissens, aber das Rauchen im Haus oder im Auto wollen wir doch nicht verbieten. Kontrollieren könnten wir das sowieso nicht. Deswegen verstehe ich nicht, was Sie dort aufgeschrieben haben. Ich füge noch hinzu: Wie verhält es sich eigentlich mit Ihrer Forderung in Punkt 17, es sei eine Lärmbegrenzung bei Walkmen vorzusehen? Ich frage mich wirklich bei manchen Dingen, die Sie hier hineingeschrieben haben, nach dem Realitätsgehalt, der bei Ihnen vorhanden ist.
Ich will noch einmal zu der Aufklärung der Eltern zurückkommen. Zu einer solchen Aufklärung gehört sicherlich auch eine Ausweitung der Kennzeichnung von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern. Aber wir müssen auch aufpassen, daß wir zum Schluß eine sinnvolle und verständliche Kennzeichnung haben, und nicht, was Sie in Ihrem sechsten Punkt aufzählen, den Verbraucher so mit Informationen zuschütten und verunsichern, daß der Laie kapituliert und überhaupt nichts mehr damit anfangen kann. Damit helfen wir niemandem. Deswegen muß, wenn überhaupt, dies eine vernünftige Sache werden.
Es gäbe noch eine ganze Reihe von Punkten, die man in diesem Antrag aufgreifen muß. Ich möchte abschließend dazu sagen: Ich denke, daß der Antrag von der SPD insbesondere eine Zusammenstellung ist, einerseits einzelner in Beratung befindlicher Anträge wie z. B. bei Pyrethroiden oder Sachen, die uns im Grunde auf Bundesebene nicht betreffen, oder aber eine Zusammenstellung - das sind die rechtlichen Punkte - von alten Kamellen unter neuem Datum. Das, meine Damen und Herren, kann doch wohl nicht das sein, womit sich der Deutsche Bundestag ernsthaft beschäftigen soll. Ich denke, daß sich der Gesundheitsausschuß sicher noch ausführlich über Einzelheiten wird unterhalten können und dabei die Punkte aufgreift, die vielleicht noch als Empfehlungen weitergegeben werden können und wo wir noch weiterarbeiten müssen. Da gibt es einige; ich habe welche aufgezählt.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der heutigen Aussprache zum Thema „Kindergesundheit und Umweltbelastungen" wird auch im 13. Deutschen Bundestag die Debatte über dieses extrem wichtige Politikfeld fortgesetzt. Das kann nur begrüßt werden. Mit der Frage, wie es um die gesundheitliche Entwicklung der Kinder angesichts bestehender und neu hinzukommender Umweltbelastungen, aber auch anderer gesundheitsab-
Dr. Ruth Fuchs
träglicher Lebensbedingungen bestellt ist, geht es schließlich um nicht mehr und nicht weniger als um die Lebensgrundlage der kommenden Generation. Die bisherigen parlamentarischen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik haben zweifellos schon wichtige Aufschlüsse über bestehende Handlungsschwerpunkte, aber auch über zum Teil gravierende Kenntnislücken erbracht.
Während die heute zur Debatte stehenden Anträge auf Verbesserung drängen, muß festgestellt werden, daß sich am konkreten Handeln der Regierung offensichtlich noch gar nichts oder nur wenig verändert hat. Woran es bisher jedoch nicht mangelt, sind wohlklingende Äußerungen. In Wahrheit ist aber bei Koalition und Regierung eine gefährliche Tendenz zur Verharmlosung der Probleme unübersehbar. Die ständigen Versuche, die Sorge für die soziale Situation und die gesundheitliche Entwicklung der Kinder einseitig und immer stärker auf die Familien abzuwälzen, zeugen nicht nur von beträchtlicher Hilflosigkeit, sondern sind letztlich Ausdruck von fehlender Verantwortung. Wer glaubt, liebe Frau Kollegin Limbach, die Gesundheit der Kinder vor allem als Privatsache der Eltern abhandeln zu können,
der ignoriert in sträflicher Weise sowohl die Rolle jener unzähligen physikalisch-chemischen Umweltfaktoren als auch die Bedeutung der sozialen Lage der Familien, auf die die Eltern oft kaum oder nur in einem äußerst geringen Maße Einfluß ausüben können.
Bisher deutlich geworden ist dagegen und wird wohl kaum von jemandem in diesem Hohen Haus bestritten: Kinder sind in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung und in ihrer Gesundheit durch Umweltschadstoffe stärker gefährdet als Erwachsene. Grenzwerte müssen sich deshalb an der besonderen Empfindlichkeit der Kinder orientieren.
Das gilt vor allem für die Art und Weise der Messung von Schadstoffkonzentrationen. Insgesamt muß die Belastung der Kinder mit immer neuen Schadfaktoren wesentlich ernster genommen werden als bisher.
Ja, mehr noch: Auch wir meinen, daß sich die Dringlichkeit der ökologischen Reform der Industriegesellschaft gerade aus den Rechten der Kinder auf eine ungestörte gesundheitliche Entwicklung ergibt. Die Bundesrepublik hat mit der Ratifizierung der UN-Kinderkonvention entsprechende Verpflichtungen übernommen. Ein nächster zwingender Schritt sollte die Verankerung der Rechte der Kinder in den Verfassungen von Bund und Ländern sein.
Gleichzeitig ist vieles im einzelnen zu tun. So fehlt es nach wie vor an einer ausreichend verläßlichen Bewertung des Gesundheitszustandes der Kinder. Die entscheidende Frage, wie gesund oder krank Kinder wirklich sind, kann in diesem Land nur höchst unzureichend beantwortet werden, weil es sowohl an solide geführten und vergleichbaren Routinestatistiken als auch an gezielt erhobenen analytischen Daten und wissenschaftlichen Untersuchungen mangelt. Das Forschungspotential und die Aus- und Weiterbildung in den hierfür wichtigsten wissenschaftlichen Disziplinen sind vergleichsweise zurückgeblieben und bedürfen energischer Förderung.
Während die meisten Industrieländer über entwikkelte Formen eines öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes verfügen, ist bekanntlich in der Bundesrepublik der öffentliche Gesundheitsdienst immer mehr in ein Schattendasein gedrängt worden. Obwohl durchaus nicht wenige Mittel verausgabt wurden, sind die bestehenden Strukturen der Gesundheitsversorgung regelrecht zu Barrieren beispielsweise für einen ausreichend hohen Durchimpfungsgrad, für eine gute Zahngesundheit oder für eine frühzeitige Erfassung von Gefährdetengruppen geworden.
Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, daß jetzt auch eine verbesserte sozialpädiatrische Betreuung der Kinder und Jugendlichen, u. a. durch einen leistungsfähigen schulärztlichen Dienst, Eingang in den Aufgaben- und Forderungskatalog des SPD-Antrages gefunden hat. Das ist z. B. ein neuer Punkt, liebe Frau Kollegin.
Es bleibt eine unverzichtbare Aufgabe, die gesundheitliche Entwicklung des einzelnen Kindes systematisch zu beobachten, um vorsorgend die für jedes Kind jeweils notwendigen Maßnahmen einleiten und um vor Ort Einfluß auf eine gesundheitsfördernde Gestaltung der Lebens- und Bewegungsräume der Heranwachsenden nehmen zu können.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf ein weiteres Grundproblem hinweisen, das beim Thema „Kindergesundheit" keinesfalls ausgeblendet werden darf. Die Zahl der Kinder, die durch das soziale Netz fallen, somit nicht oder nicht rechtzeitig in den Genuß notwendiger gesundheitlicher und sozialer Hilfe kommen, nimmt gegenwärtig wieder zu. Etwa zwei Millionen Kinder leben in Armut, rund eine Million ist auf Sozialhilfe angewiesen. Allein in Ostdeutschland sind ebenso viele von der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern mit betroffen. Daß dies ebenfalls einen verheerenden Einfluß auf den Gesundheitszustand haben muß, steht außer jedem Zweifel. Natürlich liegen auch darüber keine genaueren epidemiologischen Daten vor, von aussagefähigen sozialschichtspezifischen Untersuchungen der Gesundheitsprobleme ganz zu schweigen.
Meine Damen und Herren, die Frage, die im Grunde genommen ansteht, ist die nach einer umfassenden bundesweiten Strategie für die Erhaltung und Förderung der Gesundheit der Kinder und nach einem dementsprechenden aktiven politischen Handeln.
Wir unterstützen die Anträge der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Dr. Ruth Fuchs
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Friedhelm Julius Beucher, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute einen Antrag, den die SPD bereits vor zwei Jahren eingebracht hat. Der ist nicht abgelehnt worden - der Kollegin Homburger ist wohl das Erinnerungsvermögen abhanden gekommen -,
sondern der Diskontinuität zum Opfer gefallen, d. h., Sie haben ihn einfach ignoriert. Er ist in der letzten Legislaturperiode nicht mehr behandelt worden. Das ist ein fast so großer Skandal wie die Tatsache, daß wir eine so wichtige, die Zukunft unserer Gesellschaft betreffende Fragestellung erst zu dieser späten Stunde am Tag diskutieren müssen.
Ausgehend von den unzähligen Hilferufen von Eltern, den ernsten Warnungen und Notrufen besorgter Kinderärzte, die allerdings von der Gesellschaft vielfältig in den Wind geschlagen werden, haben wir uns erneut an die Formulierung des Antrags gemacht, nachdem auch die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage so viele Fragen offengelassen hatte.
Kinderrechte - das wissen Gott sei Dank immer mehr Menschen - brauchen ständig eine neue Lobby. Das immer wieder einzuklagen ist eine der vornehmsten und wichtigsten Zukunftsaufgaben. Ein weiterer Grund dafür, daß wir den Antrag neu formulieren mußten, liegt in der Tatsache, daß wir heute einfach mehr über den kausalen Zusammenhang von Umweltbelastungen und Erkrankungen des menschlichen Organismus wissen. Umweltbelastungen rücken glücklicherweise immer mehr in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit. Deshalb ist es gut, daß dieser Antrag heute wieder auf der Tagesordnung steht.
Wir haben hier keinen Anlaß zum Optimismus. Frau Kollegin Limbach, sehen Sie es mir bitte nach: Geradezu Angst muß ich allerdings empfinden, wenn Sie so einfach dahersagen - das wird einen Aufschrei geben, wenn die Leute das lesen -, daß man Kinder eine Stunde vor den Fernseher setzt, um sie „ruhigzustellen". Ich muß Sie allen Ernstes fragen, ob Sie nicht wahrgenommen haben, was die Kinder da an Gewalt konsumieren, welchen „Kram" Kinder da sehen. Das führt zu immer mehr psychischen Störungen und beeinträchtigt die Kindergesundheit.
Herr Kollege Beucher, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege, ist Ihnen nicht aufgefallen, daß ich deutlich gemacht habe: Ich halte es für falsch, Kinder zur Beruhigung vor das Fernsehgerät zu setzen? Ich habe nur darauf hingewiesen, daß sich manche Eltern - auch mangels der Möglichkeit ordentlicher Betreuung für ihre Kinder - leider nicht anders zu helfen wissen. Ist Ihnen nicht bewußt, daß das Problem der Gewaltdarstellung im Fernsehen sehr häufig, auch auf politischer Ebene, auch von der Bundesregierung, auch von meiner Fraktion, angesprochen wurde, und zwar genau mit dem Hinweis, daß zumindest zu den Zeiten, zu denen Kinder üblicherweise vor dem Bildschirm sitzen, obwohl sie lieber draußen spielen sollten, solche Sendungen nicht ausgestrahlt werden sollten?
Frau Kollegin, ich weiß, daß es so ist, nur habe ich das Ihren Worten nicht entnehmen können.
Die Zahl der umweltbedingten Krankheiten hat in den letzten zehn Jahren dramatisch zugenommen. Kinder sind davon besonders betroffen. Der Kollege Lennartz hat dafür einzelne Beispiele genannt. Ich will noch eine ganz aktuelle Zahl hinterherschieben: Bei den Schuluntersuchungen, die ja bundesweit durchgeführt werden, wurde festgestellt, daß 1993 von mehr als 900 000 Schulanfängern mehr als 180 000 Kinder nicht gesund waren. Wer da nicht handelt, der macht seine Hausaufgaben nicht. Das gilt auch für dieses Haus. Egal ob das Land oder der Bund dafür zuständig ist: Wir müssen das öffentlich aufgreifen und einklagen.
Wir müssen auch sehen, wo die Ursachen zu finden sind. Weltweit wird sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den Industrienationen durch Umweltzerstörung und Umweltverschmutzung die Gesundheit der Kinder und nachfolgender Generationen gefährdet. An der Entstehung chronischer Krankheiten sind Schadstoffe in der Luft und im Wasser, Chemikalien in der Nahrung und im Trinkwasser sowie Lärm und Streß in erheblichem Umfang beteiligt. Umweltgifte und Umweltbelastungen bedrohen Kinder mehr, weil sich Kinder mehr bewegen, schneller atmen und im Vergleich zu Erwachsenen ein Vielfaches an Stoffmengen umsetzen. Dadurch nehmen sie zwangsläufig erheblich mehr auch an Schadstoffen auf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage Sie angesichts dieser Zahlen und wissenschaftlicher Erkenntnisse: Können wir es wirklich länger hinnehmen, daß die Zahl der umweltbedingten Kindererkrankungen weiter steigt? Vergessen wir nicht, daß sich hinter diesen Zahlen tragische Einzelschicksale verbergen; Kinder, die durch diese Erkrankungen isoliert werden, einen Teil oder ihre gesamte Lebens-
Friedhelm Julius Beucher
qualität gar verlieren und nicht mehr unbeschwert aufwachsen können. Wenn es unbestritten ist, daß ein Großteil der Erkrankungen bei Kindern durch Umweltbelastung ausgelöst und verstärkt wird, müssen wir diese steigende Tendenz in den Griff bekommen. Der Gesetzgeber, d. h. in diesem Fall die handelnde Bundesregierung, ist deshalb gefordert, eine vorsorgende Gesundheitspolitik mit einer vorsorgenden Umweltpolitik zu verknüpfen. Denn nur so können wir unseren Kindern und künftigen Generationen eine lebenswerte Erde erhalten.
Kindergesundheit darf in der Politik nicht länger unter Kostengesichtspunkten diskutiert werden. Die Vorbeugung darf nicht länger auf der Strecke bleiben. Notwendig ist Vorsorge und ein ganzheitliches Gesundheitsverständnis, eine Verzahnung von Umwelt- und Gesundheitspolitik.
Genau dieses Problem greifen wir auf. Unser Antrag enthält ein umfangreiches Aktionspaket mit 27 konkreten Forderungen zum Schutz von Kindern vor Umweltgiften und Schadstoffen. Die Zeit erlaubt mir jetzt nicht, die Beispiele zu nennen. Trotzdem will ich noch auf den Verkehr eingehen. Darin liegt nämlich ein Schwerpunkt. Unsere Forderung nach einer Sommersmogverordnung ist zwar in diesem Sommer formal erfüllt worden, jedoch ist dem Bürger dabei eine Mogelpackung untergeschoben worden.
Angesichts des heutigen Themas nämlich sind diese Grenzwerte und Verordnungen indiskutabel und dringend verbesserungsbedürftig. Wollen wir den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden, brauchen wir eine Ozonverordnung, die die Belastung der Luft mit dem Reizgas auf 120 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft festlegt. Wir brauchen Tempo 30 in allen Wohngebieten und das flächendeckend.
Es besteht leider immer noch bei den Schadstoffmessungen ein heikler Punkt: Probeentnahmen erfolgen in einer Höhe, die die Kinder nicht erreichen. Schadstoffmessungen müssen z. B. in maximal 1 m Höhe durchgeführt werden. Sie werden im Moment bei 1,5 m durchgeführt. Da ist doch weder ein Kind im Buggy noch ein Kind in seiner normalen Wachstumsgröße betroffen. Wir haben kinderfeindliche Grenzwerte.
Wir brauchen eine Absenkung der Grenzwerte für Schadstoffbelastungen in Luft, Boden und Wasser. Diese Grenzwerte müssen auf ein Niveau abgesenkt werden, das damit auch der höheren Sensibilität des kindlichen Organismus besser als bisher gerecht wird. Es geht einfach nicht länger an, daß das Urteil von Kinderärzten zutrifft: „Kinder und Alte werden durch Grenzwerte ausgegrenzt. "
Dazu kommt die Schadstoffbelastung in den Innenräumen. Sie ist nicht nur besorgniserregend. Sie ist dramatisch. Ich will jetzt nicht auf Ihren Vorschlag eingehen, die Wohnungen zu verkleinern.
Das erklärt vielleicht, daß Sie weniger Wohnungen bauen wollen. Sie haben gesagt: Je kleiner die Fläche, um so weniger können Kinder an Schadstoffen aufnehmen. Frau Homburger, das haben Sie gesagt. Das haben wir so verstanden. Deshalb darf es doch nicht wahr sein, daß der natürliche Bewegungsdrang des Kleinkindes, je nachdem, auf welchem Teppich es sich bewegt, zum Horrortrip wird.
Hier kann eine „Technische Anleitung Innenraum" Abhilfe schaffen. Hierzu gehört dann eben auch ein Verzicht auf Pyrethroiden in Innenräumen und Textilien.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wir mit der Gesundheit unserer Kinder und ihrer Umwelt umgehen, wird sich entscheidend auf die Entwicklung der Kinder selbst auswirken. Und damit wiederum auch auf ihren Umgang mit der Natur.
- Sie können jetzt nicht mehr klatschen, sonst muß ich so lange warten. Darum bitte ich wegen der mangelnden Zeit um Nachsicht.
Ein vorsorgender Gesundheitsschutz kommt nicht von allein. Nein, die bisherigen Erkenntnisse müssen uns Warnung und Motivation zugleich sein. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wie lange der menschliche und insbesondere kindliche Körper die Belastung mit Schadstoffen und Umweltgiften noch aushält, bevor das menschliche Ökosystem umkippt.
Folgen Sie unserem Antrag, dessen Kern die Verzahnung von Umwelt- und Gesundheitspolitik ist. Er ist Zeichen des politischen Willens für die Zukunft der uns nachfolgenden Generationen. Dafür einzutreten ist unser aller Pflicht und Schuldigkeit.
Ich danke Ihnen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Homburger.
Herr Kollege, ich möchte auf diese Bemerkung eingehen. Ich habe mitnichten gesagt, daß wir die Wohnungen kleiner machen sollen oder ähnliches. Ich habe lediglich referiert, was auf wissenschaftlichen Tagungen festgestellt wurde: daß es einen Zusammenhang gibt zwischen unseren Ansprüchen, der Flächengröße, der dadurch gegebenen Möglichkeit, daß sich dort beispielsweise Hausstaubmilben aufhalten, die für einen großen Teil der Auslösung von Allergien verantwortlich sind, und natürlich der damit zunehmenden Belastung.
Birgit Homburger
Diesen Zusammenhang habe ich referiert, sonst gar nichts. Ich habe überhaupt keine Forderungen daraus abgeleitet, sondern lediglich etwas wiederholt, was auf einer Tagung wiedergegeben wurde.
- Deswegen stelle ich klar, daß der Umkehrschluß in diesem Falle nicht erlaubt ist. Es soll auch der begreifen, der es böswillig anders auslegen will.
Herr Kollege, ich möchte noch auf etwas eingehen, was Sie zu Beginn gesagt haben. Ich gebe zu, mich getäuscht zu haben: Dieser Antrag ist nicht abgelehnt worden, sondern der Diskontinuität verfallen. Ich bleibe aber bei meiner Aussage, die ich zu den einzelnen inhaltlichen Punkten getroffen habe, die zu einem großen Teil bereits als einzelne Anträge beraten - auch in der letzten Legislaturperiode - und mehrfach abgelehnt worden sind. Sie können also nicht sagen, wir hätten uns nicht mit den Forderungen beschäftigt.
Möchten Sie antworten, Herr Kollege Beucher?
Nein.
Dann hat jetzt für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele von uns wissen aus eigenen Erfahrungen, daß sich Kinder mit dem beschäftigen, was sie in der Schule, von den Medien und in der Familie über unsere Umwelt und unser Verhältnis zu ihr aufnehmen. Sie erkennen Umweltgefahren als mögliche Bedrohungen ihrer Zukunft.
Es bleibt nicht aus, daß sie nach Lösungen fragen. Sie hinterfragen aber auch kritisch das Verhalten der Eltern, der Lehrer und anderer Erwachsener. Wir alle werden daran gemessen, ob sich unser persönliches Verhalten immer mit dem Ziel verträgt, die Umwelt und damit auch die Gesundheit der Kinder zu schützen.
Diese Gedanken und Besorgnisse der Kinder sind keineswegs von der Hand zu weisen. Schadstoffe und andere Belastungen sind Teil unserer Realität. Es ist unsere Aufgabe, Wege zu finden, um vorhandene gesundheitsbelastende Umwelteinflüsse zu verringern und vielleicht auch zu vermeiden, soweit wir sie als neue Belastungen erkennen können. Ich glaube, soweit gibt es auch Konsens innerhalb der Fraktionen.
Frau Lengsfeld, es ist wirklich bedauerlich, wenn ich bemerken muß, daß der Doppelzüngigkeit Ihrer Fraktion keine Grenzen gesetzt sind.
Sie sprechen von einer schleichenden Vergiftung der Kinder. Gleichzeitig stellen Abgeordnete Ihrer Fraktion den Antrag, Cannabis-Produkte und Heroin an Kinder und Jugendliche auszugeben, weil Sie damit überhaupt keine Gesundheitsgefährdung in Verbindung bringen.
Ich meine, das ist doppelzüngig. Es tut mir leid, daß ich das ausgerechnet Ihnen sagen muß.
Meine Damen und Herren, vermeidbare Belastungen brauchen wir nicht lange zu suchen; wir finden sie in unserem täglichen häuslichen Umfeld. Mehr als die Hälfte aller Kleinkinder sind Passivraucher, d. h. sie leben mit mindestens einem Raucher in einem Haushalt. Die Folge davon ist, daß akute und chronische Atemwegerkrankungen bei ihnen häufiger, oft auch in stärkerer Form vorkommen als bei Kindern von Nichtrauchern. Dies ist nur einer von zahllosen Belastungsfaktoren.
Gesundheitlich negative Einflüsse aus unserer Umwelt kommen nicht nur aus Wasser, Luft und Boden. Dazu müssen wir auch die zahllosen anderen Belastungen - im häuslichen Umfeld, in der Schule oder für Erwachsene am Arbeitsplatz - zählen. Lebensgewohnheiten können nicht nur die eigene Gesundheit beeinträchtigen. Viele Menschen in unserem Land sehen sich eher als Opfer der Umweltzerstörung denn als Mittäter.
Angesichts vielfältiger Einflußfaktoren ist es mehr als berechtigt, daß wir uns auch in diesem Hause immer wieder neu mit dem Thema Gesundheit und Umweltbelastungen auseinandersetzen. Unsere Kinder verdienen dabei besondere Beachtung, und dies nicht nur auf Grund unserer moralischen Verpflichtung, der kommenden Generation eine lebenswerte Umgebung zu erhalten, sondern auch deshalb, weil Kinder bei bestimmten Umweltrisiken stärker gefährdet sein können als Erwachsene.
Herr Lennartz, es wäre unheimlich nett, wenn Sie einmal zuhören würden. Ich habe Ihnen auch zugehört.
- Wahrscheinlich paßt Ihnen nicht, was ich sage, weil es Ihnen viel zu konform ist.
Politik, Bund, Länder und Verwaltung müssen bei ihren Maßnahmen grundsätzlich die besondere Risikosituation bei den jungen und ganz jungen Menschen beachten.
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
- Sie werden ja wohl noch zuhören können. Es tut mir leid, wenn Sie gedanklich und zerebral nicht so schnell folgen können.
Zerebral war kein Schimpfwort, Herr Präsident.
Ich bedanke mich für die Belehrung.
Ich wollte das nur anmerken. Ich wollte nicht belehren.
Die besondere Belastungssituation für bestimmte Bevölkerungsgruppen wird von uns bei allen Maßnahmen berücksichtigt. Dabei wird es auch in Zukunft bleiben.
Worin bestehen unsere vorrangigen Aufgaben? Wo gesundheitliche Probleme auftreten, müssen sie zuerst erkannt werden. Nach wie vor, Herr Lennartz, ist es umstritten, wie groß die Zahl von Erkrankungen ist, die direkt bzw. indirekt auf Umweltbelastungen zurückzuführen sind. In vielen Stellungnahmen und öffentlichen Diskussionen wird auf diese Tatsachen viel zuwenig hingewiesen, und auch Sie haben versucht, etwas anderes darzustellen. Was wir aber auf einem so sensiblen Feld nicht brauchen, ist eine wöchentliche Hitliste von angeblichen Schadstoffen. Hier helfen uns erst recht keine Untergangsprognosen, wie sie immer wieder vorgebracht werden und ebenso keine Voraussagen, die sich auf nichts anderes als die freihändige Analyse von Vermutungen von selbsternannten Experten stützen.
Wir brauchen vielmehr wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, nur dann können wir mit Aussicht auf Erfolg dort ansetzen, wo tatsächlich Gesundheitsgefahren vorhanden oder möglich sind. Ernsthafte gesundheitliche Beeinträchtigungen, die sich unmittelbar und ausschließlich auf Umweltbelastungen zurückführen ließen, sind in Deutschland glücklicherweise selten.
Unseren Kindern geht es besser als vielen Kindern in anderen Teilen der Welt, wo gesundes Trinkwasser, ausreichende Ernährung, ausreichende Sanitäranlagen und eine Gesundheitsgrundversorgung fehlen. Umweltbelastungen führen nach heutigen Erkenntnissen in der Regel nicht zu regelrechten Umwelterkrankungen. Sie sind eher als Risikofaktoren für verschiedene Erkrankungen anzusehen, wie andere Faktoren auch.
Welche Bedeutung einzelne Risikofaktoren für die Gesundheit wirklich haben, ist oft noch unklar. Das ist in der Wissenschaft unumstritten, Herr Lennartz. Als Beispiel möchte ich den vielzitierten Elektrosmog ansprechen, der ebenso wie die ionisierenden Strahlen oder die Chemikalien in Boden, Luft und Wasser immer wieder als gesundheitsschädigend beschrieben wird.
Die Akademie für Technikfolgenabschätzung des Landes Baden-Württemberg hat sich mit den Hintergründen des häufig hergestellten Zusammenhangs zwischen der Belastung durch elektromagnetische Strahlung und der Krebshäufigkeit bei Kindern beschäftigt. Konkrete Hinweise auf einen tatsächlichen, ursächlichen Zusammenhang haben sich dabei nicht ergeben; Verdachtsmomente bestanden allenfalls dort, wo Kinder lange Zeit sehr starken elektromagnetischen Feldern unmittelbar ausgesetzt waren.
Die Studie hat aber noch einen anderen, wesentlich prägnanteren Zusammenhang festgestellt. Tumore bei Kindern traten nämlich nur dort auf, wo außerdem andere, Krebserkrankungen begünstigende Einflüsse vorlagen. Diese Studie hat damit genau das bestätigt, was in anderen Untersuchungen, auch außerhalb Europas, immer wieder festgestellt worden ist: Es gibt keine tragfähigen wissenschaftlichen Belege für einen Zusammenhang zwischen Krebs und Elektrosmog.
Wir haben durchaus - das wollten Sie ja wissen - eine ganze Menge getan, um Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Umweltbelastungen und Gesundheitsbeeinträchtigungen zu gewinnen. Ich nenne hier beispielhaft die Untersuchungen zu Pseudokrupp, zur Dioxinbelastung und zu Leukämieerkrankungen in der Umgebung von Kernkraftwerken.
Auf anderen Gebieten, z. B. bei der Erhebung von Fehlbildungen, Allergien oder Krebserkrankungen, fehlt es allerdings weiterhin an umfassenden verläßlichen Daten. Hier sind auch die Länder gefordert.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal darauf hinweisen, daß jetzt auf der Grundlage des Gesetzes über Krebsregister alle Bundesländer ihrer Aufgabe nachkommen müssen, epidemiologische Krebsregister einzurichten. Denn wir brauchen auch für Erwachsene die Daten, die mit dem Deutschen Kinderkrebsregister schon seit langem vorliegen. Nur so kann Verdachtsmomenten konkret nachgegangen werden.
Auch das Thema Allergien hat die Bundesregierung zunehmend beschäftigt. Bislang hat die Bundesregierung für die Forschungsförderung zu Allergien sowie Lungen- und Atemwegserkrankungen insgesamt nicht 60 Millionen DM, Herr Lennartz, sondern 90 Millionen DM zur Verfügung gestellt.
- Das Ergebnis ist kompliziert. Reden Sie doch einmal mit Wissenschaftlern! Weltweit versuchen Wissenschaftler, z. B. die Zusammenhänge zwischen Umwelt und Allergien zu erkunden. Es ist aber noch nicht bekannt, welche Faktoren eine ursächliche Rolle für die Entstehung von Allergien spielen.
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
- Herr Lennartz, es ist doch völlig unwissenschaftlich, was Sie fordern. Wir können doch nur dort präventiv ansetzen, wo wir die Ursachen kennen.
Es hat doch keinen Sinn, Ihrerseits Forderungen zu stellen, die völlig ins Leere laufen, weil überhaupt keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde liegen. Wir sind mit Ihnen einer Meinung, daß auf diesem Gebiet mehr geforscht werden muß.
- Machen wir ja. Wir werden z. B. im Gesundheitsforschungsprogramm 2000 eine Menge Mittel dafür zur Verfügung stellen.
Sie wissen auch genau, daß wir eine Reihe von Schutzmaßnahmen bei Lebensmitteln getroffen haben. Wir haben das beste Lebensmittel- und Bedarfsgegenständerecht in Europa und in der Welt, die Ernährung bei uns ist sicher, wir haben seitens der Bundesregierung sehr viele Maßnahmen durchgeführt, die das Leben bei uns sichern. Es ist gerade nicht so, wie Sie es als Schwarzmalerei immer hinstellen, daß wir systematisch die Bevölkerung vergiften.
Wir werden uns bei der Novellierung der Trinkwasserrichtlinie ganz konsequent für ein hohes Schutzniveau einsetzen. Auch da wissen Sie, daß wir eine entsprechende Forderung an Europa erhoben haben.
Meine Damen und Herren, Umweltbelastungen sind Wirklichkeit, und wir müssen sie auf ein erträgliches Maß begrenzen. Für eine erfolgreiche Vorsorge für das Überleben unserer Kinder bedarf es keiner revolutionären Änderungen in unserer Gesellschaft. Jeder Schritt in die richtige Richtung ist hilfreich. Ich bin davon überzeugt, daß alle Beteiligten und Verantwortlichen nach und nach solche Schritte gehen können und dies auch tun werden.
So wird die Bundesregierung immer sorgfältig darauf achten müssen, daß innerhalb ihrer Forschungsanstrengungen die umweltbezogene Gesundheitsforschung den ihr zukommenden Stellenwert auch bekommt. Die Belange des umweltbezogenen Gesundheitsschutzes müssen kontinuierlich in der Ausbildung von Ärzten und im öffentlichen Gesundheitsdienst berücksichtigt werden.
Herr Lennartz, auch in Wirtschaft und Industrie sehe ich durchaus positive Ansätze zur weiteren Entwicklung eines Umweltgedankens. Auch das können Sie nicht in Abrede stellen. Der Faktor Umwelt wird überall zunehmend berücksichtigt.
Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Wer zum Schutz der Kinder Umwelteinflüsse soweit wie möglich verhindern oder reduzieren will, ist auf wissenschaftlich fundierte Aussagen angewiesen. Niemandem ist damit gedient, wenn sensationsheischende Mahnrufe über angebliche Gefährdungen im Wochenabstand in die Welt gesetzt werden und sich kurz danach als nicht stichhaltig erweisen.
Hier sind alle gefordert, mit der notwendigen Sorgfalt an ein Thema heranzugehen, das jeder von uns ernst nehmen muß, aber niemanden, erst recht nicht Kinder, verängstigen darf. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg, SPD.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Bergmann-Pohl, Sie sind so richtig aus sich herausgekommen. Das war schön.
Sie haben hier viele gute Sachen vorgetragen. Sie haben gezeigt, daß Sie die Ziele kennen. Bedauernswert ist aber, daß Sie nicht danach handeln. Das haben wir auch schon in anderen Bereichen gesehen.
Sie wissen, was Sie tun sollten, aber Sie tun es nicht.
Es ist aber trotzdem schön, daß Sie hier heute einmal über Prävention gesprochen haben. Wir sprechen in letzter Zeit sehr viel über Gesundheit, aber nur aus einem einzigen Grund: weil Gesundheit so viel kostet. Ich muß die Kollegen von der F.D.P. allerdings ausnehmen. Sie sprechen von Gesundheit, weil man damit so viel verdienen kann.
Die Tatsache ist jedenfalls - wenn schon über Geld geredet wird -, daß wir für Prävention von Krankheiten nur 1 % aller Ausgaben im Gesundheitswesen verwenden - nur 1 % für Vorbeugung, Aufklärung, Beratung etc. und 99 % für Reparatur und Begrenzung bereits eingetretener Schäden!
Wer, wenn nicht wir, kann als Lobby für die Kindergesundheit auftreten? Wir müssen das ändern. Wir müssen die Maßstäbe anders setzen. Kinder sind empfindlicher als Erwachsene; das brauche ich nicht zu wiederholen. Sie nehmen Gifte schneller auf und reagieren darauf empfindlicher als Erwachsene. Deshalb diskutieren wir heute über eine gesunde Umwelt und über die Gesundheit unserer Kinder. Sie sollen gesund groß werden, und wir wollen sie dabei begleiten.
Ich meine, daß es wichtig ist, daß wir bei einer schnell sich weiterentwickelnden Medizin nicht nur auf die Krisen am Ende des Lebens schauen und daß wir nicht nur den Reparaturbetrieb Medizin sehen, sondern daß wir etwas für die Vorbeugung tun.
Es reicht nicht, daß wir jetzt einfach Umweltmediziner finden und sagen, wir brauchen Umweltmedizin. Wir müssen genau hinschauen, was das ist; denn
Dr. Wolfgang Wodarg
auch in der Umweltmedizin kann es passieren, daß diese erst dann aktiv wird, wenn es zu spät ist, und daß sich die Umweltmediziner darauf spezialisieren zu reparieren, anstatt vorbeugend tätig zu werden.
Es wirkt ein wenig unverantwortlich: Bevor wir neue Wachstumsmärkte in medizinischen Dienstleistungsbereichen regeln, sollten wir zuerst an die Verhinderung von Krankheiten und Schäden bei Kindern denken.
Wir brauchen deshalb Lebensräume für Kinder und für ihre Eltern, die gesundheitsfördernd sind, und zwar deshalb, weil sie die Kinder nicht mit Schadstoffen belasten, sondern deren soziale Kompetenz fördern und zu Gemeinsamkeit ermuntern, weil sie dem natürlichen Bewegungsdrang von Kindern Platz geben und Erfahrungen ermöglichen, die eine selbstverantwortliche Lebensgestaltung begünstigen, statt die Kinder mit akustischem und visuellem Müll zuzuschütten.
Es sind nicht nur Schadstoffe - da gebe ich Ihnen recht, Frau Limbach -, die krank machen. Fast 20 % der Schulkinder sind bei schulärztlichen Untersuchungen verhaltensauffällig. Das ist in Bezug zu setzen mit der Tatsache, daß Zehnjährige heute im Schnitt etwa zweieinhalb Stunden vor dem Fernseher sitzen - das sind statistische Erhebungen, die immer wieder zum gleichen Ergebnis kommen - und daß sie zu ausweichendem Verhalten und zu Sucht durch die Werbung täglich verführt werden.
Die Folgen sind soziale Desintegration, Aggressionen und Verhaltensstörungen. Dagegen kommt auch die beste Aufklärungskampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nicht an, wenn man sieht, welchen Aufwand die Werbung für schädigende Substanzen, für Gifte wie Alkohol und Nikotin sowie für akustischen und visuellen Müll betreibt.
Die Aids-Kampagne hat allerdings beispielhaft aufgezeigt, daß es lohnt, sich ein wenig mehr anzustrengen. Hier hat man durch Prävention, durch Investitionen in Aufklärung viel erreichen können. Das ist ein Beispiel dafür, was wir auch in anderen Gebieten hervorholen und nutzen sollten.
Damit wir wissen, an welcher Stelle gezielt Prävention zu betreiben ist, brauchen wir eine vernünftige Gesundheitsberichterstattung auf allen Ebenen. Da muß viel investiert werden. Wir kommen mit 1 % der Mittel nicht aus. Es lohnt sich, um die Allokationen später richtig zu betreiben, jetzt zu schauen: Wo sind die prioritären Gesundheitsziele und die Brennpunkte, wo wir die Kinder vor krankmachender Umwelt schützen müssen?
Die Bundesregierung muß für all diese Dinge die Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehört, daß sie die nötigen Budgets für Prävention sicherstellt. Es nützt nichts, darüber zu reden.
Ich erwarte vom Gesundheitsminister, daß er sich für ein Budget für Prävention einsetzt, welches mindestens doppelt so hoch sein sollte wie die Mittel, die wir bisher haben. Das sollte ein ganz konkretes Ziel sein. Wenn stimmt, was Frau Bergmann-Pohl sagte, dann müßten Sie dem eigentlich zustimmen.
Aber ich sehe bei Ihnen keine Konzepte, die bereits operationalisiert sind; ich sehe nur Ideen. Auf der anderen Seite sehe ich, daß in Bayern, Herr Seehofer, die CSU sogar versucht hat, den Schulärztlichen Dienst abzuschaffen. Die Berufsverbände der Kinderärzte haben daraufhin Alarm geschlagen und mit Hilfe der SPD dann verhindert, daß diese wichtige öffentliche Aufgabe der Lobby der Kassenärzte geopfert wurde. Die wollten nämlich die U 9 an die Stelle der schulärztlichen Untersuchung setzen.
Zeit, Herr Kollege.
Danke, ja. - Ich meine, daß wir auch in der Epidemiologie noch viel machen müssen, daß wir eine Task Force brauchen; das Bundesgesundheitsamt hatte sie schon gefordert.
Wir können im Umweltschutz auch ganz einfache Dinge machen. Ein Beispiel dafür möchte ich noch zum Schluß nennen: Die Tankstellen, an denen sich heute immer mehr das tägliche Leben in kleinen Gemeinden und auch des Nachts abspielt, sind benzolverseuchte Orte. Dort wird gelesen, dort wird gekauft. Es wäre ein leichtes, hier eine bekannte krebserzeugende Noxe zu minimieren, indem man sich endlich dafür einsetzt, daß das Benzol aus dem Treibstoff herausgeholt wird, soweit es geht.
Herr Kollege - -
Herr Präsident, der letzte Satz, wenn ich darf.
Ja, aber wirklich.
Meine Damen und Herren, nur 1 % der Mittel im Gesundheitswesen werden für Prävention ausgegeben. Angesichts dessen darf man sich später nicht wundern, wenn einmal die 99 % für die Schadensbekämpfung nicht mehr ausreichen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf Drucksachen 13/1968 und 13/2574 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, die Fraktion der CDU/CSU beim Ausschuß für Gesundheit.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der SPD? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der CDU/CSU? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Die Federführung liegt damit beim Ausschuß für Gesundheit.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Handlungsrahmen der Bundesregierung für eine Initiative zum kosten- und flächensparenden Bauen
- Drucksache 13/2247 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache, sobald es etwas ruhiger geworden ist. - Ich warte immer noch auf etwas mehr Ruhe.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Joachim Günther.
- Darf ich die Kolleginnen und Kollegen in dem mittleren Gang noch einmal bitten, sich etwas schneller zu entfernen, damit wir zur Ruhe kommen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Expertenkommission „Kostensenkung" hat im Jahre 1994 den Abschlußbericht „Mehr Wohnungen für weniger Geld" vorgelegt. Diese Analyse hat deutlich gemacht, daß das deutsche Baukostenniveau deutlich über dem europäischen Standard liegt, und von Anfang an für viel Diskussionsstoff gesorgt.
Im deutschen Wohnungsbau fehlt ein preisgünstiges Marktsegment, und es herrscht ein gewisser Zwangskonsum, den viele Nachfrager gar nicht mehr bezweifeln.
Es gibt eine verfestigte Tradition des teuren Bauens, die allein von der Nachfrageseite her nicht mehr umgangen werden kann. Die auf deutschen Baustellen zwangsläufig verfestigten Abläufe haben zu diesem teuren Bauen mit beigetragen.
Es geht um das Nebeneinander der Gewerke auf den Baustellen, es geht um Regelungen auf allen föderalen Ebenen, um Regelungen, die über einfache, aber in vielen Fällen auch ausreichende Standards hinausgehen. Es geht um die Baulandausweisung, die im Endeffekt zurückhaltend betrieben wird und die dadurch zwangsläufig zur Verteuerung beiträgt.
Die Einsparungspotentiale sind, so sagen die Gutachter, besonders im Eigenheimbereich sehr groß. Sie lägen bei etwa 50 %, und davon entfielen je 20 % auf Standardreduzierungen und auf Effizienzverbesserungen und etwa 5 % auf die Deregulierungen im Normenbereich. Damit könnten wir ein niedriges Baukostenniveau erreichen, wie es in den Niederlanden und in Skandinavien längst Realität ist.
Die Bundesregierung hat aus dieser Analyse Konsequenzen gezogen und den heute zu diskutierenden Handlungsrahmen zur Kostensenkung im Wohnungsbau vorgelegt. Ich glaube, die aktuelle Lage am Wohnungsmarkt begünstigt spürbarere Erfolge. Denn bisher haben sich Baukostensenkungen nicht immer in den Preisen für die Nachfrager niedergeschlagen. Wir kennen das: Ein überhitzter Immobilienmarkt hat eine Nachfrage, die ein besseres, kostengünstigeres Angebot brachte, eher in höhere Gewinne umgeschlagen.
Der Wohnungsmarkt - das können wir heute sehr deutlich einschätzen - hat sich inzwischen gewandelt. Ursache für diesen Investitionsboom der letzten Jahre ist - auch wenn das einige nicht gerne hören - eine kontinuierliche Wohnungspolitik, die diese Koalition durchgeführt hat. Künftig schaffen niedrigere Kosten, so hoffen wir, auch für normale Bürger eine notwendige Voraussetzung, daß sie in die Eigenheimbautätigkeit einsteigen können.
Die Kostensenkungsinitiative ist daher auch mit der Stoßrichtung der Reformierung der Eigenheimförderung, die wir ja gegenwärtig im Ausschuß diskutieren, verzahnt. Ich hoffe im Interesse aller, daß sie rechtzeitig fertig wird, um am 1. Januar 1996 in die Tat umgesetzt werden zu können.
Der Bund verfolgt eine Doppelstrategie zur Durchsetzung kostengünstiger Bauprodukte am Markt:
Zum einen geht es um die Nachfrager. Die Tradition des teueren Bauens hat viel mit Einstellungen unserer typischen Eigenheimbauer zu tun. Sie gehen davon aus: Ich baue einmal im Leben, dann baue ich richtig, möchte möglichst viele Extras haben und das Haus voraussichtlich bis zum Lebensende behalten. Was ist das Ergebnis aus dieser Sicht? Es wird entweder gewartet, bis man das Eigenheim finanzieren kann, oder man baut oft spät bzw. zum Teil überhaupt nicht.
Unser Ziel muß es sein, den Eigenheimerwerb schon in einer jüngeren Lebensphase vorstellbar zu machen, vor allem wenn die Kinder noch klein sind; denn sie benötigen vordringlich ein Eigenheim. Notwendig dazu ist, daß man Starthäuser oder Einstiegsmodelle, wie es diese auch auf dem Automarkt gibt, baut oder verkauft, die hinsichtlich der Ausstattung und Wohnfläche preiswert sind, damit sie auch von jüngeren Bürgern finanziert werden können.
Parl. Staatssekretär Joachim Günther
Wir haben daher die Kampagne „Das junge Haus" vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau angestoßen. Wir hoffen auf die Kooperation und die private Beteiligung aller. Diese Kampagne soll solchen Haushalten Mut zum Eigentum machen, die bei bisher üblichen Preisen nicht oder nur sehr selten bauen konnten. Angestrebt wird die Stärkung des Kostenbewußtseins beim privaten Bauherrn, aber auch der Abbau von Vorurteilen, die zum Teil gegen preiswerte Bauverfahren - ich nenne nur die Holz- oder die Typenhäuser - noch vorherrschen.
Kurz gesagt, die Kampagne soll deutlich machen, was auf der Grundlage der gegenwärtigen Rahmenbedingungen möglich ist. Wir vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau wollen die potentiellen Bauherren durch eine Informationskampagne unterstützen.
Zum anderen geht es um die Angebotsfrage. Das heißt, es geht um die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen auf der Angebotsseite, so wie sie im Handlungsrahmen zusammengefaßt sind. Der Koordinierungsausschuß „Baukostensenkung" hat sich bereits konstituiert. Sinn ist es, alle am Bau Beteiligten an einen Tisch zu bringen, um miteinander und nicht übereinander zu sprechen.
Wir hoffen, daß daneben auch jene Kreise angesprochen werden, die in der Praxis zur Baukostensenkung beitragen können.
Ein Erfolg der Kostensenkungsinitiative hängt weiter von mehr Wettbewerb und mehr Baufreiheit ab. Wettbewerb - das hat die Kostensenkungskommission eindeutig gezeigt - ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für Preissenkungen. Hier geht es um Beispiele wie Erschließungskosten, Baulandangebot, Vergabeverfahren der öffentlichen Hand - um nur die wichtigsten zu nennen. Und Baufreiheit heißt eben, jeden Bau und jede Bauweise zuzulassen, wenn sie nicht Dritte und deren Rechte beeinträchtigt. Besonders auf diesem Gebiet sollten wir einen großen Schritt nach vorn tun.
Viele beklagen in dieser Richtung zu Recht auch die Länderbauordnungen. Wir wissen, daß es hier zum Teil noch deutliche Uneinheitlichkeiten gibt und daß z. B. der Einsatz von kostengünstigen Typenhäusern in einigen Regionen wirksam behindert wird oder daß es erhebliche Behinderungen bei Holzbauweisen durch Brandschutzvorschriften gibt, die aber in der Wirklichkeit dem damit verbundenen Risiko überhaupt nicht mehr gerecht werden.
Wichtige Handlungsfelder sind die Überprüfung der bisherigen Förderung des sozialen Wohnungsbaus, u. a. die verstärkte Einführung von Kostenobergrenzen und Förderungspauschalen, der Wettbewerb bei der Vergabe von Fördermitteln, der Reformbedarf bei den DIN-Vorschriften, die Weiterentwicklung der Wettbewerbsverfahren bei VOB- und privatrechtlicher Vergabe, die Ausgestaltung von Architektenverträgen im Zuge der fünften Novelle der HOAI, aber auch die Vorbereitung der nächsten Novelle, die das BMWi hoffentlich genauso schnell in Angriff nimmt wie die Überprüfung der Handwerksordnung insbesondere wegen der Gewerketrennung. Das ist ganz wichtig, wenn wir im Bauwesen vorankommen wollen.
Meine Damen und Herren, niemand geht davon aus, daß man die Baukosten mit einem einzigen oder mit nur wenigen Instrumenten im Endeffekt bekämpfen oder herunterbringen kann. Also müssen auch solche Elemente in dieser Diskussion ernst genommen werden, die, allein betrachtet, nur einen kleinen Schritt nach vorn versprechen. Ich hoffe deshalb auf die Mitarbeit aller im Parlament, auf die Ideen und Anregungen, auf Kontakte zu den Ländern, damit die Praxis einbezogen werden kann.
Die Kostensenkung im Bauwesen hat eine hohe sozialpolitische Brisanz. Preisgünstiges Bauen und Wohnen bringt die Chance für Eigentum für Zigtausende von Familien. Es senkt die Wohnkosten der Mieter, senkt den Subventionsbedarf der öffentlichen Hände und ermöglicht damit im Endeffekt Steuerentlastungen. Bei dem hohen Anteil, den der Bau an den gesamten Investitionen in Deutschland hat, den auch die Wohnkosten am verfügbaren Einkommen haben, wird klar: Hier geht es um ein Thema, das man nicht mit Sonntagsreden begleiten kann. Wir wollen handeln. Die Bundesregierung ist dazu bereit, und ich fordere alle auf, daran aktiv mitzuwirken.
Das Wort hat der Kollege Volkmar Schultz, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bericht der Kostensparkommission, den Herr Günther erwähnt hat, hätte eigentlich hohe Wellen schlagen müssen in Deutschland,
wenn man sich die volkswirtschaftliche Bedeutung des Sektors Bauen anschaut und vor Augen hält, was zu gewinnen wäre, wenn es zu einer wirklich nennenswerten Verbilligung käme.
Deshalb frage ich mich: Warum hat dieser Bericht kein großes Echo gehabt?
- Das werde ich Ihnen beantworten. - Wahrscheinlich liegt es daran, daß nichts Neues in dem Bericht gestanden hat. Der Bericht ist eine saubere, eine solide Zusammenfassung dessen, was seit 15, seit
Volkmar Schultz
20 Jahren in zahllosen Pilotprojekten, in Demonstrationsobjekten, in Versuchen, in Wettbewerben alles zusammengetragen worden ist. Aber der Bericht gibt keine wirklich neuen Impulse.
Jetzt haben wir die Tatsache festzustellen, daß ein jahrzehntelanges Kartell von Gewohnheiten und Interessen eine breite Umsetzung all dieser Erkenntnisse bisher verhindert hat. Wir sind Weltmeister in den Baukosten. Und warum sollte es auch ein bißchen weniger sein? Es durfte ja allemal ein bißchen mehr sein.
Seien wir doch ehrlich: Wer hat eigentlich Interesse am kostengünstigen Bauen? Die Banken, weil sie dann weniger Kredite verleihen könnten? Die Notare, die Ämter, die Architekten, die Ingenieure, weil sich ihre Honorare und Gebühren an den Baukosten ausrichten?
Die Baustoffhändler, weil sie bei einer kühleren Tragwerksplanung auf 30 % Eisen verzichten könnten? Die Grundstückseigentümer? Die Makler? - Wenn sie alle kein Interesse an billigerem Bauen haben oder haben können, wer hat denn eigentlich Interesse daran?
Die Zeiten sind jetzt vorbei, in denen der Staat endlos begründeten oder auch unbegründeten Steigerungsraten hinterherfördern könnte.
Plötzlich schauen wir ganz neidisch zu den kleinen Nachbarn, nach Holland und Dänemark, denn die sind Weltmeister im Kostensparen.
Auch die Bundesregierung hat sich jetzt aufgemacht - wir begrüßen ausdrücklich die Initiative zum kosten- und flächensparenden Bauen -,
allerdings spät, sehr spät. Vor 15 Jahren hätten Sie es machen können.
- Oder vor 13 Jahren, na gut.
Um ein bißchen Wasser in Ihren Wein zu gießen: Der jetzige Handlungsrahmen enthält zwar eine Reihe zutreffender Beschreibungen, aber er bleibt in allen zentralen Fragen unbestimmt, wolkig, vage und ausweichend.
Im wesentlichen sind es drei Kostengruppen, die uns im Wohnungsbau beschäftigen: die Grundstückskosten, die reinen Baukosten und die Baunebenkosten. Der Handlungsrahmen der Bundesregierung ist in allen Teilbereichen unbefriedigend.
Betrachten wir die Grundstückskosten: Sie können heute bis zu 40 % der Gesamtkosten eines Reiheneinfamilienhauses ausmachen. In den Ballungsräumen
an Rhein und Ruhr kostet Bauland zwischen 500 und 950 DM pro Quadratmeter. Allein im Jahre 1994 sind die Preise im Durchschnitt um 8 % gestiegen. Wie will die Bundesregierung bei solchen Entwicklungen die Anhebung der Eigentumsquote, die sie landauf, landab als oberstes Ziel ihrer Wohnungspolitik verkündet, erreichen? Der Handlungsrahmen gibt darauf keinerlei befriedigende Antworten.
Mit ein paar Konversionsflächen, mit ein paar Pilotmaßnahmen und mit einem etwas zweifelhaften Bund-Länder-Baulanderschließungsprogramm läßt sich die uferlose Spekulation mit Bauland in Deutschland nicht bekämpfen. Wer holländische Kostenverhältnisse will, der muß holländisches Bodenrecht einführen.
Im Handlungsrahmen der Bundesregierung findet sich kein Wort zur Wiedereinführung der Grundsteuer C, kein Ansatz für die Einführung eines kommunalen Satzungsrechtes zur Erhöhung der Grundsteuerhebesätze. Beides könnte dazu führen, daß mehr Bauland auf den Markt kommt. So bleibt es nach dem Willen der Bundesregierung dabei, daß bereits bebautes Bauland höher besteuert wird als spekulativ zurückgehaltenes unbebautes Bauland.
Meine Damen und Herren, im Baugesetzbuch kennen wir das Instrument der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme mit der Abschöpfung von Planungswertgewinnen durch die Gemeinden. Dieses Prinzip sollte nach unserer Auffassung nicht nur für Einzelmaßnahmen gelten, sondern für eine flächendekkende Anwendung weiterentwickelt werden. Zugegeben, das wäre ein konfliktreicher Weg. Die Bundesregierung scheut ihn. In der zentralen Frage der Grundstückskosten verfährt sie nach der Devise: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß."
Kommen wir zu den Baukosten. Die SPD stimmt der Einschätzung der Bundesregierung zu, daß der soziale Wohnungsbau eine Leitfunktion für das kostengünstige Bauen hat.
Herr Kollege Schultz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?
Ja, gerne.
Mit Verwunderung höre ich von Ihnen, daß die Bundesregierung das Instrument der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen nicht genügend ermutige. Ist es nicht diese Bundesregierung bzw. diese Koalition gewesen, die im Jahre 1990 just dieses Instrument überhaupt erst geltendes Recht hat werden lassen?
Herr Kollege Braun, ich habe nicht gesagt, daß sie es bisher nicht genügend entwickelt hat, aber ich habe beklagt, daß es eine Einzelmaßnahme bleibt. Wenn es sich um eine Einzelmaßnahme in einer Gemeinde handelt, schaffen Sie durch die Anwendung des Instruments der
Volkmar Schultz
Entwicklungsmaßnahme einen gespaltenen Grundstücksmarkt.
Meine Fraktion und ich plädieren dafür, daß wir dieses Instrument auf eine flächendeckende Anwendung hin weiterentwickeln. Dann werden wir uns schon einig. Wenn Sie uns da folgen wollen, freuen wir uns sehr darüber.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, daß nicht etwa die Bundesregierung eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme beschließen kann, sondern daß dies Aufgabe der Kommunen wäre? Sehe ich es richtig, daß die Sozialdemokraten noch immer in einer namhaften Reihe von Kommunen die Mehrheit stellen?
Ich glaube, Herr Kollege Braun, das sehen Sie falsch. Eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme, wenn sie denn flächendeckend gelten sollte, müßte im Baugesetzbuch verankert werden. Dafür, glaube ich, sind wir zuständig.
Ich fahre fort: Wir stellen fest, daß der soziale Wohnungsbau eine Leitfunktion hat. Wenn das so bleiben soll, dann muß auch die Objektförderung in nennenswertem, d. h. in marktbeeinflussendem Umfang erhalten bleiben. Wer die Objektförderung gegen eine wie auch immer geartete Subjektförderung eintauscht, verliert die Leitfunktion in der lebenswichtigen Kostenfrage. Ich füge hinzu: Wer die Subjektförderung ausweitet, der treibt eher die Kosten in die Höhe, anstatt sie zu senken.
Insofern klingt es wenig überzeugend, wenn die Bundesregierung einerseits Kostenobergrenzen propagiert, andererseits aber auf die Aufhebung der Objektförderung sinnt. Befremdlich mutet darüber hinaus die Tatsache an, daß in dem vom Kabinett verabschiedeten Handlungsrahmen kein einziger konkreter Wert für Kostenobergrenzen angegeben wird, während in der dazugehörigen Pressekampagne vollmundig mit dem „jungen Haus" für 2 000 DM Baukosten pro Quadratmeter operiert worden ist.
Damit ist die Bundesregierung jedoch weit hinter den tatsächlichen Entwicklungen zurückgeblieben; denn wir haben in der Republik längst Angebote um 1 500 DM pro Quadratmeter. Das sollte die Meßlatte sein, meine Damen und Herren. Der Bundesbauminister sollte gemeinsam mit seinen Kollegen aus den Ländern der Bau- und Wohnungswirtschaft sagen: Das ist die Meßlatte, diese müßt ihr in fünf Jahren erreichen. Sie sollten also eine konkrete Zielvorgabe machen. Ich bin sicher, die Bauwirtschaft würde dies
annehmen, weil sie weiß, daß sie im europäischen Wettbewerb anders nicht bestehen kann. Wir sollten also mit der Talk-Show aufhören und an die Arbeit gehen.
Meine Damen und Herren, eine deutliche Einsparung bei den Baukosten ist dann erreichbar, wenn Wohnungen in größeren Stückzahlen erstellt werden. Die Erfahrungen im benachbarten europäischen Ausland belegen, daß die wirtschaftliche Untergrenze des Rationalisierungseffekts bei einer Mindeststückzahl von etwa 60 bis 80 Wohnungseinheiten liegt. Außerdem ist im Gegensatz zum europäischen Ausland der Anteil an industriell gefertigten Bauteilen im Wohnungsbau der Bundesrepublik relativ gering. Hier liegen entscheidende Kosteneinsparpotentiale.
Um diese zu nutzen und in die Praxis umzusetzen, fordern wir von der Bundesregierung nicht nur einen Koordinierungsausschuß, sondern die Einrichtung einer ständigen Innovationskonferenz mit allen Beteiligten: der Bauwirtschaft, den Planern, den Architekten, den Hochschullehrern, den Förderinstitutionen. Ausgehend von technologischen Entwicklungen und Optimierungserfahrungen in anderen Wirtschaftszweigen soll eine solche Konferenz neue Erkenntnisse im Baubereich verbreiten und innovative Produkte und Verfahren fördern. Einrichtungen, wie sie zum Teil schon bestehen, z. B. das Zentrum für rationelles und anwendungsorientiertes Bauen in Essen, könnten dabei eine sehr große Hilfestellung leisten.
Aber auch schon jetzt kann konkret gehandelt werden. Die Novellierung der Handwerksordnung ist schon angesprochen worden. Ich glaube, da sind wir auf dem richtigen Wege.
Darüber hinaus ist im Handlungsrahmen eine erneute Novellierung der HOAI angesprochen. Nennen wir das Kind beim Namen: Wir brauchen eine baukostenunabhängige HOAI. Für den Wohnungsbau ist dabei sehr wohl eine wohnflächenbezogene Honorierung vorstellbar.
Ein wesentlicher Kostenfaktor, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die Herstellungszeit eines Bauwerks. Wir haben uns daran gewöhnt, daß neue Wohnungen erst zwei bis drei Jahre nach Abschluß einer Finanzierung bezogen werden können. Durch eine optimale Koordination des Bauprozesses und eine engere Kooperation aller Beteiligten, die bereits in der Planungsphase erfolgen muß, kann der Fertigungsprozeß von neuen Wohnungen deutlich verkürzt werden. Das spart einen erheblichen Aufwand an Finanzierungs- und Zwischenfinanzierungsmitteln und führt zu entscheidenden Verbilligungen.
Es kommt also darauf an, das Geflecht von Beziehungen zwischen Planungs-, Genehmigungs- und Bauvorbereitungsverfahren auch auf den Zeitfaktor hin zu durchforsten.
Schließlich sollten, zumindest im öffentlich geförderten Wohnungsbau, die Erfahrungen der Städte Frankfurt und Wiesbaden mit einem privaten Con-
Volkmar Schultz
trolling-Unternehmen ausgewertet und für alle öffentlich geförderten Wohnungsprojekte verbindlich vereinbart werden. Auch hier, meine ich, sollte die Bundesregierung die Initiative ergreifen.
Aber, meine Damen und Herren, was nützt uns eine Kosteneinsparung von beispielsweise 100 000 DM pro Wohneinheit, sei es im Eigenheim oder bei der Mietwohnung, wenn diese Kosteneinsparung nicht an den Käufer oder an den Mieter weitergegeben wird? Neue Vertriebswege zu finden, über Genossenschaften, Bauherrengemeinschaften, Gruppenbaumaßnahmen, ist ein ganz wesentlicher Aspekt bei der Förderung des kostengünstigen Bauens.
Fazit: Der Handlungsrahmen der Bundesregierung läßt viele wichtige Fragen unbeantwortet. Sie sollten ihn zurückziehen und neu formulieren. Wir sind gern zur Hilfe dabei bereit.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Margarete Späte, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat für diese Legislaturperiode eine Kostensenkungs- und Wohnbaulandinitiative angekündigt, eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern und Gemeinden. Dank der hervorragenden Arbeit der Kostensenkungskommission, deren Bericht schon im Juli letzten Jahres vorlag, und besonders dank des großen Engagements von Herrn Minister Töpfer befinden wir uns heute mit der Vorlage des Handlungsrahmens der Bundesregierung nach erstaunlich kurzer Zeit schon mittendrin.
Festgestellt werden muß, daß zu einer wirkungsvollen Förderung des kostengünstigen Bauens vor dem Hintergrund eines steigenden Wohnungsbedarfs und knapper öffentlicher Haushalte und gerade auch unter familienpolitischen Gesichtspunkten dringender politischer Handlungsbedarf besteht, wenn sich kostengünstiges Bauen auch in Deutschland und über Modellprojekte hinaus durchsetzen soll.
Fest steht, daß in Phasen von Wohnungsknappheit immer besondere Anstrengungen auf dem Gebiet der Kostensenkung unternommen wurden, die aber in der nächsten Entspannungsphase der Marktentwicklung erlahmten. Fest steht: Kosteneinsparungskataloge liegen als Ergebnis ungezählter Modellprojekte, initiiert von Bund, Ländern und Verbänden, seit langem und zuhauf vor. Allein zwischen 1980 und 1985 wurden insgesamt 485 Projekte als Modellvorhaben des kosten- und flächensparenden Bauens realisiert, und der Kommissionsbericht listet allein für
die letzten 15 Jahre insgesamt 27 Projektdokumentationen und Einsparungskataloge auf. Das heißt, enorme Kosteneinsparungen sind möglich, haben sich aber bislang nicht durchsetzen können.
Fest steht, daß wir in Deutschland im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarländern auf Grund der enorm hohen und allein in den letzten zehn Jahren um 40 % gestiegenen Baukosten zum einen eine recht traurige Wohneigentumsquote - sie beträgt in den alten Bundesländern 41 % und in den neuen Bundesländern 24 % - und zum anderen ein recht hohes Bauherrenalter von durchschnittlich 38 Jahren haben.
Fest steht auch, daß unsere nächsten Nachbarn, insbesondere Holland, Vorbild im kosten- und flächensparenden Bauen sein können und müssen.
So kosten in Holland die eigenen vier Wände im Schnitt nur vier bis fünf Jahresgehälter, in Deutschland dagegen neun. In Holland ist ein kleines Reihenhaus schon ab 130 000 DM zu haben, ein entsprechendes Haus in Deutschland kostet mehr als das Doppelte.
Die Bauwerkskosten bei vergleichbaren Häusern liegen in Holland 40 bis 50 % unter denen in Deutschland, wobei 25 % durch geringere Ausstattungsstandards, z. B. durch Verzicht auf Unterkellerung, erreicht werden, 5 % auf Grund vereinfachter oder fehlender Normierung und Reglementierung und 20 % durch Rationalisierung bei der Planung und Ausführung des Bauvorhabens. Junge Familien mit Kindern brauchen in unserem Land schätzungsweise 500 000 Wohnungen pro Jahr, die sie sich finanziell leisten können.
Daß dies keine Illusion bleiben muß, daß und wie kostengünstiges Bauen in Deutschland gefördert werden kann, belegt nicht zuletzt, alle bisherigen Erkenntnisse - nicht nur aus Modellprojekten - und auch Erfahrungen der Nachbarländer zusammenfassend, der Kommissionsbericht. Wie in diesem Zusammenhang der politische Handlungsbedarf ganz konkret aussehen soll, daran wird derzeit auf den unterschiedlichsten Ebenen gearbeitet.
Die Bundesregierung hat in einem ersten Schritt auf der Grundlage des Kommissionsberichts, den ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich würdigen möchte,
einen ersten Handlungsrahmen vorgelegt. Dabei ist zu betonen, daß sowohl mit dessen Konkretisierung als auch mit dessen Ausfüllung und Umsetzung Minister Töpfer vor der Behandlung hier im Plenum begonnen hat - und das ist auch sehr gut so.
Margarete Spate
Denn Zeit kostet bekanntlich Geld, gerade im Baubereich. Wir dürfen einfach keine Zeit mehr verlieren, wenn wir unser Ziel erreichen wollen, daß die Kostensenkung beim Endverbraucher tatsächlich ankommt.
So existiert bereits der Koordinierungsausschuß beim BMBau. Die Abteilung Kostensenkung im BMBau ist eingerichtet, und auch der Bauausschuß hat bereits im Rahmen der Haushaltsberatungen eindeutig Stellung zur Kostensenkungs- und Wohnbaulandinitiative bezogen.
Wir haben sowohl für den sozialen Wohnungsbau als auch für die Wohneigentumsförderung nur begrenzte Mittel zur Verfügung. Aber wir wissen - und Sie von der Opposition wissen es auch -: Es geht günstiger, und es geht effektiver. Hier und jetzt haben wir die Chance, es zu beweisen und das Effektivste aus den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu machen, auch und gerade im sozialen Wohnungsbau. Daher steht als Bestandteil der Kostensenkungsinitiative in dieser Legislaturperiode das gesamte Förderregularium vom Grund her auf dem Prüfstand.
Unsere Wohnungspolitik der nächsten Jahre steht unter dem obersten Gebot der Kostensenkung und Kostenkontrolle. Wir werden damit sowohl die neue Wohneigentumsförderung nachhaltig unterstützen und effektiver gestalten als auch und gerade die für den sozialen Wohnungsbau bereitstehenden Mittel gezielter und effektiver einsetzen, beim ersteren durch mehr einkommensorientierte Förderung und beim letzteren durch Einführung von Kostenobergrenzen im sozialen Wohnungsbau.
Mit öffentlichen Mitteln wird nicht selten Luxussozialwohnungsbau zu horrenden Quadratmeterpreisen betrieben. Zum Beispiel Frankfurt - Sie erwähnten es - hat daraus endlich Konsequenzen gezogen. Heute wird dort der soziale Wohnungsbau von einem privaten Kostenkontroll- und Rationalisierungsunternehmen mit großem Erfolg überwacht.
Übrigens ist in einer Studie der Friedrich-EbertStiftung zur Wohnungspolitik in Ostdeutschland folgendes nachzulesen:
Als Kernpunkt einer sozialen Wohnungspolitik wird immer wieder ein möglichst umfangreicher sozialer Mietwohnungsbau gefordert. Eine solche Position wird für Ostdeutschland in den meisten Fällen nicht adäquat sein.
Warum denn diese Aufregung bei der notwendigen Haushaltskonsolidierung?
Alles in allem loben Sie in dieser Studie die Arbeit der Bundesregierung im voraus und auch im nachhinein. Dort steht:
Durch die Veränderungen im Baugesetzbuch sind mit den städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen und dem Vorhaben- und Erschließungsplan rechtliche Instrumente geschaffen worden, die es erlauben, im großen Stil Baugebiete für einfache Reihenhäuser, entsprechend kosten-
günstig bei rationeller Flächenausnutzung, zu erschließen.
Zu den laufenden bodenpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung gehört zudem die kostengünstige Bereitstellung bundeseigener Liegenschaften, damit Bauland wieder bezahlbar wird. Allein zwischen 1980 und 1994 haben sich die Kosten für baureifes Land um 77 % erhöht.
Ziele unserer Kostensenkungs- und Wohnbaulandinitiative sind die Erweiterung des Angebots preisgünstiger Wohnungen durch Etablierung des „jungen Hauses", die Erleichterung der Wohneigentumsbildung über die staatliche Förderung hinaus, damit bis zum Jahr 2000 jeder zweite in Deutschland - hoffentlich bereits in der Familiengründungsphase - in den eigenen vier Wänden lebt, und der effizientere Einsatz öffentlicher Mittel.
An diesem ersten und frühen Punkt der Diskussion plädiere ich für eine intensive Auseinandersetzung mit der Regierungsvorarbeit und für eine konstruktive Beratung und Bearbeitung der Thematik im Ausschuß, für die Anberaumung einer öffentlichen Anhörung und für die Beteiligung des Ausschusses im Koordinierungsausschuß Baukostensenkung im BMBau.
Abschließend bleibt mir nur, uns viel Arbeit mit diesem komplexen Anliegen zu wünschen, viel von Erfolg gekrönte Arbeit zugunsten aller.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Helmut Wilhelm, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wohnen als menschliches Grundbedürfnis ist inzwischen etwas teuer geworden. Die Analyse der derzeitigen Baukostensituation wird im Bericht zutreffend wiedergegeben, die Konsequenzen hieraus im übrigen im wesentlichen auch. Ich zitiere:
In Deutschland baut man teuer. Holländer, Engländer, Franzosen und Dänen schaffen es, mit 1 % ihres Bruttoinlandsprodukts 2,5 bis 3,5 Wohnungen auf 1 000 Einwohner zu errichten. In Westdeutschland waren es gerade 1,5 Wohnungen.
Dabei entspricht das Angebot an bezahlbarem Wohnraum schon lange nicht mehr der Nachfrage. Wir brauchen tatsächlich keine Bauherren- oder Architektenunikate auf hohem Standard, sondern bezahlbaren Wohnraum für die breite Masse der Bevölkerung.
Dieses Wissen ist natürlich nicht neu, doch verhindert ein Geflecht verschiedener Regulierungen, Normen, eingefahrener Interessen und Planungsverhal-
Helmut Wilhelm
ten kostengünstiges Bauen. Es gibt Modellprojekte, die bewiesen haben, daß Kostensenkungen bis zu 30 oder 40 % erreichbar sind. Das Wissen um die Wege ist also vorhanden.
Das Festhalten am hohen Kostenniveau war auch nicht ganz folgenlos. Der Druck auf Wohngeld und Sozialhilfe hat gewaltig zugenommen. Fälle von Mietschulden, Räumungsklagen, Wohnungs- und Obdachlosigkeit haben sich gehäuft. Die finanzielle Hauptlast traf dabei die Gemeinden, das schwächste Glied in der Kette.
Nachdem das Problem der hohen Baukosten bereits seit dem Ersten Weltkrieg bekannt ist - es gab nach dem Ersten Weltkrieg bekanntlich eine Vielzahl von Siedlungsmodellen zur Kostenersparnis - und nachdem gerade in den letzten Jahren die Baukosten explosionsartig gestiegen sind, sieht nun auch die Bundesregierung dankenswerterweise Handlungsbedarf. Zeit war's.
Dabei stimmen wir mit den Zielvorgaben durchaus überein: Senkung der Baukosten auf unter 2 000 DM je Quadratmeter, Berücksichtigung ökologischer Standards, sparsamer Flächenverbrauch.
Ebenso ist richtig, daß die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure kostensenkende Maßnahmen bisher bestraft hat. Eine Novellierung in Richtung Erfolgshonorare bei Kostensenkung - in einigen Städten musterhaft praktiziert, z. B. in Langenhagen bei Hannover - ist dringend erforderlich. Ansonsten gehen nämlich die besten Absichten ins Leere.
Auch stimmt es, daß die Erschließungskosten gesenkt werden müssen. Dabei liegt allerdings unserer Ansicht nach der wesentliche Handlungsbedarf nicht zuletzt im sinnvollen Umgang mit der „heiligen Kuh" Auto. Ich nenne beispielhaft die Reduzierung des Ausbaus der Erschließungsstraßen auf ein vernünftiges Maß - es muß nicht unbedingt so sein, daß sich auf einer Anliegerstraße zwei Lkws begegnen können müssen; so stand es einmal in der Richtlinie für den Ausbau von Stadtstraßen - und den Verzicht auf kostenintensive Tiefgaragen. Statt dessen sollte die Standortplanung für Wohnsiedlungen unter dem Aspekt bestehender oder ausbaufähiger ÖPNV-Systeme erfolgen.
Nach unserer Überzeugung sind die Baukosten im wesentlichen auch durch folgende Maßnahmen zu reduzieren: Wir brauchen die Einführung eines Bodenrechts, das spekulative Planungsgewinne bei Baulandausweisungen verhindert. Ich erinnere hier - das wurde heute bereits angesprochen - an § 154 des Baugesetzbuches, der allerdings nur im Bereich von Städtebauförderungsmaßnahmen gilt.
Wir brauchen eine konsequente und sinnvolle Bodenvorratspolitik der Kommunen
statt der Forderung nach exzessiver Baulandausweisung. Dies ist natürlich für die Gemeinden angesichts des in der Vergangenheit praktizierten und auch in der Gegenwart stattfindenden Abdrückens
von Kosten von oben auf die Gemeinden schwierig. I Viele Gemeinden sind im Gegenteil bereits gezwungen, ihre Vorräte an Grund und Boden zu verkaufen, um das nötige Kapital zur Abdeckung ihrer Haushalte zu erwirtschaften.
Wir brauchen eine Mieterbeteiligung bereits im Planungsstadium. Es ist schon etwas merkwürdig, daß am Bau eines Wohngebäudes sehr viele beteiligt sind: Architekten, Handwerker, Notare usw., nur einer nicht: der spätere Nutzer einer Wohnung, der Mieter. Hier wäre ein Einsparungspotential gegeben, auch dadurch, daß man Mietern Freiräume bei der Gestaltung des Wohnumfeldes, z. B. bei den Grünanlagen, zugesteht und ihnen auch die spätere Pflege überträgt.
Ich denke auch an die Möglichkeit genossenschaftlichen Bauens durch „Muskelhypothek".
Umsetzungsinstrumente für ökologisches Bauen sind endlich verbindlich festzuschreiben. Dazu zählen verpflichtende Vorgaben für verdichtetes Bauen. Flächensparendes Bauen heißt nämlich auch kostensparendes Bauen. Wir haben einen Gesetzentwurf zur Wohneigentumsförderung eingebracht, der diese Komponenten berücksichtigt, was im Regierungsentwurf fehlt.
Herr Frankenhauser, Sie können keine Zwischenfrage mehr stellen. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen die Möglichkeit zu einer Kurzintervention. Möchten Sie?
- Bitte.
Herr Kollege Wilhelm, wären Sie in der Lage - -
- Ich kann bei einer Kurzintervention auch eine Frage stellen. Das ist doch zulässig, oder?
Sie sind ganz frei, wie Sie die Kurzintervention machen wollen, aber machen Sie sie.
Herr Kollege Wilhelm, ich möchte hier ausdrücklich feststellen, daß Sie nicht in der Lage waren, ein einziges Objekt zu benennen, bei dem auf Grund der richtungsweisenden neuen Baumöglichkeiten, die der Freistaat Bayern geschaffen hat, Kostensteigerungen eingetreten sind.
Möchten Sie dazu etwas sagen, Herr Wilhelm? Sie müssen das aber nicht.
Herr Kollege, ich empfehle Ihnen, an Tagungen von Baufachleuten und auch kommunalen Baubeamten teilzunehmen. Die werden es Ihnen nämlich sehr deutlich sagen, auch unter Zugrundelegung zahlreicher Beispiele.
Das Wort hat der Herr Kollege Braun, F.D.P.
Wertes Präsidium! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer wie wir Liberalen niedrige Mieten will, muß dafür sorgen, daß viel gebaut wird. Wer viel bauen will, braucht viele Käufer. Diese können aber nur kaufen, wenn die Häuser und Wohnungen billig sind, jedenfalls billiger als bisher. Wir haben die höchsten Preise der Welt, und darauf sind wir gar nicht stolz.
Wir haben auch die höchsten Anforderungen an Wohnbauten. Darauf sind wir schon eher stolz, aber, ehrlich gesagt, mit Einschränkungen. Wir wünschten, alle Bürger in unserem Land könnten Eigentümer ihrer vier Wände werden. Dann müssen wir uns aber ernsthaft um die angestrebte Verbilligung kümmern.
Wir leisten uns den Luxus, den Wohnungsbau, der gegenüber dem gewerblichen Bau aus vielerlei Gründen teurer ist, z. B. durch viel mehr Sanitäranlagen, durch Kinderspielplätze, durch kompliziertere Grundrisse usw., nochmals beträchtlich zu verteuern, da wir die Bauherren von Wohnungsbauten nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen. Dies ist ein äußerst unglücklicher Aspekt. Der Staat steuert hier durch Steuern in eine gefährliche Richtung: Gewerbebauten führen bei den Gemeinden zu Gewerbesteueraufkommen, Wohnungen führen statt dessen zu beträchtlichen Nachfolgelasten wie Kindergärten, Schulen, öffentlichem Nahverkehr usw. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn in vielen Gemeinden die zu den Arbeitsplätzen gehörigen Wohnungen nicht geschaffen werden. Falsche Strukturpolitik rächt sich aber.
Kostensparendes Bauen erfordert ein Umdenken. Manche Stadtviertel aus der Jahrhundertwende mit einer außerordentlich hohen Akzeptanz weisen eine durchschnittliche Geschoßflächenzahl von 2,0 auf.
Die Baunutzungsverordnung meint nun, daß eine solche bauliche Verdichtung die Lebensqualität allzusehr einschränke und daher unzulässig sei. Merkwürdig, daß die Münchener in Schwabing und Haidhausen dies ganz anders sehen.
Der Dachgeschoßausbau wird noch in vielen Großkommunen negativ gesehen und nicht ausreichend unterstützt. Daumenschrauben in Form von Anforderungen in bezug auf nachträglich kaum mehr zu schaffende Stellplätze werden immer wieder bekannt. Richtig ist natürlich, daß der Dachgeschoßausbau deutlich billiger ist als der Bau auf unbebauten Grundstücken: Die Erschließung ist längst vorhanden; die existierenden Ver- und Entsorgungsleitungen lassen sich in der Regel verlängern, so daß der Aufwand entsprechend gering ist.
Eine Senkung der Grundstückspreise wäre in all den Gemeinden möglich - das sind über 99 % der Gemeinden in Deutschland -, die über Flächen verfügen, die ohne gefährliche Eingriffe in die Natur und den Landschaftsschutz zur Verfügung gestellt werden könnten.
Grundstücke, auch und gerade solche in öffentlicher
Hand, als Wohnbauland ausweisen und sie auch für
den Markt verfügbar machen, das ist das Gebot der
Stunde.
Ein gewaltiger Kostenfaktor, der sich aber speziell bei Behörden noch zu wenig herumgesprochen hat, sind die Kosten der Vorfinanzierung von Grundstükken bis zur Baugenehmigung. Wir hören immer wieder, daß Baugenehmigungsbehörden Anträge in einer Weise prüfen, als seien sie Bauverhinderungsbehörden.
Die Gemeinden und Landkreise sind aber aufgerufen, die Verfahrensdauer deutlich zu verkürzen. Dies spart Zinsen und natürlich auch Baukosten, da diese regelmäßig nach Verzögerungen nicht niedriger, sondern höher liegen. Grundbuchämter, die zu langsam arbeiten, verursachen horrende Kosten.
Die Regelungsdichte der Bauordnungen, die in weiten Bereichen vom Bild des unmündigen Bürgers geprägt sind, der vor sich selbst geschützt werden müsse, tut ein übriges.
Kleine Stückzahlen verhindern oft Kostensenkung durch rationelle Vorfertigung. Gewiß wollen wir nicht die Rückkehr zum Plattenbau unseligen Angedenkens. Wer aber preiswertes Bauen wünscht, darf Rationalisierungsbestrebungen nichts in den Weg stellen.
Hildebrecht Braun
Wir fordern eine Rückbesinnung auf den heimischen Baustoff Holz, der unter Umweltgesichtspunkten positiv zu bewerten und preiswert zu haben ist. Allerdings würden Holzhäuser wohl eine drastische Verschärfung der Wärmeschutzverordnung nicht überstehen. Hier ist Vorsicht geboten.
Ein Problem sind schließlich die deutschen DIN-Standards. Nach § 13 Nr. 1 VOB, Teil B, muß das Bauwerk zum Zeitpunkt der Abnahme nach den anerkannten Regeln der Technik erstellt sein. Sind die DIN-Normen eingehalten, so gilt die allerdings widerlegbare Vermutung, daß diese Regeln eingehalten worden seien. Die Gerichte behandeln die DIN- Normen aber quasi als gesetzliche Mindeststandards. Dies erscheint außerordentlich bedenklich. Richtig wäre wohl, nur die DIN-Normen, die der Bausicherheit dienen, als Mindeststandards zu betrachten. Soweit es aber um Qualitätsstandards geht, müssen die Vertragspartner in der Lage sein, aus Kostengründen auch niedrigere Standards zu vereinbaren. Wir werden daher prüfen, ob der Gesetzgeber hier tätig werden muß.
Zusammenfassend will ich feststellen: Die Phantasie und die Tatkraft aller irgendwie mit dem Bauen befaßten Menschen sind gefordert, um Wohnungen erschwinglich zu machen. Staatliche Subventionen ersetzen nicht richtiges Handeln. Sie verführen häufig nur zu geistiger und wirtschaftlicher Trägheit, die wir uns im Bausektor schon gar nicht leisten können.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Klaus-Jürgen Warnick, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als sechster Redner in dieser Runde kann ich vieles meiner Vorredner nur wiederholen und will deswegen einiges weglassen.
In einem sind wir uns ja einig: daß Bauen in Deutschland viel zu teuer ist, daß es für zunehmend mehr Menschen unbezahlbar ist und auch gutverdienende Familien kaum noch eine Möglichkeit haben zu bauen. Dies festzustellen reicht aber nicht. Man muß Konsequenzen ziehen, man muß dem Taten folgen lassen.
Der Bericht der vom Bundesbauministerium eingesetzten Kommission liegt seit dem Sommer 1994 vor. Ein Jahr benötigte die Bundesregierung, um den Bericht als Drucksache in den Bundestag einzubringen - nun gut, angereichert mit einer fünfseitigen Stellungnahme der Bundesregierung. Wer denkt, das Problem sei damit gepackt und werde nun gelöst, der irrt, zum einen, weil die Kommission die wichtigsten
Fragen auf Grund fehlender Analysen auch nicht beantworten kann und statt dessen nur fragmentarisch Hypothesen nebeneinanderstellt, zum anderen, weil nun weitere berufene Experten an einzelnen Vorschlägen arbeiten sollen, statt daß die Regierung endlich zu handeln beginnt.
Im Bericht wird dokumentiert, wie seit dem Ersten Weltkrieg erfolglos am Problem der Baukosten herumlaboriert wird. Zwei volle Seiten umfaßt allein die Auflistung ausgewählter Projektdokumentationen und Einsparungskataloge aus den letzten 15 Jahren. Etliche Experten konnten damit ihre Brötchen verdienen - ich denke, nicht schlecht -, nur geändert hat sich nichts.
Im Gegenteil: Die Kosten für Bauland, Mietwohnungen und Eigenheime stiegen unter dieser Koalition schneller als die Einkommen der Lohnabhängigen und die allgemeinen Lebenshaltungskosten. Dies ist ein Eldorado für Banken, Bausparkassen, Immobilienbesitzer, Architekten und große Baufirmen. Überhöhte Kosten für den Käufer auf der einen Seite bedeuten immens hohe Gewinne der Hersteller und Anbieter auf der anderen Seite.
Es ist eine richtige und zentrale Erkenntnis der Kommission: Nicht überzogene Baunormen, sondern die Interessenlage der am Bau Beteiligten, alte Gewohnheiten und Monopole - statt Wettbewerb - sind die Hauptprobleme. Kartellmentalität, flächendekkende Korruption und ein dichter Filz von Politik und Wirtschaft kommen hinzu. In dem Buch „Die deutsche Wohnungsmisere", erschienen im August 1995, beschreibt Johannes Ludwig diese Misere sehr eindrucksvoll.
Schlußfolgerungen sind nach unserer Meinung in zwei Richtungen möglich: Erstens. Der Staat hat dem Kapital in seinem Drang nach maximalen Gewinnen bisher zuviel Raum gelassen, muß also stärker regulierend eingreifen. Das ist unsere Meinung. Zweitens. Der Staat regelt zuviel, macht dadurch das Bauen zu teuer, muß also dem freien Spiel der Marktkräfte mehr Raum geben. Das ist die typische F.D.P.-Meinung.
Auf einem Kongreß in der vorigen Woche zum Thema „Innenstädte contra grüne Wiese" mußte sich aber auch die F.D.P. eines Besseren belehren lassen. Herr Rexrodt hat dort keine besonders gute Figur gemacht. Es sollte Ihnen zu denken geben, daß auch Handel und Industrie dort der Meinung waren: Es ist soweit, daß der Staat eingreifen muß; der Markt kann nicht alles regeln.
Geringes oder gar kein Interesse an niedrigen Baukosten haben - unser Kollege Schulz hat schon darauf hingewiesen - Grundstücksverkäufer, deren Gewinn direkt vom Preis abhängt, Makler, die durch Courtage verdienen, Architekten und Ingenieure, deren Honorar mit den Kosten steigt, Banken, an Abschreibungsprojekten Beteiligte. Das Kräftegefüge und das Interessengeflecht sprechen hier für sich.
Klaus-Jürgen Warnick
Interessanter ist schon die Frage, wer Interesse am preiswerten Bauen hat: Eigenheimer, Genossenschaften, Mieter - wobei diesen kaum die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Faktoren der Baukosten und ihrer späteren Miete bewußt sind -, mit Einschränkungen auch Wohnungsunternehmen, die die Baukosten aber zum Teil via Miete abwälzen können.
Es gäbe auch Alternativen. Nicht untersucht wurde z. B., ob gemeinnützige Unternehmen, Genossenschaften, Selbsthilfeprojekte oder auch kommunale Eigenbetriebe kosten- und flächensparender bauen könnten. Es paßt logischerweise nicht in Ihr Weltbild, einmal darüber nachzudenken, ob man nicht auch Erfahrungen aus der DDR nutzen könnte. Staatssekretär Günther hat darauf hingewiesen, daß junge Familien nicht mehr in der Lage sind zu bauen. In der DDR war dies zum Teil möglich. Was in der armen DDR möglich war, sollte doch auch in der reichen Bundesrepublik möglich sein.
Es gab z. B. Modelle, daß man die Architekten dadurch sparen konnte, daß durch den Staat mehrere Modelle entwickelt wurden, auf die man dann ganz kostengünstig und billig zurückgreifen konnte. Aber es ist mir klar, es paßt nicht in Ihr Weltbild, es darf nicht sein, weil in der DDR natürlich nichts funktioniert hat.
Zum Schluß noch zu meinem Lieblingsthema Bodenpolitik.
Das muß aber ganz kurz sein.
Die Wohnungsprobleme in Deutschland kann man nur lösen, wenn man die Bodenpolitik ändert. Die Bodenspekulation muß hoch besteuert werden. Aber ich denke, das läuft hier nicht. Man verschenkt auf der einen Seite Milliarden und sagt dann auf der anderen Seite, im Haushalt ist kein Geld da. Das bestätigt immer wieder meine Vermutung: Diese Regierung denkt und fühlt zuallererst im Interesse der wenigen, die haben, und nicht im Interesse der vielen, die Hilfe benötigen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Josef Hollerith, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß wir heute die Gelegenheit haben, über den Handlungsrahmen kosten- und flächendeckenden Bauens zu diskutieren. Die Initiative der Bundesregierung ist wertvoll, weil sie in Zeiten knapper öffentlicher Kassen, knapper privater Mittel die Chance eröffnet, mehr Wohnungen zu bauen und mehr Eigenheime zu schaffen, um die Eigentumsquote zu erhöhen.
Richtig ist, daß die Bodenpreise einen bedeutenden Anteil an den Baukosten ausmachen.
- Bis zu 50 % in wenigen Ausnahmesituationen.
Ich möchte Ihnen aus meiner weiteren Heimat zwei Beispiele geben, wie Kommunen mit diesem Problem umgehen: ein Beispiel der Nichtlösung und ein Beispiel der Lösung dieses Problems. Es ist die Stadt Ingolstadt, die offensiv die Instrumente des Baugesetzbuch-Maßnahmengesetzes nutzt, Bauland ausweist, damit die Bauwirtschaft anregt, zusätzlichen Wohnungsbau ermöglicht und im Ergebnis eine Senkung der Mietpreise von Neubauwohnungen um bis zu 30 % bewirkt hat.
Auf der anderen Seite steht das Beispiel der Stadt München mit ihrer rot-grünen Mehrheit.
Dort findet genau das Gegenteil statt. Dort wird Baulandausweisung behindert, verzögert, verhindert.
Ein konkretes Beispiel ist die Panzerwiese, wo 6 000 Wohneinheiten nach langem Zerreden jetzt endlich entstehen werden, obwohl 12 000 Wohneinheiten ohne Beeinträchtigung der Landschaft und Natur möglich gewesen wären.
Dort findet eine Nichtausweisungspolitik, eine Nichtverdichtungspolitik statt, die im Ergebnis die Reichen reicher macht und die weniger Begüterten, die Geringverdiener aus der Stadt vertreibt. Das verantwortet eine Partei, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt und den Begriff „sozial" in ihrem Parteinamen hat. Das ist eine unverantwortliche Politik.
Damit Sie das Horrorszenario rot-grüner NichtBauland-Politik in Gänze ermessen können, muß ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, sagen, daß die Stadt München im Jahre 1992 für den sozialen Wohnungsbau 18 Millionen DM ausgegeben hat, aber für überwiegend ökologisch motivierte Verkehrsberuhigungsmaßnahmen 21 Millionen DM übrig hatte. Das ist die Realität sozialdemokratischer Verantwortung in den Kommunen.
Wir dürfen und wollen die Kommunen aus ihrer Verantwortung für die Bauleitplanung, die Bereitstellung von Bauland nicht entlassen.
Josef Hollerith
Zweiter Punkt. Es ist gesagt worden, daß Normen Auswirkungen auf Baupreise haben. Ich bin nicht der Auffassung, daß mit einer Veränderung von DIN-Normen alle Probleme zu lösen sind. Aber ich möchte Ihnen ein Beispiel geben, woran Sie erkennen, wie wichtig die Veränderung von Normen ist. Wir haben im Geschoßwohnungsbau natürlich zu Recht die Vorschriften über die Trittschalldämmung. Aber warum soll es nicht möglich sein, im Einfamilienhaus, wo es kein Schutzinteresse gibt, auf die Trittschalldämmung zu verzichten? Das ist heute nach den allgemeinen Regeln der Baustandards nicht möglich.
Ich möchte zum letzten Punkt, der Frage der Einstellung, des Angebots und der Nachfrage, kommen. Wir haben heute Angebote betreffend die Übertragung der amerikanischen Holzsystembauweise auf deutsche Baunormen, wonach wir für 1 800 DM pro Quadratmeter unter Einhaltung der Schallschutzstandards, der Wärmeschutzstandards und der Brandschutzstandards in Deutschland Wohnfläche bester Qualität herstellen können. Warum findet dieses Angebot nicht mehr Nachfrage? Auch in diesem Punkt ist die öffentliche Hand gefordert. Ich verweise auf die Möglichkeit, im sozialen Wohnungsbau Kostenobergrenzen festzusetzen, um damit die Nachfrage anzuregen.
Ich bin sicher: Mit einer verantwortlichen Politik, mit einer In-die-Pflichtnahme aller am Bauprozeß Beteiligten werden wir die Probleme lösen.
Ich danke.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Mertens, SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Thema kosten- und flächensparendes Bauen hat mittlerweile vier Bauminister und -ministerinnen überlebt. Es wird wahrscheinlich auch Herrn Hollerith überleben. Der erste Bauminister war übrigens ein Sozialdemokrat, der das Thema in das Programm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau" aufgenommen hat. Die nächsten drei Wohnungsbauminister haben irgendwie den Paternoster erwischt.
Hoffentlich hat der fünfte Minister einen besseren Orientierungssinn. Sollte sich abzeichnen, daß wir ihn zum Jagen tragen müssen, dann werden wir das auch tun, und zwar aus folgenden Gründen: Wohnen muß wieder bezahlbar werden; regionales Handwerk und Bauindustrie müssen eine Zukunft haben; wir müssen die Umwelt schonen; wir wollen öffentliche
und private Kassen entlasten; und schließlich - das ist mir besonders wichtig - wollen wir eine neue Wohnkultur unterstützen und fördern, die mit Geld und Raum bewußt umgeht.
Wie ernst wir das Thema nehmen, können Sie daran erkennen, daß wir am 30. Oktober eine Fachtagung dazu veranstalten.
Wir sind also mit großem Engagement dabei. Wir sind aber nicht kritiklos dabei. Es gibt in Ihrem Papier nämlich Formulierungen, die jedenfalls mich aufhorchen lassen. Es wäre jetzt, am Anfang einer Umsetzungsphase, gut zu wissen, wohin der Weg auf Ihrer Seite führen soll.
Wenn Sie vorhaben, mit dem Thema kosten- und flächensparendes Bauen endlich den Beweis zu erbringen, daß der soziale Wohnungsbau im ersten Förderwege zu teuer ist, um noch gefördert zu werden, dann wird Ihnen das nicht gelingen. Es gibt massenhaft Beispiele für preiswertes Bauen in diesem Bereich. Wenn Sie das nicht wollen, dann sollten Sie das hier deutlich machen.
- Herr Braun, Sie brauchen sich nicht zu bemühen. Sie wollen nur immer zusätzliche Redezeit. Ich habe keine Lust, Ihnen dabei zu helfen, wirklich nicht.
Ich möchte meine Befürchtungen an zwei Beispielen deutlich machen.
Erstens. Sie heben die vereinbarte Förderung in besonderem Maße hervor; gleichzeitig diskreditieren Sie das Kostenmieteprinzip, als glaubten Sie gar nicht an Kosteneinsparungen, die sich in der Miete widerspiegeln.
Was passiert denn mit den Wohnungen, die nach relativ kurzer Zeit nicht nur völlig frei zu Marktpreisen vermietbar sind, sondern darüber hinaus auch noch in Eigentumswohnungen umgewandelt werden können? So viel, wie Sie dann alle zehn Jahre an Eigentumsförderung bezahlen müssen, können Sie durch preiswertes Bauen gar nicht einsparen.
Zweitens. Sie reden von Obergrenzen für Kosten, schweigen gleichzeitig aber über regionale Unterschiede. Ich meine, hierzu müssen Sie sich noch einmal erklären.
Preis- und Mengeneffekte zu erzielen, ohne dabei den Aspekt der sozialen Versorgungswirkung aus den Augen zu verlieren, ist die Kunst. Alles andere ist Kosmetik, verlagert Kosten in andere Bereiche und andere Haushalte. Das ist in der volkswirtschaftlichen Bilanz eigentlich für die Katz.
Angelika Mertens
Sie beklagen in Ihrer Initiative zu Recht den Zustand, daß die Preise in den letzten zehn Jahren um 40 % zugenommen haben. Aber diese Erhöhung ist schließlich nicht vom Himmel gefallen. Sie ist das Ergebnis der Wohnungsbaupolitik dieser Bundesregierung in den letzten zehn Jahren.
Das Angebot an Wohnungen wurde bewußt reduziert. Man hat ein wichtiges Instrument des Wohnungsbaus, nämlich das Baugebot, durch die Wegnahme der Gemeinnützigkeit zerschlagen und wundert sich jetzt, warum die Preise so hoch sind. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist Marktwirtschaft.
Wenn man glaubt, ein Grundrecht, nämlich das auf Wohnen, frei-marktwirtschaftlich einlösen zu können, braucht man entweder viel Ideologie oder viel Geld. Man kann dem natürlich auch entgehen, indem man sagt, es gibt gar kein Grundrecht auf Wohnen.
Nun wollen wir das real existierende Problem, daß nämlich Wohnraummangel besteht und der Wohnraum gleichzeitig unnötig teuer ist, alle im Hause gemeinsam angehen. Das haben wir uns versprochen. Das ist eine gute Ausgangsbasis für eine Lösung.
Ich möchte dabei auf zwei Aspekte eingehen. Im vorliegenden Papier ist ganz viel von Eigentum die Rede, aber ganz wenig von Mietwohnungen. Als Abgeordnete eines Ballungsgebietes möchte ich verständlicherweise erstens eine Aussage, welchen Stellenwert der Mietwohnungsbau bei Ihnen erhalten soll, und zweitens wissen, wie sich die - ich formuliere das sehr vorsichtig - „Eigentumseuphorie" mit der Umwelt verträgt.
Innerstädtische Bebauungen, Verdichtungen und Ergänzungen werden einen wesentlichen Beitrag bei der Versorgung mit preiswertem Wohnraum leisten müssen. Flächen sparen zu wollen und gleichzeitig in die Fläche zu gehen ist ein Widerspruch, der meiner Meinung nach auch mit den intelligentesten Lösungen nur zum Teil aufgelöst werden kann.
Bauen ist immer ein Kompromiß zwischen Wünschen und finanziellen Möglichkeiten. Unsere finanziellen Möglichkeiten kennen wir; wir können darüber streiten, wie die Verteilung erfolgt. Unser Defizit liegt woanders. Die uns von interessierter Seite definierten Wohnwünsche bewegen sich fast ausschließlich in den Kategorien von Keller und zusätzlichem WC und natürlich Eigentum um jeden Preis.
Die Kategorien „bewußter Umgang mit Geld und Raum" , „sparsamer Verbrauch von Umwelt" , „soziale Netze und Kommunikation" spielen in der Regel nur unter Fachleuten eine Rolle. Hier haben wir einen Nachholbedarf, und hier müssen wir Konzepte für die Regel und nicht für die Ausnahme entwickeln und umsetzen. Diese werden vor allem in einer verdichteten Bauweise umgesetzt. Dies zu vernachlässigen ist fahrlässig, und ich glaube, Sie befinden sich genau auf diesem Weg.
Wir sollten uns auf eine verstärkte Mobilität der Menschen einstellen. In den verschiedenen Lebensphasen gibt es auch verschiedene Bedürfnisse im Hinblick auf das Wohnen. Aufwachsen in einer überschaubaren, gesunden, Freiräume bietenden Umgebung ist etwas sehr Schönes. Ständige soziale Kontrolle durch wohlbekannte und gut informierte Nachbarn ist für junge Menschen so ungefähr das Nervtötendste, was es gibt.
Wenn Arbeitsplatz und Wohnort weit auseinanderliegen, wenn Kinder keine Ausbildung am Ort erhalten können, mag der Wohnwert noch so hoch sein, die Lebensqualität sinkt.
Wenn der längere Urlaub im Rentenalter größere Freundlichkeiten gegenüber den Nachbarn voraussetzt, weil einer den Schnee schippen oder den Rasen mähen muß, dann wird sich bei manchem auch der Wunsch nach einer Zweizimmermietwohnung verstärken.
Weil die meisten Menschen aber fast ihr Leben lang ein Haus abbezahlen müssen, sind sie zwangsweise auch immobil. Man trennt sich nicht gern von Dingen, die teuer waren. Es macht aber keinen Sinn, allein und einsam in einem 140-Quadratmeter-Haus zu hocken oder die Hälfte des Gehaltes für die Miete ausgeben zu müssen.
Wir werden uns also auf neue und sehr unterschiedliche Wohnwünsche einstellen müssen. Wir werden uns nicht auf die Quantität der Einsparung zurückziehen können; wir werden auch die soziale Brauchbarkeit einer Wohnung definieren müssen.
Das, was wir jetzt bauen, wird wohl auch in den nächsten 100 Jahren noch stehen. Wir sollten also alle zusammen nicht den Fehler machen, zu kurz zu springen, indem wir glauben, alle Probleme könnten durch junge Häuser gelöst werden. Preiswerte Lösungen j a, billige nein.
Das Wort hat der Kollege Gert Willner, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gehe davon aus, daß Übereinstimmung besteht, kosten- und flächensparendes Bauen zu unterstützen. Es gibt mehrere wichtige Gründe, daß wir uns heute damit befassen. Die eigene Wohnung ist ein hohes Gut. Ausreichender Wohnraum, breit gestreutes Eigentum ist ein Beitrag zum sozialen Frieden. Dem Thema Wohnungen ist in der Koalitionsvereinbarung deshalb ein hoher Stellenwert eingeräumt worden.Der Vermittlungsausschuß hat zum Jahressteuergesetz 1996 entschieden, die Abschreibungen für den frei finanzierten Wohnungsbau zu senken. Wir bedauern dies. Dadurch und durch verringerte Haus-
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5225
Gert Willnerhaltsansätze für den öffentlich geförderten Wohnungsbau in Bund und Ländern müssen wir mit weniger Geld beim Wohnungsbau auskommen. Deshalb ist es erstens nötig, die öffentlichen Mittel zu konzentrieren, Stichwort einkommensorientierte Förderung. Zweitens ist es erforderlich, privates Kapital zu mobilisieren, z. B. über die Revitalisierung der Städtebauförderung für die alten Länder. Drittens gilt es, alle Möglichkeiten des kosten- und flächensparenden Bauens auszunutzen, denn hier sind zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren, ohne daß es Geld kostet. Um dieses Ziel geht es insgesamt: Mit weniger Geld den Wohnungsbau auf möglichst hohem Stand fortzuführen.Der zweite Grund ist: Viele und gerade junge Familien mit Kindern stehen vor der Alternative, preisgünstig oder gar nicht zu bauen. Wenn wir mit dem Ziel, mehr Wohnungseigentum zu schaffen, Erfolg haben wollen, muß kosten- und flächensparendes Bauen nicht nur Wunsch, sondern tägliche Realität werden.Ein dritter Grund ist, deutlich zu machen: Wir wollen bereits geltendem Recht im Rahmen dieser öffentlichen Diskussion in der Verwaltungs- und Handlungspraxis mehr Beachtung verschaffen. Denn das Wohnungsbauförderungsgesetz 1994 verpflichtet ausdrücklich im sozialen Wohnungsbau zu kosten- und flächensparendem Bauen, und für Bund, Länder und Gemeinden besteht nach dem Zweiten Wohnungsbaugesetz eine Rechtspflicht zur Beschaffung von Bauland. Das Gesetz sagt klar: Bund, Länder und Gemeinden haben die Aufgabe, geeignetes Bauland für den Wohnungsbau, nicht nur für den sozialen Wohnungsbau, bereitzustellen. Die Gemeinden haben darüber hinaus die Aufgabe, für eine Bebauung mit Familienheimen geeignete Grundstücke zu beschaffen, baureif zu machen und zu überlassen. Wir brauchen kein neues Recht, wir brauchen keine Grundsteuer C. Wir wollen, daß das geltende Recht verstärkt beachtet und umgesetzt wird. Es mangelt an einem Angebot an Bauland.Wie wichtig der Kostenfaktor Bauland auch im sozialen Wohnungsbau ist, wird daran deutlich, daß auf Grundstückskosten immerhin 12 %, auf Gebäudekosten dagegen nur 66,5 %, auf Stellplätze und Außenanlagen 6 %, auf Baunebenkosten einschließlich Architekten- und Ingenieurleistungen 15 % entfallen. Für die Grundstückskosten sind das bei sehr preiswerter Erstellung pro Quadratmeter 400 bis 500 DM. Deshalb sind die Städte und Gemeinden gefordert, bereits bei der Bauleitplanung einen Beitrag zu rationellerem und kostengünstigerem Bau zu leisten, z. B. durch sparsame Erschließung. Das Ziel heißt: kostengünstig planen, kostengünstig bauen.Es gibt auch in der Bundesrepublik sehr gute Beispiele für kostengünstiges Bauen und für eine praktizierte Zusammenarbeit am Bau, ein wichtiger Gesichtspunkt, um zu günstigeren Kosten zu kommen. Ich verweise auf eine Zusammenarbeit auf freiwilliger Grundlage im Rahmen der Bauwirtschaft in Schleswig-Holstein bei der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen, die in diesem Jahr immerhin 50 Jahre besteht und bei der auch Minister Töpfersein Erscheinen zugesagt hat und sich persönlich davon überzeugen kann, daß dort eine sehr gute Leistung und ein Beitrag zum kostengünstigen Bauen erbracht wird.Preiswertes Bauen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wohl, wie Biedenkopf sagt, im wesentlichen ein Denkproblem. Ich sage sehr deutlich: Der Preis von morgen ist das Ergebnis des Nachdenkens von heute.
„Bauen muß in Deutschland zur Sicherung eines breiten Wohnungsangebotes für alle Bevölkerungsschichten wieder preisgünstiger werden". Dies „erleichtert zugleich die Wohnungseigentumsbildung und trägt ... zur Verstetigung der gesamten Wohnungsbautätigkeit bei." Dies schafft „sichere Arbeitsplätze". So hat sich Minister Töpfer geäußert. Wo der Minister recht hat, hat er recht.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde, Sie haben die Eingangsbemerkung des Kollegen Großmann gehört.Entsprechend der Bittevon Kollegen aus zwei Fraktionen schließe ich gereimt— und bin sicher: im Ziel vereint —,denn unser Ziel ist Kosten senken,in der Planung keine Zeit verschenken —deutlich kostensparend denken.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/2247 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen , Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Gerd Poppe und weitere Abgeordnete
Humanitäre Geste für die Opfer des UN-Unrechts in den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland
— Drucksache 13/1294 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich allen Bundesregierungen dafür danken, daß sie mit jeweiliger Zustimmung der Deutschen Bundestage in 40 Jahren eine in der Weltgeschichte einmalige Wiedergutmachungsaktion für Hunderttausende von Opfern des Nationalsozialismus durchgeführt haben. Ich glaube, über die Dimension der Wiedergutmachung sind wir uns im Deutschen Bundestag einig. Dies wird in aller Welt anerkannt.
Weil das so ist, sollte die Bundesregierung im Fall der drei baltischen Staaten den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 29. Juni 1994 entsprechend den Wünschen der Mitglieder des Deutschen Bundestages umsetzen und damit die Not der 300 bis 400 überlebenden KZ- und Gettohäftlinge - es sind wirklich nur noch so viele - der drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland lindern.
Es geht in der Relation nicht um Summen, sondern nur darum, daß die humanitäre Geste die Menschen, die noch leben, persönlich erreicht und ihnen das schwere Leben erträglicher werden läßt, ihnen aber auch das Gefühl gibt, nachdem sie in der Hektik der Verhandlungen mit der Sowjetunion übersehen wurden, daß sie zumindest nicht vergessen sind.
Der Deutsche Bundestag hat seinerzeit im Juni 1994 besonderen Wert darauf gelegt, daß die Verhandlungen über die Hilfe den „individuellen Bedürfnissen der Opfer nationalsozialistischer Unrechtsmaßnahmen nahekommt".
Das kann aber nicht heißen, daß man nur Krankenhauszuschüsse gewährt, Altersheime ausbaut oder allgemeine Sozialeinrichtungen bezuschußt, die, wenn überhaupt, nur durch Zufall auch von jüdischen Betroffenen benutzt werden. Dies kommt den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen nicht im entferntesten nahe.
Es wurde im übrigen mit ziemlicher Verbitterung bei den Betroffenen aufgenommen, als von der deutschen Seite davon gesprochen wurde, daß es sich nicht lohne, für die wenigen Leute eine Fondslösung vorzusehen oder eine Stiftung einzurichten, da die Verwaltungskosten dafür zu hoch seien.
Wem mit 50 DM monatlich geholfen ist, kann so etwas nicht verstehen. Der Deutsch-Baltische Parlamentarische Freundeskreis, ein gemeinnützig eingetragener Verein, dem u. a. über 100 Abgeordnete dieses Deutschen Bundestages angehören, hat sich bereit erklärt, die Verteilung kostenlos vorzunehmen, und sich verpflichtet, dafür zu sorgen, daß nicht eine einzige Mark verlorengeht.
Unsere Parlamentariergruppe, die auch im neuen Deutschen Bundestag 76 Mitglieder hat, macht sich stark dafür, daß die Regierungen in Litauen und Lettland ein solches Verfahren anerkennen und ihm zustimmen.
Der Verein hat im übrigen einschlägige Erfahrungen. In den letzten drei Jahren wurden aus Spendengeldern über 350 000 DM an Hilfsbedürftige in Tranchen von 30 bis 50 DM verteilt, darunter 190 000 DM an die uns bekannten 338 jüdischen KZ- und Gettoüberlebenden, jeweils in Kuverts mit persönlicher Anschrift. Dadurch haben sie die Empfänger erreicht.
Die Sorge der Bundesregierung, Herr Staatssekretär, Prinzipien aufzugeben oder zur Nachahmung aufzufordern, kann nicht geteilt werden. Bei der Verhandlung mit der Sowjetunion über die Stiftung „Verständigung und Aussöhnung " hat man im Frühjahr 1993 - aus welchen Gründen auch immer - schlichtweg übersehen, daß in der Zwischenzeit die drei Republiken Litauen, Lettland und Estland frei waren und daß man nicht über sie hinweg Verträge schließen konnte.
Daran ändert auch die Bereitschaft der Regierung der Russischen Föderation, Anträge aus Litauen und Lettland, bzw. von Belarus, Anträge aus Estland anzunehmen, nichts, weil dies erstens für die souveränen Staaten einen Affront darstellt und zweitens die Betroffenen es zum Teil als Hohn empfanden. Denn für sie ist es eine Zumutung, für durch Deutsche erlittenes Unrecht bei einer anderen Besatzungsmacht, durch die sie zum Teil 45 Jahre Unrecht erlitten hatten, eine Entschädigung einzufordern und - das ist besonders wichtig - dazu noch ein Loyalitätsbekenntnis zur ehemaligen Sowjetunion abzugeben. Das kann ja wohl nicht richtig sein.
Die Bundesregierung sollte daher zügig die Verhandlungen mit Litauen und Lettland fortsetzen, um zu erreichen, daß neben den geplanten Hilfen für stationäre Einrichtungen auch individuelle ambulante Hilfen gegeben werden können. Eine leichte Aufstockung der geplanten Hilfen von 2 auf 2,5 Millionen DM rechtfertigt sich auch gegenüber Estland, das bereits abgeschlossen hat und allein aus der Bevölkerungszahl, aber auch der Zahl der betroffenen Opfer weit weniger belastet ist.
Wir halten das Angebot aufrecht, die Verteilung für die ambulante Hilfe vorzunehmen, damit keine neuen Rechtsansprüche entstehen, aber unbürokratische Hilfe geleistet werden kann.
Wenn wir diesen wenigen Menschen gegenüber keine persönliche humanitäre Geste zeigen, bleibt einem Teil von ihnen zum Überleben nur die Chance der Auswanderung, weil sie im Westen oder in Israel
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Ansprüche haben, die ein Vielfaches von dem ausmachen, was sie zum Leben in Litauen oder Lettland benötigen. Nachdem diese Menschen in jungen Jahren den sowjetischen Einmarsch 1940, dann die grauenvolle Vernichtungsaktion des Nationalsozialismus ebenso wie die Rückkehr der Sowjets 1945 überlebt haben und danach weitere 40 Jahre unterdrückt waren, wäre es traurig, wenn sie nun, nachdem das Land frei geworden ist, unter Umständen auswandern müßten, um zu überleben. Das sollten wir verhindern.
Deswegen möchte ich zum Schluß meine Bitte an die Bundesregierung wiederholen.
Der Bundestag will keine neuen Rechtsansprüche, sondern will nur erreichen, daß sein Wille im Beschluß vom 29. Juni 1994 umgesetzt wird. Es geht nicht um Geld, sondern um Menschen, und wir müssen schnell handeln, damit diejenigen, die gelitten haben, die Hilfen auch noch erleben.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatsminister, wenn Sie anschließend sprechen sollten,
sprechen werden, sprechen müssen, wie Sie sagen, dann bitte ich Sie herzlich darum, nicht allein eine formale Rechtsposition zu beziehen,
sondern noch einmal darüber nachzudenken, worum es hier geht.
Es leben noch wenige hundert Opfer, die das Leiden unter dem NS-Terror überlebt haben. Um diese möchten wir uns kümmern; sie hat der Bundestag im Auge gehabt, als er in der letzten Legislaturperiode einen Beschluß gefaßt hat. Wir sind der Meinung, daß die Opfer endlich individuell zu ihrem Recht kommen müssen. Wir wollen dabei nicht ein Rechtsprinzip oder ein Rechtssystem durchbrechen, wir haben niemanden anderes als die Menschen im Blick. Ich bitte Sie, Herr Staatsminister - ich meine jetzt nicht Sie persönlich, sondern ich meine damit die Bundesregierung -: Blicken Sie diesen Menschen einmal ins Auge! Es kann gar nicht anders sein, als daß Sie danach sagen, daß das, was wir parteien-
und fraktionenübergreifend wollen, auch die Mehrheit des Bundestages nachempfinden muß.
Aleksandrs Bergmanis - sein Großvater wurde an dem Tag ermordet, als die Große Synagoge in Riga brannte, am 4. Juli 1941 - sagt: „Wir gehen die Straße des Leidens." In jenen Tagen im Juli 1941 besetzten Hitlers Truppen Lettland. Gerade noch tausend Juden überlebten bis zum Ende des Krieges. Zuvor lebten in Lettland 70 000. An einem einzigen Tag, dem „Blutsonntag von Riga", dem 30. November jenes Jahres, wurden allein 25 000 Juden ermordet. Der Tod machte Platz im Getto für Juden aus Berlin und aus dem Rheinland. Was würden uns die Ermordeten, könnten sie reden, heute sagen - von ihrer Lebenslust, von ihrer Todesangst, von ihrer unendlichen Qual, von ihrer überwältigenden Verzweiflung?
Noch leben die Zeugen einer schrecklichen Zeit. Margers Vestermanis, Direktor des Dokumentationszentrums der Juden in Lettland, kämpft an gegen den endgültigen Tod, gegen das Vergessen.
Vilnius, Jeruschalaim de Lita, das litauische Jerusalem, beherbergte einmal 150 Synagogen und Bethäuser, heute die Hauptstadt Litauens. Das war damals Ort der Begegnung der Kulturen. Hier schnitten sich die Kreuzwege von Ost und West: gemeinsames Lernen voller Spannungen. Von der Viertelmillion Juden vor der Nazidiktatur überlebten 15 000.
Erschütternd die Zeilen aus dem Poem von Hirsch Glick. Er schrieb in seinem Gedicht „Sog nit kejnmol" :
Sag niemals, daß es dein letzter Gang sei,
weil du kein Himmelblau siehst in den Wolken, schwer wie Blei.
Einst kommt die Stunde, die wir im Herzen tragen.
„Hier sind wir!" wird jeder Schritt dann von uns sagen.
Am 23. September 1943 gingen die Juden des Gettos von Vilnius ihre letzten Schritte. Sie wurden erschossen im Wald, gehetzt in Todeslagern. Mit ihnen starb der Humus für die unverwechselbare Kultur des Schtetl im europäischen Osten. Das Schtetl sog in sich auf die Sehnsucht nach Geborgenheit und das Verlangen nach Grenzüberschreitung, nach vertrauter Nähe und verheißender Ferne. Alles Neue fand einen Platz im Innern: Sprache, Musik, Malerei. Das Fremde behielt aber seine Würde. Das Äußere konnte bedrohlich werden - und das wurde es in den Jahrhunderten -, und doch verlor es seinen Schrekken, weil es der eigenen Unvollkommenheit ein Spiegel war. Die Kultur des osteuropäischen Judentums sprang über die Mauern und bewahrte sich doch ihren eigenen Kern.
Davon ist nichts mehr, nur noch die wenigen, die überlebt haben. Die Heimat faßte Mordechaj Gebirtig in die Zeilen:
Gehabt hab' ich a Hojm, a bisl Rojm, a Schtikl Wirtschaft,
Gebunden Worzln, wie a Bojm.
Davon ist nichts mehr.
Gert Weisskirchen
Fragen Sie den Kollegen von Stetten. Als er am 23. September 1993 in Vilnius in Erinnerung an das Getto war, haben die Leute ihm gesagt - nicht mit Worten, sondern mit ihren Augen -: Tu was, bevor wir sterben. - Das lesen wir in den Gesichtern der Überlebenden des Naziterrors.
Unser Antrag will nichts anderes, als daß wir etwas für die Opfer tun, solange sie noch leben.
Wir erkennen an, daß die Leistungen der Bundesregierung Gutes bewirken können. Krankenhäuser und Altersheime, das alles hilft. Nur, jeder sollte wissen, was in Lettland das Wort „Altersheim" bedeutet. Es hat dort eine andere Bedeutung als bei uns. Dort wird es als ein Armenhaus aufgefaßt, in das in Not Gefallene eingewiesen werden.
Margers Vestermanis sagt dazu:
Wir wollen in unsere Wohnungen, wo wir unser Leben gelebt haben. Da wollen wir auch sterben. Es geht ja nicht ums Leben. Es geht ja um die letzten Lebensjahre. Ich denke, wir werden den deutschen Staat nicht sehr lange belasten.
Das sagen die Opfer: Wir werden den deutschen Staat nicht sehr lange belasten. Ich bitte uns alle, daß wir diese Worte, wenn wir im Januar oder wann immer wir über den Antrag abstimmen, aufgenommen und gehört haben. Sie leben nicht mehr lange. Ihre Zahl schrumpft. Es sind nur noch wenige.
Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hat uns vorgestern einen Brief geschrieben. In dem Brief heißt es am Schluß:
Die betroffenen Menschen sind alt. Ihr Leben wurde von uns Deutschen so tief beschädigt, daß sie bis heute darunter schwer zu leiden haben. Es sollte für Deutschland eine selbstverständliche Geste der Menschlichkeit sein, den Opfern durch regelmäßige persönliche Zuwendungen wenigstens ihren Lebensabend etwas erträglicher zu gestalten.
Es spricht jetzt der Kollege Winfried Nachtwei.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Stadtrand von Riga in Lettland liegt neben der Bahnstation Rumbula ein kleines Waldstückchen. Vor zwei Jahren bin ich mit etwa hundert alten Menschen dorthin gegangen. Es waren Juden aus aller Welt, die dort 1941 ihre Familien, ihre Freunde verloren hatten.
Am 30. November und am 8. Dezember 1941 wurden aus dem Rigaer Getto jeweils Kolonnen von tausend Menschen hinaus nach Rumbula getrieben. Tatzeugen berichten von diesem Tag:
Bis auf die Unterwäsche entkleidet, mußten die Juden in gleichbleibendem Fluß auf die Gruben zurücken, die sie dann über eine Schräge betreten mußten. In den Gruben mußten sich die Juden mit dem Gesicht nach unten nebeneinander legen. Aus kurzer Entfernung wurden sie durch Genickschüsse getötet. Die nachfolgenden Opfer mußten sich unter Ausnutzung des vorhandenen Raums und der entstandenen Lücken auf die soeben vor ihnen Erschossenen legen.
Die Tatzeugen berichten, daß es dabei auf dem Gelände „von Uniformierten gewimmelt" habe. Einige Tage später setzte das Reichssicherheitshauptamt in Berlin eine „Ereignismeldung UdSSR" Nr. 155 ab. Darin hieß es lakonisch:
Die Zahl der in Riga verbliebenen Juden -29 500 - wurde durch eine vom höheren SS- und Polizeiführer Ostland durchgeführte Aktion auf 2 500 verringert.
Zu den wenigen Überlebenden dieser Massaker gehören z. B. Ella Medalje, die wegen ihres sogenannten arischen Aussehens noch vor der Grube entkommen konnte, und der hier schon mehrfach angesprochene Margers Vestermanis, der damals als 16jähriger der SS als „Arbeitsjude" noch nützlich war. Es wurde auch schon angesprochen, daß nach der Vernichtung der Rigaer Juden in den leeren Wohnungen Juden aus Deutschland, aus dem Hamburger Raum, aus dem Rheinland, aus Westfalen, aus Süddeutschland, zusammengepfercht wurden.
In der sowjetischen Zeit wurde der Massenmord an den Juden weitgehend totgeschwiegen, und es galt über Jahrzehnte als ihr Schicksal, verfolgt, vergessen, gedemütigt zu sein.
Seit fünf Jahren nun haben sich die Vereine ehemaliger Getto- und KZ-Häftlinge an die Repräsentanten der Bundesrepublik gewandt. Sie haben viel Mitgefühl erfahren. Aber wie ist es mit Taten gewesen? Angeboten worden sind sicherlich nützliche humanitäre Investitionen. Nur mußten die Betroffenen selbst feststellen, daß das so etwas sei, wie wenn man Ertrinkenden eine Rettungsstation baut, statt ihnen Rettungsringe zu geben. In der letzten Zeit wird deutlich, daß dieses Angebot nicht nur den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen nicht entgegenkommt, sondern daß diese humanitären Investitionen ihnen im besten Fall nur zufällig zugute kommen.
Die Bundesregierung lehnt eine individuelle Regelung mit der Begründung ab, damit würde man - etwas platt gesprochen - ein Faß aufmachen. Das stimmt in mehrfacher Hinsicht ganz und gar nicht.
Erstens wird damit die verzweifelte Lage dieser einigen hundert Menschen völlig negiert; zweitens läuft es auf die Bestrafung der Menschen hinaus, die eben in ihrer Heimat blieben und nicht in den Westen auswandern, und drittens schlägt es schlichtweg den wenigen tausend noch lebenden NS-Opfern in ganz Osteuropa die Tür vor der Nase zu.
Ich meine, daß diese bisherige Verweigerungshaltung der Bundesregierung tatsächlich auf eine „biologische Lösung" hinausläuft, und der Bundestag, der hier vor Monaten so würdig und bewegend der
Winfried Nachtwei
Befreiung von Auschwitz, des Kriegsendes und der Millionen Opfer gedacht hat, darf, denke ich, nicht zulassen, daß die ärmsten der überlebenden NS-Opfer bewußt vergessen werden.
Wenigstens ein Lebensabend ohne materielle Not, das ist die Selbstverständlichkeit, die wir mit unserem Gruppenantrag für die NS-Opfer im Baltikum bewirken wollen. Bürgerinnen und Bürger in Freiburg, Göttingen, Münster, Lingen, Bielefeld, Hamburg, Bremen, Lübeck, Berlin, Leipzig und anderen Städten setzen sich inzwischen sehr engagiert und persönlich für diese Menschen ein. Ich meine, wir als Parlament und die Bundesregierung sollten diesem vorzüglichen Vorbild von Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land endlich nachkommen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Schmidt-Jortzig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist nun - namentlich für einen Abgeordneten der Regierungskoalition - mit diesem Antrag wirklich einigermaßen schwierig. Im Grundsatz kann es ja überhaupt niemanden geben, der dagegen ist, daß sich die Bundesrepublik Deutschland weiter für jene Opfer des Nationalsozialismus engagiert, die bisher noch ohne oder jedenfalls ohne angemessene Entschädigung geblieben sind. Das gilt namentlich bezüglich derjenigen Menschen, die erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs überhaupt in die Lage kamen, eigenständig und individuell ihre Ansprüche vorzubringen.
Ich will auch persönlich sagen, daß sich die Wiedergutmachung nicht nur aus Gründen der Gleichbehandlung, sondern aus unmittelbarem Gerechtigkeitsempfinden an dem messen lassen muß, was andere Opfer bereits erhalten bzw. erhalten haben. Ich denke insbesondere an die Fälle in Rußland, Polen und Weißrußland. Dort werden zwar insgesamt weniger Mittel pro Entschädigungsfall ausgezahlt, weil die Stiftungsförderung mit dem Kapitallimit die Leistungen begrenzt, dafür gibt es aber individuelle Entschädigungen, was bei der Armut in jenen Ländern sicherlich noch besonderes Gewicht hat.
Andererseits: Wie paßt das jetzt noch, wo die Verhandlungen mit Estland, Lettland und Litauen abgeschlossen sind bzw. kurz vor dem Abschluß stehen? Freilich zählte die deutsche Verhandlungslinie dort nur auf institutionelle Förderung. Dreimal 2 Millionen Mark sollten in die baltischen Staaten gehen. Damit werden Altersheime, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser finanziert, aber das kann im Grunde nicht zufriedenstellen.
Denn Wiedergutmachung für persönlich erlittenes
Unrecht bedarf nun einmal individueller Entschädigung. Über die Höhe der Ausgleichsleistungen, die
einzelnen Ausgleichsvoraussetzungen, die Auszahlungsmodalitäten, die Organisationsfragen etc. wäre sicherlich noch zu sprechen. Dabei müssen sicherlich auch die Präzedenzwirkungen, das Gesamtvolumen, der jeweils staatspolitische Kontext und ähnliches eine Rolle spielen. Das mag angesichts des erlittenen Leids der Menschen immer rasch als engherzig und bürokratisch erscheinen, ist aber für einen haushaltsmäßig so durchreglementierten Korpus wie den deutschen Staat unumgänglich.
Jedoch muß wieder darauf hingewiesen werden, daß es sich wirklich nur um wenige Fälle handelt und die zu bedenkenden Menschen ein Alter erreicht haben, das jedes weitere Zuwarten verbietet.
Für den Antrag spricht also vieles, wenn nicht sehr vieles. Es gilt, ihn mit den fortgeschrittenen Verhandlungen und deren Resultaten noch irgendwie in Einklang zu bringen. Man bedauert, daß sich die Beratungen nicht früher, aus welchen Gründen auch immer, in diese Richtung bewegen konnten.
Ich hoffe sehr, daß es für eine zusammenführende Lösung noch nicht zu spät ist und daß am Ende ein für die betroffenen Menschen wirklich gedeihliches Ergebnis steht. Ich persönlich jedenfalls würde dies sehr gern unterstützen.
Danke.
Als nächste hat die Kollegin Ulla Jelpke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gute an dem uns heute vorliegenden Antrag ist, daß er nicht versucht, die Lage zu beschönigen, daß er in klaren Worten sagt, worum es geht, nämlich lediglich um eine humanitäre Geste in Richtung der baltischen NS-Opfer.
Der Staat BRD hat in den zurückliegenden 50 Jahren nie ein Hehl daraus gemacht, für wen er sich in Lettland verantwortlich fühlt und für wen er die Rechtsnachfolge übernommen hat. 50 Jahre lang hat man den Opfern mit größtem Zynismus und in aller Konsequenz Hilfeleistungen verwehrt. Nicht ein einziger hat eine Entschädigung ausgezahlt bekommen. Ganz offensichtlich haben die diversen Regierungen dieses Bundes auf die biologische Lösung des Problems gesetzt, nämlich auf das langsame Dahinsterben der NS-Opfer.
80 000 Jüdinnen und Juden haben die Nazi-Schergen während ihres Terrorregimes in Riga umgebracht. Nach der systematisch betriebenen Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch die SS folgte die Verweigerungshaltung der Verantwortlichen in der BRD.
Von den KZ-Häftlingen lebten 1993 nur noch 124 Menschen in Litauen. Heute leben sie unter den schlimmsten materiellen Bedingungen; das haben wir hier schon von einigen Kolleginnen gehört. Sie sind teilweise nicht einmal in der Lage, ihre medizinische Versorgung zu finanzieren.
Ulla Jelpke
Das rührt die Bundesregierung wenig. Selbst heute wird mit allen bürokratischen Schlichen versucht, sich der Entschädigungszahlungen zu entziehen. Nichts charakterisiert dieses Verhältnis krasser als die Tatsache, daß die Täter, die lettischen Angehörigen der Waffen-SS, selbstredend Ansprüche auf eine Kriegsversehrtenrente haben. Während die Opfer leer ausgehen, bekommen die Veteranen der SS gleich das Siebenfache der normalen lettischen Rente durch die BRD ausgezahlt. Hier hat die BRD sofort die Rechtsnachfolge übernommen; den Tätern gilt die Fürsorgepflicht dieses Staates.
Nichts charakterisiert diese Verbundenheit besser als die Äußerung eines SS-Rentners mit Namen Boris Michailows gegenüber dem Fernsehteam von „Panorama". Er bedankte sich bei der deutschen Regierung dafür, daß sie die alten Kämpfer der Waffen-SS nicht vergessen hat. Er sagte, er hätte nie gedacht, daß einmal wieder eine Zeit kommen werde, in der seine Dienste für Hitler vom deutschen Staat honoriert würden.
Die Bundesregierung will sich nun mit einer einmaligen Zahlung von 2 Millionen DM an die drei baltischen Staaten von den Entschädigungsforderungen freikaufen. Das tatsächlich erfahrene Leid, der tatsächlich entstandene Schaden der Opfer wird damit weiterhin nicht berücksichtigt und bis zum bitteren Ende ignoriert.
Ich hoffe dennoch, daß dieser Antrag in diesem Haus eine Mehrheit finden wird; denn ich denke, daß meine Gruppe ihn unterstützen wird.
Danke.
Als letzter zu diesem Tagesordnungspunkt spricht der Staatsminister Helmut Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß dieses Thema zu ernst ist - das war ja auch bei den Ausführungen der ersten drei Redner deutlich -, als daß es für Versuche ausgenutzt werden könnte, die Bundesregierung in irgendeiner Weise anzugreifen. Ich muß hier sowohl die vom Redner der Grünen geäußerte Behauptung zurückweisen, wir warteten eine biologische Lösung ab, als auch Ihre Ausführungen zur Waffen-SS, die schlicht falsch sind. Erkundigen Sie sich bitte über die genauen Einzelheiten, dann werden Sie sehen, daß Ihre Ausführungen unzutreffend sind.
Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen, daß die Entschließung, die am 29. Juni 1994 im Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, von der Bundesregierung von Anfang an begrüßt worden ist. Sie wissen, daß es in diesem Zusammenhang Verhandlungen auch mit der Zielsetzung dieses Antrages gegeben hat, und zwar sehr deutlich, um humanitäre
Hilfe für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in den baltischen Staaten zu leisten, die vorher nicht entschädigt werden konnten. Sie kennen die Gründe.
Ich will das jetzt nicht zu einer Gegenpolemik machen, sondern nur feststellen, aus welchen Gründen die Opfer dort im Gegensatz zu denen in anderen Staaten nicht früher entschädigt werden konnten.
Das Entschädigungsangebot - Sie versuchen hier schon wieder die Dinge zu verdrehen - heißt nicht 2 Millionen DM für die drei baltischen Staaten, sondern es heißt jeweils 2 Millionen DM für jeden einzelnen baltischen Staat.
Dieses Angebot - ich muß das sagen, sosehr ich mir bewußt bin, wie wenig populär es sein wird - liegt im Vergleich zu den dort noch lebenden Opfern natürlich erheblich höher als die Mittel, die wir für Moskau, für Minsk, für Kiew zur Verfügung stellen konnten, und Sie müssen das wirklich auch bedenken. Wenn Sie diese Mittel individuell auszahlen wollen, werden - darüber sind wir uns völlig im klaren - Nachforderungen kommen. Es wird dann ein Präzedenzfall ausgelöst, über den man hier nachdenken muß.
Meine Damen und Herren, es ist mit allen drei baltischen Regierungen Einigkeit darüber erzielt worden, daß mit den Projekten, die durch die jeweils 2 Millionen DM, die wir jedem der baltischen Staaten zur Verfügung stellen werden, den individuellen Bedürfnissen der NS-Opfer nahegekommen wird, so wie es in Ihrem Antrag auch heißt.
Wir haben am 22. Juni 1995 eine Regierungsvereinbarung über die Finanzierung solcher Projekte abgeschlossen. Wir schaden uns außenpolitisch, wenn nunmehr von neuem mit Estland verhandelt werden sollte, obwohl Estland davon Gebrauch gemacht hat und einverstanden ist. Solche Neu- und Nachverhandlungen würden auch die laufenden Verhandlungen mit Lettland und Litauen verzögern.
Die litauische Regierung ist mit der von uns vorgeschlagenen Lösung einer humanitären Geste einverstanden und will ein konkretes Projekt vorlegen. Das dortige Außenministerium drängt darauf, daß bereits auf der nächsten Kabinettssitzung dieses Thema abschließend beraten wird. Die lettische Regierung hat angekündigt, in Kürze einen konkreten Vorschlag vorzulegen, sobald die Regierung dort neu gebildet wird. Die deutsche Botschaft in Riga ist angewiesen, den neuen Minister sofort darauf anzusprechen.
Der Bundesregierung ist die Situation durchaus bekannt, Herr Kollege Weisskirchen. Ich teile Ihre Beschreibung des grauenvollen Unrechts; denn ich war bei meiner allerersten Reise, die mich jemals in die Sowjetunion geführt hat, 1968 schon in Litauen. Ich war auch in Wäldern, in denen solches Unrecht geschehen ist. Ich erinnere mich sehr wohl, auch wenn das schon sehr lange zurückliegt.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Volker Beck?
Ich möchte gern meine Rede fortsetzen.
Ich darf Ihnen sagen, daß es auch für die drei baltischen Regierungen nicht einfach war, die zum Teil erheblich divergierenden Meinungen der Betroffenen zum deutschen Angebot angemessen zu beantworten. Wir wollen diese Schwierigkeiten der baltischen Regierungen und auch die hier aufgezeigten Schwierigkeiten in keiner Weise ignorieren, aber ich muß hier sagen: Es ist vor allem auch Sache der Regierung der baltischen Staaten, eine für möglichst alle Opfer des nationalsozialistischen Regimes zufriedenstellende Lösung zu finden.
Ich bin der letzte, Herr Kollege Schmidt-Jortzig, der hier nicht auch die Meinung vertritt, daß man bei den Beratungen, die noch anstehen und die sich auch mit dem uns zur Verfügung stehenden Finanzrahmen beschäftigen müssen - das muß eine Bundesregierung hier auch sagen dürfen -, Überlegungen anstellen kann, in welcher Weise man dieses oder jenes noch verändern wird.
Wir sind uns durchaus bewußt, wie die Interessenlage ist und welche dringenden Probleme von Ihnen erkannt und hier auch dargestellt worden sind. Aber ich muß noch einmal sagen: Wir haben bei den bisherigen Verhandlungen versucht, das, was uns zur Verfügung steht, einigermaßen sinnvoll anzuwenden, im Gespräch mit den Regierungen zu einer Einigung zu finden. Wenn Sie im Deutschen Bundestag der Auffassung sind, das sei so nicht richtig, muß das hier neu bedacht und im Verlauf der Beratungen, die noch anstehen, auch neu diskutiert werden. Ich weise nur darauf hin, daß es Bedenken gibt, die ich hier zumindest vorsichtig angedeutet habe und die nicht mit den einzelnen Opfern dort, sondern mit Folgewirkungen, die nicht auszuschließen sind, in Zusammenhang stehen.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Wolfgang von Stetten.
Herr Staatsminister Schäfer, wenn von der Bundesrepublik Deutschland ein Signal gegeben wird, daß ein Teil dieser Gelder - mit oder ohne Aufstockung - für individuelle Maßnahmen zur Verfügung steht, machen wir von der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe uns dafür stark, die Regierung in Litauen und Lettland dazu zu bringen, dem zuzustimmen, und sorgen dafür, daß die Regierung in Estland, die jetzt wieder gewechselt hat, keine Intervention macht; denn die Sache mit Estland ist abgeschlossen, und Estland hat das Problem auch nicht.
Ich wäre dankbar, wenn das Signal von der Regierung käme. Wir machen uns in persönlichen Verhandlungen mit den dafür Zuständigen in Litauen und in Lettland dafür stark, eine Zustimmung zu einer wie auch immer gearteten Individuallösung neben der stationären Lösung zu erreichen.
Eine weitere Kurzintervention vom Kollegen Volker Beck.
Herr Schäfer, ich hätte Sie gerne zu der Verhandlungsstrategie der Bundesregierung gegenüber den baltischen Staaten befragt. Wir hatten ein Berichterstattergespräch im Innenausschuß mit einer Vertreterin Ihres Ministeriums, bei dem ich den Eindruck gewonnen habe, daß man mit Estland prioritär dahin gehend verhandelt hat, daß es zu einem Notenaustausch kommt, mit dem Estland für seine Staatsbürger auf weitere Ansprüche gegenüber der Bundesrepublik Deutschland verzichtet. Das klingt meines Erachtens danach, daß man mehr an einem außenpolitischen Ablaßhandel als an einer Entschädigung derjenigen Menschen Interesse hat, die so unendliches Leid durch einen deutschen Staat, dessen Rechtsnachfolger wir sind, erlitten haben.
Ich meine, es gibt einfache Lösungen. Die Deutsch-Baltische Parlamentariergruppe und die Claims Conference haben angeboten, die individuelle Entschädigung dieses Personenkreises zu organisieren. Das ist neben den Vereinbarungen über die 2 Millionen DM für die jeweiligen Staaten organisierbar. Wenn Sie die Summen, die in Rußland und in Belorußland an die Opfer individuell über die Stiftung ausgezahlt werden, auch diesen 340 noch lebenden NS-Opfern zukommen lassen, wird die Bundesrepublik davon nicht arm. Ich denke, sie nützt ihrem internationalen Ansehen dadurch sehr und wird dieser historischen Aufgabe gerecht.
Damit schließe ich die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/1294 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - §§ 177 bis 179 StGB
- Drucksache 13/2463 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Ich stelle fest, daß die Reden zu Protokoll gegeben worden sind.*)
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/2463 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsraum in den Ländern Berlin und Brandenburg
- Drucksachen 13/206, 13/2529 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Gres Hans-Joachim Hacker
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das erfährt keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Kollege Horst Eylmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion der SPD hat gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung beantragt, einen Zwischenbericht des Rechtsausschusses über den Stand der Beratungen dieses Gesetzentwurfs zu geben.
Ich gebe Ihnen diesen Bericht als Vorsitzender des Rechtsausschusses wie folgt: Das Plenum hat den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 13/ 206 in seiner 15. Sitzung vom 26. Januar 1995 in erster Lesung beraten und an den Rechtsausschuß zur Federführung sowie an den Ausschuß für Wirtschaft und an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur Mitberatung überwiesen.
Der Ausschuß für Wirtschaft hat den Gesetzentwurf in seiner 3. Sitzung am 8. Februar 1995 beraten. Er empfiehlt mehrheitlich mit den Stimmen der Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der Mitglieder der Fraktion der SPD und der Gruppe der PDS bei Abwesenheit der Mitglieder der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat noch nicht votiert. Der Rechtsausschuß hat die Beratung des Gesetzentwurfs am 15. Februar aufgenommen und eine öffentliche Anhörung beschlossen, die am 24. April dieses Jahres stattfand.
Dieser Gesetzentwurf stand dann auf der Tagesordnung des Rechtsausschusses in der Sitzung am 20. September 1995, konnte aber nicht behandelt werden. Die Vorlage wurde am 27. September 1995 weiter beraten, jedoch nicht abgeschlossen, sondern
* Siehe 62. Sitzung Anlage 4
auf Antrag der Koalitionsfraktionen vertagt. Den Vertagungsantrag begründeten die Koalitionsfraktionen damit, daß zur Entscheidung über den Gesetzentwurf ergänzende Informationen notwendig seien. Mein Kollege Gres wird dazu nähere Ausführungen machen.
Demgegenüber hielten die Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN den Gesetzentwurf für entscheidungsreif. Ich gehe davon aus, daß auch sie ihre Begründung hier vortragen werden.
Der Vertagungsbeschluß erfolgte dann mehrheitlich mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Gruppe der PDS. So weit der Bericht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir aus Fairneßgründen noch, im Berliner Wahlkampf verbreiteten falschen Behauptungen über den Verlauf der Rechtsausschußsitzung am 20. September dieses Jahres entgegenzutreten und diese Behauptungen richtigzustellen. Ich habe ein Flugblatt der Arbeitsgemeinschaft „Selbständige in der SPD Berlin", das kurz nach der Sitzung vom 20. September in Berlin verbreitet wurde, vorliegen. Dort heißt es:
Besonders perfide ging der Berliner CDU-Abgeordnete Dr. Dietrich Mahlo vor. In dem ebenfalls heute tagenden federführenden Rechtsausschuß verließ er rechtzeitig vor Aufruf des Berliner Tagesordnungspunktes den Ausschuß, der nun ohne den zuständigen Berichterstatter den Antrag nicht behandeln konnte. Sein Grund: Er müsse zum Wahlkampf nach Berlin fliegen. Wohl um den Berliner Gewerbetreibenden zu erzählen, was er alles für sie in Bonn macht.
Die Tatsachen, die von den Mitgliedern der SPD im Rechtsausschuß sicherlich bestätigt werden können, sind folgende: Wir hatten in dieser Sitzung insgesamt 22 Tagesordnungspunkte. Dieser Gesetzentwurf war unter Tagesordnungspunkt 9 aufgeführt. Die Rechtsausschußsitzung begann wie üblich um 9.30 Uhr, und sie dauert in aller Regel vormittags bis etwa gegen 13 Uhr.
Da die Beratung zweier Tagesordnungspunkte, die vor dem Tagesordnungspunkt 9 auf der Tagesordnung standen, sehr lange dauerte, zeichnete sich gegen 13 Uhr ab, daß es nicht möglich sein würde, die Tagesordnung vollständig abzuarbeiten. Gegen 13.30 Uhr konnte ich als Vorsitzender feststellen, daß von 22 Tagesordnungspunkten nur sieben behandelt waren. Der Tagesordnungspunkt 9 war zu diesem Zeitpunkt von mir noch nicht aufgerufen worden.
Ausweislich der Bandaufnahme, die das Sekretariat abgehört hat, habe ich um 13.33 Uhr wörtlich erklärt:
So, jetzt haben wir halb zwei. Draußen wartet
noch eine Delegation von Haus- und Grundbesitzern, die uns eine „Petition" übergeben will.
Horst Eylmann
Wird noch etwas Dringendes gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Sitzung.
Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits Abgeordnete der SPD, aber auch Abgeordnete der CDU/CSU- Fraktion die Sitzung verlassen, und zwar zwischen 13 und 13.30 Uhr. Da bröckelt es immer etwas ab. Auch der Kollege Mahlo hatte wenige Minuten vor halb zwei die Sitzung verlassen.
Ich kann somit feststellen, meine Damen und Herren: Der Tagesordnungspunkt 9 wurde von mir in der Ausschußsitzung vom 20. September 1995 nicht aufgerufen. Dies war ausschließlich auf Zeitmangel zurückzuführen. Die Abwesenheit des Kollegen Dr. Mahlo in den Schlußminuten der Sitzung hat dabei weder mittelbar noch unmittelbar eine Rolle gespielt. Ich stelle ferner fest, daß zum Schluß der Sitzung niemand im Rechtsausschuß die Behandlung des Tagesordnungspunktes 9 verlangt hat.
Ich glaube, bei aller Hitze des Wahlkampfes ist es ein Gebot der Fairneß, dies auch in Berlin richtigzustellen. Ich gehe davon aus, daß die SPD-Fraktion das Notwendige dazu in die Wege leiten wird.
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Hacker.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Eylmann! Herr Mahlo! Ich möchte Ihnen sagen, daß auch ich die Wortwahl, die in dem Brief der AGS benutzt wurde, nicht akzeptieren kann und daß sie den Sachverhalt nicht richtig widerspiegelt, wenngleich, Herr Eylmann, es doch üblich ist, daß wir im Rechtsausschuß Beratungen zu Tagesordnungspunkten unter Teilnahme der Berichterstatter durchführen. Das war an dem Tag nicht möglich. Herr Mahlo war nicht anwesend.
- Das ist doch geprüft worden. Er war nicht anwesend. Ich denke, darüber sollten wir uns jetzt nicht mokieren. Die Art und Weise der Argumentation bedauere auch ich. Ich möchte das Herrn Mahlo ausdrücklich versichern. Mir geht es jetzt darum, daß wir uns über die Sache unterhalten und hier nicht um Finessen kämpfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, fast alle, die vor Ort die Sachlage bewerten, fordern Schutzregelungen für Mieter von Geschäftsraum in den Ländern Brandenburg und Berlin. Dies ist das Ziel des Gesetzentwurfes vom 12. Januar 1995 der Länder Berlin und Brandenburg. Eine solche Regelung ist um so wichtiger, als die Regierungskoalition eine Verlängerung des Kündigungsschutzes für gewerblich genutzte Räume und für gewerblich genutzte unbebaute Grundstücke über den 31. Dezember 1994 hinaus für die neuen Länder abgelehnt hatte.
Ein Ablehnungsgrund war die Behauptung, daß das nicht zu leugnende Problem des Mangels an Gewerbeflächen und der damit verbundenen Mietpreissteigerungen in
einem größeren Zusammenhang zu erörtern und zum jetzigen Zeitpunkt
- zu Beginn des Jahres 1995 -
nicht mit dem Wiederaufleben einer Kündigungsschutzklausel zu lösen ist.
So die Argumentation der Koalition zu Beginn dieses Jahres.
Diese Diskussion in einem größeren Zusammenhang wird nun seit mehr als 9 Monaten geführt, leider auf einer Einbahnstraße. Am 26. Januar 1995 hat der Bundestag den heute zu behandelnden Gesetzentwurf in erster Lesung beraten und an die Ausschüsse verwiesen. Bereits am 8. Februar hat der Wirtschaftsausschuß mit den Stimmen der Koalition den Gesetzentwurf abgelehnt. Der Rechtsausschuß führte am 24. April 1995 eine Anhörung durch. Mehrheitlich wurde in der Anhörung gesetzlicher Regelungsbedarf vor dem Hintergrund der Gewerberaummietensituation im Ballungsgebiet Berlin/Brandenburg angemahnt.
Die Stellungnahmen der unabhängigen Sachverständigen wurden unterstützt von politischen Gremien der Region Berlin/Brandenburg. Nicht nur die bereits zitierte Arbeitsgruppe Selbständiger der Berliner SPD - aber insbesondere sie - fordert marktbegleitende Regelungen. Auch die Wirtschafts- und Mittelstandsvereinigung der Berliner CDU fordert in einem gemeinsamen Schreiben mit der SPD-Arbeitsgruppe Selbständiger vom 7. März 1995 an den Rechtsausschuß des Bundestages eine möglichst schnelle, positive Beschlußfassung zum Gesetzentwurf der Länder Berlin/Brandenburg, da sich die Situation bei den Gewerberaummieten, speziell bei den Geschäftsraummieten, weiterhin katastrophal entwickelt habe. Verdoppelung und Verdreifachung sei die Regel, so die Mittelstandsvereinigung der CDU in Berlin. Die Verdrängung der kleinen und mittelständischen Einzelhändler, Gewerbebetriebe und Handwerksbetriebe wird zutreffend beklagt, genauso wie der Verlust von Arbeitsplätzen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, hier können wir in einem konkreten Fall beweisen, wie Arbeitsplätze gemeinsam gesichert werden können, anstatt allgemein über den Wirtschaftsstandort Deutschland zu schwadronieren. Die Forderungen, über die wir heute diskutieren, sind ja auch nicht neu. An die CDU-Fraktion sind entsprechende Schreiben bereits vor Jahren gerichtet worden. Ein Schreiben unseres verehrten Kollegen Herrn Geis, ohne Datum aus dem Jahre 1992, an die Arbeitsgruppe Selbständiger der Berliner SPD ließ tatsächlich hoffen. Herr Geis, Sie lehnten zwar generelle Marktregulierungsmaßnahmen für gewerbliche Räume ab, unterbreiteten aber folgenden Vorschlag - ich zitiere jetzt einmal aus Ihrem Schreiben aus dem Jahr 1992 -:
Hans-Joachim Hacker
Etwas anderes ist es, befristete Sonderregelungen für Ballungsräume zu ermöglichen und durch Änderung im Gesetz für Milderung der Folgen zu sorgen. Zu der letztgenannten Möglichkeit zähle ich die bei uns vorhandene Bereitschaft, die Kündigungsfrist für gewerbliche Räume von bislang drei auf sechs Monate zu verdoppeln. Denkbar ist auch eine auf bestimmte Ballungsräume beschränkte Regelung hinsichtlich der Miethöhe bei gewerblichen Objekten.
Meine Damen und Herren, genau dies ist die Zielrichtung des Gesetzentwurfes der Länder Berlin und Brandenburg. Fast könnte man meinen, Herr Geis, Sie wären der Inspirator des Bundesrates.
- Das wäre schön.
Auch die Liberalen setzen auf verbale Erklärungen. In einem Brief vom 18. April dieses Jahres erklärt der Bezirksvorsitzende der F.D.P. Spandau an die Abgeordnete des Berliner Abgeordnetenhauses, Frau Gerlinde Schermer, folgendes:
Zu Ihrer freundlichen Kenntnis darf ich Ihnen mitteilen, daß der letzte Landesparteitag der Berliner F.D.P. auf meinen Antrag hin fast einstimmig folgenden Satz in die Wahlplattform der F.D.P. Berlin für die Abgeordnetenhauswahl 1995 aufgenommen hat: Zugleich setzt sie sich dafür ein, den Schutz der Atelier- und Gewerbemieter nach Beispielen anderer Staaten der Europäischen Union zu verbessern. Es wäre nett, wenn Sie noch einmal nach der Zusammenstellung der Schutzbestimmungen für Gewerbemieter suchen könnten. Ich würde den zum offiziellen Programm erhobenen Schutz der Gewerbemieter gern mit Beispielen aus der Europäischen Union ausfüllen.
Die F.D.P. geht also noch deutlich weiter, als Herr Geis 1992 zu gehen bereit war. Warum nur will die F.D.P. gleich einheitliches europäisches Schutzrecht schaffen? Die Vorschläge der Länder Berlin und Brandenburg sind doch für die Lösung der vorliegenden Probleme völlig ausreichend.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ein Zickzackkurs, den die Koalition in dieser Sache fährt. Mit dem Gesetzentwurf der Länder Berlin und Brandenburg wird nicht die Einführung der Planwirtschaft bei den Gewerberaummieten beabsichtigt, auch Investitionen werden nicht gefährdet; denn nur für bestimmte Gebiete sollen die Regelungen gelten, die erst nach Rechtsverordnung bestimmt werden. Der Kern der beabsichtigten Regelung, nämlich Nachweis eines berechtigten Interesses des Vermieters bei Kündigung und Kappungsgrenze bei Neuvermietung in Höhe von 30 %, ist vertretbar.
Herr Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Von Herrn Geis gerne.
Kollege Hacker, würden Sie mir zugestehen, daß wir entsprechend dem Vorschlag aus dem Jahre 1992, den Sie zitiert haben, die Kündigungsfrist auf sechs Monate verlängert haben und daß wir entsprechend diesem Schreiben auch in der letzten Rechtsausschußsitzung vorgegangen sind, als wir darum gebeten haben, dieses Problem nicht nur bezogen auf Berlin und Brandenburg zu sehen, sondern auch bezogen auf andere Ballungszentren in der Bundesrepublik Deutschland, beispielsweise Frankfurt, München und Stuttgart?
Vielen Dank, Herr Geis, für die Frage. Selbstverständlich haben Sie in der letzten Rechtsausschußsitzung diese Forderungen gestellt. Diese Forderung kam für mich aber aus heiterem Himmel.
- Sie haben das im Brief von 1992 dargestellt.
Die Argumentation, die ich seit vier Monaten bei dem Versuch, Berichterstatterrunden zu organisieren, gehört habe, lautete, daß sich Ihre Fraktion zu dem Antrag der Länder Berlin und Brandenburg keine einheitliche Meinung gebildet habe. Die Vorschläge könnten in einer Berichterstatterrunde und daher auch im Rechtsausschuß nicht abschließend zur Abstimmung gestellt werden. Daher ist es in der letzten Ausschußsitzung nicht zur Abstimmung gekommen, unabhängig von den Hakeleien vorher. In der letzten Ausschußsitzung haben Sie die Forderung der SPD-Bundestagsfraktion und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, zur Abstimmung zu kommen, abgelehnt mit dem Hinweis, Sie seien nicht beschlußfähig.
Entscheidend ist für mich: Das Argument, es bestehe noch Diskussionsbedarf, greift nach meiner Auffassung nicht. Alle Argumente sind bei der Anhörung ausgebreitet worden. Wir hätten die Chance gehabt, in der Zeit von der Anhörung am 24. April 1995 bis in den September hinein das Problem auszudiskutieren. Ich habe zweimal das Angebot einer Berichterstatterrunde gemacht, aber wenig Resonanz erfahren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will mich ausdrücklich noch einmal gegen die Auffassung wenden, mit diesem Gesetzentwurf sollten Investitionsblockaden aufgerichtet werden; denn Mietvereinbarungen sollen bei neugeschaffenem oder umfassend modernisiertem Geschäftsraum weiterhin frei aushandelbar sein. Es gibt also keine Investitionsbremse.
Im Sommer erklärte Ihre Parteikollegin Frau Wöhrl zu dem Gesetzentwurf - daraus wird noch einmal deutlich, welche Position Ihre Partei dazu einnimmt -, man müsse den Regenschirm nicht mehr aufspannen, wenn es nicht mehr regnet. Das waren ihre Worte.
Herr Hacker, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Feilcke?
Ja, bitte.
Herr Kollege, würden Sie mir als Nichtjuristen folgende Frage beantworten: Würde es der von mir unterstützten Intention dieses Gesetzentwurfes helfen, wenn bei der Formulierung nicht der Begriff der Gewerberaummieten, sondern der Begriff der Geschäftsraummieten benutzt wird? Denn es geht ja in der Tat nicht allgemein um alle Gewerberäume - sie stehen teilweise leer -, sondern um Läden, um Geschäftsräume. Wäre das nicht möglicherweise ein hilfreicher Vorschlag, um hier zu einem Erfolg zu kommen?
Seitens der SPD ist von Anfang an Gesprächsbereitschaft signalisiert worden. Ich räume ein, daß es unterschiedliche Mietpreisentwicklungen gibt - nicht nur in den neuen Ländern, auch in den Ballungsgebieten der alten Länder - und die Preisentwicklung bei Büroräumen wohl anders zu bewerten ist als die Preisentwicklung bei Mieträumen für Handwerksbetriebe und die Entwicklung der Ladenmieten.
Das hätten wir im Berichterstattergespräch ausdiskutieren können. Wir hätten uns dazu die Meinung des zuständigen Bundesministeriums einholen können. Wenn verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine solche Formulierung beständen, hätten wir eine solche Differenzierung nicht vornehmen können. Wir hätten das, wie gesagt, im Berichterstattergespräch wohl ausdiskutieren können. Ich hatte zweimal dazu eingeladen, aber die CDU war der Meinung, der Regenschirm sei nicht mehr nötig, die Probleme seien verflogen wie der Nebel in der Sommersonne.
Frau Wöhrl, die Berichterstatterin zu diesem Gesetzentwurf, hat gesagt, es bestehe kein Handlungsbedarf. Dann verstehe ich allerdings nicht die Forderung, die jetzt, nach mehreren Monaten, vorgetragen wird, es bestehe neuerlicher Handlungsbedarf, man müsse weitergehende Analysen über die Mietenentwicklung von Gewerberaum in anderen Ballungsgebieten der Bundesrepublik einholen; dazu solle die Bundesregierung nun endlich Unterlagen vorlegen.
Um es auf den Punkt zu bringen - Herr Eylmann hat das angesprochen, und ich meine, es ist auch so -: Die Koalition verzögert die Debatte bis zur Wahl in Berlin. Sie will ihren Anspruch, eine mittelstandsfreundliche Politik zu betreiben, nicht auf den Prüfstand stellen lassen. Ansonsten hätten Sie sich längst den Forderungen der Handwerker, Ladenbesitzer und der kleinen Geschäftsleute im Ballungsgebiet Berlin/Brandenburg angeschlossen und bereits vor der Sommerpause die Beratung des Gesetzentwurfes zu einem positiven Abschluß gebracht. Genau darum geht es hier; das sollte auch jeder wissen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Häfner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, zur Sache selbst sollte ich nicht mehr allzuviel sagen. Das ist zum Teil schon vorgetragen worden. Wir haben es mit einem Gesetzentwurf zu tun, der uns seit Jahren vorliegt; einem Gesetzentwurf, der ebenso notwendig wie überfällig ist; einem Gesetzentwurf, der vernünftig ist. Es geht um ein nicht mehr schleichendes, sondern galoppierendes Problem: den Verlust der Urbanität der Stadt, ganz besonders in Berlin und im Speckgürtel um Berlin, aber auch in anderen Bereichen.
Das kleinere und mittlere Gewerbe geht kaputt, wird verdrängt. Man kann sich dort die exorbitanten Mietsteigerungen nicht mehr leisten. Damit stirbt - ich glaube, das wissen alle hier im Raum - ein Stück Stadt, ein Stück Leben. Das betrifft den Bäcker wie den Klempner, den Kinderladen wie den Frisör. Das ist schlimm, besonders für alte Menschen. Es ist schlimm für Familien, für Menschen mit Kindern. In manchen Stadtteilen sind gegenwärtig 40 bis 50 % der Ladengewerbe in ihrer Existenz bedroht.
Nun liegt uns seit Jahren ein Gesetzentwurf des Bundesrates vor, der, wie ich meine, eine maßvolle und vernünftige Lösung vorschlägt: Begrenzung der Mietpreissteigerungsmöglichkeiten, Einschränkung des Kündigungsschutzes - und dies nur in begrenzten Gebieten für eine Übergangszeit. Nun reden wir seit Jahr und Tag über diesen Gesetzentwurf - ohne jedes Ergebnis.
Es gibt in manchen anderen Parlamenten die Methode des Filibusterns, also so lange zu reden, bis es zu spät ist.
Die Menschen sitzen dann gebannt und lauschen, ob es dem Redner gelingt, tatsächlich so lange zu reden, bis der Zeitpunkt der Entscheidung verstrichen ist und man in der Sache nichts mehr tun kann. Es hat wenigstens noch einen gewissen sportlichen Aspekt, solchen Debatten zu folgen. Ich glaube, nicht jeder im Bundestag wäre den sportlichen Anforderungen eines solchen Filibusterns gewachsen. Aber manche Reden - ich denke gerade an die Reden des Kollegen Scharping - würden von daher einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Die Fraktion könnte froh sein, über solche Redner zu verfügen. Auch Herr Kleinert hätte da wieder Möglichkeiten. Doch das empfinden wir zu Recht als undemokratisch und unparlamentarisch. Deswegen machen wir das nicht.
Aber ich stelle fest: Es gibt bei uns eine andere Art des Filibusterns. Es gibt das heimliche Filibustern. Das findet dann im Ausschuß statt. - Insofern ist es richtig, dies einmal ins Plenum zu bringen. - Das sieht im vorliegenden Fall so aus, daß eine Anhörung mit einem bestimmten Fragenkatalog beantragt wurde, die wir im April 1995 durchgeführt haben. Wenn wir dann nach der Anhörung entscheiden wollen, geht das nicht immer, weil die zuständigen Her-
Gerald Häfner
ren im Ausschuß nicht anwesend sind. Wenn ihr dann gar nichts mehr einfällt, erklärt die Union - wie in der letzten Ausschußsitzung - sie wolle eine weitere Anhörung - Herr Geis, Sie haben das vorgeschlagen - im Frühjahr nächsten Jahres über die Frage durchführen, ob man nicht das, was hier vorgeschlagen ist, auf andere Gebiete ausweiten könne.
- Da irren Sie, Herr Geis. Ich bin dabei gewesen und habe mich mit Ihnen heftig auseinandergesetzt. Sie können das im Protokoll nachlesen, wenn Ihre Erinnerung versagt.
Also Herr Geis, Sie haben gesagt, das Problem stelle sich auch in Frankfurt und München; Sie wollten jetzt gerne eine Anhörung durchführen, um zu klären, ob man das nicht ausweiten könne. Ich habe Sie dann daran erinnert, daß just diese Frage in der Anhörung vom April dieses Jahres bereits gestellt worden ist. - So können wir weder mit uns selbst noch mit Sachverständigen umgehen: daß wir sie einladen, ausladen und wieder einladen, nur um Zeit zu gewinnen.
Was Sie wollen, ist doch klar: Sie wollen dieses Thema bis nach der Wahl in Berlin verschieben, um dann den Gesetzentwurf hier zu beerdigen. Das heißt auch, Sie wollen sich endgültig von dem, wofür Sie früher einmal eingetreten sind, verabschieden: vom kleineren und mittleren Gewerbe, von der Urbanität und der Lebensqualität in der Stadt. Sie wollen die Stadt Berlin großen Investoren ausliefern,
die mit gigantischen Bauprojekten das Leben und die Lebensqualität in dieser Stadt, gerade im Zentrum der Stadt, Stück um Stück zerstören.
Ich denke, die Menschen sollten wissen, zwischen welchen verschiedenen politischen Ansätzen sie hier zu entscheiden haben. Es steht in der Bibel - Sie kennen das -: Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. - Ein besserer Stil wäre es gewesen, Sie hätten den Mut besessen, hier zu dem Gesetzentwurf Stellung zu nehmen, ihn abzulehnen, wenn Sie das ohnehin vorhaben, und nicht mit fadenscheinigen Begründungen das Ganze seit Jahren zu verschleppen, um dann, wenn die Berliner gewählt haben, die Sache zu beerdigen und die Menschen in der Stadt sozusagen erneut im Regen stehenzulassen.
Ich danke Ihnen.
Zu Mitternacht werden wir sehr munter.
Herr Kollege Lanfermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Hinweis auf die Stunde gibt mir tatsächlich Gelegenheit, meinen Eindruck wiederzugeben, daß das Ganze hier jetzt zu Mitternacht doch ein bißchen gespenstisch wirkt, wenn man sich die Argumente anhört.
Herr Kollege Häfner, ich habe nur die Erinnerung, daß der Kollege Geis - da wir jetzt bei der Vergangenheitsbewältigung der letzten Ausschußsitzungen sind - sehr wohl die Frage aufgeworfen hat, wie das Verhältnis zu anderen Zentren sei und ob die Bundesjustizministerin nicht etwas dazu berichten könne, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, ob es - auch aus verfassungsrechtlichen Gründen oder überhaupt aus rechtlichen Gründen, wie ich es vorsichtig sagen will - angehen könne, für einen Ballungsraum an solche Maßnahmen zu denken, das bei anderen aber nicht zu tun. Das ist eine ernste Frage; das wird niemand bestreiten. Von einer Anhörung war da keine Rede. Sie sollten es auch nicht übertreiben.
Ich habe insbesondere auch an der Rede des Kollegen Hacker bis auf die Tatsache, daß in Berlin in Kürze Wahlen sind, so manches nicht verstanden. Ich grüble immer noch darüber nach, wie der Kollege Mahlo es geschafft haben soll, nicht anwesend zu sein, obwohl der Vorsitzende des Rechtsausschusses uns gerade berichtet hat, er sei herausgegangen. Irgendwie habe ich das noch nicht ganz erfaßt.
Sie sagen, die Diskussion sei eine Einbahnstraße gewesen. Ich weiß nicht, warum der Wirtschaftsausschuß dann entschieden hat. Er hat gegen die Sache entschieden. Wenn Sie meinen, im Wahlkampf politisch verwerten zu müssen, daß eine eindeutige Stellungnahme der Koalitionsfraktionen vorgelegen hat, dann tun Sie das ruhig; denn die besseren Argumente in dieser Angelegenheit sind keineswegs auf Ihrer Seite. Das wird auch nicht dadurch erreicht, daß ein solches Ziel jahrelang verfolgt wird.
Im übrigen wird es Ihnen nicht gelingen, die F.D.P. Berlin auf Ihre Seite zu reden. Daß der Parteitagsbeschluß, den Sie erwähnt haben - selbstverständlich im Sinne des „gutgemeint"; so verstehe ich Ihren Antrag auch -, nur ein Tendenzbeschluß sein kann und keine klare inhaltliche Aussage hat, geht doch aus dem von Ihnen zitierten alten Brief hervor. Wenn der Kollege von der F.D.P. in dem Brief darum bittet, man möge die europäische Rechtslage eruieren, kann der Hinweis in dem Parteitagsbeschluß auf die europäische Rechtslage nur als Tendenz gemeint sein und nicht als etwa eine Zustimmung zu Ihren Vorschlägen. Deswegen hat es keinen Sinn, alte Briefe vorzulesen. Man muß sich vielleicht doch einmal um die Sache selbst kümmern.
Abgesehen von dem ganzen Drumherum, was beschrieben worden ist, ist doch ganz klar, daß Ihr Antrag bei uns nicht auf Gegenliebe stoßen kann. Er ist mit diesen dirigistischen Mitteln gar nicht geeignet, das von Ihnen dargestellte Ziel zu erreichen, ganz im Gegenteil: Er ist sogar kontraproduktiv. Wenn Sie
Heinz Lanfermann
das nicht glauben wollen, dann müssen Sie nur in Berlin selbst in die Vergangenheit schauen.
Was haben wir dort erlebt? Wir haben die endlose Geschichte der langjährigen und immer wieder verlängerten Mietpreisbindungen für Wohnraum erlebt. Dieser staatliche Eingriff hat in Berlin einen funktionierenden Markt für ganz lange Zeit verhindert; erst nach Auslauf der Mietpreisbindung hat sich das Mietniveau für Wohnraum einigermaßen marktwirtschaftlich eingependelt. Viele Wohnungen wurden so genutzt, daß die Familien zu kleine Wohnungen hatten und daß große Wohnungen von einzelnen Personen bewohnt wurden, die aber darauf vertrauen konnten, daß der Staat dauernd seine schützende Hand über sie hält. Diese Mieten konnten nicht steigen, wodurch es sogar zu Renovierungsstaus größeren Umfanges kam. Das alles scheinen Sie jedenfalls nicht in Erinnerung und auch nicht zur Grundlage Ihrer Überlegungen gemacht zu haben.
Natürlich müssen Sie auch zugeben, daß Ihr Antrag, zumindest vom Zeitablauf her, in vielem überholt ist; denn Sie wissen ganz genau, was der Markt z. B. für Büromieten nach den anfangs übertriebenen Vorstellungen hergibt. Die Büromieten haben sich ebenfalls marktwirtschaftlich entwickelt. Auch in guten Lagen sind sie rapide gesunken. Nach Zeitungsberichten ist Berlin mit fast 30 % sogar Spitzenreiter bei den Preisrückgängen in den vergangenen zwei Jahren, gefolgt von München, Leipzig und Dresden mit minus 20 %. Die Marktwirtschaft ist also etwas klüger als manches, was in diesem Hause an Anträgen fabriziert wird.
Meine Damen und Herren, neben den Büromieten ist - das ist selbstverständlich ein wichtiger Punkt - auch das Problem der Ladenmieten angesprochen. Aber ich denke, bei den Ladenmieten geht es darum, zu überlegen, wie man erreichen kann, daß sich in guten Lagen - nicht nur in guten, aber insbesondere in guten Lagen - Geschäfte, Gaststätten und anderes ansiedeln, weil man sich das für ein erfreuliches Stadtbild und die Lebensqualität einer Stadt wünscht. Schließlich will man die Innenstädte attraktiv halten oder noch attraktiver gestalten.
Das ist aber zunächst einmal eine Forderung an die Politik des Gemeinwesens, um das es geht, nämlich der Stadt Berlin. Da muß man sich natürlich etwas intelligentere Gedanken darüber machen, wie man Strategien entwickeln kann, solche Lagen zu entwikkeln. Man muß sich überlegen, ob man dort selber eingreift und als Kunde am Markt auftritt.
Das ist eine Frage, die man vor Ort bitte ernsthaft diskutieren soll, um anschließend zu entscheiden. Das kennen andere Städte auch, aber die schreien nicht gleich danach, daß man für sie ein spezielles Gesetz schneidern soll.
Ich glaube, die Horrorszenarien, die der Kollege Häfner heute entwickelt hat, müßten direkt zu einer Massenflucht aus Berlin führen, wenn das nur halbwegs so zuträfe, wie er das übertrieben dargestellt hat.
Das Mietrecht ist für die Ziele bezüglich der Ladenmieten nicht geeignet. Diese klare Überzeugung will ich hier ausdrücken. Der Versuch, über das Mietrecht Politik zu machen, stellt sich vordergründig - siehe die Überschrift des Antrags „Schutz der Mieter von Geschäftsräumen" - als Wohltat für eine Gruppe von Menschen dar, hat aber als Kehrseite der Medaille auch einen Nachteil für andere.
Man muß natürlich sehen, daß das mit der vorgeblich sozialen Politik immer so ist: Der Schutz des einen ist die Last des anderen. Anders als im Vertragsrecht, wo das verboten ist bzw. zur Nichtigkeit führt, neigt die Politik immer dazu, Politik zu Lasten Dritter zu machen. Ich habe den Eindruck, daß diese Neigung auf der einen Seite des Hauses in der Tendenz etwas stärker vertreten ist.
Intelligente Politik muß etwas mehr als Umverteilung leisten. Sie schafft und gestaltet Rahmenbedingungen, unter denen sich dann nach den Regeln der Marktwirtschaft die besten, weil ausgeglichensten, Lösungen entwickeln, und zwar zum besten Nutzen für alle Bürger.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Lanfermann, ich möchte Ihnen empfehlen, sich anzusehen, was in Berlin wirklich passiert. Da spielt sich etwas in einem urbanen Ballungsraum ab, in dem durch die Vereinigung wie in keinem anderen Teil Deutschlands fast alle Verhältnisse umgewälzt wurden.
Viele Gebiete liegen jetzt plötzlich wieder mitten im Zentrum einer Metropole. Viele private Einzelhändler, kleine Gewerbebetriebe und Handwerker, häufig alte Familienbetriebe, die die DDR mehr oder weniger gut überstanden hatten, sind von diesen Mieten schon hinweggefegt worden oder stehen vor existentiellen Problemen. Ich kann mich noch gut erinnern, mit welchem Enthusiasmus viele von ihnen die Marktwirtschaft begrüßt haben und wie viele von ihnen bei den Wahlen des Jahres 1990 die Parteien der heutigen Regierungskoalition gewählt haben.
Nun haben die Regierungen von Berlin und Brandenburg einen Gesetzentwurf über den Bundesrat eingebracht, der diese Kreise vor der Eliminierung durch spekulative Mietforderungen schützen soll. Die Koalitionsparteien verhindern mit allen Mitteln seine Annahme, während die demokratischen Sozialisten und die Sozialdemokraten, die ja nun nicht gerade typische Mittelstandsparteien sind, für seine Annahme eintreten.
Die Debatte findet noch dazu unmittelbar nach der Behandlung eines Antrags derselben Koalitionsfraktionen unter der Überschrift „Den Mittelstand entlasten" statt. Man fragt doch, wenn man Logik hat, wie das eine und das andere Verhalten der Koalitionsfraktionen unter einen Hut zu bringen ist.
Dr. Uwe-Jens Heuer
Man kann sicher gegen den Entwurf einwenden, daß er nicht besonders gut handhabbar ist. Das hat der Kollege Dr. Mahlo bei der Anhörung richtig bemerkt. Man kann auch einwenden, daß er nicht völlig zielgenau ist. Diese Mängel hätte man aber in den Monaten, um die es hier geht, beheben können. Wenn man den Gesetzentwurf noch länger liegenläßt, wird man bald gegen ihn einwenden können, daß er inzwischen überflüssig geworden ist, weil es die zu schützenden privaten Einzelhändler, Handwerker und kleinen Gewerbetreibenden dann nicht mehr geben wird.
Rund 50 % der nach der Wende abgeschlossenen Mietverträge stehen jetzt und in den nächsten Monaten zur Neuverhandlung an. Der Verdrängungspro-zeß der privaten Einzelhändler im Zentrum von Potsdam - Brandenburger Straße und umliegende Straßen - und den Subzentren von Berlin - z. B. Schönhauser Allee und umliegende Straßen - durch Banken und Filialisten ist doch offensichtlich und wesentlich durch die Gewerbemieten verursacht.
Das hätte nicht nur Auswirkungen auf die Struktur der Berliner und Brandenburger Zentren und Subzentren, die weiter veröden würden, sondern würde auch das Aus für viele Projekte der Wohlfahrtspflege, für kulturelle Projekte und für Jugendprojekte bedeuten. Gleichzeitig gefährdet es auch die Einstellung weiterer Lehrlinge. Kein verantwortungsbewußter Ausbilder wird Lehrlinge einstellen, wenn er nicht weiß, ob er im nächsten oder im übernächsten Jahr überhaupt noch existieren wird.
Ich halte es für ausgesprochen demagogisch, daß dann im Rechtsausschuß gesagt wird: Vielleicht ist das alles richtig, aber vielleicht gilt das auch noch für andere Städte, und deswegen müssen wir jetzt untersuchen, ob es nicht auch noch für weitere Städte, etwa für Frankfurt, angewendet werden sollte.
Ich halte das - entschuldigen Sie, Herr Geis - für ein ausgesprochen demagogisches Argument.
Machen Sie es doch hier! Jetzt ist noch Zeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Kollege Joachim Gres.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über einen Gesetzentwurf, der im März 1992 im Bundesrat erstmals behandelt worden ist und der demgemäß zunächst einmal als Reaktion auf die damalige Geschäftsraumsituation in Berlin in den Jahren 1990 und 1991 zu verstehen ist. Der Bundesrat mit seiner SPD-Mehrheit hat es dann ab 1992 trotz der gewiß problematischen Entwicklung der Geschäftsraummieten in Berlin mit dem Gesetzentwurf nicht besonders eilig gehabt. Der Gesetzentwurf, Herr Hacker, ist im Rechtsausschuß des Bundesrates zunächst abgelehnt worden.
Erst nach fast zwei Jahren, nämlich Ende 1993, hat das Plenum des Bundesrates die Einbringung des Gesetzentwurfs im Bundestag beschlossen. Der Gesetzentwurf ist dann im April 1994 im Deutschen Bundestag in erster Lesung - übrigens ohne Aussprache, die Sie hätten veranlassen können, wenn Ihnen wirklich soviel daran gelegen wäre - verabschiedet worden. Im Rechtsausschuß wiederum ist der Gesetzentwurf nicht mehr zur Abstimmung gebracht worden, so daß der Gesetzentwurf am Ende der Legislaturperiode der Diskontinuität verfallen ist. Er ist jetzt Anfang 1995 neu eingebracht worden.
Der Datenhintergrund und die Erfahrungsgrundlage für die heute zu diskutierende Gesetzesinitiative des Bundesrates war die unmittelbare Nachwendezeit in Berlin. Es ist richtig, daß sich im Westteil Berlins auf Grund seiner Insellage bis zur Wende 1989/ 90 im Immobiliensektor im Bereich der gewerblichen Miete eine besondere Situation entwickelt hatte. Um so sprunghafter war nämlich damals die Anpassung an die rapide veränderten Verhältnisse. Es ist wohl auch richtig, daß der Ostteil Berlins in den Jahren 1990/91 möglicherweise anders als die Zentren in anderen neuen Bundesländern durch die unmittelbare Einbeziehung in die sich sprunghaft entwickelnde Metropole Berlin auf dem Geschäftsraumsektor einem stürmischen Anpassungsdruck ausgesetzt war.
Aber in der Zeit seit 1990/91 bis heute hat sich vieles grundlegend verändert. Wir wissen aus der Anhörung im April dieses Jahres, daß in Berlin mittlerweile ein Leerstand von Bürofläche von 1 Million Quadratmetern allein im Maklerangebot besteht. Hinzu kommt die Fläche im unmittelbaren Eigenangebot der Eigentümer, so daß bereits im April von einem Leerstand von weit über 1 Million Quadratmetern Bürofläche auszugehen war. Bei den Gewerbeflächen standen ebenfalls ca. 1 Million Quadratmeter im Angebot; bei den Ladenflächen standen ca. 35 000 Quadratmeter zur Anmietung frei. So weit die Daten Anfang dieses Jahres.
Mittlerweile hat sich die Tendenz zur weiteren Ausweitung der Geschäftsraumflächen fortgesetzt. An den Stadtgrenzen Berlins entstehen 12 Einkaufszentren mit jeweils mehr als 20 000 Quadratmetern Verkaufsfläche. Die Berliner Forschungsstelle für den Handel hat festgestellt, daß es im Jahr 2000, also in noch nicht einmal fünf Jahren, in Berlin auf der Basis der genehmigten Planungen einen Überschuß von ca. 300 000 Quadratmetern Ladenfläche geben wird, weil die Kaufkraft mit dem steigenden Flächenangebot nicht Schritt gehalten hat. Von dem Überangebot an Büroflächen auf Grund der genehmigten und der im Bau befindlichen Projekte in Berlin will ich ganz schweigen.
Meine Damen und Herren, ich will jetzt auch nicht weiter über die schweren Mängel des Gesetzentwurfes im einzelnen reden. Der besonders ins Auge fallende Mangel ist die völlig fehlende Zielgenauigkeit
Joachim Gres
des Gesetzentwurfs, weil er Bürofläche, Einzelhandelsfläche und Gewerbefläche gleich behandeln will, obwohl auf der Hand liegt, daß das Schutzbedürfnis der jeweiligen Gruppen völlig unterschiedlich ist. Wie wollen Sie den Bürgerinnen und Bürgern in Berlin erklären, daß der Sinn dieses Gesetzentwurfs darin liegt, daß beispielsweise der Deutschen Bank für die von ihr auf dem Ku'damm gemietete Bankfiliale plötzlich Mieterschutz gewährt werden soll oder daß beispielsweise ein Geldautomatenbetreiber in der Kantstraße plötzlich Mieterschutz bekommen soll? Was soll denn das?
Oder was soll es für einen Sinn ergeben, Herr Hacker, daß Existenzgründer, die erstmals eine Fläche anmieten wollen, nach dem Gesetzentwurf von der Schutzwirkung völlig ausgenommen sind? Das kann doch nicht Sinn eines vernünftigen Gesetzes sein.
Aber die Grundfrage bleibt, Herr Hacker, ob wir angesichts der Veränderungen in Berlin seit 1992 noch Verhältnisse haben, die es rechtfertigen, jetzt neues partielles Bundesrecht zu schaffen. Im Grunde genommen greift der Gesetzentwurf heute, nachdem sich die Geschäftsraummieten in Berlin so entwickelt haben, wie ich das dargestellt habe - von punktuellen, örtlichen Ungleichgewichten, die es immer noch geben mag, abgesehen -, eine Problematik auf, die es jetzt in fast allen Zentren und Metropolen in Deutschland in gleicher Weise gibt. Es ist die gleiche Problematik in Hamburg, München, Stuttgart, Frankfurt und übrigens auch in Dresden und Leipzig.
Herr Gres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heuer?
Gerne.
Kann man das alles, was Sie gesagt haben, vielleicht als Verbesserungsvorschlag für den Gesetzentwurf betrachten? Natürlich kann man eine solche Differenzierung vornehmen. Dann sollten wir diesen Verbesserungsvorschlag aber nicht vertagen, sondern jetzt im Ausschuß so beschließen. Wir haben ja Zeit genug.
Herr Heuer, wenn Sie die Begründung des Gesetzentwurfes gelesen hätten, hätten Sie in der Abwägung zu Art. 14 des Grundgesetzes feststellen können, daß es verfassungsrechtlich höchst problematisch ist, den Gesetzentwurf nur auf Einzelhandelsflächen zu konzentrieren und zu verengen. Das steht in der Begründung des Gesetzentwurfes. Es war wahrscheinlich aus Sicht der Verfasser des Gesetzentwurfes notwendig, ihn auf die gesamte Gewerbefläche auszudehnen. Daß der Gesetzentwurf bei einem Überangebot von 1,5 Millionen Quadratmetern Büromietenflächen in Berlin damit praktisch ad absurdum geführt wird, ist die Konsequenz aus der Überlegung, den Ladenbetreibern in einem Sektor unbedingt noch Schutz zugute kommen zu lassen, die auf der zwischenzeitlich I eingetretenen Entwicklungsbasis des Schutzes in der Form - jedenfalls als Sonderrechte Berlins - nicht mehr bedürfen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Sofort.
Eine ganz andere Frage ist es, ob die Situation, wie sie sich abzeichnet, nicht im Grunde genommen einen Sachverhalt darstellt, der insgesamt aufgegriffen werden muß. Dazu komme ich gleich noch in einer abschließenden Bewertung.
Herr Hacker.
Herr Gres, Sie stellen hier viele Vorschläge zur Nachbesserung des Gesetzes vor und nennen Gründe, weshalb Sie dem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Könnten Sie mir einmal die Tatsache erklären, daß während der angestrebten Beratungen zu dem Gesetzentwurf nicht ein einziger konkreter Vorschlag von Ihrer Seite unterbreitet worden ist - ich schließe jetzt einmal Ihre gesamte Fraktion ein -, den Gesetzentwurf, wenn er denn Mängel hat, nachzubessern?
Nein, Herr Hacker, das ist nicht richtig. Ich will Ihnen dazu folgendes ausführen: Wenn wir ein solches Gesetz zum Schutze bestimmter gewerblicher Mieten diskutieren, sollten wir dies meiner Ansicht nach nicht auf der Basis einer gesetzlichen Sonderregelung für Berlin tun. Denn die Industrie- und Handelskammer in Berlin hat ausdrücklich immer wieder betont, daß eine solche Sonderregelung Investitionen in und für die Stadt Berlin möglicherweise abwürgt.
In der Anhörung hat einer der Sachverständigen gesagt, Herr Hacker, daß der vorgelegte Gesetzentwurf mit einem Medikament vergleichbar sei, das zwar die Krankheit beseitige, an dessen Nebenwirkungen der Patient aber zugrunde gehe, weil das Gesetz zu einem gespaltenen Markt und einem Standortnachteil für die Region Berlin führe.
Wir meinen, wenn wir die Diskussion führen, sollten wir sie grundsätzlich für das ganze Bundesgebiet führen. Da der Gesetzentwurf aber nur auf der Datenerhebung für Berlin in den Jahren 1991/92 beruht, haben wir das BMJ gebeten, uns rechtstatsächliche Auskünfte über die Situation in den anderen Ballungsräumen Deutschlands zu geben. Das kann am besten an Hand der Aktualisierung der IFS-Studie aus dem Jahre 1990 geschehen, die seinerzeit vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegeben worden ist. Damals ist genau diese Frage schon als zentraler Aufgabenschwerpunkt gesetzt worden.
Sobald uns diese Unterlagen vorliegen, werden wir die Diskussion darüber fortsetzen, ob es sinnvoll und zielführend ist, den Geschäftsraummietenmarkt insgesamt unter Kuratel einer speziellen Schutzgesetzgebung für gewerbliche Mieter zu stellen. Denn die
Joachim Gres
Anliegen der mittelständischen Einzelhändler, Handwerker und Gewerbetreibenden in den großen Städten der Republik sind uns genauso wichtig wie Ihnen.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten
- Drucksache 13/1550 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
Die zu Tagesordnungspunkt 11 gehörigen Debattenbeiträge sind zu Protokoll gegeben worden * ).
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/1550 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten der PDS eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur grundlegenden Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes (Rentenüberleitungs-Korrekturgesetz -Rü-KG)
- Drucksachen 13/216, 13/2549 -
Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Mascher
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Wir verfahren so.
Es beginnt die Kollegin Ulrike Mascher.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Warum befassen wir uns heute kurz nach Mitternacht mit einer Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes? Wenn ich die materielle Bedeutung des Renten-Überleitungsgesetzes für viele Menschen in den neuen Bundesländern betrachte, wenn ich die vielen Briefe lese, die mich als Ausschußvorsitzende zu diesem Gesetz erreichen,
Die zu Protokoll gegebenen Reden werden als Anlage 3 zum
Stenographischen Bericht über die 62. Sitzung abgedruckt.
und wenn ich mich an die hochemotionale Debatte bei der ersten Lesung der Anträge der SPD und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Gesetzentwurfes der PDS erinnere, dann hätte diese Debatte eigentlich heute morgen als ein Teil der Debatte zum Rückblick auf fünf Jahre deutsche Einheit stattfinden müssen;
denn im Kern der Diskussion um eine Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes geht es doch darum, wie wir mit dem Leben, das in der DDR gelebt wurde, umgehen.
Für viele Menschen ist der Rentenbescheid nicht nur ein Papier, das den Zahlbetrag ihrer Rente ausweist. Für viele ist der Rentenbescheid auch eine Art Bilanz ihres Arbeitslebens, ein Werturteil über dieses Arbeitsleben. Das erklärt vielleicht auch die Emotionen, die dieses Thema auslöst, und es erklärt ganz sicher die vielen langen handschriftlichen Briefe, in denen ein ganzes Leben erzählt wird und die uns, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, auffordern, das Urteil, das in der Kürzung der Renten liegt, endlich zu revidieren.
Die SPD hat die Notwendigkeit einer Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes von Anfang an gesehen.
Wir haben deshalb in der letzten Legislaturperiode das Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz durchgesetzt und jetzt erneut einen Antrag und einen Gesetzentwurf eingebracht.
Vor der Sommerpause waren die Anträge der SPD und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Gesetzentwurf der PDS Grundlage einer großen öffentlichen Anhörung. Nach dieser Anhörung ist für die SPD eine Korrektur und eine Ergänzung des RentenÜberleitungsgesetzes noch dringlicher geworden.
Leider sieht es auf der Seite der Regierungskoalition anders aus. Da darf zwar eine Gruppe von CDU-Abgeordneten aus Ostdeutschland mit einem Gruppenantrag in der Öffentlichkeit auftreten; aber offenbar gibt es dafür keine Mehrheit in der CDU und schon gar keine in der CSU, so daß ich den Eindruck habe, es handelt sich dabei vor allem um Spielmaterial für den 22. Oktober 1995, für den Wahltag in Berlin.
Aber ich lasse mich gerne überraschen, sollten die CDU und die CSU eine Korrektur des Geburtsfehlers des RentenÜberleitungsgesetzes versuchen.
Es muß doch auch für Sie bitter sein, daß die große Leistung, die rasche Angleichung der ostdeutschen Renten, die ganz erhebliche Verbesserung der mate-
Ulrike Mascher
riellen Situation der großen Mehrheit der Rentner und Rentnerinnen, durch die Vermischung von Rentenrecht und politischem Werturteil verdunkelt wird. Die Folgen sind fatal. Viele Menschen in Ostdeutschland haben durch diese Vermischung von Rentenrecht und politischem Werturteil das diffuse Gefühl, ihnen sei bei der Überleitung des Rentensystems der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung etwas weggenommen worden, selbst wenn sie von den Kürzungen gar nicht persönlich betroffen sind. Das ist angesichts der erheblichen Transferleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung sicher nicht gerechtfertigt. Aber dieses Gefühl läßt sich politisch vortrefflich ausbeuten.
Damit komme ich zum formalen Anlaß unserer mitternächtlichen Debatte. Die PDS hat einen Bericht über den Stand der Beratungen gemäß § 62 der Geschäftsordnung verlangt. Dieser Berichtswunsch hat mich als Ausschußvorsitzende etwas verwundert,
da von der PDS bisher nicht der Antrag gestellt wurde, ihren Gesetzentwurf im Ausschuß zu beraten und damit auch eine zweite und dritte Lesung im Plenum zu erreichen.
Ich habe Zweifel, ob diese Debatte zur Geisterstunde eine Ergänzung, eine Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes voranbringt
- wenn Sie es gerne eher gehabt hätten, dann hätten Sie die Aufsetzung verlangen müssen; ihre Obfrau hat das nicht getan - oder ob wir heute nacht nach der Melodie „Zwölfmal werden wir noch wach, und dann ist Wahltag in Berlin" antreten durften.
Jedem auf allen Seiten dieses Parlaments, der sich ernsthaft mit den schwierigen Fragen einer Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes beschäftigen will, empfehle ich die Lektüre des Protokolls der großen Anhörung am 21. Juni. Denn dabei wird, unabhängig von kurzatmiger Wahltaktik, deutlich: Der Bundestag hat beim Renten-Überleitungsgesetz noch etwas nachzuarbeiten. Ich hoffe im Interesse der deutschen Einheit noch immer, daß wir das auch schaffen.
Danke.
Vom Geschrei werden die Renten nicht korrigiert.
Jetzt hat die Abgeordnete Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sage es Ihnen ganz offen: Wir wollten diese Debatte ganz bewußt heute oder, besser gesagt, gestern vor allem und auch, weil uns Ihr Geklingel mit der Rentenüberleitung im Berliner Wahlkampf langsam unerträglich wird.
Sie vermitteln über die Medien, in Veranstaltungen und die Koalition in sogenannten Wohnzimmergesprächen ein Bild, als wären wir mitten im gesetzgeberischen Prozeß und als käme zum 1. Januar 1996 eine Gesetzesänderung. Nicht nur in Berlin, sondern in allen neuen Bundesländern werden die Betroffenen derart getäuscht. Die Befürchtung liegt nahe, daß der „heiße Herbst" in Sachen Rente am 22. Oktober beendet sein wird.
Wie groß waren die Wahlversprechen vor der Bundestagswahl? Ein Jahr ist herum, doch passiert ist nichts. Einzig der Gesetzentwurf der PDS befindet sich in der parlamentarischen Beratung. Warum haben Sie von der SPD Ihren Gesetzentwurf vom 31. Mai heute nicht zur Debatte gestellt,
warum nicht die Koalitionsfraktionen den lange angekündigten und nun mit dem 6. Oktober datierten Antrag von 57 im Osten und in Berlin gewählten Abgeordneten?
Was den heutigen Zeitpunkt betrifft, muß ich sagen: Es gibt eine Mehrheit im Ältestenrat. Ihre Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und -führer haben letztlich beschlossen, daß der Tagesordnungspunkt hier zu so später Stunde diskutiert wird.
Wie ernst ist es Ihnen tatsächlich mit einer Korrektur? Oder frönen Sie bereits wieder Ihrer Gepflogenheit, daß einige wenige Herren im stillen Kämmerlein etwas aushandeln, was die Masse der Abgeordneten im Eilverfahren schlucken soll, wie es im Juni 1991 zwischen den Herren Blüm, Seehofer und Dreßler beim sogenannten Kompromiß zum Renten-Überleitungsgesetz geschah? Heute ist jedenfalls Gelegenheit, einigermaßen offiziell Position zu beziehen, auch wenn die Debattenzeit mit 30 Minuten wieder sehr kurz und die nächtliche Stunde der Dimension des Problems keineswegs angemessen ist.
Meine verbleibende Redezeit will ich dazu nutzen, Ihnen unseren Standpunkt zu Ihren bisher bekanntgewordenen Vorschlägen mitzuteilen. Neben den bereits genannten beziehe ich mich auch auf den Gesetzentwurf des Berliner Senats, der morgen im Bundesrat beraten wird.
Lassen Sie mich eines vorausschicken: Bei der Abschaffung des politischen Strafrechts im Rentenrecht ist unsere unerbittliche Forderung, die allgemeine Bemessungsgrenze für alle ohne Abstriche und Einschränkungen anzuwenden.
Bemerkenswert finden wir, daß die SPD hier im Bundestag und in Berlin unterschiedliche Wege geht. Während im Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion die allgemeine Bemessungsgrenze pur gefordert
Petra Bläss
wird, gestaltet der Senatsentwurf den Ansatz aus, das Einkommen von bisher als staatsnah Eingestuften von Überhöhungen zu bereinigen. Leider verläßt Frau Stahmer dabei ihre am 10. Mai hier in Bonn geäußerte Position, und sie führt für die Angehörigen des ehemaligen MfS per Einkommensbereinigung noch eine gesonderte Bemessungsgrenze bei 1,4 ein. Das bleibt Willkür.
Der Vorschlag der Ost-CDU vermittelt den Anschein von rentenrechtlicher Akribie. Danach sollen für MfS-, zusatz- und sonderversorgte Personen, die - ich zitiere - „auf Grund eigener politischer Verantwortung ein überhöhtes Einkommen bezogen", Tabellenwerte des SGB VI Anlage 14 angewendet werden.
Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Wenn statt der dort aufgeführten, das gesamte gesellschaftliche Tätigkeitsspektrum umfassenden 23 Tabellen nur die mit den jeweils niedrigsten Verdiensten angewandt werden, kommt verschärftes Strafrecht heraus, nämlich Entgeltpunkte von 0,5 bis maximal 1,15. Einige kommen aus dem Strafrecht heraus, für andere wird es verschärft. Wie wollen Sie das alles mit der Wertneutralität des Sozialrechts vereinbaren?
In Berlin wird propagiert, der Senatsentwurf schaffe das Versorgungsunrecht ab, indem ergänzend zur Überführung der Zusatz- und Sonderversorgungen in die gesetzliche Rentenversicherung eine zusätzliche Altersversorgung geschaffen werden soll. Allerdings bleibt der Gesetzentwurf des Senats bei der Absichtserklärung stehen, das für „noch zu bestimmende Personenkreise" in einem besonderen Gesetz zu tun. Es scheint also wieder einmal so, als müsse die PDS die Initiative ergreifen und detaillierte Vorschläge machen.
Uns erfreut, daß sich inzwischen alle für die Überführung der Dienstbeschädigten- in Unfallrenten einsetzen. Ein kleiner Hinweis am Rande für die Kolleginnen und Kollegen der CDU: Es geht hierbei nicht um Dienst „beschäftigungen", wie Sie seit dem Frühjahr schreiben, sondern um Dienstbeschädigungen, also Arbeitsunfälle im Dienst bei bewaffneten Organen. Ebenso erfreulich ist, daß Beschwernisse für Bahn- und Postbeschäftigte auch vom SPD- und Senatsentwurf aufgegriffen wurden.
Unerklärlich bleibt uns aber Ihre permanente Verweigerungshaltung gegenüber einem wesentlichen, in unserem Gesetzentwurf angepackten Problemkreis, den sogenannten Überführungslücken, die sich aus DDR-typischen, mit bundesdeutschen Verhältnissen nicht vergleichbaren Sachverhalten ergeben. Wenn rentenrechtliche Zeiten hier anerkannt würden, avancierte ein Großteil der derzeitigen Auffüllbeträge in anpassungsfähige Renten. Wir fordern Sie deshalb auf, schnellstens gesetzgeberisch tätig zu werden, damit der rentenrechtliche Skandal, der sich ab 1. Januar 1996 anbahnt, vermieden wird.
Die Auffüllbeträge dürfen jetzt, wo die Angleichung der Einkommensverhältnisse noch in weiter Ferne steht, nicht abgeschmolzen werden. Zwei Drittel der Rentnerinnen und Rentner im Osten erhalten sonst zum Teil bis ins nächste Jahrtausend hinein keine Rentenerhöhungen mehr. Das betrifft rund 400 000 Männer und mehr als 1,7 Millionen Frauen. Das empfinden wir als skandalös.
Hinter vielen Auffüllbeträgen verbergen sich auch sozialpolitisch progressive Elemente des DDR-Rentenrechts, insbesondere für Frauen, die eine Gnadenfrist erhielten.
Unser Vorschlag zur weiteren Gewährung des Sozialzuschlags für Niedrigstrenten soll einen Anstoß für die dringend erforderliche Verbesserung des Frauenrentenrechts in Ost und West geben. Dazu hat sich dieses Haus bekanntlich über alle Parteigrenzen hinweg im Juni 1991 anläßlich der Verabschiedung des Rentenüberleitungsgesetzes verpflichtet. Packen wir es also endlich an!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Kauder.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht verwunderlich, daß die PDS einen Antrag auf Änderung des Rentenüberleitungsgesetzes im Januar dieses Jahres einbringt - es sind keine zwölf Nächte mehr, sondern nur noch zehnmal müssen wir aufwachen, einschließlich heute, bis die Wahl in Berlin ist -, um vor der Wahl noch ein bißchen Rabatz für sich zu machen. Aber, Frau Bläss, der wahre Skandal, den Sie angesprochen haben, ist nicht der, daß wir unser bewährtes Rentensystem in die neuen Bundesländer übertragen haben, sondern als den wahren Skandal habe ich immer empfunden, daß Ihre Vorgänger - und viele von Ihnen haben dazugehört - die alte Generation, die älteren Menschen in der ehemaligen DDR in die Armut getrieben haben
und die alten Menschen so gedemütigt haben, daß sie nur dann in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen konnten, wenn die Verwandten in der Bundesrepublik auch garantiert haben, daß sie sie finanziell unterhalten.
Dies war die Demut. Das war ein Skandal und nichts anderes. Da brauchen Sie gar nicht so hochnäsig zu lachen.
- Ja, es ist immer so. Sie wollen nicht an das erinnert werden, was Sie da drüben angerichtet haben, aber das werden wir Ihnen immer wieder sagen. Es ist auch bezeichnend für die PDS, daß sie nicht von den 99 % der Rentner spricht, die durch die Überleitung des Rentenrechtes von den alten Bundesländern auf
Volker Kauder
die neuen in ganz hervorragender Weise begünstigt werden, sondern daß sie sich immer noch um große Teile derjenigen kümmert, die zu ihren alten Kadern gehören.
Durch das Rentenüberleitungsgesetz gilt ein einheitliches Rentenrecht in ganz Deutschland: Gleiche Altersgrenze, gleiche Witwenversorgung, gleiche Bewertungsmaßstäbe.
Das bewährte System der lohn- und beitragsbezogenen Rente wurde auch in den neuen Bundesländern eingeführt, und das Rentenüberleitungsgesetz brachte für die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern entscheidende Verbesserungen. Seit Juli 1995 beträgt die verfügbare Eckrente in den neuen Bundesländern rund 80 % der Westrente, während es im Juli 1990 noch knapp 30 % waren.
Die Witwenrente wurde entscheidend verbessert. 150 000 Witwen erhielten erstmals eine Rente; das hat es früher gar nicht gegeben.
Die allermeisten Rentnerinnen und Rentner - und dies sage ich ganz klar - sind deshalb auch zufrieden. Sie können mit ihrer Rente jetzt erstmals überhaupt etwas anfangen.
Durch die ständigen Attacken auf das Rentenüberleitungsgesetz versucht die PDS den Eindruck zu erwecken, als ob den Rentnerinnen und Rentnern in den neuen Ländern etwas genommen wurde. Richtig ist aber, daß den Rentnern etwas gegeben wurde, was sie bisher gar nicht hatten. Genommen wurde denen etwas, die in der roten Diktatur bevorzugt waren. Es war der Wille des Einheitsvertrages, daß Privilegien aus dem alten System nicht in die Rente fortgesetzt werden dürfen. Es handelt sich also nicht, wie die PDS behauptet, um eine Strafe, sondern um ein Abschneiden von Privilegien.
So wurden die Renten bei der Stasi gekürzt und bei denjenigen, die auf Grund einer herausragenden Funktion beim Staat oder bei den Parteien gemessen an anderen Positionen überhöhte Gehälter bezogen haben.
- Herr Gysi, Sie hätten Ihren Mut zum Widerspruch in der ehemaligen DDR beweisen können, nicht hier in der Freiheit des Deutschen Bundestages.
An diesem Grundsatz lassen wir deshalb auch nicht rütteln.
Ich sehe keinen Sinn in dieser Debatte, wie wir sie im Augenblick
führen. Entweder Herr Kauder kann jetzt reden - - Herr Kauder, darf ich zuvor fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Höll zulassen?
Ich lasse auch keine Zwischenfrage zu. Die PDS spricht schon genügend im Deutschen Bundestag, sie braucht nicht noch Fragen zu stellen. Wir hätten Fragen an sie zu stellen, nicht sie an uns.
Unrichtig ist auch die Behauptung, daß die Zusatzversorgung nicht in das neue Rentenrecht übergeführt worden sei. Richtig ist vielmehr, daß der Gesamtanspruch aus Sozialversicherung und Zusatzversorgung an der Beitragsbemessungsgrenze orientiert werden muß, der in der Rentenversicherung auch im Westen gilt. So kam es zu den Begrenzungen, die im System liegen und bei deren Nichtanwendung eine Bevorzugung gegenüber den Rentnern in den alten Bundesländern stattfinden würde.
Die PDS soll dann mit ihrem Antrag auch offen sagen, daß es ihr darum geht, beispielsweise die Angehörigen der früheren Stasi besserzustellen, als sie jetzt dastehen. Dies müssen Sie klar sagen, und dies müssen Sie dann vor allem auch vor denen vertreten, um die Sie sich als Opfer des ehemaligen Systems bisher nicht gekümmert haben.
Wir haben uns in der Koalitionsvereinbarung verpflichtet, die bisherigen Begrenzungen im Rentenüberleitungsgesetz zu überprüfen. Herauskommen kann bei dieser Überprüfung allerdings allenfalls eine größere Feinsteuerung, aber keine Umkrempelung des ganzen Systems. Voraussetzung dafür ist aber - und dies, Frau Mascher, sage ich vor allem auch in Ihre Richtung -, daß die neuen Bundesländer sich auf einen einheitlichen Vorschlag einigen.
Wir haben auf Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. eine Anhörung im Sozialausschuß durchgeführt. Da hat sich gezeigt, daß die Meinungen unter den neuen Bundesländern meilenweit auseinanderliegen. Vor allem hat sich gezeigt, daß die Vorstellungen von SPD-regierten Bundesländern und die der SPD-Bundestagsfraktion meilenweit auseinanderliegen. Sie können also nicht behaupten, daß die Diskussion um die Änderung des Rentenüberleitungsgesetzes an Diskussionen innerhalb der Koalition scheitert. Sie selbst sind nicht in der Lage, einen einheitlichen Vorschlag zu präsentieren.
Deswegen fand ich es etwas eigentümlich, daß sich die Vorsitzende des Sozialausschusses hier hingestellt und behauptet hat, die SPD habe überhaupt keinen Anteil an den Diskussionen gehabt. - Ich bin schon sehr darauf gespannt, wie die Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion und die aus den neuen Bundesländern zusammenkommen werden.
Es ist ganz ausgeschlossen, daß wir eine Ergänzung des Rentenüberleitungsgesetzes durchführen, wenn die neuen Länder nicht dabei sind. Sie müssen
Volker Kauder
nämlich einen ganz erheblichen Teil der Kosten tragen.
- Warten Sie es einmal ab.
Wir führen zur Zeit eine Reihe von Gesprächen darüber, ob wir bei den Beurteilungen von Privilegien noch treffsicherer werden können. Einzelfallüberprüfungen, die vielfach gefordert werden, um eine größtmögliche Gerechtigkeit erreichen zu können, werden nicht möglich sein. Das wissen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, ganz genau. Dies würde so viel Zeit in Anspruch nehmen, daß die allerwenigsten in den Genuß einer überprüften Rente kämen.
Die Fortführung der Privilegien der Stasi bezüglich der Rente - dies sage ich ganz klar - wird es mit uns nicht geben. Deswegen lehnen wir auch den Antrag aus Berlin und Brandenburg ab.
Die PDS, deren Vorgängerin, die SED, die Menschen in die Altersarmut entlassen hatte, hat ohnehin jede Berechtigung verloren, die Rente im geeinten Deutschland herunterzureden.
Nachdem die Meinungen der neuen Länder noch weit auseinanderliegen, kann ich eine zeitliche Vorstellung noch nicht entwickeln. Ich halte es jedoch für dringend erforderlich, daß wir sehr bald zu einem Ende der Diskussion kommen. Die Menschen brauchen Klarheit, und die wenigen, die mit der Rentenüberleitung nicht zufrieden sind, dürfen nicht ständig Irritationen bei den Rentnerinnen und Rentnern hervorrufen. Wir werden uns deshalb zusammen mit den neuen Bundesländern bemühen, recht bald die in der Koalitionsvereinbarung festgelegte Überprüfung abzuschließen.
Ich sage aber an die Kolleginnen und Kollegen von der PDS: Was Sie hier machen, ist durchsichtig. Sie kümmern sich um einige wenige Bürger und meinen, damit könnten Sie Stimmen fangen. Wir haben aber gerade in den von Ihnen so gefürchteten Wohnzimmergesprächen deutlich machen können, worum es wirklich geht. Wir werden nicht zulassen, daß Sie Ihre alten Kader in bessere Situationen bringen und dies mit unwahren Behauptungen auch hier, im Deutschen Bundestag, noch zu verbrämen versuchen.
Wir wollen, soweit dies überhaupt geht, Gerechtigkeit haben. Einzelfallgerechtigkeit wird es wegen der Probleme der Überprüfung nicht geben. Wir werden aber nicht zulassen, daß diejenigen, die über viele Jahre hinweg in der DDR die Opfer waren, jetzt auch noch mit ansehen, daß die Täter hohe Renten kassieren und sie selbst leer ausgehen. Dies machen Sie mit uns nicht!
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Frau Luft.
Herr Abgeordneter Kauder, Sie haben uns mit dem, was Sie gesagt haben, wirklich nicht enttäuscht. Es war abzusehen, daß Sie dieses Thema in Richtung Fürsorge für alte Kader schieben würden. Wir fragen uns aber natürlich, weshalb Sie noch am 6. Oktober einen Antrag zur Korrektur der Renten eingebracht haben, wenn Sie meinen, dies alles habe nichts mit Wahlkampf zu tun.
Lassen Sie mich aber ein Wort zu den alten Kadern sagen. Ich bin kein Spezialist im Rentenrecht; das gebe ich zu.
Ich habe aber - nun hören Sie doch einmal zu - sehr viel Zulauf in meinem Wahlkreisbüro und fahre durchs Land. Zwei Beispiele will ich Ihnen nennen.
Erstes Beispiel: Zu mir ist ein Mediziner gekommen, der vor zehn Jahren, also noch zu DDR-Zeiten, berentet worden ist. Er war ein bekannter Mediziner. Er war im Ausland anerkannt; um seinen Rat wird auch heute noch gefragt. Heute aber, sagte er mir, könne er sich nicht mehr die Literatur kaufen, die er brauche, um in seinem Beruf fit zu sein und als Ratgeber auftreten zu können. Er sagte, er könne auch keine Kongresse mehr besuchen. Dies alles konnte er von seiner DDR-Rente bezahlen. Heute kann er dies nicht. Heute erhält er ein Drittel dessen, was ein westdeutscher, gleichqualifizierter Kollege erhält.
Was hat das mit irgendwelchen alten Kadern zu tun? Außer der Tatsache, daß der Mann hinsichtlich seines Lebensalters alt ist, hat das mit dem, was Sie „alte Kader" nennen, nichts zu tun.
Ein zweiter, noch gravierenderer Fall: Wenn ich in meiner mecklenburgischen Heimat zu Besuch bin, komme ich durch die Dörfer und treffe viele Bäuerinnen. Das sind zumeist Umsiedlerinnen aus Schlesien. Sie haben nach 1945 ein Stück Bodenreformland bekommen. Sie sind nicht gleich in den 50er Jahren mit wehenden Fahnen in die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gegangen, sondern erst Anfang der 60er Jahre. Folglich fehlen ihnen heute die Jahre, die sie als mithelfende Ehefrauen auf ihrem privaten Grundstück gearbeitet haben. Das sind nicht zwei, drei Jahre, sondern das sind zehn, fünfzehn Jahre.
Sie können das doch nicht unter „alte Kader" abbuchen. Sie müssen diesen Frauen erklären, wie das mit Ihren Prinzipien übereinstimmt und wie Sie grundsätzlich diese Problematik lösen wollen. Sie müssen die ideologischen Scheuklappen endlich ablegen und nicht weiter ein Flickwerk hier vornehmen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Volker Kauder.
Frau Kollegin von der PDS, ich muß Ihnen nach den Fragen, die Sie gestellt haben, leider bescheinigen, daß Sie wirklich keine
Volker Kauder
Ahnung vom Rentenrecht haben; denn ansonsten hätten Sie solche Fragen nicht stellen können.
Es geht um die Begrenzung, um das, was Sie fälschlicherweise immer in übler Polemik als „Rentenstrafrecht" bezeichnen. Genau die Fälle wie der des Arztes, den Sie eben genannt haben, sind davon überhaupt nicht betroffen.
Da findet die Begrenzung nicht statt. Das müssen Sie jetzt einmal anhören. Es wäre gut, wenn sich noch ein paar mehr in unserem Ausschuß mit diesen Fragen beschäftigen würden als eben nur ein oder zwei Kollegen. Man kann nicht reden wie der Blinde von der Farbe, wenn es um Sachthemen geht.
Wir haben dort keine Begrenzung vorgenommen. Es sind zunächst einmal vorläufige Zahlbeträge, bis die Renten in all diesen Fällen ganz konkret ausgerechnet werden. Die BfA ist ja gerade dabei, dies mit einer großen Kraftanstrengung zu bewältigen. Es werden auch ganz beachtliche Summen nachgezahlt, wenn die tatsächlichen Renten festgestellt worden sind.
Bringen Sie also nicht alles durcheinander, sondern bemühen Sie sich zumindest, den Sachverhalt zu klären. Wir haben - um es untechnisch zu sagen - im staatsnahen Bereich und bei der Stasi begrenzt, bei denen also, die für das System Verantwortung getragen haben, bei der NVA usw. Dort haben wir begrenzt.
Sie können an den Fakten nicht vorbei! Bei den anderen haben wir vorläufige Zahlbeträge. Wir haben dann gesagt, daß nach der Einzelfallüberprüfung, wie das bei jedem Rentner in den alten Bundesländern auch ist, die Renten bis zur Beitragsbemessungsgrenze ausbezahlt werden. Diese Renten sind weit höher, als Sie es in verschiedenen Veröffentlichungen sagen.
Reden wir also nur von den Begrenzungen, und dann kommen wir auch sehr schnell zu den Kadern, von denen ich gesprochen habe. Irritieren Sie die Menschen nicht dadurch, daß Sie sagen, es werde begrenzt, wo gar nicht begrenzt wird.'
Jetzt hat Andrea Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kauder hat eben ins Feld geführt, daß die Forderung nach Rücknahme der Kürzungen gerade vor den Opfern nicht zu vertreten sei. Die Position vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wurde in der vergangenen Legislaturperiode von unseren Freundinnen und Freunden aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR entwickelt. Ich habe große Hochachtung vor den Oppositionellen der DDR, die gesagt haben: Wir haben
für den Rechtsstaat gekämpft, und das ist für uns ein sehr hoher Wert; ihn werden wir anwenden, und sei es auch gegen unsere ehemaligen Feinde.
Dies ist die Haltung, mit der wir herangehen, und ich empfinde es als eine große Ehre, diese Politik meiner Freundinnen und Freunde aus der Bürgerbewegung fortzuführen.
Wir reden seit vier Jahren darüber, seitdem diese Rentenkürzung damals in das Rentenüberleitungsgesetz hineingenommen wurde. Ich glaube, alle Beteiligten, aber vor allen Dingen die betroffenen Rentnerinnen und Rentner sind es inzwischen unglaublich müde, daß sich da so wenig bewegt. Es ist so viel darüber geredet worden. Ich sage es jetzt hoffentlich zum letztenmal in diesem Hause: Das Rentenrecht ist ein denkbar schlechter Ort für Vergangenheitspolitik. Mit den bestehenden Regelungen wird nicht Gerechtigkeit hergestellt. Vielmehr werden bei dem Versuch, frühere Privilegien zurückzuführen, neue Ungerechtigkeiten geschaffen.
Manchmal werden sogar die falschen getroffen. Ich habe vor einigen Tagen den Brief eines Bürgers bekommen. Er war 27 Jahre lang NVA-Offizier. 1982 ist er nach Verhören durch die Stasi unehrenhaft entlassen worden. Die üblichen Begründungen: zuviel Westkontakte mit der Familie, Feindsender abgehört und die falschen Gedanken gehegt. 1990 wurde dieser Mann durch Minister Eppelmann rehabilitiert. 1995 schreibt ihm das Bundesministerium der Verteidigung, daß er vermutlich Ansprüche nach dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz habe. Ein Jahr vorher mußte ihm der Rentenversicherungsträger mitteilen, daß er für seine 27 Jahre NVA drastisch gekürzte Einkommen für die Rentenberechnung zugrunde gelegt bekommt.
Es gibt etliche Opfer des SED-Regimes - Sie wissen, daß sie sich häufig an uns wenden -, die solche und ähnliche Fälle geschildert haben. Ich glaube, auch an diesem Fall kann man deutlich machen, daß das so nicht gewollt sein kann.
Die Koalition hat längst den Handlungsbedarf zugegeben. Allerdings haben Sie inzwischen eine derart heillos unübersichtliche Lage geschaffen, daß selbst eine wirklich hochinteressierte Zeitgenossin wie ich den Überblick verloren hat. Da schlagen ostdeutsche Bundestagsabgeordnete etwas vor, dann irgendwelche ostdeutschen Ministerpräsidenten, dann ostdeutsche Sozialminister. Offensichtlich ist es bei der CDU ohnehin ein reines Ostthema, und Westdeutsche interessieren sich dafür gar nicht.
Fakt ist jedenfalls, daß wir inzwischen überhaupt
nicht mehr wissen, was Sie damit wollen, was Ihre
Vorschläge sind. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie
Andrea Fischer
endlich sagen, was Sie wollen, und vor allen Dingen, daß Sie etwas tun.
Wir werden den Antrag der SPD unterstützen und deswegen keinen eigenen Gesetzesantrag einbringen. Wir werden allerdings einen Änderungsantrag stellen, nach dem die berücksichtigungsfähigen Entgelte für Angehörige der Staatssicherheit auf das in der DDR übliche Entgelt zurückgeführt werden. Dies ist keine Strafaktion, sondern eine Gleichstellung mit allen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, da nachweislich im Bereich des MfS überhöhte Entgelte erzielt wurden.
Meine Damen und Herren, ich finde, über diese Frage ist wirklich genug Zeit ins Land gegangen. Es sind genug Worte gewechselt, Briefe geschrieben worden. Ich appelliere an das gesamte Haus, daß wir alle zusammen rasch eine Regelung finden, die den Rechtsfrieden wiederherstellt.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gysi.
Der Kollege von der CDU hat mich darauf hingewiesen, daß ich vielleicht früher hätte Widerspruch üben sollen und nicht gerade jetzt in dieser Gesellschaft.
Dazu sage ich Ihnen: Sie können überhaupt nicht beurteilen, wann und wo ich Widerspruch geübt habe.
Ich stelle nur fest, daß Sie selbst in einer Gesellschaft, wo das ohne jede Schwierigkeit möglich wäre, nicht einmal den Mut haben, Widerspruch zur Regierung zu üben.
Zweitens. Sie haben uns Wahlkampf vorgeworfen. Ich sage Ihnen: Sie führen den übelsten damit. Vor der letzten Bundestagswahl war es Ihre Partei, die durch die neuen Bundesländer gereist ist und überall erklärt hat, das Rentenüberleitungsgesetz müsse korrigiert werden.
Jetzt vor der Wahl in Berlin macht der Regierende Bürgermeister in Berlin wieder dasselbe. Aber Taten folgen dem nicht. Das nenne ich üblen Wahlkampf.
Wir haben immerhin Anträge eingebracht mit dem Ziel, daß das Rentenrecht überwunden wird.
Sie haben eben auch ganz eindeutig in Unkenntnis gesprochen, denn der ärztliche Direktor z. B. ist natürlich nach der geltenden Regelung ein klarer Staatsnaher. Sie haben überhaupt nicht gewußt, was das ist, als Sie das beschlossen haben. Oder haben Sie wirklich geahnt, daß Sie die Ballettmeister, die Leute von der Reichsbahn usw. alle mitbestrafen, weil sie natürlich alle in staatlichen Einrichtungen der DDR tätig waren? Das ist das Ergebnis Ihres Gesetzes.
Bei dem Fall der Bäuerin geht es um die Überführungslücke, weil Sie das Rechtsinstitut des mithelfenden Familienmitglieds in der Bundesrepublik Deutschland nun mal nicht kannten, aber das war ein Rechtsinstitut in der DDR, das insbesondere den Frauen von Bauern und den Frauen von Handwerkern und Gewerbetreibenden einen eigenen Rechtsanspruch zusicherte, sicherlich keinen hohen, aber immerhin einen. Und jetzt ist er ganz weggefallen. Diese Überführungslücke muß unbedingt geschlossen werden.
Eine letzte Bemerkung: Sie haben gesagt, es gehe nicht um Strafrecht, und dann haben Sie nachgewiesen, daß es Ihnen genau darum geht, denn Ihre ganze Begründung mit alten Kadern usw. strotzt vor diesem Argument des Strafrechts.
Es geht mir gar nicht um die Rechtfertigung einzelner Biographien, aber eine Fraktion, die so vehement dafür gekämpft hat, daß alle Angehörigen der SS, die Witwe von Freißler und sonstwem, ihre Renten bekommen, soll mir in dieser Frage nicht mit Moral kommen. Es geht genau darum, Rentenrecht und Moral nicht miteinander zu vermischen.
Herr Kauder.
Herr Kollege Gysi, Ihr polemisches Talent ist bekannt, aber damit können Sie keine Fakten kaputtmachen. Im übrigen nehme ich zur Kenntnis, daß Sie die Stasi mit der SS verglichen haben.
Volker Kauder
Wenn es sich um einen ärztlichen Direktor handelt, dann hätte Ihre Kollegin es auch gleich sehr präzise sagen müssen. Es ist natürlich völlig klar, daß ein Arzt, der bei der Stasi angestellt war,
natürlich ebenfalls begrenzt wird und daß der Arzt, der als ärztlicher Direktor in einer besonderen Funktion war, ebenfalls begrenzt wird.
Aber das sind ganz wenige, die wir ausdrücklich ausgewiesen haben. Alle anderen sind davon nicht betroffen.
Sie argumentieren mit Dingen, die nicht wahr sind. Frau Bläss und Herr Gysi, Sie haben gesagt, es interessiere die Westdeutschen nicht. Ich bin aus Westdeutschland und interessiere mich, seit ich im Deutschen Bundestag bin, für die Rentenüberleitung. Ich habe mich bei vielen ostdeutschen Kollegen sehr genau kundig gemacht, was wirklich vorgegangen ist, was wirklich geschehen ist. Wir haben uns um Gerechtigkeit bemüht.
Ich empfehle Ihnen sehr dringend, sich nicht nur mit den Menschen zu befassen, sondern auch mit den Leuten zu sprechen, die aus der Bürgerbewegung kommen, Frau Bohley und anderen. Sie sind hell entsetzt über das, was Sie gerade wieder vorhaben, daß eben nicht über die Opfer geredet wird, sondern über die, die 40 Jahre dafür Verantwortung getragen haben, daß Opfer in der roten Diktatur entstanden sind. Deswegen können wir es uns nicht so leicht machen wie Sie und einfach nach dem Motto darüber hinweggehen: Die CDU, die F.D.P. und andere, die sind für die Opfer zuständig, und wir kümmern uns um die anderen. So einfach geht die Rechnung in diesem Deutschen Bundestag nicht auf.
Herr Gysi, wir haben inzwischen 1 Uhr. Bitte! Ich habe die Kurzinterventionen bis jetzt zugelassen.
Nach dem nächsten Debattenredner ist Schluß.
Letzter Debattenredner zu diesem Punkt ist der Kollege Uwe Lühr.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser Geisterstunde ist es natürlich verständlich, daß die Emotionen hochgehen. Die PDS bedient sich des formalen Rechts der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, um - um es im Klartext zu sagen - in Berlin Wahlkampf zu machen.
Vorgeschoben wird die Begründung, die Beratungen über das Rentenüberleitungsgesetz würden verschleppt.
Festzustellen ist, daß seit der ersten Debatte am 26. Januar dieses Jahres lange Zeit ins Land gegangen ist, ohne daß das Gesetz bisher hätte beschlossen werden können. Diese lange Zeit ist aber mitnichten Ergebnis einer erfolgreichen Verschleppungstaktik, sondern vielmehr Ausdruck der Schwierigkeit, einer akzeptablen Regelung näherzukommen.
Es geht um kein geringeres Problem, als den Spagat zu schließen zwischen etwa dem Anspruch der Frau auf der einen Seite, die mir schrieb:
Wir sind doch nicht deshalb auf die Straße gegangen, damit die Strolche, die uns am Hochschulstudium und adäquater Beschäftigung gehindert, sogar eingesperrt haben, jetzt auch noch überdurchschnittliche Renten beziehen,
und dem Anspruch des Mannes auf der anderen Seite, der unter den Nazis gelitten, sich dann am Aufbau eines anderen Deutschland beteiligt hat und jetzt auf Grund pauschalierter Staatsnähe Kürzungen seiner Rente hinnehmen muß. Rentenrecht darf nicht Strafrecht sein, Rentenrecht darf aber auch nicht ungerechtfertigt begünstigen.
Die Bewertung der unterschiedlichen Facetten der DDR-Wirklichkeit und die Umsetzung in anwendbare Gesetze stellt uns nicht nur vor technische Schwierigkeiten, sondern auch vor emotionale. Das ist zeitraubend. Das ist bedauerlich, aber das ist Realität. Soweit ich das sehe, ist das in allen Fraktionen anzutreffen - in der PDS natürlich nicht; das war auch nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Für den Berlin-Wahlkampf werden charakterlose Schauanträge gestellt, die unerfüllbare Erwartungen bei den Betroffenen wecken sollen.
Die Anträge, die im übrigen erst am 9. Oktober im Ausschußsekretariat eingegangen sind, belaufen sich - jetzt hören Sie genau hin - auf mehr als 6,3 Milliarden DM.
Herr Lühr, gestatten sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Höll?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Es ist spät genug.
Die PDS, die sich hier um den Eindruck der Verschleppung bemüht, hat noch am 22. September
Uwe Lühr
einen Änderungsantrag zu ihrem eigenen Gesetzentwurf eingebracht. Von Verschleppung kann hier also wahrlich nicht die Rede sein.
Meine Fraktion, die F.D.P.-Fraktion, wird sich weiter darum bemühen, daß der Kappungskatalog aufgehoben wird und rechtmäßig erworbene Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen und die Versorgungszusagen bei Post, Reichsbahn und Gesundheitswesen berücksichtigt werden.
Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung in allernächster Zeit einen Novellierungsentwurf, der mit den neuen Bundesländern abgestimmt ist, vorlegt, und ich hoffe weiterhin, daß dazu ein fraktionsübergreifender Konsens in diesem Haus möglich ist, wie es bei Rentenfragen üblich ist.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner , Gerd Andres, Klaus Barthel und weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD
Umbenennung der Generaloberst-Dietl-Kaserne in Füssen und der General-Kübler-Kaserne in Mittenwald
- Drucksache 13/1628 -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß Rechtsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hans Büttner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundesminister Waigel hat heute früh während der Aussprache über die fünfjährige Wiedervereinigung unter anderem erklärt: Die Aufklärung über das SED-Unrechtsystem bleibt eine zentrale Aufgabe. Recht hat er.
Zum Schluß der Tagesordnung steht nun ein Punkt an, der ebenso zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte gehört, nämlich der Umgang mit den Naziverbrechen, die Ursache für die Teilung dieses Deutschlands waren.
Die Bundeswehr feiert in diesen Tagen ihr 40jähriges Bestehen als Armee in einem demokratischen Deutschland, eine Armee, deren Soldaten den
Grundwerten der Demokratie verpflichtet sind, so wie Sie es, Herr Verteidigungsminister, anläßlich der Einweihung der Julius-Leber-Kaserne am 5. Januar 1995 in Berlin ausgedrückt haben - ich zitiere -:
Der Soldat der Bundeswehr ist bereit, sein Vaterland zu schützen und den Frieden zu sichern; er steht ein für unsere Verfassung, und er übernimmt Verantwortung für Freiheit und Würde anderer. Julius Leber kämpfte gegen Nationalsozialismus und Diktatur - offen, unerschrocken, mit prinzipientreuer Kraft und vor allem: von Anfang an. Das unterscheidet ihn von vielen anderen, bei denen Einsicht und Mut zur Gegnerschaft erst im Laufe der Zeit wuchsen.
1965 hatte der damalige Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel die Gebirgsjägerkasernen in Füssen und Mittenwald nach Generaloberst Dietl und General Kübler benannt, ohne damals die örtlichen Stadt- und Gemeinderäte vorher auch nur zu befragen. Seitdem tragen diese Kasernen die Namen zweier Militärführer, die ausweislich aller jetzt vorliegenden Studien und nachlesbaren Veröffentlichungen überzeugte Nationalsozialisten der ersten Stunde waren und die auch dann noch mit Durchhalteparolen treu zu ihrem Führer standen, als - um Sie noch einmal zu zitieren - bei anderen „Einsicht und Mut zur Gegnerschaft im Laufe der Zeit wuchsen".
Diet! war bereits maßgeblich am Kapp-Putsch im Frühjahr 1920 beteiligt. Ihm war „bei der Durchführung des Putsches in München eine tragende Rolle zugedacht" - so selbst die in vielen Bereichen unvollständige Studie des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr. Er war ein Anhänger Hitlers der ersten Stunde und hat ihm bereits 1919 seine Soldaten als Saalschutz zur Verfügung gestellt und, so die Studie, war zeit „seines Lebens überzeugter Anhänger jener menschenverachtenden Bewegung" . Deutlich wird dies anhand mehrerer Reden, die Diet' u. a. im November 1943 in Süddeutschland hielt. Eine Rede Dietls ist z. B. in der Ausgabe des „Donauboten" aus Ingolstadt vom 15. November 1943 nachzulesen.
Im Zusammenhang mit dem sogenannten Kommissarbefehl, nach dem alle gefangenen sowjetischen politischen Kommissare zu erschießen waren, stellt die Studie fest:
Unbestritten ist ..., daß man in den Stäben des Gebirgskorps Norwegen .. .
- dessen kommandierender General war Dietl seit Juni 1940 -
von der Existenz des Befehls und von Erschießungen im unterstellten Bereich gewußt hat und daß in dem ihm unterstellten Bereich 1941 und 1942 verschiedentlich nach diesem Befehl verfahren wurde.
Schließlich ist die Verantwortung Dietls für zwei Feldstraflager in Finnland festzuhalten. Die Lager unterstanden der Armee und damit Dietl, der also für die Zustände dort verantwortlich war. Auf einem von Diet! in einer Ansprache als „Bewährungsmarsch" bezeichneten Marsch über 500 km, die von den Ge-
Hans Büttner
fangenen in 30 Tagen zurückzulegen waren, wurden mindestens 16 Menschen erschossen, entsprechend der Ankündigung DietIs: „Meine Herren, wer nicht mitkommt, der fällt. "
Obwohl die Studie einige fragwürdige Wertungen zugunsten Dietls trifft, ist ihr Ergebnis doch eindeutig:
Neben sie
- gemeint ist die „vorbildliche Menschenführung" Dietls -
tritt aber die - auch persönliche - Verstrickung in die Unrechtstaten des nationalsozialistischen Regimes, die ihn aus der Masse der Wehrmacht deutlich heraushebt. Nach einem modernen Geschichtsverständnis ist bei der Beurteilung von Persönlichkeiten eine Reduzierung auf einzelne Elemente - im Fall Dietls auf nur soldatische und militärische Haltungen und Leistungen - nicht möglich.
Kübler, der „Bluthund von Lemberg", war ab Oktober 1943 Befehlshaber der Operationszone adriatisches Küstenland. Er wurde 1947 von einem jugoslawischen Militärgericht als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Studie des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes stellt bei Kübler eine „äußerst positive Einstellung zum Nationalsozialismus" fest.
Im Rußlandfeldzug forderte Kübler, als Vergeltung für die Ermordung von 19 verwundeten deutschen Soldaten sämtliche gefangenen russischen Oberbefehlshaber, Kommandeure und Stabsoffiziere zu erschießen.
Im Kampf gegen die jugoslawischen Partisanen zeichnete sich Kübler, so die Studie, durch „überzogene Härte und Brutalität" aus. So ließ er Frauen und Kinder erschießen.
In seiner Wertung über General Kübler kommt selbst das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr zu dem Ergebnis:
Er
- gemeint ist Kübler -
trieb seine Truppen ohne Rücksicht auf personelle Verluste an und erweckte damit den Eindruck der menschenverachtenden Brutalität eines Hasadeurs.
Im Traditionserlaß der Bundeswehr aus dem Jahre 1982 heißt es u. a.:
Kasernen ... können ... nach Persönlichkeiten benannt werden, die sich durch ihr gesamtes Wirken oder eine herausragende Tat um Freiheit und Recht verdient gemacht haben.
In den Richtlinien für die Benennung von Kasernen wird ergänzt:
Bei der Beurteilung, ob Persönlichkeiten der deutschen Militärgeschichte für die Bundeswehr überlieferungswürdig sind, können nicht nur soldatische Haltung und militärische Leistungen zugrunde gelegt werden. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob ihre Gesamtpersönlichkeit und ihr Gesamtverhalten beispielgebend in unsere Zeit hineinwirken.
Deshalb ist es mehr als bedauerlich, daß es überhaupt dieses Antrages auf Umbenennung dieser beiden Kasernen im Parlament bedarf.
Es muß erwartet werden, daß sich alle demokratischen Parteien in unserem Land darüber einig sind, daß überzeugte Nationalsozialisten nicht Pate für Kasernennamen der Bundeswehr stehen können.
Das Festhalten an den Namen der beiden nationalsozialistischen Generäle ist ein falsches Signal für die Bundeswehr. Den jungen Soldatinnen und Soldaten werden dadurch falsche Vorbilder vermittelt. Das ist eine gefährliche und auch den eigenen Richtlinien widersprechende Traditionspflege, für die Sie, Herr Minister Rühe, die alleinige Verantwortung tragen.
Es ist scheinheilig, rechtsextremistische Vorkommnisse in den Streitkräften in Weisungen zu verurteilen und gleichzeitig ausgewiesene Nazi-Offiziere in Kasernennamen der Bundeswehr zu dulden. Ganz offensichtlich sollen damit rechte Wähler bei der Stange gehalten werden. Deshalb ist es wohl auch im Interesse von bestimmten Vertretern der CDU/CSU, diese Debatte zur Geisterstunde durchzuführen,
in der Hoffnung, dieses schäbige und verantwortungslose Spiel unter Ausschluß der Öffentlichkeit betreiben zu können.
Die allermeisten Vorgesetzten der Bundeswehr, die ein integraler Bestandteil unserer Demokratie geworden ist, stehen fest und überzeugt zu den Grundwerten unseres Staates. Es ist feige, wenn die politische Führung der Bundeswehr diese Männer nun unter dem Vorwand angeblicher demokratischer Entscheidungsprozesse den Konflikt mit den CSU-nahen Reservistenverbänden austragen läßt, der durch eine skandalöse und von der politischen Führung zu verantwortende falsche Traditionspflege ausgelöst worden ist.
Das 40jährige Bestehen der Bundeswehr ist der geeignete Anlaß, die Generaloberst-Dietl-Kaserne in
Hans Büttner
Füssen und die General-Kübler-Kaserne in Mittenwald umzubenennen. Dieses Jubiläum der ersten deutschen Streitkräfte in einem freiheitlich verfaßten demokratischen Staat, auf das wir alle gemeinsam stolz sein können, ist für Sie, Herr Minister, eine Chance und Verpflichtung zugleich. Belasten Sie die Truppe nicht länger mit einer Diskussion, die sie nicht zu verantworten hat, und bedenken Sie in diesem Zusammenhang auch Ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten, die bereits jetzt auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawiens mit unserer Zustimmung humanitäre Hilfe leisten und dies auch künftig im verstärkten Umfang zur dauerhaften Sicherung des Friedens tun sollen! Handeln Sie endlich, handeln Sie als wehrhafter Demokrat, und ordnen Sie die Namensänderung an!
Das Wort hat jetzt der Kollege Benno Zierer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich, bevor ich zum Thema selbst Stellung nehme, eine Bemerkung machen: Gibt es für die Opposition am Ende des 20. Jahrhunderts, gibt es für die Opposition im Jahre fünf nach der deutschen Einheit keine bewegenderen Themen,
keine wichtigeren Probleme als die Umbenennung von Kasernen?
Soll 50 Jahre nach dem Krieg mit einer zweiten Entnazifizierung, mit einer Entnazifizierung von Gebäuden, begonnen werden?
Hängt denn die Qualität unserer Demokratie von der Unzweifelhaftigkeit eines militärischen Namenspatrons ab?
Ich meine, dieser Antrag ist der durchsichtige Versuch, die Traditionspflege der Bundeswehr -
den Genossen schon immer ein Dorn im Auge - als „rückwärtsgewandt", „mit braunen Flecken" zu diffamieren.
Unsere Bundeswehr als Armee im demokratischen Staat ist über einen derartigen Verdacht erhaben.
Daran ändert auch eine solche Namensnennung nichts.
Ihr Antrag berührt außerdem die alte Streitfrage, in welchem Umfang die deutsche Wehrmacht für die Untaten des Nationalsozialismus Mitverantwortung trug. Trotz erwiesener Kriegsverbrechen muß ich sagen: Das Gros der Wehrmachtsoldaten hat sich tadelsfrei verhalten,
soweit dies unter den mörderischen Umständen eines Krieges möglich ist. Die Tragik der Soldaten im Zweiten Weltkrieg bestand ja gerade darin, daß sie sich in dem Glauben, für die Heimat zu kämpfen, von einem skrupellosen Regime mißbrauchen ließen.
Den heute noch lebenden Soldaten zur Ehre sei gesagt, daß ihre Verstrickung in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte in den wenigsten Fällen auf persönlicher Schuld beruhte.
]:
Genauso ist es! Das ist die Wahrheit!)
Anders - differenzierter - ist der Anteil persönlicher Schuld beim deutschen Offizierskorps zu sehen, wo viele zu Komplizen der Nazis wurden.
Wer aber mit den Maßstäben von heute das Verhalten von damals mißt, der handelt unredlich.
Es ist einfach, aus dem Schutz gesicherter demokratischer Grundrechte heraus Menschen zu verurteilen,
denen ein solcher Schutz damals nicht zuteil war. Das sogenannte Dritte Reich hat viele mitschuldig werden lassen, die mit dem Ungeist der braunen Machthaber an sich nichts gemein hatten. Als Beispiel mag der von vielen von uns verehrte Generalfeldmarschall Rommel dienen,
der aus Einsicht, daß er mit seinem demokratischen Einsatz den Nazis den Weg ebnen half, die tragische Konsequenz zog.
Auch ein Generaloberst Diet! glaubte, seinem Land dienen zu können
Benno Zierer
und galt bei den Soldaten als großes Vorbild. Er irrte. Aber er glaubte wie so viele in der Wehrmacht und auch im deutschen Volk an den sogenannten Führer und an seinen militärischen Auftrag.
Ich gebe zu: Aus heutiger Sicht wäre er als Namensgeber für eine Einrichtung der Bundeswehr ungeeignet. Das hat auch der Bundesminister der Verteidigung wiederholt erklärt.
Es ist eine andere Frage, ob die Einwände gegen seine Person wie auch gegen General Kübler so groß sind, daß eine Umbenennung der Kasernen in Füssen und Mittenwald zwingend ist. Es ist richtig: Solche Entscheidungen sollen nicht auf oberster politischer Ebene getroffen werden, sondern sie sollen von unten, von der Bevölkerung, von den dort gewählten Vertretern der Kommunen kommen.
Das von Ihnen, meine Herren von der Opposition, viel strapazierte Wort von der Basisdemokratie bietet hier die beste Gelegenheit, sie zu praktizieren, oder in Bayern bei der geschaffenen Möglichkeit eines Bürgerentscheids.
Ich darf abschließend sagen: Die CDU/CSU-Fraktion legt keinen gesteigerten Wert darauf, die bestehende Benennung zu ändern. Zwingender Anlaß besteht nicht.
Vielen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Winfried Nachtwei.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen! Herr Kollege Zierer, Sie fragen, ob es kein wichtigeres Thema gibt. Natürlich gibt es viele wichtige Themen. Allerdings ist Traditionspflege für die Bundeswehr insofern enorm wichtig, weil es da um eigenes Selbstverständnis und eigene Identität geht. Das hat natürlich ganz stark mit der eigenen Vergangenheit zu tun. Zweitens geht es hier, glaube ich, den meisten im Saale nicht darum, die Traditionspflege bei der Bundeswehr pauschal zu diffamieren. Da müssen wir genau hinschauen. Das werde auch ich versuchen.
Vor wenigen Wochen erlebte ich in meiner Heimatstadt Münster, daß ein General pensioniert wurde, der auf fast 40 Dienstjahre ohne Krieg stolz war. Das ist angesichts der langen deutschen Militärgeschichte, denke ich, ein sehr erfreuliches Novum. In den Traditionsrichtlinien der Bundeswehr von 1982 heißt es:
In den Nationalsozialismus waren Streitkräfte teils schuldhaft verstrickt, teils wurden sie schuldlos mißbraucht. Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen.
Am 5. Januar dieses Jahres gab Minister Rühe der größten Kaserne in Berlin den Namen von Julius Leber. Diese begrüßenswerten Bemühungen um demokratisches Selbstverständnis und demokratische Traditionspflege in der Bundeswehr werden allerdings z. B. durch solche Namen konterkariert.
Die Belege dafür, daß die Namen gerade von General Diet! und Kübler im Rahmen einer solchen Traditionspflege völlig ungeeignet sind, sind gerade vom Kollegen Büttner genannt worden, auch nach den letzten Studien des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Ich brauche sie nicht zu wiederholen. General Winfried Wolf hat als Kenner ähnliche Ausführungen dazu gemacht.
Wir müssen allerdings feststellen: Das Ministerium prüft inzwischen sieben Jahre diesen ganzen Komplex. Ich habe den Eindruck, man versteckt sich im Grunde hinter dem, was lokal an unzweifelhafter Zustimmung zu diesen Namen vorhanden ist.
Herr Nachtwei, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Gysi?
Ja, bitte schön.
Zu den beiden Namen haben Sie ausreichend Stellung genommen. Aber Ihr Vorredner hat darauf hingewiesen, daß man die Wehrmacht sehr differenziert beurteilen müsse und daß viele dachten, daß sie sozusagen die Heimat verteidigen, obwohl sie in Wirklichkeit mißbraucht wurden, um einem System zu dienen. Er hat dabei insbesondere Herrn Rommel hervorgehoben.
Würden Sie mir in der Annahme folgen, daß, wenn man in Afrika kämpft, man ahnt, daß man nicht seine Heimat verteidigt, weil man das eigentlich nur in der Heimat kann? Wenn man nach Polen, in die Sowjetunion und in viele andere Länder marschiert, muß man zumindest davon ausgehen, daß man einen Eroberungskrieg führt.
Eine kurze Antwort darauf: Grundsätzlich ja. Ich will jetzt aber nichts zur Wehrmacht sagen. Es geht hier
Winfried Nachtwei
um konkrete Namen. Ich glaube, da kommt man weiter.
- Herr Riedl, darf ich um Ruhe bitten? - Danke schön.
Allerdings muß ich feststellen, daß diese beiden Kasernennamen nicht einfach nur als Fall von vielleicht militaristischer Folklore abgetan werden können, sondern daß sie auch etwas wie die Spitze eines Eisberges sind. Wenn wir uns Kasernennamen insgesamt ansehen, müssen wir feststellen, daß ein großer Teil dieser Kasernen nach sogenannten Helden des Ersten Weltkrieges, von Kolonialkriegen und anderen sogenannten Helden des Zweiten Weltkrieges benannt ist. Sehr viele Namen wurden aus der hitlerschen Traditionsoffensive von 1936/1937 übernommen und dann beibehalten.
Wenn solche Namen als Kasernennamen gewählt werden, hat das Symbolkraft; denn die Bezeichnung von Kasernen nach bestimmten Personen soll Schlichtweg Vorbilder markieren. Wenn man solche Art von Kriegshelden in Mengen als Vorbilder darstellt, soll man sich allerdings nicht wundern, daß sich an der Basis in einzelnen Einheiten Beunruhigendes tut. Das wurde im letzten Bericht des Wehrbeauftragten dargestellt, und zwar in dem Kapitel „Traditionspflege".
Herr Minister Rühe, meiner Meinung nach ist es an der Zeit, daß Sie in Sachen Kasernennamen endlich Führungsstärke beweisen. Dafür wäre die Umbenennung dieser beiden Kasernen ein sehr wichtiger erster Schritt. Ansonsten muß sich der Eindruck aufdrängen, daß Ihr Eintreten für eine demokratische Traditionspflege in der Bundeswehr nicht ganz ernst gemeint ist.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hildebrecht Braun.
Wertes Präsidium! Die Deutschen sind schon ein undankbares Volk. Da kämpfen die Generäle Kübler und Dietl jahrelang mit großem Erfolg. Sie besiegen den bösen Feind reihenweise, der einfach nicht verstehen will, daß es der göttlichen Vorsehung entsprechen soll, wenn deutsche Soldaten sein Land besetzen. Sie sorgen für einen Ruf der neugebildeten 1. Gebirgsdivision wie Donnerhall. Sie stellen den Primat der Politik nicht in Frage, sondern lesen dem Führer die Wünsche von den Lippen ab - und das auch noch mit glühendem Herzen. - Und dann das! Da kommen 50 Jahre später Politiker und wünschen, daß Kasernen, die man in den 60er Jahren nach den früheren Helden der Truppe benannt hat, umbenannt werden.
Von 443 deutschen Kasernen tragen nur 40 die Namen von Soldaten der ehemaligen Wehrmacht. Von diesen Soldaten waren 13 allerdings Angehörige des militärischen Widerstands. Die anderen 27 Namen schaffen uns mehr Probleme als die Namen der verbleibenden 416 Kasernen zusammen.
Diese sind nach Landschaften, nach historischen Persönlichkeiten oder nach der jeweiligen Waffengattung benannt.
Ich bin selbst Reserveoffizier der Gebirgstruppe. Als ich in Mittenwald diente, hieß die Kaserne noch nicht General-Kübler-Kaserne, sondern Pionierkaserne. In Füssen gab es die Jägerkaserne und keine Generaloberst-Dietl-Kaserne. Aber die Bundeswehr, eine Friedensarmee mit einem völlig neuen Auftrag, suchte Traditionen, die sie betrüblicherweise bei den Generälen Kübler und Diet' fand.
Kübler als erster Kommandeur der 1. Gebirgsdivision erfüllte sicher die Vorstellung vieler von einem deutschen Truppenführer. Er war ein echter Haudegen, der die Gebirgsjäger kompromißlos zu einer Elitetruppe der deutschen Wehrmacht machte. Daß er dabei keinerlei Schranken kannte, störte die Traditionssucher in den 60er Jahren nicht. Die militärgeschichtliche Forschung von heute entlarvt Kübler mit seiner äußerst positiven Einstellung zum Nationalsozialismus allerdings als menschenverachtenden, brutalen Hasardeur.
Ich zitiere aus einer offiziellen Untersuchung. Es ist nicht meine persönliche Bewertung; aber ich stimme ihr zu.
Kübler hat als Vergeltung - hören Sie mir bitte zu - für die Ermordung von 19 deutschen Soldaten durch Partisanen nachhaltig die Erschießung sämtlicher gefangener russischer Oberbefehlshaber, der kommandierenden Generäle, der Kommandeure und Stabsoffiziere gefordert. General Kübler hat damit unmißverständlich zu offensichtlichen Kriegsverbrechen erster Ordnung aufgerufen. Er taugt nicht zum Vorbild für die Bundeswehr.
Er war ein Kriegsverbrecher.
Die Kübler-Kaserne in Mittenwald mit der Winterkampfschule der Bundeswehr wird laufend von Delegationen aus aller Welt besucht. Sie darf seinen Namen nicht mehr tragen. Es ist unverständlich, warum das Verteidigungsministerium nicht schon längst gehandelt hat.
Hildebrecht Braun
Sehr viel schwieriger ist die Sache mit der DietlKaserne. Diet! zeichnete sich nicht nur durch große militärische Leistung aus, sondern auch durch soldatische Haltung. Er ging anständig mit seinen Untergebenen um. So nimmt es nicht wunder, daß er vielen noch heute als ehrenhafte Persönlichkeit, ja als väterlicher Freund in Erinnerung ist. Er hatte ein herzliches Einvernehmen mit großen Teilen der Bevölkerung, die ihm noch heute einen Heiligenschein umhängen wollen. Es ist aber an der Zeit, Heiliges von Unheiligem zu trennen.
Dietl war ein zutiefst überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus und Freund von Adolf Hitler. Er hielt wohl bis zum bitteren Ende die Nazis für die Träger einer Bewegung, die das Gute wollte. Er verstand sich als unpolitischer Heerführer, der dem Führer ohne Wenn und Aber zu dienen hatte. Nach heutigem Geschichtsverständnis zeigt er einen eklatanten Mangel an historisch-kritischer Urteilsfähigkeit.
Es reicht aber nicht für ein Vorbild unserer Soldaten, auf soldatische und militärische Leistungen nach früheren Kriterien verweisen zu können.
Ein Vorbild unserer Bundeswehr kann nur sein, wer selbständig mitdenkt und Befehle daraufhin überprüft, ob sie nicht vielleicht verbrecherisch sein könnten.
Was von jedem einfachen Soldaten nach dem Prinzip der inneren Führung erwartet wird, muß erst recht bei einem Heerführer erwartet werden können, der Verantwortung über Leben und Tod von Hunderttausenden hatte.
Dietl wird diesem Anspruch nicht gerecht. Dietl
hatte keinen inneren Bezug zum zentralen Auftrag unserer Soldaten, nämlich die Freiheit der Menschen zu verteidigen. Freiheit und Rassismus sind wie Feuer und Wasser.
Eine Kaserne ist eine Einrichtung der gesamten deutschen Bundeswehr, nicht nur des Ortes, in dem sie liegt. Die Soldaten, die in Füssen aus- und fortgebildet werden, werden nicht gefragt, ob sie Soldaten sein wollen. Sie haben unserem Land und der Freiheit der Menschen treu zu dienen. Sie haben auch Anspruch darauf, dies nicht in einer Kaserne zu tun, die nach einem Heerführer benannt ist, für den Freiheit ein Fremdwort war.
Die Sorge für unsere Bundeswehr und ihre Rolle in unserem Staat gebietet es uns, darauf hinzuwirken, daß in absehbarer Zeit - möglichst im Einvernehmen mit der Stadt Füssen - eine Umbenennung erfolgt.
Ich erlaube mir hierzu noch einen Vorschlag: Was hindert eigentlich den Bund und die Stadt Füssen, den Namen eines friedlichen bayerischen Königs,
nämlich Ludwigs II., heranzuziehen, der der Stadt Füssen durch seine Schlösser jährlich weit über eine Million Touristen beschert und der in den Herzen der Bayern viel tiefer verankert ist, als es Dietl trotz seines Charismas je schaffen konnte?
Vielen Dank.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Gerhard Zwerenz.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit den Wertungen meines Vorredners könnte ich mich sehr anfreunden. Ich werde versuchen, noch ein paar neue Akzente hinzuzusetzen.
Ich meine, daß über die lang erwarteten und endlich vorliegenden Gutachten des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes zu den Fällen Generaloberst Dietl und General Kübler unterschiedliche Meinungen und Bewertungen möglich sind.
Ausgenommen sind die Sätze der Schlußbetrachtungen, in denen beide Gutachter, nachdem sie alles denkbar Entlastende erwogen haben, die politmoralische Legitimation zur Verwendung in der Traditionspflege der Bundeswehr eindeutig in Abrede stellen. Dies ist etwas, was eigentlich unstrittig sein sollte.
Bei Dietl ist von der „Verstrickung in die Unrechtstaten des nationalsozialistischen Regimes" die Rede, „die ihn aus der Masse der Wehrmacht deutlich heraushebt". Im Falle Kübler spricht das Verdikt von „menschenverachtender Brutalität ... eines Hasardeurs, der in Rußland und Jugoslawien zu Kriegsverbrechen aufforderte", was in einem Fall selbst einen NS-Gauleiter dazu brachte, mildernd einzugreifen.
Es stellt sich die Frage - sie ist heute noch nicht gestellt worden -, weshalb diese Gutachten erst so spät und nach so langer Zeit nach dem Kriege erstellt worden sind und weshalb sie, obwohl seit Februar 1995 vorliegend, uns, d. h. dem Verteidigungsausschuß, erst Ende September übergeben worden sind.
Es ist allerdings so: Die schlimmsten Fakten in beiden Fällen sind nicht erst durch das Gutachten oder in jüngster Zeit bekanntgeworden. Ich selbst habe seit drei Jahrzehnten mehrfach in Büchern und in der Presse über diese Fälle berichtet. Aber die Bundeswehr nimmt Darlegungen freier Autoren offenbar nicht zur Kenntnis. Die Frage ist, ob sie jetzt die Darlegungen dieser beiden Gutachten wenigstens zur Kenntnis nimmt. Es ist natürlich zu fragen, wie die Bundeswehrsoldaten der betroffenen Kasernen und die betreffenden Ortspolitiker von Füssen und Mittenwald, die sich für ihre Kasernenpatrone bisher so vehement und in blindem Lokalpatriotismus eingesetzt haben, nun argumentieren werden, denn nun müssen sie noch einmal befragt werden.
Gerhard Zwerenz
Beispiel Kübler, Korpstagesbefehl vom 7. August 1941:
Soldaten!
Die Schlacht von PODWYSSOKOJE ist siegreich beendet.
Der Feind ist vernichtet.
Ich danke Euch allen.
Wir neigen uns in Ehrerbietung vor unseren Toten und grüßen unsere Verwundeten.
Wir grüßen die Heimat.
Es lebe der Führer!
Unterschrift: Kübler
Dies ist die typische Kriegslyrik in der Zeit, in der gesiegt wurde. Als dann die Niederlage kam, hat man geheult, als die andere Seite, die nun der Sieger war, so hart in der Lyrik wurde.
Aus Dietls Nazi-Reden und Hitlers Lobreden auf Dietl brauche ich nichts zu zitieren. Dies hieße nicht Eulen nach Athen tragen, nein, das hieße Verlegenheiten auf die Hardthöhe tragen. Es wurde schon gesagt - zur Ehre von Minister Rühe kann es noch einmal erwähnt werden -: Er hat sich mehrfach distanziert. Er hat gesagt, er würde eine Kaserne heute natürlich nicht nach Dietl benennen.
Als Goebbels 1943 zum „totalen Krieg" aufrief, sandte Dietl ihm dazu aus Norwegen ein Glückwunschtelegramm. Am selben Tag wurden in München die Geschwister Scholl verhaftet. Ich meine, hier zeigen sich Zusammenhänge, die bisher ausgeblendet worden sind. Alle diese Zusammenhänge, die für sich selbst sprechen, sind leider auch in den beiden Gutachten nicht erwähnt. Ich zitiere aus Dietls Ingolstädter Rede vom November 1943:
Der Frontsoldat weiß ..., daß sich die Juden der ganzen Welt zusammengeschlossen haben zur Vernichtung Deutschlands und ganz Europas.
Ich verzichte darauf, noch sehr viel schlimmere antisemitische Stellen zu zitieren. Sie sind bekannt. Ich habe sie dutzendfach veröffentlicht. Sie sind vom „Spiegel" bis zur „Frankfurter Rundschau" und in Büchern veröffentlicht worden. Sagen Sie mir nicht, daß Sie davon nichts gewußt haben! Sie stellen sich trotzdem auf die Seite dieser Generäle.
Der CSU-Abgeordnete Rossmanith, der heute hier auch allerhand zu sagen hat, schrieb über Dietl:
Generaloberst Dietl war und ist auch heute noch für mich ein Vorbild in menschlichem und soldatischem Handeln.
Dies wird auch vom weit überwiegenden Teil der Bevölkerung im Südbayerischen und dem daran angrenzenden Gebiet so gesehen.
Ich frage mich: Wieso beleidigt er eigentlich diese Bevölkerung?
Ich lese voller Verzweiflung, voller Trauer in solchen Situationen etwas anderes. Ich lese zum Beispiel:
Die Panzergrenadiere nehmen das Telefongebäude zum dritten Mal. Der Mut ist ungeheuer. Das Gemetzel ist riesig.
Größer
Ist der Mut dessen, der dem Befehl
Widersteht.
Das ist allerdings nicht die Lyrik von diesen Generälen, nicht von Kübler und nicht von Dietl. Das ist die Lyrik, das sind sechs Zeilen von Brecht. Nach ihm sollte die Dietl-Kaserne jetzt benannt werden.
Ich danke Ihnen.
Es spricht der Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derjenige, der das Gutachten in Auftrag gegeben hat, bin ich. Nachdem es vollständig war und auch die völkerrechtlichen Untersuchungen vorlagen, habe ich es unverzüglich dem Verteidigungsausschuß sowie den Kommandeuren vor Ort und auch den Gemeinden zugeleitet. Der Streit, um den es eigentlich nur gehen kann, ist: Soll ich entscheiden, bevor ich die Betroffenen gehört habe? Ich glaube, das wäre falsch. Das würde im übrigen auch den Regeln widersprechen, an die ich mich zu halten habe.
Der sozialdemokratische Verteidigungsminister Hans Apel hat 1982 festgelegt, daß die Traditionspflege in der Verantwortung der Kommandeure und Einheitsführer liegt. Bestehende Kasernennamen können auf Antrag der Truppe und im Einvernehmen mit den betroffenen Gemeinden geändert werden.
Die Kommandeure in Füssen und Mittenwald haben deshalb von mir den Auftrag erhalten, im Lichte der Untersuchungsergebnisse des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes zu prüfen und Stellung zu nehmen, ob sie - und zwar erstmals auf der Grundlage dieser eindeutigen Dokumente - die Namen ihrer Kasernen noch für vertretbar halten. Die Gemeinden sollen in die Diskussionen einbezogen werden. Auch sie haben die Studien erhalten.
Ich denke, es ist in der Demokratie guter Brauch und vernünftig, die Betroffenen vor einer Entscheidung an der Meinungsbildung zu beteiligen, um Dekrete von oben zu vermeiden.
Die Menschen vor Ort müssen notwendige Entscheidungen mittragen, wenn wir unnötige Verhärtungen vermeiden wollen. Denn Tradition muß von
Bundesminister Volker Rühe
den Menschen in der Bundeswehr, in den Gemeinden und Regionen gelebt werden, wenn sie in der Zukunft tragen soll.
- Warten Sie doch ab, Sie können ruhig Platz nehmen.
Bei der Frage, ob die Dietl-Kaserne in Füssen und die Kübler-Kaserne in Mittenwald umbenannt werden sollen, geht es im Kern darum, wie die Bundeswehr mit der Geschichte, mit der militärischen Tradition und dabei insbesondere mit der Wehrmacht umgeht. Das hat auch die Debatte gezeigt.
Die Bundeswehr stellt sich der ganzen deutschen Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen. Tradition ist aber nicht Geschichte. Tradition ist verantwortungsbewußte Auswahl aus der Geschichte. Sie orientiert sich am Werterahmen unserer Verfassung. Die Bundeswehr stützt sich deshalb vor allem auf die freiheitlichen Werte der deutschen Militärgeschichte. Die preußischen Reformen und der deutsche Widerstand gegen Hitler stehen daher im Zentrum der Traditionspflege der Bundeswehr.
Ich habe mit der Wahl des Bendler-Blocks zum zweiten Dienstsitz in Berlin, den Namensgebungen für die Dr.-Julius-Leber-Kaserne, die Henning-vonTreskow-Kaserne in Potsdam und gerade in den letzten Tagen für die Wilhelm-Leuschner-Kaserne in Hennickendorf entsprechende Akzente gesetzt.
Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches, in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Nazi-Verbrechen verstrickt. Daran gibt es keinen Zweifel. Als Institution Wehrmacht kann und darf sie deshalb keine Tradition begründen.
Nicht die Wehrmacht, aber einzelne Soldaten können traditionsbildend sein, wie die Offiziere des 20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an der Front. Wir können diejenigen, die tapfer, aufopferungsvoll und persönlich ehrenhaft gehandelt haben, aus heutiger Sicht nicht pauschal verurteilen.
Ich nehme auch nicht an, daß das irgend jemand machen würde.
Immer geht es um die Frage nach der individuellen Schuld oder dem individuellen Verdienst. Dabei dürfen wir uns natürlich nicht nur auf rein militärische Haltungen und Leistungen beschränken. Entscheidend sind Gesamtpersönlichkeit und Gesamtverhalten.
Ehemalige Soldaten der Wehrmacht haben die Bundeswehr mit aufgebaut. Offiziere wie die Generale de Maiziere, Graf Baudissin und Graf Kielmannsegg haben die Lehren aus der Geschichte gezogen - sie haben übrigens auch tapfer an der Front gekämpft, um das einmal deutlich zu sagen - und aus voller Überzeugung daran mitgewirkt, die Bundeswehr im demokratischen Staat zu verankern.
Sie haben die Innere Führung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform für die Armee in der Demokratie entwickelt. Darauf baut die eigene Tradition auf, die unsere Bundeswehr in den letzten 40 Jahren gebildet hat und auf die sie stolz sein kann.
Daher habe ich auch Kasernen nach Persönlichkeiten der Gründergeneration der Bundeswehr benannt: die Generalleutnant-Graf-Baudissin-Kaserne in Hamburg und die Johannes-Steinhoff-Kaserne in Berlin-Gatow.
Von den 368 Kasernen der Bundeswehr sind derzeit 179 nach Persönlichkeiten der Geschichte benannt. Die Namen umfassen Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler und Soldaten aus den letzten drei Jahrhunderten. Alle sind Ergebnis eines Meinungsbildungsprozesses von unten. Häufig sind regionale Bezüge für die Namensvorschläge maßgeblich gewesen.
Stets hat es dabei engagierte Befürworter und Gegner gegeben, bei einigen Namensgebern mehr, bei anderen weniger. Das liegt in der Natur der Sache. Wo immer Namensgebungen nach Persönlichkeiten der Geschichte erfolgen, ist der Grat schmal, auf dem man sich bewegt. Es geht um Menschen mit ihren Vorzügen und ihren Fehlern. Deshalb ist die Gesamtpersönlichkeit so wichtig und nicht nur bestimmte Facetten.
Dies war ein maßgeblicher Grund für den Auftrag an das Militärgeschichtliche Forschungsamt, zu Kübler und Dietl geschichtswissenschaftliche Untersuchungen vorzulegen, die umfassende Aussagen zu ihrer Persönlichkeit machen. Und daß Sie hier heute so breit zitieren konnten, haben Sie allein mir zu verdanken, der diese Gutachten dort in Auftrag gegeben und sie vollständig dargelegt hat.
- Gut, ich will das nicht weiter hochstilisieren; aber es ist eine Tatsache.
- Es ist etwas anderes, wenn Sie aus der Presse zitieren, als wenn Sie hier aus den Dokumenten des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr zitieren. Das gibt eine ganz andere Autorität, und es war mir wichtig, eine solche Autorität zu schaffen.
Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Häfner?
Ja, da ich kurz vor dem Ende bin, hat er vielleicht jetzt die letzte Chance. Bitte.
Ich bedanke mich herzlich, Herr Minister, daß Sie gesagt haben, Sie wollen dies alles demokratisch gestalten. Da freue ich mich, daß auch noch eine Frage zulässig ist.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich dieses Thema in der 11. Legislaturperiode des Bundestages hier im Hause zum Gegenstand der Diskussion gemacht habe, daß dann nach langen Debatten im Ausschuß der Bundesminister der Verteidigung beschlossen hat, beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt ein Gutachten in Auftrag zu geben, daß wir über dieses Gutachten, das ausgesprochen umfangreich und im Ergebnis sehr klar war, hier im Deutschen Bundestag ausführlich diskutiert haben, daß der damalige Bundesminister der Verteidigung dann gesagt hat, er wolle mit den Bürgermeistern, mit den Standortältesten usw. in ein Gespräch eintreten, und daß heute, sieben Jahre später, nichts geschehen ist, und können Sie mir vor diesem Hintergrund sagen, wie lange der Nachdenkensprozeß jetzt noch dauern wird, bis ein Ergebnis zu verkünden ist?
Das Gutachten ist nicht vergleichbar. Ich glaube, das, was wir jetzt vorgelegt haben, ist wirklich eine vernünftige Basis für eine Entscheidung. Wenn Sie noch einen Augenblick gewartet hätten, hätten Sie auch alles erfahren.
Diese Gutachten sind jetzt Grundlage für eine fundierte und verantwortliche Diskussion vor Ort. Dieser Prozeß ist in beiden Garnisonen im Gange. Ich habe einen Termin gesetzt: Ich erwarte die Stellungnahmen der Truppe bis zum Ende dieses Monats. Durch eine simple Frage hätten Sie das von mir auch vorher erfahren und sich überlegen können, ob Sie zu dieser Stunde über dieses wichtige Thema - wir haben überhaupt keinen Anlaß, die Diskussion zu scheuen - diskutieren müssen. Ich habe einen Termin bis Ende dieses Monats gesetzt. Danach werde ich den Verteidigungsausschuß unterrichten und entscheiden.
- So ist der Ablauf.
Ich bedanke mich.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Kolbow.
Herr Bundesminister, mit Ihrer Rede und mit Ihren Argumenten kann und muß man sich auseinandersetzen. Sie haben wesentlich bessere und diskussionswürdigere Argumente auch hinsichtlich dessen, was Sie veranlaßt haben, hier vorgetragen, als in der bedauernswerten Rede des Kollege Zierer zum Ausdruck kamen.
Deswegen verdient es auch zu dieser Stunde, daß Sie eine kurze Intervention auch noch von denen, die sich um diese Debatte bemüht haben, bekommen.
Ich möchte darauf hinweisen, daß in Ihren Ausführungen die Frage offengeblieben ist, warum Sie während Ihrer Amtszeit so lange gebraucht haben, um die Entscheidung des Petitionsausschusses und die Entscheidung des Hauses über die Empfehlung des Petitionsausschusses, nämlich die Namen abzulegen, vorzubereiten.
Sie haben, Herr Bundesminister, zu Recht ausgeführt, Tradition sei verantwortungsvolle Auswahl der Geschichte. Ich möchte Sie mit einem Satz unseres geschätzten verstorbenen Kollegen Hugo Brandt aus einer ähnlichen Debatte über Tradition konfrontieren, in der er gesagt hat: „Du bist nicht frei in der Wahl deiner Geschichte, aber frei in der Wahl der Tradition, in der du Geschichte pflegen willst."
Glauben Sie, Herr Bundesminister, daß die Namen Baudissin oder Leuschner nicht in ihrer Würde angetastet werden, wenn sie neben Diet! und Kübler stehen?
Sie haben, was auch eine Auseinandersetzung verdient, auf die Demokratie von unten nach oben hingewiesen. Wir begegnen uns hier mit unterschiedlichen Auffassungen. Auch Demokratie von unten nach oben hat Schranken. Sie hat Schranken, Herr Bundesminister, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn dabei Verbrechen und eine Gesinnung im Spiel sind, die unser Land in den Untergang geführt haben. Deswegen liegt unser Antrag vor.
Als letzter in dieser Debatte hat der Kollege Kurt Rossmanith das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir in diesen Tagen das 40jährige Jubiläum unserer Bundeswehr feiern, dann können wir mit Recht stolz sein auf eine Armee, die mit ihrem Auftrag und mit dem Selbstverständnis ihrer Soldaten in unserem demokratischen Rechtswesen und Staatswesen tief verwurzelt ist.
Diese Bundeswehr hat einen ganz entscheidenden Beitrag zur Friedenssicherung in Europa geleistet. Dieser Einsicht können sich selbst eingefleischte, selbsternannte sogenannte Pazifisten heute nicht mehr versperren. Die Soldaten unserer Bundeswehr verdienen deshalb unseren Dank und von ihren Kritikern zumindest Fairneß im Umgang.
Was die Herren Kolbow und Büttner in dieser Woche in ihrer Pressemitteilung mit der Überschrift „Falsche Traditionspflege in der Bundeswehr" von
Kurt J. Rossmanith
sich gegeben haben, zeigt ein Horrorgemälde, als gäbe es beunruhigende Entwicklungen in der Bundeswehr in Richtung einer Radikalisierung nach rechts. Das ist Polemik in Reinkultur. Das muß ich in aller Deutlichkeit sagen. Gerade von Ihnen, Herr Kolbow, hätte ich das nicht erwartet.
Dies darf schlicht und einfach so nicht stehenbleiben. Die Bundeswehr ist ein Teil unserer Gesellschaft. Eine 1992 vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr vorgelegte Studie hat richtigerweise auf ein damals gehäuftes Vorkommen rechtsradikaler Vorfälle unter Jugendlichen insbesondere in den neuen Bundesländern hingewiesen. Es kann nicht verwundern, daß dies natürlich auch in der Bundeswehr in Einzelfällen seinen Niederschlag gefunden hat. Denn die Bundeswehr ist ja ein Teil unserer Gesellschaft und in vielen Bereichen, da alle ihre Wehrpflicht leisten, ein Spiegelbild dieser Gesellschaft.
Doch was gibt Ihnen das Recht, dies hier zu generalisieren und die Soldaten der Bundeswehr pauschal zu diffamieren?
Den Lehrsatz „Wehret den Anfängen", mit dem Sie Ihre Verallgemeinerungen rechtfertigen, nehme ich sehr wohl ernst. Doch für mich hat er in diesem Fall eine andere Bedeutung: Wehret den Anfängen, eine falsche Legende in die Welt zu setzen.
Herr Rossmanith, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolbow?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Rossmanith, wären Sie bereit, den Vorwurf der pauschalierten Verunglimpfung der Bundeswehr zurückzunehmen unter Hinweis auf unsere Erklärungen, in denen wir von Einzelfällen und unserem Bemühen, den Anfängen zu wehren, gesprochen haben? Wären Sie bereit, die Fälle, auf die wir uns bezogen haben, gemeinsam mit mir durchzugehen, um gemeinsame Konsequenzen zu ziehen?
Sind Ihnen folgende Beispiele bekannt? „Schongauer Nachrichten" vom 4. Juli 1995 mit der Überschrift „Erst flogen Gläser, dann ertönte ein ,Sieg Heil!' " . Bei einem studierenden Offizier der Universität München bestand der begründete Verdacht auf Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats wegen rechtsradikaler, antijüdischer und rassistischer Äußerungen. Durch die Initiative von Herrn Bundesminister Rühe wurde er Gott sei Dank sofort aus dem Dienst entfernt. - Angehörige des Wachbataillons sind in einem Siegburger Linienbus gegenüber anderen Fahrgästen handgreiflich geworden. Ist Ihnen bekannt, daß sie „Juden vergasen" und „Ausländer raus" gerufen haben? Eine Verurteilung hat stattgefunden. Beim Panzergrenadierbataillon 212 in Augustdorf wurden Gewaltakte und Schikanen gemeldet.
Wären Sie bereit, auf Grund dieser bedauernswerten Einzelfälle mit mir darüber nachzudenken, wie wir Konsequenzen im Sinne der Verbesserung der politischen Bildung ziehen könnten?
Herr Kollege Kolbow, ich bin nicht nur bereit, darüber nachzudenken und mit Ihnen diese Fälle aufzuarbeiten und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, sondern ich bin der Meinung, es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das zu tun. Nur: In Ihrer Presseerklärung - gemeinsam mit Herrn Büttner - haben Sie die Bundeswehr in toto in einer Art und Weise in die Ecke gestellt, als wenn der größte Teil der Bundeswehr und der Wehrpflichtigen rechtsradikalen Tendenzen nachhinge.
Dagegen verwahre ich mich mit allem Nachdruck.
Die Bundeswehr und die Soldaten, die in der Bundeswehr Dienst leisten, haben in diesen 40 Jahren auch ein gutes Stück demokratischer Gelassenheit erworben. Ich persönlich vertraue auf das Prinzip der Inneren Führung, und ich vertraue auch auf die Vorgesetzten in der Bundeswehr. Ich vertraue darauf, daß es ihnen gelingt, die Einzelfälle, die Sie, Herr Kollege Kolbow, noch einmal aufgeführt haben und die Sie mit Recht beklagen, zu bewältigen und nicht zum Schaden ihrer Truppe ausarten zu lassen. Ich traue es den Unteroffizieren und den Offizieren dieser Bundeswehr auch zu, daß sie die Besonnenheit haben, sich in aller Ruhe und Sachlichkeit mit der Geschichte des Generaloberst Dietl auseinanderzusetzen.
Jetzt zitiere ich auch aus dieser Studie, aber nicht wie Sie, Herr Kollege Büttner, sektiererhaft, sondern einen ganzen Absatz. In dieser Studie kommt der Autor zu folgender Bewertung:
- Wollen Sie hören, was in der Studie steht, oder nicht?
Wenn Sie es gelesen hätten, hätten Sie es gleich gewußt, aber Sie haben es nicht gelesen.
Ich zitiere aus der Studie über Generaloberst Dietl:
Dietls menschlicher Umgang über Dienstgrade
hinweg, seine auf die Vermeidung von menschlichen Verlusten bedachte Führungsweise und sei-
Kurt J. Rossmanith
ne Fürsorge, wie sie in vielen Einzelschilderungen dargestellt werden, können auch nach heutigen Maßstäben als vorbildlich gelten.
Genau das, Herr Zwerenz, habe ich gesagt und nichts anderes. Ich finde es schon erstaunlich, daß Sie die Dreistigkeit haben, aus einem Brief zu zitieren, den ich einem Mitglied des Bundestages geschrieben habe. Ich will nicht fragen, woher Sie den Brief haben. Er kann jedenfalls nicht auf legale Art und Weise an Sie gelangt sein. Dennoch haben Sie die Dreistigkeit, aus diesem Brief auch noch zu zitieren. Aber ich habe in dem Brief genau das gesagt, was auch das Ergebnis der Studie ist.
Herr Rossmanith, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Zwerenz?
Nein, von Herrn Zwerenz nicht.
Heute, 50 Jahre und mehr danach, halte ich es geradezu für vermessen, wenn Sie sich zum Richter von Geschehnissen aufspielen, ohne auch nur den geringsten direkten Bezug zu den damaligen Vorkommnissen zu haben. Zeitzeuge sind Sie, Herr Büttner, ebensowenig wie ich, und leider gibt es nur noch wenige aus der Erlebnisgeneration, die dokumentenecht berichten könnten.
- Ich weiß schon: Wenn jemand eine andere Meinung hat als Sie, dann ist es nach Ihrem Demokratieverständnis natürlich nicht berechtigt, daß er diese Meinung auch von sich gibt.
Lassen wir die Angelegenheit doch in den Händen der unmittelbar betroffenen Soldaten und Bürger. Dabei will ich auf die Beschlußlage des Stadtrats Füssen vom 29. März 1993 verweisen, der sich damals mit 20 Stimmen einschließlich der Stimmen von SPD-Stadträten - auch hier sagen Sie in Ihrer Presseerklärung die Unwahrheit, Herr Büttner - gegen fünf Stimmen für die Beibehaltung des Namens „Generaloberst-Dietl-Kaserne" ausgesprochen hat.
Herr Rossmanith, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich will den Fall Dietl und den Fall Kübler nicht über einen Kamm scheren.
- Ich betone noch einmal, daß ich den Fall Dietl und den Fall Kübler nicht über einen Kamm scheren will, sondern daß hier eine differenzierte Betrachtungsweise not tut.
Aber ich sehe auch heute noch keinen Grund, der Dietl-Kaserne einen anderen Namen zu geben,
wobei ich aber auch hier ganz klar zum Ausdruck bringen möchte - -
- Das ist eine Unverschämtheit, was Sie hier sagen, eine Unverschämtheit! Wenn Sie wüßten, Herr Büttner, wie meine Familie in der Zeit des Nationalsozialismus und danach unter dieser Zeit gelitten hat, würden Sie diese Unverschämtheit, die Sie jetzt von sich geben, nicht wiederholen. Das muß ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen.
Herr Rossmanith, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich bin der Meinung, daß die in unserer Demokratie verwurzelten Soldaten der Bundeswehr sehr wohl auch dieses politische Selbstbewußtsein haben, daß sie selbst entscheiden können und daß sie sich mit der historischen Person Dietl auch vor dem Hintergrund seiner Zeit auseinandersetzen und die richtigen Lehren ziehen können.
Die jungen Männer unserer Bundeswehr haben heute sicher andere Vorbilder. Aber ich glaube, wir unterschätzen unsere Soldaten, wenn wir es für notwendig halten würden, wie dies die SPD vorschlägt, sie von jeder Auseinandersetzung auch mit historischen Personen - -
Herr Rossmanith, ich bin dazu nicht bereit! Ich habe Sie jetzt dreimal gebeten, aber Sie machen stur weiter. Sie haben bereits um vier Minuten überzogen.
Frau Präsidentin, ich darf in aller Bescheidenheit sagen: Die anderen Redner haben wesentlich länger überzogen.
Nein, das ist nicht wahr.
Ich habe die Namensliste vorliegen. Aber ich beende jetzt natürlich meine Rede gerne.
Herr Büttner, ich gebe Ihnen das Wort zu einer Kurzintervention.
- Ich muß sagen, bei diesem Lärm muß ich zunächst einmal prüfen, um welchen Zwischenruf es geht.
- Dann frage ich: Wer hat den Zwischenruf gemacht?
- Herr Büttner, dann würde ich Sie bitten, dazu Stellung zu nehmen.
Herr Rossmanith, ich will Ihnen nicht unterstellen, daß Sie persönlich im Verhältnis zur Nazi-Tradition stehen. Ich will aber deutlich machen: Wer sich hier hinstellt und behauptet, ein Nazi-General wie Dietl, der von Anfang an bis zum Schluß ein glühender Verfechter der Nazis war, könne ein traditionsbildendes Element und ein Vorbild für Soldaten der Bundeswehr sein, der liegt falsch, und der müßte sich gefallen assen, daß man ihm einen solchen Vorwurf macht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach dieser erregten Debatte - ich bitte auch Herrn Zwerenz, von der Kurzintervention jetzt abzusehen; es ist bereits 2 Uhr - schließen wir die Debatte.
Ich danke, daß Sie so lange ausgehalten haben. Ich halte dies für eine wichtige Debatte, die wir geführt haben.
Ich bitte Sie, heute morgen um 9 Uhr wieder anwesend zu sein.
Einen Punkt habe ich im Eifer des Gefechts vergessen. Wir müssen die Vorlage auf Drucksache 13/1628 noch an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überweisen. Ich hoffe, es gibt keinen Widerspruch. - Einverstanden.
Die Reden zu Tagesordnungspunkt 18 wurden zu Protokoll gegeben.*) ier wird interfraktionell die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/2575 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Gegenvorschläge? - Nein. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich hoffe, daß Sie noch einige Stunden Nachtruhe haben werden.
Die Sitzung ist geschlossen.