Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Deutschland hat mit der wiedergewonnenen Einheit eine grosse Leistung vollbracht und bewiesen, dass es auch unter schwersten Belastungen ein stabiler und verlässlicher Partner bleibt.
Mit diesen Worten faßte die „Neue Zürcher Zeitung" in diesen Tagen ihre Bilanz von fünf Jahren deutsche Einheit zusammen.
In der heutigen Debatte, meine Damen und Herren, werden wir uns selbst Rechenschaft darüber ablegen, was wir Deutschen seit dem 3. Oktober 1990 mit vereinten Kräften erreicht haben. Ich denke, ebenso wichtig ist, daß wir miteinander offen und auch nachdenklich über den Weg unseres Landes in die Zukunft, d. h. in das 21. Jahrhundert, sprechen. Die vergangenen fünf Jahre sind heute bereits ein Stück gemeinsamer Geschichte. In dieser Zeit haben wir alle uns verändert.
Das wiedervereinigte Deutschland ist mehr als nur eine um fünf neue Bundesländer erweiterte Bundesrepublik. Wahr ist auch, daß die überwältigende Mehrheit der Menschen in der früheren DDR die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gewollt, ja herbeigesehnt hat. So stehen wir heute gemeinsam auf dem Boden des Grundgesetzes, der freiheitlichsten Verfassung unserer Geschichte, der Sozialen Marktwirtschaft und der westlichen Wertegemeinschaft mit ihren europäisch-atlantischen Institutionen.
Nicht nur wir, die Deutschen, haben Veränderungen durchgemacht. Auch unser internationales Umfeld erlebte einen Wandel, dessen Dramatik - das sollten wir nie vergessen - das Geschehen in Deutschland vielfach in den Schatten stellte.
Ich erinnere nur an das Ende der Sowjetunion, an den Krieg im früheren Jugoslawien, an Entwicklungen wie den Friedensprozeß im Nahen Osten oder
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
die Wende zum Guten im südlichen Afrika, an die Schaffung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht und den Beitritt neuer Mitglieder zur EU.
Jede dieser Veränderungen berührt uns alle. Gemeinsam tragen wir die Risiken, gemeinsam aber nutzen wir auch die Chancen, die sich aus diesen Veränderungen ergeben. Bei allen Sorgen dürfen wir nicht vergessen, daß andere mit weitaus größeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs empfinden wir Deutschen noch einmal besonders stark, was für ein Glück es bedeutet, daß wir unsere Einheit in Frieden und freier Selbstbestimmung erreichen konnten.
Wir verdanken dies vor allem unseren Freunden und Partnern in der Welt. Allen voran nenne ich George Bush und Michail Gorbatschow. Ohne sie hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben.
Für die Wiedervereinigung fanden wir die Zustimmung aller unserer Nachbarn. Dies war auch eine Frucht des Vertrauens, das alle Bundesregierungen, das alle meine Vorgänger seit 1949 durch eine Politik der Stetigkeit und Verläßlichkeit in Europa und weltweit gewonnen haben.
Meine Damen und Herren, unsere größte Hochachtung verdienen jene tapferen Frauen und Männer, die wegen ihres Einsatzes für die Achtung der Bürger- und Menschenrechte durch das DDR-Regime bespitzelt, verfolgt, eingekerkert oder ausgebürgert wurden.
Wer einmal - wir wollen das nicht vergessen - die Käfige im Zuchthaus von Bautzen gesehen hat, der weiß, daß das SED-Regime unmenschlich und verbrecherisch war.
Diese Tatsache klar und deutlich auszusprechen, schulden wir allen Opfern der kommunistischen Diktatur.
Viel verdanken wir den Menschen der früheren DDR, die im Herbst 1989 zu Hunderttausenden auf die Straße gingen, um gegen das kommunistische Regime zu demonstrieren. Die Demonstrationen in Leipzig, in Dresden und in vielen anderen Orten brachten vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Freiheitswillen der Menschen zum Ausdruck. Sie bewiesen zugleich, daß es richtig war, am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes festzuhalten und die Geraer Forderungen Honeckers abzulehnen, d. h. alles zu tun, um die deutsche Frage offenzuhalten.
Manches Mal war es nicht leicht gewesen, dem Zeitgeist zu widerstehen. Viele hatten an die deutsche Einheit nicht mehr geglaubt, und manche waren sogar bereit, dieses Ziel zu verraten. Deswegen danke ich allen Deutschen in Ost und West, die in diesen vier Jahrzehnten Geduld und Hoffnung nicht verloren haben.
Die politische Führung der DDR war im Herbst 1989 politisch und moralisch am Ende. Sie stand wirtschaftlich vor dem Bankrott. Der Bevölkerung hat sie dies verschwiegen. Manche wollen das auch heute noch nicht wahrhaben. Sie wollen unser Land erneut spalten. Aber ich denke, dies wird ihnen nicht gelingen.
Unser ganz besonderer Respekt gilt auch den Frauen und Männern, die nach dem 18. März 1990 als Abgeordnete der erstmals frei gewählten Volkskammer den demokratischen Neuanfang gestalteten und wagten. Sie haben an gute deutsche Traditionen angeknüpft und die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen wiedererrichtet. Sie haben sich für den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 entschieden.
Auch in den Gemeinden und auf der Ebene der Länder haben viele mit großem Engagement Demokratie aufgebaut und gestaltet. Darunter waren nicht wenige - das sollten wir mehr erwähnen und hervorheben -, die sich zuvor nie mit politischen Dingen befaßt hatten. Sie haben einen ganz ungewöhnlichen persönlichen Einsatz geleistet,
und wir haben gesehen, was in den Gemeinden, Städten, Kreisen und Ländern der früheren DDR entstehen konnte. Dem Föderalismus als einem bewährten deutschen Verfassungsprinzip wurde eine neue Chance eröffnet.
Schließlich verdanken wir unseren erfolgreichen Weg seit 1989 den Menschen im Westen Deutschlands: an Rhein und Ruhr, in Hamburg und in Bayern, in Holstein und in Württemberg.
Sie haben sich sehr viel solidarischer verhalten, als oft zu hören und zu lesen ist.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Die Deutschen in West und Ost haben in den vergangenen fünf Jahren Opfer gebracht; es waren für manchen durchaus schmerzliche Opfer. Niemand sollte die Opfer oder Kosten kleinreden - aber es sind Kosten, die das Erbe des DDR-Sozialismus verursacht hat: eine marode Wirtschaft, ein verantwortungsloser Umgang mit der Umwelt, eine hoffnungslos veraltete Infrastruktur. Das kommunistische System hat 18 Millionen Deutsche daran gehindert, die angemessenen Früchte ihrer Leistung und ihres Leistungswillens zu ernten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen fünf Jahren sind wir bei der Vollendung der inneren Einheit ein gutes Stück vorangekommen. Das sieht jeder, der mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer fährt. Die Menschen spüren das in ihrem persönlichen Umfeld. So entspricht die Infrastruktur in den neuen Bundesländern bereits heute vielfach weltweitem Spitzenstandard. Als Beispiel nenne ich die Telekommunikation, die über ein hochmodernes Netz verfügt. Zehn Stunden Wartezeit auf ein Ferngespräch von Rostock nach Düsseldorf gehören der Vergangenheit an.
Zahlreiche Industrieunternehmen in den neuen Ländern arbeiten heute mit Anlagen, die zu den modernsten der Welt gehören. Ich brauche hier nicht nur das Opel-Werk in Eisenach zu erwähnen; es gibt viele solcher Beispiele. Wir wissen, eine moderne Verkehrsinfrastruktur ist mitentscheidend für den wirtschaftlichen Aufbau und die Herstellung vergleichbarer Lebensverhältnisse. Die Fortschritte, die seit der Wiedervereinigung erreicht wurden, sind offensichtlich: Tausende Kilometer Schienenwege, Straßen und Wasserstraßen wurden neu gebaut oder erneuert. Die Fahrzeit auf der Eisenbahnstrecke von Frankfurt am Main nach Dresden wurde um eine ganze Stunde verkürzt, um ein Beispiel zu nennen. Der Standard der Autobahnen ist zwischen den alten und den neuen Ländern weitgehend angeglichen.
Wir wissen, meine Damen und Herren, wenn ich dies hier sage, daß trotz aller Erfolge noch eine schwierige Wegstrecke vor uns liegt und daß Umstrukturierungen und Neuaufbau noch lange nicht abgeschlossen sind. Wir wissen auch, daß vor allem die Männer und Frauen in den neuen Ländern in diesen fünf Jahren viele Opfer bringen mußten, vor allem auch die völlige Veränderung ihrer persönlichen Lebensverhältnisse nicht nur erfahren und manchmal erleiden, sondern auch selbst neu gestalten mußten. Wer einmal in den großen Industriekombinaten, etwa im Chemiedreieck, in Leuna, Bitterfeld oder Halle, war und dort mit Betriebsräten, Betriebsleitern und den Belegschaften gesprochen hat, der hat eine Vorstellung davon, was in diesen wenigen Jahren den Menschen zugemutet wurde und was sie sich selbst zugemutet haben.
Deswegen will ich ein besonderes Wort des Dankes gerade denjenigen sagen, die vor Ort diese Verantwortung getragen haben: Betriebsratsvorsitzende,
Unternehmensleiter, die in einer Weise Verantwortung übernommen haben, wie wir sie selten im westlichen Teil Deutschlands in diesen Jahren erlebt haben.
Wir haben neben den Problemen, die in diesen Jahren mit dem Zusammenbruch der Märkte im Osten Europas, vor allem der früheren Sowjetunion, über Nacht zu erwarten waren, noch eine weitere Verschärfung der Situation vor allem auch mit der Folge der Arbeitslosigkeit erfahren. Dies alles gehört in dieses Bild. Unter kaum einer anderen Erblast des SED-Regimes hatten die Menschen so sehr zu leiden. Deswegen war und ist in diesem Felde besondere Solidarität geboten. Von 1991 bis 1994 sind im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung 240 Milliarden DM von West nach Ost geflossen. Mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Maßnahmen der Fortbildung konnte Millionen von Menschen geholfen werden. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es seit der zweiten Jahreshälfte 1993 eine spürbare Aufwärtsentwicklung. Seit dem Tiefstand der Beschäftigung hat sich die Zahl der Erwerbstätigen um rund 240 000 erhöht.
Gewinner der deutschen Einheit - das sage ich mit Nachdruck - sind in den neuen Ländern die Rentner. Wir haben eine selbstverständliche moralische Verpflichtung gegenüber der Generation gesehen, die zuerst unter dem Krieg und dann unter der kommunistischen Diktatur zu leiden hatte. Am 30. Juni 1990 betrug die Rente höchstens 600 Mark Ost. Das war ein Drittel der verfügbaren Rente eines Durchschnittsverdieners in den alten Bundesländern nach über 40 Versicherungsjahren. Heute erhält ein Rentner in den neuen Bundesländern bei gleichem beruflichem Werdegang wie ein Rentner im Westen mit über 1 500 DM fast 80 % der Westrenten. Die Rentenausgaben in den neuen Bundesländern erhöhten sich von knapp 17 Milliarden Mark Ost im Jahre 1989 auf über 69 Milliarden DM in diesem Jahr. Ich halte dies für eine der größten sozialen Leistungen in der Geschichte unseres Landes.
Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung hat das Gesundheitswesen der neuen Länder im wesentlichen das Niveau Westdeutschlands erreicht. Die Patienten können heute ihren Arzt frei wählen, und sie haben Zugang zu moderner Medizintechnik, zu allen Arzneien, Heil- und Hilfsmitteln. Sie kommen jetzt in den Genuß von Leistungen, die in der DDR-Zeit oft nur einer kleinen Gruppe von Privilegierten vorbehalten waren.
Das jahrzehntelange sozialistische Wirtschaften hat zu schlimmen Belastungen von Boden, Luft und Wasser geführt. Um die Planziele zu erreichen, wurden gravierende Gesundheits- und Umweltschäden in Kauf genommen. Wir konnten die ökologischen Belastungen erheblich vermindern und viele Umweltschäden sanieren. Aber, meine Damen und Her-
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
ren, gerade auf diesem Feld ist noch viel zu tun. Die Bewahrung der Schöpfung ist nicht zuletzt Ausdruck unserer Verantwortung gegenüber künftigen Generationen.
Die Jungen in Deutschland haben heute die begründete Aussicht auf ein Leben in Frieden und Freiheit. Wann je war das in der jüngeren deutschen Geschichte der Fall? Für die persönliche Lebensplanung junger Menschen ist eine gute Ausbildung von zentraler Bedeutung. Es ist deshalb ganz besonders wichtig, daß jedem Jugendlichen, der dies wünscht und der die Anforderungen erfüllt, ein Ausbildungsplatz angeboten wird. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben, daß es in den alten wie in den neuen Bundesländern Jahr für Jahr gelungen ist, eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügung zu stellen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es gibt keinen Grund, die noch vor uns liegenden Herausforderungen zu unterschätzen oder gar den Aufbau Ost für abgeschlossen zu erklären. Aber es gibt auf der anderen Seite auch überhaupt keine Berechtigung, weltweit anerkannte Fortschritte zu zerreden und Pessimismus zu verbreiten.
Die beispiellose Dynamik in den neuen Ländern sollte uns allen Ansporn sein, mit Realismus und Zuversicht auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Nach wie vor sind die neuen Bundesländer die stärkste Wachstumsregion in Europa. Im ersten Halbjahr 1995 ist das Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahreszeitraum um rund 7 % gestiegen. Erst kürzlich hat die OECD in ihrem Deutschland-Bericht vorausgesagt, daß dies auch weiterhin so bleibt. Bis Ende 1995 werden seit der Wiedervereinigung aus öffentlichen Kassen über 600 Milliarden DM in die neuen Länder geflossen sein. Das ist eine unvorstellbar große Summe, und das wird auch weltweit anerkannt.
Aber diese Zahlen sagen für sich allein noch nichts aus. Hinter diesen Zahlen steht die gemeinsame Kraftanstrengung der Menschen aus den neuen wie aus den alten Ländern, die mit Entschlossenheit, Leistungswillen und Mut zur Zukunft den Neuanfang im Osten der Bundesrepublik gestalten. Jenen, die ständig über Dauer und Finanzierung des Aufbaus Ost klagen, halte ich ganz einfach entgegen: Wer ja sagt zur deutschen Einheit, darf die notwendige Aufbauhilfe nicht verweigern. Jede D-Mark, die dort ausgegeben wird - das vergessen manche, die so reden -, ist eine Investition in eine gemeinsame gute Zukunft aller Deutschen.
Ich bin sicher, meine Damen und Herren, daß wir die
materiellen Fragen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit lösen werden. Ich sage allen: Es mag
sein, daß die Zeitachse sehr unterschiedlich ist und daß dieses und jenes länger dauert. Aber für mich ist sicher, daß wir es schaffen. Entscheidend wird sein, daß wir in Deutschland, egal, woher wir kommen, wo wir unsere Heimat haben, aufeinander zugehen und begreifen, daß wir wieder in einem gemeinsamen Vaterland leben, und daß diejenigen, die wie ich das Glück hatten, zeit ihres Erwachsenenlebens in Freiheit leben zu dürfen, dabei den größeren Schritt machen und auf unsere Landsleute in den neuen Ländern zugehen müssen, daß wir - ich sage es noch einmal ganz einfach formuliert - mehr mit- und weniger übereinander reden. Das scheint mir eine der entscheidenden Voraussetzungen zu sein.
Der größte Gewinn für uns alle ist die Einheit in Freiheit. Die Freiheit ist nicht bezahlbar. Ihren wahren Wert kann nur derjenige erfassen, der Unfreiheit erfahren hat. Deshalb müssen auch künftige Generationen wissen, was Mauer und Schießbefehl bedeutet haben, damit sich ähnliches nie mehr wiederholt.
Ich nehme für mich nicht das Recht in Anspruch, jene zu verurteilen, die sich unter den damaligen Verhältnissen in der DDR angepaßt haben. Ich weiß nicht, wie ich persönlich mich verhalten hätte, wäre ich in Leipzig statt in Ludwigshafen geboren und aufgewachsen. Ich bin gegen pauschale Verdächtigungen.
Sie werden dem Alltag unter dem SED-Regime nicht gerecht.
Wir Deutsche müssen unsere Vergangenheit in Ost und West als gemeinsames Erbe annehmen. Wir sind aufgerufen, uns ehrlich mit der ganzen deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Nur mit Offenheit und Wahrhaftigkeit können wir wirklich zueinander finden.
Die Menschen in den neuen Ländern verdienen Respekt für die Lebensleistung, die sie unter den Bedingungen des DDR-Regimes erbracht haben. Zu diesem Respekt gehört, daß die Deutschen im Westen mehr Verständnis für die Unsicherheiten und Belastungen aufbringen, die diese gewaltigen Umstellungen im Osten Deutschlands bedeuten.
Aber - das gehört auch ins Bild - auf der anderen Seite müssen die Deutschen in den neuen Ländern verstehen, daß beispielsweise der Wohlstand in der alten Bundesrepublik nicht über Nacht vom Himmel gefallen ist und daß das sogenannte Wirtschaftswunder der 50er Jahre das Ergebnis einer jahrelangen Aufbauleistung von Millionen fleißiger Menschen im Westen auf der Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft war.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
- Auf diesen Gedanken bin ich bei Ihnen nie gekommen.
Herr Abgeordneter, wenn Sie vielleicht weniger emsig in Wort und Schrift gewesen wären, hätten Sie es heute leichter.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der 3. Oktober 1990 war der Beginn einer neuen und glücklichen Periode in der Geschichte unseres Volkes. Gemeinsam haben wir die Gunst der historischen Stunde genutzt. Die über vier Jahrzehnte währende Teilung hatte uns stärker voneinander entfernt, als die meisten von uns - auch ich - damals angenommen haben. Aber wo heute Bayern und Sachsen, Mecklenburger und Rheinländer einander begegnen, ist die innere Einheit unseres Vaterlandes schon gelebte Wirklichkeit. Dies ist - ich will es hervorheben - beispielsweise bei der Bundeswehr der Fall. Die Integration unserer Streitkräfte und das Miteinander der Soldaten sind ein großer Erfolg, und ich danke allen, die dazu beigetragen haben.
Die innere Einheit, nach der wir streben, ist nicht Einheit in Gleichförmigkeit, sondern Einheit in Vielfalt. Richard Schröder, der Vorsitzende der SPD-Fraktion in der frei gewählten Volkskammer, hat dies kürzlich in folgenden Worten zum Ausdruck gebracht:
Wenn sich Ostdeutsche und Westdeutsche so gut - und so schlecht - verstehen wie Ostfriesen und Bayern, ist die Einigung gelungen.
Probleme werden wir dann trotzdem noch reichlich haben. Denn unsere deutschen Einigungsprobleme sind wahrhaftig nicht die größten in der Welt.
Jeder von uns, meine Damen und Herren, ist seiner Heimat besonders verbunden, und das ist gut so. Deutschland ist unser Vaterland und Europa unsere Zukunft. Wir Deutsche würden vor der Geschichte versagen, wenn wir jetzt in unserem Einsatz für das vereinte Europa nachließen. Es geht dabei um Wohlstand und soziale Sicherheit, aber vor allem - ich betone: vor allem - geht es um den Frieden und die Freiheit für künftige Generationen.
Ich habe keinen Zweifel daran, daß wir die Aufgaben meistern werden. Wir haben gute Grundlagen für einen gemeinsamen Aufbruch in die Zukunft gelegt. Jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen, um ganz Deutschland, unsere Bundesrepublik Deutschland, fit zu machen für das kommende Jahrhundert.
Deutschland wird seine schöpferischen Energien für Werke des Friedens und der Freiheit und der Gerechtigkeit einsetzen. Es wird ein Ort guter Nachbarschaft sein und in der Völkergemeinschaft als zuverlässiger Freund handeln und auftreten. Dieses Ziel, meine Damen und Herren, ist jede Anstrengung wert.