Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein paar Bemerkungen zu den Anträgen der PDS.
Erneut haben wir heute Anträge auf dem Tisch, die sich, wie auch schon in der letzten Sitzungswoche, mit dem Einigungsvertrag befassen. Es handelt sich dabei zum Teil um einen Aufguß von PDS-Initiativen aus der letzten Legislaturperiode. Die PDS hat den Einigungsvertrag als politisches Betätigungsfeld entdeckt. Hier will ich mich einer inhaltlichen Entgegnung enthalten und auf die alten Debatten in der letzten Legislaturperiode verweisen.
Eines jedoch kann nicht unwidersprochen oder un-kommentiert bleiben. Wer 1990 jedes einzelne Wort des Einigungsvertrages politisch bekämpft hat, kann sich heute nicht als Verteidiger der Inhalte dieses Vertrages verkaufen.
Das nimmt Ihnen niemand ab, meine Damen und Herren, weder im Westen noch im Osten unseres Landes.
Eine zweite Bemerkung zum Antrag der PDS über die Währungsunion und das DDR-Vermogen: Ich hätte es sehr angemessen gefunden, wenn Sie sich in gleicher Intensität um die Offenlegung Ihres SED- Vermögens gekümmert hätten.
Das haben wir hier aber nicht erlebt.
Was aus diesem Antrag spricht, ist der blanke Populismus. Natürlich gab es 1990 optimistische - ich bin versucht, auch zu sagen: naive - Vorstellungen, man könne die Privatisierung des früheren Staatsvermögens der DDR, einschließlich der Betriebe, am Ende mit einem Gewinn abschließen. Aber am Schluß standen 360 Milliarden DM, die in den Erblastentilgungsfonds als Schuldenbetrag eingestellt werden mußten.
Haben Sie sich jemals überlegt, daß man, wollte man dieses angebliche Vermögen heute verteilen, jeden Ostdeutschen vom Baby bis zum Greis mit durchschnittlich 22 500 Mark Schulden pro Kopf belasten müßte?
Aber Sie verteilen Rosinen, wo es gar keine Rosinen mehr zu verteilen gibt. Das ist der blanke Populismus, meine Damen und Herren.
Völlig unerträglich wird es allerdings im Begründungsteil Ihres Antrages. Dort besitzen Sie auch noch die Frechheit und beziehen in die Bilanz des sogenannten Volkseigentums - bei dem Sie sich übrigens endlich dazu durchringen sollten, anzuerkennen, daß es kein Volkseigentum, sondern Eigentum des Politbüros und seiner Helfershelfer war, aber das nur am Rand -
Rolf Schwanitz
die Mauergrundstücke ein. Nachdem Sie vorher die Mauergrundstücke im Begründungsteil des Antrages aufgeführt haben, heißt es dann am Schluß:
Die genannten ... Wertangaben ... belegen eindeutig, daß es ... um erhebliche Vermögenswerte geht, die die Bürgerinnen und Bürger der DDR als Volkseigentum in die deutsche Einheit eingebracht haben .. .
Meine Damen und Herren, daß die Mauergrundstücke in das politische Erbe Ihrer Partei gehören, bestreitet niemand. Aber lassen Sie bitte die Menschen dabei aus dem Spiel. Die haben mit diesen Unrechtstaten nichts zu tun.
Meine Damen und Herren, die Menschen in Ostdeutschland brauchen Ermutigung und Zuversicht. Da stimme ich mit dem, was der Bundeskanzler heute gesagt hat, überein. Sie brauchen aber auch Klarheit und Wahrheit über ihre tatsächliche Lage. Wahr ist: Seit der Wiedervereinigung ist den Menschen in Ostdeutschland ein historisch einmaliger wirtschaftlicher, sozialer und politischer Strukturumbruch zugemutet worden. Praktisch ist die gesamte Industrielandschaft von Rostock bis Plauen, von Eisenach bis Frankfurt/Oder zusammengebrochen, mit verheerenden Folgen für den Arbeitsmarkt. Eine Veränderung solchen Ausmaßes hat es in Deutschland in der Neuzeit noch nicht gegeben. Von diesem Strukturumbruch hat sich Ostdeutschland trotz aller Fortschritte seither noch nicht wieder erholt. Das ist die Wahrheit, an der Sie sich heute auch in der Regierungserklärung vorbeigedrückt haben, genauso wie in den letzten Jahren zuvor.
Doch welchen Preis mußten die Menschen in Ostdeutschland für den beängstigenden Optimismus und auch für die in den letzten Jahren zu beobachtende Entschlußlosigkeit der Bundesregierung bezahlen? Wenn nur noch 30 % der Menschen in den neuen Bundesländern der Sozialen Marktwirtschaft Positives abgewinnen können, dann ist das auch die Schuld dieser Bundesregierung, denn sie hat den Menschen in Ost und West mit geschönten und völlig unrealistischen Prognosen die wirklichen Probleme des Vereinigungsprozesses vernebelt.
Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Mauer in den Köpfen der Menschen erneut gewachsen. Aus Verdruß und Enttäuschung wählt ein Fünftel der Ostdeutschen die Erben der kommunistischen Staatspartei der DDR. Das ist auch ein Stück Verantwortung dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren.
Und was macht die Bundesregierung angesichts dieser Lage? Sie verdrängt, sie verharmlost weiter, anstatt heute hier in dieser Debatte eine schonungslose Bilanz auf den Tisch zu legen.
Ich gebe nur einige Beispiele für die Art dieser Politik des Verdrängens und Beschönigens. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen, die die Bundesanstalt für Arbeit Monat für Monat veröffentlicht, spiegeln das wirkliche Ausmaß der Unterbeschäftigung in den neuen Bundesländern überhaupt nicht angemessen wider.
Wenn es heißt, daß gut 13 % der Menschen in Ostdeutschland arbeitslos sind, dann ist das weniger als die halbe Wahrheit. Rechnet man nämlich die 80 000 Kurzarbeiter, die 200 000 Menschen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die 270 000 Teilnehmer an Weiterbildungsmaßnahmen, die über 100 000 Fälle, die nach § 249h AFG beschäftigt werden, und die 380 000 Vorruheständler und Bezieher von Altersübergangsgeld hinzu, dann sind es neben der offiziellen Zahl von 1 Million Arbeitslosen noch einmal über 1 Million Menschen, die eigentlich auch arbeitslos sind, aber in Maßnahmen der Arbeitsverwaltung versteckt werden.
Insgesamt liegt die Zahl der Unterbeschäftigten in Ostdeutschland bei über 2 Millionen; das sind über 30 % aller Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern. Dabei sind noch nicht einmal die Hunderttausende von Menschen berücksichtigt, die ihre Heimat verlassen haben bzw. von Ostdeutschland nach Westdeutschland pendeln müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Es ist richtig, daß die Zahl der Erwerbstätigen nicht in allen, aber doch in einigen Regionen des Ostens in den letzten Monaten leicht zugenommen hat. Das jedoch ändert nichts an der absolut katastrophalen Lage des Arbeitsmarktes in Ostdeutschland. Wir sind noch meilenweit von einem Niveau entfernt, das eine mit Westdeutschland vergleichbare Beschäftigung darstellt, meine Damen und Herren.
Zu Beginn des Jahres 1990 gab es 9,7 Millionen Arbeitsplätze in der DDR. Innerhalb von nur wenigen Monaten brach praktisch das gesamte Industriepotential zusammen; Millionen Menschen mußten ihren angestammten Arbeitsplatz verlassen oder wurden arbeitslos. Heute, fünf Jahre nach diesem Zusammenbruch, fehlen noch immer 2 bis 3 Millionen Arbeitsplätze, fast 1 Million allein im industriellen Sektor, wie der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Klaus Murmann, kürzlich feststellte.
Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich, was diesen Menschen angetan wurde, was es bedeutet, wenn sich Millionen Menschen ausgegrenzt und nutzlos vorkommen, was das für das Zusammenleben der Menschen in den Städten und Gemeinden bedeutet?
„Wenn im Westen 80 % aller Industriearbeitsplätze verlorengegangen wären, dann hätten wir eine revolutionäre Situation gehabt, und die Republik hätte in Flammen gestanden."
Rolf Schwanitz
Wer das gesagt hat, ist niemand, der die Menschen in Ostdeutschland zu Haß und Gewalt aufstacheln will. Das war vielmehr der Unternehmer und Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Tyll Necker.
Er hat offensichtlich eher ein Gefühl für die Tiefe und das Ausmaß des Strukturbruches, der den Menschen zugemutet worden ist. Sie haben dieses Mitgefühl heute jedenfalls nicht gezeigt.
Meine Damen und Herren, ich will gern noch ein weiteres Beispiel für Ihre Politik des Verdrängens und Wegschauens nennen. Es ist ein besonders ärgerliches Beispiel, weil die Bundesregierung das Problem nun schon seit Jahren vor sich herschiebt. Ich meine die Lösung der sogenannten Altschuldenfrage ostdeutscher Kommunen für gesellschaftliche Einrichtungen.
Ich kann die Haltung Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, in der sogenannten Altschuldenfrage in der Tat nicht nachvollziehen. Es ist doch überhaupt nicht einzusehen, warum Rostock, Halle, Magdeburg, Leipzig und Hunderte anderer Städte Millionen von Altschulden aus DDR-Zeiten bezahlen sollen, während Dresden oder Ostberlin und die überwiegende Mehrheit der Städte und Gemeinden schuldenfrei sind. Dabei haben alle genau das gleiche gemacht, nämlich Kindergärten, Schulen, Schwimmhallen und Sportplätze gebaut.
Es ist doch verrückt: Sie, Herr Bundeskanzler, wollen Mahnbescheide an Kommunen schicken, die bereits heute bis zur Halskrause verschuldet sind und selbst kaum über eigene Einnahmen verfügen, um ihre Pflichtaufgaben erfüllen zu können. Sollen denn diese Gemeinden ihre Verwaltungsaufgaben liegenlassen und den Bau von Schulen, Straßen und Kläranlagen einstellen, damit die dubiosen Altschulden aus DDR-Zeiten an die Bundesregierung zurückgezahlt werden können? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Ich habe durchaus Sympathie - das sage ich an dieser Stelle ganz offen - für die Auffassung der ostdeutschen Gemeinden, wenn sie sagen, die sogenannten Altschulden seien eigentlich gar keine Schulden, sondern gehörten dem Grunde nach als Zuschüsse aus dem Staatshaushalt der DDR behandelt und heute als Verbindlichkeiten in den Erblastentilgungsfonds eingestellt.
Obwohl ich für diese Position Verständnis habe, warne ich vor langwierigen rechtlichen Auseinandersetzungen auf diesem Gebiet. Heute ist etwas anderes wichtig: Die betroffenen Gemeinden in Ostdeutschland brauchen fünf Jahre nach der Vereinigung endlich Klarheit über ihre Finanzen.
Deshalb sagen wir: Die Bundesregierung muß das Problem der Altschulden politisch lösen. Was wir brauchen, ist die Bereitschaft zu einer pragmatischen Lösung; was wir brauchen, ist der Wille zum Kompromiß auf der Regierungsseite.
Es reicht nicht mehr aus, daß Herr Bohl Sondierungsgespräche mit den Staatssekretären in den Staatskanzleien der neuen Länder führt. Die Blockadepolitik des Finanzministers muß beendet werden. Bund, Länder und ostdeutsche Gemeinden müssen an einen Tisch.