Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich geglaubt, daß uns heute bei einigem zeitlichen Abstand zum 3. Oktober eine Diskussion mit Feiertagspathos erspart bleibt.
Schließlich ist ein Jubiläum ohne großen Jubel vorbei. Vielleicht können wir das nächste Mal sogar darauf verzichten, mit großem Zapfenstreich die Einheit der Armee als Zeichen unserer wiedererlangten Souveränität zu demonstrieren. Das brauchen wir am allerwenigsten.
Die Stimmung im Land hat sich zwischen Euphorie und Ernüchterung eingependelt. Weder die begeisterten Optimisten noch die Katastrophen voraussehenden Pessimisten haben recht behalten. Nach wie vor gehen im Osten Lage und Stimmung auseinander. Vielen geht es heute materiell besser als vor fünf Jahren. Sie fühlen sich politisch frei, aber sozial unsicher.
Die demokratischen Grundrechte gehören zur Grundausstattung dieser Republik, Werte, die gerade nach Jahrzehnten der Unterdrückung, der ideologischen Bevormundung und der geistigen Enge zählen. Andererseits sind die alten sozialen Sicherheiten weggebrochen und die neuen noch nicht greifbar oder ungewiß.
Im Osten wurde Enormes geleistet. Die Ostdeutschen mußten in kürzester Zeit die völlige Veränderung ihrer Lebensverhältnisse bewältigen, von der
Steuererklärung bis hin zum Rufzeichen im Telefon. Alles, aber auch alles hat sich verändert. Durch die Art der Vereinigung allerdings, die eine Mischung aus Beitritt und kollektivem Ausreiseantrag war, ist ihnen bei allem Für und Wider zunächst das abverlangt worden, was sie zuallererst abschütteln wollten: das erzwungene Anpassungsvermögen.
Die Westdeutschen haben diese rasante Lebensumstellung teils ganz persönlich und vor allem finanziell unterstützt. Sie haben hier in dankenswerter Weise Wichtiges und Wertvolles geleistet.
Doch für sie ist die neue Bundesrepublik eigentlich die alte geblieben. Leider wurde der Aufbruch des Ostens nur als Zusammenbruch des Systems verstanden, wurde die Chance zur Inventur in Ost und West verkannt oder nicht gewollt, wurde die demokratische Reformchance vertan. Hätte man den Elan zur politischen Veränderung aufgegriffen, wäre schnell klar geworden, daß die Ostdeutschen mehr als ein Dauerlamento, verschlissene Betriebe oder einen unaufgeräumten Keller voller Stasi-Akten in die Einheit einbringen.
Verschwunden ist der Instant-Glaube, daß man ein Westkonzentrat nur kräftig umrühren muß, um sofort die fertige Lösung zu bekommen. Heute ist klar: Es gibt keine schnellen und schon gar keine billigen Lösungen. Wir Ostdeutschen werden die verlorenen Jahre vermutlich erst in Generationen aufholen. Doch warum konnten und können wir uns darüber nicht verständigen? Politik muß doch Orientierung geben und mehr sein als schnelles Reagieren und Aussitzen.
Die Einheit, Herr Bundeskanzler, war kein Glücksfall, sondern die Selbstbefreiung einer aktiven Generation,
die ihre Leistungsbereitschaft ins vereinte Deutschland einbringen wollte und zusehen mußte, wie das Volkseigentum und die Arbeitsplätze verlorengingen, wie im Zeitraffertempo ein halbes Volk zum Hans im Glück geworden ist.
Warum konnte diese Bundesregierung den Bürgerinnen und Bürgern nicht wenigstens die Wohnungen zum symbolischen Preis überlassen,
wo sie doch weiß, daß Eigentum verpflichtet, wo sie doch weiß, daß es in der DDR keine Vermögensbildung gab, wo heute viele den drastischen Anstieg der Wohnkosten erleben, obwohl sich die Wohnungsqualität oder der Service der Wohnungsverwaltungen nicht verbessert hat? Sie erleben heute Mieterhöhungen als soziale Bedrohung und nicht als Einbindung in die neue Gesellschaft.
Werner Schulz
Immerhin wurden ja Banken und Betriebe für'n Appel und 'n Ei verkauft - übrigens ein Naturalzahlungsmittel, das seit der Währungsunion offenbar hoch im Kurs steht.
Ich möchte auch mit einer anderen Legende aufräumen, Herr Bundeskanzler; auch Herr Schäuble bedient das ja immer so wunderbar: „Verrat" und „Verweigerer der deutschen Einheit" . Das sind immer diese tollen Verschwörungsdiskussionen. Ich will Ihnen sagen, was es gab: keinen Verrat; es gab keine Visionen für dieses vereinigte Deutschland, keinen Bauplan, noch nicht einmal Skizzen.
Weder Ihre Deutschlandpolitik, die der Union, noch die Strategie „Wandel durch Annäherung" haben den Durchbruch geschafft. Selbst die Dissidenten, selbst wir, die wir vielleicht die einzigen wenigen waren, die dem SED-Regime noch Widerstand entgegengebracht haben, haben ja nicht geglaubt, daß sich der Mauerdurchbruch eines Tages ereignen könnte, daß ein bis an die Zähne bewaffneter Staat plötzlich zusammenbricht wie eine Plattenbausiedlung, in der die Armierung durchgerostet ist.
Vielleicht wäre es gut gewesen, Herr Bundeskanzler, Sie wären schon früher einmal in den Prenzlauer Berg zu den mutigen Bürgerrechtlern gefahren.
Dann hätten Sie etwas über deren Vorstellungen gehört, wie sie sich den Weg zur deutschen Einheit vorgestellt haben, nämlich durch einen demokratischen Prozeß, und dann hätten Sie nicht mit dieser Ignoranz das Vermächtnis des Runden Tisches, die Verfassung des Runden Tisches weggewischt.
Das bleibt als Makel stehen. Der Art. 146 GG zeigt, daß Sie über die Köpfe der Leute hinweg die deutsche Einheit gemacht haben. Sie haben den Ruf „Wir sind das Volk" nicht ernstgenommen, so wie gerade eine große Volkspartei in Bayern ganz weit neben der direkten Demokratie stand.
Noch immer fehlt ein politischer Entwurf für das vereinte Deutschland. Genauer betrachtet, lebt Deutschland noch immer in zwei Gesellschaften.
Das liegt auch daran, Herr Bundeskanzler, daß Sie am 3. Oktober 1990 nicht den Mut hatten, die Neuordnung Deutschlands anzugehen, daß Sie den Epocheumbruch nicht als Reformchance begriffen haben,
daß Sie in einer historischen Umbruchsituation darauf verzichtet haben, die Fülle der in der Gesellschaft vorhandenen Sachkompetenz und Bereitschaft zur Mitverantwortung aufzugreifen, daß Sie die Einheit eben nicht als Gestaltungschance begriffen, sondern als Wahlkampfrennen veranstaltet haben.
Ich erinnere: „Allianz für Deutschland" hieß die Allunionsversicherung, die sich heute schwertut, ihre Garantien einzulösen und ihre eigenen Schadensfälle zu übernehmen. Schon wieder wird der Solidaritätszuschlag ganz bewußt zum Wahlkampfthema gemacht. Schon wieder werden Sympathietests auf dem Rücken der Solidarität veranstaltet.
Nicht die innere Einheit ist unser Problem, meine Damen und Herren; das ist eher ein Suchbild mit fragwürdigem Inhalt. Die innere Einheit, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen, ist längst da, stärker, als uns offenbar bewußt ist. Heute läßt sich feststellen: Die Akzeptanz der staatlichen Vereinigung ist gewachsen, allerdings auch die Kritik an deren Folgen.
Niemand will die DDR wiederhaben oder erhebt ernsthaft die Forderung nach Zweistaatlichkeit. Dennoch besteht eine nationale Schieflage.
Was wir brauchen, ist ein inneres Gleichgewicht. Wie weit wir davon noch entfernt sind, kann jeder ermessen, der einmal drüben war. Vielleicht verschwindet in einigen Jahren sogar dieses Trennwort aus unserem Sprachgebrauch. Vielleicht ist das ein Kriterium dafür, wie die Einheit entsteht; so wie die Ostdeutschen lernen, daß die Zeit der Westpakete vorbei ist.
Von Anfang an hat ein solider, klar umrissener Lastenausgleich gefehlt. Er kam durch die Hintertür: Der Kanzler hat den Ostdeutschen versprochen, die D-Mark zu bringen, und den Westdeutschen gesagt, daß er sie ihnen nicht nehmen will. Das eine hat er gehalten, das andere nicht. An diesem wunden Punkt laborieren wir noch heute.
Es ist wahr, meine Damen und Herren, bisher ist viel erreicht worden: Ohne Fünfjahresplan ist der Aufbau in den neuen Ländern ein gutes Stück vorangekommen. Verwaltungen arbeiten, das Rechtssystem funktioniert, Löhne und Renten nähern sich - wenn auch manchem viel zu langsam - dem westdeutschen Niveau an, die Qualität der Infrastruktur wird immer besser, die Wiederbelebung der Wirtschaft zeigt erste Erfolge.
Werner Schulz
Es wäre verbohrte Opposition gegenüber dieser Regierung, nicht anzuerkennen, daß auch ihr Bemühen um den Aufbau Ost nicht völlig erfolglos war. Der Bundeskanzler hat eine Bilanz geboten, was er alles auf der Glanzseite seines Guthabens sieht. Allerdings verdeckt seine Regierungspolitik der Wort-und Wertschöpfung, daß er wichtige Chancen vertan hat, z. B., daß mit dem Neuaufbau der Verwaltung in den neuen Ländern auch eine Verwaltungsreform in ganz Deutschland hätte durchgreifen können.
So wurden die verkrusteten Strukturen, ein Wust an Vorschriften einfach unkritisch in den Osten übertragen. Hier wurde ein Investitionshemmnis ersten Ranges geschaffen. Hätte die alte Bundesrepublik in ihren Gründerjahren auf ein solch kompliziertes Regelwerk, auf eine solche Regelungsdichte zurückgreifen müssen, ich glaube, sie würden noch heute auf das Wirtschaftswunder der 50er Jahre warten.
Statt den industriellen Aufbau der neuen Bundesländer für den ökologischen Strukturwandel in ganz Deutschland zu nutzen, wurde die schnelle Privatisierung durch die Treuhand priorisiert und wurden westdeutsche Gebrauchsmuster übernommen. Statt die Hauptstadtfrage eindeutig im Einigungsvertrag zu regeln und mit dem schnellen Regierungsumzug nach Berlin ein Beispiel für den Umbau zu leisten, wurde eine quälende Ersatzdebatte zur deutschen Einheit zugelassen. Statt den Zusammenschluß für eine Bestandsaufnahme der sozialen Systeme zu nutzen, wurden die Sozialkassen für den Aufbau Ost zweckentfremdet. Nicht einmal ansatzweise wurde die deutsche Einheit als Ausgangspunkt für einen Reformprozeß genutzt.
Zwar hat jetzt die Bundesregierung das Hauptmanko des Einigungsvertrages, daß die neuen Länder die ersten vier Jahre nicht in den Länderfinanzausgleich einbezogen waren, durch einen Solidarpakt ausgeglichen, doch war dieser Pakt mehr ein Vertrag der Länder zu Lasten des Bundes, wie überhaupt der Beitrag der Länder zur deutschen Einheit nicht gerade ein Ruhmesblatt der föderalen Geschichte darstellt.
Ein wirklicher Solidarpakt im Sinne eines Grundkonsenses, im Sinne eines neuen Gesellschaftsvertrages, den diese Republik unbedingt braucht, steht allerdings erst noch aus.
Eine Regierung im vereinten Deutschland muß sich an der Zukunftsdebatte messen lassen. Hier einige Themen: Können wir unsere föderale Grundordnung auch angesichts der europäischen Entwicklung tatsächlich noch mit 16 bzw. 15 Ländern aufrechterhalten? Oder sollten nicht dem Beispiel Berlin-Brandenburg andere folgen? Was wird aus dem Aufbau einer modernen Infrastruktur? Was darf sie kosten? Was dürfen der Umzug nach Berlin und der
Ausgleich für Bonn kosten? Muß Bonn erst in Berlin nachgebaut werden, oder können nicht vorhandene Möglichkeiten besser genutzt werden? Welche Fördermittel und -maßnahmen erhalten andere Problemregionen? Schaffen wir mit Berlin-Bonn nicht einen schwer nachvollziehbaren Maßstab?
Wie kann der Sozialstaat durch die stärkere Beteiligung, durch das stärkere Engagement der Staatsbürger gesichert werden? Wie können die Renten gesichert werden - hier hat die Regierung sicherlich nicht ganz uneigennützig schon vieles getan -, und wie kann gleichzeitig den Kindern und Jugendlichen eine angemessene Perspektive eröffnet werden? Wieviel Beamte braucht dieser Staat, und wo braucht er sie? Das sind Fragen und vor allen Dingen auch Versäumnisse.
Aber in den letzten Jahren sind auch schwerwiegende Fehler passiert: So sieht der Einigungsvertrag keine Korrektur von Fehlentwicklungen vor. Es gibt keine Öffnungsklausel, nach der falsche Weichenstellungen berichtigt werden können. Er hat sich vielerorts als Korsett für den Gestaltungswillen im Osten erwiesen.
Oder nehmen Sie z. B. nur die Altschulden. Hier lauert ein Konflikt, gegen den die Zwick-, Schneiderund Graf-Affären wirklich Peanuts sind. Mit einem Federstrich wurden aus willkürlichen Verrechnungseinheiten D-Mark-Schulden in der Landwirtschaft, beim Wohnungsbau, in den Kommunen oder bei vielen Betrieben der Treuhand. Obwohl ansonsten alles abgewickelt wurde, alles negiert wurde, wurde hier einer der fragwürdigsten Posten aus dem Unrechtsstaat ohne Abstriche in den Rechtsstaat übertragen.
Gewinner sind die Banken, über die diese Forderungen gekommen sind wie die Sterntaler im Märchen. Die gleichen Banken, die die großen Gewinner der Einheit sind, lassen heute die ostdeutschen Existenzgründer bei der Vergabe von Risikokapital im Stich.
Wegen der sogenannten kommunalen Altschulden will der Bundesfinanzminister in der kommenden Woche sogar Mahnbescheide an 1 200 ostdeutsche Kommunen verschicken. Dabei brauchen wir keine buchhalterische, sondern eine politische Lösung.
Der Bundesfinanzminister leistet dem Aufbau Ost einen sehr fragwürdigen Dienst, wenn er weiterhin auf seiner sturen Position beharrt und womöglich ein weiteres Mal durch Karlsruhe belehrt wird.
Die Bundesregierung hat es bisher vorgezogen, auf eine Gesamtschau der Entwicklung zu verzichten. Seit fünf Jahren gibt es keine verbindliche Darstellung des Entwicklungsstandes, keine Zielvorgaben, keine Kriterien, keine Zeithorizonte. So begeistert, wie früher der Bericht zur Lage der Nation diskutiert wurde, so wenig scheint die Bundesregierung heute an Klarheit, Verbindlichkeit und Übersicht interessiert zu sein. Das Motto des Bundeskanzlers lau-
Werner Schulz
tet: Wer nichts verspricht, dem kann man nachher auch keine Vorwürfe machen, und der Vorwurf der Steuerlüge bleibt dem erspart, der sich zur Steuerpolitik gar nicht erst äußert.
Insofern brauchen wir einen Bericht zur Entwicklung der deutschen Einheit. Wir sollten nicht aus den Sensationsmeldungen deutscher Wochenmagazine über die nächsten Milliardengräber informiert werden, sondern diese Regierung hat die Auskunftspflicht.
Die kostenlose Einheit hat sich als grandiose Illusion erwiesen. Im fünften Jahr der deutschen Einheit hat die Staatsverschuldung eine neue Rekordmarke erreicht. Eine Haushaltskonsolidierung ist nicht in Sicht. Gespart wird allenfalls bei Sozialhilfe und Arbeitslosengeldern, also bei den Ärmsten in dieser immer noch reichen Gesellschaft. Es wäre schon gut gewesen, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, die Beamten und Selbständigen an der Rentenkasse und damit an der deutschen Einheit zu beteiligen. Dann hätten wir an dieser Stelle kein Milliardenloch.
Ost- und Westdeutsche wurden immer wieder im unklaren gelassen über die mit der Vereinigung verbundenen Umwälzungen und auch Belastungen. Das ständige Theater um Einführung, Abschaffung, Wiedereinführung und Absenkung des Solidarzuschlags ist ermüdend, frustiert und erzeugt Ablehnung. Die Regierung muß den Bürgern in Ost und West endlich klar sagen, was auf sie zukommt, welche Veränderungen notwendig sind und welche Lasten zu tragen sind.
Es wäre gut, wenn wir nicht gleich in die nächste Währungsunion hineinstolperten, wenn der Finanzminister zumindest aus dieser lernte und durch diskrete Hilfe den osteuropäischen Staaten die Annäherung an die EU ermöglichte, anstatt durch Indiskretion ein finanzpolitisches Kerneuropa heraufzubeschwören.
Die wichtigste und vorrangigste Aufgabe, an der sich jede Regierung im vereinten Deutschland messen lassen muß, ist die Eindämmung der Arbeitslosigkeit. Es gilt, neue Arbeitsplätze und damit Vertrauen in die Zukunft zu schaffen. Das ist zuallererst natürlich eine Herausforderung an die Wirtschaft.
Aber vorhandene Arbeit muß auch gerecht verteilt werden. Vielleicht können wir hier mit unseren Erfahrungen aus der Mangelgesellschaft behilflich sein, zumindest mit dem Wissen, daß etwas, was knapp ist, gerecht verteilt werden muß.
Geradezu paradox ist es allerdings, daß ausgerechnet der Kanzler, der die höchste Arbeitslosigkeit seit der Weimarer Republik zu verantworten hat, in einer Situation, in der ganze Jahrgänge in den Vorruhestand gehen, über das verdiente Rentenalter hinaus einen Dauerarbeitsplatz besetzen will.
Die politische Entscheidung zur Einheit Deutschlands war wirtschaftlich falsch. Damit wurde ein Schock ohne Therapie ausgelöst, der viele Betriebe die Existenz kostete. Das ist heute unumstritten. Damit ist zwar der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft gelaufen, aber er ist nicht gelungen. In diesem Zusammenhang von einer einzigartigen Erfolgsstory zu sprechen, wie der Wirtschaftsminister das tut, ist zumindest für einen ehemaligen Treuhanddirektor ein erschreckender Fall von Verantwortungsvergessenheit.
Zumindest ein paar Moritaten müßten ihm doch noch geläufig sein.
Sicher, der Aufschwung Ost findet statt, nur kann er nicht alle gebrauchen. Auch das ist eine herbe Erfahrung aus fünf Jahren Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, von der immerhin mehr erwartet wurde als eine Konkursverwaltung mit Sozialplan.
Noch steht die ostdeutsche Wirtschaft nicht auf eigenen Beinen, noch hängt das Wachstum am Fördermitteltropf. Noch ist die industrielle Basis zu schwach, und andere Wirtschaftszweige können nicht im erforderlichen Umfang wachsen.
Die Wertschöpfung in den neuen Bundesländern muß steigen, und das unter verschärften weltweiten Konkurrenz- und Wettbewerbsbedingungen. Immerhin haben Polen und Tschechien einen selbsttragenden Aufschwung auf niedrigem Niveau erreicht. Die neuen Bundesländer sind hingegen noch weit davon entfernt, ihr höheres Einkommen selbst zu erzeugen. Auch das hat Einfluß auf die Stimmung.
Fünf Jahre nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands gibt es noch nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern deren zwei, einen westdeutschen, dessen strukturelle Defizite jetzt ans Licht kommen, und einen östlichen, der sich trotz mancher positiven Entwicklung in einer immer noch schwierigen Situation befindet.
Heute gibt es kein Ostprodukt mehr mit bundesweiter oder gar internationaler Bedeutung, weder im Konsumgüter- noch im Investitionsgüterbereich.
In Ostdeutschland sind kaum noch größere Unternehmen. Es gibt keinen einzigen überregional wichtigen und wirklich ständigen Firmensitz. Infolgedessen zeigt sich die Industrie als die entscheidende Schwachstelle der ostdeutschen Wirtschaft. Hier ist Strukturpolitik erforderlich. Die Bundesrepublik hat es bisher vermieden, diese zu betreiben. Und da, wo sie Strukturpolitik gemacht hat, z. B. beim Stromvertrag, hat sie dafür gesorgt, daß ausgerechnet die aus-
Werner Schulz
Betretensten Wege des Westens in den Osten verlängert werden. Gerade mit der jetzt ausgebliebenen Sanierung des Fernwärmenetzes wird schwerer Schaden angerichtet.
Da, wo die Chancen des Ostens eigentlich liegen könnten, verweigert man ihm den Anschluß.
Deutsche Einheit - um ein Dichterwort aufzugreifen - ist „ein weites Feld" . Deswegen am Ende meiner Rede zwei Überlegungen:
Erstens. Die Deutschen haben im Osten wie im Westen in Nischengesellschaften gelebt. 40 Jahre DDR und Bundesrepublik, die Zeit vor und hinter der Mauer, sind vorbei. Die Politik und politische Generation des Mauerfalls muß lernen, mit großen Problemen und Konflikten zu leben.
Zweitens. Wir leben nach den Wendezeiten in West und Ost in einer Zeitenwende, in einer komplizierten ungewissen Umbruchsituation. Noch haben wir Zeit, wenn auch keine mehr zu verlieren. Die Zukunft Deutschlands wird sich daran entscheiden, wie wir den Reformstau auflösen, ob wir daran glauben, daß das westdeutsche Modell nicht nur nach Ostdeutschland, sondern auch ins nächste Jahrtausend übertragen werden kann, oder ob wir eine gemeinsame, eine gesamtdeutsche Antwort auf die veränderten Bedingungen in Europa und die weltweiten Herausforderungen finden.