Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wiedererlangung der politischen Einheit des deutschen Vaterlandes am 3. Oktober 1990 war ein Geschenk der Geschichte. Heute, nur fünf Jahre später, ist die Einheit zur Selbstverständlichkeit geworden.
Der Mauerbau am 13. August 1961 war kein Zeichen der Stärke der SED-Diktatur, sondern Ausdruck von Schwäche, von Ohnmacht und Ausdruck eines gescheiterten Sozialismus.
Der Freiheitswille der Deutschen konnte unterdrückt, aber nicht ausgelöscht werden. Das zeigen die unzähligen Versuche, über Mauer und Stacheldraht in das freie Deutschland zu kommen.
Im Wettbewerb der Systeme hat sich die freiheitliche Demokratie durchgesetzt. Wer auf „Wandel durch Annäherung" und auf die Zementierung der Zweistaatlichkeit Deutschlands setzte, wurde von
der historischen Entwicklung widerlegt. Es gehörte sicher zu den beglückenden Erlebnissen in den letzten Jahren, wenn man einmal nach Gera kam, die Stadt sah und wußte: Es war gut, daß wir den Geraer Forderungen von Herrn Honecker nicht nachgekommen sind, wie es manche von Ihnen teilweise getan hätten.
Meine Damen und Herren, die Wiedervereinigung Deutschlands, die Einheit in Freiheit, ist und bleibt das historische Verdienst von CDU/CSU und dieser Koalition.
- Der Beitrag von führenden Politikern Ihrer Partei daran war 1989 und 1990 sehr bescheiden.
Ich werde nicht vergessen: Als ich im Herbst 1989 sagte, die Einheit Deutschlands stehe auf der Tagesordnung der Weltpolitik, haben Sie dies als „üble Brunnenvergiftung " und „töricht" bezeichnet.
Niemand ist von der Geschichte so widerlegt worden wie Sie in den Jahren 1989 und 1990.
Wir sind - ich als Vorsitzender der CSU wie auch andere Parteien - unserer nationalen Verantwortung auch in unbequemen Zeiten treu geblieben. Man darf auch nicht vergessen, was andere vor uns getan haben. Man soll nicht vergessen, daß Hans Ehard, der seinerzeitige bayerische Ministerpräsident, 1947 die letzte gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz nach München eingeladen hat. Ohne Franz Josef Strauß und ohne Alfons Goppel hätte es die Offenhaltung der deutschen Frage durch einen mutigen Spruch aus Karlsruhe nicht so ohne weiteres gegeben. Auch daran zu erinnern ist legitim.
Die unionsgeführte Bundesregierung unter Helmut Kohl hat 1990 die Chance zur Wiedervereinigung entschlossen genutzt, die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Einheit, zur Wirtschafts- und Währungsunion, zum Überleitungsvertrag, zu den Zweiplus-Vier-Verhandlungen und zum Einigungsvertrag erreicht. Das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit, die wir in West und Ost gewinnen konnten, schufen der deutschen Politik den Freiraum, den sie in einer Zeit politischer Umbrüche in Deutschland und Europa unabdingbar benötigt. Entscheidend war, daß wir den schwierigen Prozeß der Schaffung eines geeinten Deutschlands stets in einen größeren europäischen, weltpolitischen Zusammenhang gestellt ha-
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
ben. Darum ist die Vollendung der deutschen Einheit letztlich immer nur in der Vollendung Europas möglich. Daran werden wir festhalten. Das ist das große Ziel der Deutschen und aller friedfertigen Europäer.
Auch der Weg über Art. 23 des Grundgesetzes war richtig. Andere haben sich verweigert und gezögert, haben Umwege vorgeschlagen und Ängste geschürt. Wir haben gehandelt. Durch den Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion wurde die Einheit unumkehrbar.
Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, hat wohl niemand geahnt, wie schnell die weiteren Schritte folgen würden. Politisch und ökonomisch ist die ehemalige DDR wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Vieles war nur noch Fassade, die tragenden Teile von Wirtschaft und Gesellschaft waren morsch. Dennoch: Das Ausmaß der volkswirtschaftlichen Zerrüttung hat selbst Experten überrascht: die ausgezehrte Substanz, der fortgesetzte Raubbau an der Natur. Wenn ein Mann wie Gysi hier herkommt und sagt, der mangelnde Gebrauch von Spraydosen habe auch sein Gutes gehabt, ist wirklich ein Höchstmaß an Niveaulosigkeit erreicht, das nur die PDS in dieses Haus hineintragen kann.
Ein radikaler Schnitt, um die schnellstmögliche und möglichst weitgehende Umstellung der Wirtschaft der DDR auf Weltmarktniveau zu erreichen, war nicht nur ordnungspolitisch richtig, sondern vor diesem Hintergrund politisch und ökonomisch der einzige Weg. Ein längerfristig angelegtes staatliches "Naturschutzreservat" für die ehemalige Staatswirtschaft der DDR hätte sich weder politisch durchhalten lassen noch ökonomisch ausgezahlt. Die rasche Einführung der Sozialen Marktwirtschaft war zusammen mit der am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Wirtschafts- und Währungsunion der unverzichtbare Grundstein für den wirtschaftlichen Neuaufbau in den neuen Ländern. Nur mit dem Vertrauenskapital der D-Mark gab es eine sichere Basis für den Strukturwandel, für Investitionen aus dem In- und Ausland und dafür, die Menschen zum Bleiben zu bewegen. Zugleich konnten wir den von vielen befürchteten Inflationsschub abwenden. In puncto Preisstabilität liegt Deutschland nach wie vor an der Weltspitze.
Die Umstrukturierung ruht auf drei Säulen: Investitionsförderung, Privatisierung und Aufbau der Infrastruktur. Zum Ausgleich von Standortnachteilen hat der Bund Investitionszulagen und Sonderabschreibungen gewährt. Für die Investitionszulage werden bis 1997 37 Milliarden DM bereitgestellt. Mit der Sonderabschreibung wurden bereits bis Ende 1993 Investitionen von über 200 Milliarden DM auf den Weg gebracht.
Eine der schwersten Aufgaben beim Umbau hatte die Treuhandanstalt. Die Treuhand hat Geschichte geschrieben. 15 000 Unternehmen und Unternehmensteile wurden privatisiert; in der „kleinen Privatisierung" wurden über 25 000 mittelständische Betriebe verkauft ebenso wie 46 000 Liegenschaften und 62 000 Hektar land- und forstwirtschaftliche
Nutzfläche. Herr Kollege Scharping, wenn Sie die Privatisierung in dem Zusammenhang kritisieren, dann sollten Sie sich noch einmal damit beschäftigen, daß nur mit Privatisierung Marktanteile gewonnen werden konnten
und diese Betriebe in Deutschland und im internationalen Wettbewerb Markt brauchten.
Der künftige Sitz des Bundesfinanzministers in Berlin ist das Rohwedder-Haus, der Sitz der Treuhandanstalt. Das Gebäude wurde von Reichsluftfahrtminister Hermann Göring gebaut. In den Jahren der Diktatur und des Krieges wurden in diesem Gebäude Befehle gegeben, die die Menschen vieler Völker ängstigten, bedrohten und töteten.
In diesem Haus arbeitete der Oberleutnant und Widerstandskämpfer Harro Schulze-Boysen. Wenige Tage vor Weihnachten 1942 wurde er hingerichtet. In einer Ausstellung im Rohwedder-Haus wurde ein Brief an seinen Vater gezeigt, den er kurz vor seiner Hinrichtung schrieb. In diesem Brief, den er verstekken konnte und der erst nach seinem Tod gefunden wurde, heißt es:
Die letzten Argumente
sind Strang und Fallbeil nicht, und unsre heut'gen Richter sind noch nicht das Weltgericht.
- Wie man bei dem Satz lachen kann, Herr Gysi, - -
- Trotzdem, es ist geschmacklos von Ihnen.
Meine Damen und Herren, dieses Gebäude überlebte die Berliner Bombennächte und den Kampf um Berlin im Frühjahr 1945. Die Kommunisten machten es zum provisorischen Sitz der Volkskammer und später zum „Haus der Ministerien", in dem die Größen der SED ein und aus gingen und die überwundene Diktatur durch eine neue ersetzten.
Nach der Wende bezog die Treuhandanstalt unter Leitung von Detlev Karsten Rohwedder das Haus. Er war ein Mann, dem der Begriff „patriotische Pflicht" nicht leere Formel in unverbindlichen Sonntagsreden, sondern konkreter Auftrag zur mutigen Obernahme auch schwerster Verantwortung war. Als es darum ging, das geschichtliche und schwere Werk der Vollendung der Einheit Deutschlands anzupakken, zögerte Rohwedder nicht lange. Für seine Bereitschaft und sein Engagement, die Hinterlassenschaft des SED-Regimes aufzuarbeiten, wurde er von Terroristen ermordert. Das Haus in Berlin trägt in dankbarer Erinnerung seinen Namen.
Das zeigt die ganze Wende; das zeigt die ganze Änderung der Geschichte. Auch ein Haus, seine Mauern, seine Steine können für Gut und Bös herhalten. Aber daß dort künftig gearbeitet werden wird im Sinne der Freiheit, im Sinne der Demokratie und
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
auch in Erinnerung an einen patriotischen Mann und Tausende von Frauen und Männern, die ihre Pflicht der deutschen Einheit und den Menschen in Ost und West gewidmet haben, zeigt den Wendepunkt in Deutschland, das macht uns dankbar, zufrieden und glücklich.
Fünf Jahre nach der deutschen Einheit ist das Ende der Übergangsperiode erreicht. Der Aufbau einer funktionsfähigen Verwaltung in den neuen Ländern ist geschafft. Ich danke den Tausenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des öffentlichen Dienstes, die bereit waren, ganz oder auf Zeit in die neuen Bundesländer zu gehen.
Am 9. Oktober 1990 habe ich das deutsch-sowjetische Überleitungsabkommen unterschrieben, den ersten Vertrag des souveränen Deutschlands. Heute, 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, steht kein russischer Soldat mehr auf deutschem Boden. Unsere Gegenleistung von 15 Milliarden DM war wohl die rentabelste Investition unseres Landes in diesem Jahrhundert.
Heute haben wir die Umstrukturierung der Wirtschaft weitgehend abgeschlossen, einen in vielen Branchen bereits selbsttragenden Aufschwung in den neuen Ländern angestoßen und die unabwendbaren Probleme sozial abgefedert. Bund, Länder, Kommunen, die Treuhand und ihre Nachfolger, Bahn, Post und die Kreditanstalt für Wiederaufbau werden bis Ende 1995 über 1 000 Milliarden DM in die neuen Länder transferiert haben. Das ist die größte Solidaritätsaktion der Geschichte. Die jährlichen Transfers in dreistelliger Milliardenhöhe in die neuen Länder entsprechen in etwa der Wirtschaftsleistung Portugals. Dadurch wurden und werden Millionen von Arbeitsplätzen gesichert oder neu geschaffen.
Wir haben die Prioritäten im Bundeshaushalt völlig zugunsten der Einheit verschoben und zugleich einen strikten Konsolidierungskurs eingehalten. Mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm und insbesondere dem Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm haben wir das schärfste Konsolidierungsprogramm der Nachkriegszeit entschlossen umgesetzt.
Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung steht Deutschland bei den finanzpolitischen Kennziffern wieder mit an der Weltspitze. Die neuen Länder zählen zu den wachstumsstärksten Regionen der Welt. Das Produktionswachstum ist auf einem stabilen Pfad zwischen 7 und 8 % eingeschwenkt. Der Arbeitsplatzaufbau hat sich jetzt auf eine Rate von fast 3 % jährlich beschleunigt. Nach einer Studie der OECD werden die neuen Länder bei einer Fortsetzung der Investitionsdynamik in zehn Jahren beim Kapitalstock den alten Ländern in nichts nachstehen.
Der „Economist" schrieb am 30. September 1995 zur deutschen Einheit:
Deutschland hat diesen Schlag für seine Finanzen weggesteckt, mit einer Währung, die stärker ist als je zuvor, einem niedrigen Defizit und einer intakten Handelsbilanz. Nach allen Maßstäben ist das ein spektakuläres Ergebnis.
Die Dimension der deutschen Einheit bleibt die Freiheit. Bei allem notwendigen Respekt vor der wichtigen Rolle des materiellen Wohlstands, der Ökonomie und der Finanzen: Es ging uns um die Freiheit von 16 Millionen Menschen, um das Schicksal Zehntausender in unmenschlichen Haftanstalten wie Bautzen und Hoheneck. Es ging um die persönliche Unversehrtheit von unzähligen Menschen, die politisch verfolgt, bespitzelt und schweren Repressalien der Staatssicherheit ausgesetzt waren. Es ging um das Recht des einzelnen, über sich und sein Leben selbst zu entscheiden.
Erinnert sei an Ernst Jünger, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feierte und sagte: „Wenn dein Bruder vor der Tür steht, läßt du ihn rein und fragst nicht, was es dich kosten wird. " Damit hat er die zum Teil erbärmliche Diskussion des Jahres 1990 in einem großen Sinne widerlegt.
Deutschland ist zum erstenmal in diesem Jahrhundert nach Nazi-Tyrannei, totaler Zerstörung und SED-Diktatur Gewinner der Geschichte. Die Vollendung der inneren Einheit konnte und kann nur dann gelingen, wenn wir die Folgen aus 40 Jahren Teilung und menschenverachtendem Sozialismus solidarisch tragen. Das ist - und daran können alle Neid- und Spaltkampagnen nichts ändern - vorbildlich gelungen.
Vor mir hat ein Redner gesprochen, der mit der deutschen Einheit sehr wenig zu tun hat. Die PDS hat als eine nur dem Namen nach gewandelte SED kein Recht, über die Entwicklung in Deutschland zu klagen. Um das Ausmaß der politischen Heuchelei der PDS bewußt zu machen, ist und bleibt die politische und historische Aufklärung über das SED-Unrechtsregime eine zentrale Herausforderung und Aufgabe.
Die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat festgestellt:
Der SED-Staat war eine Diktatur. Er war es nicht nur durch Fehlentwicklung oder individuellen Machtmißbrauch . . ., sondern von seinen historischen und ideologischen Grundlagen her ... Die Hauptverantwortung für das Unrecht, das von diesem Staat begangen wurde, trägt die SED.
Die Schuldigen von damals sind nicht zu Richtern von heute berufen.
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Wir haben die Einheit mit Überzeugung und Engagement gegen alle Widerstände angenommen und erfolgreich gestaltet. Mit der gleichen Haltung geht es jetzt Richtung Europa - für ein neues Jahrtausend in Frieden und Wohlstand.
Ich danke Ihnen.