Rede von
Rudolf
Dreßler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Beantwortung einer Großen Anfrage der SPD-Fraktion zum Stand und der Entwicklung der Arbeitszeitflexibilisierung in Deutschland. Die Bundesregierung hat fünf Monate gebraucht, um die Anfrage der SPD- Fraktion zu beantworten. Ich denke, wir sollten über diese Ergebnisse hart in der Sache und mit Blick auf die Arbeitslosigkeit, auf die Arbeitsplatzabwanderung und die notwendigen Neuerungen in der Wirtschaft ohne Scheuklappen reden.
Die Antworten auf diese Große Anfrage sind geeignet, Mythen, die sich im Laufe der Zeit um die Flexibilisierung der Arbeitszeit gebildet haben, in die Wirklichkeit zurückzuholen, j a, sie vielleicht sogar zu zerstören.
Mythos Nummer eins: Die Arbeitszeitflexibilisierung sei der Schlüssel für den Weg der deutschen Wirtschaft in eine wettbewerbssichere Zukunft, so heißt es. Mein Kommentar: Das ist falsch. Denn ausweislich der Antworten der Bundesregierung weiß die Politik über viele Aspekte der Flexibilisierung nichts oder fast nichts, was sich mit Fakten belegen ließe. Auf 29 von insgesamt 49 Fragen meiner Fraktion antwortet die Bundesregierung, es gebe hierzu kein hieb- und stichfestes, nachprüfbares Material. Es handelt sich dabei nicht um Nebenaspekte, sondern um zentrale Fragen der Flexibilisierung. Auf die
Rudolf Dreßler
Frage, welche Ursachen es habe, daß tarifvertragliche Flexibilisierungsmöglichkeiten nicht genutzt würden, lautet die Antwort: keine empirischen Erkenntnisse.
Nicht einmal die Frage, wie lange Schichten in Deutschland im Schnitt dauerten, kann beantwortet werden. Wieder heißt es: keine empirischen Erkenntnisse. So geht es weiter.
Aber stets ist bei Vertretern der Regierung zu hören, viel mehr Flexibilisierung sei notwendig,
die Arbeitsstrukturen müßten gehörig umgekrempelt werden. Oft genug ist in diesem Zusammenhang zu hören, die Arbeitnehmerschaft sei zu träge und zu anpassungsunwillig geworden.
Wie kommen Repräsentanten der Bundesregierung dazu, so etwas zu sagen, wenn sie nicht einmal wissen, wie lange heute im Schnitt ein Schichtarbeiter oder eine Schichtarbeiterin in Deutschland an den Maschinen stehen muß?
Beschäftigt die Regierung Hellseher, die den Ministern stecken, was die Statistik nicht hergibt? Was ich nicht weiß, kann ich nicht zur Grundlage von Politik machen.
Das ist an sich kein Grund zur Traurigkeit, aber - so denke ich - ein Anlaß, sich zu besinnen.
Ich halte den Materialband zum jüngsten Agrarbericht der Bundesregierung in der Hand - wie alle sehen können, ein voluminöses Werk, das fast keine Frage zur Agrarwirtschaft sachlich unbeantwortet läßt. Ist es nicht erstaunlich, daß das schon klassische Exportland Bundesrepublik Deutschland über den Sektor Landwirtschaft ein fast lückenloses Netz von Daten zu werfen weiß, aber auf dem angeblichen Königsweg zur Sicherung der Wettbewerbsstärke in Industrie und Dienstleistung himmelschreiend große weiße Flecken hinnehmen muß? Müßte eine Regierung, die seit Jahren landauf, landab den Segen wachsender Flexibilisierung predigt, nicht ein enormes Interesse daran haben, solche Wissenslücken zu tilgen? Ich frage: Warum tut sie das nicht?
Könnte es sein, daß diesem Zustand ein gestörtes, auch oberflächliches Verhältnis zu den Wissenschaften zugrunde liegt, die sich mit den realen Bedingungen an den Arbeitsplätzen beschäftigen? Oder ist es einfach so, daß die Bundesregierung nicht wissen will, welche betriebliche Wirklichkeit in Deutschland gegeben ist?
Der zweite Mythos: In den meisten Beiträgen der konservativen Politik über die Rolle der Gewerkschaften und der Betriebsräte bei der Modernisierung des Produktionsapparates wird eine eigentümlich starre, man könnte auch sagen: fortschrittsgegnerische Haltung unterstellt. Dieser Mythos will weismachen, es stünden sich kluge, Innovation und Märkte witternde Unternehmer auf der einen Seite und betonköpfige Gewerkschafter, die Betriebsräte, auf der anderen Seite gegenüber.
Auch dieser Mythos zerbröselt. Die Regierung signalisiert nun selber, daß in Gewerkschaften und Betriebsräten eine große Willigkeit steckt, sich durch Vorschläge und Regelungen mit den neuen Formen der Verteilung von Arbeit während der wöchentlichen Produktionsperiode auseinanderzusetzen.
Ich frage: Wann schlägt sich diese Einsicht in den gesellschaftspolitischen Manuskripten der Konservativen und der Wirtschaftsliberalen nieder?
Mythos Numero drei: Ein Dreh- und Angelpunkt der Regierungsposition ist die Behauptung, die Maschinen laufen in Deutschland nicht lange genug. Jetzt wird klar, daß die seit 1989 immer wieder aufgestellte Behauptung, in Deutschland drehen sich die Räder im Schnitt und pro Woche lediglich 53 Stunden, auf zweifelhaften Annahmen basiert.
Anderen, höheren Werten für das verarbeitende Gewerbe wird jedenfalls nicht mehr die Gültigkeit von vornherein abgesprochen. Damit zertrümmert die Regierung einen Mythos, an dessen Entstehen sie selbst eifrig beteiligt war. Ich begrüße das und füge hinzu: Große Schadenfreude will sich bei mir nicht einstellen; dazu ist die Lage der Wirtschaft und von Millionen arbeitswilliger Menschen zu ernst.
Längere Maschinenlaufzeiten können notwendig sein. Sie sind aber andererseits keineswegs ein Zeichen höchst effizienter Arbeitsorganisation. Oft genug steht hinter der Forderung nach längeren Maschinenlaufzeiten die Tatsache, daß Unternehmer es nicht schaffen, dem eingesetzten Kapital im gegebenen Rahmen eine höhere Produktivität zu geben.
Ich finde es daher, milde gesagt, erstaunlich, daß man generell längere Maschinenlaufzeiten verlangt, daß aber andererseits nur gut 30 % der im Schichtbetrieb arbeitenden Unternehmen über den Einschichtbetrieb hinausgekommen sind. Wie paßt das alles eigentlich zusammen?
Mythos Numero vier: Die Antworten der Regierung vermitteln ein sehr differenziertes Bild über den Komplex der Samstags- und Sonntagsarbeit. Wenn ich mir die hysterische Diskussion der vergangenen Monate über die Notwendigkeit einer Erhöhung der Zahl der Werktage vor Augen führe, dann konnte man den Eindruck haben, allein an dieser Frage entscheide sich das Schicksal der deutschen Wirtschaft.
Rudolf Dreßler
Davon kann jetzt überhaupt keine Rede mehr sein. Auch dieser frische Mythos verblüht. Tatsächlich existiert lediglich ein sektoral sehr eingeschränkter, von Branche zu Branche höchst unterschiedlicher Druck in Richtung Samstag und Sonntag.
Erkennbar wird freilich, daß das Arbeitszeitgesetz der Regierung einen Dammbruch in dieser Frage herbeiführt. Es ist ein Dammbruch, für den es keinen zwingenden ökonomischen Grund gibt. Wer heute dafür plädiert, die tarifvertraglichen Grenzen der Samstagsarbeit zu beseitigen, damit der Samstag ein voll gültiger Werktag werden kann, und wer den Sonntag zum Reparatur- und Einrichtetag der Produktion machen will, der hat in Wahrheit eine kulturelle Revolution im Sinn.
Auch der Sonntag wird dann unter dem angeblichen Zwang der betrieblichen Verhältnisse aus dem Reparatur- und Einrichtetag heraus- und in den regulären Werktag hineinwachsen.
Das ist wie bei den nebeneinandergestellten Dominosteinen: Fällt der erste, dann fallen alle anderen auch. Wie dann der Zusammenhalt der Familien gewahrt wird, wie sich eine Gesellschaft entwickelt, die ihren Leim verliert, bleibt ungewiß.
Ich frage mich, ob sich der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU ähnliche Fragen stellt; denn er ist doch derjenige, der für seine Partei den großen Diskurs über das Menschsein aus christlicher Sicht in der heutigen Zeit anführt. Wenigstens Problembewußtsein scheint in der Regierung vorhanden zu sein, ausweislich ihrer Antworten.
Warum ist die weiter voranschreitende Flexibilisierung der Arbeitszeit dennoch so wichtig? - Weil es für unser Land unabdingbar ist, die zentrale Größenordnung der Lohnstückkosten auf einem Pfad zu halten, der unsere Konkurrenzfähigkeit sichert. Löhne und die lohnbezogenen Zusatzkosten, die Produktivität und die Maschinenlaufzeiten sowie die Strukturen der Arbeitsteilung laufen wertmäßig in der zentralen Richtgröße der Lohnstückkosten zusammen.
Über die Löhne entscheiden die Tarifvertragsparteien. Sie haben das bis heute in gesamtwirtschaftlich verantwortungsbewußter Weise getan. Von dieser Seite gibt es nachweisbar keinen schädigenden Einfluß auf die Entwicklung der Lohnstückkosten. Über die Lohnnebenkosten entscheiden die Tarifvertragsparteien und vor allem der Gesetzgeber. Während der Kostendruck durch tarifvertragliche Nebenkosten merklich zurückgegangen ist, hat die Bundesregierung hingegen immer weiter draufgesattelt. Betriebswirtschaftlich gesehen war die Lohnnebenkostenpolitik der Regierung ein echter Konkurstreiber.
- Frau Babel, Sie sollten ganz, ganz ruhig sein. Wer 1981 mit seiner Stimme
in diesem Parlament ohne mit der Wimper zu zucken auf die Arbeitslosenversicherung zweieinhalb Punkte knallt
- 1991, Entschuldigung -, damit die Lohnnebenkosten jährlich um über 20 Milliarden DM nach oben treibt und sich hier hinstellt und die Unschuld vom Lande mimt, ist, um es höflich zu sagen, Frau Babel, desavouiert.