Rede von
Vera
Wollenberger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Limbach, ich muß wirklich sagen, daß mich Ihre Rede fassungslos gemacht hat. Sie hat mich fassungslos gemacht, weil Sie sich hier hinstellen und so tun, als debattierten wir dieses Thema das erste Mal in diesem Hohen Hause. Tatsache ist aber, daß wir die gleichen Anträge vor zweieinhalb Jahren schon einmal auf der Tagesordnung hatten. Die große Schande dabei ist, daß ich meine Rede, die ich im Mai 1993 gehalten habe, hier wortwörtlich wiederholen könnte, und sie hätte nichts an Aktualität eingebüßt.
Dann stellen Sie sich hier hin und sagen: Warum handelt ihr denn nicht? Die Einzelfallstudien sind alle da, die Daten kennen wir. - Aber wenn Sie die Daten kennen, was hat Sie dann veranlaßt, zweiein-
Vera Lengsfeld
halb Jahre lang untätig zu bleiben? Sie stellen doch die Regierung.
Wie kommen Sie dazu, uns ständig Schwarzmalerei vorzuwerfen und zu sagen, wir würden die Situation zu negativ beschreiben? Es ist doch eine Tatsache, daß die schleichende Vergiftung der Kindheit gravierende Folgen bei der heranwachsenden Generation hat. Es ist doch keine Schwarzmalerei, sondern Tatsache, daß 10 bis 15 Prozent der Kinder an Asthma erkrankt sind und daß sich die Zahl der an Asthma erkrankten Kinder in den vergangenen Jahren mehr als verzehnfacht hat.
Es ist doch einfach eine Tatsache, daß rund 10 Prozent aller Kinder unter Bronchitis leiden und daß 11 Prozent der Zehnjährigen bereits Heuschnupfen haben und jedes zweite Kind bei Allergietests empfindliche Reaktionen zeigt.
Es ist keine Schwarzmalerei, sondern Tatsache, daß 1,2 Millionen Kinder an Neurodermitis leiden und sich die Zahl der Kinder, die an dieser chronischen Hautreizung erkrankt sind, seit 1975 verdoppelt hat. In München haben mittlerweile 11 Prozent der Schulanfänger Neurodermitis; in Hamburg sind es sogar 20 Prozent.
Es ist keinerlei Schwarzmalerei, wenn man diese Tatsachen einmal nennt. Man kann das doch nicht wegdiskutieren, indem man sagt: Die Kindergesundheit hat sehr viel mit Umwelt und auch mit der Schadstoffbelastung zu tun. Das ist alles richtig. Bloß: Wo sind denn Ihre CDU-Stadträte, wenn es um Tempo 30 in Wohngebieten geht
aus Sorge um die Abgasbelastung, der Kinder ausgesetzt sind? Denn Kinder schlucken auf Grund ihrer geringeren Größe ein Zigfaches der Menge an Abgasen, die Erwachsene einatmen.
Ich frage mich wirklich seit zweieinhalb Jahren, was Sie daran hindert, diese Probleme endlich zu erkennen und zu handeln. Ich muß sagen, daß ich nach Ihrer Rede diese Frage immer noch nicht beantworten kann. Ich halte es für eine typische Reaktion der Regierungskoalition, daß damals in der Debatte Herr Rüttgers folgenden Zwischenruf fabriziert hat: „Das Leben ist halt lebensgefährlich!" Das ist eigentlich eine Äußerung, die ihn nicht gerade als Zukunftsminister qualifiziert.
Ich gebe gerne zu, daß wir es mit einem Problem zu tun haben, das nicht sehr einfach zu lösen ist; denn wenn man ökologische Kinderrechte wirklich ernst nimmt und wenn man der Verantwortung gegenüber unser aller Kinder gerecht werden will, dann brauchen wir nicht irgendwelche Reparaturen, sondern den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft.
Es ist klar, daß hinter ökologischen Kinderrechten die Frage nach den Prämissen der Industriegesellschaft und nach den Grundlagen der politischen Ethik steht. Ich will das einmal sagen, um die Dimension deutlich zu machen, um die es geht.
Wenn wir uns darüber klar sind, daß wir in diesen Dimensionen zu denken haben, dann hindert uns das doch keineswegs daran, konkrete erste Schritte vorzuschlagen. Ich kann nur wiederholen: Wir haben das bereits vor zweieinhalb Jahren getan. Wir haben das unter anderem deswegen getan, weil wir eine tiefe Mitverantwortung für das fühlen, was unseren Kindern passiert. Weil wir gemerkt haben, daß die Regierungskoalition unfähig ist, mit den entsprechenden Vorschlägen zu kommen, haben wir als Opposition entsprechende Vorschläge gemacht. Sie hätten diese Vorschläge aufgreifen können, und wir hätten dann heute auf einem ganz anderen Niveau diskutieren können, z. B. über die Umsetzung dieser Vorschläge und darüber, was sie gebracht haben.
Weil aber das alles nicht passiert ist und weil Sie, Frau Kollegin Limbach, eingefordert haben, wir sollten unserer Verantwortung gerecht werden, will ich Ihnen sagen, was unsere Fraktion als erste Schritte - aber wirklich nur als erste Schritte - vorschlägt. Das hätten Sie übrigens auch unserem Antrag entnehmen können; aber ich sage es hier noch einmal.
Wir brauchen als erstes verbindlich einklagbare Vorsorgewerte für alle Umweltschadstoffe, die den Schutz der Kinder garantieren. Diese Vorsorgewerte müssen Langzeiteffekte, Kombinationswirkungen und kurzzeitige Spitzenwerte sowie die besondere Empfindlichkeit der Kinder berücksichtigen. Die Schadstoffe müssen dort gemessen werden, wo die Kinder ihnen ausgesetzt sind, und zu Zeiten, zu denen Kinder hauptsächlich unterwegs sind.
Ärzte, Krankenschwestern und Medizinstudenten müssen für die Behandlung allergologischer und umweltbedingter Kinderkrankheiten aus- und weitergebildet werden. Wir halten für Kinderärzte eine toxikologische Grundausbildung für notwendig.
Versorgungseinrichtungen, auch mobile Umweltstationen, zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen müssen eingerichtet und Selbsthilfegruppen für umweltgeschädigte Kinder gefördert werden.
Schließlich müssen die Daten über die Belastung der Kinder durch Umweltgifte endlich, wie wir auch schon vor zweieinhalb Jahren gefordert haben, an zentraler Stelle gesammelt und ausgewertet werden.
Ich fordere auch noch einmal das Langzeitforschungsprogramm „Kind und Umwelt" ein, das auch längst hätte in Gang gesetzt werden müssen.
Vera Lengsfeld
Frau Kollegin Limbach, da Sie gesagt haben, daß die Regierungskoalition in Zukunft tätig werden will, bin ich optimistisch, daß Sie diese Forderungen nunmehr aufgreifen werden, und freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen.