Rede von
Dr. h.c.
Wolfgang
Thierse
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Schäuble, Sie haben inzwischen die Frage verschoben.
- Herr Schäuble, ich bleibe dabei; denn ich bin der Betroffene.
Es hat damals bei dem Wechsel im Fraktionsvorsitz keinerlei Gespräch z. B. zwischen Oskar Lafontaine und mir gegeben, sondern es hat eine Auseinandersetzung in der Volkskammerfraktion über die Art und Weise gegeben, wie ein Ministerpräsident einer Großen Koalition einen Minister der SPD vor dem Hintergrund, den ich beschrieben habe, entläßt, ohne zuvor mit dem Fraktionsvorsitzenden oder dem Vorsitzenden der anderen Partei gesprochen zu haben. Dies war ein unerträglicher Vorgang.
Die Volkskammerfraktion meinte, diese Art der von Bonn aus diktierten Demütigung könnten wir uns nicht bieten lassen. Das war der Grund für den Wechsel in der Fraktionsführung von Richard Schröder zu mir.
Mit Oskar Lafontaine hat das überhaupt nichts zu tun. Wir brauchen dabei gar nicht zu verschweigen, daß es 1990 natürlich Differenzen zwischen Oskar Lafontaine und mir gegeben hat. Die hat es gegeben.
Ich will zu unserem heutigen Thema zurückkommen. Es geht ja nicht darum, Geschichte ständig neu zu bewältigen, sondern eine kritische Bilanz ist notwendig. Weder Schwarzmalerei noch Schönfärberei sind angemessen; denn die Lage und das Bild sind widersprüchlich. Wir sind - freundlich ausgedrückt - unterwegs, wobei die vor uns liegende Wegstrecke zeitlich wohl länger und nicht weniger schwierig sein dürfte.
Schon wieder von blühenden Landschaften zu sprechen, das ist - gelinde gesagt - eine Übertreibung. Viele werden das sogar als zynische Verfälschung ihrer Wahrnehmung empfinden; denn das ist die wirkliche, widersprüchliche Lage: Es ist viel erreicht worden.
Es wird gebaut, gebaut und gebaut. Unsere ostdeutschen Städte verändern sich. Die Verkehrswege, die Kommunikationsmöglichkeiten und die Dienstleistungen haben sich erheblich verbessert. Es macht Vergnügen, durch die Städte zu gehen, die man von früher kennt.
Das macht wirklich Freude.
Was ist die andere Seite? Es gibt ein deutliches Wirtschaftswachstum von 6 bis 8 %. Sie wissen aber selber: Auch dieses Wachstum wird bewirken, daß
Wolfgang Thierse
die Angleichung der ökonomischen Verhältnisse in Deutschland noch 10 bis 15 Jahre dauern wird. Dies ist eine nüchterne Tatsache. Ich sage das ohne Vorwurf.
Um die Zahlen zu nennen: Die gesamtwirtschaftliche Produktion in Ostdeutschland liegt noch immer nicht deutlich über dem Niveau von Ende 1989, Anfang 1990.
20 % der deutschen Bevölkerung erwirtschaften knapp 10 % des gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukts. Ostdeutschland erwirtschaftet nur 3 % des gesamtdeutschen Exports. Die Produktivität in Ostdeutschland entspricht nur etwa 50 % des Westniveaus. Die Nachfrage in Ostdeutschland ist wesentlich höher als das Bruttoinlandsprodukt.
Unser ostdeutscher Wohlstand ist also geborgt. Er stammt zu einem guten Teil von Transferleistungen, für die ich mich ausdrücklich bedankt habe und dankbar bin.
Auch die ostdeutsche Industrie ist noch nicht selbständig lebensfähig; die industrielle Basis der ostdeutschen Wirtschaft ist nach wie vor unzureichend und immer noch hochgradig gefährdet. Die Arbeitslosigkeit Ost ist dramatisch hoch. Vor allem fehlen 900 000 industrielle Arbeitsplätze, wie Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann neulich ausdrücklich bestätigt hat. Das sind Fakten - dies ist nicht Schwarzmalerei -; ich nenne sie, um die Vielzahl und die Schwierigkeit der Aufgaben zu beschreiben.
- Das gehört doch wohl zu einer kritischen Bilanz der deutschen Einheit.
Aus dieser schwierigen ökonomischen und sozialen Problemlage folgen eben die politischen Aufgaben. Die wichtigste ist: Wir brauchen eine kontinuierliche Fortsetzung der Förderung des Aufbaus Ost.
Alle unseligen Debatten über das „Milliardengrab Ost" - es war der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der im Januar die Melodie angestimmt hat, in die dann andere allerdings auch eingestimmt haben; das weiß ich - oder die ständige Auseinandersetzung um den Solidaritätszuschlag, wann oder wie schnell er gesenkt oder abgeschafft werden könnte, erzeugen sowohl ökonomische als auch psychologische Verunsicherung im Osten und wecken im Westen eher gefährliche Illusionen. Man soll das bleibenlassen. Wir brauchen Zuverlässigkeit in der Förderung des Aufbaus Ost.
Jetzt sparen zu wollen, zu schnell sparen zu wollen, das macht kaputt, was in den ersten fünf Jahren aufgebaut worden ist. Das sollten wir nicht tun. Deswegen verstehe ich auch nicht den Stolz von Herrn Waigel, mit dem er verkündet hat, daß 14 Milliarden DM beim Aufbau Ost eingespart worden sind. Wenn ich den Herrn Bundeskanzler richtig verstanden habe, ist das Sparen bei den Investitionen, ein Sparen an der gemeinsamen Zukunft. Stolz wäre ich darauf nicht.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf eine andere Seite der widersprüchlichen deutschen Situation zu sprechen kommen. Politisch geht es uns Ostdeutschen besser. Ganz klar! Wir haben die Freiheit gewonnen. Materiell geht es den meisten auch besser: sicherlich den meisten Rentnern, den meisten derjenigen, die Arbeit haben. Aber den anderen, den Frauen, denjenigen, die keine Arbeit haben, geht es nicht deutlich besser.
- Ich sage: Den Frauen, zumal denen mit Kindern, und den Arbeitslosen geht es nun wahrlich nicht besser. Das zu beschreiben ist doch eine Realität. Warum wehren Sie sich gegen die Realität?
Ich will ausdrücklich daran erinnern, daß mein und unser ostdeutsches Bedürfnis nach Einheit inhaltlich mit der Sehnsucht nach Freiheit und menschlich verträglichem Wohlstand identisch war. Es war etwas ganz und gar nicht Nationalistisches, und das finde ich wunderbar.
Ich sage deshalb auch, daß die Bemühungen der westdeutschen Politik - egal, ob von Sozialdemokraten, Liberalen oder Christdemokraten -, für die Freiheit und für Erleichterungen des menschlichen Lebens in der DDR zu sorgen, etwas ist, wofür man sich nicht schämen muß. Warum muß man die damalige, für viele Jahrzehnte gültige Entscheidung kritisieren, daß die Freiheit und die Verbesserung des menschlichen Lebens gegenüber der Einheit das Wichtigere sei? Daß dann in einem glücklichen historischen Moment beides zusammenfiel und daß diese Chance genutzt wurde, auch dafür bin ich dankbar. Aber deshalb muß man nicht im nachhinein all das, was vorher an vernünftigen politischen Bemühungen vorhanden war, denunzieren.
Ich habe gesagt, politisch geht es uns Ostdeutschen besser, materiell den meisten auch. Aber viele fühlen sich sozial unsicherer und meinen, daß es ihnen sozial schlechtergehe.
Dies ist eine widersprüchliche Grundbefindlichkeit, die sich in allen Meinungsbefragungen niederschlägt. Das ist so. Eine zunehmende Mehrheit der Deutschen in Ost und West sagt ja zur Einheit und
Wolfgang Thierse
hält sie für richtig. Nur eine verschwindende Minderheit der Ostdeutschen will die DDR zurück - Gott sei Dank! Aber ebenso meint eine abnehmende Zahl von Deutschen, daß diese Einheit geglückt sei, daß wir wirklich ein Volk seien, daß das vereinte Deutschland eine gerechte und soziale Gesellschaft sei.
Was ist passiert? Ich denke, viele Ostdeutsche erfahren die Kälte der Freiheit, nachdem sie die DDR als Diktatur, aber eben auch als eine ökonomisch wahnwitzig bezahlte Gesellschaft sozialer Fürsorge erfahren haben. Da ist etwas entstanden, was ich nicht kritisieren will: ein Grundbedürfnis nach sozialer Sicherheit. Deswegen meine ich, die Einheit wird nur wirklich gelingen, wenn wir eine Politik betreiben, die dem legitimen Grundbedürfnis nach sozialer Sicherheit - übrigens nicht nur der Ostdeutschen - gerecht wird.
Was ist passiert? Es gibt die vielfache Erfahrung der ungerechten Bewertung der eigenen Biographie, d. h. der eigenen Lebensleistungen und Lebenserfahrungen. Ich wiederhole deshalb meine Forderung, ja meine Bitte: Unterscheiden Sie zwischen dem Urteil über das gescheiterte politische und ökonomische System und dem Urteil über die Menschen, die in diesem System gelebt haben, über die Biographien, die darin gelebt worden sind. Denn sie sind nicht alle gescheitert; sie dürfen nicht alle gescheitert sein. Machen Sie diese Unterscheidung tagtäglich sichtbar; sie ist wichtig.
Es gibt des weiteren die vielfache Erfahrung sozialer Spaltung und Ungerechtigkeit zwischen Ost und West. Ich will nur ein paar Beispiele nennen, um zu zeigen, wo konkrete Politik sehr schnell Änderungen schaffen könnte.
Wir erleben als Ergebnis der wirtschaftlichen Transformation, auch der wirtschaftlichen Vorgeschichte und der Privatisierung eine Spaltung in Eigentümer, die eher Westdeutsche sind, und in Eigentumslose, die eher Ostdeutsche sind. Wir hatten keine Chance, an Privatisierungsprozessen wirklich gleichberechtigt teilzunehmen. 40 Jahre Frieden hat im Westen eine Erbengesellschaft entstehen lassen; im Osten wird noch lange nicht viel zu erben sein.
Kurt Biedenkopf drückt das so aus:
Auf sehr lange Zeit wird die Vermögensbildung unterschiedlich sein. Die ostdeutschen Haushalte haben keine Chance, die Westdeutschen in absehbarer Zeit im Bereich der privaten Vermögensbildung einzuholen. Dazu ist der westdeutsche Vorsprung zu groß.
Wir brauchen eine Politik der gerechteren Eigentumsverteilung in Deutschland, eine Offensive für Vermögensbildung gerade in Ostdeutschland.
Ich nenne ein weiteres Beispiel: das unterschiedliche Tarifniveau zwischen Ost und West. Es gibt dafür eine Menge Gründe. Aber warum gilt nicht der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"? Bundeskanzler Kohl hat auf einige wenige Beispiele hingewiesen, die zeigen, daß in Ostdeutschland moderne, hochproduktive Arbeitsstätten schon entstanden sind. Dies gilt auch für gute Teile des öffentlichen Dienstes. Die Erfahrung, daß trotz gleicher Arbeit, trotz gleich produktiver Arbeit die Ostdeutschen weniger verdienen, erniedrigt. Sie ist nicht nötig. Man kann das ändern, schneller als vieles andere.
Ein weiteres Beispiel für etwas, was man schnell ändern kann: die Anerkennung von Berufsabschlüssen aus Zeiten der DDR. Auch da gilt, daß selbst erfahrene und gut qualifizierte Menschen feststellen mußten, daß ihre beruflichen und akademischen Qualifikationen geringer bewertet wurden und werden als die vergleichbaren westdeutschen. Das kann man ändern. Das kostet noch nicht einmal etwas. Warum tut man es nicht?
Weil man es nicht tut, bestätigt man das Vorurteil von der westlichen Arroganz.
Ein anderes Beispiel: die Krankenbehandlung von Ostdeutschen in Westdeutschland. Ein weiteres Beispiel: das Gebaren der Treuhandanstalt und der Banken. Ostdeutsche Unternehmen, die durch Management-Buy-out private Unternehmen wurden, haben regelmäßig schlechtere Übernahmekonditionen erhalten als westdeutsche oder ausländische Interessenten. Warum ist das notwendig, da wir doch Eigentums- und Vermögensbildung in Ostdeutschland unterstützen sollten?
Solche Art Erfahrungen nicht notwendiger westdeutscher Dominanz bestätigen das alte, klägliche und lähmende Minderwertigkeitsgefühl der Ostdeutschen, das in 40 Jahren DDR entstanden ist. Es hilft dann nichts, ihnen auf die Schultern zu klopfen und zu sagen: Seid schön selbstbewußt.
Wir brauchen den grundlegenden Ansatz, daß die deutsche Einigung wirklich als ein Reformprojekt praktiziert wird. Nachdem sich in Ostdeutschland so vieles und so viele ändern mußten, gilt es jetzt endlich, zu begreifen, daß der Änderungsbedarf, der Reformbedarf für ganz Deutschland zunimmt. Dafür werden die Erfahrungen von Menschen aus 40 Jahren DDR und aus fünf Jahren dramatischer Wandlung zunehmend wichtiger.
Das wäre mein wichtigstes Resümee nach fünf Jahren: aus der deutschen Einheit ein Reformprojekt, viele Reformprojekte zu machen, z. B., Herr Gerhardt, die Entbürokratisierung des Staates. Mein erfolgreichster Satz, wenn ich zu Hause, in Ostdeutschland, Reden halte, heißt: Wir haben in der DDR doch
Wolfgang Thierse
immer in der Überzeugung gelebt, daß die Mischung aus preußisch-sächsisch-russischer Bürokratie nicht zu überbieten sei. Das war ein großer Irrtum. Da ernte ich regelmäßig Jubel.
Aus solcherart Erfahrungen wirklich ein Reformprojekt machen, das macht aus den Ostdeutschen Gleichwertige und Gleichberechtigte.
Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit wird gelingen. Davon bin ich überzeugt. Es wird aber noch lange dauern. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, einen jährlichen Bericht über das Erreichte und das Notwendige im Vereinigungsprozeß vorzulegen. Wir werden darüber streiten müssen und streiten können. Aber, meine Damen und Herren, mögen wir uns auch zu überbieten versuchen bei der Gestaltung der deutschen Einheit: Wir Sozialdemokraten halten mit. Meine und unsere Leidenschaft dabei ist nicht geringer als Ihre. Dessen kann ich Sie versichern.