Rede von
Rudolf
Scharping
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Deutschen sind mit ihren staatlichen Möglichkeiten selten so verantwortungsbewußt umgegangen wie bei der Vereinigung am 3. Oktober 1990.
Wenn wir an diesem fünften Jahrestag zurückdenken, dann denken wir an einen Epochenbruch, aber auch daran, daß jene Anerkennung verdient haben, die entscheidend zum ersehnten Ziel der deutschen Vereinigung beigetragen haben.
Mit großem Respekt erinnern wir an die demokratische Opposition, aber auch an jene Menschen, die ausgewiesen wurden, noch mehr an jene, die in den Gefängnissen leiden mußten, an jene Menschen, die in zunächst kleiner und dann wachsender Zahl und unter großen persönlichen Opfern der kommunistischen Repression trotzten und für politische Freiheit und Menschenrechte eintraten.
Unser Dank gilt der evangelischen Kirche, in der eine Vielzahl von Gemeinden und Synoden in vielfältiger Weise Freiheitsräume erschloß, staatliche Bevormundung unterlief und demokratische Bestrebungen förderte.
Ich erinnere an die Ausreisenden, die damals unter großen persönlichen Risiken und teils dramatischen Umständen mit einer großen Fluchtbewegung den Ruf „Wir bleiben hier!" erst zu einer wirklichen Bedrohung in der Diktatur gemacht hatten.
Ich erinnere auch an die Hunderttausenden, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen und mutig den Weg zu freien und demokratischen Wahlen öffneten, die Voraussetzung für die Einheit der Deutschen waren.
Rudolf Scharping
Es ist wahr: Wir sind auch anderen zu Dank verpflichtet: der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, deren Zustimmung die Gewaltfreiheit der SED-Entmachtung erst möglich gemacht hat,
und den Ungarn und Polen - den Ungarn wegen der mutigen Grenzöffnung und den Polen, weil ihre reformerischen Umwälzungen Ermutigung schufen und innerhalb der DDR Reformbewegungen inspirierten.
Wir sind auch und insbesondere unseren westlichen Partnern, unter ihnen besonders den Vereinigten Staaten von Amerika, zu Dank verpflichtet, die entschlossen die deutsche Vereinigung förderten und entscheidenden Anteil am Abschluß des Zweiplus-Vier-Vertrages hatten.
Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, will ich darauf aufmerksam machen, daß die deutsche Einheit erst auf den Grundlagen stabiler Westbindung und vertrauensbildender Ostpolitik möglich geworden ist.
Deshalb sagen wir in allem Freimut: Dazu haben viele beigetragen. Wir wollen weder die Verdienste von Willy Brandt und Helmut Schmidt verschweigen - wir anerkennen sie vielmehr ausdrücklich - noch die Leistungen der damaligen Bundesregierung, des Bundeskanzlers Helmut Kohl und des Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher.
Meine Damen und Herren, in einem solchen, historisch einmaligen, komplexen Prozeß gibt es sicher auch unvermeidbare Fehler; ich konzediere dies ausdrücklich. Neben unvermeidbaren Fehlern allerdings gibt es auch vermeidbare.
Herr Bundeskanzler, wer Ihre Regierungserklärung gehört hat, wird den Eindruck nicht los, daß es Ihnen im wesentlichen um die Verbreitung eines Gefühls, nicht aber um die Formulierung von Politik geht.
Sie haben die Worte „blühende Landschaften" erneut bemüht. Nach unserer Auffassung gehört schon viel dazu, sich erneut auf eine Aussage zu berufen, die quasi als Schlüsselglied für eine Politik der Täuschung und der Übervorteilung der Ostdeutschen steht.
Denn entgegen Ihrer späteren Behauptung, diese Aussage sei nur vor dem Hintergrund zu verstehen, daß die Bundesregierung den tatsächlichen Zustand von Infrastruktur, Kapitalstock oder Arbeitsproduktivität nicht richtig eingeschätzt habe, haben Sie tatsächlich um wahltaktischer Vorteile willen mit der Hoffnung und mit der Erwartung nicht nur der 16 Millionen Menschen im Osten Deutschlands, sondern aller in Deutschland gespielt und die Unwahrheit über das gesagt, was auf die Menschen zukommen würde.
Auch das setzt sich heute fort. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland, namentlich im Osten Deutschlands, ausschließlich auf die Fehler von Planwirtschaft zurückzuführen, ist eine grobe historische Täuschung. Das spielt eine Rolle, erklärt aber längst nicht alles.
Natürlich muß in einem historisch einmaligen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturbruch manches verändert werden. Wir bestreiten nicht, daß dieser radikale Strukturbruch unvermeidbar war. Was wir allerdings bestreiten, ist, daß die Umstände so hätten gestaltet werden müssen, wie sie gestaltet worden sind.
Deshalb möchte ich doch darauf hinweisen, daß sich auf der Grundlage dieser Entwicklung eine erhebliche Veränderung vollzogen hat.
Man kann verstehen, daß in einem solchen Umbruch auch Mißmut, Enttäuschung und Unzufriedenheit entstehen. Aber eine solche Diagnose bleibt unvollständig und oberflächlich, wenn man nicht auch zur Kenntnis nimmt, daß sich im Osten Deutschlands eine bedrohlich veränderte Stimmung entwickelt hat.
Im Juli 1995 haben - demoskopischen Umfragen zufolge - viele Ostdeutsche gesagt, daß das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht gerecht sei. 50 % der Befragten im Osten hielten die Ordnung in der DDR, aber nur noch 38 % die Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland für gerecht. Während 1990 noch die große Mehrheit der befragten Ostdeutschen die Ursache für das Scheitern des DDR-Sozialismus im System selbst und nur
Rudolf Scharping
36 % in der Unfähigkeit der Politiker sahen, hat im Juli 1995 der Anteil derer, die die Politik und nicht das System für das Scheitern verantwortlich gemacht haben, mit 79 % eine geradezu erschreckende Größe erreicht.
Meine Damen und Herren, wer das nicht zur Kenntnis nehmen will, der weigert sich, Realität, Gefühl und Emotionen von Menschen zur Kenntnis zu nehmen.
Es ist geradezu unfaßbar, wie die Freude und die Begeisterung der Menschen in Deutschland, auch der Menschen im Osten Deutschlands, über das Ende des DDR-Sozialismus in eine Stimmung umgeschlagen sind, die man als zwiespältig, in der Tendenz allerdings als eindeutig beschreiben muß. Das ist eine Stimmung, die viel mit enttäuschten Hoffnungen zu tun hat.
Selbst wenn man konzediert - was ich ausdrücklich tue -, daß es in einem solchen Prozeß unvermeidbare Fehler gibt, so ist doch darauf hinzuweisen, daß es von Anfang an auch Stimmen gegeben hat, die nachdrücklich und - wie sich herausgestellt hat - zu Recht auf vermeidbare Fehler und falsche Weichenstellungen hingewiesen haben.
Von Anfang an haben Vertreter der Opposition in der damaligen DDR auf die Größe, die Langwierigkeit und auch auf die immensen Kosten des Umstellungsprozesses hingewiesen. Der damalige Finanzminister Romberg ist auf Grund des politischen Drucks aus der Regierung im Westen Deutschlands entlassen worden, obwohl seine Zahlen damals wesentlich näher an der Realität waren als die der Bundesregierung.
Man fragt sich: Wo ist denn ein Wort des Bedauerns z. B. gegenüber einem ehrlichen Mann, der genau - jedenfalls wesentlich genauer als diese Bundesregierung - gesehen hat, welche Aufgaben auf uns zukamen, welche finanziellen Leistungen das erforderte? Ich finde, es gehörte zur Souveränität einer Bundesregierung, die damals die Entlassung dieses Mannes bewirkt hat, wenigstens heute ein kleines Wort des Bedauerns wegen dieser groben Fehlentscheidung auszusprechen.
Das ist, Herr Bundeskanzler, nicht nur eine Frage der menschlichen Anständigkeit; es ist auch eine Frage der politischen Klarheit. Ihr ehemaliger Finanzstaatssekretär Köhler hat jüngst in einem bemerkenswerten Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit" folgendes formuliert:
Schon vor der Bundestagswahl im Oktober 1990 war klar, daß es nicht ohne Einnahmeverbesserungen gehen würde. Die Politik hat halt aus Gründen der politischen Opportunität entschieden, diese Erkenntnis nicht in den Vordergrund zu rücken.
Den Prozeß der deutschen Einheit, seine Enttäuschungen und Frustrationen kann man trotz aller Erfolge nicht beschreiben, wenn man nicht hinzufügt, daß im Jahr 1990 bewußt getäuscht worden ist, wie der damalige Finanzstaatssekretär ausdrücklich sagt.
Das hat auch mit der Finanzierung der deutschen Einheit auf Pump zu tun. Sie wird zu einer immensen Hypothek für künftige Generationen und zugleich für eine Belastung des europäischen Integrationsprozesses sorgen.
Meine Damen und Herren, mit diesen Weichenstellungen begann eine Reihe von Fehlentscheidungen strategischer Art, die man der Bundesregierung anlasten muß und die man nicht allein auf den Zustand der damaligen DDR zurückführen kann.
Diese Fehlentscheidungen haben viele Millionen Menschen in eine tiefe Existenzkrise gestürzt und vor allen Dingen tiefe Zweifel an der Redlichkeit der Politik hervorgerufen.
Es war - ich sage es noch einmal: im Rahmen eines notwendigen und unvermeidbaren Strukturbruches - eine Schocktherapie ohne wirkliche Flankierung. Industrielle Arbeitsplätze sind zusammengebrochen, 3,5 Millionen Arbeitsplätze gingen verloren. Es war im Zuge dieser strategischen Fehlentscheidungen konsequent, der Treuhandanstalt anfangs nur einen Privatisierungsauftrag zu erteilen, der sich aber in der Praxis häufig als Liquidationsauftrag erwies.
Meine Damen und Herren, wer 1989/1990 als Epochenbruch beschreibt und in der gegenwärtigen Diskussion hinzufügt, daß der Wandel in der Weltwirtschaft, mindestens die Europäisierung, häufig die Globalisierung des Wirtschaftens, ungehemmt voran-
Rudolf Scharping
schreitet, muß zugleich die Frage beantworten: Soll es die Leitlinie der Politik sein, die soziale Integration zu stärken - dann hätten wir eine vernünftige Leitlinie für die Gestaltung des deutschen Einigungsprozesses in der Zukunft -, oder wollen wir ignorant die falschen Weichenstellungen weiterverfolgen? Denn eine bloß auf Unternehmen und Erträge - so notwendig das alles ist - orientierte Politik wird am Ende nicht fähig sein, die soziale Erosion der Gesellschaft und auch den tiefen emotionalen und kulturellen Graben, den es in Deutschland immer noch gibt, zu überwinden.