Rede von
Dr.
Günter
Rexrodt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Deutschen haben die Herausforderung der Vereinigung in den letzten Jahren mit Bravour angenommen. Auch wirtschaftlich wird Trennendes überwunden, können wir langsam und kontinuierlich eine Angleichung der Lebensverhältnisse feststellen. Das wird im übrigen auch im Ausland so gesehen. Die SED-Diktatur hatte die Lebens- und Arbeitsgrundlagen der Menschen in den neuen Bundesländern durch ein Gesellschaftssystem zerrüttet, das seine geistigen Wurzeln im 19. Jahrhundert hat
und das zu Mißwirtschaft und zu subtilen Formen der Korruption, nämlich zur Privilegienwirtschaft, geführt hat. Das wird niemand bestreiten, meine Damen und Herren. Um so höher ist die Aufbauleistung im Osten zu bewerten. Die Menschen in den neuen Ländern haben den Strukturwandel auf sich genommen, und sie haben einen Strukturwandel bewältigt, der ihre gesamten Lebensverhältnisse von Grund auf verändert hat. Ich weiß nicht, ob eine in mancher Hinsicht behäbig gewordene westdeutsche Gesellschaft dazu so in der Lage gewesen wäre, wie das die Menschen im Osten bewältigt haben.
Der Aufbauprozeß ist zugleich eine großartige Solidaritätsleistung der Bürger in Ost- und Westdeutschland. Westdeutschland unterstützt diesen Prozeß nicht nur mit Geld, sondern auch mit großem persönlichen Engagement von Bürgern und vielen Unternehmen.
Eine nüchterne Bestandsaufnahme der Situation heute zeigt, daß zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Aussagen die Situation in den neuen Ländern am besten beschreiben. Einerseits sind wir auf dem Wege zur wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und menschlichen Einheit entscheidend weitergekommen. Andererseits ist das Ziel einer Wirtschaft, die sich aus eigener Kraft im Wettbewerb behaupten kann, noch nicht erreicht.
Die zweite Hälfte des Weges liegt noch vor uns. Das ist auch die Botschaft eines Berichts mit dem Titel „Aufbau Ost - die zweite Hälfte des Weges", den ich im Kabinett vor zwei Wochen vorgelegt habe und den die Bundesregierung zum fünften Jahrestag der deutschen Einheit verabschiedet hat. Die beiden wichtigsten Konsequenzen in diesem Bericht sind klar formuliert:
Erstens. Die Strategie der Bundesregierung für den Aufbau Ost hat sich als richtig erwiesen. Das bezweifelt inzwischen kein Beobachter mehr ernsthaft. Es hat nie eine konzeptionelle Alternative zu dem Weg gegeben, den wir eingeschlagen haben, meine Damen und Herren.
Zweitens. Der Aufbau Ost muß auch weiterhin ein Schwerpunkt deutscher Politik sein. Die Politik, die auf die Stärkung der Wachstumskräfte setzt, wird fortgesetzt.
Ich habe zum Thema Aufbau Ost einen hochrangigen Gesprächskreis mit Persönlichkeiten aus Ost- und Westdeutschland zusammengerufen, der regelmäßig die Entwicklungen in den neuen Ländern erörtern und die Bundesregierung beraten wird.
Ich gehe in diesem Zusammenhang auf etwas ein, was vorhin eingeklagt und eingefordert worden ist: ein Entwurf für die deutsche Einheit in der Zeit vor 1989/90: Meine Damen und Herren, wer sich in der Zeit vor 1989 mit einem politischen Entwurf für die Einheit Deutschlands befaßt und ihn öffentlich oder auch nur halböffentlich diskutiert hätte, der wäre als Utopist und kalter Krieger abgestempelt worden. Und heute wird dies eingefordert. Das ist nicht korrekt, meine Damen und Herren!
Ich möchte hier nicht alle Ergebnisse der Bilanz des Aufbaus im wirtschaftlichen Sinne vortragen, aber einiges denn doch hervorheben. So möchte ich sagen, daß Ostdeutschland die höchsten Wachstumsraten in Europa hat, aber die Eigenleistungsfähigkeit der Wirtschaft ist in der Tat noch nicht ausreichend. Es gibt eine Diskrepanz zwischen Produktion und Inlandsnachfrage von 220 Milliarden DM.
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Die Treuhandanstalt hat die größte echte Privatisierung in der Welt in erstaunlich kurzer Zeit abgeschlossen. Aber die dadurch geschaffene industrielle Basis ist immer noch viel zu schmal.
Ich wehre mich aber mit allem Nachdruck gegen das, was heute morgen hier gesagt worden ist - auch von Ihnen, Herr Scharping -, daß die Treuhandanstalt einen „Liquidationsauftrag" gehabt hätte. Wir haben in der Treuhandanstalt für 275 Milliarden DM Zeit gekauft, Zeit, die notwendig war, um die Betriebe umzustrukturieren, um die Betriebe auf den Wettbewerb in der Marktwirtschaft vorzubereiten, und eine Zeit, die dazu geführt hat, daß im großen Umfang westdeutsche und ausländische Unternehmen als neue Eigentümer in Erscheinung getreten sind, diese Unternehmen saniert haben, Arbeitsplätze gesichert und neue geschaffen haben. Dafür sind 275 Milliarden DM zur Verfügung gestellt worden! Wer da von einem „Liquidationsauftrag der Treuhand" spricht, der spaltet, und der sagt wissentlich die Unwahrheit.
Dann wird noch gesagt, wir hätten das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung nicht anwenden dürfen. Dieses Prinzip - das wissen alle, die sich damit befaßt haben - war aus verfassungsrechtlichen Gründen gar nicht umzukehren. Wir haben aber faktisch die Dinge durch die Tatsache umgedreht, daß wir eine Investitionsvorrangregelung verabschiedet haben, und diese Investitionsvorrangregelung hat - zugegeben nach anfänglichen Schwierigkeiten - dazu geführt, daß da, wo Arbeitsplätze geschaffen oder erhalten werden konnten, immer der Investor Vorrang vor der Rückgabe an den Alteigentümer - wie auch immer - gehabt hat. Diese Regelung hat sich bewährt, auch wenn sie kompliziert war. Den Rechtsstaat können wir nicht aus der Welt schaffen, meine Damen und Herren.
Seit 1994 verbessert sich die Lage am Arbeitsmarkt langsam, aber kontinuierlich. In diesem Jahr werden in den neuen Ländern etwa 170 000 Arbeitsplätze mehr vorhanden sein als im vorangegangen Jahr.
Aber es ist auch richtig, daß etwa ein Drittel der Arbeitsplätze insgesamt verlorengegangen sind. Ich sage auch ohne weiteres: Die Arbeitslosigkeit ist zu hoch. Wer aber meint, dieses Problem lösen zu können, indem noch mehr Geld in ABM und Umschulungsmaßnahmen gesteckt wird, der übersieht, daß dies alles zwar wichtige und notwendige Maßnah- men sind, die aber am Ende nur darauf hinauslaufen, daß wir an den Symptomen der Arbeitslosigkeit herumkurieren, aber nicht die wirklichen Ursachen angehen. Die wirklichen Ursachen liegen anderswo, die liegen darin, daß der Aufbauprozeß Zeit braucht und auf der Grundlage einer völlig verrotteten und
veralteten Wirtschaft erfolgen muß, die wir im Jahre 1990 in den neuen Ländern vorgefunden haben.
- Das gilt auch für Sie, Herr Fischer.
Meine Damen und Herren, wir haben heute in den neuen Ländern 480 000 neue Selbständige, 480 000! Da wird von Herrn Scharping zu Recht beklagt, daß die Nettozugänge bei den Selbständigen im vorigen Jahr nur noch 10 % der Zugänge der ersten Zeit ausgemacht hätten. Ich hätte mir auch mehr gewünscht. Aber es ist doch selbstverständlich, daß die Nettozuwachsraten abnehmen. Wenn wir die alten Zuwachsraten behielten, würde das darauf hinauslaufen, daß wir nach kurzer Zeit nur noch Selbständige in den neuen Ländern hätten. Das wäre ja erfreulich, ist aber nicht realistisch. - So wird auch mit Zahlen manipuliert und nicht das anerkannt, was gerade im Mittelstand an Neuem entstanden ist.
Es ist ebenfalls richtig, daß die Kapitalausstattung noch nicht ausreicht. Die persönlichen Lebensverhältnisse aber haben sich verbessert. Noch immer klafft zwischen Einkommen und Produktivität eine Lücke von 37 %. Deshalb, Herr Thierse, ist es zwar eingängig und nachvollziehbar, daß die Menschen - auch Sie hier im Bundestag, was sich ja gut macht - sagen: Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit! Das ist subjektiv richtig. Volkswirtschaftlich aber wäre ein solcher Schritt, d. h. die Zahlung gleicher Löhne und Gehälter wie im Westen, und dies in einer Volkswirtschaft mit einer Produktivitätslücke von 37 %, mit der Konsequenz verbunden, daß mit jeder Lohn- und Gehaltserhöhung die Wettbewerbschancen und damit die Arbeitsplätze in den neuen Ländern gefährdet würden. Das ist eine ökonomische Binsenwahrheit, die jeder berücksichtigen muß.
- Herr Thierse, ich habe eben volkswirtschaftlich argumentiert. Es ist ein Faktum, daß wir im Osten eine weite Spreizung der Produktivität haben,
daß es natürlich auch Betriebe gibt, deren Produktivität weit über der liegt, die wir im Westen haben, daß es aber auf der anderen Seite im Schnitt eine Lücke von 37 % gibt. Wenn die Löhne und Gehälter dann schnell angepaßt würden, verschlechterten sich die Wettbewerbsmöglichkeiten der Wirtschaft.
Ich will hier nicht belehrend erscheinen, möchte aber sagen, daß dies das Wissen eines Volkswirtschaftsstudenten im zweiten Semester ist. Das weiß jeder, der damit zu tun hat, bei allem Verständnis für das subjektive Einfordern gleicher Löhne.
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Meine Damen und Herren, der Rohbau des gemeinsamen Hauses in Deutschland ist geschaffen. Nun wird beklagt - auch Herr Thierse hat das gesagt -, daß viele Menschen noch nicht die soziale Sicherheit gefunden haben, die sie in der DDR gewohnt waren. Ich sage zunächst einmal: Sicherheit gab es, allerdings auf relativ niedrigem wirtschaftlichen Niveau. Diese Sicherheit wurde jedoch um den Preis der Tatsache gewährt, daß die volkswirtschaftliche Substanz in der DDR verwirtschaftet worden ist, daß dieses System nicht in der Lage war, die Reproduktion der Ressourcen vorzunehmen, wie es für eine Volkswirtschaft unumgänglich ist.
Wir stehen heute vor der Aufgabe, den neuen Ländern soziale Sicherheit soweit wie möglich zu gewähren und gleichzeitig die volkswirtschaftliche Substanz, das Produktivkapital und die Infrastruktur, zu erneuern und zu verbessern. Hier ist eine Titanen-aufgabe zu bewältigen.
Es ist die Aufgabe, das wiederherzustellen, was in der DDR an Substanz verwirtschaftet worden ist.
Daß dies nicht von heute auf morgen geht, ist klar. Wir müssen das Haus, das wir errichtet haben, wetterfest machen. Für ein Ausruhen auf den bisherigen Erfolgen besteht kein Anlaß. Unternehmen geht es in erster Linie um die Verbesserung von Kapitalausstattung und Finanzierungsbedingungen, um die Stärkung der Absatzfähigkeit und die Überwindung von nach wie vor bestehenden Managementdefiziten.
Wichtig sind vor allem mittelfristig sichere Rahmenbedingungen für Investitionen. Deshalb habe ich bereits im vergangenen Jahr ein mittelfristiges Förderkonzept vorgelegt, das jetzt mit dem Jahressteuergesetz in den Haushaltsverhandlungen umgesetzt worden ist. Die wichtigsten Fördermaßnahmen, wie z. B. die Investitionszulage und die Sonderabschreibungen, werden bis 1998 modifiziert fortgeführt und auf die Industrie und den Mittelstand konzentriert.
Neu ist die Aufnahme des mittelständischen Handels in die 10 %-Zulage. Dies habe ich im Jahre 1994 konzipiert. Die SPD ist, anders als das Herr Scharping heute morgen ausgeführt hat, nachträglich auf diesen Vorschlag aufgesprungen. Das ist die objektive Wahrheit, meine Damen und Herren.
Neuland für die Verstärkung der Kapitalausstattung betreten wir beispielsweise mit dem Beteiligungsfonds Ost, den ich vorgestern in Berlin vorgestellt habe. Zwischen 1996 und 1998 werden für mittelständische Unternehmen jährlich 500 Millionen DM langfristiges Eigenkapital bzw. nachrangige Darlehen für Investitionen, neue Strategien oder Forschungsaktivitäten bereitgestellt. Diese neue Regelung, die viele andere bestehende Regelungen ergänzt, lehnt sich an den alten § 16 des Berlinförderungsgesetzes an. Wir haben nunmehr auch die Grundlage dafür geschaffen, daß Unternehmen, die die schwierige Wachstumsphase, die wir zu durchlaufen haben, auf der zweiten Hälfte des Weges zu finanzieren haben, mit Eigenkapital ausgestattet werden können.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ein Wort zur Europäischen Kommission sagen, die uns bei diesem schwierigen Umstrukturierungsprozeß begleitet hat. In den letzten Monaten ist in Brüssel manches schwieriger geworden; das wissen wir. Aber die beachtenswerte kooperative Weise hat dafür gesorgt, daß wir den Aufbau so haben bewerkstelligen können, wie dies geschehen ist. An dieser Stelle einen herzlichen Dank auch an die Kommission in Brüssel.
Es besteht kein Zweifel: Es gibt viele Unternehmen in den neuen Ländern, die vor Insolvenzproblemen stehen. Viele Unternehmen beenden ihr kurzes Dasein. Dies alles hat verschiedene Ursachen, hat auch Ursachen in der Fehleinschätzung des Marktes, in der Tatsache, daß Managementwissen und manches andere nicht in dem Maße vorhanden war, wie wir es brauchten. Ich appelliere daher von dieser Stelle an die Banken und Finanzierungsinstitutionen, daß sie ihren Teil dazu beitragen, daß Unternehmer und Menschen, die in Selbständigkeit getreten sind, die Absicherung erhalten, die sie verdienen.
Es ist aber im übrigen nicht richtig, daß Banken in diesem Zusammenhang nur versagt haben. Unser Drängen in diesen Sektor hat dazu geführt, daß Banken in einem ganz erheblichen Umfang ihr Engagement verbreitert und vermehrt haben und daß es heute bei einem ordentlichen Unternehmenskonzept im allgemeinen möglich ist, an das Kapital heranzukommen, das man braucht.
Ich bin froh, daß es gelungen ist, die jungen Menschen in den neuen Ländern mit Lehrstellen zu versorgen. Das war eine große Kraftanstrengung, eine Anstrengung, die auch in den nächsten Jahren notwendig sein wird. Ich bin stolz darauf, daß dabei das duale System in seinen Prinzipien nicht in Frage gestellt worden ist. Mehr als 60 % der Ausbildungsverhältnisse in den neuen Ländern werden mit öffentlichen Mitteln finanziert. Das ist für eine vorübergehende Zeit notwendig und nicht vermeidbar gewesen. Auf Dauer können wir uns das nicht leisten. Ich appelliere daher an die Wirtschaft, daß sie in ihren Anstrengungen nicht nachläßt, jungen Menschen in den neuen Ländern in ordentlichen Ausbildungsverhältnissen eine Chance zu geben.
Mein Resümee lautet: Das internationale Vertrauen in die Stabilität und Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft steht trotz der finanziellen Lasten des Aufbauprozesses außer Frage. Die Konjunkturaussichten der westdeutschen Wirtschaft sind
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
trotz des zuletzt verlangsamten Wachstumstempos nach wie vor günstig. Die Aussichten für die neuen Länder sind gut. Dennoch wird die zweite Hälfte des Weges vielleicht weniger spektakulär, aber in vielen Aspekten komplizierter sein. Nach wie vor ist die Solidarität der Menschen in Ost und West gefragt und eingefordert.
Was die Bundesregierung angeht, so wird sie auch in Zukunft alles in ihrer Kraft Stehende tun, um dem Aufbauprozeß in den neuen Ländern zum Erfolg zu verhelfen.
Ich danke Ihnen.