Rede von
Andrea
Lederer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was ich befürchtet habe, Herr Bundeskanzler, ist eingetroffen: Sie haben - ob nun gut oder schlecht - auf jeden Fall die Rede eines Bundespräsidenten gehalten. Es war ungeheuer präsidial: Sie haben die Geschichte aus Ihrer Sicht gewürdigt, haben sie dargestellt, haben Menschen gut zugesprochen, haben viel Moral verbreitet. Das ist typisch für einen Bundespräsidenten. Aber ein Bundeskanzler hat eigentlich die Aufgabe, Probleme zu benennen und Wege vorzuschlagen, wie man die Probleme lösen könnte. Davon war in Ihrer Rede wirklich nichts zu hören.
Da das schon eine ganze Weile so geht, kann ich nur empfehlen: Wenn Sie denn Bundespräsident werden wollen, bewerben Sie sich um das Amt!
- Ich habe gesagt: „bewerben Sie sich um das Amt"; ich habe nicht gesagt, daß er gewählt wird. - Aber als Regierung muß man sich den Problemen in dieser Gesellschaft stellen.
Es ist ja richtig: Die deutsche Einheit hat ganz unterschiedliche Veränderungen für die Menschen in Ost und West nach sich gezogen. Ich glaube, es gibt talsächlich eine kleine Gruppe in den neuen Bundesländern, die nur einen Verlust an Lebensqualität empfindet. Es gibt eine andere kleine Gruppe, die nur einen Zugewinn an Lebensqualität empfindet. Aber die große Mehrheit empfindet sowohl einen Verlust als auch einen Zugewinn an Lebensqualität.
Dr. Gregor Gysi
Diese Menschen sind nicht bereit, das miteinander aufzurechnen, sondern sie wollen gerne, daß das eine gelöst wird, auch wenn man das andere würdigt.
Es ist hier viel über Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gesprochen worden. Auch wir haben uns dazu erklärt, auch zu dem Zuwachs, den es diesbezüglich gegeben hat. Sie haben die Entwicklungen in der Infrastruktur hervorgehoben, auch das zu Recht.
Aber Sie haben z. B. das Wort Arbeitslosigkeit in Ihrer ganzen Rede nur ein einziges Mal benutzt. Das ist, glaube ich, zuwenig, um die Problemlage in unserer Gesellschaft darzustellen.
In keinem Falle haben Sie das „Aber" mit formuliert. Sie sprechen davon, daß ökologische Umweltschäden im Osten beseitigt worden sind. Sie reden aber nicht davon, wie das geschehen ist, in erster Linie nämlich dadurch, daß deindustrialisiert worden ist. Wenn Schornsteine nicht mehr rauchen, richten sie natürlich auch keine ökologischen Schäden mehr an.
Mancher Rückschritt stellt sich nachträglich als Fortschritt heraus. Wir haben uns in der DDR immer darüber geärgert, daß wir nicht so viele DeoSpraydosen und anderes haben. Dann stellte sich heraus, daß der Mangel an FCKW gar nicht so schlecht war. Manchmal ist ein Rückschritt auch fortschrittlich.
Es gab übrigens auch andere umweltpolitische Lösungen, die gar nicht so schlecht waren. Es tut mir leid, Herr Schäuble: Die Sekundärrohstofferfassung und -verwertung, die zwar aus ökonomischen Gründen in der DDR entstanden ist, war ökologisch aber durchaus vorteilhaft. Sie haben nicht einmal hingesehen, sondern sie erst einmal beseitigt. Jetzt beginnen Sie, sie ganz langsam wieder aufzubauen.
Sie haben gesagt, die Schienenwege sind verbessert worden. Das ist wahr. Aber wie viele Strecken haben Sie stillgelegt? Die DDR hatte das weitverzweigteste Schienennetz Europas.
Das war kein schlechter Anfang, wenn man die Transporte von der Straße auf die Schiene verlagern will. Doch Sie haben massenhaft Strecken stillgelegt, nur weil sie sich in einem engen Sinne nicht rechnen. Aber Ökologie rechnet sich nie in einem so engen Sinne. Daran muß man volkswirtschaftlich anders herangehen.
Wenn Sie immer von der Ineffizienz der Planwirtschaft sprechen, dann ist das wahr. Aber wenn Sie dabei zu erwähnen vergessen, daß natürlich keine Volkswirtschaft, auch die der alten Bundesrepublik Deutschland nicht, eine Aufwertung um 450 % verkraftet hätte und dieser Volkswirtschaft damit der eigentliche Todesstoß versetzt worden ist, ist das unehrlich. Sie müßten auch erwähnen, daß selbstverständlich mögliche Konkurrenz beseitigt wurde und daß wir deshalb eine verheerende wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern haben, die die Eigenerwirtschaftung der Mittel nicht zuläßt.
In der Regierungserklärung hat der Bundeskanzler wieder darauf hingewiesen, daß insgesamt schon 600 Milliarden DM von West nach Ost geflossen sind. Er erwähnt nie die zweite Seite. Warum eigentlich nicht? Abgesehen davon, daß die Zahl nicht stimmt, weil es eine Bruttozahl ist und dahinter lauter Zahlungen stehen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, z. B. Kindergeld - darauf hat man in Bayern genauso einen Rechtsanspruch wie in Mecklenburg-Vorpommern. Warum wird es eigentlich immer den einen vorgerechnet und den anderen nicht? -, glaube ich: Dahinter steckt eine Spaltungsabsicht; denn man redet den Westdeutschen permanent ein, wie teuer die Ostdeutschen sind. Es wird nie mit erwähnt, daß es einen riesigen Vermögenstransfer von Ost nach West gegeben hat. Wem gehören denn heute die Immobilien, die Banken, die Versicherungen, die Einrichtungen und Betriebe der ehemaligen DDR?
Das muß man doch wohl hinzufügen. Im übrigen hat man sie zum Teil, wie Werner Schulz sagte, für 'nen Appel und 'n Ei erworben.
Der Bundeskanzler hat hier erklärt: Gewinner der Einheit sind vor allem die Rentnerinnen und Rentner. - Das ist schon ein bemerkenswerter Satz, vergißt er doch, ein paar andere Gewinner zu erwähnen, z. B. die Banken und Versicherungen, die nämlich für wenige Millionen ganze Einrichtungen erworben haben und deren Forderungen dazu und die jetzt die Altschulden geltend machen, mit denen sie überhaupt nichts zu tun hatten, die sie nie finanziert haben und die allein zu ihrem Wohle sozusagen im Gesetzeswerk dieser Bundesrepublik Deutschland bleiben, obwohl sie Betriebe, Genossenschaften, Mieterinnen/Mieter und jetzt auch noch die Kommunen ruinieren. Das ist wirklich ein Skandal. Das sind die Gewinner der Einheit. Warum erwähnen Sie die nie mit? Warum immer nur die Rentnerinnen und Rentner?
Und dann muß ich Ihnen sagen: So pauschal stimmt das auch nicht. Es gibt Rentnerinnen und Rentner, denen es besser geht. Aber vergessen wir eines nicht: Die meisten von ihnen haben keine Sparguthaben, weil wir keine Vermögensbildung hatten. Das ist wahr.
- Aber Sie haben die Sparguthaben der Rentnerinnen und Rentner zum größten Teil halbiert und haben ihnen im Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und im Einigungsvertrag ver-
Dr. Gregor Gysi
sprochen, daß sie verbriefte Anteilsscheine bekommen, z. B. für ihre Wohnung oder sonstiges. Wo bleiben denn diese verbrieften Anteilsscheine? Das war eines Ihrer ganz typischen leeren Versprechen.
Dann gibt es Rentnerinnen und Rentner, die in der DDR eine lächerliche Mindestrente bekamen. Das ist wahr. Die bekommen sie jetzt weiter und keinen Sou dazu. Sie haben verbindlich geregelt, daß es keine Dynamisierung dieser Mindestrenten gibt. Damit haben Sie die Rentnerinnen und Rentner zu dauerhafter Armut verurteilt.
Und Sie haben nicht nur das Strafrecht im Rentenrecht eingeführt, sondern Sie haben darüber hinaus mit Auffüllbeträgen operiert und festgelegt - das verschweigen Sie natürlich -, daß ab 1. Januar 1996 - da werden sich Hunderttausende in den neuen Bundesländern umsehen - diese Auffüllbeträge in dem Maße gekürzt werden, in dem die Renten erhöht werden. Das heißt, über Jahre ändert sich an deren finanzieller Situation überhaupt nichts, obwohl es eine Teuerung der Lebensverhältnisse gibt.
Sie haben natürlich über ein Problem auch nicht gesprochen - sehr absichtsvoll -, nämlich über das Problem der Gleichstellung der Geschlechter. Die Situation der Frauen in der DDR war durchaus dadurch gekennzeichnet, daß auch wir ein Patriarchat hatten. Aber es gab schon Rahmenbedingungen, um sich darin besser zurechtzufinden als in der westdeutschen Gesellschaft. Dazu gehörte z. B. die Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch, dazu gehörte aber auch der Fakt der sozialen Unabhängigkeit dadurch, daß über 90 % der Frauen erwerbstätig waren. Heute stellen sie den größten Teil des Arbeitslosenheeres dar. Deshalb sagen Sie zu dieser Problematik keinen einzigen Satz. Das wäre aber ganz wichtig gewesen, um einmal zu erklären, wie Sie Arbeitslosigkeit und Altersarmut, die zum großen Teil weiblich ist, beseitigen, überwinden wollen.