Der Bundeskanzler war stolz auf dessen Sachkunde in internationalen und anderen Finanzfragen. Die Tatsache, daß dieser Mann jetzt ein anderes öffentlich wirksames Amt bekleidet, macht ihn etwas freier. Ich kann durchaus verstehen, daß dieser freie und kritische Geist in der Bilanzierung Ihrer eigenen Tätigkeit - das macht diese Regierungserklärung überdeutlich klar - bei Ihnen ganz und gar unerwünscht ist; denn er müßte zu selbstkritischen Bemerkungen führen.
Herr Bundeskanzler, was Ihr damaliger Staatssekretär Köhler gesagt hat, halte ich für eine vornehme Beschreibung von Inkompetenz und Ignoranz.
Mindestens ebenso verheerend für die wirtschaftliche Lage im Osten Deutschlands hat sich die Entscheidung der Bundesregierung ausgewirkt, die Rückgabe alten Eigentums der Entschädigung für altes Eigentum vorzuziehen.
Daraus ist das Investitionshemmnis Nummer eins im Osten Deutschlands geworden,
mit allen Folgen für den wirtschaftlichen Aufbau und die Arbeitsplätze.
So sehr man sich über gute Entwicklungen freuen kann: Die Bilanz bleibt unvollständig und wird zur Schönfärberei, wenn man auf solche Entwicklungen nicht genauso deutlich hinweist. So, wie Sie damals den Mut und die Bereitschaft zur Solidarität mit der Täuschung, man könne das aus der Portokasse machen, verspielt haben, beginnen Sie erneut, die Bilanz zu fälschen und schönzufärben und damit Mut und Solidarität zu untergraben, Mißmut und Enttäuschung zu fördern. Diese Regierungserklärung ist ein Hinweis darauf.
Die faktische Entindustrialisierung bedeutet für die Ostdeutschen, daß von hundert Erwerbswilligen ein Drittel keine reguläre Arbeit findet, ein Drittel Arbeitsplätze aus Transferleistungen findet und nur ein Drittel Arbeitsplätze aus eigener Wertschöpfung.
Die fehlerhaften Weichenstellungen der Bundesregierung zu Lasten und auf Kosten der ostdeutschen Bevölkerung waren eine Konsequenz aus der falschen gestalterischer Zielsetzung in der Vereinigungspolitik, nämlich einer Ausdehnung der alten Bundesrepublik auf die frühere DDR. Es gab keinen Politikbereich, Herr Bundeskanzler, in dem Sie nicht signalisiert hätten, daß der Osten gefälligst westliche Maßstäbe zu erfüllen habe.
Die politisch-kulturellen Folgen blieben nicht aus. Viele Menschen sahen sich ihrer eigenen Geschichte und Selbstachtung beraubt. Ihnen wurden generell Unterlegenheit und Zweitklassigkeit signalisiert. Das sind Verwerfungen, die das politische und gesellschaftliche Klima zwischen Ost und West in Deutschland nach wie vor stark belasten und die auch zu der beschriebenen Vertrauenskrise im Osten Deutschlands geführt haben.
Es ist diese Ignoranz, diese Geringschätzung von Erfahrungen, die ein politisches Milieu ostdeutscher Befindlichkeit hat entstehen lassen, die einer regionalistischen, regressiven und im Kern unpolitischen Partei einen starken Resonanzboden verschafft. Die relativen Erfolge der PDS sind ein direktes Ergebnis von Vereinigungspolitik, wie Sie sie gestaltet haben.
Wer, Herr Bundeskanzler, die zurückliegenden fünf Jahre bilanziert, wird feststellen: Nach ihren unbestrittenen Verdiensten beim Zustandekommen der deutschen Einheit hat die Bundesregierung, hat der Bundeskanzler bei der Gestaltung der deutschen Einheit schwere Fehler gemacht. Im Streit um die tauglicheren Lösungen gab es bessere Vorschläge.
Unbestreitbar richtig war der Vorschlag, die Finanzierung der deutschen Einheit auf eine allgemeine Grundlage zu stellen und von einer realistischen Einschätzung der Schwierigkeiten auszugehen.
Nachweislich war richtig, die Entindustrialisierung nicht so Platz greifen zu lassen und Vorschläge zur Erhaltung der industriellen Kerne zu machen.
Rudolf Scharping
Nachweislich hatten wir recht, daß ein Sanierungsauftrag für die Treuhand von Anfang an richtiger gewesen wäre als der Privatisierungsauftrag.
Nachweislich hatten wir recht mit der Befürchtung, daß die vorgesehene Behandlung der Eigentumsfrage eine fatale Folge für Investitionen und das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen hätte.
Nachweislich haben wir immer noch recht mit der Forderung, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik geben muß, um Zeit und Zuversicht für die Menschen zurückzugewinnen.
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund stehen wir vor neuen Herausforderungen und neuen Entscheidungen. Wohl wahr, in den letzten fünf Jahren sind über die Steuerkassen hinaus insgesamt rund 1 000 Milliarden DM in die neuen Bundesländer geflossen. Niemand kann seriös voraussagen, wann dieser Prozeß zu einem Ende kommt. Eines aber muß man sagen, und das sage ich Ihnen mit den Worten von Klaus von Dohnanyi: Von einem selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung kann nicht gesprochen werden. Von Dohnanyi schrieb im „Handelsblatt":
Das Wachstum ist immer noch vom Westtransfer geschenkt, und die Ausgangsposition wird durch den dramatischen Einbruch markiert, den die Wirtschaftsunion zwangsläufig auslösen mußte. Von diesem geringen Niveau aus bewirken auch hohe Zuwachsraten nur sehr kleine Schritte in Richtung auf die Angleichung zum Westen. Sehr wenig plus 10 ist zwar mehr, aber zunächst eben doch nur ein wenig mehr.
Meine Damen und Herren, man kann stolz sagen, es gibt hohe Zuwachsraten; aber das bleibt unvollständig und ist schönfärberisch, wenn man nicht das niedrige Niveau und die Tatsache berücksichtigt, daß viele Regionen im Osten Deutschlands in ihrer wirtschaftlichen Kraft hinter den schwächsten Regionen Portugals, Spaniens oder Griechenlands zurückbleiben.
Meine Damen und Herren, die Rede von der dynamisch wachsenden Region ist eine halbe Wahrheit. Der Aufschwung dort steht auf wackeligen Beinen, so wie sich leider auch der Aufschwung in Deutschland etwas abschwächt.
- Das hat, verehrter Herr Kollege, mit Miesmacherei überhaupt nichts zu tun, sondern mit einer ehrlichen Bilanz. Sie werden merken, daß eine ehrliche Bilanz das einzige Mittel ist, Vertrauen zurückzugewinnen, das auf eine fahrlässige Weise verspielt worden ist.
Im übrigen gibt es Leute, die Kassandra einen schlechten Ruf bescheinigen. Aber: Hätten die angeblich klugen Männer auf sie gehört, wäre Troja vermutlich nicht untergegangen.
Es ist nicht richtig, den Eindruck zu erwecken, wir seien schon über den Berg. Es ist auch nicht richtig, den Eindruck zu erwecken, wir könnten auf weitere Finanzhilfen verzichten. Aber mit dem Jahressteuergesetz 1996 wird die steuerliche Förderung von Investitionen ab 1997 um fast ein Drittel gekürzt, ab 1999 soll sie insgesamt auslaufen. Die Investitionsförderung geht um 15 Milliarden DM zurück. Im Bundeshaushalt 1996 kommt es zu massiven Kürzungen. Der Bewilligungsrahmen für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" wird auf 7 Milliarden DM gesenkt. Wer sich den Finanzplan 1995 bis 1999 anschaut, so unseriös er ist, stellt fest, daß weitere massive Einsparungen vorgesehen sind.
Es ist ziemlich absurd, die zehnprozentige Investitionszulage für den innerstädtischen Handel im Jahressteuergesetz zu beschließen - ich füge hinzu: auf unser Drängen -, auf der anderen Seite im Bundeshaushalt die Städtebauförderung um 100 Millionen DM zu kürzen.
Wer den mangelnden überregionalen Absatz ostdeutscher Produkte beklagt, hat recht, denn die ostdeutsche Wirtschaft trägt nur einen ganz geringen Teil zu unserem Export bei. Um so unverständlicher ist es, daß die Absatzförderung um ein Drittel gekürzt wird.
Jeder weiß, daß in Ostdeutschland reichlich Forschungs- und Entwicklungspotentiale vorhanden sind. Gleichzeitig werden die Mittel zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation gekürzt. Jeder redet von der Bedeutung von Umweltschutz, Energiesparen und Fernwärme, gleichzeitig aber werden die Mittel zur Sanierung der vorhandenen Einrichtungen im Bundeshaushalt auf Null gefahren. Es macht keinen Sinn, schöne Ziele zu beschreiben und dann Haushalte zu verabschieden, die nichts von dem einlösen, was in den Zielen beschrieben worden ist.
Wir sagen: Jawohl, die ostdeutsche Wirtschaft braucht massive staatliche Unterstützung. Sie braucht dauerhafte verläßliche Förderung. Ein abgebrochener wirtschaftlicher Aufbauprozeß würde zu noch höheren Arbeitslosenzahlen und im Ergebnis zu einem wachsenden Transfer führen.
Deshalb beschreiben wir fünf Defizite und geben eine Antwort auf sie.
Erstens. Es klafft eine riesige Lücke zwischen dem, was in den neuen Ländern konsumiert wird, und dem, was dort produziert wird. Diese Produktionslücke ist nicht, wie man annehmen könnte, verkleinert worden, sondern sie ist von 155 Milliarden DM auf 211 Milliarden DM gewachsen. Also sagen wir:
Rudolf Scharping
Es muß einen klaren Vorrang geben für die Förderung gewerblich-industrieller Arbeitsplätze und für die Stärkung des Mittelstandes im Osten Deutschlands.
Zweitens. Das Bruttoanlagevermögen pro Kopf der Bevölkerung ist im Osten heute nur halb so groß wie im Westen Deutschlands. Die Produktivität der Arbeitnehmer erreicht deshalb nur etwas über 50 % des westdeutschen Niveaus. Die Lohnstückkosten freilich liegen 30 % über dem westdeutschen Niveau. Deshalb sagen wir: Es wäre dringend erforderlich, daß diese Bundesregierung endlich eine Politik betreibt, die die Gesamtheit der Produzenten von den Kosten der Einheit entlastet und die Einheit so finanziert, wie es richtig ist, nämlich durch die Gesamtheit der Steuerzahler. Dazu hat Ihnen immer der Mut und immer die Konsequenz gefehlt.
Drittens. Die hohe Arbeitslosigkeit ist Ergebnis und Ausdruck des wachsenden Maßes an Unterbeschäftigung. Es ist nicht richtig, wenn die Statistik signalisiert, nur 13 % der Bevölkerung seien arbeitslos. Tatsächlich haben über 30 % der Menschen keine reguläre Arbeit. Wer verhindern will, daß eine weitere Auszehrung stattfindet, daß immer mehr Jüngere in den Westen Deutschlands wandern, daß andere ihre Heimat verlassen, wer verhindern will, daß daraus auch massive Folgen für die westdeutschen Gemeinden und Länder bei den öffentlichen Einrichtungen und bei der Infrastruktur entstehen, der muß dafür sorgen, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik gibt. Sich hier hinzustellen und zu behaupten, jeder habe einen Ausbildungsplatz gefunden,
das ist nicht nur eine Schönfärberei, Herr Bundeskanzler, sondern ein Hohn gegenüber den Zehntausenden junger Leute, die bis zuletzt mühsam darum gerungen haben, überhaupt eine Chance zu bekommen.
Viertens. Die ostdeutsche Wirtschaft ist zuwenig exportorientiert; folglich wird man hier helfen müssen. Die lediglich 12 Milliarden DM Exporterlöse der ostdeutschen Wirtschaft reichen nicht aus. Folglich sollten Sie mithelfen und Ihre Mehrheit dafür einsetzen, daß die Absatzförderung, die Exportförderung und vieles andere nicht gekürzt, sondern aufgestockt werden.
Fünftens. Im Osten Deutschlands erleben wir eine Pleitewelle, die mittlerweile die Erfolge der ersten Existenzgründungswelle zunichte zu machen droht. Es gibt nach wie vor zuwenig Unternehmer. Es gab einen Gründungsboom Anfang der 90er Jahre. Aber jetzt sind die Nettogewerbeanmeldungen im Osten
Deutschlands um 90 % zurückgegangen. Managementfehler, unzureichendes Marketing - das alles kann man beklagen. Vor allen Dingen aber ist die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen zu schwach. Eine Bundesregierung, die noch nicht einmal in der Lage ist, in Berlin ihre öffentlichen Bauaufträge unter der Bedingung zu vergeben - wie der Berliner Senat es tut -, daß Menschen anständige Tariflöhne gezahlt bekommen, ruiniert Unternehmen und Arbeitsplätze. Das ist das praktische Ergebnis Ihrer Politik.
Meine Damen und Herren, eine Bilanz fünf Jahre nach der deutschen Einheit bleibt unvollständig, wenn sie sich nur auf das Gefühl und nur auf die unbestreitbar guten Entwicklungen bezieht. Es gibt erhebliche Schwierigkeiten. Sie zu nennen ist die Voraussetzung dafür, daß sich Kraft entfaltet, um sie zu überwinden. Der Satz von Willy Brandt, daß zusammenwächst, was zusammengehört, ist unverändert richtig und bleibt Richtschnur unseres Handelns. Bei all den Schwierigkeiten und komplizierten Entwicklungen sagen wir: Wir brauchen Zeit. Folglich brauchen wir auch Geduld, vor allen Dingen im Osten Deutschlands, und Solidarität im Westen Deutschlands.
Wenn wir dazu auffordern, dann tun wir das in dem Bewußtsein, daß die schlimmen und tiefen Folgen der Spaltung im Inneren überwunden werden müssen und überwunden werden können im Interesse einer stabilen Demokratie und einer anerkannten Rechtsordnung, die Eckpfeiler inneren Friedens und Wohlstandes sind. Was wir aber ebenfalls brauchen, ist eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung, die auf der enormen Anpassungsleistung der Ostdeutschen und auf der großartigen Teilungsbereitschaft der Westdeutschen aufbaut.
Es kann gelingen, eine gesamtdeutsche Wirklichkeit zu gestalten, die ein besseres Deutschland bewirkt. Wenn wir eines Tages nicht mehr von „Westdeutschen" und „Ostdeutschen" im Sinne eines Spaltungsmerkmales reden, dann haben wir viel erreicht.
Zur Vollendung der deutschen Einheit auch auf politisch-kulturellem Gebiet hat Günter Kunert jüngst einen richtigen Hinweis gegeben. Er sagte:
Es will auch mir nicht einleuchten, warum so etwas wie eine Ausschaltung von Gegensätzen und Widersprüchen wünschenswert sei - eine Harmonie, die ausschließlich durch Uniformität zu gewinnen wäre, eine mentale Gleichheit, wie sie nur für Zombies vorstellbar ist. Unsere Werturteile und unsere Vorurteile werden wir ohnehin nicht los. Wir müßten nur mit ihnen gelassener umgehen.
Rudolf Scharping
Auch wenn es vielen in Deutschland schwerfällt: Gelassenheit und Entschlossenheit auf der Grundlage einer realistischen Bilanz, auf der Grundlage des festen Willens, begangene Fehler konsequent zu korrigieren, sind die Voraussetzungen dafür, daß wir Schaffenskraft und Gestaltungswillen der Bürgerinnen und Bürger weiter wecken und fördern. Beides brauchen wir in Deutschland mehr denn je.