Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir feiern in diesem Jahr den fünften Jahrestag der deutschen Einheit.
Herr Schulz, ich finde, man kann nach wie vor sagen, daß es einen Grund zum Feiern gibt. Dies muß auch nicht erstarrte Rituale bedeuten. Denn bei den Menschen überwiegt - ich glaube, da sind wir uns einig - die Dankbarkeit und eine große Erleichterung über Offenheit und über Erweiterung. Genau diese Dankbarkeit und diese Erleichterungen machen es aus, daß das dunkle Kapitel von Stefan Heym, über das Herr Gysi heute gesprochen hat, nicht irgendwo liegt, sondern bei ihm selbst.
Daß er die Bücher, die ich zu DDR-Zeiten gerne gelesen habe, in der entscheidenden historischen Stunde nicht in die Realität umsetzen konnte, sondern daß er die Menschen nicht verstand, wenn sie erleichtert waren, daß sie endlich Schokolade und Kinderschuhe kaufen konnten,
daß er sie denunziert und in den Schatten gestellt hat, das ist, so sage ich, das dunkle Kapitel von Stefan Heym.
Meine Damen und Herren, diese Debatte sollte natürlich dazu dienen, darüber zu sprechen, was wir geschafft haben und was wir daraus für die Zukunft lernen können. Es war ziemlich schnell nach 1990 klar, daß die Schäden des Sozialismus viel größer waren, als wir alle gedacht hatten. Es war auch klar, daß wir zwar mit dem Marschgepäck des Einigungsvertrages eine Richtschnur hatten - übrigens eine gar nicht so schlechte Richtschnur -, daß wir uns aber auf komplett neue Lebensumstände einstellen mußten. Deshalb muß man heute fragen: Wir haben doch - das ist unstrittig - in diesen fünf Jahren Gigantisches geschafft; wie ist das gelungen, warum ist das gelungen, und wie können wir das für die gesamte Bundesrepublik Deutschland nutzen? Lassen Sie mich das an drei Beispielen aufzeigen.
Erstens. Es ist richtig: Es gab keinen Plan, wie man die deutsche Einheit realisieren könnte, und es war klar, warum es diesen Plan nicht gab. Aber es gab genügend Menschen aus dem Osten und aus dem Westen - das sage ich hier ganz ausdrücklich -, die in der entscheidenden Stunde bereit waren, neue Wege zu gehen.
Herr Schulz, es gehört sicher zu den Enttäuschungen des BÜNDNISSES 90 und der Grünen, daß die Menschen nicht eine andere Republik wollten. Sie wollten in den großen Grundzügen die Bundesrepublik Deutschland so, wie sie sie im Fernsehen gesehen hatten.
Das heißt aber nicht, daß diese neue, vereinigte Bundesrepublik Deutschland nicht auch Eigenschaften und Eigenarten bräuchte, die neu sind. Da sind wir in den neuen Bundesländern neue Wege gegangen. Wir sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen.
Ich nenne als ein Beispiel die Struktur des sächsischen Umweltministeriums. Dort gibt es Institutionen, die gemeinsam Genehmigungsverfahren durchführen und die nicht sozusagen jedes Medium einzeln behandeln.
Ich nenne die schnellen Genehmigungsverfahren für die Rauchgasentschwefelungsanlagen in Jänschwalde - ein Traum für alle westdeutschen Bundesländer, wenn das so schnell ginge.
Ich nenne die Braunkohleprojekte, die in unheimlich kurzer Zeit auf die Reihe gebracht wurden, und ich nenne das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, das uns erst in die Lage versetzt hat, schnell Straßen und Schienenwege in den neuen Bundesländern in Angriff zu nehmen.
Dies sind neue Wege, die für die gesamte Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung sein werden.
Aber ich sage auch: Man kann nicht die Bürokratie der alten Bundesrepublik beschimpfen und dann bei jeder Änderung und Deregulierung aufschreien und sagen, es handele sich um einen Kahlschlag der Umweltpolitik oder um eine Vernichtung des Rechtssystems. Genau dies geht nicht. Wenn wir Entbürokratisierung wollen, wenn wir Deregulierung wollen, dann müssen wir uns auch zu den Fragen bekennen, die damit aufgeworfen werden. Deshalb finde ich, daß gerade auf der Oppositionsseite sehr viel mehr Redlichkeit notwendig wäre,
wenn man auf der einen Seite neue Wege fordert und auf der anderen Seite im konkreten Falle selten bereit ist, diese Wege mitzugehen.
Dr. Angela Merkel
All diese neuen Wege waren nur möglich, weil die Menschen in den neuen Bundesländern bereit waren, mobil waren und nicht an Festgefahrenem festgehalten haben.
Zweitens. Ich möchte hier einmal darauf hinweisen, daß die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern in den letzten fünf Jahren erheblichen Belastungen ausgesetzt waren: Umstellungen in allen Lebensbereichen, Arbeitslosigkeit, Umschulung, neue Berufsfelder, aber eben auch das Wiedergutmachen von Schäden z. B. im Umweltbereich.
Wir haben 500 neue Kläranlagen gebaut; wir haben vieles geschafft. Aber wir haben es letztendlich nach den gleichen Prinzipien wie in den alten Bundesländern getan. Das heißt, auch in den neuen Bundesländern gilt das Verursacherprinzip. Dies bedeutet, daß wir z. B. bei einem Einkommen in Höhe von 75 % des Westniveaus erheblich höhere Abwassergebühren als in den alten Bundesländern haben. 5 DM pro Kubikmeter Abwasser sind in den neuen Bundesländern der Normalfall. Dies wird von den Menschen anerkannt und mitgetragen.
Das geschieht nicht aus Lethargie; vielmehr wird es in weiten Bereichen als Wiedergutmachung für das akzeptiert, was 40 Jahre Sozialismus angerichtet hatten.
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Ich wünschte mir auch in den alten Bundesländern, daß beim geforderten höheren Umweltstandard akzeptiert wird, daß dies nicht zum Nulltarif passieren kann.
Wenn sich der BUND auf der einen Seite hinstellt und sagt, die letzte Düngemittelverordnung der Bundesregierung sei ein Nichts, und auf der anderen Seite am Sonntag sagt, es könne nicht sein, daß die Abwasserpreise für die dritte Reinigungsstufe überhaupt steigen, dann halte ich dies für eine Art des Herangehens, wie man es in den neuen Bundesländern in dem Maße nicht findet. Die Menschen waren dort sehr bereit, neue Wege zu gehen.
Ein drittes Beispiel: In den alten Bundesländern ist in 40 Jahren ein relativ hoher Grad an Perfektion und Wohlstand erreicht worden. Ich habe manchmal den Eindruck, in den neuen Bundesländern hat man in den vergangenen fünf Jahren den Blick auf das Wesentliche besser beherrscht, als es hier in den alten Bundesländern heute an vielen Orten gang und gäbe ist.
Ich habe mich in diesen fünf Jahren immer wieder gefragt: Wissen viele in den alten Bundesländern eigentlich, daß der Wohlstand auch wieder zerrinnen kann? Wissen sie und haben sie die Erfahrung, daß
Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist? Die Menschen in den neuen Bundesländern haben sehr viel stärker das Gefühl, daß man sich für solche Dinge einsetzen muß.
Es ist für mich kein Zufall, daß sich das Leistungsprinzip in den neuen Bundesländern einer höheren Akzeptanz erfreut als in den alten Bundesländern.
Meine Damen und Herren, Beispiele von mutigem Herangehen, von schnellem Herangehen, von Erkenntnis des Wesentlichen sind von Ostdeutschen und Westdeutschen gemeinsam geleistet worden. Das möchte ich hier ausdrücklich sagen. Es gab viele Westdeutsche, die in die neuen Bundesländer gegangen sind, ohne zu fragen, was aus ihren Familien wird und vieles andere mehr. Diese Eigenschaften brauchen wir für die Gestaltung der zweiten Stufe der deutschen Einheit, und wir brauchen sie für die Diskussion in Gesamtdeutschland.
Ich kann nur sagen: Wir haben umweltpolitisch vieles geschafft. Wir haben das geschafft, weil wir bereit waren, den Menschen auch Risiken und Verantwortung zuzumuten.
Das Beispiel von den FCKW-Sprühdosen ist typisch für unsere völlig unterschiedlichen Herangehensweisen: Wir haben die FCKW-Produktion in der Bundesrepublik Deutschland auf Grund von marktwirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen eingestellt.
Wir sind nicht der Meinung, daß man dies irgendwie durch planwirtschaftliche Mangelwirtschaft erreichen muß.
Vielmehr kann man das durch die technologische Weiterentwicklung schaffen.
Dies ist doch genau der Punkt: Man kann die FCKW-Freiheit im Sozialismus nicht mit der FCKW-Freiheit in der Bundesrepublik Deutschland vergleichen.
Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten aus der deutschen Einheit folgendes lernen: Wir haben in der alten Bundesrepublik und in den neuen Bundesländern erhebliche Probleme. Wir fassen das immer unter dem Begriff „Standortdiskussion" zusammen. Dabei geht es um die Frage: Wie viele Menschen werden in Zukunft in dieser Bundesrepublik
Dr. Angela Merkel
Deutschland Arbeitsplätze, Lebensraum und Möglichkeiten finden, den Wohlstand zu erhalten, den wir uns geschaffen haben und der heute da ist? Diese Frage muß so debattiert werden, daß wir zu Änderungen bereit sind. Aber diese Änderungen werden wir nur schaffen, wenn sich nicht der Staat alles an Land zieht, sondern wenn wir an die Verantwortungsfähigkeit und die Risikofreudigkeit der Menschen glauben.
Das heißt, daß wir Freiräume schaffen müssen, daß wir die Möglichkeit schaffen müssen, Verantwortung zu übernehmen, damit man nicht in der Regulierung erstickt. Genau diesen Weg werden wir nicht nur in der Umweltpolitik, sondern in allen Politikbereichen gehen.
Ich sage Ihnen: Die Ergebnisse von fünf Jahren deutscher Einheit sind eher ermutigend gewesen. Ich wünsche mir, daß wir den Schwung der deutschen Einheit auf die gesamte Bundesrepublik ausdehnen können und nicht etwa nach fünf Jahren wieder in einen Trott verfallen, in dem wir nicht vorankommen.
Herzlichen Dank.