Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Vorab darf ich mitteilen, daß der Abgeordnete Paintner sein Amt als Schriftführer niedergelegt hat. Ich danke ihm für die Zusammenarbeit.
Die Fraktion der FDP schlägt als Nachfolger für das Amt des Schriftführers den Abgeordneten Dr. Rumpf vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Abgeordnete Dr. Rumpf zum neuen Schriftführer gewählt.
Meine Damen und Herren, wir fahren fort in der Behandlung des einzigen Tagesordnungspunktes:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1986
— Drucksache 10/3700 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1985 bis 1989
— Drucksache 10/3701 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich grüße alle sehr herzlich, die sich schon in dieser frühen Morgenstunde hier im Deutschen Bundestag eingefunden haben.
— Das bedeutet allerdings nicht, daß die Schulstunde eröffnet ist, Schüler Seiters.
Ich weiß gar nicht, was Sie gegen den ehrenwerten Berufsstand der Lehrer haben. Sie sprechen sich doch sonst immer für die Lehrer aus.
Im übrigen finde ich es viel besser, wenn man Oberlehrer genannt wird, als wenn man Hilfsschüler genannt wird. Die gibt es dann vielleicht woanders.
— Große Unruhe in der Klasse der CDU/CSU.
— Ihre Betragensnoten werden wahrscheinlich kümmerlich ausfallen, wenn Sie so weitermachen.
Die Sprecher der Koalition — allen voran der Bundesfinanzminister — haben sich gestern in Selbstlob geradezu überboten. Es hat zwar niemand die einfältige Behauptung des Bundeskanzlers wiederholt, seine Regierung sei die erfolgreichste Europas. Diese maßlose Übertreibung war wohl selbst den berufsmäßigen Schönrednern der Koalition ein bißchen zuviel. Sonst aber ist alle verfügbare Tünche aufgetragen worden, um Verwerfungen, Risse und Löcher im Gebäude der Koalitions- und Regierungspolitik zu überdecken, um einen Haushalt der nicht eingelösten Versprechungen als einen Haushalt der erfüllten Zusagen erscheinen zu lassen. Um, Herr Bundesfinanzminister, soziales Unrecht als wirtschaftspolitischen Erfolg darzustellen.
Alle diese Anstrengungen, die deutliche Züge von Selbstsuggestion an sich tragen und die durch die mehr oder weniger geistreichen oder törichten Angriffe gegen die Opposition auch nicht an Substanz gewinnen, ändern aber nichts an den Tatsachen, die diesen Haushalt wirklich kennzeichnen. Dabei rede ich gar nicht von den vielen Ungereimtheiten und Mängeln mittleren Kalibers, etwa davon, daß Sie, Herr Bundesfinanzminister, fast 500 Millionen DM Mehreinnahmen an Mineralölsteuer nur deshalb in den Haushalt einstellen können, weil der Absatz bleifreien Benzins infolge des Fiaskos Ihrer Abgas-
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11448 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Dr. Vogelminderungspolitik nicht vorankommt. Das ist eine neue Finanzierungsart: Finanzierung auf Kosten unserer Wähler.
Ich rede von den ausschlaggebenden Fakten. Ich rede von den Fehlentwicklungen, die den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Juni 1985 zu einem Sondergutachten veranlaßt haben. Ich rede von den Sorgen unserer Handelspartner darüber, daß sich die Bundesregierung auf den Export als die Hauptquelle des Wachstums verläßt und zur Ankurbelung unserer Binnenwirtschaft wie zum Abbau unserer Arbeitslosigkeit so gut wie nichts beiträgt.Eine der ausschlaggebenden Tatsachen ist, daß dieser Haushaltsentwurf die Investitionsquote des Bundes auf 13,2 % senkt und Ihr Finanzplan sie bis 1989 nicht etwa steigern, sondern auf 12,1 % herunterdrücken will. Das ist dann die niedrigste Investitionsquote eines Bundeshaushalts seit 1949. Das ist ein Kennzeichen Ihrer Finanzpolitik.
Gleichzeitig, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesfinanzminister, steigen allein die Steuersubventionen auf über 40 Milliarden DM. Das sind 10 Milliarden DM mehr als 1982. Das ist der höchste Betrag an Steuersubventionen seit 1949, von anderen Subventionen ganz zu schweigen.Herr Bundeskanzler, keiner Ihrer Vorgänger hat die Investitionsquote so reduziert und die Steuersubventionen so erhöht wie Sie. Sie, meine beiden Herren, die Sie sich gerade freundlich begrüßt haben, haben tatsächlich —
— Meine Damen und Herren, Sie sind wirklich schon mit Kleinigkeiten zufriedenzustellen.
Sie sind ein rührendes Publikum.
Sie, Herr Bundeskanzler, und Sie, Herr Bundesfinanzminister, haben tatsächlich Rekorde aufgestellt, allerdings Negativrekorde. Dabei haben Sie doch — Sie vor allem, Herr Bundeskanzler, in Person — während Ihrer Oppositionszeit ständig eine einschneidende Senkung der Subventionen versprochen. In Wahrheit sind diese Subventionen unter Ihrer Verantwortung geradezu explodiert. Die Steuervergünstigungen, und zwar natürlich für die Stärkeren, sind um über 30 % gestiegen. Im Sommer 1984 haben Sie binnen weniger Tage allein für einen ganz kleinen Kreis umsatzstarker Landwirte
die Subventionen um 20 Milliarden DM erhöht. Um einer Legende von vornherein entgegenzutreten: Wir sind für nationale Unterstützung der Familienbetriebe, nicht für die Unterstützung der Agrarfabriken und für die Unterstützung der Umsatzstarken.
Das, lieber Herr Stoltenberg, ist keine wohlüberlegte, das ist keine kühle, keine klare Haushaltspolitik; die würde vielmehr eine Steigerung der Investitionen und die Senkung der Subventionen erfordern. Was Sie tun, ist genau das Gegenteil: Sie betreiben mit dieser Art von Haushaltspolitik eine Politik des gebrochenen Wortes und eine beschäftigungsfeindliche Haushaltspolitik.
Aber das ist noch nicht alles. Der Haushalt stellt noch weitere Negativrekorde auf.
Die Lohnsteuerquote, ein wichtiges Kriterium jedes Haushalts, steigt im nächsten Jahr auf 17,5 %. Das ist die höchste Lohnsteuerquote seit 1949. Was immer Sie auch über Ihre famose Steuerreform erzählen, die Wahrheit ist: Noch nie sind die breiten Schichten unseres Volkes so zur Steuerkasse gebeten worden wie jetzt von Ihnen in diesem Haushalt.
Da werfen ausgerechnet Sie, die unserem Volk die höchste Lohnsteuerquote seit Gründung der Republik zumuten, uns vor, wir seien eine Steuerbelastungspartei! Das stellt doch die Wahrheit auf den Kopf.
Auch das ist ein Wortbruch, Herr Bundesfinanzminister: Kurz vor Ihrem Regierungsantritt sagten Sie immer wieder: Steuer- und Abgabenerhöhungen lehnen Sie konsequent ab. Offenbar ist Ihnen dies wie andere Versprechen aus dem Bewußtsein entschwunden. Natürlich hat eine solche Lohnsteuerquote auch beschäftigungsfeindliche Wirkungen, weil sie insbesondere die Kaufkraft derer vermindert, die jede Mark, die sie haben, auch tatsächlich zum Leben brauchen und ausgeben würden.Dann, Herr Bundesfinanzminister — Kollege Apel hat gestern schon darauf hingewiesen —: Ist nicht auch die Einstellung eines Bundesbankgewinnes wiederum von 12,5 Milliarden DM in diesen Haushalt ein eklatanter Wortbruch? Von Ihnen selbst, Herr Bundesfinanzminister, stammt doch der Satz, die Heranziehung von Bundesbankgewinnen sei schlimmer als die Neuverschuldung. Wissen Sie nicht mehr, was Herr Häfele, Ihr Parlamentarischer Staatssekretär, noch am 15. September 1982 — 14 Tage vor Ihrem Regierungsantritt — hier von diesem Pult aus gesagt hat? — Er sagte:Dieser Bundesbankgewinn, abgeführt zur Finanzierung von Deckungslücken im Staatshaushalt, wirkt volkswirtschaftlich wie eine Neuverschuldung.Und der übliche Sprechchor — so nach dem Protokoll —: „Sehr richtig! bei der CDU/CSU".Dr. VogelDann fuhr der wackere Häfele fort: Der Bundesbankgewinn, in den Haushalt eingestellt,ist haushaltspolitisch sogar noch schlimmer als eine Neuverschuldung, weil keine Zinslast daraus erwächst und damit der Anschein für den Staat entsteht, er habe insoweit gar keine Schulden, obwohl das nur eine vorübergehende und keine dauerhafte Lösung ist.Und dann Ihr übliches Echo an dieser Stelle — ebenfalls im Protokoll nachzulesen —: „Beifall bei der CDU/CSU".Eine eklatantere Widersprüchlichkeit kann man sich eigentlich kaum vorstellen.
Seit Sie an der Regierung sind, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben Sie sich um Ihr Gerede vom September 1982 keinen Deut geschert. Sie haben 48 Milliarden DM — 48 Milliarden! — in drei Jahren an Bundesbankgewinnen in den Bundeshaushalt eingestellt und weitere 28 Milliarden DM an Bundesbankgewinnen bis zum Jahre 1989 verplant. Das sind nach Adam Riese 76 Milliarden DM an Bundesbankgewinnen, an Bundesbankgewinnen, die „schlimmer sind als eine Neuverschuldung". Uns standen während der 13 Regierungsjahre ganze 13 Milliarden DM zur Verfügung, also knapp ein Fünftel.
— Meine Damen und Herren, lesen Sie Ihre eigenen Reden nach.Die Bundesbankgewinne — das kann man Ihnen nicht oft genug sagen — sind im übrigen nicht von Ihnen erwirtschaftet worden. Die Bundesbankgewinne sind Zinsen aus Devisenvermögen, das die Bundesbank im wesentlichen in den 70er Jahren — also zu Zeiten unserer Regierungsverantwortung — angesammelt hat.
Sie zehren heute von dem, was bei der Bundesbank zu unserer Zeit angesammelt wurde.
Weil Sie sich, meine Damen und Herren, immer so gern auf Briefe des Herrn Bundesbankpräsidenten a. D. Klasen berufen, stelle ich Ihnen gern einen Brief von Herrn Klasen zur Verfügung, in dem er dies im einzelnen untermauert und im einzelnen belegt.
— Ihre Heiterkeit täuscht nicht darüber hinweg,daß insbesondere auch in der Frage des Bundesbankgewinnes Ihre Politik widersprüchlich ist,nein, daß Ihre Politik unredlich ist — und ihre öffentliche Darstellung auch.
Der zentrale Punkt unserer Kritik lautet aber, daß der Haushalt, den Sie vorgelegt haben, nicht das Mögliche zur Überwindung der Arbeitslosigkeit leistet. Im Gegenteil, dieser Haushalt erschwert die Bekämpfung und die Überwindung der Arbeitslosigkeit.
Er leistet auch nichts zur Überwindung des von Ihnen an vielen Stellen begangenen sozialen Unrechts. Im Gegenteil, dieser Haushaltsentwurf für das Jahr 1986 vertieft und verlängert dieses Unrecht. Insofern — Kollege Apel hat mit dieser Charakterisierung völlig recht — ist dieser Haushalt ein getreues Spiegelbild Ihrer Politik, einer Politik, die dem Egoismus des einzelnen einen höheren Rang einräumt als der Solidarität der Gemeinschaft, einer Politik, die die Schwachen nicht nur sich selbst überläßt, sondern sie auch noch sozial deklassiert und absinken läßt.
Das wird besonders deutlich an der zentralen Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit. Die Massenarbeitslosigkeit — ich hoffe und glaube, wir stimmen hier überein — ist nicht nur ein bitterer und verbitternder Entzug von Lebensqualität für die Betroffenen und ihre Angehörigen;
die Massenarbeitslosigkeit ist auch eine gesellschaftliche Krankheit, deren Giftstoffe immer tiefer in den Organismus unseres Volkes eindringen.Meine Damen und Herren, wir sollten — das geht uns alle an — nicht so sicher sein, daß wir heute diesen Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit auf lange Dauer wirklich besser gewachsen sind als im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, was auch immer uns von jener Zeit unterscheidet.Wenn am 31. August 1985, also vor 5 Tagen, zum achtenmal nacheinander die Arbeitslosigkeit am Monatsende jeweils den absoluten Höchststand seit 1949 erreichte, wenn 14 % der Altersgruppe zwischen 20 und 25 Jahren ohne Arbeit sind, wenn bei nicht wenigen Einheiten der Bundeswehr heute schon jeder zweite Wehrpflichtige oder Zeitsoldat damit rechnen muß, nach seiner Entlassung auf der Straße zu liegen und wenn auch für die Ersatz-dienstleistenden nichts anderes gilt, wenn rund 30 % der registrierten Arbeitslosen kein Arbeitslosengeld mehr bekommen und 40 % auch keine Arbeitslosenhilfe mehr, wenn also nur noch insgesamt 30 % Arbeitslosengeld beanspruchen können, wenn 40 % auf ihre Angehörigen oder auf die Sozialhilfe angewiesen sind, dann sind das, meine Damen und Herren, für uns als Volk und Gemeinschaft Alarmzeichen ersten Ranges.
Sie reden demgegenüber — ich verstehe das ja — unentwegt von Aufschwung. Jede neue Hiobsbot-
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11450 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Dr. VogelSchaft begleiten Sie mit der Behauptung, die Besserung am Arbeitsmarkt stehe nun unmittelbar bevor. Wenn Sie einmal Ihre eigenen Erklärungen nachlesen, werden Sie feststellen, daß sich diese Äußerungen in den letzten zwei Jahren jeweils nach Bekanntwerden der Zahlen kaum geändert haben.Herr Bundeskanzler, das ist nicht nur irreführend. Wenn Sie sich einmal in die Rolle der langfristig Arbeitslosen versetzen, müssen Sie registrieren, daß solche Erklärungen für die Betroffenen der blanke Hohn und Anlaß zur Verbitterung sind. Geradezu erbärmlich ist es, wenn Sie — und zwar nicht nur Sprecher der CSU, sondern vorher schon Sie persönlich, Herr Bundeskanzler — neuerdings sogar die Arbeitslosenzahlen der Bundesanstalt für Arbeit anzweifeln und glauben, hier läge das Problem.
Glauben Sie denn wirklich, Herr Bundeskanzler, die Arbeitslosen und ihre Not stünden nur auf dem Papier? Glauben Sie, daß statistische Manipulationen auch nur einen einzigen Arbeitsplatz schaffen? Wo leben Sie denn eigentlich!Wenn Sie uns nicht glauben, dann lesen Sie, was gestern Herr Franke mit scharfen Worten denen ins Stammbuch geschrieben hat, die an dieser Statistik herummäkeln. Er hat zu Recht gesagt, dies sei die detaillierteste und konkreteste Statistik, die es über die Arbeitslosigkeit überhaupt gebe; er könne die Politiker nicht verstehen, die diese Statistik in Mißkredit zu bringen versuchen. Damit hat er Sie gemeint, Herr Bundeskanzler.
Irreführend ist diese generelle Aufschwungbehauptung schon deshalb, weil der von Ihnen so gepriesene Aufschwung nach Ihrem eigenen Zeugnis jedenfalls jetzt und bisher nur die Unternehmenserträge erfaßt. Die sind seit Ihrem Amtsantritt um real 25,5 % gestiegen. Das ist wahr. Und wenn für bestimmte Branchen, etwa für die Banken, gesagt wird, die Erträge seien geradezu explodiert und das Problem der Banken bestehe heute nicht darin, ihre Erträge nach außen deutlich zu akzentuieren, sondern das Problem bestehe eher darin, diese enormen Ertragszuwächse ein bißchen im Unbestimmten zu lassen, dann ist das alles richtig.Gleichzeitig, Herr Bundeskanzler, sind aber die Löhne in dieser Zeit real gesunken. Und was entscheidend ist und wovon sie nicht sprechen, meine Herren von der Bundesregierung: Die privaten Investitionen sind mit einem Wachstum von 16,5 % weit hinter der Ertragssteigerung zurückgeblieben, ja der Anteil der Privaten Investitionen — und dies ist doch für jeden Volkswirtschaftler ein Alarmzeichen — am Bruttosozialprodukt ist 1984 auf den historischen Tiefstand von 19,8 % gesunken. Das ist die niedrigste private Investitionsquote seit vielen Jahrzehnten.Herr Bundeskanzler, wir beklagen doch die Erträge nicht. Wir wissen doch selber, daß gute Erträge die Voraussetzung dafür sind, daß anständige Löhne gezahlt werden, und daß etwas getan werdenkann, um unsere Volkswirtschaft zu modernisieren.
Aber — ja, selbstverständlich — die Zahlen, die ich Ihnen vorgetragen habe und die Sie dann ja widerlegen könnten, zeigen, daß diese gestiegenen Erträge nicht in ausreichendem Maße in die Investitionen fließen, sondern im Übermaß in Geldvermögensanlagen, vor allem in ausländische Geldvermögensanlagen, deren Zinsen die Finanzämter überdies nur mit Mühe, wenn überhaupt, erfassen können. Auch das ist ein Kennzeichen dieses Haushalts.
Außerdem verschweigt Ihre Darstellung, Herr Bundesfinanzminister, leider, daß die Binnennachfrage stagniert. Hier gab es eben im ersten Halbjahr 1985 keinen Aufschwung, sondern gegenüber dem ersten Halbjahr 1984 sogar einen Rückgang um 1 %. Ihre Kürzungen zu Lasten der Schwächeren und die langjährigen Propagandafeldzüge gegen die angeblich überhöhten Löhne und die übertriebenen Lohnkosten wirken sich bei der Binnennachfrage aus. Herr Bundesfinanzminister, diese Politik ist eben nicht nur unsozial, sie ist auch volkswirtschaftlich verfehlt und auch volkswirtschaftlich betrachtet korrekturbedürftig.
Mit Ihren Aufschwungshymnen ist auch unvereinbar, daß die Gesundheitssicherungs- und die Alterssicherungssysteme trotz ständiger Beitragserhöhungen aus den finanziellen Schwierigkeiten nicht herauskommen. Der Sachverständigenrat hat den Fehlbetrag beider Systeme allein für das Jahr 1984 auf 7,3 Milliarden DM veranschlagt, und er hat zu Recht beklagt, daß immer noch kein schlüssiges Konzept zur Lösung dieser Probleme vorliege.Ich frage die Bundesregierung: Was ist das eigentlich für ein Aufschwung, bei dem die Pharmaindustrie und Teile der Ärzteschaft Rekordeinnahmen erzielen, den Versicherten aber trotz ständiger Beitragssteigerungen immer wieder mit der Selbstbeteiligung gedroht wird?
Ich frage: Was ist das für ein Aufschwung, bei dem die Renten hinter der Preissteigerungsrate zurückbleiben, obwohl den Arbeitnehmern der höchste Rentenversicherungsbeitrag abverlangt wird, den es seit Gründung der Rentenversicherung vor hundert Jahren jemals gab? Ist das alles Aufschwung, wie Sie ihn verstehen?Damit wir uns recht verstehen: Ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie alle Faktoren der wirtschaftlichen, der weltwirtschaftlichen und der finanziellen Entwicklung zu vertreten hätten. Natürlich gibt es auch weltwirtschaftliche Faktoren, und es gibt Faktoren in der Verantwortung der Tarifparteien. Aber, Herr Stoltenberg, beides gilt dann ebenso für unsere Regierungszeit. Darum, Herr Kollege Stoltenberg, ist es nicht klar und kühl, sondern in hohem Maße unredlich, der Regierung von Helmut
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Dr. VogelSchmidt die Preissteigerungsrate des Jahres 1981 vorzuwerfen. Sie wissen doch ganz genau, Herr Stoltenberg, daß wir 1981 mit der damaligen Preissteigerungsrate neben Japan die geringste Preissteigerungsrate aller Industrieländer hatten. Großbritannien, USA und Frankreich hatten doppelt so hohe Raten. Sie stehen doch heute im internationalen Vergleich nicht um einen Deut besser da als damals die Regierung Schmidt. Warum verschweigen Sie das eigentlich?
Ich werfe Ihnen nicht die Arbeitslosigkeit als solche vor. Ich kritisiere, daß Sie nicht das Mögliche zur Verringerung der Arbeitslosigkeit getan haben.In Wahrheit haben Sie nicht nur das Mögliche nicht getan, in Wahrheit haben Sie vielmehr die Arbeitslosigkeit mißbraucht. Sie haben die Arbeitslosigkeit als Hebel für eine Politik der Umverteilung von unten nach oben und für eine Politik der sozialen Ungerechtigkeit benutzt, die in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel ist.
Mehr noch: Diese Bundesregierung und diese Koalition haben durch ihre Politik den sozialen Konsens in unserem Volk ernsthaft in Frage gestellt.Davon, daß unter Ihrer Verantwortung die Löhne real gesunken, die Unternehmens- und Geldvermögenserträge aber explodiert sind, habe ich schon gesprochen. Sie haben die Sozialleistungen seit dem 1. Oktober 1982 um Dutzende von Milliarden DM gekürzt, gleichzeitig aber die Vermögensteuer gesenkt und die Subventionen gesteigert. Sie haben bei der sogenannten Steuerreform die Großen um ein Mehrfaches stärker entlastet als die Masse der Steuerzahler. Sie haben für die Frühpensionierung von 1 200 Offizieren weit mehr als eine halbe Milliarde DM bewilligt, gleichzeitig aber den Müttern, die im Krieg und in der Nachkriegszeit Kinder geboren und aufgezogen haben, die Anerkennung des Erziehungsjahres verweigert.
Sie diskutieren unentwegt ernsthaft über eine Senkung des Spitzensteuersatzes für höchste Einkommen und müssen sich gleichzeitig von den Wohlfahrtsverbänden, etwa vom Deutschen Roten Kreuz, an dessen Spitze ein früherer Fraktionskollege von Ihnen steht, sagen lassen, daß seit 1982 in immer rascherem Tempo eine neue Armut um sich greift.Herr Bundeskanzler, zur Belastung der breiten Schichten haben Sie die Kraft. Aber die Kraft, die von Ihnen vor der Wahl versprochene Abgabe von den hohen Einkommen zu erheben, haben Sie nicht. In diesem Zwiespalt liegt die soziale Ungerechtigkeit Ihrer Politik.
Das ist schlimm genug.
Schlimmer noch ist, daß Sie unter Berufung auf die Arbeitslosigkeit soziale Schutzrechte abbauen, die sich die Arbeitnehmer im Lauf von Jahrzehnten erkämpft haben: Sie setzen den Kündigungsschutz durch die schrankenlose Zulassung befristeter Arbeitsverträge für viele Arbeitnehmer außer Kraft.
Sie weiten die Leiharbeit aus, die den Arbeitnehmer zu einer Art Verfügungsmasse degradiert. Und Sie mindern den Schutz der Arbeitnehmer bei Betriebsstillegungen dadurch, daß Sie die Pflicht zum Abschluß von Sozialplänen einschneidend reduziert haben.Dr. Waigel [CDU/CSU]: Weil das Verfassungsgericht es verlangt hat!)Am schlimmsten aber ist Ihre Doppelstrategie gegenüber den Gewerkschaften. Herr Bundeskanzler, es ist Ihr Geheimnis, wie Sie vertrauensvoll mit Gewerkschaften zusammenarbeiten wollen, die Sie gleichzeitig durch Ihre Novelle zum Betriebsverfassungsgesetz — also durch die Zulassung von Splitterlisten und durch die Einführung eines Konkurrenzbetriebsrats in Gestalt der Sprecherausschüsse — spalten wollen —, dies übrigens, sogar gegen den Rat der Arbeitgeber, die diese Ihre Pläne ebenfalls ablehnen.
Es ist Ihr Geheimnis, wie Sie mit einer Gewerkschaft vertrauensvoll zusammenarbeiten wollen, die Sie gleichzeitig durch eine Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes für künftige Arbeitskämpfe schwächen und — wenn es nach Ihrem Bundeswirtschaftsminister geht — durch die Beseitigung der Verbindlichkeit von Tarifverträgen geradezu überflüssig machen wollen. Das ist die Politik, die die Solidarität und die Gemeinsamkeit aufkündigt und durch die Vereinzelung des Arbeitnehmers ersetzen will, weil der einzelne schwächer ist.
Es ist Ihr Geheimnis, wie Sie mit Gewerkschaften vertrauensvoll zusammenarbeiten wollen, die Ihr famoser Generalsekretär in einer Art und Weise beschimpft, die an die Schmähungen gegen die Gewerkschaften und die Sozialdemokraten durch die Kommunisten in den 30er Jahren erinnert.
Jene sprachen damals von Sozialfaschisten. Dieser Herr spricht von Sozialdemagogen. In der Gehässigkeit des Angriffs gegen die Gewerkschaften ist da kaum ein Unterschied.
Herr Bundeskanzler, hier sind Sie selbst gefordert. Hier geht es um den sozialen Konsens, um einen Konsens, der von Konrad Adenauer und Hans Böckler in der klassischen Auseinandersetzung um die Montan-Mitbestimmung, die mit unserer Hilfe Gesetz geworden ist, weil sich ein großer Teil Ihrer Fraktion damals verweigert hat, begründet worden ist, um einen Konsens, der sich seitdem
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Dr. Vogelauch in kritischen Situationen bewährt hat, um einen Konsens, dem die Bundesrepublik einen guten Teil ihrer bisherigen Stabilität verdankt. Wer auch hier, auf diesem Feld, einen Geißler wüten läßt, wer glaubt, er könne das Rad der Geschichte gerade an dieser Stelle zurückdrehen, versündigt sich an unserer Gemeinschaft und an dieser Bundesrepublik.
Ich sage Ihnen, gestützt auf die Wahlergebnisse der letzten Zeit: Wer auf diesem Feld des sozialen Konsenses weiter Wind sät, wird Sturm ernten, stärker noch als an der Saar und an Rhein und Ruhr.
Ich sagte, es ist Ihr Geheimnis, wie Sie mit Gewerkschaften vertrauensvoll zusammenarbeiten wollen, die Sie gleichzeitig derartig provozieren. Es spricht für das Verantwortungsbewußtsein der Gewerkschaften, daß sich diese heute abend mit Ihnen dennoch an einen Tisch setzen.
Ich sage für die Sozialdemokraten: Wir wünschen dieser Begegnung im Interesse der Millionen Arbeitslosen Erfolg — im Interesse der Millionen Arbeitslosen!
Aber, Herr Bundeskanzler, eine solche Begegnung kann nur Erfolg haben, wenn Sie Ihre Politik ändern. Sie kann nur Erfolg haben, wenn Sie vor allem den Entwurf des sogenannten Neutralitätssicherungsgesetzes — das ist auch so ein Wort aus der Neusprache — vom Tisch nehmen, der jetzt in den Koalitionsfraktionen kursiert und die Gewerkschaften geradezu strangulieren will.
Sie können heute abend nur Erfolg haben, wenn Sie sich, so wie die Sozialausschüsse in Ihrer Partei — aber die stehen da ganz allein —, eindeutig von Vorschlägen distanzieren, die Angriffsaussperrung gesetzlich anzuerkennen, Warnstreiks einzuschränken, und wenn Sie vor allen Dingen der staatlich angeordneten Zwangsschlichtung von Arbeitskämpfen eine klare und nicht nur eine unbestimmte, verwaschene Absage erteilen.
Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen voraus: Nur so können Sie verhindern, daß das heutige Gespräch, das wir — ich sage es noch einmal — im Interesse der Arbeitslosen begrüßen, bestehende Kontroversen verschärft, statt sie zu vermindern. Oder wie der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der Kollege Ernst Breit, nicht ohne Grund befürchtet, als Versuch verstanden wird — dies würde die Möglichkeiten der Gespräche für die Zukunft mit einer schweren Hypothek belasten —, „Zeit zu gewinnen, sich ein Alibi für eigene Untätigkeit zu verschaffen und Proteste zu unterlaufen". Ich glaube, Ernst Breit weiß, wovon er spricht, wenn er diese Befürchtung äußert. Ich sage Ihnen, HerrBundeskanzler: Wenn Sie diese Herausforderungen nicht zurücknehmen, dann brauchen Sie sich doch nicht zu wundern, daß die Gewerkschaften schon jetzt eine Protestwoche ankündigen und vorbereiten. Das ist doch Notwehr gegenüber solchen Angriffen.
Wir setzen Ihrer Politik des sozialen Unrechts unsere sozialdemokratische Alternative entgegen, eine Alternative, die unser ganzes Volk zu einer großen solidarischen Anstrengung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zusammenführt. Wir Sozialdemokraten haben Vertrauen in unser Volk. Wir wissen: Unser Volk hat genug Willenskraft, und unser Volk hat auch die materielle Kraft, um die Arbeitslosigkeit fühlbar zu senken. Wir sind trotz aller Schwierigkeiten kein armes Volk. Im Vergleich zu den meisten Ländern der Welt sind wir reich, zumindest aber wohlhabend. Diejenigen in unserem Volk, denen es gutgeht, wollen in ihrer übrgroßen Mehrheit auch gar nicht, daß es anderen schlechtgeht. Und sie wollen schon gar nicht, daß es ihnen auf Kosten der anderen in unserem Volk gutgeht.
Deshalb, Herr Bundeskanzler, werden Sie mit dem Konzept der Zwei-Drittel-Gesellschaft ebenso scheitern, wie die Konservativen in Großbritannien mit diesem Konzept bereits in katastrophaler Weise gescheitert sind.
Sie werden scheitern mit einem Konzept, das die meisten derer, die die Hilfe unserer Gesellschaft brauchen, ohne diese Hilfe läßt und das nach wie vor auch die Familien benachteiligt. Sie haben nämlich gar keinen Anlaß, sich als familienpolitische Wohltäter zu feiern. Zu Recht hat Ihnen der Familienbund deutscher Katholiken in einer Stellungnahme vorgeworfen, daß Sie den Familien ab 1986 nur einen Bruchteil dessen zurückgeben, was Sie den Familien vorher seit 1982 genommen haben. Das ist doch Täuschung.
Gegenüber Ihrem Konzept gilt es, die Kraft unserer Gesellschaft zu bündeln und auf die entscheidenden Punkte zu lenken. Zu diesem Zweck muß von der Politik endlich wieder Führung ausgehen, und zwar Führung zugunsten der Schwächeren, zugunsten derer, die sich nicht selbst helfen können, die auf die Hilfe der Stärkeren, auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesen sind. Darum geht es, nicht um die abstrakte Frage nach mehr oder weniger Staat. Es geht um das soziale Grundprinzip und den Sozialstaatsauftrag unserer Verfassung. Das ist das Thema, nicht eine abstrakte Staatsdebatte.
Das sind die wesentlichen Elemente unserer Alternative, von denen sich die wichtigsten auch schon in unserem Antrag vom 30. Mai 1985 finden:
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Dr. VogelErstens eine weitere kontinuierliche Arbeitszeitverkürzung. Herr Bundeskanzler, die gegen Ihren persönlichen erbitterten Widerstand im Sommer 1984 von den deutschen Gewerkschaften durchgesetzten Verkürzungen der Arbeitszeit haben nach objektivem Urteil über 100 000 neue Arbeitsplätze gebracht. Das sind im wesentlichen die zusätzlichen neuen Arbeitsplätze, auf die sich jetzt Herr Stoltenberg und Herr Bangemann als Erfolg ihrer Politik ständig berufen.
Es ist ein Erfolg, den verantwortungsbewußte deutsche Gewerkschaften, denen die Hilfe für arbeitslose Kollegen wichtiger war als eine Lohnerhöhung, die angeboten war; ein Erfolg durchgesetzt gegen den Widerstand der Herren auf dieser Bank.
Zweitens die Stärkung der Massenkaufkraft durch die Beseitigung der schlimmsten sozialen Ungerechtigkeiten und durch eine Lohnpolitik, die zumindest weiteren realen Einkommensverlusten vorbeugt. Wir haben gestern mit Interesse gehört, daß Herr Stoltenberg, wenn ich das richtig verstanden habe, die Gewerkschaften zu kräftigen Lohnforderungen bei der nächsten Runde ermuntert hat. Die Gewerkschaften werden das gehört haben.Drittens die verstärkte Förderung der Mittel- und Kleinbetriebe, insbesondere auch auf dem Dienstleistungssektor. Es muß eine Lösung dafür gefunden werden, daß Klein- und Mittelbetriebe, die nicht kontinuierlich investieren, sondern in einem Jahr eine große Investition haben, dann zwei, drei Jahre keine, dieselben steuerlichen Möglichkeiten bekommen wie der Großbetrieb mit einer durchgehenden Investitionsbreite.
Viertens die Schaffung des Sondervermögens „Arbeit und Umwelt" und die Steigerung der öffentlichen Investitionen auf allen Ebenen. Es ist wieder Ihr Geheimnis, Herr Stoltenberg, wie Sie gegen das Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" polemisieren können, während Sie gleichzeitig halbherzig und klein dieses Programm zu kopieren versuchen und in bestimmten Etattiteln in unzulänglicher Höhe genau das tun, was Sie bei uns kritisieren.
Wir fordern weiter Unterstützung von örtlichen Sonderprogrammen und von Eigeninitiativen für zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten. Warum können wir uns nicht verständigen — meinetwegen auf der Grundlage der katholischen Soziallehre —, daß wir denen, die den Genossenschaftsgedanken wiederbeleben, die selber etwas tun wollen, in verstärktem Maße helfen, daß sie durch Eigenanstrengung vorankommen? Das ist auch eine Frage der Lebenskultur.
Wir fordern sechstens eine gemeinsame Anstrengung zur besseren beruflichen Qualifizierung der Arbeitslosen, aber auch der Arbeitnehmer insgesamt. Unsere sozialdemokratische Alternative setztden verstärkten Einsatz umweltfreundlicher, sozial verträglicher Technologien, einen kontinuierlichen Strukturwandel und eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung voraus. Ich sage Ihnen: Die großen Veränderungen, die in den Betrieben auf Grund der technologischen Sprünge Platz greifen, etwa auf dem Gebiet der Roboter und der Mikroprozessoren, werden wir nur bewältigen, wenn die Mitverantwortung der Arbeitnehmer auf diesen Bereich ausgedehnt wird. Wir haben Krisen überall da am besten überstanden, wo die Arbeitnehmer Mitwirkung und Mitverantwortung hatten. Das gilt auch für dieses Gebiet.
Denken Sie einmal darüber nach, wie Konrad Adenauer und damals die Maßgebenden in der Kohlewirtschaft die Arbeitnehmer geradezu gebeten haben, in der Montanindustrie Mitbestimmung und Mitverantwortung zu übernehmen, um die Demontagen abzuwenden. Das war eine Herausforderung, bei der man nach den Arbeitnehmern gerufen hat. Ich sage: Die technologischen Entwicklungen, die vor uns liegen, sind mindestens eine ebenso große Herausforderung. Es ist ein Gebot der Vernunft, genauso zu verfahren.
Unsere Alternative bejaht Wachstum, das sich am sozialen Nutzen und an der Lebensqualität orientiert. Sie bejaht, meine Damen und Herren — Ihre Polemik, Herr Stoltenberg geht völlig ins Leere —, den Markt, aber als dienendes Instrument, nicht als Dogma. Wir akzeptieren natürlich nicht die Formel, die Marktwirtschaft sei die in die Wirtschaft übertragene Form der Demokratie. Demokratie lebt davon, daß jeder Bürger das gleiche Recht und die gleiche Möglichkeit hat. Wollen Sie ernsthaft behaupten, daß die wirtschaftlich Starken, die über Kapital verfügen, auf dem Gebiet der Marktauseinandersetzung in einem Atemzug mit denen genannt werden können, die nur ihre Arbeitskraft am Markt anbieten? Was ist denn das für ein Demokratieverständnis?
Wir bejahen den Markt als dienendes Instrument, aber wir begnügen uns nicht damit, wie Sie es tun, allein auf die angeblichen Selbstheilungskräfte des Marktes zu vertrauen und die Dinge einfach treiben zu lassen.Wir greifen mit unserer Alternative dort ein, wo der Markt — ich wiederhole das — blind und gefühllos ist. Johannes Rau hat doch recht, wenn er konkretere Rahmenbedingungen fordert, wenn er sagt, daß der Markt für sich weder auf die soziale Gerechtigkeit noch auf die Umwelt Rücksicht nimmt.
Wo wären wir mit dem sozialen Zustand unserer Gesellschaft, wenn noch die Marktbedingungen des späten 19. Jahrhunderts gelten würden? Lesen Sie wenigstens einmal bei Nell-Breuning nach, bevor
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Dr. VogelSie einen solchen Unsinn unter die Leute bringen und Johannes Rau deswegen attackieren.
Unsere sozialdemokratische Initiative ist auch finanzierbar, einmal durch steuerliche Maßnahmen, für die wir bereits konkrete Anträge eingebracht haben und die, anders als Ihre das tun, eben nicht die breiten Schichten, sondern vor allem die hohen und sehr hohen Einkommen belasten. Zum anderen durch den Gesetzentwurf zur Verbesserung der kommunalen Finanzen. Das, Herr Kollege Stoltenberg, was Sie gestern in der Replik auf Herrn Apel über den finanziellen Zustand der deutschen Städte und Gemeinden gesagt haben, kann einen erfahrenen Kommunalpolitiker nur zu Ausbrüchen verzweifelter Heiterkeit veranlassen.
Ich gebe den deutschen Bürgermeistern und Städtevertretern den Rat, einmal bei einer Stoltenbergschen Versammlung mit derselben Lautstärke aufzutreten wie die schleswig-holsteinischen Bauern. Vielleicht lernt dann der Herr Bundesfinanzminister seine Lektion über die Kommunalfinanzen.
Unsere Initiative ist finanzierbar durch einen geringen Zuschlag auf den Energieverbrauch zur Grundfinanzierung des Sondervermögens „Arbeit und Umwelt", was noch den guten Nebeneffekt hätte, daß der Energieverbrauch noch sparsamer gehandhabt würde — das ist nämlich auch ein zentrales Problem —,
durch die Beschränkung der Verteidigungsausgaben auf den prozentualen Stand des Jahres 1983
und durch die Mehreinnahmen und Minderausgaben, die sich durch jeden zusätzlichen Arbeitsplatz in einer Höhe von durchschnittlich 24 000 DM ergeben.Wir Sozialdemokraten — wir sprechen für mindestens 40 % dieses Volkes — sind bereit, für die Verwirklichung dieser Alternative die Verantwortung zu übernehmen. Wir sind bereit, sie schon jetzt mit allen zu erörtern, die Verantwortung tragen, mit den Gewerkschaften, den Arbeitgebern und trotz Ihrer ewigen Verweigerungs- und Neinsagenhaltung gegenüber unseren bisherigen Gesprächsangeboten auch mit der Koalition. Ich sage in dieser Debatte: Die deutsche Opposition ist bereit, mit Ihnen zu reden und nach Wegen zu suchen, wenn es um die Überwindung der Arbeitslosigkeit geht. Wir sind ohne Bedingungen gesprächsbereit.
Wir werden dann in solchen Gesprächen auch unseren Vorschlag vertiefen, die Kostenbelastung für lohnintensive Unternehmen, insbesondere auch für das Handwerk, dadurch zu mindern, daß die Beiträge der Unternehmen zu den Systemen der sozialen Sicherung nicht mehr nach der Lohnsumme, sondern nach der Wertschöpfung bemessen werden. Dies wäre ein Beitrag, um die Lohnnebenkosten für die lohnintensiven Betriebe zu reduzieren. Dies wäre auch eine beschäftigungsfreundliche Maßnahme.
Ihr Beitrag zu dieser ernsthaften Debatte besteht bisher nur darin, daß Sie sich mit dem dümmlichen Schlagwort von der Maschinensteuer jeder ernsthaften Diskussion dieser Frage, die das Handwerk tief beschäftigt, entziehen.
Wir werden außerdem dafür eintreten, im Rahmen einer wirklichen Steuerreform auch die steuerliche Benachteiligung des Arbeitseinsatzes gegenüber dem Kapitaleinsatz nicht von vornherein als tabu zu erklären.Ich sage noch einmal: Die Massenarbeitslosigkeit, die Spaltung unseres Volkes in solche, denen es gut oder doch erträglich geht, und in solche, die in Not absinken, ist kein Naturgesetz. Ein Volk wie das unsere, das — um nur ein Beispiel zu nennen — nach dem Krieg durch eine große Gemeinschaftsanstrengung binnen kurzer Zeit viele Millionen neue Wohnungen gebaut und so die Wohnungsnot überwunden hat, ein Volk, das dazu unter viel schwierigeren Umständen die Kraft hatte, kann auch die Not der Massenarbeitslosigkeit mildern, wenn die Verantwortlichen das wirklich wollen.
Übrigens, meine Damen und Herren, wollen wir uns nicht daran erinnern: Diese Wohnungsnot der Nachkriegsjahre ist doch nicht nur durch das freie Spiel der Kräfte und nicht einfach durch den Markt überwunden worden, sondern durch eine große gemeinsame Anstrengung unseres Volkes, durch Milliarden, die Bund, Länder und Gemeinden aus Gemeinschaftsmitteln planmäßig in den Wohnungsbau geleitet haben.
Wer kann eigentlich widersprechen, wenn gesagt wird: Wenn es möglich war, durch eine solche Gemeinschaftsanstrengung unter den damaligen schlimmen Verhältnissen die Wohnungsnot zu überwinden, warum haben wir nicht die Kraft, durch eine große Gemeinschaftsanstrengung auch auf die Herausforderung der Umweltzerstörung und auf die Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit durch planvolles Zusammenwirken der Gemeinschaft und der Kraft des einzelnen zu antworten? Wir werden nicht müde werden, für eine solche Anstrengung einzutreten.
Neben der zentralen Herausforderung der Arbeitslosigkeit muß in einer umfassenden politischen Diskussion — und um eine solche handelt es sich bei der ersten Lesung eines Haushaltsentwurfs, auch noch eine zweite zentrale Herausforderung angesprochen werden, nämlich die Friedens-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11455
Dr. Vogelsicherung. Auch hier — und ich sage es mit Bedauern — droht ein Bruch des Konsenses und der Kontinuität,
zu der Sie sich in Ihrer Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 bekannt haben. Er droht, Herr Bundeskanzler, weil angesichts der zunehmend heftiger werdenden Streitigkeiten außenpolitischer Art in Ihrer Koalition Ihr eigenes persönliches außenpolitisches Konzept mehr und mehr verschwimmt. Selbst Ihre Freunde wissen doch — jedenfalls in den befreundeten Redaktionsstuben — allmählich nicht mehr, was in Sachen SDI, Eureka, Oder-Neiße-Grenze oder hinsichtlich der berühmten neuen Phase der Ostpolitik eigentlich gilt. Auch Ihre Freunde wissen doch allmählich nicht mehr, ob die Deutschnationalen in Ihrer Fraktion, ob Herr Genscher oder ob Herr Teltschik das Sagen haben, ob Sie Ost-Berlin gerade mit Milliardenkrediten oder großzügigen Swing-Vereinbarungen — die großzügigste in der Geschichte des Swings ist von Ihnen vor wenigen Wochen unterschrieben worden — zur Seite stehen oder ob Sie die DDR-Führung als aggressiv und friedensfeindlich anprangern lassen. Das ist doch kein Konzept, das ist ein undurchschaubares Durcheinander und Gegeneinander, das sich in der Außenpolitik breitmacht.
Deswegen die erste Frage: Zu welcher Politik wollen Sie denn eigentlich unseren Konsens? Sie selbst haben diesen Konsens als wünschenswert bezeichnet, und ich stehe nicht an, Ihnen zuzustimmen: Er ist in zentralen außenpolitischen Fragen in der Tat wünschenswert, und keiner sollte sich dem Versuch, ihn zu erreichen, widersetzen. Aber der Bruch droht ja nicht nur wegen der Unklarheit Ihres Konzeptes; er droht auch deshalb, weil Sie in Ihrer Sorge vor weiteren Wahlniederlagen dazu übergehen, selbst die empfindlichsten außenpolitischen Themen zu rücksichtslosen Verleumdungen Ihrer politischen Gegner zu mißbrauchen.
Wie kritisch Herr Bundeskanzler, müssen Sie eigentlich Ihre eigene Lage einschätzen, wenn Ihnen nicht nur schon der Begriff „Oberlehrer" als eine Art Rettungsanker erscheint,
sondern wenn Sie auch Ihren Generalsekretär in Ihrem Auftrag politische Ansätze diffamieren lassen, die in nicht wenigen Punkten von Ihrem eigenen Außenminister, ja, von den Klügeren unter Ihren eigenen Parteifreunden kaum anders vertreten werden? Offenbar steht Ihnen das Wasser so sehr bis zum Hals, daß Sie nach jedem Strohhalm greifen, auch in der außenpolitischen Auseinandersetzung.
Wir lassen uns demgegenüber in unserem Kurs nicht beirren.
Wir bejahen das Bündnis als Mittel der Kriegsverhütung und damit auch als Mittel zur Sicherung unserer Gesellschaftsordnung, aber wir kämpfen auch im Bündnis mit aller Energie dafür, daß der wahnwitzige Rüstungswettlauf der Supermächte endlich zum Stehen kommt.
Dieser Wettlauf tötet ja Menschen nicht erst, wenn er zu einer Konfrontation führt. Dieser Wettlauf tötet schon jetzt tagtäglich viele Menschen, nämlich diejenigen, die in der Dritten Welt nicht an Hunger oder Krankheit sterben müßten, wenn ihnen auch nur mit einem Bruchteil der Rüstungsbillionen, die Jahr für Jahr für diesen Wettlauf ausgegeben werden, geholfen würde.
Deshalb sind wir auch klipp und klar gegen die Ausdehnung der Rüstung in den Weltraum. Wir bedauern den Versuch, der gestern angekündigt worden ist, weil er einen weiteren Schritt zur Ausdehnung der Rüstung in den Weltraum darstellt. Deshalb sind wir für den Stationierungsstopp, deshalb sind wir gegen chemische Waffen, deshalb unterstützen wir den Appell der sechs Staats- und Regierungschefs aus vier Kontinenten, die schon jetzt für mehr als ein Fünftel der Menschheit sprechen und die beiden Supermächte immer dringender auffordern, endlich mit dem Rüstungswettlauf innezuhalten.In dieser Diskussion, Herr Bundeskanzler, verwenden wir nicht ein Argument — nicht eines! —, das nicht namhafte und angesehene Amerikaner und wesentliche Teile des amerikanischen Volkes ebenso ins Feld führen. Unsere Diskussion hat mit Antiamerikanismus nichts zu tun; das wissen Sie ganz genau.
Mit dem Schlagwort „Antiamerikanismus" wollen Sie nur primitive Wahlpropaganda und Wahlpolemik betreiben.
Es geht Ihnen und vor allen Dingen Ihrem Generalsekretär hierbei nicht um Außenpolitik, sondern um die Diffamierung der Sozialdemokraten.Unsere Politik gewährleistet die Sicherheit unseres Landes. Wir geben der Bundeswehr, was sie zur Erfüllung ihres Auftrags braucht. Aber wir übernehmen nicht blind jede Bedrohungsbehauptung, mit deren Hilfe auch die unvernünftigsten Rüstungsforderungen durchgesetzt werden sollen.
Wir sind mehr denn je davon überzeugt, daß derRüstungswettlauf, das Aufhäufen immer neuer Ver-
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11456 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Dr. Vogelnichtungswaffen die Sicherheit nicht erhöht, sondern im Gegenteil unsere Sicherheit und die Sicherheit aller Völker insgesamt mehr und mehr gefährdet. Herr Bundeskanzler, sie sagen manchmal, der Herbst 1983 und die große Welle der Diskussionen, die durch unser Volk gegangen ist, seien vergessen. Herr Bundeskanzler, Sie irren. Millionen in unserem Volk sind tiefer denn je überzeugt, daß mehr Rüstung nicht automatisch mehr Sicherheit, sondern daß mehr Rüstung genauso weniger Sicherheit und mehr Gefahr bedeuten kann.
Wollen Sie übrigens im Ernst behaupten, die Welt oder gar wir hier in Mitteleuropa wären heute sicherer als im Oktober 1982? Reden Sie darüber, wenn Sie uns nicht glauben, einmal nicht bei großen öffentlichkeitswirksamen Auftritten, sondern in privaten Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern der DDR, die ihrem eigenen System weiß Gott kritisch gegenüberstehen. Reden Sie mit Leuten aus beiden Kirchen darüber, was sie zu dieser Politik des Rüstungswettlaufes und zu ihren Entscheidungen sagen. Es wäre es wert, darauf einmal Stunden zu verwenden.
Wir wissen: Die Friedenssicherung ist heute mehr denn je eine politische Aufgabe. Militärische Strategien und erst recht technische Entwicklungen haben sich der Politik unterzuordnen, nicht aber die Politik zu bestimmen. Vor allem kann und darf Technik, und sei sie noch so faszinierend, die Politik nicht ersetzen.Deshalb bejahen wir die Fortsetzung der von Willy Brandt eingeleiteten und von Helmut Schmidt fortgesetzten Entspannung. Wir brauchen von niemandem — und von Ihnen schon gar nicht — Belehrungen über die Unterschiede zwischen unserer Gesellschaftsordnung und der Gesellschaftsordnung der osteuropäischen Staaten. Wir wollen aber jede Gelegenheit nutzen, um das Gesprächs- und Beziehungsgeflecht über alle Unterschiede hinweg zu verstärken, Lösungen zu finden, die im beiderseitigen wohlverstandenen Selbstinteresse liegen, und so Mißtrauen und Argwohn abzubauen. Das ist der einzige Weg, um die Lebenssituation der Menschen zu verbessern — in den osteuropäischen Staaten und in der DDR, aber auch bei uns selber.
Wenn Ihre Propagandazentrale — so füge ich hinzu — unsere Gesprächskontakte mit osteuropäischen Führungen verteufelt, dann seien Sie wenigstens so redlich und sagen unserem Volk, daß Sie jeden dieser Gesprächskontakte nützen, um diejenigen, die zu uns kommen, auch selber als Gesprächspartner im Auswärtigen Amt oder in Ihrer Fraktion zu empfangen. Es ist Heuchelei, uns diese Kontakte vorzuwerfen und sie selber — was wir begrüßen — für Ihre Zwecke auszunützen.
An dieser Fortsetzung der Politik der Entspannung arbeiten wir als Opposition. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Sie haben als Opposition die Schlußakte von Helsinki mit einer Begründung abgelehnt, deren Sie sich heute wahrscheinlich selber nicht mehr erinnern wollen oder deren sich die Klügeren vielleicht sogar schämen. Kluge in Ihren Reihen haben ja damals schon vergeblich dafür gekämpft, daß Sie der Schlußakte zustimmten. Wir haben als Opposition in Gesprächen mit der anderen Seite konkrete Vorschläge erarbeitet, wie beispielsweise Mitteleuropa von chemischen Waffen freigemacht und wie die Einhaltung dieser Verpflichtungen international an Ort und Stelle kontrolliert werden kann. Wir haben die neue Phase der Ostpolitik, von der der Bundesaußenminister Genscher jetzt häufig spricht, nicht nur gefordert. Wir haben uns vielmehr als Opposition auch bemüht, diese neue Phase mit konkreten Maßnahmen einzuleiten und zu fördern. Dies alles als prosowjetisch zu verteufeln ist absurd und kann nur verbogenen Gehirnwindungen, die durch lange Tätigkeit in einer bestimmten Funktion offenbar verbogen worden sind, einfallen. Widerspruch gegen das SDI-Programm als unmoralisch zu bezeichnen, wie dies der von mir eben beschriebene Herr tut, ist geradezu eine empörende Anmaßung, die ich mit Entschiedenheit zurückweise.
Kümmern Sie sich um die Moral in Ihrem eigenen Laden, und ersparen Sie unserem Volk Ihre anmaßenden moralischen Werturteile in einer Frage, die die Kirchen und alle Welt bewegt.
Übrigens, Herr Dregger hat sich doch selbst auch für einen Abzug chemischer Waffen aus der Bundesrepublik und gegen die Stationierung neuer Waffen dieser Art in Mitteleuropa ausgesprochen. Ist denn das auch prosowjetisch, Herr Kollege Dregger, oder ist Ihre Behauptung, Herr Weinberger habe Ihnen beides verbindlich zugesagt, antiamerikanisch, seitdem Herr Weinberger diese von Ihnen behauptete Zusage rundum bestreitet?
Gehört das auch in die Kategorie?Herr Bundeskanzler, schaffen Sie wenigstens auf diesem Gebiet endlich Klarheit. Wenn schon Ihr Fraktionsvorsitzender, was ich begrüße, den Abzug chemischer Waffen aus der Bundesrepublik begrüßt, warum nutzen Sie dann nicht die Chance, die das von uns initiierte Papier eröffnet? Gehen Sie doch auf die DDR-Regierung zu. Nehmen Sie doch diese Regierung beim Wort. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn auf diese Weise auch der Abzug chemischer Waffen aus der DDR — dies ist auch Gegenstand dieses Papiers — Wirklichkeit würde.
Noch in einem weiteren Punkt ist dringend Klarheit erforderlich. Das ist Ihre Haltung, Herr Bundeskanzler, und die Ihrer Regierung gegenüber der immer explosiveren Entwicklung in Südafrika. Hier bleiben die halbherzigen Äußerungen der Bundes-
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Dr. Vogelregierung und vor allem aus den Koalitionsfraktionen weit hinter den wesentlich entschiedeneren Beschlüssen des amerikanischen Kongresses zurück. Ihr Zögern, Herr Bundeskanzler, ist geeignet, bei den Machthabern in Pretoria gefährliche Illusionen hervorzurufen und die Glaubwürdigkeit und das Ansehen der deutschen Politik in ganz Afrika und darüber hinaus aufs Spiel zu setzen. Herr Bundeskanzler, wollen Sie wirklich als einer der Letzten erscheinen, der dem Apartheid-Regime in Pretoria mit Verständnis — einzelne aus Ihrer Fraktion sogar mit heimlichem Wohlwollen — begegnet? Es ist international schon schlimm genug, daß die Machthaber in Pretoria durch ihren Botschafter Ihre Haltung gegenüber der Apartheid ausdrücklich loben lassen und als ermutigend empfinden.
Herr Bundeskanzler, Sie sprechen gerne — d. h. in letzter Zeit nicht mehr so gerne — von der geistig-moralischen Erneuerung und der geistigen Führung, die Sie seit dem Oktober 1982 der Politik und unserem Volk zuteil werden lassen. Ich will das nicht vertiefen. Aber die positiven Impulse — wenn ich etwa an den 8. Mai denke — werden auf dem Gebiet der geistig-politischen Führung längst von anderen gegeben. Sie leisten zu diesem Thema wenig überzeugende und häufig negative Beiträge. Es sind — leider muß ich das sagen — nicht selten Beiträge zur geistig-moralischen Verunsicherung der Politik. Mit einigen Beispielen für solche Beiträge befassen wir uns bei anderen Gelegenheiten. Mit einem haben wir uns bei der Debatte am Dienstagnachmittag befaßt. Ich beschränke mich deshalb heute auf zwei Bemerkungen, wenn Sie so wollen: auf zwei Bitten.Die erste Bitte. Herr Bundeskanzler, bitte hören Sie auf, die Fragen der Reform des § 218 innerhalb Ihrer Partei zum Gegenstand von Gehorsamkeit oder Loyalitätsprüfungen oder von glatten Opportunitätserwägungen zu machen.
Für eine solche Vorgehensweise ist das Thema zu ernst.
Das Hin und Her, das gegenseitige Zu- und Abschieben von Verantwortung, die taktischen Spiele, die Sie, Ihre Fraktion und Ihre Ministerpräsidenten in diesem Zusammenhang zur Zeit tagtäglich öffentlich veranstalten, sind einfach peinlich und der Politik nicht würdig.
Ich sage hier für die Sozialdemokraten: Wer immer die Reform des § 218 ganz oder teilweise rückgängig machen will, wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen. Wir wissen, daß die Frauen in unserem Volk dabei über alle Parteigrenzen hinweg und weit bis in Ihr Lager hinein, bis in IhreFraktion hinein — ich respektiere das — auf unserer Seite stehen.
Wer hingegen im Rahmen des bestehenden Rechts Frauen konkret helfen will, in einer existentiellen Lage eine lebensbejahende Entscheidung zu treffen, der kann wie bisher mit unserer Unterstützung rechnen. Das ist unsere Aussage zu dieser Debatte.
Zweitens. Herr Bundeskanzler, streichen Sie bitte aus Ihrem Vokabular den Begriff „Kloakenjournalismus". Ludwig Erhard hat kritische Intellektuelle einmal als „Pinscher" bezeichnet;
das war kurz vor seinem Abgang. Sie, Herr Bundeskanzler, steigen mit Ihrer Schmähung eine Stufe tiefer. Auch das ist keine geistige Führung, sondern die beleidigte Reaktion eines Mannes, der sich der Auseinandersetzung in der Sache entzieht. Auch wir Sozialdemokraten sind durchaus nicht mit jeder öffentlichen Kritik einverstanden, die an uns geübt wird, auch wir setzen uns zur Wehr, wo wir es für geboten halten. Aber daß sich Journalisten in unserem Land mit Kloaken, wie Sie es ausdrücken, mit stinkendem Unrat, beschäftigen, das liegt doch wohl zunächst einmal daran, daß andere stinkenden Unrat produziert haben.
Manche Kloake wäre nicht geleert und gesäubert worden, wenn nicht Journalisten hartnäckig auf ihr Vorhandensein aufmerksam gemacht hätten.
Herr Bundeskanzler, wir haben Ihnen bei Ihrer Wahl das Vertrauen verweigert; Sie haben seitdem nichts getan, um dieses Vertrauen im nachhinein zu erwerben. Im Gegenteil, unsere Bedenken gegen Ihre Politik und unsere Bedenken gegen Ihre Amtsführung sind von Monat zu Monat gewachsen. Auch in unserem Volk haben Sie rapide an Ansehen und Vertrauen verloren, stärker als je ein Bundeskanzler seit 1949 vor Ihnen. Mit unserer Zustimmung zu dem von Ihnen vorgelegten Haushalt können Sie daher nicht rechnen. Wir sind nicht Ihnen, wir sind unserem Volke verpflichtet.
Deshalb ist und bleibt Ihre Ablösung und die Ablösung dieser Bundesregierung unser Ziel. Die von Ihnen proklamierte Wende muß zum Ende kommen. Diese Wende muß eine Episode bleiben, an die später einmal in der deutschen Geschichte nur noch eine Fußnote erinnert.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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11458 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Waigel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Vogel begann unter dem Motto „Heute wollen wir lustig sein", weil er der einzige ist, der glaubt, daß er lustig sein könne, wie er uns heute früh über die Presse mitgeteilt hat. Das Ganze setzte sich aber sehr schnell in der verzweifelten Heiterkeit fort, die sonst zu seinem Wesen gehört. Herr Kollege Dr. Vogel, es ist schon ein starkes Stück, wenn sich der Teilhaber und Mitverantwortliche an einem Konkursunternehmen kurz danach zum Generalstaatsanwalt über das aufwirft, was andere getan haben, um diese Not zu wenden, um bessere Verhältnisse wieder herzustellen.
Diese Regierung und diese Koalition werden länger dauern, als Sie sich das vorstellen, Herr Kollege Vogel, während Sie als Kanzlerkandidat der SPD schon zur Episode geworden sind.
Mit der Konjunktur geht es vorwärts und aufwärts, aber mit dem „Vorwärts" der SPD und Vogel geht es rückwärts und abwärts.
Das war nicht die erwartete Generalabrechnung durch den Oppositionsführer,
die wir eigentlich erwarten durften. Seine Rede und sein ganzes Auftreten offenbaren nur das ganze Elend und die Misere der SPD.
Statt des geforderten Rücktritts eines Ministers in dieser Woche gab es den realen Rücktritt des SPD-Schatzmeisters und die endgültige Demontage des Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel.
Während die Regierung in zweieinhalb Jahren ausgezeichnete, vorweisbare Arbeit und Erfolge gebracht hat, haben Sie sich, Herr Vogel, als Kanzlerkandidat und als Oppositionsführer in nur zweieinhalb Jahren total verbraucht. An Sie glaubt doch niemand mehr, nicht einmal die eigenen Freunde. Das war doch der letzte Pflichtbeifall, den Sie hier heute bekommen haben.
Aus den angekündigten und von Ihnen so propagierten bohrenden, präzisen Fragen ist nur eine Mischung aus Pathos, Ethos, Selbstgerechtigkeit, Unterstellung und Langweiligkeit geworden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Löffler?
Nein.
Sie gestatten grundsätzlich keine Zwischenfragen während der Rede?
Nein.Wer Sie so erlebt, der sehnt sich nach Herbert Wehner zurück, meine sehr verehrten Damen und Herren. Und ich kann mir vorstellen und kann mir denken, was er denkt, wenn er Sie so sieht. Nur, das sage ich nicht, damit ich hier keinen Ordnungsruf bekomme.
Ich weiß auch, daß ich mir mit dieser Kritik nicht den Beifall meiner Freunde hole. Mehrfach haben mir meine Freunde in Fraktion und Partei anempfohlen, mit Ihnen, Herr Dr. Vogel, doch pfleglicher umzugehen, weil Sie für uns eigentlich doch ein recht angenehmer Partner in der politischen Auseinandersetzung und ein Kanzlerkandidat gewesen sind,
der uns das Wahlkampfgeschäft etwas erleichtert hat.Aber, meine Damen und Herren von der SPD, eines wollen wir Ihnen sagen: Wir haben keine Angst vor Johannes Rau, und wir werden es ihm im Wahlkampf 1986/87 nicht gestatten, mit einigen Bibelsprüchen die Unfähigkeit der SPD hinsichtlich ihrer Regierungsfähigkeit zu verdecken.
Eigentlich wollte ich hier j a den Kollegen Dr. Vogel zum selbsternannten Generalstaatsanwalt ernennen, aber das hat mir natürlich der sehr geschätzte Kollege Wischnewski weggenommen. Er hat uns nämlich belehrt, daß es sich bei Hans-Jochen Vogel um einen Oberlehrer handele.
Aber ich finde diese Begriffsbestimmung nicht gut, weil es nämlich unter Oberlehrern sehr sympathische und pädagogisch begabte Menschen gibt.
und ich lasse es nicht zu, daß ein ganzer Berufsstand mit Dr. Vogel in einen Topf geworfen wird.
Die Rolle als selbsternannter Generalstaatsanwalt,Herr Dr. Vogel, haben Sie am Dienstag dieser Wo-
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Dr. Waigelehe schlecht gespielt. Diese Sondersitzung war unnötig, und sie war verfehlt.
Alle Probleme hätten in den entsprechenden Gremien, Ausschüssen
und in der PKK voll durchdiskutiert werden können. Sie wußten, daß Sie gegen den Innenminister nichts vorbringen können. Außer Unterstellungen, Verdächtigungen und haltlosen Behauptungen konnten Sie nichts vortragen. Es ist eigentlich unwürdig, damit den Rücktritt eines Ministers verbinden zu wollen. Mit politischer Moral und politischer Kultur, die Sie so gern propagieren, hatte das nichts zu tun.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Haushaltsdebatte in dieser Woche bietet die Gelegenheit, Bilanz zu ziehen über das, was die Koalition seit 1983 durchgesetzt hat und was sie auf den Weg bringt. Im Herbst 1982 waren die innerdeutschen Beziehungen zum Stillstand gekommen. Unser Verhältnis zu den Bündnispartnern war ins Zwielicht geraten, und unsere Sicherheitspolitik befand sich in einer Sackgasse.
In der Deutschlandpolitik wurden seither wichtige Erfolge erzielt. Mit Berlin geht es deutlich aufwärts. Das ist nicht zuletzt ein großartiger Erfolg der von uns dort gestalteten Regierung unter Bürgermeister Diepgen.
Die innerdeutsche Grenze ist zwar so undurchdringlich wie eh und je, aber die Todesautomaten SM 70 sind abgebaut. Die Umgangsformen an der Grenze und auf den Transitwegen sind erträglicher geworden. Zehntausende von Deutschen aus der DDR konnten ihren Wunsch nach Übersiedlung zu uns verwirklichen.Immer mehr Bürger der Bundesrepublik Deutschland reisen nach Mitteldeutschland und suchen dort Kontakt mit unseren Landsleuten. Herr Kollege Vogel, Sie haben gestern oder vorgestern über dpa mitteilen lassen, Sie seien „ohne Pomp und Aufwand" durch den Thüringer Wald spaziert, was zu ungläubigem Erstaunen der Bevölkerung geführt habe. Das ist eine Art und Weise, wie nur Sie etwas darstellen können. Ich habe den Kollegen Mischnick überraschend in Dresden getroffen. Auch das haben wir ohne Pomp und großen Aufwand getan. Nur: Die Menschen, die wir dort getroffen haben, haben uns ermutigt, an unserem Kurs, am Kurs der CDU/CSU, festzuhalten und auch die Wiedervereinigung und die Forderung nach Freiheit nicht zu vergessen.
— Natürlich wollen die weniger Raketen. Aber diewollen vor allem weniger Raketen auf dem Gebietder DDR. Sie sind daran interessiert, daß insgesamt Freiheit und Sicherheit in Europa und in der Welt gewährleistet sind.
Auch die Zahl der Reisen von Schülern hat Gott sei Dank zugenommen. Die DDR gestattet mehr Besuchsreisen. Auf vielen Gebieten werden weitere erfolgversprechende Verhandlungen geführt.
Dies sind nur einige Beispiele. Bei all dem haben wir unsere grundsätzlichen Positionen nicht aufgegeben. Der Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes wird als verpflichtendes Gebot anerkannt und nach innen wie nach außen vertreten. Die Forderungen nach Abbau des Schießbefehls, nach Gewährung von menschlichen Erleichterungen und nach Einhaltung der KSZE-Vereinbarungen sind weiterhin bestimmend für unsere deutschlandpolitischen Aktivitäten.Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung und der Bundesrepublik Deutschland ist wieder zuverlässig und berechenbar.Herr Kollege Dr. Vogel, wenn Sie den Kollegen Geißler in dieser unerträglichen Form attackieren, die ich zurückweise,
dann sollten Sie sich einmal mit seiner Dokumentation beschäftigen. Weisen Sie uns doch nach, daß eines der dort gebrachten Zitate nicht stimmt. Dann sind wir bereit, das zurückzunehmen.
Solange das stimmt, was Geißler in seiner Dokumentation vorlegt, müssen Sie sich damit beschäftigen, müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, daß Sie immer weiter abrücken von der Bindung zum Westen und immer näher in die Sympathiegegend derer kommen,
mit denen es letztlich keine Sicherheitspartnerschaft geben kann.
Die Bundesregierung hat das amerikanisch-deutsche Verhältnis sofort nach dem Regierungswechsel wieder auf eine positive Grundlage gestellt. Die deutsch-französische Freundschaft zählt zu den Grundpfeilern unserer Außenpolitik. Die Zusammenarbeit mit Frankreich wurde insbesondere im Bereich der gemeinsamen Forschung, aber auch auf privatwirtschaftlicher Ebene, so z. B. beim Airbus, intensiviert.
Die moralische Äquidistanz zu Moskau und Washington, diese gefährliche Geistesentwicklung in Ihren Reihen, gehört der Vergangenheit an, desglei-
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11460 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Dr. Waigelchen jeder Gedanke an einen „dritten Weg" zwischen West und Ost. Der Westen weiß wieder: Wir stehen im Lager der Freiheit und der Wertegemeinschaft des Westens und fühlen uns dieser Wertgemeinschaft uneingeschränkt verbunden.
Moskau hat sein politisches Ziel nicht erreicht, die Nordatlantische Allianz zu destabilisieren und zugleich unser demokratisches System in der Bundesrepublik Deutschland zu erschüttern. Die Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses hat zu keinem der prophezeiten Nachteile geführt. Weder droht Kriegsgefahr, noch ist eine Eiszeit zwischen Ost und West angebrochen. Vielmehr sind der Frieden sicherer und die internationale Lage stabiler geworden.
Die Sowjetunion hat ihre Verweigerungshaltung gegenüber Gesprächen mit den Vereinigten Staaten über Rüstungskontrolle und Abrüstung aufgegeben. Seit dem Frühjahr 1985 wird in Genf wieder verhandelt.Auch das Verteidigungsbewußtsein unserer Bürger wurde gestärkt. Der Dienst in der Bundeswehr ist Friedensdienst für unser Land und seine Bürger.
Nach dem jahrelangen Streit kam es endlich zu einer Neuordnung des Rechts der Wehrdienstverweigerung, die, was ich besonders hervorhebe, auch vor dem Bundesverfassungsgericht uneingeschränkt standgehalten hat.
In unserem Verhältnis zur Dritten Welt hat die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland eine Neuorientierung erfahren.
— Gott sei Dank. — Das Denken in ideologischen Scheuklappen hat realistischen Maximen wie „Hilfe zur Selbsthilfe", „Nutzung der Privatinitiative in den Entwicklungsländern" Platz gemacht.
Und der Entwicklungsetat wurde gesteigert.
In der Rechtspolitik ist die Bilanz in der Mitte der 10. Wahlperiode positiv — und dies, obwohl es in diesem Bereich auch Spannungen zwischen den Koalitionsparteien gibt.
— Sie sind ein Dummschwätzer.
— Wer mich als Sicherheitsrisiko für den Rechtsstaat bezeichnet, ist für mich ein Dummschwätzer, mit dem ich mich nicht näher abgebe.
Wer bei gewalttätigen Demonstrationen vermummt oder passiv bewaffnet auftritt, kann bestraft werden. Die Verwüstungen bei gewalttätigen Demonstrationen werden nunmehr in jedem Fall verfolgt. Wer Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beleidigt oder verunglimpft, wird nunmehr vom Staatsanwalt verfolgt, wie auch derjenige, der dies einem Opfer der an Deutschen begangenen Verbrechen antut.
Die Zumutungen, denen sich die Gefängnisärzte durch die Zwangsernährung terroristischer Häftlinge ausgesetzt sahen, sind beseitigt. Das Investitionshemmnis der sich jahrelang hinziehenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren anläßlich der Genehmigung von Großanlagen wurde beseitigt.
Die Rechtsunsicherheit hinsichtlich des Sozialplans im Konkurs ist beseitigt. Das Urheberrecht, der Schutz des geistigen Eigentums, ist der technischen Entwicklung angepaßt worden.
Das Adoptionsrecht wurde neu geregelt. Gleiches gilt für die Juristenausbildung.Vor der Verabschiedung — noch in dieser Legislaturperiode wird das stattfinden — stehen u. a. das Unterhaltsrecht im Scheidungsfolgenrecht, die Beseitigung weiterer Ungerechtigkeiten im Versorgungsausgleich, die Verbesserung der Rechtsstellung der Opfer von Straftaten, die Beschleunigung der gerichtlichen Verfahren durch Änderungen im Strafverfahrens- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie der Zivilprozeßordnung.Herr Kollege Dr. Vogel, ich will etwas zu diesem maßlosen Angriff sagen, den Sie gegen den Kanzler in dem Problembereich § 218 des Strafgesetzbuchs und § 200 der Reichsversicherungsordnung gefahren haben. Das ist ein schwieriges Thema. Es gibt auch bei uns darüber unterschiedliche Meinungen. Niemand wird dies vertuschen wollen. Aber über eines sollten wir uns doch im klaren sein. Mehr als 150 000 Indikationen aus sozialer Lage sind mit einem Sozial- und Wirtschaftsstaat unserer Stärke nicht vereinbar. Sie sind ein Ärgernis.
Ich frage Sie nach Ihrem Beitrag, dieses Ärgerniszu beseitigen. Wir haben erstmals wieder Familien-
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Dr. Waigelpolitik an die Spitze der Priorität gesellschaftspolitischer Aktivitäten gestellt.
Sie haben nichts getan, als sich zu verweigern und in den 70er Jahren durch Ihre Gesetze die Familie zu destabilisieren. Das war Ihr Beitrag zu diesem Thema.
Wir werden auch im Wirtschaftsrecht durch das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, durch ein Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften sowie durch eine kleine UWG-Novelle versuchen, die Dinge voranzubringen, wobei es bei der Kleinen UWG-Novelle
— Sie wissen doch gar nicht, was das ist —
vor allem darum geht, einen weiteren Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel zu verhindern.Auf innenpolitischem Gebiet sind an erster Stelle die Erfolge beim Schutz der Umwelt zu nennen. Wir sind auf die Erfolge und die Ergebnisse unserer Umweltschutzpolitik stolz und können uns damit sehen lassen.
Wir stehen damit an der Spitze vor anderen Völkern und brauchen uns von Ihnen, die Sie, Herr Dr. Vogel und Ihre Fraktion, auf diesem Gebiet in den 70er Jahren nichts beigetragen haben, keine Vorhaltungen machen zu lassen.
Unsere Maßnahmen reichen vom Erlaß der Großfeuerungsanlagen-Verordnung bis zur Durchsetzung der europäischen Einführung des umweltfreundlichen Autos.
Das Bundes-Immissionsschutzgesetz wurde durch die Verpflichtung ergänzt, auch die Altanlagen zu sanieren. Die technische Anleitung Luft wurde hinsichtlich der Immissionswerte geändert. Bezüglich der Emissionswerte liegt der Kabinettsbeschluß vor.Vor der Verabschiedung stehen so wichtige, durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kompliziert gewordene Vorhaben wie das Volkszählungsgesetz, die Gesetze über den fälschungssicheren Personalausweis und den Europapaß, die Novellierung des Datenschutzrechts und die durch das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts gebotenen Gesetzesänderungen.In der Sozialpolitik ging es zunächst einmal darum, die vorhandenen finanziellen Löcher zu stopfen und das System wieder mit dem gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögen in Einklang zu bringen. Trotz der nach wie vor beengten finanziellen Handlungsspielräume konnten auch in der Sozialpolitikneue beachtliche Akzente gesetzt werden. Ich denke dabei an die Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung und an den Einstieg in die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung.Herr Kollege Dr. Vogel, es ist zutiefst unredlich, daß Sie uns den Vorwurf machen, wir hätten die „Trümmerfrauen" hier nicht einbezogen.
In Ihrem entsprechenden Gesetzentwurf
Anfang der 70er Jahre waren sie auch nicht dabei, obwohl damals die Rentenkasse voll war und überschwoll, im Gegensatz zu heute, wo wir mit den Folgen Ihrer Politik zu kämpfen haben.
Sie wissen genauso wie wir, daß wir nichts lieber täten, als auch jenen Frauen das zu ermöglichen, und daß dies wünschenswert ist.
Sie wissen genauso wie wir, daß die finanziellen Mittel dafür in absehbarer Zeit nicht zur Verfügung stehen
und wir nur vor der Alternative stehen, entweder gar nichts zu tun oder jetzt den Einstieg für künftige Generationen herbeizuführen, und das tun wir.
Sie haben nichts getan und werfen uns vor, daß wir den Einstieg in eine große, neue soziale Dimension versuchen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch die Sicherung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung und der Altershilfe sowie die Verbesserung des Krankenversicherungsschutzes und die Wiedereinführung des Kindergeldes für arbeitslose Jugendliche ist gelungen. Nach jahrelangem Hin und Her gelang es auch, die Krankenhausfinanzierung auf eine neue Grundlage zu stellen, die auch den Anliegen der Kommunen und der Länder gerecht geworden ist.Die Familienpolitik — davon habe ich vorhin schon gesprochen — erhielt endlich wieder den ihr gebührenden Stellenwert und steht an erster Stelle unserer gesellschaftspolitischen Prioritäten: Die Steuerreform bringt erhebliche Verbesserungen beim steuerlichen Familienlastenausgleich mit sich. Einig ist sich die Koalition über die Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub. Das Gesetz
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11462 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Dr. Waigelüber die Bundesstiftung Mutter und Kind hat sich als Erfolg erwiesen.Weitere Eckpunkte unserer Sozialpolitik sind die Verbesserungen beim Wohngeld, die Verbesserungen bei der Sozialhilfe und das Gesetz zur Neuregelung des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit.
Die ursprünglichen Einschränkungen bei der unentgeltlichen Beförderung von Schwerbehinderten im öffentlichen Personennahverkehr haben wir rückgängig gemacht,
weil wir — ich gestehe das offen ein — die Folgewirkungen anfangs nicht voll übersehen haben.In den vergangenen Tagen hat der Begriff der politischen Verantwortung eine Rolle gespielt. Meine Damen und Herren, wenn man den Begriff der politischen Verantwortung wirklich in die politische Auseinandersetzung einführt, dann muß man es tun, wenn es um Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik geht. Dann muß man die Frage stellen: Wer hat die politische Verantwortung für die Probleme, die wir heute noch auf dem Arbeitsmarkt haben?
Die Opposition beklagt heute lautstark die Probleme auf dem Arbeitsmarkt, Probleme also, die in ihrer heutigen Dimension während der Zeit der Regierungsverantwortung der SPD entstanden sind. Heute versuchen Sie, im Bundestag den Eindruck zu erwecken, als hätten wir diese Arbeitsmarktprobleme zu verantworten.
Herr Kollege Dr. Vogel, blicken wir doch einmal auf das zurück, was sich in den letzten Jahren auf dem Arbeitsmarkt abgespielt hat.
Das Jahr 1982 schloß am 31. Dezember mit 2,23 Millionen Arbeitslosen ab. Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, daß diese über 2 Millionen Arbeitslosen die Arbeitslosen von Herrn Kohl, Herrn Stoltenberg oder Herrn Bangemann sind,
nachdem wir, die Koalition, gerade drei Monate zuvor die Regierungsverantwortung übernommen hatten.
Von 1974 bis Ende 1982 stieg die Zahl der Arbeitslosen von knapp 600 000 auf rund 2,3 Millionen an. eine „stolze", eine schlimme Bilanz, Herr Kollege Vogel, für die die damalige Regierungspartei SPD,die noch Anfang der 70er Jahre eine Vollbeschäftigungsgarantie abgegeben hatte,
die Verantwortung trägt. Meine Damen und Herren, diese Vollbeschäftigungsgarantie war eine der schlimmsten Zusagen, die politisch überhaupt je gegeben worden sind, weil der Staat sie in dieser Form nie und nimmer gewährleisten kann.
Heute suggeriert der Bundesgeschäftsführer der SPD, die Arbeitslosigkeit ließe sich mit den von der SPD angepriesenen Maßnahmen binnen kurzem um eine volle Million reduzieren, nämlich mit denselben Maßnahmen, die schon von 1974 bis 1982 den Anstieg der Arbeitslosenzahl um 1,6 Millionen nicht verhindern konnten.
Patentrezepte à la Glotz gibt es nicht.
Es ist mit unserer wirtschaftspolitischen Strategie gelungen, eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen. Das läßt sich eindeutig belegen.Erstens. Der rasante Anstieg der Arbeitslosigkeit — 1981 und 1982 waren es jahresdurchschnittlich jeweils über 40 % — konnte 1983 gebremst und 1984 gestoppt werden.Zweitens. Die Zahl der Kurzarbeiter, die von knapp 90 000 Ende der 70er Jahre auf rund 1,2 Millionen Anfang 1983 anstieg, ist seitdem wieder auf zuletzt 70 000 zurückgegangen.Drittens. Die Zahl der Beschäftigten — das muß man immer wieder sagen —, die zu Beginn der 80er Jahre um rund 1 Million gesunken war, nimmt seit Mitte 1984 wieder zu. Allein der Investitionsgütersektor beschäftigte im Juni 1985 über 100 000 Arbeitnehmer mehr als im vergleichbaren Vorjahresmonat. Dem steht jedoch leider ein Abbau von Arbeitsplätzen in der Bauwirtschaft gegenüber, die im Wohnungsbau vor strukturellen Veränderungen steht und die unter den in Ihrer Regierungszeit beschlossenen Kürzungen der öffentlichen Investitionen zu leiden hat, was wir durch unsere Maßnahmen, auch in diesem Haushalt, auszugleichen und wieder zu steigern versuchen.Viertens. Die Zahl der offenen Stellen ging bis 1983 auf rund 75 000 zurück: Seitdem steigt sie langsam, aber stetig. Im ersten Halbjahr 1985 konnten knapp 920 000 Arbeitslose neu auf einen Arbeitsplatz vermittelt werden.
Das waren annähernd 70 000 mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Dabei läuft, wie jeder weiß, ein Großteil der tatsächlichen Vermittlungen an den Arbeitsämtern vorbei. In einigen Regionen sind Fachkräfte nicht mehr zu bekommen. Vor einigen Jahren — Sie werden sich noch daran erinnern können -- erhob der SPD-Vorsitzende Willy Brandt uns gegenüber den Vorwurf, unsere Bildungspolitik führe dazu, daß Jugendliche nur zum Schlosser aus-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11463
Dr. Waigelgebildet werden könnten. Nun, Schlosser sind gesucht, junge arbeitslose Akademiker haben wir leider zuviel.
Damit komme ich zu einer Frage, die in den vergangenen Tagen und heute möglicherweise zu Mißverständnissen Anlaß gegeben hat, nämlich zur Aussagefähigkeit der Arbeitslosenstatistik.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Unternehmen über seine negativen Erfahrungen mit der Vermittlungstätigkeit der Arbeitsämter berichtet. Die Lektüre der Unternehmensberichte in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen gibt berechtigt Anlaß zu der Frage, ob es sich hier tatsächlich nur um minimale Randerscheinungen handelt. Was soll ich eigentlich einem Handwerksmeister oder dem Leiter eines kleinen Industriebetriebs aus dem Ruhrgebiet antworten, wenn er mir schreibt, es sei ihm trotz mehrwöchiger Bemühungen nicht gelungen, einen Facharbeiter für seinen Betrieb zu finden;
er könne die lautstarken Auseinandersetzungen der Politiker über Massenarbeitslosigkeit nicht mehr verstehen, wenn nicht einmal in Städten mit einer Arbeitslosenquote von 15 % Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden.
— Ich komme gleich darauf zurück. — Hier muß es doch auch an den Arbeitsämtern liegen, die nach meiner Überzeugung bei der gegenwärtigen Arbeitslage offensichtlich überfordert sind.
Man darf sich deshalb auch nicht wundern, wenn viele Unternehmen trotz eindringlichster Appelle seitens der Politik nicht mehr bereit sind, die bei ihnen vorhandenen offenen Stellen den Arbeitsämtern zu melden, obwohl das im Hinblick auf die Aussagekraft der Arbeitslosenstatistik von erheblicher Bedeutung wäre. Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie, heute beim Gespräch mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften auch dieses Problem noch einmal anzusprechen und die Unternehmen aufzufordern, die offenen Stellen, wo immer es geht, zu melden, damit die Aussagekraft der Zahlen eine andere wird, als wenn man immer nur magisch auf eine Zahl starrt.
Meine Damen und Herren, ich brauche in diesem Zusammenhang nur den SPD-Kollegen Buschfort, damals Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium und ehemaliger Bevollmächtigter der IG Metall, zu zitieren, der sich gegenüber der „Welt der Arbeit" vom 28. August 1980 zur Aussagekraft der Arbeitslosenstatistik wie folgt äußerte:Ich glaube, daß die Zahlen, die wir bekommen, von vorn bis hinten nicht stimmen.Damals wurde doch von Ihnen eine Kommissioneingesetzt, die zu dem Ergebnis kam, die Arbeitslosenstatistik enthalte eine Vielzahl sogenannter unechter Arbeitsloser, z. B. Rentenarbeitslose, Kindergeldarbeitslose, Nachtwandlerarbeitslose. So ist das, Herr Kollege Dr. Vogel. Auch für selbsternannte politische Generalstaatsanwälte gilt der Satz: Wer im Glashaus, soll nicht mit Steinen um sich werfen.
Die Zwischenbilanz der Finanz- und Wirtschaftspolitik der letzten drei Jahre kann sich sehen lassen.
— Das Gelächter der Grünen zeigt nur Ihre Ignoranz und wie wenig Sie dieses Thema ernstnehmen.
Ihr Gelächter und Ihr Auftreten werden spätestens bei der Rotation und allerspätestens bei der nächsten Wahl dazu führen, daß Sie sich wieder auf andere Weise Ihrem Broterwerb hingeben müssen, wenn Sie dazu in einem anderen Beruf überhaupt in der Lage sind.
Die Wirtschaft befindet sich wieder auf Wachstumskurs. Bei der Preisentwicklung haben wir das Stabilitätsziel praktisch erreicht. Auf dem Arbeitsmarkt ist eine Trendwende unverkennbar. Die Handelsbilanz weist Rekordüberschüsse auf. Bei der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wurden sowohl auf der Ebene des Bundes und der Länder, aber auch und vor allem bei den Kommunen erhebliche Fortschritte erzielt.Herr Kollege Dr. Vogel — —
— Jetzt hätte ich beinahe gesagt: Brav, Herr Oberlehrer, aber das will ich doch nicht tun.
— Das unterscheidet mich von Ihnen!
Der Kollege Dr. Vogel hat soeben gesagt: „Ihnen fällt immer wieder etwas Neues ein", und darauf habe ich gesagt: „Das unterscheidet mich von Ihnen."
Sie haben Gesetze gemacht, wo immer unten stand: „Kosten: Keine." Nur, meine Damen und Her-
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11464 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Dr. Waigelren, entstanden sind die Kosten bei den Ländern, bei den Kommunen, bei den Betroffenen.
Wir haben Gesetze gemacht, wo wir bei jedem Gesetz auch an die Länder und die Kommunen gedacht haben.
Das hat dazu geführt, daß sich mit unserer Konsolidierungspolitik nicht nur der Bund, sondern auch die Länder und die Kommunen entlastet haben. Es gibt dafür eine treffende Zahl.
Unter Ihrer Zeit war das Finanzierungsdefizit der Kommunen bis auf 11 Milliarden DM angewachsen; in unserer Zeit schließen sie mit plus minus Null, eher mit plus ab.
Das ist die schlagende Antwort auf Ihre völlig verfehlte Kritik.Meine Damen und Herren, eine Politik zur Stärkung der Wachstumskräfte ist und bleibt die wichtigste, wenn auch nicht die alleinige Voraussetzung zur Lösung der Beschäftigungsprobleme.
Doch bei der Frage des Wirtschaftswachstums zeigt sich innerhalb der SPD ein gespaltenes Verhältnis. Den einen sind die gegenwärtigen Wachstumsraten zu gering, gleichzeitig blockieren sie jedoch den Wachstumsprozeß, indem sie beispielsweise im Energiesektor Bau und Inbetriebnahme von Großprojekten verhindern, siehe Wackersdorf.
Es gibt in den Reihen der SPD aber auch Stimmen, mit Wachstum ließen sich die Arbeitsmarktprobleme heute nicht bewältigen.
Doch die scheinen vergessen zu haben, welche Folgen ein „Minuswachstum", also ein Rückgang des Sozialprodukts, wie wir es unter einer SPD-geführten Bundesregierung zu Beginn der 80er Jahre zu verzeichnen hatten, für den Arbeitsmarkt und für das Realeinkommen mit sich bringt.Ein weiteres Beispiel für diese Widersprüche in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der SPD bildet die Idee mit dem Sondervermögen „Arbeit und Umwelt". Wenn es um Löhne oder Renten geht, zählt die SPD zu den eindeutigen Verfechtern der Kaufkrafttheorie: Je höher die Zuwachsraten, um so größer die Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und um so stärker die konjunkturellen Antriebskräfte. Wenn es um staatliche Ausgabenprogramme oder aber um das Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" geht, dann läßt man die Kaufkrafttheorie schnell in der Schublade verschwinden, denn diese Maßnahmen sollen ja, nachdem sichauch in der SPD die fatalen Folgen einer ausufernden Staatsverschuldung herumgesprochen haben, durch Steuererhöhungen, Ergänzungsabgaben, Waldpfennig, Anhebung der Mineralölsteuer, Einführung einer Erdgas- und Stromverbrauchssteuer, also durch Entzug privater Kaufkraft, finanziert werden — alles nach dem falschen Motto: Eine vom Staat ausgegebene Mark hat einen größeren Beschäftigungseffekt als eine von einem Privaten, Rentner, Arbeitnehmer oder Unternehmer ausgegebene Mark. Doch eine derartige Staatsgläubigkeit läßt sich nur ideologisch begründen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die längste und schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte ist überwunden.
Allen Kritikern zum Trotz ist dies trotz der gleichzeitigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gelungen. Möglich war dies durch eine gegenüber früheren Jahren verstärkte Einbeziehung angebotsorientierter Elemente in die Wirtschaftspolitik. Dadurch haben sich die Rahmenbedingungen für private Investitionen, nämlich Verringerung der Steuerbelastung, spürbarer Rückgang der Zinsen, deutliche Erhöhung der Unternehmenserträge, verbessert. Diese Strategie hat sich als erfolgreich erwiesen.
Die private Investitionstätigkeit hat nach jahrelanger Stagnation wieder zugenommen. Private Investitionen sind zunehmend neben dem Export zur Hauptstütze der konjunkturellen Entwicklung geworden. Das ist gerade auch durch die jüngsten Veröffentlichungen des Ifo-Instituts bestätigt worden.Einige Kritiker unserer Strategie meinen, die Koalition würde zu einseitig auf die sogenannte Angebotspolitik setzen und nachfrageorientierte Elemente vernachlässigen. Dies ist falsch. Wir haben in den vergangenen Jahren in wichtigen Bereichen auch die öffentlichen Investitionen wieder angehoben, so z. B. beim Bundesfernstraßenbau und bei der Städtebauförderung.
Herr Kollege Dr. Vogel, wenn Sie beklagen, daß die öffentlichen Investitionen zurückgegangen sind,
dann sollten Sie sich an die Mahnung Ihres früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt erinnern, der Ihnen im Juni 1982 gesagt hat, daß Sie einen Teil der Sozialausgaben damit finanziert haben, daß Sie öffentliche Investitionen heruntergefahren haben zum Nachteil unserer Volkswirtschaft und zum Nachteil der Konjunktur.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11465
Herr Abgeordneter Senfft, der Redner hat vorher erklärt, daß er keine Zwischenfragen zuläßt.
Wir haben gerade beim Bundesfernstraßenbau, bei der Städtebauförderung, Stadtsanierung, Dorferneuerung, beim ERP-Haushalt und bei den Krediten der Kreditanstalt für Wiederaufbau die entsprechenden Voraussetzungen auch für eine gestiegene Nachfrage im öffentlichen Bereich geschaffen. Ähnliches gilt für die Stärkung der Massenkaufkraft durch die Reform des Lohn- und Einkommensteuertarifs. Auch die von uns beschlossenen Maßnahmen im Bereich der Sozialpolitik, so z. B. die Anhebung der Mittel beim Wohngeld und bei der Sozialhilfe, führen zu einer Stärkung der Kaufkraft in den unteren Einkommensschichten.Andere Kritiker unserer Strategie werfen der Koalition vor, es fehle an spezifischen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Auch das ist falsch. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit wurden erheblich intensiviert. Durch das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern wurde der Arbeitsmarkt ebenso entlastet wie durch das Vorruhestandsgesetz, das bei über 200 000 Tarifverträgen Anklang gefunden hat. Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist ein wichtiger Schritt
zur Beseitigung der zunehmenden Verkrustungen auf dem Arbeitsmarkt.Nun, meine Damen und Herren, was eigentlich hat die Opposition dieser Strategie entgegenzusetzen? Nicht viel. Die einen in der SPD — wie Herr Glotz — bedienen sich der Kraftmeierei und behaupten, die SPD als Garant der Vollbeschäftigung werde den Sockel der Arbeitslosigkeit schon innerhalb eines Jahres um eine Million senken, wobei seltsamerweise dieser Sockel unter den gleichen Kräften seit 1974 um 1,6 Millionen zugenommen hatte.
Die anderen — zu ihnen gehört Dr. Vogel — betreiben das Geschäft der Katastrophenmeldungen und der Horrorprognosen. Danach müßten wir, falls die Prognosen stimmten oder gestimmt hätten, heute bereits 5 Millionen Arbeitslose haben, und rund 50 % der Lehrstellenbewerber müßten keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
Sie wissen ganz genau, daß Ihre Horrormeldungen nicht eingetroffen sind und daß die Wirtschaft, die Gewerkschaften, das Handwerk und der Mittelstand durch eine großartige Gemeinschaftsleistung gerade auf dem Ausbildungsmarktsektor einen hervorragenden Erfolg erzielt haben, was ihnen der Staat nie und nimmer hätte abnehmen können.
Während die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der Bonner SPD-Fraktion offensichtlich nicht viel aus den Fehlern der 70er Jahre gelernt haben, scheint dies in einigen SPD-regierten Ländern anders zu sein. Dort hat man längst von der Forderung einer expansiven Finanzpolitik auf der Grundlage einer weiteren Zunahme der Neuverschuldung Abschied genommen.
Von dem im Wahlkampf von Oskar Lafontaine großspurig angekündigten Ausgabenprogramm ist bis heute noch nichts zu sehen. Nordrhein-Westfalens Finanzminister Posser scheint Presseberichten zufolge sogar zu einem Stoltenberg-Fan zu werden, was beim Charme des Bundesfinanzministers allerdings kein Wunder ist.
Posser wolle, so war zu lesen, angesichts der hohen Verschuldung mit erheblichen Zinslasten kräftig sparen, ein Vorhaben, meine Damen und Herren, das Herr Stoltenberg zum Ärger der SPD-Bundestagsfraktion seit 1983 mit Erfolg in die Tat umsetzt.Ich frage mich: Wie will die Opposition in der Haushaltspolitik Kompetenz nachweisen, wenn sie nicht einmal ihr eigenes Haus in Ordnung halten kann?
Meine Damen und Herren, wenn man zuviel Schulden gemacht hat, muß man — das gilt für die öffentlichen Hände ebenso wie für Privatleute oder politische Parteien — seinen Haushalt konsolidieren. „In dieser Situation gibt es nur die Möglichkeit konsequenter und solider Sparsamkeit." Dieser Satz von Hans-Jürgen Wischnewski sollte, in Stein gegossen, vor dem SPD-Fraktionssaal aufgestellt werden.
Ich habe dieser Mahnung eines Mannes, der offensichtlich versteht, mit Geld umzugehen, an den Herrn, den er mit „Oberlehrer" betitelt, nichts hinzuzufügen.Meine Damen und Herren, noch eine Randbemerkung: Wer über Vollbeschäftigung spricht, soll zuerst im eigenen Haus damit beginnen. Da kritisieren Sie von der SPD Unternehmen, die aus zwingenden betriebswirtschaftlichen Gründen Arbeitsplätze abbauen oder bei drohender Existenzgefährdung des Gesamtunternehmens Abteilungen oder Betriebsteile stillegen müssen.
Nur, meine Damen und Herren, diese Kritik nimmt Ihnen doch keiner ab, wenn Sie in Ihrem eigenen Haus genau das tun, was Sie anderen ständig vorwerfen, nämlich Arbeitsplätze vernichten. Wie ich dem gestrigen Interview des Kollegen Liedtke mit dem Bonner „General-Anzeiger" entnehmen konn-
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11466 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Dr. Waigelte, haben Sie 100 von 300 Mitarbeitern der Parteizentrale entlassen müssen.
Das sind 33%, eine schlimme Zahl für eine Partei, die sich als Garant der Vollbeschäftigung aufspielt und sich im Besitz beschäftigungspolitischer Patentrezepte wähnt.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen demgegenüber versichern: Die Arbeitsplätze in der Münchener Nymphenburger Straße und im KonradAdenauer-Haus sind sicher!
Meine Damen und Herren, als letzte Alternative bringt die SPD die Diskussion über die Arbeitszeitverkürzung. Aber selbst in dieser Frage scheinen die Fronten in der SPD zu bröckeln. Zumindest gab der von mir persönlich geschätzte Kollege Jens jüngst zu bedenken, ob die von den Gewerkschaften verfolgte Strategie der Arbeitszeitverkürzung wirklich dem gegenwärtigen Konjunkturverlauf angemessen sei. Herr Kollege Jens, diese Bedenken haben Bundesregierung und Koalition bereits im vergangenen Jahr vorgetragen. Ich freue mich, daß Sie zwischenzeitlich unsere diesbezüglichen Bedenken teilen.Wachstum bei Preisstabilität ist das Resultat unserer Wirtschaftspolitik — und dies bei einer Ausgangslage, die durch ein schrumpfendes Sozialprodukt und hohe Inflationsraten gekennzeichnet war. Die Steigerung der Lebenshaltungskosten um nur noch wenig über 2 % bedeutet praktisch Preisstabilität. Demgegenüber betrugen die Preissteigerungen im Jahresdurchschnitt im Jahr 1980 5,4 %, 1981 6,3% und 1982 immer noch 5,3 %. Damit verbunden war ein beträchtlicher Verfall der Kaufkraft von Arbeitnehmern und Rentnern.Meine Damen und Herren, ich sehe in der Preisstabilität die wichtigste soziale Errungenschaft unserer Politik.
Die kalte Enteignung der Sparer, der Rentner, der Arbeitnehmer hat damit aufgehört, und dank der sehr niedrigen Inflationsrate werden nunmehr auch wieder die Arbeitnehmer in den Genuß realer Einkommenssteigerungen gelangen.
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zur Bundesbank. Zu der Zeit, als die SPD Regierungsverantwortung trug, war das Verhältnis zur Bundesbank erheblich gestört, wie ja immer unabhängige Institutionen der SPD meist ein Dorn im Auge sind. Die Politik der Bundesbank hat dazu geführt, daß eine Entspannung auf den Kapitalmärkten eingetreten ist. Nur dadurch war es möglich, den Kapitalmarktzins von rund 9 % im Jahresdurchschnitt 1982 auf unter 6,5 % zurückzuführen. Heute haben wir zusammen mit Japan die stabilsten Preise, und wir haben gemeinsam mit der Schweiz die niedrigsten Leitzinsen. Durch diese enge Zusammenarbeit zwischen Notenbank und Bundesregierung ist es auch gelungen, das deutsche Zinsniveau vom US-Zinsniveau abzukoppeln.Das Internationale Vertrauen in unsere Währung hat auch der Notenbank wieder größeren Spielraum verschafft und eine weitere Senkung der Leitzinsen Mitte August ermöglicht. Sie haben das kritisiert. Auch uns wäre eine noch weitergehende Senkung lieber. Man muß aber auch den Zielkonflikt der Deutschen Bundesbank sehen, auf der einen Seite die Geldmenge für eine expandierende Konjunktur zur Verfügung zu stellen, auf der anderen Seite aber auch für die innere und äußere Stabilität unserer Währung zu sorgen.Wie in der Haushalts- und Beschäftigungspolitik spricht die SPD auch in der Steuerpolitik mit gespaltener Zunge. Was sie tatsächlich will, weiß keiner. Äußeres Kennzeichen dieser Entwicklung ist die Rolle des finanzpolitischen Sprechers Hans Apel. Gestern hielt der Kollege Apel die finanzpolitische Rede für die Opposition.
— Nein, Sie von den Grünen nehme ich als Opposition nicht ernst.Ich frage mich allerdings, Herr Kollege Apel: Was sind Ihre Aussagen noch wert? Wie steht es um Ihren Rückhalt in Ihrer Partei? Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, der finanzpolitische Sprecher, das Mitglied des Parteipräsidiums, einstmals Kronprinz unter Helmut Schmidt, soll jetzt von den SPD-Linken — wie es die „Süddeutsche Zeitung" ausdrückt — als „Repräsentant der Ehemaligen in der SPD" kaltgestellt werden. Mit Möller, Schiller, Schmidt, Apel, Matthöfer und Lahnstein schließt sich der Kreis der ehemaligen sozialdemokratischen Finanzminister, deren Rat heute in dieser Partei offensichtlich nicht mehr gesucht ist.
Wie sieht es nun wirklich mit den steuerpolitischen Vorstellungen der SPD aus? Der Kollege Jens hält es für erforderlich, die steuerliche Belastung der Unternehmen noch im Laufe dieser Legislaturperiode spürbar zu verringern. Meine Damen und Herren, ich hör' die Worte wohl, allein mir fehlt der Glaube. Peinlich ist auch die Anbiederung, die nun die SPD gegenüber dem Mittelstand mit dem Angebot einer steuerfreien Investitionsrücklage versucht, nachdem gerade diese Schicht jahrelang mit klassenkämpferischen Parolen überhäuft worden ist und die Neidparolen hier angesetzt worden sind.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11467
Dr. WaigelMeine Damen und Herren von der SPD, Sie spekulieren mit dem kurzen Gedächtnis des Mittelstandes; Sie werden dabei scheitern.
Glaubwürdiger sind die steuerpolitischen Vorstellungen, die auf der anderen Seite von der SPD, in Ihrem Lager, in den letzten Wochen und Monaten geäußert worden sind, nämlich Verzicht auf die geplante Reform des Lohn- und Einkommensteuertarifs zugunsten weiterer staatlicher Ausgabenprogramme und damit eine rasch ansteigende Steuerlast, vor allem für Arbeitnehmer und Familien, oder Einführung einer Ergänzungsabgabe, also einer Neid-Steuer, von sogenannten Besserverdienenden, womit wir dann endlich die steuerrechtliche Definition des Klassenbegriffs in der Bundesrepublik Deutschland hätten, eine Definition, die nicht einmal der Frankfurter Schule gelungen ist.
Zum anderen fordern Sie eine Erhöhung der Gewerbe- und Vermögensteuerbelastung für die Wirtschaft, Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuer, Erhöhung bestehender und Einführung neuer Energieverbrauchsteuern, Einführung von Umweltschutzabgaben und Waldpfennigen, Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe. Diese HorrorListe ließe sich beliebig fortführen.Meine Damen und Herren, wie will man einerseits die Reduzierung der Steuerbelastung fordern, wenn man mit dieser Horror-Liste von Steuererhöhungen auf der anderen Seite aufwartet.
Wir werden demgegenüber einen klaren steuerpolitischen Kurs verfolgen, der drei Schwerpunkte umfaßt: erstens die schrittweise Einführung eines linearen Tarifs bei der Lohn- und Einkommensteuer, zweitens — damit verbunden — die steuerliche Entlastung der Familie durch Freistellung des Existenzminimums der Kinder von der Lohn- und Einkommensteuer und drittens eine investitions- und beschäftigungsfördernde Reform der Unternehmensbesteuerung.Alle drei Ziele lassen sich nur schrittweise verwirklichen, aber wir haben bereits in der Mitte dieser Legislaturperiode auf allen drei Feldern wesentliche Weichenstellungen vorgenommen. Mit der Tarifreform entlasten wir vor allem Arbeitnehmer und den Mittelstand. Die Aufwendungen der Familie für ihre Kinder werden künftig zu einem Großteil nicht mehr besteuert. Die ertragsunabhängigen Steuern auf Schulden und Schuldzinsen und auf Betriebsvermögen sind gesenkt und die Abschreibungsbedingungen für Forschung und Entwicklung speziell für kleinere Betriebe sowie für gewerbliche Gebäude sind deutlich verbessert worden.Auch im internationalen Bereich sind wir unseren wirtschaftspolitischen Zielen ein gutes Stück nähergekommen. Alle westlichen Länder wissen heute um die Notwendigkeit, die Inflation zu bekämpfen, die Haushaltsdefizite zu reduzieren und auf eine Stärkung der Marktkräfte und eine Stimulierung der privaten Investitionstätigkeit hinzuwirken. Es müßte der SPD doch zu denken geben, daß Sie im internationalen Bereich, nicht einmal bei der sozialistisch geführten Regierung in Frankreich für ihre Konzeptionen heute noch Ansprechpartner besitzen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben bereits heute einen Großteil der in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 4. Mai 1983 angekündigten Vorhaben verwirklicht. Diese Koalition wird auch entschlossen die noch ausstehenden Gesetzesvorhaben durchsetzen. Dann können wir Ende 1986 diese Bilanz guten Gewissens vorlegen und Anfang 1987 mit ihr vor die Wähler treten. Dem Bundeskanzler, dem Bundesfinanzminister und den übrigen Kabinettskollegen gilt unser Dank, unser Respekt und unsere volle Unterstützung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schmidt .Schmidt (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Sprecher der Koalition haben in dieser Haushaltsdebatte wieder einmal zwei angebliche Erfolge ihrer Haushaltspolitik herausgestellt: erstens die Konsolidierung der Finanzen, zweitens den oft beschworenen Aufschwung. Zur Konsolidierung der Finanzen, die, nachdem Herr Stoltenberg uns gestern damit schon belästigt hat, Herr Waigel soeben wieder herausgestrichen hat, ist folgendes zu sagen.Es ist, meine Herren von der CDU/CSU, wohl nicht Ihr Verdienst, daß die Schulden des Staates begrenzt worden sind. Diese Politik ist j a wohl gemacht worden, indem in skandalöser Weise in die Einkommen der Leute hineingespart worden ist, die nicht zu Ihrer Klientel gehören. Die Einsparungen sind bei den Rentnern, bei den Sozialhilfeempfängern, bei den Auszubildenden und bei den Behinderten vorgenommen worden.
Ich hoffe sehr, daß der DGB bei dem Gespräch heute abend den Bundeskanzler mit aller Entschiedenheit auf diesen Sachverhalt aufmerksam machen wird.
Herr Vogel, ansonsten erwarte ich nicht viel von diesem Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und dem DGB. Denn was soll schon dabei herauskommen? Wenn es einen politischen Bereich gibt, wo diese Bundesregierung kalkulierbar ist, dann ist es die Sozialpolitik. In keinen Bereich ist so intensiv kontinuierlich hineingekürzt worden. 1982 haben Sie damit angefangen, bei den Rentnern, Sozialhilfeempfängern, Behinderten Milliardenbeträge wegzukürzen; dann haben Sie, Herr Kanzler, jahrelang Ihr Versprechen gebrochen, jedem jugendlichen Auszubildenden einen Lehrplatz zu stellen. Sie haben mit dem sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz zwar keinen neuen Arbeitsplatz ge-
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schaffen, aber dafür gesorgt, daß das Heuern und Feuern wieder Einkehr gehalten hat.Jetzt sind Sie dabei, leitende Angestellte und christliche Minigewerkschaften gegen den DGB in den Betrieben aufzurüsten, und für künftige Gesetze bestellen Ihre Wirtschaftsorganisationen und Regierungsstellen alle Monate neue Gutachten, die belegen sollen, daß die Streiks zu begrenzen sind und die Aussperrung auszuweiten ist. Gleichzeitig äußert sich mindestens zweimal im Monat Herr Bangemann und fordert, daß die Mindestlöhne schnellstens auf Hongkong-Niveau abgesenkt werden sollten.
Gleichzeitig registrieren Sie die Arbeitslosenzahlen nur noch als statistische Nullen und sind dabei, an der Statistik herumzumanipulieren. Am weitestgehenden tut das die CSU, die neuerdings vorschlägt, zwischen Haupt- und Nebenverdienern zu unterscheiden, was uns in fataler Weise an das Gesetz aus der Nazizeit gegen das Doppelverdienertum erinnert.
Kurz gesagt: Ihre Arbeits- und Sozialpolitik ist ein einziger Angriff gegen die gewerkschaftlichen Interessen und sozialen Belange. Deshalb hoffen wir, daß Ihr Versuch, den DGB zu sozialem Frieden zu überreden, heute abend gründlich scheitern wird. Denn das ist ja der Hintergrund dieser Gespräche: Es geht darum, auf den DGB einzuwirken, der Herbstaktion, die sich gegen die skandalöse Sparpolitik der Regierung wendet, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ich hoffe sehr, daß Sie auch mit dieser Absicht scheitern werden.Zweitens rühmt sich die Regierungskoalition damit, den Aufschwung herbeigeführt zu haben. Richtig ist daran, daß die industriellen Zentren überall einen konjunkturellen Aufschwung verzeichnen. Es ist nichts Neues, daß die Regierungsparteien in allen Ländern dies als Erfolg auf ihre Fahnen schreiben. Es ist in den USA, in Japan und in Großbritannien wie in der Bundesrepublik die konservative Partei, die sagt: unsere Politik hat den Aufschwung gebracht; in Frankreich, in Italien und in Schweden sind es die Sozialdemokraten und die Sozialisten, die behaupten, sie hätten den Aufschwung gebracht. Beides ist falsch, und beides ist nicht neu.An dieser Stelle ein offenes Wort an die Sozialdemokratie und zu dem — Sie, Herr Vogel, haben es heute wieder ausgeführt —, was die neue SPD alles anders und besser machen würde. Ich will Ihnen dazu folgendes sagen.Erstens. In einigen Bereichen glauben wir sehr wohl, daß Sie manches besser machen können. — Bei dieser Regierung gehört nicht viel dazu.
Zweitens. In einigen Bereichen wollen wir gar nicht, daß Sie es noch besser machen. Wir wollen nicht, daß Sie noch mehr die Exportindustrie ankurbeln und für die Schlacht auf den Weltmärkten fitmachen, damit noch mehr Länder der Dritten Welt darunter zu leiden haben.
Drittens. Sie betreiben eine erfolgreiche Werbung für eine ökologische und soziale Politik. Aber es häufen sich die Beispiele dafür, daß Sie, die SPD, nirgends tatsächlich eine andere Politik als hier auf Bundesebene praktizieren. Erstes Beispiel: Sie propagieren neuerdings — nachdem Sie in NRW den Einstieg gerade vollzogen haben — den Ausstieg aus der Plutoniumwirtschaft. Da trifft es sich gut, daß Sie nirgends diesen Ausstieg vollziehen müssen.
In Hessen gibt es den Herrn Steger. Der fragt einmal vorsichtig bei Herrn Zimmermann an, ob der eventuell die Hanauer Nuklearbetriebe stillegen könnte. Und als Herr Zimmermann nein sagt, sagt Herr Steger: Gut, dann ist die Sache für mich erledigt.
Dasselbe praktiziert — so fürchten wir — die Regierung in NRW mit Kalkar,
und es wird dort mit dem Bundesfernstraßenbau praktiziert. Man versucht, sich hinter dem breiten Buckel der konservativen Regierung zu verstekken.
Es geht bei dieser sogenannten neuen Politik der SPD im wesentlichen um eine Propagandaoffensive. Hinter verschlossenen Türen wird die andere Politik weiter fortgesetzt.
Dazu einige Beispiele.
Die SPD-Länder Hamburg und Bremen haben im Bundesrat dafür gestimmt, daß die Ausbaupläne für Wackersdorf mit Regionalförderung mit Milliardenbeträgen unterstützt werden. Oskar Lafontaine, der große Ökosozialist, hat sich der Stimme enthalten.
Das ist die Realität.
Das ist kein Einzelfall. Bremen hat — was Sie hier heute als Skandal bezeichnet haben, Herr Vogel — das Gesetz für die Frühpensionierung im Bundesrat mit Ja bevotet. Ebenso hat der Hamburger Senat — entgegen den Propagandalosungen gegen den Autobahnausbau — dem Ausbau der Autobahn nach Stade und Cuxhaven zugestimmt.
— Ja, Herr Schröder wird sich freuen, wenn er das hört. Aber so ist die doppelzüngige Politik. Das ist die Doppelstrategie, die wir derzeit bei der SPD sehen.
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Ähnlich verhält es sich mit dem, was Sie auch heute wieder als Programm „Arbeit und Umwelt" vorgestellt haben. Das ist ein wunderschönes Programm. Es steht nur auf dem Papier.Wenn wir uns anschauen, was in den SPD-Kommunen, was in den SPD-Ländern gemacht wird, stellen wir fest, daß genau das Gegenteil passiert. Nirgends werden Altlasten saniert, nirgends wird der Individualverkehr zurückgedrängt, nirgends werden Straßenbauprogramme gekappt,
und nirgends wird eine neue Energiepolitik betrieben. Die AKWs werden weiter aufgerüstet wie bisher.
In Hamburg, lieber Wolfgang Roth, sieht es so aus, daß vermutlich nirgends in der Bundesrepublik eine so brutale Sparpolitik betrieben wird.
Nirgends wird im öffentlichen Dienst so brutal gekürzt. Nirgends gibt es einen Regierungschef, der sich in so peinlicher Weise bei den Unternehmern anbiedert, ja die ganze Hansestadt dem Kapital als „Unternehmen Hamburg" anbietet.
Damit zurück zur Auseinandersetzung mit der Regierung in der Haushaltsdebatte. Das Wesentliche für die GRÜNEN ist nicht der Streit, ob Wachstum im Bereich des Bankenkapitals, des industriellen Kapitals, des Exportkapitals stattfindet oder nicht. Wichtig ist für uns, zu erkennen und darauf aufmerksam zu machen, daß Wachstum und Wohlstand immer weiter auseinanderfallen. Einerseits ist ja richtig, daß sich die Industrieproduktion seit 1983 um gut 10% vergrößert hat. Zugleich ist aber auch richtig, daß noch nie so viele Menschen arm gewesen sind. Es ist richtig, daß heute mehr Güter produziert werden als je zuvor.Zugleich ist aber richtig, daß es noch nie so viele Arbeitslose gegeben hat.
Das heißt, die Wirtschaft wächst; nur: die Leute haben nichts mehr davon.Andererseits — darauf weisen wir immer wieder hin — bedeutet ein Mehr an Industrieproduktion immer auch größere ökologische Schäden.
Nach Schätzungen der OECD müssen jährlich 3 bis 5% des Bruttosozialprodukts — das sind 50 Milliarden DM — aufgewendet werden, um die Schäden an Gebäuden usw. zu reparieren.Nach Schätzung der Forstwirtschaft werden in diesem Jahr rund 1,5 Millionen DM Schäden in diesem Wirtschaftszweig entstehen. Die Vermögensverluste bei einer 50%igen Waldschädigung betragen nach Schätzung der Forstwirtschaft um die 75 Milliarden DM, die als Belastung, als Schulden in den nächsten Jahren auf diesen Bereich der Volkswirtschaft zukommen werden.Als drittes Beispiel: Die Reparatur der Verseuchungen, die durch Giftmülldeponien entstehen und die zu reparieren dringlich ist, würde nach Schätzung von Experten 75 Milliarden DM kosten. Das sind Schulden, für die wir eines Tages werden geradestehen müssen.Deshalb sagen wir: je größer das Wachstum, desto größer die Schäden. Deswegen sagen wir, daß wir in vielen Bereichen dafür sind, daß nicht Wachstum herrscht, sondern daß zurückgeschraubt wird.Herr Waigel hat es eben wieder als bedrohlich an die Wand gemalt, daß man ein Minuswachstum anstreben könnte. Jawohl, Herr Waigel, wir stehen dazu: Wir wollen weniger Automobile, die die Straßen verstopfen und die Luft verpesten. Wir wollen weniger giftige Chemieprodukte, die auf den Weltmarkt geworfen werden; wir wollen die Umsätze der Verpackungsindustrie reduzieren, und wir wollen den Umsatz der Pharmaindustrie zurückschrauben.
Nicht zuletzt wollen wir, daß die Rüstungsindustrie keine Geschäfte mehr in der Bundesrepublik macht.
Ich weiß: Für alle Wachstumspolitiker wäre es eine Katastrophe, wenn diese Umsätze beschnitten würden, wenn es keine Giftweine mehr gäbe, die Dioxinproduktionen eingestellt würden, wenn es keine Einwegflaschen und keine Aufputschmittel und wenn es keine Tornados und Raketen mehr gäbe. Der ganze Aufschwung, auf den Sie so stolz sind, wäre dahin. Nur, Herr Waigel: Den Menschen würde es besser gehen, und das ist das Wesentliche.
Und mit dem Stichwort „Menschliches Wohlergehen" bin ich bei einem weiteren Thema, das uns hier beschäftigen sollte, weil es Millionen von Verbrauchern beschäftigt. Ich meine die Lebensmittelskandale und die Weinpanscherei. Die Regierung tut so, als habe sie damit nichts zu tun. Sie erklärt sich in diesem Bereich wie in vielen anderen für nicht zuständig, nicht verantwortlich. Und trotzdem sagen alle Experten, zumal die Winzer, daß die Regierung, j a daß alle Bonner Altparteien letztlich die Verantwortung dafür mitzutragen hätten, was dort an Giftmischerei stattgefunden hat. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern das sagt ein Experte, der jahrelang vor dem Mißbrauch, der mit dem Weingesetz möglich ist, gewarnt hat, ein badischer Winzer, der in der „Wirtschaftswoche" schreibt — ich zitiere —:Weinwirtschaft, Weinbauverbände, sogar Behörden und Politiker aller Parteien haben während der vergangenen 25 Jahre eine ganze Generation von Winzern zur Manipulation nicht nur verführt, sondern sogar gezwungen. Wer das Manipulieren lehrt, braucht sich nicht zu wundern, wenn daraus Verbrechen werden. Und nur auf einem Markt, dessen Konsumen-
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11470 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
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ten auf süßliche Billigweine getrimmt sind, konnten so grausame Fälscherprodukte verkauft werden.Und dieser Weinexperte fordert: Es bleibt die präzise Überarbeitung des bundesdeutschen Weingesetzes als Aufgabe. Und dabei sei darauf zu achten, daß die Lobby, die das weltmeisterliche Kunststück fertiggebracht hat, daß solche Skandale zugelassen wurden, ausgeschaltet wird.
Ich frage mich: Was ist denn nun die Lobby, die hier nach Meinung von Experten auszuschalten ist? Ist es nur die Lobby des Weingroßhandels selbst, die Pieroths, die Langguths und Rackes und wie sie alle heißen, oder gehört zu dieser Lobby nicht auch mancher Parlamentarier in diesem Hause, mancher pfälzische Parlamentarier zumal?
Und es drängt sich die Frage auf: Haben Sie, Herr Parteivorsitzender Kohl, auch von den Weinpanschern noch Spendengelder erhalten, und werden Sie auch dort noch behaupten, daß Sie Geld von diesen Giftmischern aus Profitsucht nur aus reinster Mildtätigkeit bekommen haben oder weil sich diese Herren Sorgen um den Fortbestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung gemacht haben?
Dieselbe Verantwortung finden wir im Bereich der Lebensmittelskandale. Auch dort ist es so, daß die Verantwortung der Regierung und der Gesetzgeber nicht bestritten werden kann. Am deutlichsten ist das am Fall der salmonellenvergifteten Hähnchen zu belegen. In der Zeitschrift „Öko-Test" vom September 1985 lese ich, daß das Gesundheitsministerium — das ist auch so eine Beschönigung — vor einiger Zeit eine Kosten-Nutzen-Analyse zur Salmonellenbekämpfung vorgelegt habe. In dieser Untersuchung wird berechnet, welche wirtschaftlichen Schäden durch Salmonellenvergiftungen entstehen und was es andererseits kosten würde, sie zu verhindern. Die Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß die jährlichen Schäden durch Salmonellenvergiftungen 160 Millionen DM betragen. Ein wirksamer Schutz vor Salmonellenvergiftung, so wird kalkuliert, würde 190 Millionen DM kosten. Offensichtliche Schlußfolgerung des Gesundheitsministeriums war: Dieser Verbraucherschutz kommt uns zu teuer. Also werden auch in diesem Jahr wieder 50 Menschen an dieser Vergiftung zugrunde gehen, und über 30 000 werden daran erkranken. Auch hier ist richtig: Durch die Einsparung dieser 190 Millionen DM wird der Aufschwung gesichert — aber ein Aufschwung, der über Leichen geht.
Zu zwei außenpolitischen Themen: Herr Vogel hat schon darauf hingewiesen, daß in diesen Tagen die Genfer Konferenz zur Überprüfung des sogenannten Atomsperrvertrages beginnt. Das gibt Anlaß, auch zu überprüfen, was die Bundesrepublik getan hat und die Bundesregierung tut, um zu einer Begrenzung der Rüstung beizutragen. Wir stellendazu fest: Die Bundesregierung beliefert seit Jahren Südafrika mit Atomtechnologie, desgleichen Indien und Pakistan, allesamt Staaten, die dem Atomwaffensperrvertrag ausdrücklich nicht zugestimmt haben. Zweitens bauen Sie die Plutoniumwirtschaft in der Bundesrepublik in Zusammenarbeit mit Frankreich aus, was ebenfalls ein Verstoß gegen den Geist dieses Vertrags ist.Gleichzeitig werden die Stimmen in den Koalitionsfraktionen immer lauter, die die Aufhebung dieses Sperrvertrags fordern und die gemeinsame westeuropäische Atomstreitmacht anstreben. Es ist kein Zufall, daß diese Politik betrieben wird. Denn 90 Unionsabgeordnete haben 1975 gegen diesen Atomsperrvertrag gestimmt. Bezeichnenderweise sitzen nicht weniger als sieben dieser Nein-Stimmer heute in der Regierung. Das kennzeichnet den angeblichen Abrüstungs- und Friedenskurs dieser Regierung.
Zum Schluß zu Afrika. Vor einigen Monaten gingen Bilder vom Hunger in Afrika um die Welt. Viele haben damals gespürt, daß auch wir Europäer mitverantwortlich für das sind, was dort passiert. Der Kanzler hat damals seine Verantwortung in der Weise dokumentiert, daß er 300 DM gespendet hat und sie sich dann anschließend aus dem Staatssäkkel hat erstatten lassen.Jetzt erreichen uns fast jeden Abend Bilder aus Südafrika, wie Menschen, die gegen Unterdrückung demonstrieren, verhaftet werden, gefoltert werden, geschlagen werden und zu Dutzenden ermordet werden. Und wieder sieht die Bundesregierung keine Verantwortung, zu sagen, was die deutsche Politik damit zu tun hat.Dabei sehen wir an den Fernsehbildern, wie die Bundesrepublik in diese Rassenpolitik verwickelt ist. Wir können bei den Razzien in den schwarzen Gettos abends sehen: Es sind deutsche Unimogs, die dort rollen; es sind Lkw von Daimler-Benz und von Magirus-Deutz; die Luftüberwachung übernimmt MBB mit Hubschraubern aus der Bundesrepublik;
das elektronische Gerät liefert Siemens; und die Munition stammt von Rheinmetall. All dies ist unbestritten.
Und Sie sagen gleichzeitig: Das geht uns Deutsche nichts an. In einer Situation, wo überall in der Welt Wirtschaftssanktionen gefordert werden, sagt die Regierung: Das geht uns nichts an. Sie denkt nur ans Geschäft.
Wie sollte Sie auch nicht? Alle deutschen Großkonzerne sind in Südafrika mit ihren Filialen vertreten. Die deutschen Atomkraftwerke werden zu 40% mit Uran aus Südafrika versorgt.Die Komplizenschaft mit der südafrikanischen Herrenrasse gibt es auch auf ideologischem Gebiet. Einzig mit der Bundesrepublik hat Südafrika ein
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Kulturabkommen. Es ist ein Skandal, daß das einzige Land, das heute noch Rassengesetze hat, mit dem Land Kulturabkommen macht, das dieses Rassengesetz in schrecklicher Weise erfunden hat.
Das ist der Gehalt der geistig-moralischen Wende dieser Regierung. Das ist die geistig-moralische Wende, die diese Bundesregierung als Begriff erfunden hat.
— Doch; das ist meine Meinung.
Es ist die geistig-moralische Wende, die sich am 8. Mai hier dokumentiert hat, indem die Feier zum 40. Jahrestag der Befreiung dazu genutzt worden . ist, die Mörder wieder hoffähig zu machen, Wehrmacht und Waffen-SS wieder aufzuwerten. Das ist die geistig-moralische Wende, die Sie betreiben.
Am 15. September, in wenigen Tagen also, jährt sich zum 50. Mal das Datum, wo die Nürnberger Rassengesetze erlassen worden sind. Und Sie schließen Kulturabkommen mit dem einzigen Staat auf der Welt, der heute noch Rassengesetze hat und auf Grund dieser Gesetze derzeit einen blutigen Terror ausübt.
Wir haben vor dieser geistig-moralischen Wende Angst, weil wir glauben, daß das, wenn auch vielleicht nicht in ein drittes Reich, so doch in ein viertes Reich führt, vor dem wir nicht weniger Angst haben.
Deswegen sage ich, obwohl ich kein besonderer Freund der Sozialdemokratie bin und auch überhaupt keine Neigung verspüre, mich in Regierungen hineinzubegeben: Wenn es eine Chance gibt, diese Regierung abzuwählen, so werden wir sie nutzen, dann gemeinsam mit der Sozialdemokratie.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir vorweg eine Bemerkung, eine persönliche Bemerkung zur Gesamtgestaltung von Haushaltsberatungen. Wenn wir in den nächsten Wochen über die parlamentarische Arbeit in diesem Hause sprechen,dann sollten wir uns, so meine ich, wenigstens überlegen, ob es bei ersten Lesungen der Haushalte auf Dauer sinnvoll ist, Generaldebatten in die Mitte zu legen, oder ob man sie lieber an den Anfang — wie früher — legt oder, was ich für besser hielte, am Ende durchführt, wenn zu den eigentlichen Sachbereichen Stellung genommen worden ist und man dann eine zusammenfassende Wertung vornehmen kann. So besteht durch das Auseinanderreißen verschiedener Themen natürlich immer die Gefahr, daß es Wiederholungen, Vorgriffe gibt, und der Gesamtzusammenhang, der notwendig ist, nicht in der erforderlichen Weise hergestellt wird. Ich wäre dankbar, wenn man eine solche Überlegung in die künftige Gestaltung unserer Arbeit mit einbezieht.
Meine Damen und Herren, die Diskussion über den Haushalt ist natürlich — in Einzelfragen wie generell — immer eine Gesamtabrechnung der Opposition mit der Regierung und eine Gesamtverteidigung seitens der Regierung. Dabei würde ich es lieber sehen, wenn wir in vielen Fragen, die strittig sind, die unterschiedlich beurteilt werden können, mehr zu einer sachgerechten Auseinandersetzung als zu polemischer Wertung kämen. Ich nenne in diesem Zusammenhang z. B. den Pauschalbegriff „neue Armut", der auch hier wieder gebracht worden ist, der von seiten der Opposition so gern gebraucht wird. Wenn man schon einen solchen Begriff verwendet,
dann wäre es doch wohl sinnvoll, einmal deutlich zu machen, welche gezielt ansprechbaren und behebbaren Punkte in unserer Gesellschaft man damit meint.
Natürlich ist ganz klar, daß die Armut, die wir in den ersten Jahren nach dem Krieg hatten, ganz andere Gruppierungen betraf, z. B. Flüchtlinge, Heimatvertriebene usw., als dies heute der Fall ist.
Aber mit einem solchen Pauschalbegriff verbindet sich doch ganz schnell die Vorstellung, als wäre nun diese Bundesrepublik Deutschland, als wären die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland generell auf dem Weg in eine neue Armut, während der Fraktionsvorsitzende der Opposition gleichzeitig festgestellt hat, wir seien kein armes Volk, wir seien zwar kein reicher, aber doch ein wohlhabender Staat, der bestimmte Aufgaben habe. Also, Pauschalierungen dieser Art sind nicht förderlich, sondern semantische Versuche, von Sachauseinandersetzungen über bestimmte Punkte gezielt abzulenken. Dies halte ich für falsch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben natürlich festzustellen, daß Wünsche, Vorstellungen, die man hat — aber das ist bei jeder Haushaltsberatung so —, nicht voll befriedigt worden sind. Aber es ist gelungen, Probleme — zum
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11472 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
MischnickTeil oder vollständig — zu lösen, die gestern und vorgestern noch nicht lösbar erschienen. Es gibt aber auch immer wieder neue Fragen und Überlegungen, die wir dazu anstellen müssen.Wenn wir erreicht haben, daß die Inflationsrate sinkt, die Zinsen sinken, Steuern gesenkt werden können, wenn gleichzeitig die Beschäftigtenzahl zunimmt, die Wachstumsrate steigt, sich der Export auf einem hohen Niveau stabilisiert hat und wenn dann gleichzeitig der Familienlastenausgleich verbessert wird, kann man doch beim besten Willen nicht davon sprechen, daß das ein Weg in neue Armut sei. Vielmehr ist das ein Weg, der eindeutig zu verbesserten Bedingungen für die Allgemeinheit führt und auch bei vielen schon sichtbar geworden ist. Nicht bei allen — das ist klar —, aber bei vielen ist das schon sichtbar geworden.
Dieser Haushalt erzeugt Vertrauen, weil er solide ist und langfristig angelegt ist. Er stellt auch eine konsequente Fortsetzung der Haushalte 1983, 1984, 1985 dar.
— Wissen Sie, wenn Ihnen zur Sache nichts weiter einfällt als Polemik, ist das ein Armutszeugnis für Sie, aber nicht für uns.
Das ist doch genau das Problem, mit dem sich die SPD in diesen Debatten immer wieder auseinandersetzen muß,
nämlich daß ein solcher Gesundungshaushalt zwar in Ansätzen in den Jahren 1980, 1981, 1982 vorbereitet, zum Teil schon eingebracht war, aber dann nicht konsequent fortgesetzt werden konnte. Ich brauche Sie doch nicht an die Zitate des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt zu erinnern. Sie leiden doch heute darunter, daß Sie, wenn sie ehrlich vor sich selbst sind, zugeben müssen, daß Sie diesen Weg nicht konsequent weiter mitgegangen sind, sondern aus vordergründigen, populistischen Wahlüberlegungen heraus ausgestiegen sind. Das ist doch der entscheidende Punkt.
Für uns Freie Demokraten stehen vier Bereiche im Vordergrund der Diskussion: erstens Sicherung des Friedens; zweitens Kampf gegen die Arbeitslosigkeit; drittens Stabilisierung der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung; viertens Bewahrung und Verbesserung der Umwelt und der Lebensgrundlagen. Das sind die vier Hauptbereiche, die wir vor allem behandelt wissen wollen. Das Ganze geschieht natürlich unter dem Oberbegriff, der für uns in allen Bereichen Geltung hat: die Freiheitsrechte des einzelnen zu bewahren, zu stärken und dort Gefahren abzuwenden, wo diese Rechte gefährdet sind. Das ist der Grundsatz, unter dem alle diese vier Punkte für uns stehen.
In diesem Zusammenhang lassen Sie mich, Herr Kollege Waigel, in aller Deutlichkeit und Offenheit sagen: Eine Änderung des § 218 kommt für uns nicht in Betracht.
Eine gesetzliche Änderung stünde gerade einer solchen Grundüberlegung entgegen. Ich kenne die Bedenken, die Sorgen, die darin bestehen, daß es beispielsweise eine erhebliche Diskrepanz gibt zwischen der Zahl der bei den Kassen abgerechneten Eingriffe und der Zahl der tatsächlich gemeldeten Eingriffe. Danach zu forschen, welche Ursachen vorliegen, und zu überlegen, wie man das ändern kann — denn wir haben ja im Gesetz festgelegt, daß die Eingriffe gemeldet werden sollen —, sind Punkte, über die man miteinander reden muß. Aber wir sind nicht bereit, die Grundsätze des § 218 zu ändern.Lassen Sie mich einen Bereich, der schon angesprochen worden ist — interessanterweise hatte er bei den GRÜNEN eine gewisse Bedeutung, ist aber von ihnen doch nicht so stark wie sonst in den Vordergrund gestellt worden —, nämlich den Umweltschutz noch mit ein paar zusätzlichen, ergänzenden Bemerkungen behandeln, wie das zum Teil gestern schon geschehen ist. Daß es unbestreitbare Fortschritte in diesem Bereich gibt, weiß jedermann.
— Daß es unbestreitbare Fortschritte in diesem Bereich gibt, weiß jedermann.
Wenn Sie nicht dazugehören, ist das Ihre Sache. Nur, die überwältigende Mehrheit weiß, daß wir in diesem Bereich Fortschritte gegenüber früher erreicht haben.
Das heißt noch lange nicht — um das gleich mit aller Deutlichkeit zu sagen —, daß die Umweltpolitik erst 1982 begonnen hat. Das trifft nicht zu. Es ist die Fortsetzung einer Politik, die seit Beginn der 70er Jahre gezielt Schritt für Schritt weitergeführt worden ist.
Wenn Sie sagen, es ist leider wahr, daß wir das gemacht haben, bestätigen Sie, daß Umweltpolitik nicht erst gemacht worden ist, seitdem Sie in dieses Haus eingezogen sind, sondern schon lange vorher von uns die entscheidenden Weichen gestellt worden sind, dem Bund die gesetzgeberischen Kompetenzen zu übertragen.
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MischnickMeine Damen und Herren, man weiß heute kaum noch — deswegen erwähne ich es —, daß wir in den 70er Jahren den Bleigehalt im Benzin von 0,40 auf 0,15 g/l herabgesetzt haben und welche Schwierigkeiten es damals bedeutete, das überhaupt umzusetzen.Wir haben das Abwasserabgabengesetz durchgesetzt. Hier sage ich mit aller Deutlichkeit: Wenn heute aus kommunalpolitischen Bereichen versucht wird, das Abwasserabgabengesetz zu ändern, werden wir das nicht mitmachen. Denn es ist notwendig, daß auch in diesem Bereich unsere Kommunen genau das gleiche tun, was wir von der Wirtschaft mit Recht verlangen.
Diejenigen, die in der Vergangenheit viel für Abwasserbeseitigung getan haben, können nicht nachträglich bestraft werden, indem man diese Gesetze auflockert.
Im Gegenteil: Wir müssen prüfen, ob sie so ausreichen.
— Sie reden immer davon, das reiche nicht. Mir ist es lieber, heute geschieht etwas, als Parolen aufzustellen, die morgen oder übermorgen doch nicht erfüllt werden können. Das ist Ihre Politik, sonst gar nichts.
— Wissen Sie, das mit dem Ankündigungsminister haben Sie immer wiederholt. Der Tatbestand aber, daß wir heute mit dem Katalysator eine Möglichkeit haben
— natürlich heute haben —, die nicht nur bundesweit, sondern auch europäisch wirksam werden kann,
ist ein Beweis dafür, daß hier ein weiterer entscheidender Schritt nach vorn getan ist. Das halten wir für richtig. Diesen Schritt unterstützen wir. Sorgen Sie dafür, daß nicht Ihre Wirtschaftsminister und Verkehrsminister wie Herr Steger durch die jetzige Propagierung von nicht ausgegorenen Versuchen, er wolle doch Tempobeschränkung, diejenigen daran hindert, einen Katalysator einzubauen, die das gern wollen,
aber das Gefühl haben, es hat doch keinen Sinn, weil die Geschwindigkeitsbegrenzung kommt.
Damit wird viel mehr Verunsicherung betrieben, als Sie wahrhaben wollen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ströbele?
Bitte schön.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß in den Vereinigten Staaten seit Jahren sowohl der Katalysator eingeführt ist als auch ein Tempolimit besteht, und zwar von etwa 95 km/h auf allen Landstraßen, auch in der Prärie, und von 35 km/h in den Städten?
Natürlich ist mir das bekannt. Aber aus dem Bekanntsein allein muß doch nicht herrühren, daß Dinge, die dort sinnvoll und richtig sind, automatisch bei uns übernommen werden.
Wir müssen uns nach dem richten, was hier sinnvoll und möglich ist. Hier werden wir Schritt für Schritt weitergehen.
Natürlich wäre es uns lieber gewesen, wir hätten in der Europäischen Gemeinschaft schneller wirksam werdende Übereinkünfte erreicht. Daß wir in Europa jetzt endlich zu gemeinsamen Maßnahmen kommen, ist doch ein entscheidender Schritt vorwärts.
Was wir für notwendig halten, ist — hier habe ich vom Kollegen Laufs mit Freude gehört, daß diese Frage auch in der Union positiv erörtert wird —, daß das Angebot an bleifreiem Benzin finanziell weiterhin gefördert werden soll. Das heißt, die Spanne zwischen verbleitem und bleifreiem Benzin soll größer werden, damit der Anreiz, bleifrei zu tanken, bei den Verbrauchern ständig weitergefördert wird. Das ist die beste Möglichkeit, schneller, als es die Fristen in der Europäischen Gemeinschaft vorsehen, bei uns in der Bundesrepublik Deutschland mehr abgasarme Autos auf den Straßen zu haben. Diesen Weg sollten wir weiter beschreiten, damit aber gleichzeitig dem Bürger deutlich machen: Wenn wir vom Verursacherprinzip sprechen, gilt das für alle, für Wirtschaft, für Kommunen, aber auch für den Bürger. Der Einbau des Katalysators ist eine Anwendung des Verursacherprinzips. Mit der Hilfe über die Kraftfahrzeugsteuer erleichtern wir diesen Weg. Sorgen wir doch alle dafür, daß das in das Bewußtsein der Menschen mehr eingeht! Sorgen wir dafür, daß das bleifreie Benzin noch mehr angeboten wird! Unser Dreisäulenmodell zeigt hier einen sehr wichtigen und entscheidenden Schritt vorwärts.Nun hat der Kollege von den GRÜNEN wieder davon gesprochen: Zuviel Schnellstraßen, Bundesstraßen usw. werden gebaut.
Ich kann nur sagen: Welche Inkonsequenz ist vonIhnen hier im gesamten Verkehrsbereich immer
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11474 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Mischnickwieder an den Tag getreten! Als die Diskussion um die Verringerung des innerdeutschen Luftverkehrs losging, hieß es: Man muß die Bundesbahnstrecken ausbauen. Wenn die Bundesbahnschnellstrecken gebaut werden sollen, stellen Sie sich hin und sagen: Das ist Landschaftsverschandelung; hier wird Natur kaputtgemacht; die Schnellstrecken dürfen nicht gebaut werden. Das ist ein Widerspruch, eine Unlogik in sich.
Das ist keine Politik, sondern Show, sonst gar nichts, was Sie damit veranstalten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Senfft?
Bitte schön.
Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß wir sehr wohl für den Ausbau des Bundesbahnnetzes sind, daß aber selbstverständlich auch die Bundesbahn Belange des Natur- und Umweltschutzes zu berücksichtigen hat,
und daß wir unter dieser Prämisse voll und ganz einen wesentlich höheren Ausbau des Bundesbahnnetzes befürworten, als das die derzeitige Regierung tut?
Ich wäre dankbar, wenn Sie diese Erkenntnis auch denjenigen, die örtlich mit ihren Bürgerinitiativen, mit ihren Gerichtsverfahren den Ausbau zu verhindern suchen, klarmachen würden, daß es darum geht, Besseres zu machen, nicht darum, zu verhindern, daß in diesen Bereichen überhaupt etwas geschieht. Da liegt doch der entscheidende Unterschied zwischen Ihrem praktischen Verhalten und dem, was Sie uns hier darlegen.
Natürlich ist es nicht mehr notwendig, große Konzeptionen für neue Autobahnen zu bringen. Aber es ist doch ein Widersinn, da, wo Lücken vorhanden sind, wo Stücke verbunden werden müssen, wo Umgehungen notwendig sind, unter dem Motto, das sei umweltschädlich, zu verhindern, daß gerade für die Menschen, die bisher unter Ortsdurchfahrten leiden, für die Menschen, die durch Bundesstraßen, die durch ihre Orte gehen, umweltgefährdet sind, diese Umweltgefährdung abgebaut wird. Auch hier müssen Sie logisch bleiben und nicht ständig etwas anderes verkünden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt zu einem anderen Bereich kommen, nachdem hier schon darauf hingewiesen worden ist, was wir an Verbesserungen bei der Luftreinhaltung durch die TA Luft usw. gemacht haben. Ich will das nicht alles erneut behandeln, nur darauf hinweisen, daß der enge Zusammenhang zwischen Ökologieund Ökonomie keine neue Erkenntnis ist, sondern daß wir Freie Demokraten dies seit den 70er Jahren mit aller Energie vertreten haben, aber auch der Meinung waren und sind, daß gerade in dem Gespräch zwischen den beiden deutschen Staaten und innerhalb der Europäischen Gemeinschaft noch mehr getan werden muß. Unsere Hoffnung ist, daß man über eine Technologiegemeinschaft Eureka vielleicht auch in diesem Bereich zusätzlich Möglichkeiten der Zusammenarbeit und der Umsetzung erreichen kann.Meine Damen und Herren, es ist natürlich mit Recht sehr viel davon gesprochen worden, daß die Probleme — ich habe das als zweiten Punkt genannt — der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Vordergrund stehen müssen. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Nur stelle ich immer wieder fest, daß bei der Diskussion darüber die demagogische, die emotionale Betrachtung sehr leicht der rationalen Betrachtung vorgezogen wird.Heute abend ist das Dreiergespräch. Darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden. Natürlich ist es notwendig, daß Gewerkschaften, Arbeitgeber und die Bundesregierung in der Verantwortung stehen, sich über wirtschaftspolitische Tendenzen zu verständigen, Vorschläge zu unterbreiten und gemeinsame Folgerungen daraus zu ziehen. Es hat mich allerdings doch sehr merkwürdig berührt, daß bei der Betonung „Mehr Demokratie in unserem Lande", dann bei der Forderung, daß auch die DAG beteiligt werden solle, plötzlich dieses Argument „Mehr Demokratie in unserem Lande" offensichtlich nicht mehr Gültigkeit haben soll. Es wäre gut, wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund hier von seiner Haltung abginge; denn es gibt nun einmal im gewerkschaftlichen Bereich mehrere, und man sollte hier nicht eine Einseitigkeit oder eine Monopolstellung für sich in Anspruch nehmen. Dies ist im gesamten tarifvertraglichen Bereich immer schädlich.
Heute abend soll, wie ich eben höre, von den Gewerkschaften u. a. Bezug auf einen Vorschlag genommen werden, den ich schon vor längerer Zeit gemacht habe, nämlich auf den Vorschlag, das Arbeitslosengeld differenzierter zu gestalten. Ich würde mich sehr freuen, wenn man auf diesen Vorschlag zurückkäme. Allerdings hoffe ich, daß man dann nicht nur die eine Hälfte dieses Vorschlages — nämlich die Verlängerung der Zahlung bei denjenigen, die 20 oder 25 oder 30 Jahre lang Beiträge geleistet haben — einbringt, sondern auch die andere Hälfte des damals von mir gemachten Vorschlages, nämlich bei denjenigen, die kürzere Beitragszeiten haben, auch kürzere Anspruchszeiten für die Arbeitslosenversicherung mit einzubeziehen.
— Damit schaffe ich gar keine Armut! — Denn dies würde natürlich dem Gedanken des Versicherungsprinzips viel mehr entsprechen als das, was bis heute Recht ist, Deshalb bin ich einmal gespannt,
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Mischnickob beide Teile auf den Tisch gelegt werden. Wir hatten das in einem Gespräch mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund schon vor drei, vier Jahren gesagt.Man kann bei solchen Überlegungen nicht immer versuchen, nur die Rosinen herauszunehmen und das andere beiseite zu lassen. Hier geht es um die Gesamtleistungsfähigkeit der Versicherungssysteme.
Deshalb muß man beides bedenken und beachten.
Eine Diskussion über die Fragen, die sich aus dem Verhalten und den Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit während des Streiks ergeben haben, will ich hier nicht auslösen. Daß darüber Diskussionen stattfinden müssen, ist doch wohl aber klar. Interessant für mich ist: Als die Frage der Finanzierung der Rentenversicherung immer mehr in den Vordergrund rückte, wurde die Maschinensteuer ins Gespräch gebracht, weil man sagte, man müsse damit einen weiteren Beitragszahler heranholen, weil j a auch diese rationalisierten Betriebe zur Alterssicherung herangezogen werden müßten. Ich habe noch nie gehört, daß dann, wenn ein Teil der Streikkosten von der Bundesanstalt für Arbeit gezahlt werden soll, in Zukunft die Gewerkschaften auch Beitragsanteile an die Bundesanstalt für Arbeit zahlen sollten, um damit dieses Risiko abzudecken.
Das wäre doch die Schlußfolgerung aus der Maschinensteuer-Überlegung, die Sie — wie ich meine, fälschlicherweise — angestellt haben.
Besonders wichtig ist, daß die Möglichkeiten der Ausbildung und der beruflichen Fortbildung entscheidend verbessert werden. Dazu stehen wir; das halten wir für notwendig. Damit wird auch mehr Mobilität möglich. Nur, es ist auch notwendig, bei den Arbeitsämtern zu überprüfen, ob und inwieweit das, was bisher zur Umschulung und Fortbildung angeboten wird, noch immer den Anforderungen des Arbeitsmarktes von morgen — nicht nur des Arbeitsmarkts von heute — entspricht. Bei Personen, die umgeschult worden sind, erlebe ich immer wieder, daß sie sagen: In diesem neuen Beruf sehe ich die Chancen, die gestern noch vorhanden waren, heute schon nicht mehr. Hier mehr Beweglichkeit hineinzubekommen scheint mit genauso wichtig zu sein wie die Auflegung neuer Umschulungsprogramme.Es wird nun über die Arbeitslosenstatistik gesprochen. Es geht doch nicht darum, die Statistik in Frage zu stellen! Es geht darum, die Aussagekraft der Statistik zu verbessern, zu verstärken, weildann natürlich auch gezielter Gegenmaßnahmen ergriffen werden können.
— Das, was Sie heute alles an Verschleierung gebracht haben, geht ja auf keine Kuhhaut! Im Verschleiern sind Sie, wenn es um Fakten geht, doch ganz groß. Uns geht es um das Sichtbarmachen der Punkte.
Wer sich dagegen wehrt, muß sich eher den Vorwurf gefallen lassen, daß es offensichtlich nicht in seinem Interesse liegt, die Wirklichkeit deutlich zu machen. In unserem Interesse liegt das!Wir müssen uns dabei überlegen, wie weit unnötige Belastungen der Arbeitsverwaltung abgebaut werden können. Da kann sich bei einer Überprüfung natürlich auch ergeben, daß in der Statistik manches mitgeschleppt wird und arbeitsaufwendig ist, was mit der Notwendigkeit der Vermittlung überhaupt nichts mehr zu tun hat. Dies zu überprüfen ist doch ein legitimes Anliegen, und das hat doch nichts mit Verschleierung zu tun.
Wir müssen auch dafür sorgen, daß bei den Arbeitsmarktzahlen die Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit deutlicher wird. Wir haben gehört, daß man die neuen Beschäftigtenzahlen nicht so schnell haben kann. Man erhält sie erst drei oder vier Monate später. Ich nehme das zunächst einmal hin. Was mich allerdings überrascht, ist dies: Wenn ich die Prozentzahl der Arbeitslosigkeit ausrechnen kann, so muß diese doch in einem Verhältnis zur Beschäftigtenzahl stehen. Wenn ich ausrechnen kann, daß die Quote zu einem bestimmten Zeitpunkt 8,5% oder 9% beträgt, so muß dabei ja von einer Zahl ausgegangen worden sein. Wenn dies eine Zahl ist, die sich auf einen drei Monate zurückliegenden Zeitpunkt bezieht, ist sie in der Aussagekraft natürlich geringer als dann, wenn es eine Zahl ist, die im Augenblick gültig ist.Es stellt sich dann doch die Frage, ob man dann, wenn die genauen Zahlen vorliegen, nicht Korrekturen, falls notwendig, vornehmen und sagen sollte: Die vor drei Monaten gültige Zahl ist aus heutiger Sicht nicht mehr gültig. — Nur dann wird es sichtbar, wenn sich auf dem Arbeitsmarkt, in der Beschäftigtenzahl tatsächlich eine erhebliche Verbesserung ergeben hat. Den wenigsten ist doch bekannt, daß es heute, 1985, j a, schon Ende 1984 in der Bundesrepublik Deutschland mehr abhängig Beschäftigte gab als 1969.
1969 hatten wir 21 752 000 abhängig Beschäftigte. Ende 1984 waren es 21 940 000. Heute sind es über 22 Millionen.Was will ich damit deutlich machen? Die Behauptung, all diese politischen Maßnahmen — die Konsolidierung — hätten nichts für den Arbeitsmarkt
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11476 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Mischnickgebracht, ist falsch. Sie haben etwas für den Arbeitsmarkt gebracht, auch wenn sie noch nicht ausreichend sind und noch nicht zum Abbau der vorhandenen Arbeitslosigkeit geführt haben.
Dies zeigt, daß der Weg richtig ist, daß er weiter beschritten werden muß.Folgendes kommt doch noch hinzu — das wird meistens übersehen —: In diesen Jahren treffen die hohen Zahlen von Abgängen aus den Schulen, aus den Ausbildungsberufen auf den Arbeitsmarkt mit den relativ niedrigen Zahlen von Abgängen aus den älteren Jahrgängen, die durch die Kriegsereignisse dezimiert worden sind, zusammen.
Auch das ist einer der Gründe, weshalb die Verbesserung der Beschäftigtenzahl in der Arbeitslosenstatistik tatsächlich nicht schneller sichtbar geworden ist. — Bitte, Herr Kollege Ehrenberg.
Herr Dr. Ehrenberg!
Herr Kollege Mischnick, würden Sie, wenn Sie hier schon 1984 mit 1969 vergleichen, bitte auch darauf hinweisen, daß die Beschäftigtenzahl im Jahre 1980, also zu einem nicht ganz so weit zurückliegenden Zeitpunkt, um mehr als 1 Million höher war als 1984 und daß die amtliche Statistik auch für das zweite Vierteljahr 1985 immer noch weniger Beschäftigte ausweist als im Jahresdurchschnitt 1984?
Herr Kollege Ehrenberg, es ist natürlich Ihr gutes Recht, diese Vergleiche anzustellen. Worauf es mir ankam, haben Sie entweder nicht aufgenommen, oder Sie wollen es nicht aufnehmen. Mir kam es darauf an, festzustellen, daß die Beschäftigtenzahl in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1985, obwohl die Bevölkerungszahl in der Zwischenzeit zurückgegangen ist, nicht niedriger, sondern höher als 1969 ist. Das ist ein Tatbestand, den Sie nicht wegleugnen können.
Die anderen Zahlen bestreite ich nicht. Auf jeden Fall wird sichtbar: Die Politik, die wir betrieben haben, hat ihre ersten Erfolge.Ein weiterer Punkt, den ich hier mit aller Deutlichkeit ansprechen will, ist dieser. Wenn vom Überstundenabbau gesprochen wird — ich halte das für notwendig —, dann ist natürlich die öffentliche Hand an erster Stelle gefordert, in ihrem Bereich, soweit es die Verwaltung, Post und Bahn betrifft, diesen Abbau durchzuführen. Daran gibt es gar keinen Zweifel. Eine generelle gesetzliche Beschränkung der Überstunden ist falsch, denn sie würde auf Dauer nur Arbeitsplätze gefährden. Ich kann nicht mit dem Rasenmäher entscheiden, wo Überstunden notwendig sind und wo nicht.
Dies ist der entscheidende Unterschied in der Betrachtungsweise zu Ihnen.
— Dies ist eine Vokabel, die ich nun schon fast 40 Jahre höre. Es gab sie einmal eine Zeitlang nicht, dann aber ist sie wiedergekommen. Ich kann nur feststellen, daß Ihnen entweder nichts Originelleres einfällt oder daß Sie glauben, mit diesem Zuruf diffamieren zu können. Wenn diese Bundesrepublik nicht Hunderttausende von Arbeitgebern hätte, die mit ihrem Einsatz für neue Arbeitsplätze und Betriebe sorgen, dann gäbe es noch viel mehr Arbeitslose. Das müßte doch endlich einmal in Ihren Gehirnkasten hineingehen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar kurze Bemerkungen zur Konsolidierungs- und Finanzpolitik machen. Eine sparsame Haushaltsführung bleibt wichtig. Es ist unbestreitbar, daß die weitere Herabsetzung der Neuverschuldung unser mittelfristiges Ziel bleiben muß. Wir führen Steuersenkungen durch. Das führt natürlich dazu, daß das Tempo des Abbaues der Neuverschuldung verlangsamt wird. Diese Steuersenkungen sind notwendig: Ich bin aber überzeugt, daß die Steuersenkungen, die wir vorhaben, auch dazu führen werden, daß mittelfristig Einnahmeverbesserungen entstehen und daß damit mittelfristig erreicht wird, daß auch durch Einnahmeverbesserungen in den sozialen Sicherungssystemen die Stabilisierung erfolgt.Ich halte es allerdings auch aus einem anderen Grunde für notwendig, genauso konsequent an dem Konsolidierungskurs festzuhalten. Die Bundesbankgewinne haben eine Rolle gespielt. Das ist richtig. Sie haben in der Vergangenheit eine Rolle gespielt, sie haben auch jetzt eine Rolle gespielt. Da Bundesbankgewinne keine auf Dauer feste, einplanbare Größe sind, muß man gerade bei der Haushaltspolitik dafür Sorge tragen, daß sich eine Veränderung der Bundesbankgewinne nicht negativ auf die gesamte Finanz- und Haushaltspolitik auswirkt. Deshalb ist die Verwendung dieser Bundesbankgewinne zur Absenkung der Neuverschuldung richtig. Aber es ist kein Beruhigungspolster für morgen und übermorgen. Anders ausgedrückt: Wer die jetzige Konsolidierungsphase schon als einen Freibrief für künftige Spendierhosen ansieht, liegt völlig falsch. Wir müssen weiter hart bei der Konsolidierung bleiben.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang sind die steuerpolitischen Vorschläge meiner Fraktion, meiner Partei angegriffen worden. Ich will nicht im einzelnen darauf zurückkommen, ich möchte hier allerdings doch einen Punkt ansprechen. Mein Kollege Apel hat kritisiert, daß in unserem Gesamtkonzept der Abbau der Gewerbesteuer enthalten ist. Er hat dabei auf den Oberbürgermeister Wallmann als Präsidenten des Städtetages verwiesen. Sie können ganz beruhigt sein: In drei oder vier Wochen werden wir auch mit dem Städtetag ein Gespräch darüber führen. Nur: Die Gewerbesteuer ist ein Beispiel für viele, wie ganz schnell mit vordergründiger Stimmungsmache notwendige langfristige Überlegungen in Mißkredit gebracht
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Mischnickwerden sollen. Wenn Sie einmal vor sich selbst ehrlich sind, dann müssen Sie doch sagen: Der Abbau der Gewerbesteuer, höhere Freibeträge, die Beseitigung der Lohnsummensteuer und dafür ein verstärkter Anteil der Gemeinden an der Einkommen- und Lohnsteuer hat zu einer verstärkten Stabilisierung geführt, dazu, daß die Konjunkturabhängigkeit, die bei der Gewerbesteuer natürlich gegeben ist, in vielen Fällen gemildert worden ist. Diese Überlegung grundsätzlich mit einzubeziehen steht jedem Kommunalpolitiker, der es ernst meist, gut an. Man sollte nicht nur über das reden, was heute sein kann, sondern man muß auch darüber sprechen, was morgen an Vorteilen daraus entstehen kann. Das ist eine sinnvolle langfristige Diskussion über diese Fragen.
Deshalb ist es billige Polemik, was hier gegen diese Forderungen vorgetragen worden ist.Lassen Sie mich zum Abschluß nur noch zwei Bereiche ganz kurz ansprechen. Wir sind der Überzeugung, auch der Bund muß verstärkt alle Bemühungen unterstützen, nicht nur die Freiheit der Kultur zu bewahren, sondern hier auch aktiv tätig zu werden. Das heißt für uns: Es ist notwendig, beim Stiftungsrecht alles zu tun, daß mehr Möglichkeiten der kulturellen Entwicklung im freien Raum geschaffen werden, denn dies ist auch ein wichtiger Teil der Gesamtinnovation, wenn ich das einmal so sagen darf, die notwendig ist, um alles, was vor uns steht, nicht nur erfassen, sondern auch sinnvoll gestalten zu können. Die Teilhabe der Bürger daran weiter auszubauen ist besonders notwendig. Wir sind mit dem Deutschen Kulturrat einig, daß die vielfältigen gesellschafts- und auch wirtschaftspolitischen Dimensionen der Kultur oft unterschätzt werden. Jeder weiß in diesem Raum, daß ich ein sehr sportbegeisterter Mensch bin. Wir haben im Sport viele Möglichkeiten der Leistungsförderung gefunden, um Spitzentalente zu fördern.
Mir scheint es notwendig zu sein, auch im gesamten kulturellen Bereich Überlegungen anzustellen, wie wir ähnliche Förderungsmöglichkeiten schaffen, um Talenten die Chance zu geben, sich zu entwikkeln und dann auch zu Spitzenleistungen zu kommen.
Hier vorhandene Vorbilder zu nutzen und sie umzusetzen scheint mir ein wichtiger Punkt für die Zukunft zu sein.
Eine letzte Bemerkung — heute nachmittag werden wir die Außenpolitik ausführlicher behandeln — zur Außen- und Deutschlandpolitik. Meine Damen und Herren, die Freien Demokraten haben hier ihre klare Linie seit den 50er Jahren nicht verlassen, und wir gedenken auch nicht, sie in Zukunftzu verlassen. Wir werden diesen Weg weitergehen. Daß da manchmal viel Überzeugungsarbeit notwendig ist, wissen wir. Daß es da Höhen und Tiefen gibt, wissen wir. Aber eines steht doch fest: Die Schreckensgemälde, die 1983 an die Wand gemalt, an den Himmel geworfen wurden, nun sei die Eiszeit ausgebrochen, nun gebe es keine Verhandlungen und Gespräche mehr, haben sich als genauso falsch herausgestellt, wie wir dies von Anfang an gesagt haben.
Ich warne allerdings davor, die Gespräche, die nun in Genf vor uns stehen, etwa vorher, auf welcher Seite auch immer, mit zuviel Vorankündigungen, Erwartungen zu belasten.
Daß das ein mühseliger Prozeß sein wird, ist jedem, der hier lange Jahre tätig war und ist, völlig klar.Wir wollen auch die chemischen Waffen überall beseitigt haben.
Wir wollen sie auf allen Seiten beseitigt haben. Darüber gibt es gar keinen Zweifel. Welche Wege man dazu geht, welche Gespräche man dazu führt, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Da gilt es, nüchtern zu prüfen, was hilfreich ist, was nicht hilfreich ist.Ich bin sehr froh darüber, daß die jüngsten Affären im Spionagebereich nicht zu einer Belastung der Deutschlandpolitik geführt haben. Ich hoffe, es bleibt dabei.Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Abschluß darf ich eine Feststellung, die ich früher einmal getroffen habe, variierend wiederholen: Es wird immer davon gesprochen, daß Koalitionen nicht leicht sind, daß man gegenseitig Rücksicht nehmen muß. Das ist völlig richtig. Nur wenn man in einer Koalition die Möglichkeit zur Selbstgestaltung hat, kann es auch zu einer befriedigenden Arbeit führen. Ich habe früher einmal gesagt: Die Koalition besteht nicht aus eineiigen Zwillingen, ich sage heute: Die Koalition besteht nicht aus eineiigen Drillingen, aber sie ist gewillt, die vor uns liegenden schwierigen Aufgaben gemeinsam zu lösen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einbringung des Bundesetats für das Jahr 1986 ist selbstverständlich — das entspricht der Tradition des Hohen Hauses — Gelegenheit zu einer Generalaussprache oder, wie es vielleicht auch manche verstehen könnten, zu einer Art Generalabrechnung mit der Politik der Bundesregierung. Ich finde, wir soll' ten offen hinzufügen, daß verständlicherweise, wenn man den Etat 1986 berät, jeder von uns auch
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11478 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundeskanzler Dr. Kohldaran denkt, daß wir am Ende des Etatjahres 1986 ganz unmittelbar vor der Bundestagswahl im Januar 1987 stehen. Es ist ganz natürlich, daß dies alles auch in dieser Debatte mitschwingt. Ich bin insofern als ein aufmerksamer Zuhörer des gestrigen und heutigen Tages enttäuscht, daß die Sprecher der Opposition, insbesondere auch der Fraktionsvorsitzende der SPD, eigentlich keine neuen Anregungen vorgebracht haben. Am heutigen Morgen habe ich die Schlußpassage des Sprechers der GRÜNEN als bemerkenswert empfunden, die deutlich gemacht hat, was eigentlich die politische Absicht für den Januar 1987 ist.
Ich bin dankbar, daß das hier im Plenum des Deutschen Bundestages einmal so offen ausgesprochen wurde; denn, meine Damen und Herren, die Wähler in der Bundesrepublik müssen wissen, was es heißt, wenn es zu einem rot-grünen Bündnis kommt.
Ich denke, es ist auch richtig, wenn hier in dieser Debatte bei allen drängenden und ganz unbestreitbaren Problemen der Innenpolitik die Schwerpunkte — —
Herr Abgeordneter Vogel, an Originalität sind Sie — ausweislich der heutigen Tagespresse — von niemandem zu überbieten.
Ich will auch in diese Konkurrenz mit Ihnen nicht eintreten.
Aber ich fand es schon ganz bemerkenswert, daß Sie als der erste Sprecher der Opposition in der Generaldebatte den wichtigen Fragen der Außen- und der Sicherheitspolitik ein solch geringes Gewicht beigemessen haben. Das mag auch seinen Grund darin haben, daß eben in dieser Frage Ihre Partei so zerstritten ist, wie in wenigen anderen Fragen. Auch das ist ein Punkt.
Nun, meine Damen und Herren, selbstverständlich ist es notwendig, in dieser Debatte über diese Themen zu sprechen; denn im Ost-West-Verhältnis sind im Jahre 1985 — das gilt ganz gewiß auch für das kommende Jahr 1986 — Entwicklungen in Gang gekommen — oder sie werden noch in Gang kommen —, die weitreichende Folgen haben können.
Ich hoffe, positive Folgen auch für die Menschen in Deutschland, für die Bürger der Bundesrepublik Deutschland.
Am 19. und 20. November 1985 werden sich Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow in Genf treffen.
Die intensiven Vorbereitungen von beiden Seiten beweisen, daß beide Seiten, beide Weltmächte einen Erfolg dieses Treffens wünschen,
und wir wünschen diesen Erfolg auch.
Die Bundesregierung und nicht zuletzt ich selbst haben seit meiner Amtsübernahme immer wieder für eine solche Begegnung geworben.
Ich habe das schon damals zur Zeit des Generalsekretärs Andropow angeregt, und wir haben in der Zwischenzeit unsere Möglichkeiten genutzt — ich betone das — um einen Beitrag zu leisten, daß dieses Treffen zustande kommt.
Ich glaube, es ist wichtig, daß neben den beiden unmittelbar beteiligten Regierungen auch die anderen, die jeweils befreundeten Regierungen in diesem Sinne wirken. Das war unter anderem auch ein wichtiger Gesprächsgegenstand meiner kürzlichen Besprechung mit Staatspräsident Mitterrand. In diesem Sinne werde ich auch noch im Herbst — vermutlich im Oktober — bei meinem Zusammentreffen mit Präsident Reagan in Washington versuchen zu wirken.
Wir, die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, erwarten von diesem Gipfel Impulse und Weichenstellungen in den für uns ganz zentralen Fragen der Sicherheit und des Dialogs zwischen Ost und West. Es muß einmal mehr der Versuch unternommen werden, die Beziehungen der beiden Weltmächte neu zu gestalten mit dem Ziel, weltweite Friedenspolitik einzuleiten, einen Beitrag zum Abbau des Wettrüstens zu leisten und damit eine größere Chance für die Verständigung und die Zusammenarbeit unter den Völkern zu schaffen.
Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, daß am Ende dieses jetzt beginnenden Prozesses eine Klärung der Beziehungen zwischen den Weltmächten möglich sein wird.Wir sind der Auffassung, daß ein solcher globaler Friedensdialog nicht ohne die aktive Teilnahme auch der mittleren und kleineren Staaten Europas zum Erfolg führen kann. Ein Ergebnis dieses Gipfels muß nach unserer Überzeugung sein, daß das Gespräch aller — und das gilt gerade hier in Europa — mit allen erleichtert wird. Wir haben mit großem
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11479
Bundeskanzler Dr. KohlInteresse zur Kenntnis genommen, daß die sowjetische Führung zunehmend dem Verhältnis zu Westeuropa Aufmerksamkeit schenkt und den Beziehungen mit den westeuropäischen Staaten ein größeres Gewicht beimessen möchte. Auch von institutionalisierten Kontakten etwa zwischen der EG und dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe ist die Rede.Aber, meine Damen und Herren, wer von einem gemeinsamen europäischen Haus spricht, muß allen das gleiche Wohnrecht in diesem Haus einräumen und alle Interessen berücksichtigen.
Er muß auch den eigenen Verbündeten die Möglichkeit geben, ihre Beziehungen zu den anderen, zu den westeuropäischen Staaten voll zu entfalten.In diesem Sinne haben sich unsere Beziehungen mit der DDR weiterhin positiv entwickelt. Unsere Deutschlandpolitik hatte Erfolg, weil sie klar, berechenbar und pragmatisch war und ist. Wir werden diese Politik geduldig fortsetzen. Keine der Prophezeiungen aus dem Lager der Sozialdemokratie — etwa die von der neuen Eiszeit — ist in der Zwischenzeit eingetreten. Das ist ja ein Stück Ihres Verdrusses. Es ist auch ein Stück Ihrer Unfähigkeit, zuzugeben, daß wir auf diesem Feld besonderen Erfolg hatten, wenn Sie dieses Thema überhaupt totschweigen.
Gerade weil wir es als eine vorrangige Aufgabe ansehen, für die Menschen im geteilten Deutschland soviel wie möglich zu erreichen, sind Augenmaß und Ausgewogenheit erforderlich.
Dialog und Zusammenarbeit sind notwendig, auch wenn wir — wie in jüngster Zeit — über die letzten Spionagefälle mit Recht öffentlich unsere Betroffenheit zum Ausdruck bringen. Herr Abgeordneter Vogel, ich finde es eigentlich seltsam, daß Sie dazu überhaupt eine Anmerkung machen. Es ist doch in der Tat ein Vorgang, der die Beziehungen nicht besonders fördert, wenn wir bei solchen Gelegenheiten feststellen müssen, in welch einem Umfang aus feindseliger Gesinnung in unserem Lande spioniert wird.
Ich will in diesem Zusammenhang auch noch etwas anderes sagen. Wenn Sie uns in diesem Zusammenhang darauf hinweisen — Herr Vogel, Sie haben das heute getan —, daß wir bei all dem, was zu tun ist, Rücksicht nehmen müßten auf die Stimmung, die Überzeugung unserer Landsleute im anderen Teil Deutschlands, dann haben Sie recht. Aber ich weiß nicht, woher Sie Ihre Kontakte haben. Ich habe in den letzten Wochen in vielen Gesprächen nicht zuletzt immer wieder gehört: Wie könnt ihr in dieser Situation eine Diskussion über die Änderung der Präambel des Grundgesetzes einleiten?
Dieser Vorwurf geht doch nicht an die Koalition und an die Regierung; der Vorwurf geht doch an Sie, daß Sie auf dem Weg einer Anpassung Problemlösungsvorstellungen der DDR-Führung übernehmen, die für uns gänzlich inakzeptabel sind.
Generalsekretär Honecker hat sich anläßlich der Eröffnung der Leipziger Messe am 1. September optimistisch über die Entwicklungsmöglichkeiten in den deutsch-deutschen Beziehungen geäußert. Die Bundesregierung teilt diese Einschätzung. Seit diesem Frühjahr konnten wir spürbare Verbesserungen erreichen. Die Vereinbarungen von Anfang Juli über den Swing und vom 15. August über die Grunderneuerung einer Autobahnteilstrecke enthalten auch für die Zukunft ausgesprochen positive Elemente.Die Zahl der Reisen in dringenden Familienangelegenheiten aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland hat deutlich zugenommen. Der Jugendaustausch in Ost-West-Richtung konnte wiederaufgenommen werden. Wir wünschen uns, daß möglichst viele junge Mitbürger aus der Bundesrepublik in die DDR reisen und damit einen sehr eigenen Eindruck von der Wirklichkeit und vorn Alltag in der Deutschen Demokratischen Republik gewinnen.
Meine Damen und Herren, im Bereich des Umweltschutzes kommen die Gespräche gut voran. Ich bin zuversichtlich, daß wir eine gute Chance haben, bei den Verhandlungen über das Kulturabkommen noch in diesem Jahr zu einem Abschluß zu kommen.Das alles, Herr Abgeordneter Vogel, sind großartige Ergebnisse einer nüchternen, illusionsfreien, pragmatischen Politik. Sie sollten das endlich anerkennen.
Meine Begegnung mit Generalsekretär Honecker am 12. März in Moskau hat einmal mehr in diese Beziehungen Bewegung gebracht. Ich glaube, wir dürfen sagen: Dies alles ist zum Nutzen für die Menschen in Deutschland.Fragen der Sicherheit spielen verständlicherweise in den gegenseitigen Beziehungen der beiden Weltmächte und ihrer Verbündeten eine zentrale Rolle. Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen, gerade wir in einem geteilten Land, daß die Ost-West-Beziehungen auf die Probleme der Sicherheit, so wichtig sie sind, verkürzt werden. Solange sich die politischen Beziehungen nicht entwickeln, so lange werden nach meiner festen Überzeugung auch keine wirklichen Fortschritte in der Rüstungskontrolle und in der Abrüstung erreicht.
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11480 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundeskanzler Dr. KohlWir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um den Genfer Abrüstungsverhandlungen zu einem Erfolg zu verhelfen.
— Herr Ehmke, Ihr Beitrag in diesem ganzen Zusammenhang war bisher doch eigentlich nur, nach Gesprächen mit kommunistischen Parteien möglichst viel von deren Ideen in den Westen zu tragen.
Ein Prediger der Äquidistanz wie Sie, Herr Ehmke, ist der letzte, der hier den Eindruck erwecken könnte, daß dies ein Beitrag zur Rüstungskontrolle und Abrüstung ist.
Meine Damen und Herren, unser Interesse ist es, daß die nuklearen Offensivwaffen im interkontinental-strategischen und im Mittelstreckenbereich drastisch reduziert werden.
Unser Interesse ist, Wettrüsten auch im Weltall zu verhindern.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung tritt darüber hinaus für eine Verständigung über einen allgemeinen und umfassenden Teststopp für Kernwaffen ein. Es müssen hinreichende Überprüfungsmöglichkeiten für einen vereinbarten Teststopp geschaffen werden. Dies kann eben nur auf dem Weg von Verhandlungen erreicht werden. Der kürzlich von sowjetischer Seite vorgelegte Moratoriumsvorschlag geht auf diese ganz wesentliche Frage nicht ein. Generalsekretär Gorbatschow hat mir letzte Woche in einem Schreiben die sowjetische Haltung erneut dargelegt. Danach soll die Nichtdurchführung von Kernexplosionen mit den vorhandenen nationalen technischen Mitteln überprüft werden. Wir sind hier gänzlich anderer Auffassung. Die Bundesregierung hat deshalb in Genf als Ergebnis eingehender Forschungen deutscher Wissenschaftler einen Vorschlag für ein gleitendes seismologisches Überwachungssystem eingebracht. Wir erwarten, daß auf dem Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow Weichenstellungen für eine Lösung im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz erreicht werden können.Meine Damen und Herren, auch in den Verhandlungen über ein weltweites Verbot chemischer Waffen spielt die Frage der angemessenen Verifikation die entscheidende Rolle. Die Bundesregierung hat deshalb ein umfassendes Konzept für eine wirksame Kontrolle der Vernichtung bestehender Bestände sowie der Einhaltung des Produktionsverbots entwickelt und der Genfer Konferenz vorgelegt.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, weil dies hier anklang, auch ein kurzes Wort zur Frage einer Strategischen Verteidigung sagen. Wie ich bereits in meiner Regierungserklärung am 18. April hier im Hohen Haus angekündigt habe, bereist in diesen Tagen eine Delegation aus Regierungsvertretern, Vertretern der Wirtschaft und der Wissenschaft die USA. Diese Delegation hat keinen Verhandlungsauftrag. Es geht in dieser Phase um die Aufbereitung und Vervollständigung unserer Entscheidungsgrundlagen in der Frage wissenschaftlich-technologischer Zusammenarbeit zwischen deutschen Unternehmen und öffentlichen und privaten amerikanischen Auftraggebern. Es geht darum, Material für die Entscheidung zu sammeln, ob für eine solche Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene Rahmenbedingungen festgelegt werden müssen und können und wie solche Bedingungen gegebenenfalls aussehen könnten. Es geht auch darum — ich will auch das hier deutlich sagen —, sicherzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland als Industrieland und als exportabhängige Nation nicht von dem dynamischen technologischen Entwicklungsprozeß der westlichen Welt abgekoppelt wird. Die politische und strategische Entscheidung über die amerikanische Verteidigungsinitiative ist damit noch keineswegs getroffen, und sie kann erst dann getroffen werden, wenn wir abschließend angesichts aller Unterlagen entscheiden können. Sie wird erst möglich sein, wenn die entsprechenden amerikanischen Forschungsergebnisse vorliegen und sorgfältige und enge Bündniskonsultationen über diese für die Allianz insgesamt lebenswichtige Frage stattgefunden haben. Eine automatische Folge von Forschung, Entwicklung und Stationierung gibt es nicht.Die Entscheidung über eine Strategische Verteidigungsinitiative wird sich maßgeblich auch daran orientieren müssen, ob die von mir immer wieder, zuletzt in der Regierungserklärung vom 18. April, genannten Bedingungen erfüllt werden können.Wir bleiben überzeugt, daß drastische Reduzierungen der nuklearen Offensivwaffenpotentiale zwangsläufig Notwendigkeit und Umfang Strategischer Verteidigungssysteme beeinflussen. Solche Reduzierungen haben für die voraussehbare Zukunft für uns Vorrang.Lassen Sie mich auch das gleich hinzufügen: Wir unterstützen selbstverständlich — es ist j a frühzeitig mit uns abgesprochen worden — das von der Französischen Republik vorgeschlagene Forschungsprogramm Eureka. Die gemeinsamen Sicherheitsinteressen Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika fordern auch einen vergleichbaren Stand der jeweiligen wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung.
Wenn wir den europäischen Pfeiler der transatlantischen Brücke stärken wollen, setzt dies auch voraus, daß wir die technologische und industrielle Leistungskraft in Europa steigern. Und dies kann uns doch nur gelingen, wenn wir die vorhandenen nationalen Potentiale bündeln und zusammenführen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11481
Bundeskanzler Dr. KohlWir haben auf den französischen Vorschlag nicht nur sofort reagiert, sondern gemeinsam mit unseren französischen Freunden und anderen auch inhaltlich die Weichen für Eureka gestellt.
Die Bundesregierung hat darüber hinaus die Ausrichtung der Folgekonferenz von Paris übernommen und die beteiligten europäischen Staaten für den 5. und 6. November nach Hannover eingeladen. In Hannover wird es darum gehen, Ziele und Strukturen von Eureka näher zu bestimmen und wenn möglich erste konkrete Projekte zu definieren. Unsere Überlegungen konzentrieren sich dabei auf Projekte aus den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnik, Robotertechnik, Fertigungstechnik, Gentechnologie sowie der Techniken für modernen Umweltschutz und Verkehr.Europa wird bei den fortgeschrittenen Technologien gegenüber seinen Freunden und zugleich Konkurrenten USA und Japan auf die Dauer nur gleichziehen können, wen wir mit der Schaffung eines großen einheitlichen Marktes ernst machen.Der Europäische Rat in Mailand hat sich darauf festgelegt, bis 1992 — und das ist für ein so großes Werk nur eine kurze Zeit — den europäischen Binnenmarkt zu schaffen. Ich weiß, dies ist ein ganz ungewöhnlich ehrgeiziges Ziel, wenn man bedenkt, daß es in den letzten 25 Jahren nicht gelungen ist, den Auftrag der Römischen Verträge zu erfüllen und die Binnengrenzen in der Gemeinschaft endlich zu überwinden. Wir werden mit Nachdruck darauf hinwirken, daß der Beschluß des Europäischen Rates von Mailand möglichst termingerecht umgesetzt wird.
Mit der Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes verbessern wir die Rahmenbedingungen für die europäische Wirtschaft. Wir leisten damit auf europäischer Ebene auch einen wichtigen Beitrag zur dauerhaften Überwindung der Arbeitslosigkeit.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch sagen, daß ich die Angstlichkeit mancher, auch wirtschaftlicher, Kreise in der Bundesrepublik beim Blick auf die Erweiterung des Binnenmarkts nicht recht verstehen kann. Wenn Sie sich einmal alle Grunddaten überlegen, können Sie doch wirklich davon ausgehen, daß nicht zuletzt die Bundesrepublik Deutschland von diesem Binnenmarkt den allergrößten Nutzen haben wird.
Es ist doch jetzt schon so — und das wird sich nach dem 1. Januar mit dem Beitritt von Spanien und Portugal noch verstärken —, daß im kommenden Jahr ungefähr 60% unserer Industrieexporte in die Länder der Europäischen Gemeinschaft gehen. Das ist eine Dimension, die für die Volkswirtschaft der Bundesrepublik, für die Gesellschaftsordnung und für die soziale Situation von allergrößter Bedeutung ist. Lassen Sie mich deswegen dafür werben — und dabei bitte ich um Ihre Unterstützung —, daß wir bei der Einführung des Binnenmarktes ungeachtet aller ganz gewiß zu erwartender Schwierigkeiten ineinzelnen Branchen und Details niemals das große Ziel aus den Augen verlieren. Es ist ein Gewinn für die Bundesrepublik Deutschland.Meine Damen und Herren, für mich war es bei meinem Amtsantritt vor bald drei Jahren selbstverständlich, daß die Europapolitik auf unserer Prioritätenliste steht. Was haben wir vorgefunden? Die Gemeinschaft trat auf der Stelle. Wir als Bundesregierung haben ganz wesentlich dazu beigetragen, die Gemeinschaft aus Stagnation und Krise herauszuführen.
— Ja nun, meine Damen und Herren, wenn wir auf irgendeinem Gebiet Stagnation vorgefunden haben, dann, Herr Abgeordneter Vogel, auf diesem. Offensichtlich haben Sie sich während der Dauer Ihrer Regierungszugehörigkeit nur für Teilbereiche der Politik interessiert, nicht aber für die Gesamtentwicklung.
Bei der Vorbereitung und politischen Durchsetzung der Beschlüsse des Mailänder Gipfels war diese Bundesregierung — gemeinsam mit der französischen Regierung — treibende Kraft.
— Meine Damen und Herren, diese Frage zeigt doch, daß Sie sich offensichtlich niemals mit Europapolitik beschäftigt haben.
Die Frage ist doch: Was haben Sie seit 1969 im Vergleich zu der kurzen Zeit von weniger als drei Jahren getan und erreicht? Wir haben gemeinsam mit Frankreich den Entwurf eines Vertrages eingebracht, der die außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit der Zehn in der Perspektive der Europäischen Union festschreibt.
Meine Damen und Herren, die am Montag beginnende Regierungskonferenz wird über diesen Entwurf wie auch über die Vorschläge anderer Mitgliedstaaten beraten. Wir werden darauf drängen, daß wir auf dem nächsten europäischen Gipfel Anfang Dezember in Luxemburg einen ganz wesentlichen Schritt vorankommen.
Europa muß — dies ist ein wesentliches Ziel unserer Politik — zu einem Stück mehr gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik fähig sein. Es muß dabei nicht nur mit einer Stimme sprechen, sondern auch in der Lage sein, gemeinsame Interessen gegenüber der Welt zur Geltung zu bringen.Die Europäische Gemeinschaft ist aber nach außen nur in dem Maße handlungsfähig, in dem sie
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11482 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundeskanzler Dr. Kohlselbst im Inneren institutionell und politisch gefestigt ist.
Wir haben in Mailand intensiv darüber diskutiert. Niemand bestreitet die Notwendigkeit solcher Reformen. Umstritten ist allerdings der Weg, der dorthin führt, auch die Frage, ob die Verträge geändert werden müssen. Meine Damen und Herren, ich bekenne hier noch einmal, daß wir in der Bundesregierung der Auffassung sind,
daß es der beste Weg wäre, wir würden uns gemeinsam zu einer Änderung der Verträge Bereitfinden. Ob dies möglich sein wird, ist zur Stunde eine gänzlich offene Frage.Dies gilt auch für die Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments. Wir haben in Mailand detaillierte und weitgehende Vorschläge dazu eingebracht, daß das Europäische Parlament, das schließlich in freier, geheimer und direkter Wahl gewählt
und direkt vom Bürger mit Autorität ausgestattet wurde, am Entscheidungsverfahren innerhalb der Gemeinschaft stärker beteiligt wird. Wir werden auch diesen Vorschlag in Luxemburg mit Nachdruck vertreten. Wir wissen, daß die überwiegende Mehrheit unserer Mitbürger in der Bundesrepublik Deutschland — trotz mancher Skepsis und auch manchen Ärgers im Detail — Europa will. Sie sind oft ungeduldig, nicht weil sie Gegner Europas sind, sondern weil die Dinge so langsam vorangehen.
Der Satz behält seine Richtigkeit: Gerade wir Deutsche brauchen das freie Europa, das zusammen mit dem Atlantischen Bündnis Garant der Freiheit unseres Vaterlandes ist.
In diesen Tagen der Debatte, meine Damen und Herren, werden hier natürlich auch alle Fragen der Innenpolitik ganz besonders gewürdigt. Ich kann sehr wohl verstehen, daß es für die Sprecher der Opposition eine wenig erfreuliche Situation ist, daß all ihre Voraussagen, ihre pessimistischen Bilder, die Horrorgemälde, die hier auch heute noch entwickelt wurden, in der Wirklichkeit des Landes eben nicht zutreffen.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, dieser Etat führt am Ende des Jahres 1986 ins unmittelbare Vorfeld der Bundestagswahl hinüber. Sie werden angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung, so wie sie sich abzeichnet und wie sie nach meiner festen Überzeugung auch eintreten wird, keine Chance haben, mit jener Welle der Diffamierung, Verleumdung und Verdrehung der Tatsachenoperieren zu können, wie Sie das bei einigen Wahlen in diesem Jahr getan haben.
Wir werden den Wählern rechtzeitig und umfassend
deutlich machen, was wir von Ihnen an Erblast übernommen haben.
In dieser Eröffnungsbilanz wird der Satz stehen, den der Sachverständigenrat in seinem Sondergutachten just in der Woche meiner Wahl zum Bundeskanzler über Ihre Ära geschrieben hat — ich zitiere —:
Noch schwerer wiegt, daß die Entwicklungsrichtung abwärts und nicht aufwärts zeigt, daß die Wende zum Besseren also immer noch aussteht und daß die Arbeitslosigkeit mit unvermindertem Tempo steigt.Das war die Eröffnungsbilanz auf dem Arbeitsmarkt.
Herr Abgeordneter Vogel, es waren drei schwierige Etappen, die wir vor uns hatten: Beendigung der Talfahrt in die tiefste Rezession der Nachkriegszeit, die Sie allein zu verantworten haben.
Da so viele Geschichtsklischees verbreitet werden: Man muß hier meinen Vorgänger Helmut Schmidt in Schutz nehmen. Er hatte schon die richtige Überzeugung für den richtigen Weg. Aber Sie haben ihn daran gehindert, und Sie haben ihn letzten Endes ja auch gestürzt. Das ist die Realität.
Das zweite, um das es uns gehen mußte, war die Wiedergewinnung von Stabilität und Wachstum, das dritte die Trendumkehr bei Beschäftigung und Arbeitslosigkeit.Lassen Sie uns heute diese Stationen noch einmal kurz betrachten.
— Es mag sein, daß Sie sie nicht offen zugeben. Persönlich haben Sie sie längst erkannt. Ich darf Ihnen doch unterstellen, Herr Kollege, daß Sie wenigstens noch den Wirtschaftsteil Ihrer Heimatzeitung lesen. Dann werden Sie wissen, was sich im Alltag entwikkelt hat.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11483
Bundeskanzler Dr. KohlWir befinden uns mitten in einer wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung, die zwar weniger steil, aber dafür deutlich stabiler und dauerhafter verläuft als frühere Aufschwungphasen. Wir haben jetzt den Punkt erreicht, an dem steigende Produktion und Kapazitätsauslastung zunehmend auch zu Neueinstellungen und damit zu mehr Beschäftigung führen. Gerade mit Blick auf Beschäftigung und Arbeitsplätze ist es wichtig, daß der Deutsche Bundestag in dieser öffentlichen Debatte eben immer wieder auch die zentralen Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik erörtert. Ich will mich in einigen Sätzen diesen wichtigen Fragen zuwenden.Erstens. Gerhard Stoltenberg hat all das, was gesagt werden muß, zum Thema Staatsfinanzen gesagt. Das einzige, was Sie von der SPD anzubieten haben, ist, zurückzukehren zu Ihren alten Rezepten, die immer katastrophale Folgen hatten: Neue Schulden zu machen, das ist das, was Sie uns doch in Wahrheit vorgeschlagen haben.
Sie hatten uns im Herbst 1982 ein wirklich gigantisches Defizit für 1983 vorgegeben, und wir haben für dieses Defizit bitter bezahlen müssen.Es gab zum einen im Psychologischen — das war vielleicht sogar das Allerwichtigste — die sich dramatisch ausbreitende Resignation in weiten Teilen der Wirtschaft, und da war zum anderen die drohende Handlungsunfähigkeit des Staates, solange Sie an der Regierung waren. Wir haben seitdem das Notwendige getan.
Wir haben das Defizit wesentlich reduziert, wenn wir auch noch nicht alle Ziele erreichen konnten. Wir haben mit einem 6-Milliarden-Gesamtpaket wichtige Starthilfen zur Wiederbelebung der Wirtschaft gegeben. Und ob es Ihnen gefällt oder nicht: Wir haben mit der Steuerreform — 1. Januar 1986, 1. Januar 1988 — einen Startschuß für eine vernünftige Entwicklung gegeben, die unter Ihrer Regierung gänzlich unmöglich gewesen wäre.
Im Gegensatz zu Ihren Prophezeiungen im Jahre 1983 und 1984 von diesem Pult aus hat uns die Konsolidierung des Haushalts eben nicht tiefer in die Rezession geführt, sondern sie hat einen wirtschaftlichen Aufschwung und die eben erwähnte Senkung der Steuerbelastung überhaupt erst möglich gemacht. Wir werden auf diesem Weg voranschreiten.
— Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, ich denke, es rentiert sich nicht, mit Ihnen darüber zu sprechen.
Sie sind in der Tat nur vorübergehend Gast in diesem Haus.
Das wird man ertragen müssen.
Steuersenkungen und solide Staatsfinanzen gehören für uns untrennbar zusammen. Das, Herr Abgeordneter Vogel, ist der entscheidende Unterschied zwischen uns. Steuersenkungen auf Pump sind für uns keine Alternative. Unsere Finanzpolitik bleibt berechenbar.
Der zweite wirklich entscheidende Punkt einer Veränderung in weniger als drei Jahren: statt Schrumpfung wirtschaftlicher Leistungen wieder Wirtschaftswachstum. Wir hatten 1982 immerhin einen Rückgang um real 14 Milliarden DM. Das heißt, die realen volkswirtschaftlichen Leistungen waren 1982 hinter den Stand von 1980 zurückgefallen. Heute haben wir anhaltendes reales Wirtschaftswachstum, mit dem uns beispielsweise die OECD — zu Recht — in der Spitzengruppe der Industrieländer der Welt sieht. Was immer Sie zum Thema Bundesbank sagen mögen, Herr Abgeordneter Vogel: die Bundesbank rechnet mit einer Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts in einer sehr günstigen Größenordnung in der Nähe von 3 Punkten. Diese Wachstumsdynamik bedeutete im übrigen im abgelaufenen Jahr 1984 eine Zunahme der volkswirtschaftlichen Leistungen um nicht weniger als 77 Milliarden DM. Das — das muß man den Sozialisten jeglicher Art ins Stammbuch schreiben — hat mehr Wirkung als alle vorgeschlagenen Beschäftigungsprogramme, die Sie je erdacht haben.
Herr Abgeordneter Vogel, Sie wissen so gut wie ich, daß die rund 50 Milliarden DM für die sogenannten Beschäftigungsprogramme jeglicher Art in den Jahren 1974 bis 1981 nur ein Ergebnis hatten:
Sie haben nicht weniger Arbeitslose, sondern die größte Zunahme an Arbeitslosen in der Nachkriegsgeschichte,
und Sie haben gewaltige Schulden hinterlassen.
Das dritte Feld sind die Preise. Ich habe in den letzten Wochen oft zu meinen Kollegen gesagt: Was wäre wohl geschehen, wenn Sie am Ende Ihrer Amtszeit auf Inflationsraten in der Größenordnung hätten hinweisen können, wie sie heute für viele unserer Mitbürger längst selbstverständlich geworden sind?
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11484 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundeskanzler Dr. KohlKein anderes Land mit Ausnahme Japans kann ähnlich niedrige Preissteigerungsraten aufweisen wie die Bundesrepublik Deutschland.
Das ist in Wahrheit soziale Politik.
Denn die wirkliche Expropriation — übrigens auch im marxistischen Sinne — findet statt, indem man den kleinen Sparer und die Leute mit kleinem Einkommen über die Inflation tatsächlich enteignet.
Das war doch eine Erfahrung, die wir gemacht haben und die nie wieder Richtschnur deutscher Politik werden darf.
Die Folgen unserer Politik sind ganz klar. Wir haben erstmals statt Kaufkraftverlust eine reale Zunahme von Löhnen und Einkommen.
— Frau Kollegin, dann gehen Sie einmal in die Betriebe.
Hier geht es nicht um den Sozialismus des Jet-Set, sondern um die Arbeitnehmer in unserem Lande. Die haben das doch erlebt.
1984 und 1985 erhöhte sich die reale Kaufkraft der Haushalte um rund 30 Milliarden DM.
Erstmals seit 1979 ist die Zinsvergütung für Sparkonten wieder höher als der Preisanstieg. Das bedeutet einen echten Wertzuwachs auf den Sparkonten.
— Die Vorstellung, daß unter dieser Regierung niemand sparen kann, bleibt allein Ihnen vorbehalten. Sie sollten sie jeden Tag draußen öffentlich wiederholen,
dann werden Sie sehen, wie Sie sich der Lächerlichkeit preisgeben.
Lassen Sie mich ein kurzes Wort zu dem Kapitel Zinsen und Investitionen sagen. Die Zinsen auf dem Kapitalmarkt sind von dem Höchststand 11 %) im Sommer 1981 inzwischen auf 61/2 % gesunken. Das hat erhebliche Wirkungen bei den Investitionen. Die ausgeprägte Investitionsschwäche in den letzten Jahren hatte, wie jeder weiß, den Abbau von Arbeitsplätzen und damit das Mehr an Arbeitslosigkeit vorprogrammiert. Heute, meine Damen und Herren — und das gehört in diesen Bericht —, registrieren wir eine boomartige Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen. Allein 1985 werden rund 150 Milliarden DM für Ausrüstung, Maschinen und Anlagen ausgegeben. Das sind genau 10% Steigerung gegenüber dem letzten Jahr. Dies ist doch entscheidend, weil die Investitionen von heute Arbeitsplätze von morgen bedeuten. Das ist in diesem Zusammenhang einer der wichtigsten Aktivposten unserer Regierung.
Ich kann hier ein weiteres Feld des Erfolges ansprechen: Umweltschutz.
Was haben Sie denn getan? Sie haben darüber geredet. Sie haben auf die neu ankommende Gruppe der GRÜNEN gestarrt. Sie waren doch handlungsunfähig, wie Sie es bis zum heutigen Tag geblieben sind. Es gab kein umfassendes Konzept.
— Herr Abgeordneter Vogel, warum schieben Sie hier die Verantwortung auf den Kollegen Baum? Es war doch Ihre Regierung, es war doch der von Ihnen kommende Bundeskanzler, der weder 1972 noch 1974, als Japan und Amerika das umweltfreundliche Auto einführten, die notwendigen Schritte eingeleitet hat.
Herr Abgeordneter Vogel, Sie fordern doch immer den handlungsfähigen Kanzler. Dieser Kanzler hat in dieser Frage gehandelt, und das ist der entscheidende Punkt.
Wir, die Bundesrepublik, haben heute eine Pilotfunktion in Sachen Umweltschutz.
Ich will ein paar Beispiele nennen: Halbierung des Schwefelausstoßes von Kraftwerken bis 1993, demnächst drastische Reduzierung der Schadstoffabgabe aus Industrieanlagen, schrittweise Einführung des umweltfreundlichen Autos, nicht nur bei uns, sondern auf unsere Initiative in Europa,
die speziellen Forschungen und gezielten Maßnahmen zum Thema Waldschäden,
das Maßnahmenbündel zum Schutz von Wasser und Boden. Mit einem Wort, wir haben die Dinge vorangebracht.Gestern sprach ich mit meinem Freund Ernst Albrecht, und wir erinnerten uns — ich sage das, weil
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11485
Bundeskanzler Dr. Kohleben dieser Zwischenruf kam — an, man kann schon sagen, teilweise hysterische Debatten vor gut einem Jahr zu dem Stichwort Buschhaus. Ich kann Sie nur auffordern, Herr Abgeordneter Vogel, der Sie ja auch als Wahlkämpfer in Niedersachsen sein werden: Gehen Sie in diese Region, und da werden Ihnen die Arbeitnehmer, da werden Ihnen die Menschen, die dort leben, folgendes mitteilen:
Die werden Ihnen sagen, daß auf Grund der Vereinbarung, die wir vor einem Jahr getroffen haben, ab Mitte 1985 der Jahresausstoß an Schwefeldioxid auf 120 000 Tonnen begrenzt wird, ab Mitte 1986 auf 113 500 Tonnen und ab 1987 — das ist übrigens dann das Wahljahr — auf 35 000 Tonnen. Ihre papierenen Proteste hätten in diesem Zusammenhang gar nichts bewirkt.
Meine Damen und Herren, wir haben dieses Programm auf den Weg gebracht, ohne uns in jener ideologischen Sackgasse zu verlaufen, in die sich die Sozialdemokratische Partei immer tiefer verirrt hat. Wir wissen, daß nur mit moderner Technologie in einer leistungsfähigen Wirtschaft Umweltschutz gewährleistet, Ökologie und Ökonomie gemeinsam entwickelt werden können.Herr Abgeordneter Vogel, ein weiterer Punkt: Strukturwandel. Wir werden im nächsten Jahr interessante Zahlen bekommen. Da wird sich beispielsweise die wirtschaftliche Entwicklung, die Arbeitsmarktlage, in Schleswig-Holstein, in Hamburg,
in Niedersachsen, Frau Kollegin, und in NordrheinWestfalen zeigen. Da werden Sie feststellen, daß wir in der kurzen Zeit seit unserer Amtsübernahme vor allem den neuen Technologien wieder eine Chance gegeben haben,
daß wir diesen ganzen ideologischen Unsinn nicht nur nicht mitmachen, sondern auch dezidiert bekämpfen, diesen Unsinn, einen Gegensatz zwischen wirtschaftlichem Fortschritt, Sicherung von Arbeitsplätzen und technologischen Notwendigkeiten zu konstruieren.
Wir haben die notwendigen Entwicklungen gefördert. Wir können feststellen, daß Forschung, Entwicklung und Innovation heute für weite Teile der Bevölkerung der Bundesrepublik — auch und nicht zuletzt für die junge Generation — eben keine Negativvokabeln mehr sind.Meine Damen und Herren, vor ein paar Tagen machte ich die interessante Erfahrung bei der Funkausstellung in Berlin, daß in einem Bereich, in dem die Konkurrenz mit unseren japanischen Freunden ganz besonders intensiv ist, das Gespenst„Die japanische Konkurrenz macht uns kaputt" zunehmend weicht.
Wir haben wieder allen Grund zu wirtschaftlichem Optimismus, und das ist ein großartiges Ergebnis unserer Politik.
Meine Damen und Herren, zu einer ehrlichen Bilanz gehört auch,
daß wir in dem wichtigen Bereich Beschäftigung und Arbeitsmarkt noch lange nicht alle Probleme gelöst haben. Aber auch hier muß man wieder die Ausgangsposition, die Sie ja kaschieren wollen, zugrunde legen. Für den Herbst 1982 sind folgende Zahlenangaben der amtlichen Statistik völlig unbestritten. Die Arbeitslosenzahl lag im Oktober 1982 bei 1 920 000, d. h. um 554 000 höher als genau ein Jahr zuvor. Binnen zwei Jahren gab es damals einen Zuwachs von mehr als einer Million Arbeitsuchender auf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik.Das war schon schlimm genug, aber es war noch nicht die ganze Wahrheit: Saisonbereinigt, d. h. nach Ausschaltung jahreszeitlicher Schwankungen, lag die Arbeitslosenzahl im Oktober 1982 bei 2 040 000, d. h. sie hatte bereits die Zweimillionengrenze passiert.
Dies, meine Damen und Herren, ist in Wahrheit nur eine Momentaufnahme. Ein deutlicheres Bild wird durch die Betrachtung dessen gewonnen, was damals, im Oktober 1982, als Ergebnis Ihrer Politik kurzfristig vorgezeichnet war. Am 9. Oktober 1982 legte der Sachverständigenrat sein Sondergutachten zur wirtschaftlichen Lage im Herbst 1982 vor. Seine Prognose für 1983 lautete, Herr Abgeordneter Vogel: Anstieg der Arbeitslosenzahl um rund 400 000 auf 2 250 000 Arbeitslose. Die Kommentierung dazu lieferte am 14. Oktober 1982 — man muß sich diese Sätze immer wieder vor Augen halten — das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin,
dessen Präsident kurze Zeit danach, bei der Wahl, in Ihrem Wunschkabinett Ihr Kandidat für das Amt des Wirtschaftsministers war. Er schrieb damals — ich zitiere —:Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich dramatisch verschlechtert. Der Rückgang der Beschäftigung hat sich verstärkt, der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist steiler geworden.Die Zahlen zu dieser Einschätzung konnte man am 25. Oktober 1982 — das war immer noch knapp nach Ihrem Ausscheiden aus der Regierung — dem
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11486 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundeskanzler Dr. KohlHerbstgutachten der Forschungsinstitute entnehmen. Damals hat wiederum Herr Professor Krupp mitformuliert: Anstieg der Arbeitslosenzahl 1983 um 450 000.Was können wir demgegenüber heute, nach über zwei Jahren, festhalten? Zum einen: Der im Oktober 1982 vorhergesagte Jahresdurchschnittswert von 2,3 Millionen ist nicht erreicht worden. Zum anderen: Der jährliche Anstieg der Arbeitslosenzahl um über eine halbe Million — wie 1982 — hat seither nicht mehr stattgefunden. 1984 belief sich der Zuwachs statt dessen auf 0,3 %, d. h. auf drei Zehntel eines Prozentpunktes, und dies — das haben Sie in der öffentlichen Diskussion immer unterschlagen — trotz der geburtenstarken Jahrgänge auf dem Arbeitsmarkt, die es — auf lange Sicht sage ich: Gott sei Dank — gibt und die unsere Probleme heute notwendigerweise wesentlich verschärfen.
Den Anstieg der Arbeitslosenzahl zu stoppen ist für uns ein ganz wichtiges Ziel unserer Politik, aber es kann nur ein erster Schritt in die richtige Richtung sein. Dafür, daß die Richtung stimmt, gibt es klare Hinweise, meine Damen und Herren:
Die Zahl der Kurzarbeiter konnte seit Anfang 1983 von über 1 Million auf zuletzt 74 000 gesenkt werden. — Frau Kollegin, ich verstehe an diesem Punkt Ihren Widerspruch wirklich nicht;
lassen Sie mich das in der Sympathie, die uns verbindet, doch sagen. Der Abbau von Kurzarbeit ist doch der Abbau der Gefahrenstufe vor der Arbeitslosigkeit.
— Ich kann Ihnen aus meiner Erfahrung aus den letzten Jahren — das hat nichts mit meinem Amt zu tun — Dutzende von Beispielen dafür nennen, daß Betriebe, bevor sie in die letzten Schwierigkeiten kamen, zunächst versucht haben, sich mit Kurzarbeit zu entlasten und über die Runden zu retten.
Meine Damen und Herren, das ist doch nun eine großartige Zahl; diese sollten Sie proklamieren.Herr Abgeordneter Vogel, es will doch gar kein Mensch die Nürnberger Zahlen umfunktionieren, wie Sie es hier behauptet haben. Es handelt sich, wie Theo Waigel mit Recht gesagt hat, bei folgendem doch einfach um eine Tatsache. Wenn Sie nicht in Ihrem elfenbeinernen Turm des Sozialismus, sondern mitten unter den Leuten leben würden, dann wüßten Sie doch, daß von Handwerksmeistern, von Groß- und Kleinbetrieben gesagt wird:Wir melden die Leute nicht mehr an; wir gehen nicht zum Arbeitsamt und melden unsere freien Stellen. — Wir wünschen allerdings, daß es anders wäre. Natürlich werden wir heute abend mit den Arbeitgebern darüber sprechen. Das, was viele draußen im Land erbittert, ist doch das ganz unterschiedliche Bild, wenn sie einerseits vor sich den Betrieb mit dem Schild „Wir stellen ein" sehen und andererseits vor Ort Zahlen lesen, die in der Perspektive des Betrachters dann so nicht stimmen.
Meine Damen und Herren, es gibt noch einen ganz großartigen Erfolg bei alledem, was uns dabei bedrückt. Die Jugendarbeitslosigkeit — auch das sollten Sie anerkennen — ist heute niedriger als im Herbst 1982
— und dies trotz der größeren Zahl von Schulabgängern im Verhältnis zu damals. Das ist im übrigen auch im EG-Vergleich ein sehr gutes Ergebnis. Wir haben wirklich durch gemeinsame Arbeit vieler Verantwortlicher in allen Bereichen der Gesellschaft bei der Lösung des Lehrstellenproblems ein großartiges Ergebnis zu verzeichnen gehabt. Weil eine Lüge immer wieder verbreitet wird, will ich hier übrigens doch noch einmal klar und deutlich sagen: Ich habe niemals außerhalb des Jahres, in dem jene Erklärung galt, eine Lehrstellengarantie gegeben. Es ist einfach Unsinn, das Gegenteil zu behaupten. Wer es behauptet, sagt bewußt die Unwahrheit. Wahr ist aber auch, daß in jenem Jahr und in den darauffolgenden Jahren weit über 90 % einen Ausbildungsplatz erhalten und daß wir Ausbildungsplatzrekorde erzielt haben.
Mit einem Wort: Es gibt bei allen unleugbaren Schwierigkeiten eine deutliche Trendwende an der Beschäftigungsfront. Seit Anfang dieses Jahres liegt die Zahl der Beschäftigten erstmals seit vier Jahren nicht mehr unter, sondern über vor dem Vorjahresstand. Das Ifo-Institut beziffert die Zunahme an Arbeitsplätzen in der Gesamtwirtschaft bis Mitte des Jahres auf 100 000. Noch eines ist wichtig: Der Beschäftigungsanstieg war im Investitionsgütergewerbe mit Abstand am stärksten, also genau dort, wo Produktion und Aufträge am stärksten zugenommen haben. Dies zeigt deutlicher als alles andere, daß die wirtschaftliche Entwicklung, daß der Aufwärtstrend eben nicht am Arbeitsmarkt vorbeigehen, sondern im Gegenteil von dort Impulse für den Arbeitsmarkt ausgehen. Meine Damen und Herren, diese Trendwende in Sachen Beschäftigung war alles andere als selbstverständlich. Im Herbst 1982, am Ende der 13 Jahre Ihrer Regierung, gab es nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze als 1969. 800 000 Arbeitsplätze müssen in Ihrer Übergabebilanz als Verlust eingesetzt werden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11487
Bundeskanzler Dr. KohlFür uns ist dies nicht eine Frage der Statistik, sondern wir wissen doch — ich denke, wenigstens an diesem Punkt stimmen wir überein —, daß der Verlust eines Arbeitsplatzes auch der Verlust der Chance zu wirklicher Selbstverwirklichung ist und daß man das entscheidende Ziel deutscher Innenpolitik und deutscher Gesellschaftspolitik in der Gegenwart — was immer man in einzelnen politischen Lagern denken mag — im Stopp und im Abbau der Arbeitslosigkeit sehen muß. Wir haben notwendige Schritte in diesem Sinne eingeleitet, und ich bin sicher, wir werden auf diesem Weg gut vorankommen.
Der Blick auf das zweite Halbjahr 1985 und auf das Jahr 1986 zeigt, daß es bei der Beschäftigung einen Aufwärtstrend gibt. Das Wirtschaftswachstum ist stabil. Die Sachverständigen halten sogar eine leichte Verstärkung für das nächste Jahr für wahrscheinlich. Eine Gefährdung der Preisstabilität ist nicht zu erkennen.
— Wissen Sie, Arbeitslose interessieren Sie überhaupt nicht. Sie interessiert die Polemik, um diese Republik zu schädigen. Das ist das einzige, was Sie interessiert.
Produktion und Aufträge zeigen nach oben. Der Export wie die Inlandsnachfrage gewinnen auch weiterhin an Schwung. Die Kapazitätsauslastung der Industrie hat mit knapp 85 % den letzten Höchststand von 1979 — das war immerhin vor sechs Jahren — erreicht. Das heißt, Neueinstellungen stehen zunehmend auf der Tagesordnung.Meine Damen und Herren, zusammenfassend gilt für dieses Kapitel: Wir stehen jetzt an dem Punkt, wo die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung auch bei der Beschäftigung zunehmend Wirkung erzielt. Damit sind wir knapp drei Jahre nach der Regierungsübernahme einen ganz wesentlichen Schritt vorangekommen.
Das war nur möglich — dafür will ich mich hier auch ausdrücklich bedanken —, weil die Koalitionsfraktionen und die Koalitionsparteien diesen konsequenten Kurs der Konsolidierung der Staatsfinanzen — das war die Voraussetzung für die Wiedergewinnung der Handlungsfähigkeit — auch in sehr schwierigen Zeitabschnitten, etwa in Wahlkämpfen, mit ertragen, mit durchgehalten haben.Herr Kollege Mischnick, ich stimme Ihnen ganz zu: Wir sind noch keineswegs auf einem Feld angelangt, wo wir uns irgendwelche Experimente erlauben könnten. Wir müssen diesen Kurs der Konsolidierung vernünftig fortsetzen, weil allein dadurch für die Zukunft neue Handlungsfähigkeit gewonnen wird.
Ich nenne nur das Thema der Steuerpolitik.Aber, meine Damen und Herren, nicht nur Regierung und Parlament haben Handlungsfähigkeit zurückgewonnen, auch Gewerkschaften und Arbeitgeber; denn die wirtschaftliche Bilanz der letzten zwei Jahre hat natürlich auch für die Tarifpartner Möglichkeiten ergeben. Die Zinsen sinken, die Preise sind stabil, die Wirtschaft wächst, die Unternehmen investieren. Unsere verbesserte Chance im Bereich des internationalen Wettbewerbs ist unbestritten. Die Tarifpartner können wieder über reale Lohnsteigerungen verhandeln.Aber wir können dabei nicht stehenbleiben. Der hohe Sockel der Arbeitslosigkeit läßt sich nur dann abbauen, wenn nicht nur die politisch Verantwortlichen die Rahmenbedingungen schaffen, sondern wenn alle Beteiligten bei diesen Aufgaben zusammenwirken. Ich nenne nur die über 1 Million Arbeitslosen ohne ausreichende Qualifikation. Ich nenne den eklatanten, in einigen Regionen ja ganz und gar unverständlichen Facharbeitermangel auf den Wachstumsfeldern der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung. Ich nenne die Notwendigkeit, ja unsere Pflicht, zu helfen beim Übergang junger Menschen aus der Lehre in ein Beschäftigungsverhältnis.
Ich nenne als ein besonders bedrückendes Thema aus dem Bereich der Jungakademikerarbeitslosigkeit die wachsende Zahl arbeitsloser Lehrer, die nur bei einem Wechsel in einen anderen Beruf einen dauerhaften Arbeitsplatz finden können. Das sind Beispiele für das weite Feld von Arbeit, das noch vor uns liegt.Vor diesem Hintergrund ist das Gespräch, das wir heute abend mit den Gewerkschaften, mit dem DGB und den Arbeitgebern haben — ihm wird bald ein Gespräch mit der DAG folgen — von großer Bedeutung. Wenn wir jetzt zu einer gemeinsamen großen Kraftanstrengung kommen könnten, zu einer Art Offensive für mehr Beschäftigung, dann werden alle Bemühungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit gebündelt und somit noch größeren Erfolg haben. Ich bin ganz sicher, daß — ungeachtet sehr unterschiedlicher Positionen — alle Verantwortlichen, die zusammenkommen, sich dieser Pflicht, dieser Verantwortung, aber auch dieser Chance bewußt sind und daß jede Seite bereit ist, konkrete und wesentliche Beiträge dazu zu leisten.Herr Abgeordneter Vogel, wir brauchen dabei von niemandem und schon gar nicht von Ihnen ein Hinweis auf unser Verhältnis zu der Notwendigkeit freier Gewerkschaften. Ich habe immer gesagt: Zum Signum einer freien Gesellschaft gehören freie Gewerkschaften. Beides gehört notwendigerweise zusammen. Zu freien Gewerkschaften gehört auch die kämpferische Auseinandersetzung etwa über Tarife bis hin zu politischen Fragen.Natürlich haben wir hier unsere eigenen Erfahrungen. Ich sage das einmal als Vorsitzender der Christlich Demokratischen Union. Aber dessenungeachtet sehen wir die Pflicht zu einer vernünftigen Zusammenarbeit. Das, was Sie aus der Gründerzeit
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11488 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundeskanzler Dr. Kohlder Republik, mit Adenauer und anderen, beschworen haben, gilt selbstverständlich auch heute noch: wir sind daran interessiert, auch mit den Gewerkschaften in guten Beziehungen zu stehen. Aber das heißt nicht, daß wir um dieses Zieles willen politische oder ideologische Zielsetzungen übernehmen, die mit unserer Überzeugung nicht vereinbar sind.
Für das politische Klima im Land, für das soziale Klima im Land ist ein anderes ganz wichtiges Thema von größter Bedeutung, das Thema der Familienpolitik. Bevor ich mich diesem Thema zuwende, will ich noch eine kurze Bemerkung zu dem machen, was der Abgeordnete Dr. Vogel in einer mir völlig unverständlichen Weise zu der innerhalb der Union ablaufenden Diskussion zu § 218 gesagt hat.Herr Abgeordneter Vogel, wenn Sie keinen Sinn dafür haben, daß ein solches Thema Menschen in der Bundesrepublik zutiefst aufwühlt und berührt, ist das Ihre Sache.
Zu einer freiheitlich verfaßten Partei gehört, daß man darüber diskutiert und auch durchaus kontrovers diskutiert. Wenn Sie allein den Raum der Kirchen betrachten, sehen Sie, daß dort zum Teil eine sehr kontroverse Diskussion zu diesem Thema stattfindet, und es wäre eine absurde Situation, wenn sich eine Partei wie die Christlich Demokratische oder die Christlich-Soziale Union diesem Thema verschließen würde. Bei uns gibt es keinen Fraktionszwang,
bei uns gibt es nicht die Vorstellung, daß eine so zentrale Frage, die die Menschen im Innersten berührt, ausgeklammert werden kann. Deswegen diskutieren wir darüber, und zwar mit unterschiedlicher Meinung.
— Herr Abgeordneter Vogel, bei uns wird doch nichts rumgeschoben. Sie bringen ja nicht einmal einen Kanzlerkandidaten zusammen.
Hören Sie doch auf, vom Rumschieben zu reden! Hier geht es um wirklich wichtige Fragen, die die Menschen berühren, und nicht um taktische Dinge.Es ist einfach nicht wahr, wenn Sie hier die Behauptung aufstellen, wir wollten den § 218 ändern. Die Diskussion bei uns in der Union geht darum, was bei Mißbrauch der gesetzlichen Bestimmungen — das wird von vielen so empfunden — zu tun ist. Die Initiative meines Freundes Bernhard Vogel, des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, richtet sich genau auf diesen Punkt.
Was Sie uns hier unterstellen, stimmt doch einfachüberhaupt nicht. Herr Abgeordneter Vogel, auch Siemüßten es einfach für unerträglich halten, daß in einem so unbestreitbar reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen menschliches Leben vernichtet wird. Hier müssen wir doch handeln, und darum geht es doch im Augenblick.
Wir haben doch auch gehandelt: Ab Januar nächsten Jahres wird durch Erziehungsgeld und Kindergeldzuschlag erreicht, daß keine Frau, die ein Kind auf die Welt bringt, zu befürchten braucht, in eine soziale Notlage zu geraten. Wir haben durch diese Maßnahmen gehandelt und geholfen.
Meine Damen und Herren, warum haben Sie das alles nicht getan? Diese Frage drängt sich doch auf. Alles, was Sie in diesem Zusammenhang getan und gesagt haben, hat nur mit dem Strafrecht zu tun. Sie haben aber nicht den Menschen geholfen, Sie sind nicht auf die Menschen zugegangen, und darum geht es uns in dieser Diskussion vor allem.
Das alles hat natürlich seinen guten Grund; denn wenn es überhaupt eine Institution in unserem Staat, in der Gesellschaft gab, die unter Ihrer Politik gelitten hat, dann war es die Familie. Sie haben die Familie materiell und sozial ins Abseits gedrängt.
Sie haben sie rechtlich bevormundet, Sie haben sie psychologisch verunsichert, und die Familie war in Ihrer gesellschaftspolitischen Vorstellung jahrelang Objekt für gesellschaftsverändernde Experimente.
Dahinter stand immer die ideologische Vorstellung einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen, der alte Traum der Marxisten und Sozialisten, der sich schon immer als eine Schimäre erwiesen hat.
Meine Damen und Herren, diese Politik hat nicht Partnerschaft und nicht Mitmenschlichkeit gefördert, sondern sie hat nur Konflikte geschürt, sie hat menschliche Bindungen in Frage gestellt und oft auch zerstört. Viele Schwächesymptome unserer Gesellschaft, mit denen wir uns heute herumschlagen, vor allem auch jener törichte, dümmliche, fortschrittsfeindliche Kulturpessimismus, haben ihre Ursache in dieser totalen Verunsicherung.Für die Koalition der Mitte sind der Schutz und die Stärkung der Familie eine gesellschaftspolitische Aufgabe ersten Ranges.Ich nehme die Gelegenheit der heutigen Debatte wahr, meinem Freund Heiner Geißler für seine Arbeit in diesem Feld ausdrücklich zu danken.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11489
Bundeskanzler Dr. KohlEr hat in diesen weniger als drei Jahren mehr bewegt als viele andere in diesem Ressort vor ihm. Er hat es mit der ihm eigenen Art, mit äußerster Tatkraft und Entschiedenheit, auch mit großer Robustheit getan; er hat aber damit überhaupt bei vielen in unserer Gesellschaft ein Tor für die Einsicht geöffnet, wieder ein klares Ja zur Familie zu sagen.
Herr Abgeordneter Vogel, was Sie dann sonst noch so beiläufig gegen meinen Freund Heiner Geißler zu sagen pflegen, fällt in sich zusammen. Man merkt bei Ihnen aus allem heraus: Sie wären froh, Sie hätten einen vergleichbaren Generalsekretär.
Allerdings würde das nicht gut gehen, denn nach dem, wie Herr Wischnewski die Vorgänge in der Parteiführung beschrieben hat, könnte sich Heiner Geißler dort gar nicht halten, weil er Ihr Verständnis von Partei nicht teilt.
Wir sollten das Thema jetzt abhaken. Sie haben im Wahlkampf genug Gelegenheit, solche Dinge noch weiter zu sagen.Meine Damen und Herren, für die Koalition der Mitte, für FDP, CDU und CSU, sind der Schutz und die Stärkung der Familie eine gesellschaftspolitische Aufgabe ersten Ranges. Ehe und Familie sind das Fundament unseres Staates, unserer Gesellschaft. Ohne die gemeinschaftsbildende Kraft, ohne die Leistungen der Familie hat das Land keine Zukunft.
— Für Sie mögen das Platitüden sein. So war ja auch Ihre Politik mit all den Ergebnissen, mit denen wir uns heute auseinanderzusetzen haben.
Eine Gesellschaft, die die Familie vernachlässigt, kann eben nicht kinderfreundlich sein, und eine kinderfeindliche Gesellschaft ist außerstande, mit Optimismus und mit Zuversicht nach vorn zu blikken.Dabei geht es uns überhaupt nicht darum, in persönliche Entscheidungen von Mann und Frau einzugreifen.
Aber wir wollen und wir müssen verhindern, daß der Wunsch nach Kindern, daß das Ja zu Kindern zu einer sozialen Benachteiligung führt. Und wir haben gehandelt. Das ist gestern in der Diskussion schon dargelegt worden.
Die Familienpolitik der Bundesregierung verbessert die soziale Situation der Familien. Materiell geschieht das durch eine Summe und eine Kombination von familiengerechter Steuer und gezielter sozialer Förderung. Wir haben den größten familienpolitischen Lastenausgleich seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland auf den Weg gebracht.
Wir wollen eine Renaissance der Familie in unserer Gesellschaft. Dabei ist die Verbesserung der materiellen Lage nur der eine Teil. Der andere Teil ist ein Umdenken in Staat und Gesellschaft. Daran werden wir uns alle beteiligen müssen. Das ist eben nicht nur — vielleicht noch nicht einmal zuvörderst — eine Aufgabe der Politik.Mehr als das, was Staat und Gesetze bewegen können, was Behörden tun können, ist das, wozu die Menschen selbst bereit sind, zugunsten einer Veränderung des Großklimas in unserer Gesellschaft. Wichtig ist, daß wir alle, daß Elternhäuser und Schulen, gesellschaftliche Organisationen — Kirchen, Gewerkschaften — und viele andere die Familie wieder in den Mittelpunkt unserer Überlegungen und unserer Sympathie stellen. Die wirtschaftlich-technische Modernisierung unseres Landes stellt hohe Anforderungen an die Gesellschaft von heute und morgen, an Anpassungs- und Lernfähigkeit.
Auch im Blick auf diese Herausforderung insgesamt ist die Familie die große Chance, den Menschen Wärme, Rückhalt und Geborgenheit zu geben.
Für uns ist Familienpolitik eine tragende Säule der Zukunft unseres Landes, und wir werden alle unsere Maßnahmen immer wieder in diesem Sinne zu überprüfen haben.
Meine Damen und Herren, nach weniger als drei Jahren — das ist eine kurze Zeit im Ablauf der Geschichte eines Volkes —,
kann ich auch bei alledem, was uns nicht gelungen ist und was uns auch an Fehlern unterlaufen ist, heute mit berechtigtem Stolz sagen: Wir haben in diesen knapp drei Jahren in allen wesentlichen Fragen entscheidende Fortschritte erzielt. Wir haben fast 80 % des von mir hier in der Regierungserklärung vorgetragenen Programms bereits jetzt entweder realisiert oder in die Gesetzgebung eingebracht. Wir werden unser Arbeitspensum zügig bis zum Sommer 1986 abschließen. Wir werden uns dann guten Mutes den Wählern stellen.
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11490 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundeskanzler Dr. KohlDer Wähler wird erkennen: Die Wende hat in der deutschen Politik stattgefunden. Es geht wieder aufwärts mit der Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Wir beginnen wieder um 14.15 Uhr.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Fuchs .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler kümmert sich vielleicht um seine Familie. Das würden wir ihm vielleicht gönnen.
— Wird durch Sie vertreten, Herr Kollege. Wie schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat gesagt, er sei ein aufmerksamer Zuhörer gewesen und sei eigentlich enttäuscht von der Debatte. Ich muß für mich sagen: Auch ich habe aufmerksam zugehört. Ich habe gestern dem Herrn Finanzminister gelauscht. Ich habe dem Herrn Wirtschaftsminister gelauscht. Ich habe unseren Antworten gelauscht. Ich muß Ihnen sagen, meine Damen und Herren, ich bin von dem, was die Bundesregierung gesagt hat, gar nicht enttäuscht. Ich habe gar nichts anderes erwartet.
Sie hat sich so dargestellt, wie sie ist; denn — und das will ich zu erläutern versuchen — es gibt in der Tat in der Wirtschafts- und Finanzpolitik grundlegende Unterschiede zwischen der Regierungskoalition und der Sozialdemokratischen Partei.Wenn ich auf die außenpolitischen Bemerkungen des Bundeskanzlers nur wenig eingehen darf — das wird nachher noch vertieft. werden —, so muß ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Mir kam das eher vor wie eine Geschichtserzählung und nicht wie der Debattenbeitrag eines Bundeskanzlers, von dem ich erwartet hätte, daß er nun einmal sagt: Was er denn konkret getan hat, um eine Abrüstungsinitiative in Gang zu setzen?
Was hat er denn getan, um uns in Richtung Europa konkret ein Stückchen voranzubringen?Das einzig Erfreuliche an den Bemerkungen des Bundeskanzlers ist, daß er sich wohl, was SDI anlangt, auf den Weg zu Herrn Genscher begeben hat. Wenn Ihr Erziehungsprozeß, Herr Bundesaußenminister, erfolgreich war, wollen wir Sozialdemokraten das gern begrüßen. Wir hoffen, daß sich der Bundeskanzler nun endlich von Herrn Strauß und den anderen Scharfmachern in dieser Frage distanziert und auch nicht rückfällig wird.
Etwas überrascht hat mich dann, wie sich der Bundeskanzler im Brustton der Überzeugung, so männerfreundschaftlich vor all seine Kabinettsmitglieder gestellt hat. Er hat gesagt, er würde für jeden einzelnen die persönliche Verantwortung übernehmen. Das muß man sich einmal zusammengefaßt vorstellen, die Fehler von Herrn Wörner, von Herrn Schwarz-Schilling, von Graf Lambsdorff, von Herrn Zimmermann, von Herrn Geißler, z. B. im Weinskandal. Wenn man dies alles zusammennimmt, meine Damen und Herren, dann ist das Wort von dem „Pannenkanzler" noch freundlich.
Der Bundeskanzler hat dann wieder einmal die Erblast bemüht,
zum Teil mit sehr falschen Fakten. Ich würde sie gern richtigstellen.Was die Preisstabilität anlangt, so wollen wir doch festhalten — Hans-Jochen Vogel hat heute morgen darauf hingewiesen —: Im internationalen Vergleich war die Bundesrepupblik Deutschland immer Spitze, was die günstige Inflationsentwicklung anlangte. Das lag auch an unseren hervorragenden Finanzministern, die Sozialdemokraten und keine Liberalen waren.
Und dabei wird manchmal vergessen, daß wir in unserer Zeit zwei schwere Ölkrisen zu überwinden hatten, die doch wohl auf diesen Sektor einen besonderen Einfluß hatten. Von daher ist Ihre Angabe mit der niedrigen Inflationsrate als Erfolg Ihrer Politik Hochstapelei, meine Damen und Herren.
Ja, und dann das mit den Arbeitslosen: Nun wird so getan, als ob man das alles gar nicht machen könne und als ob es ein Erfolg sei, daß man einen Stillstand herbeigeführt habe. Nein, ich glaube, eine Regierung muß sich an dem messen lassen, was sie versprochen und was sie eingehalten hat. Hat doch Herr Blüm gesagt, im Jahr 1983 würden wir nur noch 1 Million Arbeitslose haben. An diesem flotten Spruch muß sich die ganze Bundesregierung dann auch messen lassen.
Wenn ich noch einmal auf die Minister zurückkommen darf, von denen der Generalsekretär be-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11491
Frau Fuchs
sonders hervorgehoben wurde, indem gesagt wurde, so einen Generalsekretär könne sich die SPD gar nicht leisten: Ich will darauf hinweisen, meine Damen und Herren, daß dieser Generalsekretär für die CDU-Kasse sehr preiswert war. Denn Sie haben ihn drei Jahre lang als Familienminister aus Haushaltsmitteln finanzieren lassen und ihm keinen Pfennig zusätzlich geben müssen. Auch so kann man Parteifinanzen in Ordnung bringen.
Der Bundeskanzler hat Herrn Krupp zitiert, der Ende 1982 schwere Fehler oder schwere Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt vorausgesagt hat. Auch ich will Herrn Krupp zitieren, aber aus dem Jahr 1984. Im damaligen Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung heißt es nämlich: Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wäre 1983 und 1984 das Bruttosozialprodukt um 3% höher ausgefallen, wenn eine konjunkturgerechte, an den Produktionsmöglichkeiten ausgerichtete Finanzpolitik betrieben worden wäre. Die Zahl der Beschäftigten hätte dann um 490 000 höher gelegen. Die Zahl der Arbeitslosen wäre mindestens um 320 000 niedriger ausgefallen. — Das ist der Krupp der Neuzeit.
Und wenn der Bundeskanzler von steigenden Reallöhnen spricht, so möchte ich doch sagen: Wir haben Jahr für Jahr sinkende Nettorealverdienste der Arbeitnehmer. Sie lagen 1984 auf dem Niveau von 1977 um mehr als 1 000 DM unter dem Jahresstand von 1980. Sie sollten sich also bessere Berater holen, Herr Bundeskanzler, damit Sie nicht mit falschen Zahlen operieren müssen.
Der nächste Punkt, auf den ich hinweisen möchte, bevor ich zu anderem übergehe: Es wird so gesprochen, als ob wahnsinnig viel konsolidiert wäre. Wissen Sie, wie die Finanzierungslücke 1982 aussah und wie sie jetzt ist?
— Sie wissen das. 1982 war die Finanzierungslücke 140 Milliarden. 1986 sind es 157 Milliarden, nach Adam Riese also 17 Milliarden mehr als im Jahr 1982.
Das heißt, Ihre ganze Konsolidierungspolitik, verglichen mit unserer Politik, ist widersprüchlich.
Ich komme auf die Frage zurück, warum der Bundeskanzler hätte enttäuscht sein können. Wir haben ein Wachstum von 3%. Dieses Wachstum wird ja nicht bestritten. Natürlich haben all diejenigen recht, die sagen: Wir haben im Augenblick eine günstige wirtschaftliche Entwicklung. Da ist es doch eigentlich ganz selbstverständlich, daß auch die Beschäftigtenzahl ansteigt.Aber dies ist doch der Punkt, meine Damen und Herren von der Koalition.
Sie haben als wirtschaftspolitische Aussage oder Perspektive nur 3 % Wachstum. Aber jedes Wirtschaftsinstitut sagt doch, daß 3 % Wachstum niemals genügen werden, um ein ausreichendes Maß von Arbeitsplätzen zu schaffen.
Deswegen sagen wir doch zu Recht: Sie finden sich entgegen all Ihren Beteuerungen auf Dauer mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 2,2 Millionen Arbeitslosen ab.
Lesen Sie mal nach, was Herr Staatssekretär Schlecht dem Herrn Bundeswirtschaftsminister in seine Papiere hineingeschrieben hat! Lesen Sie die mittelfristige Finanzplanung! Es wird auf Regierungsseite davon ausgegangen, daß wir auf längere Sicht eine Arbeitslosigkeit von mehr als 2 Millionen haben werden,
auch bei einem Wachstum von 3%.Hier setzt doch unsere Kritik an. Sie können nicht auf die konjunkturelle Belebung jetzt abheben, und dann sagen: Der Abbau der Arbeitslosigkeit wird nicht kommen, und damit hat es sich dann. Denn Sie müssen doch Ihre eigenen Sprüche ernst nehmen, die da lauten — die stimmen ja nur zum Teil —: Investition schafft Arbeitsplätze. Jeder weiß, daß das nur zum Teil zutrifft. Aber wenn es schon zutrifft, dann müssen Sie doch wenigstens dafür sorgen, daß dort, wo Investitionen möglich werden, auch von seiten des Staates so viel an Investitionen finanziert und organisiert wird, wie es nur irgendwie geht.
Deswegen ist es unerträglich, daß bei Ihnen die Investitionen rückläufig sind. Der Herr Bundesfinanzminister hat mich gestern gebeten, mich mit Fakten auseinanderzusetzen. Ich habe nachgelesen. Ich bleibe bei meinem gestrigen Zwischenruf. Insofern hat der Finanzminister nicht recht, wenn er behauptet, die Investitionen würden steigen. Die öffentlichen Investitionen sind auf einem Tiefstand.
Sie finden sich damit ab, Herr George: 3 % Wachstum, 2,2 Millionen Arbeitslose. Sie tun nichts, um die Beschäftigungssituation zu verbessern.
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11492 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Frau Fuchs
Dann stellt sich Herr Mischnick hier hin und sagt: Hinter dem Begriff „neue Armut" muß doch etwas stecken, man muß suchen, woher das kommt. Und dann bringt er die ganzen Sprüche von „Leistung muß sich wieder lohnen" und all diese Sachen. Nein, die neue Armut ist entstanden, meine Damen und Herren, weil Sie rigoros ins soziale Leistungsnetz eingegriffen haben
und weil die Arbeitslosen heute zu einem großen Teil auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das ist doch die neue Armut, von der wir heute zu sprechen haben.
Frau Abgeordnete Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lammert?
Bitte sehr.
Frau Kollegin, können Sie bestätigen, daß von den volkswirtschaftlichen Investitionen rund 85 % auf den Bereich der gewerblichen Wirtschaft
und nur 15 % auf die öffentlichen Haushalte entfallen
und daß von diesen 15 % wiederum nur ungefähr ein Drittel auf den Bundeshaushalt entfällt, so daß insofern für die volkswirtschaftliche Entwicklung in der Tat unendlich mehr davon abhängt, ob und in welchem Ausmaß privatwirtschaftliche Investitionen zustande kommen, als davon, ob der Investitionsanteil des Bundeshaushaltes hinter dem Komma um ein halbes oder ein ganzes Prozent steigt?
Herr Kollege, vielen Dank für Ihre Frage. Zunächst einmal:
Private Investitionen sind sinnvoll. Aber private Investitionen werden nicht überall dazu führen, daß es mehr Arbeitsplätze gibt. Deswegen brauchen wir ja auch eine drastische Arbeitszeitverkürzung, wenn wir für Vollbeschäftigung sorgen wollen.
Sie haben recht, daß die öffentlichen Investitionen nur ein Teil der Gesamtinvestitionen sind. Aber ich sage Ihnen: Wer sich nicht die Mühe macht, Schritt für Schritt für mehr Beschäftigung zu sorgen, der versündigt sich an unserer Demokratie.
Selbst wenn von den Investitionen nur 15 % auf die öffentlichen Haushalte entfallen sollten, selbst wenn ein größerer Teil in den Kommunen investiert werden müßte, lohnt sich jede Anstrengung, weil 2,2 Millionen Arbeitslose zuviel sind. Sie kosten uns 55 Milliarden DM. Arbeitslosigkeit nimmt den jungen Menschen die Zukunftsperspektive.
Deswegen muß der Bundeshaushalt, wo er es kann, eine beschäftigungsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik ermöglichen. Daß dies nicht in ausreichendem Maße geschieht, ist unser Vorwurf.
Der Bundeskanzler hat dann gesagt, die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit sei fabelhaft. Herr Bundeskanzler, Sie müssen bitte begreifen, daß die Menschen, die wir durch das Ausbildungssystem schleusen, danach heute zu 14 % arbeitslos sind — junge Menschen, die ausgebildet sind. Sie werden übrigens, Herr Kollege, von den Betrieben manchmal nicht genommen, weil die Erfahrung fehlt. Das sind dieselben Betriebe, die die älteren Leute entlassen, weil sie ihnen zu spät Qualifizierungsmaßnahmen angeboten haben, weil sie sie zu spät umgeschult haben. Die Älteren werden entlassen, und den Jüngeren wird manchmal keine Chance geboten, weil ihnen angeblich die Erfahrung fehlt.
Aber worauf ich hinweisen wollte, ist: Jungen Menschen, die durch das Ausbildungssystem geschleust worden sind, müssen wir doch hier und heute und jetzt einen Arbeitsplatz bieten. Wir können ihnen doch nicht sagen: Kommt wieder, wenn ihr 30 Jahre alt seid, dann haben wir vielleicht einen Arbeitsplatz für euch.
Sie brauchen jetzt eine Perspektive, weil sie sonst keinen Lebensplan aufstellen können.
Im übrigen ist es doch so — ich sage noch einmal etwas zur Arbeitszeitverkürzung —: Auch wenn sich die demographische Entwicklung ändert, so verbessert sich — das sagen alle Wirtschaftsinstitute — nicht automatisch die Arbeitslosensituation. Ich warne also davor, zu meinen, man könne abwarten. Ich weiß ja, daß das für diese Regierung das Schönste ist. „Hinsetzen und Tee trinken", würden wir in Friesland sagen, hinsetzen, Tee trinken und abwarten, was dann so kommt. Das reicht nicht aus, meine Damen und Herren. Ich komme noch einmal auf die 55 Milliarden DM zurück: Es lohnt sich, jeder Facette nachzugehen, um Arbeitsplätze zu schaffen, weil alles andere den Menschen keine
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11493
Frau Fuchs
Perspektive bringt und für den Staat auf die Dauer zu teuer ist.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kroll-Schlüter?
Bitte sehr.
Frau Kollegin Fuchs, können Sie mir sagen, in welchem Ministerium in Ihrer Regierungszeit mehr Lehrlinge ausgebildet wurden als heute, können Sie mir sagen, in welcher Regierungszeit das sogenannte Benachteiligtenprogramm mit mehr Geld ausgestattet war als heute, und können Sie mir im Vergleich zu heute eine Initiative nennen, die mehr Ausbildungsplätze bereitgestellt hätte?
Ich weiß, daß das Arbeitsministerium überproportional viele Leute ausgebildet hat. Wir haben nämlich die Initiative gestartet, daß auch der öffentliche Dienst dort, wo er es kann, für Ausbildung sorgt. Wir haben dafür gesorgt, daß es schon damals gemeinsame Anstrengungen gab, um Ausbildungsplätze zu schaffen. Wir sind jetzt in der Situation, Herr Kollege, daß es auf der einen Seite um noch mehr Ausbildungsplätze geht, daß auf der anderen Seite das Problem verkürzt wird, wenn Sie Jugendarbeitslosigkeit mit dem 20. Lebensjahr enden lassen und dabei wegschieben, daß es 14 % der 20- bis 25jährigen gibt, die aus dem Ausbildungssystem kommen und keinen Arbeitsplatz finden. Das ist das Problem, um das es heute geht.
Ich komme noch einmal zurück auf die öffentlichen Investitionen und mache für die weiteren Beratungen einen konkreten Vorschlag. In diesen Tagen hat der Bundesbauminister gesagt, die Mittel für die Städtebauförderung würden enorm in Angriff genommen; da sei viel zu tun. Gestern ist hier aber wieder das Märchen erzählt und — unter Verwendung von Globalzahlen — so getan worden, als ob alle Kommunen in der Lage wären, auch öffentliche Investitionen zu tätigen. Richtig ist, daß fast alle Kommunen — das kann ich insbesondere für Niedersachsen sagen — morgen eine Fülle von Investitionen in Angriff nehmen könnten, wenn sie in der Lage wären, sie zu finanzieren. Aber diese Kommunen sind erstens durch die Steuersenkung und zweitens durch die ansteigende Sozialhilfe, verursacht durch steigende Arbeitslosigkeit, gebeutelt worden.
Deswegen kann Ihr Programm in diesen Kommunen nicht greifen; denn diese Kommunen sind nicht in der Lage, die sogenannten Komplementärmittel aufzubringen.Was wir brauchen, ist eine regional strukturierte Städtebauförderung. Ich bitte, in den Beratungen darüber nachzudenken, welches Instrument geeignet ist, jenen Kommunen zu helfen, die jetzt nicht in der Lage sind, für mehr öffentliche Beschäftigung zu sorgen.
Ich will nur hinzufügen: Von uns ist gesagt worden, was es noch an Initiativen gibt. Dazu gehört Arbeitszeitverkürzung. Dazu gehört interessanterweise als Erfolg nicht der Vorruhestand. Wir haben da einen Gesetzentwurf eingebracht, und die Bundesregierung hat das auch getan. Der Bundesarbeitsminister hat Ende vorigen Jahres gesagt, Vorruhestand sei der größte Renner des Jahres. Herr Bundesarbeitsminister — ich sehe Sie dort sitzen —, dieser Renner war von vornherein mit einem Hilfsmotor ausgestattet. Dieser Renner war wahrscheinlich von vornherein nur mit Frostschutz getankt, d. h. Ihr Vorruhestandsmodell ist allenfalls ein Modell für ein fehlkonstruiertes Auto und war nicht der Renner der Saison. Deswegen geht es darum, hier Verbesserungen vorzunehmen.
Dann hat der Bundeskanzler neulich gesagt — das werden Sie gesehen haben, wie wir ja immer aufmerksam zuhören, wenn der Bundeskanzler im Fernsehen zu uns spricht —,
die Menschen müßten mobiler werden. Wir sind für berufliche Mobilität. Wir sind dafür, daß Menschen, die einen Arbeitsplatz ausfüllen sozusagen hineingeschult werden in veränderte technische Entwicklungen. Aber wollen wir denn wirklich, daß die Menschen aus Niedersachsen — wie es jetzt geschieht — von Daimler-Benz in Sindelfingen angeworben werden? Soll Vater sein Haus verkaufen, seine Kinder umschulen, um dann vielleicht in Stuttgart einen unsicheren Arbeitsplatz annehmen zu können?
Das kann doch nicht unsere Politik sein. Wir müssen doch die Arbeit zu den Menschen bringen und nicht umgekehrt.
Damit bin ich bei der Familienpolitik. Wissen Sie, Herr Bundeskanzler, das Schlimmste für die Familie ist die Arbeitslosigkeit. Es gibt eine große Untersuchung zur Frage — das muß man gar nicht untersuchen, das weiß man —, welche Auswirkungen Arbeitslosigkeit auf die Familie hat. Die größten Sorgen in den Familien sind heute: Haben wir einen Arbeitsplatz? Findet mein Sohn oder meine Tochter einen Ausbildungsplatz? Sind wir in der Lage, einigermaßen über die Runden zu kommen? Vor diesem Hintergrund fand ich Ihre Bemerkungen zur Familienpolitik relativ heuchlerisch, muß ich Ihnen sagen.
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11494 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Frau Fuchs
Wer ist denn von uns gegen die Familie? Wir sind alle in die Familie eingebunden.
Wir alle wissen, daß es eine Bereicherung ist, mit Kindern zu leben. Wir alle wissen, daß Kinder eigentlich zum Leben gehören. Ich glaube, alle sind ein bißchen traurig darüber, daß wir unser Land zunehmend so organisieren, daß Kinder darin keinen Platz haben. Aber das ist doch nicht Folge einer Familienpolitik der sozialliberalen Koalition, die beispielhaft im Familienlastenausgleich für die finanzielle Verbesserung der Frauen gesorgt hat.
Sie sind jetzt mit Ihren angeblichen Leistungen auf dem familienpolitischen Stand, den wir 1982 gehabt haben. Also geben Sie nicht so an mit Ihrer Familienpolitik. Sie ist sozial ungerecht, weil Sie das einheitliche Kindergeld für alle in einen sozial ungerechten Kinderfreibetrag umkehren.
Sie ist ungerecht, weil sie den Ärmeren weniger gibt.
Herr Bundeskanzler, Sie hätten früher auf Ihre zukünftige Familienministerin hören sollen. Die zukünftige Familienministerin, Frau Süssmuth, hat als Vizepräsidentin des Bundes deutscher Katholiken gesagt, die Kinderfreibeträge würden zu einer gigantischen Bürokratisierung führen.
Sie hat gesagt: Viel besser wäre es gewesen, ab 1. Januar 1986 ein einheitliches Kindergeld zu zahlen, das man wesentlich erhöhen könnte. Dann könnte man die Kosten dieser Bürokratisierung streichen und als zusätzliches Kindergeld an die Familien auszahlen.
Nun muß die Frau Süssmuth Familienpolitik vertreten. Wir werden ihr helfen, damit diese Gedanken bei ihr nicht ganz untergehen.Herr Bundeskanzler, beim Stichwort Familienpolitik sage ich Ihnen noch einmal: Ich bin für eine kinderfreundlichere Umwelt. Hier gibt es eine Menge zu diskutieren. Arbeitslosigkeit ist das, was die Familien am meisten bedrückt. Die Frage der Perspektiven für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die Frauen ist ganz wichtig. Ich bin froh, daß Sie in Ansätzen unseren Mutterschaftsurlaub zu einem Elternurlaub mit Arbeitsplatzsicherung ausweiten.
Ich erinnere Sie an Ihr häßliches Debakel um die Unterhaltsvorschußkassen. Sie tun immer so, als ob Familie Vater, Mutter und Kinder sei. Sie nehmen nicht die Veränderungen zur Kenntnis und wollen nie begreifen, daß mindestens ein Drittel der Menschen in sogenannten unvollständigen Familien lebt. Deswegen müssen wir sehr darauf achten, daß Alleinerziehende und Alleinstehende nicht immer von Ihrer Politik ausgenommen werden.
Wir werden die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nächste Woche debattieren, wenn Sie mit Ihrem Erziehungsurlaub kommen.Ich finde, zur Familie gehört auch die Großelterngeneration. Zur Familienpolitik gehört doch auch, daß man sich fragt: Wie kommt es eigentlich, daß wir als Familie immer die Kleinfamilie mit kleinen Kindern begreifen und die Großmuttergeneration außen vorlassen? Da können Sie mir kommen, wie Sie wollen, Herr Bundeskanzler: Sie haben es zugelassen, daß die Frauen, die vor 1920 geboren sind, von den Kindererziehungsjahren ausgenommen worden sind.
Solange Sie das nicht reparieren, können Sie mir mit Familienpolitik überhaupt nicht kommen.
— Wenn Sie wieder sagen, wir hätten es nicht gemacht: Sie haben 1972 das Baby-Jahr abgelehnt.
Wenn wir von 1972 an alle Frauengenerationen berücksichtigt hätten, dann hätten wir jetzt schon dreizehn Jahre Kindererziehungsjahre für viele Frauen. Wir wären einen ganz großen Schritt weiter, wenn Sie das damals nicht verhindert hätten.
So wie diese Finanz- und Wirtschaftspolitik angelegt ist, stellen wir fest:
Massenarbeitslosigkeit bleibt bestehen. Sie nehmen die ganzen Voraussagen ernst, nehmen Ihr Wachstum und sagen: Mehr kann man nicht tun.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11495
Frau Fuchs
Also stellen wir fest — alle Wirtschaftsinstitute bestätigen das —: Sie nehmen eine Massenarbeitslosigkeit von mehr als zwei Millionen in Kauf.
So, meine Damen und Herren, können Sie eine Offensive zu mehr Beschäftigung mit den deutschen Gewerkschaften nicht beginnen.
Frau Abgeordnete Fuchs, Sie sind damit einverstanden, daß Herr Abgeordneter Kroll-Schlüter eine Zwischenfrage stellt?
Ja, bitte schön.
Frau Kollegin Fuchs, ich habe jetzt die Hoffnung, daß Sie im Gegensatz zu eben eine Antwort auf meine Frage geben.
Sie sind fast ein Oberlehrer, Herr Kollege.
Ich bitte um Nachsicht. Ich warte immer noch auf die Antworten von eben.
Wenn Sie uns unterstellen, daß wir uns mit der Arbeitslosigkeit abfinden, darf ich dann daraus folgern, daß Sie in Ihrer Regierungszeit die Arbeitslosigkeit gewollt haben, weil sie dauernd stieg?
Herr Kollege, ich sage Ihnen noch einmal, Sie nehmen Massenarbeitslosigkeit in Kauf. Vielleicht haben Sie es nicht gelesen, das kann sein, denn Sie sind j a nicht im Wirtschaftsausschuß. Lassen Sie sich von den Kollegen des Wirtschaftsausschusses bitte die Unterlagen des Wirtschaftsministers geben, die Herr Staatssekretär Schlecht vor einigen Wochen der Presse vorgestellt hat. Die kann man so zusammenfassen: Wir haben eine günstige Preisstabilität, wir haben etwas Wachstum, das ist ganz in Ordnung, die Beschäftigtenzahlen werden sich verbessern, aber im übrigen — so Herr Schlecht im Originalton — wird sich an der Massenarbeitslosigkeit von über 2 Millionen in den nächsten Jahren nichts ändern.
— Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Wenn Sie uns unterstellen, wir hätten Arbeitslosigkeit in Kauf genommen, so sage ich Ihnen noch einmal, von 1976 bis 1980 ist es uns gelungen, eine Million zusätzlicher Arbeitsplätze zu schaffen.
Mein letzter Punkt: Kann der Bundeskanzler mit dieser Regierung wirklich erwarten, daß der DGB mit ihm eine Offensive zu mehr Beschäftigung startet? Ich bin dafür. Im Grund müßte es selbstverständlich sein, daß Gewerkschaften und die Bundesregierung sich zusammen mit den Arbeitgebern an einen Tisch setzen.
— Herr George, das Problem ist doch nicht, daß das Gespräch nicht zustande gekommen ist, sondern das Problem ist doch, daß der Bundeskanzler seit seinem Regierungsantritt sich so einseitig zu Lasten der Gewerkschaften geäußert und gearbeitet hat, daß es denen schwerfällt, sich mit ihm an einen Tisch zusammenzusetzen.
Es ist doch interessant und spricht doch für die Einstellung des Bundeskanzlers zur organisierten Arbeitnehmerschaft, daß eine Sensation daraus wird, wenn etwas Selbstverständliches geschieht, nämlich ein Gespräch der Bundesregierung mit dem DGB, mit den Gewerkschaften.
Was war denn eigentlich gewerkschaftsfeindlich? Erinnern wir uns an das vorige Jahr, die Arbeitszeitverkürzung: „Dumm, absurd und töricht".
Manchmal sage ich das, das paßt auf den Bundeskanzler; das sage ich nicht im Plenum, es ist vielleicht ein bißchen zu häßlich. Weil er mir seine Sympathie bekundet hat, bin ich ein bißchen vorsichtig mit solchen Formulierungen. Dennoch, meine Damen und Herren, letztes Jahr hat er sich einseitig auf die Seite der Arbeitgeber geschlagen. Was ist herausgekommen? Die 160 000 zusätzlich Beschäftigten sind doch zum großen Teil auf die Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 Stunden zurückzuführen. Das müssen Sie doch endlich mal begreifen.
Dann haben Sie Gesetze auf den Weg gebracht, die für Gewerkschaften gefährlich sind. Wir werden Sie heute abend daran messen können, ob es denn gelingt, das Betriebsverfassungsgesetz mit den Regelungen für einen Minderheitenschutz und Sprecherausschüsse für leitende Angestellte vom Tisch zu bringen, ob es Ihnen gelingt, Herr Bundeskanzler, nun endlich die Frage der Neutralitätsanordnung für Streik und Aussperrung vom Tisch zu bringen. Ich will dazu ein paar Bemerkungen machen, weil mir scheint, daß die Menschen nicht recht begriffen haben, worum es eigentlich geht.Wenn ein Betrieb bestreikt wird, dann erhalten streikende Arbeitnehmer Streikunterstützung der Gewerkschaften. Die Nichtorganisierten bekommen nichts, stehen auch im Sinne des Gesetzes dem Arbeitsamt nicht zur Verfügung. Sie bekommen also nichts. So ist es auch bei Aussperrungen. Die-
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Frau Fuchs
ses ist unbestritten, es wird auch niemand Anspruch erheben, daß man hier Änderungen bringt. Wenn nun Arbeitnehmer z. B. in einem Betrieb in Schleswig-Holstein beschäftigt sind und in Baden-Württemberg wird gestreikt, dann sagen viele, wenn wegen der Produktionsausfälle der Zulieferbetriebe in Schleswig-Holstein keine Arbeit mehr sei, dann sollten diese Menschen keine Arbeitslosenunterstützung bekommen.Wenn Sie zurückgehen auf die Betriebssphärentheorie, so ist es juristisch durchaus begründbar, daß jene Arbeitnehmer in Schleswig-Holstein einen Lohnfortzahlungsanspruch haben, denn der Arbeitgeber ist dafür verantwortlich, daß die Zulieferung klappt, damit die Produktion weitergehen kann.
Aber diese Betriebssphärentheorie haben wir für diesen Fall nicht angewandt, weil wir gesagt haben, wir wollen versuchen, einen Kompromiß zu finden. So ist auch der jetzige § 116 AFG schon ein Kompromiß, der dahingeht, daß sich die Bundesanstalt in dem Sinne neutral verhält, daß die Arbeitgeber von ihrer Lohnfortzahlungspflicht entbunden werden, und die Arbeitnehmer, die individuell Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit gezahlt haben, ihren Versicherungsanspruch auf Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld geltend machen können.Deswegen meine Bitte, Herr Bundesarbeitsminister: Lassen Sie sich nicht auf die Gedanken ein, die der frühere Präsident des Bundesarbeitsgerichtes Professor Müller hierzu geäußert und aufgeschrieben hat! Dies würde in der Tat den Konsensus in dieser Frage völlig zerstören.
Gehen Sie endlich hin und nehmen Sie das Gesetzeswerk vom Tisch, das 130 Ihrer Kollegen ins Werk gesetzt haben,
und halten Sie es mit Herrn Wannagat. Herr Wannagat hat doch gesagt: Nicht nur die Zahlung von Kurzarbeitergeld oder Arbeitslosengeld greift in die Neutralität ein, sondern auch die Nichtzahlung kann in die Neutralität eingreifen.
Deswegen meine Damen und Herren, hat dies mit „Streikkasse der Gewerkschaften" nichts zu tun; dies ist im Grunde eine Entlastung der Arbeitgeber,
die ihrer Lohnfortzahlungspflicht nicht nachkommen müssen, weil die Gesellschaft gesagt hat: In diesen Fällen soll die Solidargemeinschaft Bundesanstalt für Arbeit eintreten. Deswegen ist es für mich geradezu absurd, wenn nun verlangt wird, daß die Arbeitslosen — die es ja sind — und die Kurzarbeiter — die es ja sind — ihre sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche nicht geltend machen können.
Meine Damen und Herren, ich komme damit zum Schluß, was Sie, wie ich meistens feststelle, freut.
— Vielen Dank!
Ich glaube, das deutsche Volk erwartet vom Bundeskanzler keine Verdrängungskünste, und ich glaube, wir erwarten von einem Bundeskanzler auch kein Talent zur ungetrübten Fröhlichkeit; denn das Amt des Bundeskanzlers ist nicht dafür geschaffen worden, daß sich der jeweilige Amtsinhaber möglichst fröhlich fühlt,
sondern das Amt des Bundeskanzlers ist dazu geschaffen worden, Schaden vom Volke abzuwenden und das Gemeinwohl zu fördern. Herr Bundeskanzler, Sie haben vor diesem Hause geschworen, daß Sie Ihre ganze Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren und Schaden von ihm wenden wollen. Ich glaube, es wird Zeit, daß Sie sich dieser Pflicht widmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Handlos.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich deshalb zu Wort gemeldet, weil heute vormittag hier im Parlament wieder einmal Schwarzweißmalerei betrieben worden ist und man als Zuhörer — ich bin den ganzen Vormittag im Haus gewesen — den Eindruck hat, alles, was die Regierungsparteien sagen, sei — so erklärt die Opposition — großer Unfug, und wenn dann die Opposition Vorschläge macht, sagen die Regierungsparteien das gleiche. Die Wahrheit liegt häufig in der Mitte, meine verehrten Kollegen, und die Bevölkerung will keine Schwarzweißmalerei, sondern Sachbeiträge. Daran will ich mich in der kurzen Redezeit, die mir zur Verfügung steht, halten. Außerdem sagten heute einige Kollegen, sie wollten wieder einmal einen fraktionslosen Abgeordneten sprechen hören, und diesem Wunsch will ich natürlich hier Rechnung tragen.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Stellung nehmen möchte ich zu einigen Punkten, die heute vormittag zur Sprache gekommen sind, nämlich einmal zur Wirtschaftspolitik — hier insbesondere zum Verdrängungswettbewerb in der mittelständischen Wirtschaft —, dann zur sozialen Indikation — Abtreibung auf Krankenschein — und nicht zuletzt, falls mir dazu die Zeit reicht, zum Verhältnis zur DDR. Mit der Freiheitlichen Volkspartei vertrete ich Positionen, die die Union zum Teil ver-
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Handlostrat, als sie in der Opposition war. In der Zwischenzeit ist viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen.Der Herr Bundeskanzler sagte heute, die Wirtschaftspolitik sei in Ordnung. Jawohl, ich hoffe, das wird auf Dauer so sein. Ich hoffe dies im Interesse aller Bürger. Aber, Herr Bundeskanzler, es gibt auch Anzeichen, die darauf hindeuten, daß wir Ende 1986/Anfang 1987 in eine neue Rezession hineinschlittern, die dann zum Teil nicht nur international bedingt sein wird, sondern hausgemacht sein dürfte. Warum? Der Verdrängungswettbewerb des Mittelstandes zugunsten der Großkonzerne nimmt immer stärker zu. Was bedeutet das in der Praxis? Das bedeutet weniger Steuereinnahmen, weniger Sozialabgaben und mehr Arbeitslose. Wenn Sie bedenken, daß 65% des Nahrungsmittelumsatzes in der Bundesrepublik Deutschland bereits in der Hand von fünf Großkonzernen sind, können Sie sich vorstellen, wie diese Entwicklung weitergeht.Ich stelle hier einen modellhaften Vergleich zwischen einem Supermarkt mit 100 Millionen DM Umsatz und 100 Einzelhandelsgeschäften mit jeweils 1 Million DM Umsatz an. Bitte hören Sie genau zu, weil das wirklich interessant ist. Der Supermarkt mit 100 Millionen DM Umsatz im Jahr stellt 300 Arbeitsplätze zur Verfügung. Die 100 Einzelhandelsgeschäfte mit jeweils 1 Million DM Umsatz beschäftigen 750 Arbeitskräfte. Im Bereich der Ausbildungsplätze ergibt sich ein Verhältnis von 32 zu 102 Ausbildungsplätzen. Zum Steueraufkommen: Ein Supermarkt mit 100 Millionen DM Umsatz erwirtschaftet ein Gewerbesteueraufkommen von 380 000 DM. Die 100 Einzelhandelsbetriebe mit jeweils 1 Million DM Umsatz zahlen hingegen 600 000 DM. Im Bereich der Lohn- und Einkommensteuer sind es 940 000 DM gegenüber 2 350 000 DM. Insgesamt bedeutet das: Ein Supermarkt mit 100 Millionen DM Umsatz erwirtschaftet ein Steueraufkommen von 1 320 000 DM. Die 100 Einzelhandelsgeschäfte mit einem Umsatz von jeweils 1 Million DM erwirtschaften Steuern in Höhe von 2 950 000 DM. An Sozialversicherungsbeiträgen — gesetzliche Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung — zahlt ein solcher Supermarkt 2 120 000 DM. Die 100 Einzelbetriebe zahlen 5 303 000 DM. Das sind einige Zahlen — sie sind nicht anzuzweifeln —, die die gesamte Misere erkennen lassen, wenn dieser Konzentrationsprozeß so weitergeführt wird und wenn immer mehr Mittelstandsbetriebe ruiniert werden; dann werden schließlich auch immer mehr Arbeitslose erzeugt.Zum Schluß kauft der Arbeiter nicht billiger ein. Eine Supermarktkette frißt dann die andere, und die letzte Supermarktkette bestimmt die Preise, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen. Die Zahl der Arbeitslosen wird größer. Der Arbeitnehmer kauft im Endeffekt nicht billiger, sondern zahlt mit erhöhten Steuern und Abgaben. Es erfolgt eine Zerstörung der Ortskerne, und niemand kümmert sich dann um alte Menschen. Dies wollte ich hier einmal zum Ausdruck bringen. Wir von der Freiheitlichen Volkspartei sind der Auffassung, daß derHerr Bundeskanzler nicht nur mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern
— Herr Kollege Waigel, ich gebe Ihnen hernach ein Privatissimum in dieser Frage — sprechen sollte, sondern auch mit dem Mittelstand, weil gerade der Mittelstand die Steuern und Abgaben erwirtschaftet — nicht die Großkonzerne. Was in jedem Fall verboten werden muß und worüber hier das Parlament entscheiden kann, ist der Verkauf unter Einstandspreisen, der den Einzelhandel ruiniert.
Wir fordern Zinsverbilligungsprogramme und Umschuldungsprogramme für Handel, Handwerk, Mittelstand, Fremdenverkehr und Kleinlandwirte, weil nur auf diese Art und Weise eine gesunde Struktur aufrechterhalten werden kann.
— Ich bedanke mich für den Applaus der Opposition und möchte hier nur sagen: Wer heute nicht hören will und heute nicht sehen will, dem wird morgen womöglich Hören und Sehen vergehen. Dies zum Thema der Konzentration. Es gäbe dazu noch eine Menge zu sagen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zur Frage der sozialen Indikation bzw. der Abtreibung auf Krankenschein machen. Das ist j a ein Thema, das allgemeines Interesse erweckt. Da gibt es den bayerischen Ministerpräsidenten Strauß in München. Er geht häufig zum Bundesverfassungsgericht, und zwar, wie ich hinzufügen muß, zum Teil auch mit Erfolg. Ich frage mich, warum er das nicht in der Frage der Abtreibung auf Krankenschein tut. Herr Strauß in München sagt, dafür sei er nicht zuständig; das sei Sache der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der Bundesregierung. Die Fraktion sagt, sie könne hier nicht handeln, weil die FDP der Bremser sei. Herr Mischnick hat heute in der Debatte ja gesagt: Mit uns gibt es keine Änderung des § 218. Also hat man sich den Ministerpräsidenten Vogel in RheinlandPfalz auserkoren, sozusagen als Minenhund beim Bundesverfassungsgericht anzutreten. Herr Vogel hat dies ebenfalls abgelehnt. Der Schwarze Peter wurde wieder nach Bonn zurückgegeben. Herr Dregger der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, hat gestern laut „Frankfurter Allgemeine Zeitung" zu Recht gesagt, hier handle es sich um eine Existenzfrage der — ich betone die Worte — ChristlichSozialen Union und der Christlich-Demokratischen Union. Dem kann man nur zustimmen. Vielleicht findet sich doch noch ein Ministerpräsident eines Bundeslandes, das von der CDU/CSU regiert wird, um vor dem Bundesverfassungsgericht hier eine Klärung herbeizuführen.Ich bin der Auffassung, es geht nicht, daß der deutsche Beitragszahler für die Abtreibung im Jahr 300 Millionen DM bezahlt. Ob er nun gefragt wird oder nicht, spielt keine Rolle. Die Arbeitgeber zahlen dazu noch einmal 50 Millionen DM. Wir von der
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Handlos— ich betone das Wort erneut, Herr Kollege Waigel, damit es ein bißchen ins Ohr geht — Freiheitlichen Volkspartei
sind im Rahmen der medizinischen Indikation für den Schutz allen Lebens. Das ist bei uns eine sehr klare Position.Wenn es mir der Herr Präsident gestattet, möchte ich am Schluß nur noch ein paar Bemerkungen zum Verhältnis zur DDR machen. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich sage: Ich finde es von FranzJosef Strauß politisch geschmacklos, wenn er in diesen Tagen Herrn Honecker die Hand schüttelt zu einem Zeitpunkt, da wir den größten Spionageskandal haben, lächelnd neben ihm steht und dann auch noch dazusagt, 90 % der Aufklärungsergebnisse unserer Nachrichtendienste seien — im übertragenen Sinn — Unfug.
Dazu kann ich nur sagen: Wo ist denn der Unfug beim Milliardenkredit von Herrn Strauß? Meine Damen und Herren, was ist denn dabei herausgekommen? Nichts! Herr Honecker hat zwar das Geld genommen, aber er ist nicht käuflich. Das ist der ganz entscheidende Unterschied. Wir sollten nicht vergessen, daß nach wie vor für Hunderte von Millionen DM Häftlinge aus der DDR freigekauft werden. Ich sage: sie müssen auch freigekauft werden. Ich stehe dazu, weil es in solchen Fällen wirklich zu menschlich tragischen Situationen kommt.Ich sagte: Honecker nimmt das Geld, aber er ist nicht käuflich. Gestern und heute wurde gesagt, die Selbstschußanlagen seien abgebaut worden. Jawohl, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, daß die Sperranlagen weiter hinten noch viel undurchlässiger geworden sind, als das bisher der Fall war.
Es wurde gesagt, es seien 35 000 Personen — darunter zum Teil Rentner — herübergekommen. Das ist die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, daß es zum großen Teil Rentner sind, die unsere Rentenkassen maßlos belasten. Ich sage dazu: Es sind Deutsche wie wir auch. Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen. Ich habe mich mit einer Rentnerin unterhalten, die aus der DDR kam. Sie hat dort drüben 360 Mark Rente bekommen; hier bekommt sie 2 200 Mark (West) Rente, weil ihr alle Versicherungsleistungen von drüben angerechnet werden. Umgekehrt gibt es bei uns Arbeiter, die 40 Jahre in das Sozialversicherungssystem eingezahlt haben, erwerbslos sind, weil sie berufsunfähig sind. Diese müssen vor den Sozialgerichten streiten, damit sie die Rente bekommen. Das ist die Ungerechtigkeit an dieser Entwicklung, meine Damen und Herren. Das will ich hier einmal ganz deutlich sagen.
Ich muß zum Schluß kommen. Ich sage noch einmal: Es sind Deutsche wie wir auch. Wir benötigen im Verhältnis zur DDR eine Politik des langen Atems. Es ist sehr gut, daß der Jugendaustausch wieder forciert wurde. Es ist zu überlegen, warumnicht Städtepartnerschaften mit der DDR eingegangen werden. Ich rege ein gemeinsames Rundfunk- und Fernsehprogramm an. Das sind Schritte auf dem Weg nach vorn. Es genügt nicht allein, zum 17. Juni Gedenkfeiern abzuhalten und hier im Parlament ab und zu zur Lage der Nation zu sprechen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, 40 Jahre Trennung sind in der Geschichte der Völker nur ein Augenblick. Nur wenn wir in diesem Parlament die Wiedervereinigung aufgeben, ist sie aufgegeben. Deswegen müssen wir — wir alle miteinander, über die Parteigrenzen hinweg — alles tun, damit die Wiedervereinigung ein entscheidender Punkt in unserer Politik bleibt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich für die Fraktion am Beginn der außenpolitischen Debatte ein herzliches Wort des Glückwunsches für unseren Kollegen Dr. Stavenhagen für seine neue Aufgabe als Staatsminister im Auswärtigen Amt sagen und ihm alles Gute für die Tätigkeit dort wünschen.
— Der verdiente Beifall der sozialdemokratischen Kollegen, die den Kollegen Stavenhagen kennen, kann auch den Europapolitikern der SPD in Brüssel übermittelt werden, die Herrn Dr. Stavenhagen sehr schnell auch als Europapolitiker im Auswärtigen Amt kennenlernen werden. Ich bin sicher, daß hier nicht nur frische Kraft aus der Fraktion — das tut der Regierung auch mal gut —, sondern neue Kompetenz und damit zusätzlicher Dampf in die Europapolitik der Bundesregierung gekommen ist.
Die SPD hat sich ein bißchen schwergetan, an der außenpolitischen Debatte heute nachmittag festzuhalten. Es kamen immer wieder Emissäre, die gesagt haben: Muß das denn sein? Das kontrastiert auffallend mit den Pressekonferenzen, wo vollmundig die Außenpolitik der Bundesregierung angegriffen wird, und deswegen kann ich nur sagen: Wir wollen, daß hier heute über die Außenpolitik gesprochen wird, und wir wollen vor allen Dingen auch die Sozialdemokraten in dieser Debatte stellen, da es nicht länger hingenommen werden kann, daß Sie versuchen, Herr Ehmke, Ihre eigene Zerrissenheit durch polemische Attacken zu überdecken.Mit Ihrer Distanzierung von der Sicherheitspolitik Ihres früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt, die allgemein konsensfähig war, begibt sich die SPD immer mehr ins politische Abseits und gerät im Westen in die politische Isolierung. Das sind Entwicklungen, die schon länger anhalten, aber es gibt neue, besorgniserregende Entwicklungen, und ich möchte die Gelegenheit hier im Plenum des Deutschen Bundestages nutzen, um zwei
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RüheFragen an die Sozialdemokraten zu stellen. Ich tue das hier, weil dies der Ort ist, wo wahrheitsgemäß auf Fragen geantwortet werden sollte.Ich stelle erstens die Frage: Trifft es zu, daß die Kommission für Sicherheitspolitik beim Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie beschlossen hat, daß die Wehrpflicht in diesem Lande auf acht bis neun Monate herabgesetzt werden soll, mit dem Ergebnis, daß dieses Land wehrunfähig, wehrlos würde, und auch mit dem Ergebnis eines völligen Bruchs der Bündnisverpflichtungen?Ich stelle zweitens die Frage, Herr Ehmke: Trifft es zu, daß dieselbe Kommission beim Parteivorstand der SPD den vollständigen Abzug aller amerikanischen Soldaten bis auf ein symbolisches Kontingent in West-Berlin im Laufe der nächsten 20 Jahre beschlossen hat?
— „Das wäre sehr vernünftig", kommt von den GRÜNEN. Wir erwarten im Interesse der vielen Hunderttausenden Mitglieder der SPD, der früheren Wähler der SPD, vor allem aber auch der Bürger in unserem Lande eine klare Antwort auf diese Frage, weil das der totale Bruch mit der Sicherheitspolitik dieses Landes wäre und dann niemand mehr, Herr Vogel, das Recht hätte zu sagen, er sei im Prinzip für den Konsens in der Außen- und Sicherheitspolitik, wenn solche Pläne in der SPD um sich greifen.
Sie müssen wissen, daß zu einer erfolgreichen Außenpolitik eben Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Ausgewogenheit gehört, daß dies die Politik dieser Bundesregierung auszeichnet und daß dies heute noch klarer ist als 1982, wo die deutsche Außenpolitik allein durch den Regierungswechsel vor einem Abdriften ins Unberechenbare bewahrt werden konnte. Daß dieses damals so war, wird angesichts der Entwicklung seit 1982 klarer denn je.
Die gefährliche Entwicklung der Außenpolitik der deutschen Sozialdemokratie wird seit einiger Zeit aber durch ein neues Phänomen der internationalen Parteizusammenarbeit besonders deutlich, was seinesgleichen sucht, nämlich die institutionalisierte Zusammenarbeit der deutschen SPD mit den regierenden kommunistischen Parteien Osteuropas. Unter der Überschrift „zweite Ostpolitik" bemüht sich die SPD auf der Parteischiene, eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik an der Bundesregierung vorbei zu betreiben, und diese Umgehungspolitik oder Nebenaußenpolitik der SPD erfreut sich zunehmender und sehr sichtbarer Unterstützung der kommunistischen Führungen.Um nun Mißverständnisse zu vermeiden — Herr Vogel, Sie haben das hier heute angesprochen —: Wir stehen für Kontakte mit Osteuropa, wir stehen auch für eine aktive Ostpolitik, und gerade mir können Sie nicht unterstellen, daß ich dagegen wäre. Wir stehen auch für aktive Kontakte, Gespräche,Informationsbesuche der Opposition in Osteuropa und Gespräche mit osteuropäischen kommunistischen Parteien. Aber Sie machen etwas ganz anderes. Sie verhandeln, Sie schließen mit den regierenden kommunistischen Parteien dort Abkommen. Ich sage Ihnen: Nennen Sie mir irgendwo weltweit eine demokratische Oppositionspartei, die mit regierenden kommunistischen Parteien Abkommen schließen würde. Das gibt es nicht, und dies ist ein gefährlicher Weg einer Nebenaußenpolitik. Diesen Weg sollten Sie verlassen, wenn Sie Schaden von sich selbst abwenden wollen, vor allen Dingen aber auch Schaden von der deutschen Außenpolitik.
Die Oppositionspartei darf nicht den Anschein erwecken, als könne sie wie eine Regierung handeln, Arbeitsgruppen einsetzen, offizielle Sachverhandlungen mit den regierenden Parteien führen.Zu diesen formalen Bedenken kommt natürlich das Inhaltliche; denn wann immer Sie dort Verabredungen treffen, zu Übereinkünften kommen, zeigen sich durchgehend zwei Elemente: eine Distanzierung von der Politik der amerikanischen Regierung — ob das nun SDI ist, ob das Vorschläge der Sowjets oder Vorschläge der Amerikaner sind: in der Regel finden Sie die Vorschläge der Sowjets immer sehr viel besser — und auch eine Abwendung von der gemeinsamen Sicherheitspolitik der NATO. Ich denke hier etwa an die Nachrüstung, auch an die chemischen Waffen.
Wie kritiklos Sie jeden Moratoriumsvorschlag der Sowjetunion unterstützen, das sollte Ihnen doch einmal zu denken geben. Wer sich die Dinge einmal anguckt, dem muß doch auffallen, daß solche Stoppvorschläge oder Moratoriumsvorschläge immer von denen gemacht werden, die sich vorher gerade reichlich bedient haben. Um mit einem Bild zu sprechen: Ich finde es nicht sehr überzeugend, wenn sich jemand in seinem Keller mit Whisky und mit Wodka eindeckt und dann an die Öffentlichkeit geht und sagt, man müsse nun endlich den Verkauf von Alkohol verbieten.
Deswegen ist es töricht, solche Moratoriumsvorschläge kritiklos zu unterstützen, die in der Regel von der Seite kommen, die vorgerüstet hat und die keinen Nachholbedarf hat.
Was wir brauchen, sind ausgehandelte Lösungen.
— Es wird doch verhandelt.Was wir brauchen, ist aber auch eine klare Sprache, die falsche Vorstellungen auch in unserer Öffentlichkeit vermeiden hilft. Wenn Sie sagen, die Sowjets seien unsere Sicherheitspartner und wir hätten eine gemeinsame Sicherheit mit den Sowjets, dann zeichnen Sie hier das Bild einer Idylle,
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Kühedie es nicht gibt. Und wer das tut, der leistet einen schlechten Beitrag zu der notwendigen Verteidigungsbereitschaft in diesem Lande.Deswegen ist es viel vernünftiger, statt von Sicherheitspartnerschaft und gemeinsamer Sicherheit mit der Sowjetunion zu sprechen, noch deutlich zu sagen, mit wem wir uns vor wem Sicherheit verschaffen. Sicherheitspartner der Bundesrepublik Deutschland — das sind unsere Bündnispartner in der Allianz. Gemeinsame Sicherheit schaffen wir zusammen mit unseren Bündnispartnern. Aber ich stehe nicht an zu sagen, daß dann im nuklearen Zeitalter auf dieser Grundlage gegenseitige Sicherheit zwischen den Bündnissen notwendig ist.Aber dies ist eine Sprache, die hilft, falsche Vorstellungen zu vermeiden. Ich meine, daß die deutsche Sozialdemokratie gut beraten wäre, hier einen Beitrag zu leisten, um sich vor dem berechtigten Vorwurf zu schützen, sie betreibe eine Art Politik von moralischem Neutralismus zwischen den Blökken — in der Suche nach einer idyllischen Nische in Europa zwischen den Weltmächten. Das ist eine falsche und gefährliche Politik.Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel für die gefährlichen Auswirkungen dieser Nebenaußenpolitik geben: den Vertrag SPD-SED zu den Chemiewaffen. Gegenüber dem derzeitigen Stand der wichtigen Verhandlungen in Genf bedeutet Ihr Abkommen mit der SED einen gewichtigen Rückschritt. Sie wollen zusammen mit den deutschen Kommunisten in der DDR Chemiewaffen nur aus Mitteleuropa heraus verlagern, sie aber im westlichen Teil der Sowjetunion ausdrücklich zubilligen. Wir wollen Chemiewaffen vernichten, und zwar weltweit.
In Ihrem Abkommen steht kein Wort über die Vernichtung der Produktionsstätten von zukünftigen Chemiewaffen. Wir wollen, daß die Produktionsstätten von Chemiewaffen dichtgemacht werden, und zwar kontrollierbar dichtgemacht werden. Auch dahinter bleiben Sie zurück. Hier sind schon wichtige Fortschritte in Genf erreicht worden.Ihr Vertragsentwurf widerspricht insbesondere auch westeuropäischen Sicherheitsinteressen,
nämlich insofern, als Sie sich der sowjetischen Zielsetzung einer Reduzierung des westlichen Engagements in Europa anschließen, dagegen die spezifische Bedrohung Westeuropas durch sowjetische C-Waffen nicht nur unvermindert bestehen bleibt, sondern in einem Abkommen mit der SED Ihre ausdrückliche Billigung findet.Wenn die DDR irgendwo keinen Spielraum hat, dann sicherlich in einer solchen sicherheitspolitischen Frage. Das Problem liegt eben darin, daß bei den entscheidenden Verhandlungen in Genf Verhandlungsdruck von der Sowjetunion genommen wird.
Deswegen gibt es vielfach große Irritationen über dieses SPD/SED-Abkommen zu Chemiewaffen.
Ich nenne Ihnen einen weiteren Punkt. Was ist das für eine Solidarität mit der Dritten Welt, wo chemische Waffen gegen Menschen angewandt werden, wenn Sie das ausklammern, statt sich um die weltweite Vernichtung und Kontrolle von C-Waffen zu bemühen? Sie begrenzen es auf einen kleinen Abschnitt hier in Mitteleuropa. Wo bleibt Ihre Solidarität mit Afghanistan, mit Laos, aber auch etwa mit dem Iran?
Das Konzept der C-Waffen-freien Zone wie der atomwaffenfreien Zone birgt die Illusion einer vermeintlichen Sicherheit und die große Gefahr, daß die durchaus bestehenden Chancen, zu einer Einigung in Genf über den weltweiten Bann von chemischen Waffen zu kommen, gefährdet werden.Wir müssen also feststellen, daß Sie durch Ihre wirklich maßlose Selbstüberschätzung, als eine deutsche Oppositionspartei diese Verhandlungen zu führen, die realen Verhandlungen gefährden, die in Genf geführt werden.
Ich muß in Richtung Ihrer Verhandlungspartner einmal sagen: Ich habe natürlich Verständnis dafür, wenn sie über Sicherheitspolitik lieber mit Ihnen als mit der Regierung verhandeln. Da kommt man schneller zu Ergebnissen und zu besseren Bedingungen. Aber das ist ja eine Scheinwelt; denn reale Absprachen kann man nur mit der Regierung treffen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die DDR oder auch Polen demnächst Umschuldungsverhandlungen oder Kreditverhandlungen mit der Opposition in diesem Hause führen wollen. Aber vielleicht sollte ich das einmal anregen. Das wäre das Vergleichbare. Ich kann nur sagen: Wer glaubt, die sicherheitspolitischen Verhandlungen mit der Opposition führen und uns damit indirekt unter Druck setzen zu können, aber Kreditverhandlungen und Umschuldungsverhandlungen mit der Regierung, muß wissen, daß es diese Art von Arbeitsteilung mit uns nicht gibt.
Es führt kein Weg an der Regierung vorbei. Alles andere ist eine Scheinwelt. Die konkreten Vereinbarungen müssen mit der gewählten Regierung getroffen werden. Für solche Abkommen mit der SED haben Sie im übrigen auch überhaupt kein Mandat.
Was dieses konkrete Abkommen mit der SED angeht, so meine ich, daß Sie dabei sind, von der Nebenaußenpolitik, von der wir zu Recht gespro-
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Rühechen haben, zu einer Gegenaußenpolitik zu kommen. Das sollte Sie sehr nachdenklich machen.
Ein solches Separatabkommen verletzt fundamentale Interessen und hilft auch nicht dem OstWest-Gespräch und dem Ost-West-Ausgleich, wenn es nämlich falsche Signale in die andere Richtung aussendet und östliche Fehleinschätzungen fördert. Eine offenkundige Umgehungspolitik kann sich deswegen letztlich negativ auf den notwendigen und entscheidenden Sachdialog zwischen West und Ost, den Sie ja auch wollen, auf der entscheidenden Regierungsebene auswirken, weil dadurch das Verhandlungsklima gestört werden kann.
Die tatsächliche Lösung der Sachprobleme zwischen den Staaten wird eben nicht erleichtert, sondern von vornherein durch innenpolitische Kontroversen belastet, wenn man bestimmte Themen durch die Opposition in die innenpolitische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland einfädelt.
Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den osteuropäischen Staaten, insbesondere zur Sowjetunion, werden eben durch Ihren Drang zur innenpolitischen Profilierung nicht gefördert.Die Motive der kommunistischen Parteien in Osteuropa liegen auf der Hand. Die Parteizusammenarbeit parallel zu den offiziellen Regierungskontakten bietet ein zusätzliches und wirkungsvolles Instrumentarium zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in unserem Land. Man kann Regierung und Opposition gegeneinander ausspielen. Man kann durch eine Art Tapetentür einen zusätzlichen Einstieg in die deutsche Politik gewinnen. Man gewinnt auch ein Alibi bei Verhandlungen — etwa in Genf —, indem man auf die Kompromißbereitschaft der deutschen Opposition und die Starrköpfigkeit der Regierung hinweist. Man kann das außenpolitische Gewicht der Bundesrepublik Deutschland auf diese Weise schwächen, ins Zwielicht bringen.All dies sind Dinge, die Sie sehr nachdenklich machen sollten und die auch viele von Ihnen nachdenklich machen, wie ich weiß, auch innerhalb Ihrer Partei. Sie sollten die Gefahren dieser Strategie für sich und für die außen- und sicherheitspolitischen Interessen unseres Landes erkennen und die notwendigen Konsequenzen ziehen.Wer eine aktive und konstruktive Ost- und Deutschlandpolitik gestalten will, muß wissen, daß dies erfolgreich nur auf dem Boden einer verläßlichen Sicherheitspartnerschaft mit unseren Bündnispartnern geschehen kann. Hierbei kann dann auch die parlamentarische Opposition eine wichtige aktive Rolle im Rahmen ihrer spezifischen Verantwortung spielen.Es kann keine separate deutsche Ostpolitik geben. Deutsche Ostpolitik muß immer im Rahmen des Bündnisses erfolgen. Richtig ist allerdings auch, daß wir Deutschen auf Grund unserer besonderenLage uns bei der Gestaltung und Ausarbeitung der Ostpolitik besonders engagieren sollten. Und genau dies tun wir.Mit Ihrer Nebenaußenpolitik möchte die SPD hier in der Bundesrepublik Deutschland natürlich den — fälschlichen — Eindruck der Passivität der Bundesregierung vermitteln, die wegen ihrer festen Westbindungen angeblich nicht zu einer konstruktiven Entspannungspolitik mit dem Osten fähig sei.Nun läßt sich nicht leugnen, daß der Begriff der Entspannungspolitik ein vieldiskutierter und kontrovers diskutierter Begriff ist. Deswegen möchte auch ich etwas dazu sagen.Vielleicht hat niemand besser als der Sozialdemokrat und große Politologe Professor Richard Löwenthal in seinen „Weltpolitischen Betrachtungen" den Begriff der Entspannungspolitik definiert. Er sagt:Zur Entspannung gehört auch die Restabilisierung des Gleichgewichts. Dies und die Kontrolle des Konflikts durch Verhandlungen gehören notwendig zusammen. — Entspannung, wenn sie keine Selbsttäuschung sein soll, setzt eine Aufrechterhaltung des Machtgleichgewichts zwischen Ost und West ebenso voraus wie den Fortgang der Kontrolle des Konflikts durch Verhandlungen.Wirksame Entspannungspolitik, also eine Politik, die Spannungen abbaut — und wenn Worte noch etwas bedeuten, muß das j a das Ergebnis sein —, besteht auch aus den Grundelementen einer gesicherten Verteidigungsfähigkeit — ich verweise hier darauf: Sie wollen den Wehrdienst offensichtlich auf acht bis neun Monate begrenzen —, die die notwendige Voraussetzung für die weitere Suche nach Fortschritten in Richtung auf dauerhafte Beziehungen bildet, mit deren Hilfe die grundlegenden politischen Fragen gelöst werden können. So steht es schon im Harmel-Bericht. Eine solche Entspannungspolitik auf zwei Beinen dient dem Abbau von Spannungen. Und dies genau ist unsere Politik. Wer aber versagt, wenn es darum geht, das militärische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, ist zu einer solchen Entspannungspolitik im Sinne des HarmelBerichts und auch Professor Löwenthals nicht in der Lage. Und dies ist genau der Vorwurf, den wir den Sozialdemokraten machen müssen.
Ihre Entspannungspolitik steht eben nur auf einem Bein, einem unsicheren Gesprächs- und Verhandlungsbein. Aber nur wer fest auf beiden Beinen steht, dem Bündnis-und-Sicherheitsbein genauso wie dem Verhandlungsbein, kann eine erfolgreiche Entspannungspolitik leisten, die wirklich auch einen Abbau von Spannungen herbeiführt.Und genau dieses leistet die Bundesregierung mit ihrer Politik. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, daß das Machtgleichgewicht, das gestört war, wiederhergestellt wurde und erhalten bleibt, und sie hat intensiv daran mitgewirkt, daß sich die Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten wieder entwickeln. Ich darf hier beispielsweise nur an
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Rühedie nach wie vor wichtige und gültige gemeinsame Erklärung des Bundeskanzlers und des amerikanischen Präsidenten vom 30. November 1984 erinnern. Darin hat Präsident Reagan seine Bereitschaft erklärt, mit der Sowjetunion das ganze Spektrum von Fragen zu erörtern, die für beide Seiten von Bedeutung sind, insbesondere die Fragen des Friedens, der Sicherheit und der Stabilität. Inzwischen wird dieser von uns geförderte Dialog auf allen Ebenen geführt, beispielsweise in den Genfer Abrüstungsverhandlungen über regionale Konflikte wie über bilaterale Fragen.Schließlich steht das amerikanisch-sowjetische Gipfeltreffen im November bevor. Wir begrüßen es sehr, daß sich Präsident Reagan und Parteichef Gorbatschow im November in Genf treffen werden. Durch das persönliche Gespräch werden sich die höchsten Repräsentanten der beiden Weltmächte besser einschätzen und dem anderen ihre Überlegungen und Besorgnisse mitteilen können. Dies ist ein wichtiger Aspekt des Gipfeltreffens, weil man so Mißtrauen abbauen und Mißverständnisse ausräumen kann. Ob es bei diesem Gipfeltreffen schon zu konkreten Vereinbarungen kommen wird, weiß heute niemand. Vor zu großer Euphorie muß gewarnt werden. Es wäre aber schon viel erreicht, wenn durch dieses Treffen die Rahmenbedingungen für die beiderseitigen Beziehungen verbessert und beispielsweise wichtige Impulse für die Rüstungskontrollverhandlungen gegeben würden.Bessere Rahmenbedingungen können durch das Gipfeltreffen auch für unser ureigenstes Anliegen geschaffen werden: für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zum Wohl der Deutschen im geteilten Deutschland. Schon heute ist durch die Verbindung von Klarheit und Festigkeit in den Grundpositionen, mit Ideenreichtum und Beweglichkeit in der Praxis unserer Deutschlandpolitik dies zu einem wertvollen Aktivposten der Bundesregierung geworden, wie es Theo Waigel heute vormittag zu Recht herausgestellt hat. Vor allem die Menschen im geteilten Deutschland haben davon schon jetzt einen greifbaren erfahrbaren Nutzen. Alle Kritiker und Schwarzmaler werden durch die unbestreitbaren Erfolge dieser Politik widerlegt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird diese erfolgreiche Politik der Bundesregierung weiterhin unterstützen und mit eigenen konstruktiven Beiträgen anreichern.
Wir wissen: Wer Regierungsverantwortung trägt, muß sich, ohne die eigenen Grundsätze zu verleugnen, stets bemühen, das Machbare so weit wie möglich zu verwirklichen. Denn eine Regierungspartei wird — da stimmen Sie sicher zu — genauso wie die Regierung nicht an ihren guten Grundsätzen gemessen, sondern an ihren guten Ergebnissen.Das gilt in besonderem Maß für die innerdeutschen Beziehungen. Diese Beziehungen sind — und das kann ja niemand bestreiten — besonders gefühlsbeladen. Schließlich ist der Ausgangspunkt nichts weniger als die deutsche Teilung mit ihren menschlichen Härten und Unerträglichkeiten, und jenseits der Elbe herrscht ein System, das mit unseren Wertvorstellungen von Freiheit und Demokratie absolut unvereinbar ist.So verständlich daher ein emotionales Herangehen an die innerdeutschen Probleme auch ist, so wenig trägt es zu einer tatsächlichen Lösung dieser Probleme bei. Deshalb ist z. B. die bloße Beschreibung der Zustände in der DDR noch kein Beweis für praktische Politik. Das Instrument der öffentlichen Kritik mag in manchen Fällen angebracht sein. Aber die Erfahrung zeigt, daß es im allgemeinen wirkungslos bleibt. Mehr noch: Die Einwirkungsmöglichkeiten werden eher verkürzt, weil beim Adressaten der Kritik zusätzliche Verhärtungen entstehen. Diese Realität muß bedacht werden. Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß hat diesen Sachverhalt vor wenigen Tagen in Leipzig prägnant auf den Punkt gebracht, als er feststellte, durch Lautlosigkeit werde viel mehr erreicht als durch lärmendes Geschrei. So ist es in der Tat.
Im übrigen hat Franz Josef Strauß mit seiner DDR-Reise verdeutlicht, das es gerade in den innerdeutschen Beziehungen darauf ankommt, auch in einem turbulenten politischen Umfeld kühlen Kopf und nüchternen Realismus zu bewahren. Genau das ist es, was eine professionelle Politik auszeichnet.Wohlgemerkt, es geht ihm und uns nicht um Verharmlosung und Leisetreterei. Wir machen überhaupt kein Hehl daraus, daß wir das totalitäre System des Realsozialismus in der DDR und seine die Menschen bedrückenden Praktiken ablehnen. Wir verschweigen weder die Tatsache, noch fördern wir — wie andere — Illusionen über die kommunistische Wirklichkeit. Aber die Menschen erwarten von uns und von der Regierung nicht starke Worte, sondern starke Ergebnisse.
Ich weiß, daß das ein hoher Anspruch ist. Sie erwarten praktische Hilfe und eine Verbesserung ihrer Lage.
Unsere Bilanz zeigt, daß wir ihnen bisher schon in vielfacher Weise helfen konnten. Wir werden dies weiterhin tun und damit unserer Verantwortung gerecht werden.Unsere innerdeutsche Politik ist erfolgreich. Sie findet bei den Menschen in Deutschland, in der Bundesrepublik und in der DDR, eine breite Zustimmung, die übrigens auch in der Bundesrepublik weit über die klassischen Wähler der Union, weit über die 50-%-Grenze hinausgeht. Und das ist auch ein Grund, warum man an einer solchen erfolgreichen Politik festhalten sollte. Wir sind auf dem richtigen Weg. Es gibt keinen vernünftigen Grund, davon abzuweichen: weder in der Sache noch in der Methode.Der aktuelle Stand der deutsch-deutschen Beziehungen gibt Anlaß zu der Hoffnung auf weitere Fortschritte. Beide Seiten haben, nicht zuletzt auch
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Rühebei den jüngsten Irritationen, Besonnenheit und Augenmaß bewiesen und deutlich gemacht, daß sie an einer stetigen Verbesserung der Beziehungen und an vertiefter Zusammenarbeit interessiert sind. Wir teilen daher den Optimismus, mit dem der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker in die Zukunft blickt. Der Wille zu positiven Entwicklungen, der darin deutlich wird, ist wichtig, aber was hinzukommen muß, ist nun auch die praktische Tat. Deshalb sollten wir möglichst bald sichtbare, positive Signale in den gegenseitigen Beziehungen setzen. Denn von diesen Beziehungen — auch hier stimmen wir Herrn Honecker zu — wird ein sehr starker Einfluß auf die Atmosphäre in Europa ausgeübt.Auch wenn das Ost-West-Verhältnis insgesamt die deutsch-deutschen Beziehungen im Guten wie im Schlechten beeinflussen kann, sollten wir. uns nicht nur von den Entwicklungen anderswo in der Welt abhängig machen. Vielmehr sollten wir zur Verständigung, zum Dialog, zu nachbarschaftlicher Zusammenarbeit und damit auch zur Stabilisierung des Friedens verantwortungsvoll und selbstbewußt beitragen, zuerst und vorrangig natürlich im gegenseitigen Verhältnis. Wenn wir in diesen deutschdeutschen Beziehungen beweisen, daß wir glaubwürdig sind, dann können wir unseren Einfluß auch im allgemeinen Ost-West-Verhältnis glaubwürdig geltend machen.All dies sind Tatsachen einer erfolgreichen Außen-, Deutschland- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung. Ich finde, es würde auch der Opposition nützen, weil die Menschen in diesem Lande das so sehen, wenn sie dies, statt lautstark Kritik und Polemik zu üben, sachlich würdigen würde.Herr Vogel hat heute morgen davon gesprochen, daß in der Außenpolitik Konsens wünschenswert ist. Ich stimme dem zu, und das sehen auch alle Kollegen in unserer Fraktion so. Aber ich bin nicht für Konsens um jeden Preis. Daß wir zum Konsens bereit sind, haben wir bereits als Oppositionspartei bewiesen. Wir haben die Sicherheitspolitik der Regierung Schmidt/Genscher unterstützt. Wir wollen keine mutwilligen Abgrenzungen zwischen Regierung und Opposition in der Außen- und Sicherheitspolitik. Aber wir müssen, Herr Ehmke, schonungslos aufdecken, wenn Sie sich in dramatischer Weise von einer Politik abwenden, die die Freiheit und Sicherheit dieses Landes bisher erfolgreich über 40 Jahre hinweg gewährleistet hat.
Es gibt keine Chance des Konsenses für eine Politik, die gegen elementare Lebens-, Sicherheits- und Freiheitsinteressen unseres Landes verstoßen würde.Herbert Wehner, den manche — wie ich der „Zeit" entnommen habe, auch das morgige Geburtstagskind — für den vielleicht bedeutendsten sozialdemokratischen Nachkriegspolitiker halten, hat die deutsche Sozialdemokratie an die West- und Sicherheitspolitik Adenauers herangeführt — nach mehr als zehn Jahren mühsamen Bemühens und Ihres Abseitsstehens. Das hat Ihnen überhaupt erstdie theoretische Chance einer Regierungstätigkeit in diesem Lande eröffnet. Ich bleibe dabei: Die Bundesrepublik Deutschland — und da reden wir nicht von Bundesländern; da wird über andere Dinge entschieden — kann von niemandem regiert werden, der nicht klar, berechenbar und fest ist, was diese Grundlagen der deutschen West- und Sicherheitspolitik angeht.
Ich glaube, niemand von uns hätte erwartet — am wenigsten Herbert Wehner —, daß Sie sich schon zu seinen Lebzeiten von diesem Lebenswerk abwenden und sich durch eine radikale Wende weg von der Westpolitik, durch eine Zerstörung der Grundlagen, die wir auch für eine aktive Ostpolitik brauchen, wieder ins Abseits manövrieren.
Deswegen möchte ich hier zum Abschluß noch einmal an die deutschen Sozialdemokraten appellieren: Wenn es Ihnen mit dem Konsens in der Außen- und Sicherheitspolitik ernst ist, wenn Sie nicht wollen, daß hier mutwillig Grenzen gezogen werden. die unserem Lande international nur schaden, dann hören Sie auf mit einer Neben- und Gegenaußenpolitik. Schaffen Sie wieder klare Grundlagen in der West- und Sicherheitspolitik! Dann würden Sie auch als Opposition einen nützlichen Beitrag für das Wohl unseres Landes leisten.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lange.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat heute morgen geglaubt, in die Richtung der Fraktion der GRÜNEN sagen zu müssen, daß wir in diesem Hause doch nur Gäste seien und er aus diesem Grunde gar nicht erst auf uns eingehen wolle.
— Wenn Sie sagen, er hat j a recht, zeigen Sie damit, daß Sie dieselbe Denkstruktur haben. — Der Bundeskanzler hat damit nicht nur Aufschluß über sein Demokratieverständnis gegeben. Ich frage mich, warum er dann das Gespenst der rot-grünen Koalition an die Wand gemalt hat, wenn wir sowieso nur Gäste sind.
Aber insgesamt muß ich feststellen: Wir bleiben sehr gelassen. Wer einem anderen erklärt, er sei Gast in diesem Hause, hält sich für den Hausherrn, er hält sich offenbar für einen Erwählten und nicht für einen Gewählten. Punkt eins.
Punkt zwei: Hausherr im Deutschen Bundestag ist nach unserer Auffassung der Bundestagspräsident und ist im weiteren Sinne der Souverän, das Volk der Bundesrepublik Deutschland. Ich denke,
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Langedaß wir Herrn Kohl ruhig zuhören können. Ich halte ihn für einen vorübergehenden Kanzler. Je schneller dieser Weg des Vorübergehens zurückgelegt wird, desto besser für dieses Land.
Das Interessanteste, was Herr Kohl heute morgen abgeliefert hat, war im Grunde genommen wiederum nichts Neues, nämlich seine Position zu SDI, zu der Strategischen Verteidigungsinitiative. Seit der Diskussion im April hat sich die Position der Bundesregierung um kein Jota geändert. Sie hat sich nicht bewegt. Ob jetzt eine Delegation in die USA reist oder nicht, die keinen Verhandlungsauftrag hat: Nach wie vor kann man davon ausgehen, daß das Ja der Bundesregierung zu SDI feststeht und diese Delegation bestenfalls den Auftrag hat, das Ja festzuklopfen und gegenüber der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik argumentativ anzureichern.Ich halte die Begründung von Herrn Kohl für sehr gefährlich. Auf der einen Seite sagt er: Wenn man sich an der Forschung und der Entwicklung beteiligt, bedeutet das ja keinen Automatismus. Ich muß Sie aber fragen: Wie steht es denn mit der Mitverantwortlichkeit an diesem Projekt? Angenommen, die Bundesregierung sagt eines Tages nein, was ich nicht glaube — aber nehmen wir ihn einmal beim Wort —, dann ist doch die Bundesregierung, selbst wenn sie nein sagt, auf Grund ihrer Teilhabe und Teilnahme an Forschung und Entwicklung an diesem Projekt mitbeteiligt, ob sie das will oder nicht. Die andere Seite sieht das doch genauso, was Weltraumrüstung anbelangt. Man kann sich hier doch nicht auf formale Gesichtspunkte zurückziehen und sagen: Wenn wir eines Tages nein sagen, sind wir sozusagen aus dem Schneider, von der politischen Verantwortung her haben wir dann mit der Sache nichts mehr zu tun.
Ich möchte nun aber doch etwas mehr in die Einzelheiten gehen. Herr Rühe, Sie haben sehr viele sehr schöne Worte zu Frieden in Freiheit, zu weltpolitischen, atmosphärischen Situationen gesagt. Sie haben der SPD Ihren obligatorischen Vorwurf gemacht, daß sie sich zunehmend auf die Argumentationslinie der östlichen Seite begebe. Ich möchte fast behaupten, Sie haben sich den Entwurf des Bundeshaushalts, hier speziell des Einzelplans 14, überhaupt nicht angesehen; denn das Positive an Haushaltsberatungen ist doch, daß eine ehrliche Diskussion geführt werden kann, die sich in Zahlen niederschlägt. Das heißt, Zahlen sind der objektive Ausdruck dessen, was die Politik an Prioritäten setzt. Wenn man sich diesen Haushalt anschaut, kommen, glaube ich, völlig andere Tatsachen ans Licht, als diese in Sonntagsmanier gehaltene Rede von Herrn Rühe vermuten läßt.
Herr Wörner und seine Mitstreiter lassen in den Erläuterungen zum Bundeshaushalt Einzelplan 14 schreiben — ich zitiere —:Mit den eingeplanten Beträgen wird die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr im Finanzplanungszeitraum voll gewährleistet. Vor allem bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung ist ein überdurchschnittlicher Aufwuchs eingeplant, um die für die 90er Jahre vorgesehenen Beschaffungen entwicklungstechnisch vorzubereiten und um die Nutzung moderner Technologien zu ermöglichen.Ich halte das für eine Drohung.Man muß sich diese Zahlen einmal vor Augen halten: 60,8 Milliarden DM betragen die Verteidigungsausgaben, d. h. im Verhältnis zum Gesamthaushalt macht der Verteidigungshaushalt 23,03 % aus. 60,8 Milliarden DM sind — vor dem Sozialen — der größte Posten in diesem Haushalt.Ich möchte die Bundesregierung einmal auffordern — vielleicht sind wir GRÜNEN die ersten, die das so deutlich sagen —, die unsinnige Trennung in einen Verteidigungshaushalt im engeren Sinne — der mit 50,3 Milliarden DM angegeben wird — und einen Verteidigungshaushalt nach NATO-Kriterien, der 60,8 Milliarden DM beträgt, weil darin sehr viele Einzelpläne anderer Art versteckt sind, Schluß zu machen und der Öffentlichkeit endlich einmal reinen Wein einzuschenken und zu sagen: Diese Bundesrepublik Deutschland gibt für Verteidigung den größten Posten aus; erst dann kommt der soziale Sektor; dann kommt lange nichts, und erst dann kommen die anderen Sektoren.
60,8 Milliarden DM von rund 264 Milliarden DM für Rüstung und Militär halten wir für einen Ausweis einer durch und durch militarisierten Gesellschaft. Es ist ein Beleg für eine militaristische Politik in diesem Lande.
Man kann das an Beispielen konkret nachweisen: 3,15 Milliarden DM 1986 für Flugzeuge, auf der anderen Seite Millionen Jugendlicher, die Arbeit suchen, vor allen Dingen weiblicher Jugendlicher, 2,4 Milliarden DM 1986 für militärische Anlagen, in aller Welt Millionen Hungernder und Obdachloser, 840 Millionen DM für Kriegsschiffe, Kürzungen im sozialen Bereich — denken Sie an Mütter, Behinderte und Rentner. Dann sagt Herr Wörner noch: Die Bundesrepublik liegt in der Spitzengruppe der Allianz bezüglich Verteidigungsausgaben. Wenn er darauf stolz ist — wir dürfen darauf nicht stolz sein angesichts von Elend und sozialen Mißständen hier in diesem Land und überall.
Wie hält eigentlich ein konservativer Politiker oder eine konservative Politikerin, die Sie hier angetreten sind, eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz zu schaffen, eine solche Argumentation psychologisch durch?
Haushaltszahlen sind, wie ich vorhin schon sagte, der Beleg für die Prioritätensetzung der Regierung.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11505
LangeSie sind mehr oder weniger die ungeschminkte Aussage im Verhältnis zu Sonntagsreden. Während Sie 1983 angetreten sind, indem Sie der Friedensbewegung, die das Motto hatte „Frieden schaffen ohne Waffen", gesagt haben, das sei nicht ganz richtig, auch wir wollten Frieden schaffen, aber Frieden mit immer weniger Waffen, stellen wir nun fest, daß die Personalausgaben der Bundeswehr für 1986 um 611 Millionen DM anwachsen, daß militärische Beschaffungen 111 Millionen DM mehr kosten werden, daß militärische Anlagen 305 Millionen DM mehr kosten werden, daß für Forschung, Entwicklung und Erprobung 149 Millionen DM mehr angesetzt werden — um nur einige Beispiele an Zahlen zu liefern.Befaßt man sich näher mit diesen Zahlen, so stellt man fest, daß hier nicht bloß der Ist-Zustand der Rüstungspolitik festgeschrieben wird. Wir haben es hier mit einer schleichenden Strategieveränderung in Richtung auf die 90er Jahre zu tun. Nur wird das hier nicht offen gesagt. Wenn 130 Millionen DM für Führungssysteme mit Schwerpunkten im Bereich der Mikroelektronik, von Millimeterwellentechnologie für Sensoren, für Aufklärung, Zielfindung und Kommunikation angesetzt werden, so werden hier die sogenannten Nervenstränge für die künftige Luft-Land-Schlacht — englisch: air/land battle — in Mitteleuropa gelegt.
Wenn 280 Millionen DM für die Entwicklung und Erprobung eines leichten Jäger 90 angesetzt werden, eines Projekts, das nun, was die Anzahl der Teilnehmerstaaten anbelangt, in Gefahr geraten ist, dann heißt das nichts anderes, als daß im Rahmen des FOFA-Konzepts die Vorwärtsstrategie, die unter General Rogers entwickelt worden ist und in der Bundesrepublik eine Mehrheit gefunden hat, daß hier die Vorwärtsstrategie verwirklicht wird, weit in das gegnerische Hinterland einzudringen, also mehr Kriseninstabilität zu bewirken als Krisenstabilität, und zwar in Form einer Aufrüstungsmaßnahme. Wenn 100 Millionen für ABC-Schutzmaterial für das nächste Jahr eingeplant sind, 12 Millionen DM mehr als letztes Jahr, dann kann die Bundesregierung natürlich sagen, wie sie es hier unverfänglich tut: Dies dient dem Schutz des einzelnen Soldaten. Wir aber sagen, daß hier eine Vorbereitung auf eine Kriegführung mit ABC-Waffen nach dieser Air/land-battle-Doktrin in die Wege geleitet wird.
— Das ist kein Schwachsinn. Sehen Sie sich die „Frankfurter Rundschau" von heute an. Dort hat sich der Oberbefehlshaber Rogers geäußert. Er sagte — ich darf ihn zitieren —, für die geltende NATO-Strategie der flexiblen Antwort seien diese— gemeint sind die chemischen Waffen — aber kein neues Element. Es gehe lediglich um die Abschreckung. Dem Gegner müsse klar sein, daß ein Einsatz seiner chemischen Waffen das Risiko eines Gegenschlages mit chemischen Waffen heraufbeschwöre. Und nun hören Sie gut zu: Niemals werde der Westen sie zuerst einsetzen.Was heißt das im Klartext? Das heißt, daß diese Waffen da sein müssen, hier gelagert sein müssen und die Bundesrepublik offensichtlich bereit ist, ihr Einverständnis abzuliefern, daß diese Waffen auch eingesetzt werden, wenn auch nicht zuerst, aber hier in Mitteleuropa eingesetzt werden. Insofern ist das kein Unsinn, wenn ich hier über die Beschaffung von chemischen Waffen rede.Ich könnte auch noch eingehen — ich kann das der Zeit halber nicht tun — auf die in einzelnen Titeln versteckten Andeutungen einer Forschung über biologische Waffen, bakteriologische Waffen, die versteckt sind in Gentechnologie. Ich kann hier, wie gesagt, aus Zeitgründen keine einzelnen Nachweise führen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Möllemann? — Bitte sehr.
Herr Kollege, ich höre soeben von meinem Nachbarn, daß Sie Mitglied des Verteidigungsausschusses seien. Wenn Sie soeben aus dem Interview von General Rogers zitieren, könnten Sie dann Ihre Erwägungen hier vortragen, wie Ihre Alternative bei diesem Problem aussieht, da er sich auf die Tatsache bezieht, daß der Warschauer Pakt in einer beachtlichen Größenordnung chemische Kampfmittelvorräte vorhält, und ausdrücklich sagt, wir würden solche auf keinen Fall als erste einsetzen? Er geht davon aus, daß der Warschauer Pakt im Konfliktfall solche als erster einsetzt. Ich fände es nachdenkenswert, wenn Sie dazu etwas sagen würden.
Das will ich gerne tun, Herr Kollege Möllemann. Die Alternative für uns heißt: Keine chemischen Waffen, auch wenn die andere Seite mit chemischen Waffen droht. Für die andere Seite können wir keine Antwort geben. Wir können dagegen nichts tun, wenn die glaubt, mit dieser Waffe drohen zu müssen.
Das ist bedauerlich, und wir müssen politisch alles in die Wege leiten, daß sie das nicht mehr tut. Aber als Antwort auf diese Bedrohung nun hier chemische Waffen zu stationieren und bereit zu sein, diese auch einzusetzen, wenn wir angegriffen würden, das ist für mich keine Alternative. Deshalb kann die Antwort an Sie nur lauten: Unsere Alternative, keine chemischen Waffen, egal, unter welchen Umständen.
Ich muß auch sagen, diese Regierung wird immer unglaubwürdiger, sie verstrickt sich immer mehr in Widersprüche. Ich weiß auch nicht, wie das mit den Neutronenwaffen weiterläuft. Da ist heute in der Presse zu lesen, daß Herr Wörner dem SPD-Kollegen Hermann Scheer eine Antwort bezüglich dieser Waffen gegeben hat. Er sagt: „Die amerikanische Regierung hat beim Kongreß bis jetzt noch nicht einmal die Mittel beantragt, um Neutronenwaffen zu produzieren, geschweige denn, daß sie diese hier
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Langein Europa stationieren wollte. Ich habe mich dessen vergewissert, bevor ich Ihnen diese Antwort gab."Wenige Tage später läßt er offensichtlich zwar nicht dementieren, aber einschränken und läßt über seinen Sprecher der Hardthöhe Oberst Horst Prayong, sagen, der Minister habe damals nur dem Eindruck entgegentreten wollen, daß Neutronenwaffen in Europa stationiert werden sollten; er habe damit nicht etwa sagen wollen, die USA hätten keine Neutronenwaffen produziert.Ich muß Ihnen sagen, ich halte es für eine Verdummung, zuerst zu sagen, die USA produzierten keine Neutronenwaffen, und jetzt zu sagen, er habe damit dem Eindruck entgegentreten wollen, daß Neutronenwaffen in Europa stationiert würden. Ich muß sagen, hier sind Widersprüche, so daß wir in Zukunft sehr genau aufpassen werden, was es mit diesem Waffensystem — unabhängig von den chemischen und bakteriologischen Waffen auf sich hat.Nicht „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen", sondern den nächsten Krieg wieder denkbar, führbar und gewinnbar machen mit immer gefährlicheren, offensiveren Waffen, das ist die Devise dieses Kanzlers und seiner Regierung. Es ist am Verteidigungshaushalt abzulesen: Wir haben es mit einer Politik indirekter Kriegsvorbereitung zu tun. Auch mit diesem Haushalt sollen Mittel bereitgestellt werden, um fähig zu werden, einen angenommenen Gegner zu besiegen, unter Inkaufnahme der Vernichtung des eigenen Landes, seiner Bevölkerung und seines Territoriums.
Es fehlt mir die Zeit, um auf die näheren Erläuterungen zum Thema „Wartime-Host-Nation-Support"-Vertrag und Umweltschutz einzugehen. Ich hätte das gern getan.Ich kann Ihnen nur sagen, der Bereich Verteidigung im vorgelegten Haushaltsentwurf ist ausgerichtet auf mehr Rüstung, auf offensivere, aggressivere Strategie gegen unsere östlichen Nachbarn und damit auf mehr Bedrohung und Kriseninstabilität. Wir stimmen hier auch darüber ab, ob wir in unserer Souveränität gegenüber den USA weiterhin eingeschränkt bleiben. Läßt sich die Bundeswehr in immer zunehmenderem Maße zum Instrument einer aggressiven Weltmacht- und Weltmarktpolitik der USA machen, so läuft die Bundesrepublik Gefahr, endgültig zum jederzeit verfügbaren Spielball Ronald Reagans, des wohl gefährlichsten Terroristen der westlichen Welt, zu werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege von den GRÜNEN hat ein sehr beredtes Beispiel dafür gegeben, was Sie bei Ihrer Gastrolle in diesem Parlament bezwecken.
Ich darf Ihnen jetzt genauso hart antworten, wie Sie hier permanent Unterstellungen betreiben: Sie hetzen, und Sie verhetzen. Das ist offensichtlich die Aufgabe, die Sie hier haben!
Wenn Sie hier den Präsidenten der USA als Terroristen bezeichnen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, dann tun Sie sich damit am allerwenigsten einen Gefallen; denn Sie werden immer unglaubwürdiger, und zwar auch bei den Gruppen, die Sie anfänglich unterstützt haben.
Ich kann Ihnen eines sagen: Wenn Sie hier dauernd von Kriegsvorbereitungen sprechen, frage ich Sie, für wie dumm Sie eigentlich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung halten. Halten Sie sie für so dumm, daß sie einen solchen Unsinn glaubt?
— Auch wenn Sie hier mit schiefen Mündern Ihren Haß ausströmen: Wir lassen uns von Ihnen nicht Kriegsvorbereitungen vorwerfen. Ich halte es für verantwortungslos, wenn Sie hier nichts Besseres zu tun haben, als die Bemühungen um die Sicherheit dieses Landes mit derart üblen Methoden in Frage zu stellen.
Ich hatte eigentlich nicht vor, mich sonst noch auf entsprechende bekannte und uns aus vielen Diskussionen im Lande hinlänglich vertraute Attacken einzulassen. Ich bedaure, daß Sie in diesem Stil hier immer noch weitermachen, obwohl Sie langsam hätten lernen müssen, daß Ihre Kollegen, die hier sitzen, mindestens genauso wie Sie daran interessiert sind, den Krieg zu verhindern.
Sie sind doch nicht die Moralhüter dieser Nation!
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Schäfer
Dazu noch eines, meine Damen und Herren, was ich Ihnen wirklich sagen muß: Wenn Sie diese Tendenzen hier fortsetzen, wird man in der psychologischen Analyse Ihrer Bewegung vielleicht einmal Ihre große historische Verwandtschaft zu etwas feststellen, was mir in Deutschland nie gefallen hat, nämlich zu der permanenten Sucht, Verschwörertheorien und Verschwörungstheorien zu entwikkeln, was Sie ja in der Tat tun.
Sie suchen auf der einen Seite immer nach geheimnisvollen, böswilligen Verschwörungen,
und Sie stehen auf der anderen Seite der anderen Macht, mit der wir uns nun wirklich auseinandersetzen wollen — nicht kriegerisch, sondern diplomatisch, im Sinne einer Entspannung, im Sinne von Fortschritt und Abrüstung —, allerdings mit einer geradezu gläubigen Naivität gegenüber, die ich politisch auch nicht mehr fassen kann.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann?
Nein, im Augenblick nicht. Herr Lange hat genügend zu diesem Thema gesprochen, und da ich den Zwischenfrager und dessen Stil, hier zu reden, kenne, erlaube ich das ihm ausnahmsweise nicht, jedem anderen aus Ihrer Fraktion gerne.
— Ja, das ist mein Stil. Ihren Stil habe ich inzwischen in mehreren Reden kennengelernt, und Sie dürfen mir erlauben, daß ich mich mit Ihnen hier nicht auf diese Weise auseinandersetze.Meine Damen und Herren, es ist heute vormittag von Herrn Kollegen Vogel der Vorwurf erhoben worden, die Bundesregierung sei sich nach wie vor nicht über ihre Einstellung zu SDI bzw. zu Eureka klar, hier sei immer noch alles sehr verschwommen. Herr Lange hat hier gesagt — ich darf ihn noch einmal und zum letztenmal zitieren —, die Bundesregierung habe sich in dieser Frage nicht bewegt. Herr Lange, dazu darf ich ironisch sagen: Seien Sie doch froh darüber, daß sie sich nicht bewegt hat, denn sie war gegenüber diesem Programm von Anfang an durchaus zurückhaltend und kritisch. Wir haben niemals behauptet, dieses Programm sei etwas, was von heute auf morgen Probleme löse.
Es gab durchaus eine Zurückhaltung dieser Regierung, die zum Teil in der Richtung kritisiert wurde, daß man gesagt hat, diese Regierung sei nicht entscheidungsfreudig. Ich kann nur sagen: Seien Sie doch froh darüber, daß wir nicht zu schnell zu entscheidungsfreudig waren, sondern erst einmal Fragen gestellt haben und diese Fragen auch weiterhin der amerikanischen Seite stellen werden, bevor wir endgültige Entscheidungen treffen.Eines aber ist doch, glaube ich, längst ausgeräumt: Es kann nicht mehr die Rede davon sein, daß wir beabsichtigten, uns als Staat an diesem Programm zu beteiligen, sondern es geht jetzt um eine Rahmenvereinbarung im Hinblick auf eine mögliche Beteiligung einzelner deutscher Forschungsinstitute und einzelner deutscher wirtschaftlicher Unternehmen. Da werden Sie uns ja wohl nicht vorwerfen können, daß wir das nicht tun sollten. Ich halte es allerdings für nötig, daß uns die Regierung bald über die Ergebnisse der „Fact Finding Commission" verständigt, die zur Zeit in Washington mit Herrn Teltschik Fragen der Bundesregierung an die amerikanische Seite klärt.Meine Damen und Herren, ich will mich hier nicht zu der Frage äußern, ob die Strategische Verteidigungsinitiative nun die Lösungen bringen kann, die manche in den Vereinigten Staaten sich davon erhoffen. Ich glaube, wir alle können uns keine abschließende Meinung zu einem Forschungsprogramm bilden, das die Vereinigten Staaten aufgelegt haben und zu dem sie das Recht haben, auch unter dem ABM-Vertrag. Dieses Recht bestreitet ihnen hier ja auch niemand. Es wird ja auch der sowjetischen Seite hier von niemandem das Recht bestritten, im Rahmen des ABM-Vertrages eine solche Forschung zu betreiben. Worauf es uns ankommen muß und ankommen wird — in dieser Hinsicht können Sie ganz unbesorgt sein —, ist, daß wir darauf achten werden, daß es zwischen einer Forschungsphase, gegen die auch die Sowjetunion nichts einwenden kann und nichts eingewandt hat, und einer eventuellen Anwendung die entscheidende Phase der politischen Handlung geben muß, wobei ich an Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion denke.Man kann zu diesem Programm nun alles mögliche sagen. Eines muß man, wie ich glaube, aber positiv anmerken. Schon die Idee an sich und die Auseinandersetzung über diese Idee haben dazu geführt, daß Bewegung auch in die Abrüstungsverhandlungen gekommen ist. Lesen Sie doch bitte einmal, was der sowjetische Parteichef dieser Tage gesagt hat: daß er bereit sei, eine möglicherweise dramatische Reduzierung der Zahl der atomaren Waffen, um die es uns allen hier ja geht, vorzunehmen, wenn verhindert wird, daß es zu solchen Weltraumwaffen kommt. — Seien Sie doch erst einmal froh darüber. Warten Sie erst einmal ab, ob sich nach dieser Bewegung auch Möglichkeiten für einen Fortschritt bei den Abrüstungsverhandlungen ergeben. Mit Ihren verbalen Attacken auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten erreichen Sie doch keine Abrüstung.
— Ich lasse einmal dahingestellt sein, wer uns hier vor jedem neuen Schritt das gleiche erzählt. Ich kann nur sagen: Ihre Unterstellungen haben sich bei allen unseren Bemühungen in der Abrüstungsfrage niemals geändert. Sie unterstellen uns das
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Böse, und wir werden Sie auch nicht davon überzeugen können, daß dieses nicht zutrifft.
— Sie brauchen nicht so zu schreien. Wir einigen uns in dieser Frage nicht.Meine Damen und Herren, wir sind — ich darf Herrn Kollegen Rühe in dieser Hinsicht unterstützen — der Auffassung, daß das Treffen des amerikanischen Präsidenten und des sowjetischen Parteivorsitzenden Gorbatschow im November in Genf Hoffnung gibt, die Atmosphäre zwischen den beiden Weltmächten zu verbessern. Ich glaube, daß es ein Fehler gewesen ist, zu lange ein solches Treffen hinauszuzögern. Verbesserung der politischen Atmosphäre — Herr Kollege Rühe, ich stimme Ihnen hier völlig zu —, z. B. gegenseitiges Kennenlernen, ist ein ganz wichtiger Schritt, um möglicherweise auch bei der Beseitigung des eigentlich größten Problems zwischen den beiden Weltmächten weiterzukommen, nämlich der Beseitigung des verheerenden Mißtrauens, das auch die sowjetische Seite immer wieder veranlaßt, bei Abrüstungsverhandlungen in der Frage der Verifizierung derart zurückhaltend zu sein. Hier liegen doch eigentlich die schwierigen Fragen. Es geht gar nicht so sehr um die Frage, die chemischen Waffen zu beseitigen, sondern mehr um die Frage der Überprüfung dieses Vorganges, wenn sie beseitigt werden. Auf einer solchen Verifizierung müssen wir allerdings bestehen. Dazu hat die sowjetische Seite bisher eben keine brauchbaren Vorschläge gemacht. Wir denken nicht daran, uns mit einem Stück Papier zufriedenzugeben, sondern wir wollen Verifizierung.Meine Damen und Herren, ich halte die Initiative der europäischen Staaten, nicht zuletzt ausgelöst durch den Bundesaußenminister, für notwendig, mit der Gründung dessen, was man Eureka nennt, im Juli dieses Jahres in Paris und mit einer Konferenz, zu der Herr Genscher und Herr Riesenhuber im November dieses Jahres nach Hannover einladen, ein eigenes europäisches Forschungsprogramm vorzulegen. Wir sind entschlossen — das ist auch außerhalb der Europäischen Gemeinschaft erkannt worden, so von den neutralen Staaten Skandinaviens sowie Österreich und der Schweiz —, als Europäer auf diesem Sektor mehr zu tun, um einer wachsenden technologischen Herausforderung durch die Vereinigten Staaten und auch Japan etwas entgegenzusetzen, was langfristig natürlich auch dazu führt, Arbeitsplätze zu schaffen.Ich kann nur davor warnen, daß jetzt schon wieder die Zweifler im Lande umherziehen und sagen: Was soll dieses Programm, wenn in vielen anderen Fragen, etwa in der Agrarpolitik, nicht von heute auf morgen die großen Lösungen kommen? Wenn wir hier in Europa zwischen den beiden Supermächten nicht in der Lage sind, auch auf diesem Sektor weiterzukommen, dann allerdings sind, wie ich fürchte, die Debatten über Arbeitsbeschaffungsprogramme, die wir hier ständig führen, noch unsinniger. Es muß uns gelingen, auch für Europa neue Möglichkeiten — für unsere Wirtschaft, aber auch für unsere Forschung — zu eröffnen. Diese Ansätze sollten es uns ermöglichen, eben auch alsEuropa eine eigenständige wirtschaftliche Position einzunehmen.Es kann natürlich keine Rede davon sein, daß das Eureka-Programm auf strategische Forschung abziele oder daß der Hauptsinn der sei, eine europäische Weltraumwaffentechnik zu begründen. Ich glaube aber, daß SDI hier auch eine wichtige Rolle gespielt hat.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zu einem Thema kommen, das mir hier heute zu kurz gekommen ist. Wir haben ja bis zur Stunde mehr eine sicherheitspolitische als eine außenpolitische Debatte geführt. Ich darf die Lage in Südafrika ansprechen; denn dies ist im Augenblick vielleicht der wichtigste außenpolitische Komplex. Ich möchte von dieser Stelle aus wiederholen, was im Auswärtigen Ausschuß schon dazu gesagt worden ist. Wir sind beunruhigt, und wir sind sehr besorgt über die Eskalation der Gewalt in Südafrika, die, so meine ich, voraussehbar war und die man der südafrikanischen Regierung von seiten der schwarzen Führer seit Jahren prophezeit hat, wenn sie nicht endlich Einsicht aufbringe und ihre Politik gegenüber der schwarzen Mehrheit ändere.Ich habe in früheren Debatten manchmal bedauert, daß man bei uns gelegentlich zu sehr beschönigt und verniedlicht hat, daß man zu sehr an das geglaubt hat, was uns von südafrikanischer Seite immer wieder versichert wurde: man brauche Zeit; alle Probleme würden sich von selber lösen. Ich erinnere mich an die erste Begegnung mit Bischof Tutu 1978 anläßlich einer Reise des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Er hat schon damals gesagt: Die Zeit läuft weg, there will be bloodshed. Er hat recht behalten. Die südafrikanische Regierung erzählt uns heute noch das, was sie uns schon 1978 erzählt hat, nämlich hinter all diesen Forderungen stehe der Kommunismus. Meine Damen und Herren, das ist zu billig, das ist zu oberflächlich, das ist schlicht und einfach falsch. Damit können wir uns hier nicht abfinden.
— Ich bin dankbar, daß es möglich ist, daß Sie mir auch zuklatschen. Ich habe immer gesagt, Sie sollten uns nicht dauernd unterstellen, wir seien das Böse schlechthin und alles, was wir täten, sei falsch, und alles, was Sie wüßten, sei richtig. Ich bedanke mich.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß Gräfin Dönhoff in ihrem heutigen Artikel in der „Zeit" zu diesem Thema sehr deutlich umrissen hat, worum es geht. Ich will nicht im einzelnen auf diesen Artikel eingehen, aber ich glaube auch, daß man etwas zu der Forderung nach einem Wirtschaftsboykott sagen muß. Es ist notwendig, daß die westliche Welt eine Antwort gibt.Die Zielsetzung dessen, was wir in Südafrika wollen, ist nicht eine Einmischung in innere Verhältnisse, sondern ist die Verhinderung einer weltpolitisch brandgefährlichen Krise. Alle westlichen Staaten stimmen darin überein, was geschehen muß: Es müssen unverzüglich Gespräche zwischen allen Beteiligten ohne Bedingungen und mit der
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Zielsetzung geführt werden, eine Verfassung zu schaffen, die die Gleichberechtigung für alle Rassen in Südafrika herstellt. Das bedeutet auch, daß die südafrikanische Regierung aufgefordert werden muß, endlich den Ausnahmezustand aufzuheben, der im Augenblick zu einer noch größeren Gewalt führt, daß sie die Gefangenen der politischen Mehrheit freizugeben hat, die seit Jahren, zum Teil seit Jahrzehnten in Gefängnissen sitzen. Wir werden hier nicht nachlassen, das zu fordern.
Ich sage Ihnen, daß die südafrikanische Regierung bisher keine befriedigenden Antworten gegeben hat und daß wir als Deutscher Bundestag mehr tun müssen, als nur zu sagen: Wir verurteilen dies, aber wird sind gegen einen Wirtschaftsboykott. Ich bin der Auffassung, wir sollten in einigen Forderungen — der Auswärtige Ausschuß ist dabei, sie aufzustellen, wenn möglich, gemeinsam, Herr Ehmke — die südafrikanische Regierung dazu bringen, daß sie schneller handelt, denn es hat keinen Sinn, diese Situation noch länger treiben zu lassen. Alle Kollegen dieses Hauses, die GRÜNEN, die SPD, die CDU und auch wir, sind in direkten Gesprächen in Südafrika bemüht, dazu beizutragen.Ich meine zum Schluß noch einmal: Meine Damen und Herren, wenn heute in dieser Debatte wiederholt auf Gegensätze aufmerksam gemacht worden ist, wenn der Regierung in dieser Debatte unterstellt worden ist, sie habe dieses oder jenes nicht erfüllt, dann merke ich schon vom Stil her — wenn man von der einen Rede absieht —, daß in der Außenpolitik und auch in der Sicherheitspolitik — allerdings hat Herr Ehmke noch nicht gesprochen; möglicherweise verändert sich das dann — die Kritik an der Regierung nicht so ist, wie das heute morgen in anderen Bereichen gewesen ist. Ich darf hier ausdrücklich sagen, daß die Rede des Bundeskanzlers heute vormittag die volle Billigung meiner Fraktion erfährt.
Wir finden uns in den Ausführungen des Bundeskanzlers zur Deutschland-, zur Sicherheits- und zur Außenpolitik wieder. Ich weiß, daß wir hier auch ein Stück Arbeit in dieser Koalition als FDP geleistet haben und daß es manchen Kollegen immer noch ein bißchen schwerfällt, auf eine neue Afrikapolitik zu verzichten, vielleicht auch auf die Wende in der Deutschlandpolitik. Wir werden hier noch manches gemeinsam zu tun haben, um die letzten Zweifel an der Richtigkeit und an der Kontinuität unserer deutschen Außenpolitik zu beseitigen. Ich darf auch noch, Herr Kollege Dregger, sagen, daß wir natürlich auch dem Außenminister und Vizekanzler danken, daß er das auch in diese Koalition mit hereingebracht, dort verfochten hat und mit Ihnen gemeinsam auch in Zukunft verfechten wird.
Jedenfalls haben wir keinen Anlaß, hier irgendeinen Gegensatz zwischen den beiden Parteien festzustellen, und wir werden uns auch in Zukunft kämpferisch bemühen, unsere politischen, außenpolitischen Vorstellungen weiter durchzusetzen, auch wenn uns was weiß ich was unterstellt wird. Wir werden damit fertig werden.Vielen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Lange von der Fraktion der GRÜNEN wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsmannes einen Ordnungsruf.
— Herr Abgeordneter, Sie sind noch jung im Parlament, und Sie sollten sich daran gewöhnen, daß Ordnungsmaßnahmen des Präsidenten nicht kritisiert werden können.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Professor Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde gerne mit einem Thema beginnen, das mit dem Haushalt 1986 etwas zu tun hat. In diesem Haushalt, Einzelplan des Auswärtigen Amtes, sind einige Posten eingestellt, die eine Verbesserung der personellen Lage und einige Reformmaßnahmen ermöglichen. Ich kann Ihnen, Herr Bundesaußenminister, in diesem Zusammenhang nicht den Vorwurf ersparen, daß Sie es jahrelang versäumt haben, den diplomatischen Dienst den gestiegenen internationalen Anforderungen anzupassen und das mit Entschiedenheit auch gegenüber dem Finanzminister durchzusetzen.
Wir stimmen sicher darin überein, daß ein Land wie die Bundesrepublik, dessen internationales Ansehen, dessen Außenwirtschaft und dessen Sicherheit in hohem Maße von einem gut funktionierenden Auswärtigen Dienst abhängen, diese Dinge nicht schleifen lassen darf. Der Bundesaußenminister, der nach mir redet, wird gleich versuchen nachzuweisen, daß er der eigentliche Promoter dieser Reform sei. In Wirklichkeit, Herr Außenminister, war es anders: Die schweren Mängel im Auswärtigen Amt wurden erst in der öffentlichen Debatte aufgenommen, als die Personalvertretung des Auswärtigen Amtes sie in die Öffentlichkeit trug, und dann sind sie nicht von Ihnen, sondern vom Deutschen Bundestag aufgegriffen worden.
Bei allen Fraktionen dieses Hauses besteht Bereitschaft, die Maßnahmen zu treffen, die zur Erhaltung der Qualität des Auswärtigen Dienstes erforderlich sind. Herr Bundesaußenminister, ich hoffe, daß Sie vielleicht schon heute ein umfassendes Konzept vorlegen — wir haben in Übereinstimmung der Parteien eine lange Anhörung im Auswärtigen Ausschuß gehabt —, wie das jetzt verwirklicht werden kann. Es gibt in diesem Haushalt einige Schritte, die in die richtige Richtung gehen,
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Dr. Ehmke
aber das ersetzt nicht ein Konzept, das wirklich Abhilfe schafft.
Im übrigen, Herr Kollege Genscher, lasse ich Sie gern nach mir sprechen, weil ich aus früheren Debatten weiß, daß zwischen uns in bezug auf Sachpunkte der Außenpolitik aus alter sozialliberaler Zeit weniger Differenzen bestehen. Das kann ich allerdings nicht von unserem Verhältnis zur Bundesregierung sagen, in der Ihr Einfluß, Herr Genscher, leider ständig sinkt. Daß das so ist, haben wir auch an der Rede von Herrn Kollegen Rühe gesehen, die eigentlich nur hinsichtlich der Personallage der Union auf dem Gebiet der Außenpolitik perspektivisch interessant war. Sie haben vor der schwierigen Aufgabe gestanden, die beiden Lücken zu füllen, die durch den frühen Tod unserer Kollegen Mertes und Marx gerissen worden sind. Das hat ein bißchen lange gedauert. Die Frage: Kommt nun der Rühe ins Auswärtige Amt oder nicht? war wie man in den Gazetten lesen und von vielen CDU-Kollegen hören konnte, auch dadurch bedingt, daß der Kanzler Angst hatte: Wenn ich den Rühe jetzt aus der Fraktion raustue, kommt einer vom deutschnationalen Flügel dran, dessen Vorhaupt Herr Dregger ist, und das wollte der Kanzler nicht.
Herr Kollege Rühe, ich bescheinige Ihnen natürlich gern, daß Sie nicht zu diesem Flügel gehören. Wir halten Sie für einen aufgeklärten Hamburger Studienrat.
— Oberstudienrat; ich bitte um Entschuldigung. Weniger gerne sehen wir die Turnübungen, die Sie nun in dieser Funktion veranstalten, um es auch den Rechten recht zu machen.
Herr Rühe, da muß ich sagen: Sie tun uns leid, aber viel Respekt verlangt uns das nicht ab. Denn am Ende fallen Sie doch so in die Rolle eines Demagogen, wenn auch — wie ich zugebe — eines kleinen.Um einmal auf Ihre Fragen zurückzukommen: Herr Rühe, Sie haben mir die beiden Fragen gestellt: Hat die Sicherheitspolitische Kommission der SPD a) beschlossen, daß die Wehrpflicht auf — wie viele Monate? —
— acht Monate herabgesetzt wird, und b), daß „Ami go home" die Parole sein soll, daß die amerikanischen Soldaten abziehen sollen?Herr Rühe, die Fragen hätten Sie sich doch beide selbst mit Nein beantworten können. Oder Sie sind noch uninformierter, als ich ohnehin manchmal den Eindruck habe.
Ich sage Ihnen: Weder hat die Sicherheitspolitische Kommission das beschlossen noch wird sie das beschließen.
Aber ich sage Ihnen auch: Im Gegensatz zu Ihnen kennen wir keine Tabus, weil für uns die Union das abschreckende Beispiel dafür ist, daß die Tabuisierung außenpolitischer Themen zu geistiger Sterilität führt.
Das war an Ihrer Rede heute deutlich zu merken.
Lassen Sie mich nun zu der Rede des Bundeskanzlers kommen. Da muß ich sagen, der Bundeskanzler ist heute morgen seinem Ruf als wandelnde Sprechblase gerecht geworden.
Also, ich- kann nur sagen, je mehr ich davon im Inland und im Ausland sehe: Für mich verkörpert dieser Kanzler außenpolitisch die Null-Lösung.
Herr Abgeordneter — — Dr. Ehmke (SPD): Nein.
Nein.
Gern zu einem späteren Zeitpunkt. Jetzt bleibe ich einmal beim Kanzler.
— Ich werde Ihre Frage noch zulassen, aber jetzt unterbrechen Sie mich einmal nicht in meiner Auseinandersetzung mit dem Bundeskanzler.
Der Bundeskanzler hat gesagt, wie sehr Sie für den Frieden und die Rüstungskontrolle sind und wie sehr Sie dafür eintreten. Die Wahrheit ist, Sie tun gar nichts. Ich bitte doch einmal den Bundeskanzler und den Außenminister, hier nach vorn zu kommen und uns zu sagen, welche Vorschläge diese deutsche Bundesregierung in Genf etwa zur Frage der eurostrategischen Raketen gemacht hat. Das ist damals unter anderem daran gescheitert, daß sich Herr Nitze mit seinem Vorschlag des „Waldspaziergangs" nicht durchgesetzt hat. Ich empfehle Ihnen noch einmal, die innere Geschichte dieser Vorgänge
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Dr. Ehmke
in Washington in dem Buch von Strobe Talbot „Raketenschach" nachzulesen.
— Sie lesen das vermutlich nur nicht, Herr Rühe. — Welche Vorschläge sind von der Bundesregierung gemacht worden? Welches sind Ihre Vorschläge zu START? Welche Besprechungen sind mit der französischen und der britischen Regierung geführt worden,
um die schwierige Frage voranzubringen, in welcher Weise denn nun französische und britische Raketen angerechnet werden sollen? — Schweigen im Walde.Und dann, was das Schlimmste ist: Obgleich inzwischen doch ziemlich klar ist — und alle anderen Europäer werden ja auch immer vorsichtiger —, daß SDI für Europa nur Nachteile haben kann — dieser Überzeugung ist ja auch Herr Genscher, auch wenn er es nicht laut sagt —, kann ich nur sagen: Der Bundeskanzler läuft hinter dem SDI-Programm her wie der Dackel hinter der Bratwurst.
Ich kann nur sagen: Eines der peinlichsten Dinge, die ich außenpolitisch erlebt habe — Herr Außenminister Genscher, das ist nicht Ihre Verantwortung —, ist die Reise, die der Herr Teltschik nun nach Amerika macht, um eine hochpolitische Frage auf Kleinklein herunterzuspielen, um dann möglichst doch noch herauszukommen. Das nennen Sie deutsche Außenpolitik.Herr Wörner, leider hat unser Gespräch von gestern nichts genützt. Gleich heute morgen lese ich, Sie wollen uns zu SDI nun auch noch zu einer Europäischen Verteidigungsinitiative verführen, die für uns auch nicht dadurch schöner wird, daß sie den Namen „EVI" tragen soll.Dann nehme ich den Gipfel. Die beiden Großmächte sind dabei, sich auf das Treffen ihrer beiden Führer vorzubereiten. Dazu ist ein wichtiger Vorschlag gemacht worden. Das, was Sie dazu gesagt haben, Herr Rühe, ist töricht. Sie lehnen für uns immer einseitige Vorleistungen ab. Jetzt macht die Sowjetunion einen einseitigen Atomteststopp — sie sagt es nicht nur —, und dann machen Sie sich nachträglich die Argumente zu eigen, mit denen die Amerikaner erst geantwortet haben, die sie dann aber auf eine Intervention von Herrn Gorbatschow hin — was Sie vielleicht nicht gemerkt haben — geändert haben. Denn nach dem Gorbatschow-Artikel in der „Prawda" hat die amerikanische Seite gesagt: Jawohl, es ist so, die Sowjets waren nicht fertig mit ihren Tests. Was sagen Sie denn eigentlich dazu, daß die Amerikaner nun offenbar möglichst viele Tests noch vor dem November über die Bühne bringen wollen? Sie glauben doch nicht, daß Sie auf irgendeiner Seite Eindruck machen und Einfluß gewinnen, wenn Sie so über diese wichtige Sache reden.Dies ist eine zentrale Frage unserer Sicherheit, und diese Bundesregierung schweigt, geistig die Hände an der Hosennaht.Ich komme zu den chemischen Waffen. Leider ist Herr Dregger, dieses Standbild deutschnationalen Anstands, gerade hinausgegangen. Wir haben natürlich noch gut in Erinnerung, daß er aus Amerika zurückkam mit der angeblichen Zusage des amerikanischen Verteidigungsministers, die amerikanischen chemischen Waffen könnten von deutschem Boden entfernt werden. Von dieser Seifenblase ist nichts übriggeblieben. Herr Dregger hatte es offenbar mit der Wahrheit nicht so genommen, wie auch in der Debatte am Freitag bei seinem kurzen Wortwechsel mit mir.Inzwischen hat der sicherheitspolitische Arbeitskreis Ihrer Partei beschlossen: Jawohl, wir brauchen natürlich chemische Waffen.
— Lesen Sie doch einmal den Beschluß nach. Herr Wimmer hat das erklärt. Lesen Sie es nach. Sie sind schon wieder nicht informiert. Es wurde gesagt: Wir brauchen sie, man kann darauf nicht verzichten.
Sie sorgen also noch nicht einmal dafür, daß unser Volk frei wird von chemischen Waffen. Das tun Sie nicht.
Im Wahlkampf sagen Sie: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen". Aber Sie betreiben eine Politik von immer mehr Waffen in einem Gebiet, in dem wir ohnehin schon die größte Dichte von Massenvernichtungswaffen in der ganzen Welt haben.
Ich muß den Bundeskanzler, ebenso wie vorhin schon meine Kollegin Anke Fuchs, an den Amtseid erinnern, den er geleistet hat. Der Kanzler hat den Eid geleistet, Schaden vom deutschen Volk zu wenden, nicht aber, immer mehr von diesem Zeug nach Deutschland zu holen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Ostpolitik kommt noch folgendes hinzu. Herr Rühe, Sie waren ja in bezug auf die Grenzfrage lernfähig, aber inzwischen hat einer Ihrer Parteifreunde, Herr Hupka, die „Destabilisierung" der Ostblockstaaten gefordert, und andere wollen die polnische Westgrenze nicht anerkennen. Meinen Sie, mit all dem könnten Sie Ostpolitik betreiben?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Todenhöfer?
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Nein, ich möchte jetzt weitermachen. Eine Frage hat Herr Rühe auch noch gut. Ich sehe, daß meine Zeit zu Ende geht.
— Noch bevor ich zu Ende bin. Inzwischen ist es schon so weit, daß Ihre Kollegen im Zusammenhang mit der Deutschlandpolitik nicht mehr die Formulierungen des Herrn Bundespräsidenten unterschreiben wollen.
Herr Minister Heinemann mußte sich vor Vertriebenenverbänden ausschreien lassen, als er den Herrn Bundespräsidenten zitierte. Das ist die Wirklichkeit Ihrer Friedens- und Ostpolitik. Sie hat mit den Sprechblasen des Herrn Bundeskanzlers nichts zu tun.
Darum verstehe ich ja auch, daß Sie nun statt Außenpolitik lieber Wahlkampf machen. Erst hat Herr Geißler den Versuch mit dem Antiamerikanismus gemacht. Für diesen Wahlkampf wünsche ich Ihnen viel Spaß. — Jetzt kommen Sie und sagen: „Na, das klappt vielleicht nicht so ganz, die Umfragen sind ganz anders" und kommen mit den Menschenrechten. Gut, kommen Sie mit den Menschenrechten. Das wird auch eine interessante Auseinandersetzung. Aber vielleicht bringen Sie vorher Ihr Verhältnis zu Südafrika und zu Herrn Stroessner in Paraguay in Ordnung, den Sie ja eingeladen hatten und den wir dann realiter ausladen mußten.
Alles Reden von Gemeinsamkeit bleibt Sprechblase, solange Sie nicht konkret wenigstens annähernd ein Handeln zeigen, das diesen Überschriften entspricht. Eine verbale Gemeinsamkeit „Friede, Freude, Eierkuchen" ohne jede Verbindlichkeit, ein Mitmachen mit der Politik, die Sie jetzt treiben, werden Sie von uns nicht erreichen. Ich kann nur hoffen, daß sich Herr Genscher doch noch durchsetzt. Ich habe allerdings den gegenteiligen Eindruck.
Herr Abgeordneter, Sie brauchen keine Angst zu haben, die Uhr dort vorne stimmt leider nicht. Sie haben noch 13 Minuten und 15 Sekunden.
Im übrigen: Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Ja. Vizepräsident Westphal: Herr Rühe, bitte.
Herr Professor Ehmke, da ich eine sehr solide Information für meine Fragen hatte und Sie hier gesagt haben, was Sie nicht beschlossen haben, möchte ich Sie doch jetzt fragen, was Sie beschlossen haben.
In den beiden Fragen ist noch gar nichts beschlossen worden, weil die Sicherheitspolitische Kommission an der Erarbeitung
eines sicherheitspolitischen Konzepts ist, das dem nächsten Parteitag vorgelegt werden soll, so wie das in Ihrer Partei auch der Fall ist. Und wenn wir beschlossen haben, kriegen Sie von mir ein Extraexemplar, zwar nicht mit Goldrand, aber mit eigenhändiger Unterschrift.
— Im Gegensatz zu Herrn Dregger tue ich das eigentlich immer, Herr Kollege Rühe.
Würden Sie nun auch noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Todenhöfer zulassen?
Ja, gern.
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Abgeordneter Ehmke, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen — da ich an dem Gespräch zwischen Dregger und Caspar Weinberger teilgenommen habe —, daß Herr Dregger sich erstens dafür eingesetzt hat, daß alle chemischen Waffen weltweit abgeschafft werden, daß er sich zweitens gegenüber Weinberger dafür eingesetzt hat, daß im Falle einer Neuproduktion chemischer Waffen in den USA diese unter keinen Umständen in die Bundesrepublik Deutschland gebracht würden, und daß er drittens seinen dringenden Wunsch zum Ausdruck gebracht hat, daß im Falle einer Neuproduktion die alten chemischen Waffen in Deutschland beseitigt würden, und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich hier noch einmal bestätigen kann, der ich an diesem Gespräch auch aktiv teilgenommen habe, daß es hierzu eine klare Willenserklärung und Zusage des amerikanischen Verteidigungsministers gegeben hat?
Herr Kollege Todenhöfer, bringen Sie mich bitte nicht in die Verlegenheit, sagen zu müssen, der amerikanische Verteidigungsminister habe die Unwahrheit gesagt. Dann kriege ich nämlich einen Ordnungsruf des Herrn Präsidenten wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsmannes.Ich sage: Es liegt keine amerikanische Zusage vor, und Ihre eigene Partei fordert inzwischen etwas anderes als das, was Herr Dregger uns da vorgegaukelt hat.
Damit komme ich aber jetzt noch einmal auf die Frage der chemischen Waffen zurück: Also, Herr Rühe, so etwas Billiges müssen Sie wirklich nicht machen, auch wenn Sie Anpassungsturnübungen machen müssen. Es ist doch keineswegs so, daß ein regionales Abkommen, daß die amerikanische und die sowjetische Seite chemische Waffen von deutschem Boden abziehen, irgendwie einem weltweiten Abkommen im Wege stünde.
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Dr. Ehmke
— Es nimmt überhaupt keinen Druck weg. Was den Druck in Genf bei den weltweiten Verhandlungen weggenommen hat, darüber im Ausschuß zu reden, bin ich gerne bereit. Dazu braucht man etwas mehr Zeit. Es kann vielmehr ein Schritt dorthin sein. Und ich sage Ihnen: Es ist unwahr, was Sie hier gesagt haben, Herr Rühe. Erst einmal: Wir schließen keine Abkommen.
— Steht nicht drin. — Natürlich schließen wir keine Abkommen, sondern wir haben ein Papier gemacht, das überlegt: Nach welchen Grundsätzen könnte man eine solche Regelung treffen?
— Reden Sie hier nichts Falsches, drücken Sie sich genau aus.
Die zweite Frage. Es hat noch nie, verehrter Herr Kollege, ein derartiges östliches Zugeständnis in bezug auf Inspektionen gegeben, wie in diesem Papier. Und wenn Sie sagen, Herr Kollege Rühe, die DDR habe keinen Spielraum, sage ich nur: Sie reden wie der Blinde von der Farbe. Ich bin gern bereit, Sie aufzuklären. Sie glauben doch wohl nicht, daß die DDR — nicht die SED, die DDR — ein solches Papier unterschreiben kann, ohne die Zustimmung dessen zu haben, um dessen chemische Waffen es geht.
Ich hatte erwartet, Sie wären interessiert, Herr Kollege Rühe, und würden sagen: Das ist aber eine interessante Arbeit, die gemacht worden ist, jetzt bohren wir mal nach. — Nein, Sie glauben, Sie haben nicht mal das nötig. Und ich weiß: Wenn demnächst von offizieller Seite an Sie, an die Bundesregierung und an andere, nehme ich an, westeuropäische Regierungen herangetreten wird: „Wollen wir nicht mal dies als ersten Schritt tun?", werden Sie wieder die Chance nicht mal ernst nehmen, weil Sie meinen, es könnte Stirnrunzeln in Washington auslösen. Aber das ist keine Wahrnehmung deutscher Interessen.
Damit komme ich zum Schluß auf Ihren letzen Punkt, der auch arg billig war.
— Auch sehr billig, wie das, was Herr Rühe zu den chemischen Waffen gesagt hat.Wir haben noch andere Arbeitsgruppen. Wir haben eine Arbeitsgruppe z. B. mit Polen, Fraktion und Partei dort, über Fragen der vertrauensbildenden Maßnahmen. Wir haben mit Ungarn eine Arbeitsgruppe über Wirtschaft. Und wir haben mit der ČSSR eine Arbeitsgruppe über Umwelt. Nun muß ich sagen — ich bitte auch Sie, Herr Außenminister, das zur Kenntnis zu nehmen —: Wenn diese Gruppen hierher zu uns kommen — und wir haben solchen Austausch natürlich genauso mit westlichenParteien, mit den Engländern, mit den Franzosen, wobei Sie wissen, daß es eine lange, lange Arbeit der SPD mit den französischen Sozialisten gegeben hat, bevor es zu dem Beschluß der französischen Sozialisten zur französischen Strategie gekommen ist —, dann ist es doch so: Dann steht die Regierung bei uns Schlange und sagt, sie würde auch gern z. B. Herrn Axen treffen.
— Bitte, gehen Sie ans Mikrofon und sagen Sie, ob das stimmt oder nicht. Ob Herr Bilak kommt, ob die Ungarn kommen, ob die DDR kommt, ob die Polen kommen — nächste Woche wird es genauso sein — —
— Na also. Sie nehmen die Möglichkeit, daß auf unsere Initiativen diese Herren da sind, selbstverständlich — ich lobe Sie dafür — in Anspruch, um auch mit ihnen einen direkten Austausch führen zu können.
Und dann kommen Sie hinterher hier hin, pöbeln uns an und sagen, wir machten gemeinsame Sache mit den Kommunisten. Sie sind j a schwachsinnig, Herr Rühe.
Die Lage ist ganz anders. Die Lage ist: Wenn diese Arbeit nicht von uns gemacht würde, hätte diese Regierung noch weniger Kontakte nach drüben.Ich stelle die Frage, und ich bitte den Herrn Außenminister, hier dazu etwas zu sagen. Ich glaube z. B. nicht, daß der Außenminister und der Wirtschaftsminister das, was die SPD und auch ich selbst zur Wiederanknüpfung des deutschpolnischen Gesprächs einschließlich des Wirtschaftsgesprächs getan haben, als negativ angesehen haben.Sie waren gegen die ganze Ostpolitik; Sie waren gegen die KSZE; Sie waren gegen alles.
Und wir sagen: Mit unserer Erfahrung, mit unseren Verbindungen leisten wir einen Beitrag für dieses Volk, daß die Verbindungen nach drüben nicht abreißen.
Und da muß ich schon sagen: Es ist ein starkes Stück, uns dafür auch noch anzupöbeln.
Wenn Sie selber eine aktivere Politik machten, wäre das nicht in diesem Maße nötig. Aber Sie haben nur Wahlkampf im Kopf und nicht die Interessen unseres Volkes in der Außenpolitik.
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Dr. Ehmke
Nein, so geht das nicht. Und wenn Sie das zum Wahlkampfthema machen wollen:
— Nur zu! Wir sind da völlig satisfaktionsfähig.
Wir sagen: Das, was dem Interesse unseres Volkes dient — und diese Gespräche dienen dem Interesse unseres Volkes, weil sie dem Frieden und den guten Beziehungen zu den östlichen Nachbarn dienen —, werden wir machen. Wir verlassen uns darauf, daß die große Mehrheit unseres Volkes das genauso sieht. Und die Umfragen zeigen ja, wie kritisch nun auch in diesem Punkte die Öffentlichkeit der Regierung Kohl gegenüber geworden ist. Nicht grundlos ist er der erste Kanzler, der sich bei Meinungsumfragen im Minusbereich befindet.
Nun lassen Sie mich noch etwas Persönliches sagen. Ich bin ja kein Freund von Traurigkeit und schlage gern eine scharfe Klinge, ab und zu jedenfalls.
Aber ich sage Ihnen: Mir macht es keine Freude, im Ausland auf diese Bundesregierung so angesprochen zu werden, wie ich angesprochen werde. Der Spitzname dieser Bundesregierung im westlichen Ausland ist „Kegelclub Germania", was ich nicht für eine Empfehlung halte.
Ich hätte lieber eine Regierung, die, auch wenn ich ganz anderer Meinung als sie bin
— und das bin ich, jedenfalls was Herrn Kohl und Sie betrifft; der Außenminister ist etwas anderes —, draußen wenigstens respektiert wird. Denn ich möchte eigentlich vor der deutschen Regierung, auch wenn ich ganz anderer Meinung bin, auch selbst Respekt haben können.
Aber ich sage Ihnen: So, wie Sie heute geredet haben und wie der Kanzler redet, verlieren Sie nicht nur nach innen, sondern auch nach außen Respekt. Und ich muß sagen, daß ich das als Deutscher über alle parteipolitischen Grenzen hinweg nur bedauern kann.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So freundlich haben Sie mich lange nicht mehr begrüßt.
Wir haben in den letzten Monaten viel über Parlamentsreform gehört. Sie ist ja nicht nur eine Frage der Formalien, sondern eine Frage der inneren Haltung des Parlaments. Das darf ein Regierungsmitglied sagen, wenn es selber dem Parlament angehört. Es ist auch eine Frage der Substanz der Debatten und der Nutzung des Parlaments. Wenn das Parlament der Ort ist, wo die grundlegenden Fragen, die unser Volk beschäftigen, zu diskutieren sind und wo nicht nur die Vergangenheit abgerechnet, sondern über die Gestaltung der Zukunft gesprochen wird, dann muß ich Ihnen von der Opposition sagen, daß Sie bisher diese Parlamentsdebatte als Chance, für sich, für unsere Demokratie wirklich versäumt haben.
Bevor ich dazu komme, lassen Sie mich ein Wort sagen.
— Naja, darauf will ich Ihnen mal etwas sagen, Herr Kollege. Was soeben in Hamburg mit dem Kollegen Apel geschieht, ist ein Stellvertreterkrieg gegen Herrn Apel für Herrn Schmidt gegen eine Sicherheitspolitik, die Ihre Partei aufgegeben hat.
Sie können sich nicht auf eine gemeinsame Sicherheitspolitik berufen,
die sie aufgegeben haben. Es ist doch nicht der Finanzpolitiker Hans Apel, dem Sie dort die Gefolgschaft versagen. In der Finanzpolitik ist er doch, wie seine gestrige Rede gezeigt hat, mit Ihnen einig im Irrtum. Aber in der Sicherheitspolitik steht er und stand er auf Ihrem Kölner Parteitag zu der Überzeugung, die wir gemeinsam vertreten haben.
Und da können Sie dreimal Zwischenrufe machen: Die deutsche Öffentlichkeit weiß, daß Sie diesen Teil der Sicherheitspolitik verlassen haben, die wir damals gemeinsam gestaltet haben.
Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich, bevor wir über diese Fragen in die Sachdebatte eintreten,
ein Wort zu dem Tiefstand der Debatte hier in diesem Hause sagen, der durch das herbeigeführt worden ist, was der Abgeordnete Lange hier erklärt hat. Sie haben das Wort „Friedensbewegung" in Ih-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11515
Bundesminister Genscherrer Rede immer und immer wieder in den Mund genommen. Ich sage Ihnen: Friedensfähigkeit setzt auch Achtung und Respekt vor dem voraus, den Sie zwar als politischen Gegner betrachten mögen, der aber vom größten Volk der westlichen Welt in einer demokratischen Wahl mit großer Mehrheit zum ersten Mann seines Landes gewählt worden ist.
Ich würde von Ihnen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, wünschen, daß Sie einmal mit Klarheit etwas zu jenem Terrorismus bei uns im Lande sagen, mit dem unsere amerikanischen Verbündeten hinausgebombt werden sollen.
Das ist die Herausforderung, nicht wahr, Herr Ströbele! Zu Ihrer Meinung zur Geheimhaltung und zur Spionage werde ich noch etwas sagen. Aber zur Klärung, zur geistigen Klärung — und das ist auch Aufgabe einer Parlamentsdebatte — steht das Ja oder Nein zur Gewaltanwendung, zum Terrorismus. Unser Staat würde kaputtgehen, wenn nicht jeder einzelne hier im Parlament dazu eine klare Sprache spricht. Kommen Sie hier her, sagen Sie nein dazu. Das ist Ihre Verantwortung!
Und dann wollen wir mit Ihnen über die anderen Fragen sachlich weiter reden. Wir werden es nicht hinnehmen, daß die innere Liberalität dieses Staates mißbraucht wird, um einen Prozeß schleichender Gewöhnung an terroristische Aktivitäten herbeizuführen. Darauf können Sie sich verlassen.
Meine Damen und Herren, die innere Liberalität dieses Staates, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und die Fähigkeit zum Frieden nach innen und außen sind unsere großen Aufgaben.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lange?
Nein, ich möchte jetzt fortfahren. — Da muß jeder zeigen, wo er steht. In der Debatte am letzten Dienstag hat mein Kollege Dr. Hirsch in einer sehr schwierigen Frage eine Lehrstunde für innere Liberalität, parlamentarische und politische Verantwortung und eine Lehrstunde für das Bekenntnis demokratisch Verantwortlicher zu denen gehalten, die für die innere Sicherheit unseres Landes einzustehen haben. Ich hätte mir gewünscht, daß gerade angesichts einer solchen Lage in der Debatte bisher ein stärkeres Wort zu denen gesagt worden wäre, die diesen freiheitlichen Rechtsstaat gegen seine Bedrohung von innen zu schützen haben, wie zu denen, die ihn gegen die Bedrohung von außen zu schützen haben. Beides ist ein schwerer Dienst, der nur im vollen Bewußtsein der Tatsache getan werden kann, daß die Öffentlichkeit, daß die Bürgerdieses Landes zu jedem einzelnen stehen, der in diesem Bereich Verantwortung trägt.
Meine Damen und Herren, wenn wir über die Zukunftsgestaltung dieser Gesellschaft sprechen, dann kann man nicht über Haushaltsetat und Beschäftigungsprogramme allein oberflächlich reden. Wir stehen vor der großen Herausforderung durch neue Technologien.
— Ich komme zum Thema. — Denn die Verteidigungsfähigkeit, die außenpolitische Handlungsfähigkeit unseres Landes, die Gestaltungsfähigkeit als Friedenskraft im Herzen Europas, das ist eine Frage der inneren Freiheitlichkeit, ist eine Frage der Freiheitlichkeit des Gesellschaftssystems, ist eine Frage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Landes. Da müssen wir erwarten, daß die sozialdemokratische Fraktion zur Frage der neuen Technologien ihre Auffassungen darlegt. Meine Damen und Herren, wenn Sie neue Technologien, neue Maschinen mit einer Maschinensteuer belegen wollen,
dann führen Sie eine Fortschrittssteuer ein und bringen unser Land damit technologisch in Rückstand.
— Die Maschinensteuer ist eine Fortschrittssteuer, und damit haben Sie doch begonnen. Sehen Sie sich doch Ihre Dokumente an! Dabei eröffnen die neuen Technologien neue Chancen für uns. Neue Technologien werden unsere Arbeitsplätze dezentralisieren. Sie werden mehr individuelle Verantwortung schaffen. Das schafft neue Freiheitschancen.
Hier ist ein Prozeß im Gang, der von der Vermassung zur Entmassung führen wird.Wir haben hier die Chance, etwas zu bewirken, was jahrzehntelang als ein Problem erschien,
nämlich die Versöhnung von Arbeitswelt und Familie.
Die neuen Technologien schaffen zum erstenmal reale Gleichberechtigungschancen für die Frauen, zusätzliche Freiheitschancen in der Lebensgestaltung. Das ist eine große Hoffnung. Wer daher Kulturpessimismus und Technologiefeindlichkeit predigt
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11516 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundesminister Genscher— das sage ich Ihnen von den GRÜNEN —, der hemmt nicht nur den Fortschritt, der macht auch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unmöglich;
denn diese neuen Technologien schaffen neue und sichere Arbeitsplätze. Sie können Konkurrenzfähigkeit, sie können Rentabilität nicht ersetzen durch Subventionen. Sie können sie auch nicht ersetzen durch Resolutionen. Sie können die anstehenden Probleme nur lösen,
wenn die Bundesrepublik Deutschland im Herzen Europas technologisch führend bleibt.Wir kennen auch die Gefahren, die sich aus neuen Technologien ergeben können. Nur, Herr Kollege, keine neue Technologie ist gut oder böse an sich. Gut oder böse ist der Gebrauch, den der Mensch davon macht.
Sie haben die Gentechnologie verteufelt. Gehen Sie einmal zu den Völkern Afrikas. Dort blicken die Wissenschaftler mit Erwartung auf die Gentechnologie, weil es die erste reale Chance ist, die Welternährungsprobleme zu lösen, vor allem auch in den Hunger leidenden Staaten Afrikas.Die Gentechnologie eröffnet neue Möglichkeiten in der Medizin, für den Umweltschutz. Die Mikroelektronik wird bewirken, daß wir weniger Schäden bekämpfen müssen; wir können neue vermeiden. Lassen Sie uns über diese Chancen reden, und lassen Sie uns genauso offen über die ethische Beherrschung der neuen Technologien sprechen. Wir sind nicht so blauäugig, um nicht auch die Mißbrauchsmöglichkeiten zu sehen.
Meine Kollegen, ich würde gern ohne Fragen zu Ende kommen können.Deshalb bitte ich Sie: Hören Sie auf mit der Verteufelung der neuen Technologien. Lassen Sie uns vielmehr in einer zukunftsorientierten Auseinandersetzung darüber streiten, wie wir diese neuen Technologien am besten nutzen können für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, für mehr Freiheitschancen für jeden einzelnen, für reale Gleichberechtigungschancen für alle Frauen, für die Versöhnung der Arbeitswelt mit der Familie und ihren Herausforderungen. Das sind die Aufgaben, die im Parlament diskutiert werden müssen.Hier ist auch die Verbindung zu den Aufgaben, die uns in der Außenpolitik gestellt sind. Wir wissen natürlich längst, daß wir die technologische Herausforderung der Vereinigten Staaten und Japans nicht mehr allein bestehen können, daß wir ihr nicht mehr allein gewachsen sein können. Deshalb sind wir zusammen mit Frankreich für die EurekaInitiative eingetreten, damit wir die technologischen Kräfte unseres demokratischen Europas bündeln. Nun sagen Sie doch endlich einmal j a zu dem,was alle Demokratien Europas wollen, oder sagen Sie nein. Dann erklären Sie das auch, damit die Leute endlich wissen, woran sie mit dem sind, was Sie eigentlich im Deutschen Bundestag vertreten.
— Herr Kollege, ich beantworte keine Fragen. Ich habe das vorhin schon gesagt.Die Bundesregierung hat an der Schwelle des Jahres 1985 — das ist die Antwort auf das, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Ehmke — die Ziele deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, die Möglichkeiten europäischer Politik definiert. Wir handeln Schritt für Schritt nach dieser Zielsetzung.Das, was der Bundeskanzler heute zur Außen- und Sicherheitspolitik dargelegt hat, waren Ausführungen, Herr Kollege Ehmke, die von Ihnen mehr Erwiderung als Polemik herausgefordert hätten.
Es war eine sehr nachdenkenswerte und sehr nachdenkliche Rede. Es war eine Rede, die sich mit dem Verhältnis von Abrüstung und politischer Zusammenarbeit, mit den Problemen kooperativer Sicherheitslösungen, mit den Fragen, die technologisch, sicherheitspolitisch und strategisch aus der Weltraumnutzung für militärische Zwecke auf uns zukommen, befaßt hat.
Hier hätten Sie zu den einzelnen Punkten kommen können. Herr Kollege Ehmke, der Meinungsbildungsstand der Bundesregierung in allen diesen Fragen entspricht genau dem, was wir mit den verbündeten europäischen Staaten auch diskutieren. Es wäre falsch, wenn die Bundesregierung hier mit vorschnellen Urteilen kommen würde. Daß wir jede Information nutzen, ist notwendig. Das sollten Sie unterstützen. Dann lassen Sie uns hinterher darüber diskutieren.Die Bemerkungen, die Sie hier über Mitglieder der Bundesregierung gemacht haben, Herr Kollege Ehmke, entwerten das Gewicht Ihrer Argumente. Sie sollten sich zu schade sein für dieses Niveau der Auseinandersetzung.
Sie sollten sich zu einer sachlichen Diskussion über das, was der Bundeskanzler hier gesagt hat, herausgefordert fühlen. Ist es nicht so, meine Kollegen, daß es angesichts der Bemühungen der beiden Großmächte, zu Abrüstung und zu Zusammenarbeit zu kommen, europäische Aufgabe ist, den Raum auszufüllen, der damit geöffnet wird? Ist nicht die Erklärung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vom 8. Januar dieses Jahres etwas, wozu wir als Deutsche aus Überzeugung ja sagen können?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11517
Bundesminister GenscherWissen Sie nicht, daß die amerikanische Regierung mit uns diese Begegnung am 8. Januar vorbereitet hat, daß wir dabei darauf hingewiesen haben, wie wichtig es ist, daß die Mittelstreckenraketen in die Verhandlungen einbezogen werden, daß die Fragen des strategischen Gleichgewichts behandelt werden und daß die Fragen der Weltraumrüstung, wie es dort gesagt worden ist, wie es der Bundeskanzler wiederholt hat, mit dem Ziel einer Verhinderung des Rüstungswettlaufs im Weltraum verhandelt werden?Das sind die Vorstellungen der Bundesregierung. Die sind dort eingegangen. Reden Sie nicht das nach, was Sie in Ihren Parteiversammlungen sagen, wir hätten dort kein Gewicht. Ich sage Ihnen: Ich habe noch immer die Überzeugung vertreten, daß in einem Bündnis die interne, aber aufrichtige und klare Diskussion größere Wirkungen bei der Wahrnehmung der eigenen Interessen bringt als Belehrungen über Zeitungsinterviews und öffentliche Erklärungen.
Aus diesem Grunde werden wir diese Form der Einflußnahme, auch der Berücksichtigung europäischer Interessen weiter fortsetzen. Dann wird es darauf ankommen, daß das, was der Bundeskanzler als den europäischen Pfeiler im Bündnis bezeichnet hat, gestärkt wird. Da ist das, was technologisch mit Eureka geschieht, was wir im November bei der Sitzung in Hannover voranbringen werden — ein ganz wichtiger Bestandteil, weil nur ein technologisch leistungsfähiges und führendes Europa in der Lage ist, die sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu erfüllen, aber auch die Herausforderungen, die an unsere Verteidigungsfähigkeit gestellt sind. Hier können Sie die Bundesregierung unterstützen. Hier hat sie zusammen mit Frankreich eine Führungsaufgabe in Europa wahrgenommen, in einem guten Sinne.Da ist geistige Führung nichts Schlimmes. Wir haben früher darüber diskutiert, ob geistige Führung notwendig ist. Sie haben mit der damaligen Opposition eine Debatte gehabt. Wir hatten sie in der Bundesregierung auch, Herr Kollege Ehmke. Ich habe immer die Meinung vertreten, daß politische Führung geistige Führung voraussetzt. Ich begrüße sehr, daß sich in einem ,,Zeit"-Artikel dieser Woche der frühere Bundeskanzler selbst zur Notwendigkeit geistiger Führung in Europa bekannt hat. Dazu stehen wir. Wir sind dafür. Wir sind auch dafür, daß wir neben Eureka die Technologiegemeinschaft Europa finden, daß wir die Normen beseitigen, die die technologische Zusammenarbeit behindern, daß wir die Praxis national orientierter Bestellungen aufgeben, um europäisch orientiert zu bestellen. Wenn die Regierungskonferenz beginnt, werden Sie erleben, daß es die Bundesrepublik Deutschland ist, die die weitestgehenden Vorschläge macht,
für die Technologiegemeinschaft, für die Herstellung eines gemeinsamen Marktes, für die Berücksichtigung der Rechte des Europäischen Parlaments, für die Entscheidungsfähigkeit des Ministerrats.Meine Damen und Herren von der Opposition, unterstützen Sie das! Da können Sie unserer Politik Gewicht verleihen. Aber reden Sie sich doch nicht selbst ein, daß diese Regierung ihre Führungsaufgabe und Verantwortung in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit nicht wahrnehme.
Wir tun das nicht, weil wir andere belehren wollen, sondern weil wir als ein Land im Herzen Europas ein elementares Interesse daran haben, daß der Prozeß der Einigung der Demokraten Europas vorangeht,
aber daß das nicht darauf beschränkt bleibt,
sondern daß wir den Blick nach Osten werfen,
Wir wissen, daß jeder Fortschritt im deutsch-deutschen Verhältnis voraussetzt, daß es in eine WestOst-Annäherung in ihrer Gesamtheit eingebettet ist.
Das kann man nur als verläßlicher Partner im Bündnis und als verläßlicher Partner in der Europäischen Gemeinschaft machen.Da stehen wir vor einem Ereignis, das der Erörterung bedarf, wo die Beiträge aller Seiten des Hauses erforderlich sind. Ich meine das Kulturforum im Oktober in Budapest. Wenn dieses europäische Kulturforum im Rahmen der KSZE stattfindet, wenn wir dort über Fragen europäischer Kulturpolitik sprechen, wenn wir dort Schritte tun, um die europäische Identität unserer gemeinsamen Kultur in Vielfalt bewußter zu machen, ist das ein Beitrag, der keine Vertrags- und Bündnisverpflichtungen verletzt, der aber doch etwas bedeutet: mehr Europa und Europäisierung unserer Interessen.
Hier sind unsere Beiträge gefordert.
— Sie können sich darauf verlassen, daß wir eine Delegation schicken, die nicht nur der politischen Kultur dieses Landes,
sondern auch der Kultur in anderen Bereichen Ehre macht, Herr Kollege Ehmke. Wir sind da für jede Anregung dankbar.Wir werden es sein, die dort mit konstruktiven Vorschlägen kommen. Wir werden dort alle Partner bitten, daß wir uns darauf verständigen, daß jedes Land das Recht hat, in jedem anderen Land ein
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11518 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundesminister GenscherKulturinstitut einzurichten. Denn wir wissen doch auch, daß der Frieden immer zuerst dadurch gefährdet wurde, daß man Gefühle des Hasses gegen andere Völker erzeugt hat.
Gefühle des Hasses gegen andere Völker hat man erzeugt, indem man ihre kulturelle Leistung herabgesetzt hat. Deshalb ist die Stärkung des Bewußtseins der kulturellen Identität in Europa ein wichtiger Bestandteil wirklicher europäischer Friedenspolitik.
Was ich hier über die europäischen Grenzen hinaus sage, möchte ich auch über das deutsch-deutsche Verhältnis sagen. Aber bevor ich dazu komme, lassen Sie mich noch ein Wort zu einem Thema sagen, das wir nicht verlieren wollen, nämlich über das Menschenrechtsforum in Ottawa, weil es in den kulturellen Bereich hinüberführt.In Ottawa hat die ungarische Delegation zur Frage der Minderheiten ein Wort gesagt. Ich zitiere aus Notizen unseres Delegationsleiters. Die ungarische Delegation hat dort gesagt:Ungarn betrachtet die Minderheiten als Brücke zwischen Ungarn und den Nachbarstaaten, um gemeinsam ihr kulturelles Erbe zu pflegen. Ungarn weist Nationalismus und Vorurteile ebenso zurück wie die zwangsweise Assimilierung von Minderheiten.Ich glaube, das ist ein Grundsatz, dem wir alle zustimmen können. Wir sollten hier alle Unterzeichnerstaaten des Warschauer Paktes ermahnen, daß sie sich das zu Herzen nehmen, was die ungarische Delegation dort gesagt hat und was — das wissen wir — in Ungarn auch praktiziert wird.
Die kulturelle Zusammenarbeit zwischen West und Ost kann auch ein wichtiger Beitrag zur Stärkung europäischer Identität, auch europäischen Selbstbewußtseins sein. Ich finde, daß die kulturelle Zusammenarbeit auch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR eine wichtige Aufgabe für unsere eigene nationale Identität hat. Wir erleben ja in diesen Jahren verschiedene Jubiläen; wir haben das Luther-Jahr, das Bach-Jahr, das Händel-Jahr.
Es hat manche Stimmen bei uns gegeben, die besorgt waren, da könne sich die DDR sozusagen eines Teiles unserer Geschichte bemächtigen, vielleicht sogar mit dem Anspruch, die besseren Teile der deutschen Geschichte fortzusetzen. Ich finde, wir brauchen einen solchen Wettbewerb nicht zu scheuen. Wir sollten ihn aufnehmen. Könnte es eigentlich einen besseren Beitrag der Bundesrepublik Deutschland und der DDR geben, als daß jeder aus seiner Sicht, aber doch für uns alle, die deutsche Geschichte aufarbeitet? So können wir uns der gemeinsamen Kultur bewußt werden, aus der sich auch eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft, auch eine gemeinsame Friedensverantwortung, ergibt.Meine Damen und Herren, wenn wir um die Aufarbeitung der deutschen Geschichte bemüht sind, müssen wir uns auch einem Thema zuwenden, das nicht unmittelbar in die Zuständigkeit des Hohen Hauses und in unsere Zuständigkeit fällt. Ich meine das, was über die deutsche Geschichte in unseren Schulen gesagt und gelehrt wird. Ich denke schon, daß es wichtig ist, daß die Aufarbeitung der deutschen Geschichte als Thema in unseren Schulen ein stärkeres Gewicht erhält, die Aufarbeitung unserer deutschen Geschichte unter dem Gesichtspunkt auch unserer demokratischen Traditionen und der Gefahren für demokratische Traditionen. Alles das halte ich für wichtig. Für unseren demokratischen Staat in Deutschland würde aus dem Wettbewerb um die Geschichte und um die gemeinsame Kultur nur dann eine Gefahr entstehen können, wenn wir uns selbst diesem Wettbewerb versagen würden.
Er ist eine Chance für uns alle, wenn wir ihn aufnehmen, und das sollten wir dann auch mit großer Überzeugung tun.Da werden wir hier, Herr Kollege Ehmke, erfolgreicher sein können, und wir werden hier auch für gemeinsame Ziele in der Politik mehr erreichen können, wenn wir die Außenpolitik zwar nicht aus der Debatte aussparen, diese Debatte aber sachlich führen. Da sollten Sie wirklich das, was Sie hier heute gesagt haben, noch einmal an dem messen,
was der Bundeskanzler hier zur Sache gesagt hat. Auch die Frau Kollegin Fuchs möchte ich darum bitten, daß sie im Interesse der Hygiene unseres Parlamentslebens doch noch einmal überprüft, ob sie eigentlich zu dem stehen kann, was sie hier gesagt hat, nämlich daß wir Massenarbeitslosigkeit in Kauf nehmen.Ich habe es bisher für einen Konsens gehalten, daß wir Arbeitslosigkeit gemeinsam bekämpfen wollen.
Meine Kollegen, wenn wir unterschiedliche Auffassungen über die Strategien haben, wollen wir darüber sachlich streiten, aber niemand sollte dem anderen die Absicht bestreiten, diese Massenarbeitslosigkeit nach seinen Überzeugungen — mit dem, was er für richtig hält — bekämpfen zu wollen.
Deshalb werde ich nicht sagen, Ihre anderen Auffassungen, die Sie dazu haben, seien Ausdruck des Nichtwollens, sondern ich sage: Ihre anderen Auffassungen führen in die falsche Richtung. Darüber haben wir früher diskutiert, und das ist auch der Grund dafür, daß unsere Wege sich geschieden ha-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11519
Bundesminister Genscherben. Aber, meine Kollegen, wir werden erfolgreicher sein können,
wenn wir uns gegenseitig weder die Friedensfähigkeit nach innen und nach außen noch den Willen, unseren sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen, bestreiten.
Ich möchte Sie darum bitten, daß Sie mit uns in eine Sachdiskussion darüber eintreten.Da sage ich Ihnen ganz offen: Da wird der Wettstreit über die Ziele zu führen sein, über die Gestaltung der Zukunft, über das, was geistige Führung ist,
über das, was mehr Freiheit oder weniger Freiheit bedeutet, über das, was Entmassung oder Vermassung bedeutet,
über das, was Einschränkung oder Erweiterung persönlicher Freiheitsräume bedeutet.Sehen Sie, meine Damen und Herren, Sie haben gewaltige Töne gegen unsere Vorstellungen zur Steuersenkung losgelassen. Das ist für uns nicht nur eine konjunkturpolitische Frage, das ist für uns nicht nur eine Frage der Entlastung aus ökonomischen Gründen;
die Frage ist für uns, wieviel jedem einzelnen Bürger von dem, was er erarbeitet hat, für seine eigene Gestaltung zur Verfügung steht.
Für uns ist das zutiefst eine Freiheitsfrage. Je mehr Sie den Bürger mit Steuern und Abgaben belasten, um so mehr schränken Sie seine Freiheit ein.
Je mehr Sie ihn entlasten, um so mehr werden Sie seine Kreativität anregen. Nur die Kreativität aller wird es uns ermöglichen, auch für diejenigen den Arbeitsplatz zu schaffen, die heute noch auf diesen Arbeitsplatz warten müssen. Wenn wir dann realistische Zahlen für die Möglichkeiten des Abbaus der Arbeitslosigkeit nennen, dann sagen Sie bitte nicht, wir nähmen Arbeitslosigkeit in Kauf, sondern erkennen Sie an, daß hier eine Regierung im Amt ist, die wichtige volkswirtschaftliche Ziele schon erreicht hat und die nicht unhaltbare Versprechungen im Hinblick auf das letzte Ziel macht, das uns alle zutiefst bedrückt, nämlich für jeden, der arbeiten kann, einen Arbeitsplatz zu schaffen.
Wenn wir die Debatte so führen, kann die Haushaltsdebatte eine wirklich bereichernde Stunde fürunsere ganze politische Debatte sein. Wenn wir uns gegenseitig den Willen, das Beste zu wollen, bestreiten, vergiften wir die Atmosphäre. Meine Kolleginnen und Kollegen, eine freiheitliche Demokratie lebt von der gegenseitigen Achtung; diese wollen wir uns gegenseitig nicht bestreiten. Die freiheitliche Demokratie lebt auch davon, daß man die Grundsatzpositionen deutlich macht. Dazu sage ich Ihnen für uns ganz klar dies. Unsere Grundsatzposition heißt: mehr Freiheit, mehr personale Verantwortung, weil das auch menschlicher in unserer Gesellschaft ist.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich schulde Ihnen zunächst eine Erklärung dafür, daß ich mich als Bundesminister der Verteidigung sofort im Anschluß an meinen Kollegen Genscher melde. Ich hatte das nicht vor. Am heutigen Nachmittag war, wie Sie wissen, eine außen- und verteidigungspolitische Debatte vorgesehen. Nun aber wird uns zu unserer Überraschung mitgeteilt, daß die SPD nicht die Absicht habe, hier die Verteidigungspolitik anzusprechen; jetzt solle ein Sozialpolitiker sprechen, und anschließend solle wieder über Verteidigungspolitik durch die Koalitionsfraktionen diskutiert werden.
Bei dieser Lage habe ich als Bundesminister der Verteidigung keine andere Möglichkeit als die, jetzt auf die verteidigungspolitischen Teile der Rede des Kollegen Ehmke einzugehen. Ich bitte im Verständnis, meine Damen und Herren, daß ich so verfahre. Mein Eindruck ist der, daß die Debattenführung der SPD ähnlich chaotisch ist wie ihre Haushalts- und Finanzlage.
Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Ehmke hat hier einige seiner Vorstellungen vorgetragen, die wir zur Genüge kennen. Zu Herrn Ehmke gehört ein gutes Stück Polemik. Das nehmen wir auch nicht übel. Ich sage aber noch einmal: Was Sie eben geboten haben, war selbst unter Ihrem sonstigen Niveau und dem Niveau einer Debatte über Grundsatzfragen der Außen- und Verteidigungspolitik nicht angemessen.
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11520 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundesminister Dr. WörnerDas fängt damit an, daß Herr Ehmke in der ihm eigenen Art bedauert, daß die deutsche Regierung nicht den nötigen Respekt im Ausland genieße. Er fährt dann fort, wir hätten nur Wahlinteressen und nicht die nationalen Interessen im Sinn. Meine Damen und Herren, das sagt ein Mann, der heute eine Sicherheitspolitik vertritt, die genau im Gegensatz zu dem steht, was er vertreten hat, als er noch Kabinettsmitglied unter vorangegangenen Regierungen war. Ich kann nur sagen: Als wir anfingen, war die deutsche Sicherheitspolitik nicht wegen Helmut Schmidt handlungsunfähig, sondern wegen jener in der SPD, die schon damals Helmut Schmidt gehindert haben, eine richtige Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen. Wir waren handlungsunfähig. Es gab Fragen im Ausland an deutsche Politiker, nicht nur an Politiker der Koalition, nicht nur an mich, sondern an alle von uns: Wohin geht der Weg der Deutschen? Das war der Schluß der Regierungszeit der SPD. Meine Damen und Herren, heute fragt keiner mehr — weder in Amerika noch in Frankreich noch in Großbritannien —: Wohin geht der Weg der Deutschen? Heute ist der Weg der Deutschen klar. Wir sind sicherheitspolitisch wieder handlungsfähig. Das ist das entscheidende Verdienst der Regierung der CDU/CSU und der FDP, meine Damen und Herren.
Unter Ihnen war es fraglich, ob der Doppelbeschluß durchgesetzt werden konnte. Unsere Position im Bündnis war erschüttert.
Heute ist der Doppelbeschluß durchgesetzt. Das Bündnis ist gefestigt, und unsere Position im Bündnis ist glasklar. Und dann spricht der Herr Ehmke von der Wahrnehmung deutscher Interessen. Meine Damen und Herren, da kann ich nur sagen: Diese Regierung hat hier keinen Nachholbedarf. Aber wer deutsche Interessen vertreten will — das erste Interesse ist Frieden und Freiheit —, der muß wissen, daß er Frieden und Freiheit nur erhalten kann, solange die Bundeswehr einsatzfähig ist und solange das Bündnis intakt ist, meine Damen und Herren. Das ist der entscheidende Punkt.
Dann fragen Sie nach der Wende. Hier hat es die entscheidende Wende in der deutschen Politik gegeben, eine Wende in der Sicherheit der Bürger der Bundesrepublik Deutschland.
Als wir anfingen, hatten hier in der Bundesrepublik Deutschland die lautstarken Minderheiten auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik das Sagen. Da konnte man die Bundeswehr nur noch zeigen, wenn das zugelassen wurde. Heute, meine Damen und Herren, ist die Zeit vorbei, in der lautstarke Minderheiten darüber entscheiden, ob die Bundeswehr in der Öffentlichkeit gezeigt werden kann oder nicht. Heute hat sich die Zahl der öffentlichen Gelöbnisse verdreifacht. Diese Regierungsteht zu den Soldaten, und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Das ist ebenfalls ein entscheidender Wechsel.
Als wir antraten, gab es keine verbindliche Planung für die Bundeswehr mehr. Heute hat die Bundeswehr eine verbindliche Planung auf über ein Jahrzehnt, eine sichere Perspektive. Hier haben wir einen Wandel, und zwar einen Wandel zum Besseren.Ich möchte ein weiteres Thema aufgreifen, das der Herr Kollege Ehmke hier aufgegriffen hat, nämlich das Thema chemische Waffen. Zunächst einmal hat er auch hier den Eindruck erweckt, als ob die SPD ein Interesse daran habe, daß chemische Waffen aus der Bundesrepublik Deutschland verschwinden. Er hat uns damit unterstellt, daß wir den Schaden vom deutschen Volk nicht wenden wollten, und er hat uns indirekt unterstellt, wir seien etwa für chemische Waffen, wenn nicht gar für deren Anwendung. Meine Damen und Herren, ich finde das wirklich unter jedem Niveau und geradezu schamlos. Herr Ehmke, ich sage Ihnen: Sie müßten genauso gut wissen wie wir, es gibt keine Partei, die seit Jahrzehnten so energisch wie die CDU/CSU darauf aus ist, chemische Waffen aus dieser Welt überhaupt verschwinden zu lassen, und sich für ein nachprüfbares Verbot nicht nur des Besitzes, sondern auch der Produktion chemischer Waffen einsetzt.
Diese Bundesregierung unter Führung des Bundeskanzlers Helmut Kohl hat — international wie auch national — diese Position pausenlos vertreten. Wir sind es, die in Genf Vorschläge eingebracht haben, wie man die Verifizierung, wie man die Nachprüfbarkeit dieses Verbots chemischer Waffen bewerkstelligen kann. Darum finde ich es unredlich, wenn Sie so tun, als ob die einen für und die anderen gegen chemische Waffen seien.
Weg mit chemischen Waffen, allerdings auf der ganzen Welt, meine Damen und Herren!Damit sind wir bei einem interessanten Punkt. Der Herr Kollege Ehmke — das hat er auch noch bei einem anderen Punkt gemacht, ich komme darauf noch zurück — spricht hier mit Stentorstimme, beschwört die Moral
und verliert keinen Ton darüber, daß die Amerikaner im Jahre 1969 einseitig auf die Produktion chemischer Waffen verzichtet haben, nunmehr 16 Jahre lang. Es gibt in unserem Volk viele, es gibt sie bei den GRÜNEN, es gibt sie bei der SPD, die sagen: Macht doch Vorleistungen,
und wenn ihr die Vorleistungen macht, dann werden die Sowjets schon nachziehen. Hier ist eine ent-
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Bundesminister Dr. Wörnerscheidende Vorleistung gemacht worden: 16 Jahre lang haben die Amerikaner auf die Produktion chemischer Waffen verzichtet.
Und was haben die Sowjets gemacht? Die Sowjets haben chemische Waffen ununterbrochen weiter produziert und unterhalten heute weit über eine halbe Million Tonnen chemischer Waffen. Herr Ehmke redet von chemischen Waffen, wendet sich an unsere Adresse und verliert kein Wort darüber, daß die Sowjetunion 16 Jahre lang Zeit gehabt hätte, die einseitige Vorleistung der Amerikaner zu honorieren.
Dann ist doch die Frage: Was tun? Wenn wir es schon nicht fertigbringen, wie wir es wollen, chemische Waffen aus der Welt zu verbannen
— die Bundesrepublik Deutschland hat aus freien Stücken als erster Staat der ganzen Welt nicht nur auf die Produktion, auf den Besitz, auf die Verfügung über chemische Waffen verzichtet —,
dann muß es der nächste Versuch sein, zu verhindern, daß chemische Waffen jemals eingesetzt werden. Das heißt, solange Sie die Sowjets nicht zwingen können, auf chemische Waffen zu verzichten, müssen Sie dafür sorgen, daß das Risiko für sie zu hoch wird, chemische Waffen einzusetzen. Daher unterhält der Westen noch ein gewisses Potential — übrigens ein ganz geringes Potential — an chemischen Waffen,
um die Anwendung chemischer Waffen in einem Konflikt unmöglich zu machen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Klejdzinski?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Klejdzinski.
Herr Minister, wenn Sie schon sehr weitgehend auf die Produktion von chemischen Waffen eingehen, finden Sie es nicht angebracht, zu dem Punkt Stellung zu nehmen, der uns hier in dieser Bundesrepublik interessiert, nämlich der Lagerung von chemischen Waffen in der Bundesrepublik? Äußern Sie sich bitte dazu, wie Sie dazu stehen!
Meine Damen und Herren, ein Vermögen, lieber Herr Kollege Klejdzinski, habe ich nicht: Ich kann nicht alles gleichzeitig sagen. Sie müssen mir also schon eine Möglichkeit geben, meine Gedanken der Reihe nach zu entwickeln. Sie werden sicher auch die Antwort auf diese Frage erhalten. Nur bin ich im Augenblick bei der sehr komplizierten, aber der entscheidenden Frage, wie man den Einsatz chemischer Waffen durch die Sowjetunion verhindert, wenn man sie schon nicht daran hindern kann, weiterzuproduzieren.
Da gibt es eine doppelte Erfahrung. Die erste Erfahrung stammt aus dem Ersten Weltkrieg, wo chemische Waffen eingesetzt wurden, und die zweite Erfahrung stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, wo chemische Waffen nicht eingesetzt wurden, obwohl beide Seiten sie hatten; besser muß man sagen: weil beide Seiten sie hatten. Selbst ein in den letzten Tagen wahrscheinlich verrückt gewordener machtgieriger, menschenverachtender Diktator wie Hitler hat nicht gewagt, chemische Waffen einzusetzen, weil er wußte, was dabei herausgekommen wäre.
Es ist völlig klar, daß die Sowjetunion in dem Augenblick — das sage ich dem Herrn der GRÜNEN, der hier gesprochen hat —, in dem sich der Westen jeglichen chemischen Potentials berauben würde, straflos chemische Waffen würde einsetzen können, und sie würde es dann auch tun, meine Damen und Herren.
Jedenfalls würde die Drohung ausreichen, um in einem Konflikt oder schon in einer Krise die Bundesrepublik Deutschland und den Westen zur Niederlage zu bringen.
Deswegen: Wer chemische Waffen schon nicht aus der Welt verschwinden lassen kann, der muß dafür sorgen, daß sie nicht eingesetzt werden. Diesem Zweck — und nur diesem Zweck — dient das vorhandene chemische Potential des Westens.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lange?
Nein, ich möchte das jetzt im Zusammenhang darstellen.
Jetzt komme ich zu dem Punkt, den der Kollege Klejdzinski angesprochen hat: Wie steht es denn mit der Lagerung chemischer Waffen hier in der Bundesrepublik Deutschland?
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11522 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundesminister Dr. WörnerDa kann ich nur sagen: Das paßt hervorragend in das Bild, das ich vorher vom Verhalten der SPD gezeichnet habe.Meine Damen und Herren, Sie waren 13 Jahre lang an der Regierung
und trugen 13 Jahre lang Regierungsverantwortung in der Bundesrepublik Deutschland.
In diesen ganzen 13 Jahren lagerten hier in der Bundesrepublik Deutschland gewisse amerikanische Bestände chemischer Waffen.
Ich habe dieses Reservoir — wenn Sie so wollen — oder die Bundesrepublik Deutschland, diese Regierung hat dieses Reservoir übernommen. Nicht ein Stück ist dazugekommen. Nun stellt sich der Herr Klejdzinski hin und fragt mich, was ich denn davon hielte. Herr Klejdzinski, Sie sollten sich selber fragen, was Sie denn 13 Jahre lang unternommen haben, wenn Sie schon gegen die Lagerung sind.
Sie haben doch als Regierung der Bundesrepublik Deutschland — und das klage ich nicht an — aus den Gründen, die ich eben geschildert habe, dieses chemische Potential hier in der Bundesrepublik Deutschland gehabt; nicht weil Bundeskanzler Schmidt es einsetzen wollte, nicht weil meine Vorgänger Leber oder Apel Freunde von chemischen Waffen gewesen wären — so wenig wie dieser Verteidigungsminister —, sondern weil das ganze westliche Bündnis bis zum heutigen Tage sagt: Damit wir den Warschauer Pakt daran hindern können, chemische Waffen anzuwenden, brauchen wir wenigstens so viel, wie für eine Repressalie notwendig wäre, damit eben chemische Waffen niemals eingesetzt werden. Das und nur das ist der Grund.
Und jetzt haben Sie meine Antwort, die sich mit der Antwort Ihrer Regierung deckt. Nicht wir haben unsere Meinung geändert. Sie, Herr Klejdzinski, kommen hierher und tun so, als wäre das,
was Sie die ganzen Jahre zugelassen haben, unsittlich.
Was ist das für eine Haltung!
— Ich komme gleich auf das nächste, meine Damen und Herren. Nur, Sie werden mir nicht verwehren können, in einer solchen Debatte, auch wenn Sie die Verteidigungspolitik nicht auf die Tagesordnung setzen, das darzustellen, was in der SPD vor sichgeht und was mehr und mehr die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, meine Damen und Herren.
So wie Sie auf diesem Gebiet Ihre Haltung von dem Augenblick an, in dem Sie die Regierungsverantwortung abgegeben haben, geändert haben, so haben Sie sie in vielen anderen Punkten geändert.
Sie waren früher für die Neutronenwaffe — jedenfalls Ihre Regierung — und sind heute dagegen. Sie waren für den Doppelbeschluß und sind heute dagegen. Sie waren früher gegen atomwaffenfreie Zonen und sind heute dafür. Sie waren gegen den Verzicht auf den Ersteinsatz und sind heute dafür.
Sie waren für Verlängerung des Wehrdienstes, und heute sind Sie dagegen. Der Kollege Rühe hat diese Fragen ja nicht von ungefähr gestellt. Der Herr Kollege Ehmke hat das wieder weggewischt. Sie wissen doch, daß es in der Vorbereitung Ihres Parteitages ein Papier gibt, in dem in der Tat als Antrag vorgeschlagen wird — als Antrag, der noch nicht beschlossen ist —, die Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland auf sieben bis acht Monate herabzusetzen.
In diesem Papier,
das mir im übrigen vorliegt, heißt es auf Seite 14 oben: „Zug um Zug können dann auch — nach etwa zwei Jahrzehnten — die amerikanischen Truppen in der Bundesrepublik Deutschland bis auf einen eher symbolischen Rest, insbesondere in West-Berlin, abgezogen werden."
Meine Damen und Herren, Sie waren früher für die Doktrin der Flexible response. Sie sind heute dagegen; jedenfalls stellen Sie sie in Frage.
Sie haben sich früher unkritisch zu Nuklearwaffen eingelassen. Heute stellen Sie die Nuklearwaffen in Frage.Meine Damen und Herren, da kann ich nur sagen: Man kann sich hundertmal zum Bündnis bekennen; das nützt alles nichts, wenn man eine Politik betreibt, die in einem diametralen Gegensatz zur Politik des Bündnisses steht. Das Etikett ist nicht entscheidend, der Inhalt der Flasche zählt, meine Damen und Herren.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11523
Nein, ich lasse keine Zwischenfragen zu.
Das gilt also ganz generell?
Dann wundern Sie sich, daß man im Ausland, und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Frankreich, zum Teil bei Ihren eigenen Parteifreunden, in Großbritannien, in Italien fragt: Wohin geht inzwischen der Weg der Sozialdemokraten?
Es sind doch nicht etwa die Leute der CDU/CSU, die diese Frage stellen. Uns kann es doch parteipolitisch gesehen nur recht sein. Glauben Sie vielleicht, die Mehrheit unserer Bürger weiß nicht mehr, daß unsere Freiheit vom Bündnis abhängt? Glauben Sie vielleicht, die Mehrheit unserer Bevölkerung weiß nicht mehr, daß wir ohne die Präsenz amerikanischer Soldaten in der Bundesrepublik Deutschland unsere Freiheit nicht behaupten können?
Das weiß die überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung nach wie vor. Unsere Bevölkerung weiß auch, daß die Soldaten der Bundeswehr hier stehen, um den Krieg zu verhindern, daß ohne diese Soldaten der Bundeswehr die Freiheit nicht gehalten werden könnte, daß diese Armee nicht kriegstreibend wirkt, sondern friedenssichernd, meine Damen und Herren. Das weiß die Mehrheit unserer Bevölkerung.
Aber Sie weiß es nicht mehr bei diesen verwirrenden Signalen aus der SPD, bei einer Politik, bei welcher der eine sagt, die Bundeswehr muß vielleicht noch 450 000 Mann stark sein, der nächste spricht von 400 000, und dann gibt es noch Angebote mit 300 000 Mann. Da kann ich nur sagen: Die Stärke der Bundeswehr kann man nicht in Form eines Lotteriespiels herleiten.
Die Stärke der Bundeswehr ergibt sich aus ihrem Auftrag. Sie muß so stark sein, daß sie ihre Aufgabe erledigen kann, und diese Aufgabe heißt, den Frieden zu sichern.
Glauben Sie vielleicht, uns fiele es leicht, unserem Volk diese Opfer zuzumuten? Glauben Sie vielleicht, uns fiele es leicht, den jungen Menschen ab 1989 sagen zu müssen: „15 Monate Wehrdienst reichen nicht aus, sondern ab 1989 müßt ihr 18 Monate dienen"?
Da kann ich nur sagen, meine Damen und Herren: Das ist nicht die Laune eines Verteidigungsministers, das ist nicht die Laune irgendeines Bundeskanzlers,
sondern das ist die bittere Notwendigkeit, die sich aus der Bedrohung auf der einen Seite ergibt, aus der Aufgabe der Bundeswehr auf der anderen Seite und aus den rückläufigen Geburtenziffern in der Bundesrepublik Deutschland auf der dritten Seite. Das ist der Preis für unsere Sicherheit.Wir haben noch den Mut, vor unsere Bevölkerung zu treten, gerade vor unsere jungen Leute, und zu sagen: Geht in die Bundeswehr, leistet euren Wehrdienst; ihr leistet damit Ehrendienst, ihr leistet Friedensdienst.
Auch wenn Sie, die GRÜNEN, hier lachen, sage ich noch einmal: Wer in der Bundeswehr Dienst leistet, leistet Ehrendienst im Dienste unseres Volkes.
Dann fragt der Herr Ehmke nach der Wahrnehmung nationaler Interessen. Ist das nicht ein Witz? Ein Mann, der mit dazu beiträgt, daß die SPD international in die Isolierung gerät, daß man mehr und mehr Fragen an sie stellt, weil mit einer solchen Politik das Bündnis gar nicht fortexistieren könnte, weil eine solche Politik im Bündnis auch gar nicht durchgesetzt werden könnte, ein solcher Mann kommt hierher und wagt es, uns zu zeihen, wir würden nationale Interessen vernachlässigen!Da kann ich nur sagen: Bereinigen Sie den Streit im eigenen Haus! Schaffen Sie Klarheit über Ihre eigene Sicherheitspolitik! Kehren Sie zur Sicherheitspolitik eines Schmidt und eines Leber zurück! Dann, meine Damen und Herren, können wir gemeinsam die nationalen Interessen der Bundesrepublik Deutschland vertreten.
Und dann kommt derselbe Herr Ehmke — und das ist ein sehr interessanter Zusammenhang — hierher, nachdem er vom Kollegen Rühe darauf angesprochen wurde, und spielt nun das, was Sie mit der SED ausgehandelt haben, merkwürdigerweise herunter. Er rühmt sich dessen nicht mehr, nein, er hat eine ganz andere These, er hat eine ganz neue Melodie erfunden. Er sagt: Weil die nicht mehr reden, die von der Regierung, müssen wir in die Bresche springen. — Also, Herr Kollege, da kann ich nur sagen: Das hat wahrscheinlich mein Kollege Genscher mit großem Vergnügen gehört, der, wie Sie wissen, pausenlos redet, das hat der Bundeskanzler mit großem Vergnügen gehört, der mit ihnen redet. Vielleicht ist Ihnen auch nicht entgangen, daß der Herr Strauß mit dem Herrn Honecker geredet hat. Vielleicht entgeht Ihnen nicht, daß auch CDU/CSU-Politiker reden.
Vielleicht ist Ihnen auch gar nicht aufgefallen, daß der Herr Honecker unlängst erklärt hat — ich glaube, es war erst vorgestern —, daß er sehr optimistisch über die Entwicklung der Beziehungen sei. —
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11524 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Bundesminister Dr. WörnerDa kann ich nur sagen: Da brauchen wir ersatzaußenpolitische Versuche der SPD an der Außenpolitik der Regierung vorbei nicht, um die deutschen Interessen auch insofern zu wahren, meine Damen und Herren.
Was Sie hier tun, hat nichts mehr mit Gesprächen zu tun. Niemand kritisiert, auch Herr Rühe nicht — das hat er ausdrücklich gesagt —, daß die SPD Gespräche führt. Das ist nicht nur ihr gutes Recht, das finden wir in Ordnung. Im übrigen hätten wir auch gar nicht das Recht, das zu zensieren. Nur, hier habe ich das vor mir, was Sie publiziert haben, und zwar in den „Informationen der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion", 19. Juni 1985.
Da heißt es dann:Im Ergebnis wurde ein „Rahmen für ein Abkommen zur Bildung einer von chemischen Waffen freien Zone in Europa"— und jetzt hören Sie gut zu — vereinbart.
Jetzt bitte ich den Herrn Ehmke, sich einmal in Großbritannien, in Frankreich und in den Vereinigten Staaten vom Amerika zu erkundigen, was dort die öffentliche Meinung und die politisch-parlamentarische Meinung, und zwar mit völliger Einhelligkeit, wären, wenn eine Oppositionspartei versuchte, ureigenste Angelegenheiten außenpolitischer Zuständigkeit der Regierung aufzugreifen, Aktionsfelder zu besetzen und an einer Regierung vorbei Außenpolitik zu betreiben —
und dies nicht nach Westen, sondern dies in Richtung Osten.
Da kann ich doch nur sagen: Was Sie hier dem Osten in die Hand liefern, ob Sie es wollen oder nicht, sind doch Instrumente, um die einen Deutschen gegen die anderen Deutschen im Interesse der Sowjetunion und des Ostblocks auszuspielen. Dafür sollten Sie sich nicht hergeben.
Nun komme ich zu dieser Idee der chemiewaffenfreien Zone. Da wird j a nun ein Rahmenabkommen über eine chemiewaffenfreie Zone vereinbart. Meine Damen und Herren, schon nuklearwaffenfreie Zonen geben nicht mehr Sicherheit — das habe ich hier schon öfter dargestellt —; denn entscheidend ist ja nicht, ob eine Zone von Nuklearwaffen frei ist, entscheidend ist, ob in diese Zone hineingeschossen werden kann oder nicht. Die Bürger von Hiroshima, die Bürger von Nagasaki hatten gar nichts davon, daß ihre Städte atomwaffenfreiwaren, solange auf sie geschossen werden konnte. Das wissen wir alle.
Meine Damen und Herren, eine nuklearwaffenfreie Zone garantiert nicht, daß eine Nuklearbombe dort nicht eingesetzt wird.
Ganz im Gegenteil, sie wäre das bevorzugte Ziel von Nuklearwaffen. — Und eine chemiewaffenfreie Zone garantiert in keiner Weise, meine Damen und Herren, daß dort chemische Waffen nicht eingesetzt werden. Ganz im Gegenteil. Solange die Sowjetunion sich nicht bereit erklärt, auf chemische Waffen — kontrolliert und beiderseits — zu verzichten,
würde es für sie doch geradezu attraktiv sein, chemische Waffen dort einzusetzen, wo sie weiß, daß der Gegner sie nicht hat. Also: Eine chemiewaffenfreie Zone Deutschland nützt den Bundesbürgern und den Bürgern in der DDR überhaupt nichts.
Ganz abgesehen davon — Sie wissen ja, warum es, in diesem Fall zu Recht, der Oberkommandierende des Atlantikpakts hier in Europa, General Rogers, als Humbug bezeichnet hat —: Sie können doch chemische Waffen in Fässern über Nacht, ohne daß es irgendjemand kontrollieren kann, von der sowjetischen Grenze in die DDR bringen. Das ist doch überhaupt kein Problem. Wie wollen Sie das denn kontrollieren? Über Nacht in einem Eisenbahnzug, in zwei Eisenbahnzügen, mit einer Aufschrift auf den Fässern wie auch immer.
Sie haben doch niemand, der das kontrollieren kann. Sehen Sie: Das ist typisch für Ihre Sicherheitspolitik.
Hier wird die Illusion der Sicherheit vorgegaukelt, aber nicht wirkliche Sicherheit gebracht. Wir sind für wirkliche Sicherheit!
Ich sage deswegen abschließend:
— Es freut mich, daß die Tatsache, das ich zum Schluß komme, Ihre Zustimmung findet. Das heißt, daß Sie, die GRÜNEN, mit meiner Rede nicht zufrieden waren.
Das ist für mich ein Grund mehr, zu sagen: Da mußich offensichtlich doch das eine oder andere gesagt
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11525
Bundesminister Dr. Wörnerhaben, das Ihnen nicht gefallen hat. Das wiederum kann so schlecht nicht gewesen sein.
— Wir haben heute von seiten der GRÜNEN so viele Sprüche gehört, daß ich nur sagen kann: Das Konto an Sprüchen ist von Ihnen bereits überzogen.
Unser Land ist sicher. Uns droht kein Krieg.
Unsere Freiheit ist nicht in Gefahr.Daß es so ist, ist in erster Linie das Verdienst des Bündnisses und der Bundeswehr und der Politik einer Bundesregierung, die in diesen drei Jahren alles daran gesetzt hat,
keine wichtigere Aufgabe — ich sage es noch einmal —, unter objektiven Gesichtspunkten,
als zum einen das Bündnis funktionsfähig zu halten und zum anderen die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr aufrechtzuerhalten, ja zu steigern.Von diesen Zielen haben wir uns auch bei der Erstellung des Haushaltsplans des nächsten Jahres leiten lassen.
Dieser Haushaltsplan zeigt erneut,
welchen Vorrang die Bundesregierung der Sicherheit unserer Bürger, der Verhinderung eines Krieges und der Erhaltung unserer Freiheit
beimißt.Ich freue mich auf die kritischen Auseinandersetzungen im Ausschuß und im Plenum zu jeder Zeit über diesen Verteidigungsetat. Denn, wie gesagt,die größte Genugtuung, die ich hatte, war, daß die SPD überhaupt nicht
über den Verteidigungsetat des Jahres 1986 diskutieren wollte.
Das Wort hat der Abgeordnete Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgerechnet dieser Skandalminister der Verteidigung wirft anderen Chaos vor.
Jeden Monat sagen Ihnen die Bürger, was Sie von Ihnen halten. Eng verbunden mit Ihrem Kanzler Kohl sind Sie unter Null, Herr Wörner. Das war bei einem Bundesminister der Verteidigung in der Bundesrepublik Deutschland noch nie der Fall.
Jeder Versuch, unser Verhältnis zur Bundeswehr in Frage zu stellen, schlägt fehl. Es ist der krankhafte Versuch, vom eigenen Versagen abzulenken.
Herr Wörner, Sie haben das Wort „Moral" verwandt. Ihre Haltung war alles andere als moralisch.
Niederschmetternde Umfrageergebnisse in dieser Woche für die Politik der Bundesregierung sind das hervorstechende Kontrastprogramm zu der amtlichen Zuckergußpropaganda. Vernichtende Einschätzungen der Regierungspolitik und der handelnden Personen: 72 % der befragten Bundesbürger, meine Damen und Herren, setzen wenig oder gar kein Vertrauen in die Kompetenz der Regierung beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Nachdem 1983 nur 30 % der Bürger nicht daran glaubten, daß die Regierung die Arbeitslosigkeit ernsthaft bekämpft, sind in dieser Woche mittlerweile 72% davon überzeugt.
Zum Haushalt debattieren heißt nach altem, uraltem Brauch Bilanz ziehen. Das ist auch notwendig. Denn in den drei Jahren seit der Wende ist diese Republik in der Substanz verändert worden.
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11526 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seiters?
Nein, das hören Sie sich jetzt einmal an. Nachdem Sie gestern vom Geschäftsordnungsrecht Gebrauch gemacht und hier Ihren Minister eingefädelt und heute nachmittag wieder zwei Minister eingefädelt haben, werden Sie jetzt hören, was die Opposition zu Ihrer skandalösen Sozialpolitik zu sagen hat.
Ob Ihnen das nun paßt oder nicht, jetzt wird über Ihre skandalöse Sozialpolitik geredet.
Die Zahl der Opfer ist nämlich gewaltig.
Arbeitnehmern, Mietern, Wohnungsbeziehern, BAföG-Empfängern, Rentnern, Kriegsopfern, Kranken, Behinderten, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern wurden und werden massive Daueropfer abverlangt.
Die wirtschaftlich Stärkeren haben Sie nicht nur verschont, Sie haben ihnen massive Vorteile verschafft.
Ihre sozialpolitischen Streichorgien spielen sich unterhalb der Sozialversicherungspflichtgrenze ab.
Das nennt man Umverteilung von unten nach oben.
Wenn Ihnen von der Wendekoalition das zu pauschal erscheint, Sie können es auch konkreter haben: Es gibt in dieser Republik keinen Arbeitnehmer, keinen Rentner, keinen Arbeitslosen, keinen Behinderten, keinen Schüler und keinen Studenten, den nicht die Politik von Herrn Blüm geschröpft hätte.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit machen wir die Bilanz dieser Bundesregierung auf,
nennen wir die Arbeitsergebnisse. In der Amtszeitdes Bundesministers für Arbeit und Sozialordnungwurde das Arbeitslosengeld gekürzt, wurde die Arbeitslosenhilfe gekürzt, wurde die Sozialhilfe gekürzt,
wurde die Rentenerhöhung verschoben, wurde der Rentenzuwachs gekürzt, wurden die Behindertenrenten gekürzt, wurden die Unfallrenten gekürzt, wurden die Berufs- und die Erwerbsunfähigkeitsrente verschlechtert,
das Krankengeld wurde gekürzt, das Mutterschaftsurlaubsgeld wurde gekürzt, die Kindergeldzuschüsse wurden gekürzt,
die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz wurden gekürzt, das Übergangsgeld bei beruflicher Rehabilitation wurde gekürzt,
die Unterhaltsgelder bei Umschulung und Fortbildung wurden gekürzt, das Arbeitsförderungsgesetz wurde massiv verschlechtert.
— Das wollen die nicht hören, aber wir sagen es ihnen immer wieder, bis sie sich auch einmal hier schämen. —
Sie haben das Arbeitsrecht verschlechtert, Sie haben den Jugendarbeitsschutz massiv verschlechtert, Sie haben das Urlaubs- und das Weihnachtsgeld der Beitragspflicht unterworfen, Sie haben die Beiträge zur Rentenversicherung erhöht,
Sie haben die Beitragspflicht zur Krankenversicherung für Rentner eingeführt.
Sie handeln nach dem Motto: Es gibt viel zu wenden, machen wir weiter, koste es die Arbeitnehmer, was es wolle.
Die Änderung des sogenannten Streikparagraphen, § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes, ist in Vorbereitung. Sie haben Ihre eigenen Probleme mit dem gekauften Müller-Gutachten.
Die Absicht Ihrer Fraktion ist es, die Gewerkschaften auf Null zu bringen, Arbeitskämpfe in Zukunft unmöglich zu machen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11527
DreßlerSie haben die massiven Verschlechterungen zur betrieblichen Mitbestimmung im Hause des Arbeitsministers formulieren lassen und nur aus optischen Gründen die Koalitionsfraktionen die Einbringung besorgen lassen.
Sie haben selber Vorschläge — der Herr Blüm, den das alles augenscheinlich wenig interessiert; er ist nämlich nicht hier — zur Amputation des Schwerbehindertengesetzes formulieren lassen.
Wenn man diesem Gesetzentwurf folgen würde, würden noch mehr Schwerbehinderte arbeitslos.
Sie haben die feste Absicht, die Wirtschaft noch weiter zu entlasten, und tun so, als ob man die Beschäftigung damit fördern könnte.
Sie haben mit dem sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz das Heuern und Feuern zur Methode erhoben. Damit sind Arbeitgeber fein heraus, Herr Kolb. Sie sind ja auch einer; darum freut Sie das so.
Sie haben den Kündigungsschutz ausgehebelt, selbst den besonderen Kündigungsschutz der Schwangeren, der Behinderten und der Wehrpflichtigen.Sie haben Ihr Beschäftigungsförderungsgesetz, das wir nach wie vor Entlassungserleichterungsgesetz nennen, als Einstellungswunder verkauft. Was ist denn eigentlich aus dem Wunder geworden?
Tatsache ist: Die Massenarbeitslosigkeit steigt, und zwar von Monat zu Monat,
und immer wieder werden neue Nachkriegsrekorde aus Nürnberg gemeldet. Drei Jahre nach der Wende gibt es negative Rekorde am Fließband.
— Hier wird kein Zuckerguß verkauft, sondern Tatsachen, wie Herr Stoltenberg gefordert hat.
Tatsachen: Die Zahl der Arbeitslosen — das ist eine Tatsache — war in keinem August höher als jetzt. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger liegt auf Rekordniveau. Das ist eine Tatsache.
Die Lohnsteuerquote war niemals höher als heute. Das ist die dritte Tatsache.
Einen höheren Rentenversicherungsbeitrag hat es nie gegeben. Das ist die vierte Tatsache.
— Die Zahl der Pleiten, Herr Kolb, war nie höher als heute. Das ist die fünfte Tatsache.
Und die regierungsamtliche Propaganda — Ihre Schreierei sowieso nicht — kommt nicht mehr an.Vor exakt zwei Jahren habe ich gehört und gedruckt nachgelesen:
„Stingl und Blüm optimistisch: 1985 eine Million Arbeitslose." Da hat sich Herr Blüm nicht nur etwas geirrt, sondern er hat total daneben gelegen, wie er in der Regel überhaupt daneben gelegen hat.
Er hat seine Amtszeit mit der Forderung nach einer Lohnpause begonnen. Hans Katzer hat auf Befragen der „Welt der Arbeit" erklärt: „Lohnpause war wohl nicht das richtige Angebot an die Gewerkschaften." Und weiter zu den Einschnitten im Sozialbereich sagt Hans Katzer:Das tut weh. Zwar mußte jeder Arbeitsminister in dieser Lage sparen, doch durfte er nicht alleiniger Vorreiter sein. Auch in der Großen Koalition haben wir Kürzungen vorgenommen. Doch jetzt scheint mir die soziale Symmetrie verlorengegangen zu sein.
Man kann nicht große und kleine Bauern unterschiedlich behandeln, und man kann nicht beim kleinen Mann sparen und Bauherrenmodelle mit Abschreibungsmöglichkeiten bis ultimo geben.
Beim heutigen Dreiergespräch, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP, hat die Bundesregierung eine Bringschuld. Bevor die selbst ernannten Ratgeber aus Ihrer Fraktion dem Deutschen Gewerkschaftsbund im Vorfeld weitere ungebetene Ratschläge geben, sollten Sie mithelfen, dieser Bundesregierung klarzumachen,
daß nach der verheerenden Sozial- und Gesellschaftspolitik der letzten drei Jahre und denschlimmen Absichten für die nächsten Monate
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11528 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Dreßlerdiese Bringschuld heute abend abgetragen werden kann.
Der Arbeitsminister wird aus seinem eigenen Laden aufgefordert, die soziale Symmetrie wiederherzustellen. Das hat der Kollege Scharrenbroich gefordert, Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, auch nicht hier.
Viele Betriebsräte und Arbeitnehmer, lese und höre ich, denken an den Austritt aus der Union. Diese Reisenden will gerade ich — das werden sie verstehen — nicht aufhalten. Aber eine Überraschung ist das nicht.Ich registriere die Aussagen des Kollegen Scharrenbroich und bringe Sie Ihnen wiederum zur Kenntnis:
Die Unruhe bei den Arbeitnehmern in der Union wird verschärft durch das Vorgehen zur Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes.
Es ist bedauerlich — sagt Ihr Fraktionskollege Heribert Scharrenbroich —, daß die Bundesregierung nicht erkannt hat, daß wichtiger als Sprecherausschüsse und Minderheitenschutz ist, daß die Arbeitnehmer Mitbestimmungsrechte bekommen bei der Einführung neuer Technologien. Nur: Daraus wird nichts in der Christlich-Demokratischen Union. Es geht weiter nach dem Muster: Die Unternehmer haben das Sagen, die Arbeitnehmer haben sich gefälligst anzupassen und unterzuordnen. Da können Sozialausschüsse der Union oft und immer wieder unterstreichen, wer Mitbestimmung verweigere, verhindere den sozialen Konsens. Für die Politik dieser Bundesregierung und der Wendekoalition ist das völlig ohne Bedeutung. Die Bundesregierung will — das haben wir in dieser Woche ausreichend gehört; es gibt auch keine anderen Hinweise — ihre bisherige schlimme Politik fortsetzen. Zwar gibt es Forderungen auch aus den Reihen der Union, in Bonn müsse weniger gegrinst und mehr gute Politik gemacht werden,
aber Konsequenzen sind nicht in Sicht.Vor zwei Jahren wurde für 1985 eine Million weniger Arbeitslose in Aussicht gestellt; Herr Blüm, Herr Geißler und andere. Davon wollen Sie jetzt natürlich nichts mehr wissen. Noch Ende April, rechtzeitig vor der Landtagswahl in NordrheinWestfalen, die für Sie von der CDU/CSU dieses verheerende Ergebnis hatte,
erklärte Kanzler Kohl: 1985 haben wir gute Chancen, daß die Arbeitslosenzahl endlich abnimmt.
Auch das hat sich längst als fundamentale Fehlprognose erwiesen.Nun sind Ablenkungsmanöver angesagt. Die Wirtschaftsdaten seien alle in Ordnung. Das Rekordniveau der Massenarbeitslosigkeit wird dabei jedes Mal schlicht vergessen. Statt der Massenarbeitslosigkeit soll jetzt die Arbeitslosenstatistik bekämpft werden.
Beschäftigungspolitische Maßnahmen werden konsequent verweigert. Ich sage Ihnen, Herr Kolb: Wer Massenarbeitslosigkeit als taktische Größe diskutiert, wer Massenarbeitslosigkeit mit statistischen Mätzchen verdrängen will, hat ein Gesellschaftsbild vor Augen, das von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung und von der SPD abgelehnt wird.
Es erscheint schon wie ein Gnadenakt, daß wenigstens die Überschüsse der Bundesanstalt für Arbeit nicht länger gehortet werden sollen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Eine Sekunde bitte, gleich, Herr Kolb, mit Vergnügen. — Das kann doch nicht wahr sein, meine Damen und Herren. Das, was man den Arbeitslosen gnadenlos weggenommen hat, ihnen buchstäblich aus der Tasche gezogen hat, soll ihnen noch nicht einmal zurückerstattet werden.
Jetzt sind Sie mit Ihrer Frage dran. Sie können gleich darauf eingehen.
Herr Abgeordneter Kolb, Sie haben eine Frage.
Schönen Dank. Aber, Herr Kollege Dreßler, ich kann nach der Geschäftsordnung kein Korreferat halten, sondern nur eine Frage an Sie stellen.
Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß der Hintergrund der Diskussion war, die Arbeitslosenstatistik von Nürnberg schneller und effektiver zu bringen und nicht nach acht Monaten mit diesem Zeitverzug, weil zur Zeit folgendes passiert: Die Industrie fragt Arbeitskräfte nach, die in Nürnberg nicht vorhanden sind, und Nürnberg bietet etwas an, was man nicht braucht?
So, Herr Kolb, jetzt sage ich Ihnen, was ich zur Kenntnis nehme. Ich nehme zur Kenntnis, daß im Laufe der letzten drei Jahre für eine Politik, die Sie mit zu verantworten haben, Hunderttausende von Menschen aus der Arbeitslosenunterstützung in die Sozialhilfe gejagt wurden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11529
DreßlerDas nehme ich als erstes zur Kenntnis. Dann nehme ich als zweites zur Kenntnis, Herr Kolb, daß Sie sogar Angst haben, wie Ihr Bundeskanzler hier heute morgen gesagt hat, die Bundestagswahl im Februar 1987 durchzuführen; Sie wollen das schon im Januar machen. Denn Sie haben Angst vor den Äußerungen Ihres ehemaligen Kollegen Franke Anfang Februar 1987. Sie wollen fünf Tage vor der Veröffentlichung der dann fälligen Arbeitslosenzahlen den Bürger vor die Wahlurne holen. Dann machen Sie es doch im Februar, wenn Ihre optimistischen Daten realistischen Hintergrund haben.
Das nehme ich zur Kenntnis, Herr Kolb.Es gibt ein paar einfache Wahrheiten, die ich Ihnen auch noch sagen will,
und zwar Wahrheiten, die nicht bestritten werden können: Immer mehr Arbeitslose sind von dem Arbeitslosengeld ausgegrenzt. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist erheblich gestiegen, und es ist so, daß neue Armut bittere Wirklichkeit ist. Deshalb das Arbeitslosengeld länger zu zahlen, ist doch keine Wohltat, sondern eine absolute Notwendigkeit, weil die Dauer der Arbeitslosigkeit extrem länger ist als vor drei Jahren. Wollen Sie denn wirklich, daß 2 Millionen Arbeitslose Bildungsmaßnahmen finanzieren, die zweifellos notwendig sind, die aber doch das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht lösen?
Wollen Sie wirklich ein Tauschgeschäft „Bildung gegen neue Armut" machen? Zusätzliche Maßnahmen im Bereich Fortbildung und Umschulung sind notwendig, aber nicht auf Kosten der Arbeitslosen.
— Daß Sie natürlich dazu kein Verhältnis haben, ist mir klar. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Wenn einer, der 10 000 DM im Monat verdient, hier äußert, daß einer, der 1 400 DM verdient, auch mit 1 300 DM auskommen kann, ist das kein seriöser Politiker.
Für die produktive Arbeitsförderung müssen auch die Betriebe und die Betriebsräte einstehen. Aber es müssen auch Steuermittel eingesetzt werden. Die Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit reichen dafür nicht aus. In einer Zeit permanenter Nachkriegsrekorde bei der Massenarbeitslosigkeit sollte das doch eine Selbstverständlichkeit sein.Das ständige Gejammer einiger Unternehmer, Fachkräfte seien nicht vorhanden,
die notwendigen Qualifikationen nicht da oder aberdie falschen, kann ich nicht mehr hören, Herr Kolb.Tatsächlich wird damit doch die Leistungsfähigkeitdes Systems der beruflichen Bildung in Frage gestellt.
Wer die Ausbildungsstellennot Jugendlicher allein als quantitatives Problem begreift, kann sich doch nicht wundern, wenn die jungen Menschen den Übergang in das Beschäftigungssystem nach der Ausbildung nicht schaffen.
Warum sind denn junge Arbeitnehmer in der Altersklasse von 20 bis 24 Jahren, also nach der Ausbildung, ganz besonders von der Arbeitslosigkeit bedroht?
— Ja, ja, alle Wirtschaftsdaten sind doch wunderbar. Das sagen die vereinten Wendestrategen pausenlos.
Von der Massenarbeitslosigkeit reden Sie nicht mehr. Sie wollen jetzt lieber von den Beschäftigten reden.
Es sind ja mehr Arbeitnehmer beschäftigt als arbeitslos. Ist das eigentlich Ihr neuer Erfolgsmaßstab?
Die Zahl der Beschäftigten ist tatsächlich geringfügig gestiegen. Aber Tatsache ist doch — das sagen wir Ihnen auch immer wieder —: Der Einstieg in die 35-Stunden-Woche hat allein im Metallbereich mehr als 100 000 Arbeitsplätze geschaffen und gesichert.
Sie haben nichts unterlassen, um diese Arbeitszeitverkürzung zu verhindern.
Ihr Kanzler Kohl bewertete den Kampf der Gewerkschaften um Arbeitszeitverkürzung als absurd, töricht und dumm.
Heute wollen Sie einen Tariferfolg, der gegen Ihren erbitterten Widerstand erreicht worden ist, Herr Kolb, als Ihre Politik verkaufen? Hemmungen hatten Konservative und Wirtschaftsliberale selten, das muß ich schon sagen, auch in dieser Frage.
Der härteste Kampf in der Geschichte der Bundesrepublik war ein Erfolg, ein Erfolg gegen die Einheitsfront von Arbeitgeberverbänden, der Bundesregierung, der CDU/CSU und der FDP.
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11530 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
DreßlerIn nur drei Jahren der Wendekoalition haben Sie diese Republik umgekrempelt und permanent so getan, als sei das zur Förderung der Beschäftigung notwendig.
Daran gemessen — daran muß man es messen — gab es nur Mißerfolge. Die Wendepolitik war kein Instrument, sondern das eigentliche Ziel. Dieses Ziel haben Sie leider erreicht.
Der Herr Bundesarbeitsminister ist es — hinter verschlossenen Türen — inzwischen offenbar selber leid. Er hat es nicht nur hingenommen, sondern sogar propagiert, daß die Einkommenschwachen zur Kasse gebeten werden. Ich zitiere, was Herr Blüm vor der Fraktion der CDU/CSU erklärt hat. Er sagte: „Was hat die Sozialpolitik zur Haushaltssanierung in Bonn beigetragen? 1983 von den 12 Milliarden 10,2 Milliarden im Haushalt des Bundesarbeitsministers." Und weiter Norbert Blüm: „1984 von den 6,6 Milliarden 4,8 Milliarden aus der Sozialpolitik." Weiter Herr Blüm: Bis 1987 werden die Sozialversicherungen durch Maßnahmen, die wir jetzt beschlossen haben, um 42 Milliarden entlastet. Viertens Originalton Blüm: Im Schwerbehindertenbereich und beim Mutterschaftsurlaubsgeld kommen noch einmal knapp 3 Milliarden hinzu.Dann hat Blüm vor der CDU/CSU-Fraktion wörtlich folgendes hinzugefügt:Ich bin es wirklich leid, diese Partygespräche, mit dem Sektglas in der Hand zu fragen, wo bleibt denn die Wende, was habt ihr denn eigentlich getan? Ich bin es wirklich satt.Das kann nun jeder von uns gut verstehen. Die Politik von Herrn Blüm und von Ihnen hat in der Tat die Reichen begünstigt und die Arbeitnehmer belastet,
hat die Gewerkschaften schikaniert und die registrierte Arbeitslosigkeit um über 400 000 erhöht. Nun hat es Norbert Blüm satt, weil er sich verrechnet hat, weil die Wähler Ihre Tricks und seine Tricks durchschaut haben.
Die letzten Wahlergebnisse und die Umfrageergebnisse zeigen nämlich Wirkung. Die Politik von Norbert Blüm ist selbst mit Hochglanzbroschüren nicht mehr zu verkaufen. Ich sage Ihnen, Herr Blüm, auch wenn Sie immer noch nicht hier sind,
und Ihnen von der CDU/CSU, daß wir nicht müde werden, Ihnen diese Tatsachen immer wieder vorzuhalten.
Abschließend sage ich Ihnen eines. Man kann das ganze Volk eine Zeitlang zum Narren halten
und einen Teil des Volkes die ganze Zeit, aber nicht das ganze Volk die ganze Zeit.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Hauser .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war schon ein eigenartiger Beitrag zur Verteidigungspolitik,
eine Show, meine Damen und Herren,
die Sie besser ins Kasperletheater verlegt hätten, aber nicht in dieses Hohe Haus.
Ich bin ja mit Udo Lindenberg nicht sonderlich gut befreundet, aber ich würde Sie, Herr Dreßler, ihm als Paniktrommler in seinem Orchester vorschlagen.
Das, was Sie hier losgelassen haben,
zeugt von einer unrealistischen Haltung. Ich kann nur sagen, es war eine Katastrophe. Das, was Sie hier aufführen wollten, hatte doch nur den Zweck, vor laufenden Fernsehkameras noch vor 18 Uhr für einen Moment in die Schlagzeilen zu kommen und vor dem Gespräch der Gewerkschaften mit der Bundesregierung noch etwas in die Medien zu bringen. Aber ich würde sagen, Ihr Beitrag hatte nicht einmal das Niveau eines Kasperletheaters.
Wo waren denn Ihre großen Sozialpolitiker? Herr Glombig kam erst im Moment herein.
Unsere Kollegen sind längst da.
Haimo George wird sich Ihrer nachher schon noch annehmen;
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11531
Hauser
da nützen auch Ihr Gebrüll und Herumgetöse nichts.
Im übrigen, lieber Kollege, hätte ich mir doch gewünscht, daß Sie diese Rede vor drei Jahren gehalten hätten,
1982, als Sie uns diese Erblast hinterlassen haben,
die knapp 2 Millionen Arbeitslosen. Sie reden heute, als wäre all dies seit Oktober 1982 entstanden. Mehr als 300 Milliarden Schulden allein beim Bund! Wo sollte das denn hinführen? Das sind doch die Zwänge, die uns dazu gebracht haben, heute den Gürtel enger zu schnallen. Sie sind der Verursacher, wenn es eine neue Armut gibt!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klejdzinski?
Ich unterstelle, daß der Kollege Klejdzinski von Sozialpolitik ohnehin nichts versteht,
und lasse keine zu.
Diese Show, die Sie hier vollführten, war fürchterlich. Wir, die wir hier zur Verteidigungspolitik unsere Gedanken darlegen wollten, müssen jetzt dazwischenkommen. Ich würde sagen: chaotisch, typisch für all Ihre Politik, die Sie uns nach 13 Jahren hinterlassen haben und die Sie jetzt fortführen wollen. Meine Damen und Herren, 1987 wird der Wähler dies schon entsprechend honorieren. Ich freue mich auf diese Auseinandersetzung gerade mit solchen Leuten, die nur noch zu chaotischer Verhandlungsführung in der Lage sind.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, trotzdem möchte ich mich in wenigen Sätzen gern mit der Verteidigungspolitik auseinandersetzen;
es sind noch andere Kollegen da, die sich hier zur Sozialpolitik äußern können.
Der Kollege Ehmke — ich bedaure es zutiefst, daß er nicht mehr da ist — hat vorhin vollmundig gesagt, er sei im Besitz einer äußerst scharfen Klinge. Jetzt, nachdem er von Minister Wörner dieses zu dem Abkommen betreffend eine chemiewaffenfreie Zone, das er als ein Papier zwischen SED und SPD heruntergespielt hat, hören mußte, muß man sagen: Herr Ehmke, diese Klinge ist stumpf. Sie sind gutim Verdrehen von Tatsachen und was Sie hier darstellen, ist fern jeglicher Realität. Sie spielen diese Dinge so herunter, als sei überhaupt nichts geschehen. Sie wurden aber heute deutlich entlarvt, Herr Kollege Ehmke. Auch wenn Sie sich einen Bart wachsen lassen — wir erkennen nach wie vor, wer Sie waren und wer Sie sind.
Herr Kollege Horn, auch an Sie möchte ich mich wenden. Bitte hören Sie mir doch kurz zu und senken Sie Ihren Adrenalinspiegel etwas. Sie haben ja auch versucht, zu der Situation hinsichtlich der chemischen Waffen ein übriges in der Sommerpause hinzuzutun. Sie haben versucht, Irritationen im Hinblick auf das zu erzeugen, was der Kollege Dregger, unser Fraktionsvorsitzender, mitgebracht hat. Wir waren kurz nach Ihnen in Washington und haben uns auch einmal sagen lassen, was Sie für ein Programm hatten. Mich hat sehr verwundert, wer Ihre Gesprächspartner waren, was die C-Waffen anlangt. Wir haben festgestellt, daß der Gipfel Ihrer Washington-Reise ein ausgezeichnetes Mittagessen war.
Lieber Herr Kollege Horn, mit diesen Desinformationen ist es fürchterlich. Es war im übrigen auch schon in den vergangenen Zeiten so, daß Sie in dieser. Art und Weise damit umgegangen sind. Betrachten wir heute einmal die Sowjetunion mit ihrer Offensivstrategie, die Sie j a nur noch verleugnen können. Herr Kollege Horn, wenn Sie das getan hätten, was wir getan haben, sich nämlich einmal Satellitenaufnahmen von dem Potential an Waffen — auch chemischen Waffen —, die dort stationiert wurden, zeigen zu lassen, wären Sie sicherlich zu einer anderen Überzeugung gekommen und hätten wahrscheinlich sogar auf Ihr sicherlich wohlverdientes Mittagessen verzichtet. Aber all diese Dinge werden nicht mehr zur Kenntnis genommen. Das gilt auch für das Flottenmanöver, das die Streitkräfte des Warschauer Paktes jetzt haben ablaufen lassen. Angefangen von der Küstenverteidigung bis hin zu globalen Seeoperationen der roten Hochseeflotte wird dort alles eingeübt.
— Ich habe es nicht nötig, mich aufzuplustern, Herr Kollege Horn. Ich erlebe Sie des öfteren im Ausschuß.All diese Tatsachen machen uns klar, daß unser Land und die freie Welt mit einer Bedrohung durch aggressive Machtpolitik leben müssen. All dies läßt es uns angeraten erscheinen, für eine ausreichende Verteidigungsfähigkeit zu sorgen, wozu Sie nicht mehr in der Lage waren.
Die Bedrohung ist real, und der Konsens, den es anscheinend früher einmal gab, ist nicht mehr vorhanden. Ich denke in etwa an das, was Ihr Oststra-
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11532 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Hauser
tege Bahr sagt. Er sagt, es sei reiner Blödsinn zu sagen, daß die Russen uns bedrohen. Es war auch toll anzuhören, was Herr Brandt sagte, als er im Mai dieses Jahres in Moskau weilte und mit den Kremlherren zusammensaß. Er hat doch glatt gesagt, in Fragen der Sicherheit seien die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion Partner. Diese Worte muß man sich tatsächlich auf der Zunge zergehen lassen.Meine Damen und Herren, was sich hier auftut, ist ein Abgrund von Illusionen und Realitätsverlust. Das haben im übrigen auch Herr Ehmke und der Kollege Sozialpolitiker deutlich spüren lassen.
— Ich dokumentiere Ihnen das jetzt genau. Die „Frankfurter Rundschau", eine Zeitung, die Ihnen sehr nahesteht, schreibt in einem Kommentar zu der Begegnung Brandt-Gorbatschow wortwörtlich— ich zitiere —:Die Sowjets können mit der Brandt-Visite zufrieden sein. Soviel Gleichklänge bei der Erörterung so sensibler Themen hatte es schon lange nicht mehr zwischen dem Kreml und einem nichtkommunistischen Gast gegeben.
Das Tollste, sozusagen der Gipfel, ist dann dies: Die DKP — ich würde sagen: Beifall von der falschen Seite — faßt das Ergebnis der Brandt-Reise so zusammen:Die Führung der Sozialistischen Internationale reist nach Moskau und vertritt dort im Hinblick auf Abrüstung und Entspannung dieselben Gedanken wie die Führer der KPdSU.Das hat es ja seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Das schien noch vor kurzem ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.Meine Damen und Herren, das ist Ihre verteidigungs- und außenpolitische Realität: sowjetische Hochrüstung auf der einen Seite und Verniedlichung und Anbiederung auf der anderen Seite durch die SPD. Herr Bülow hat in einem Papier skizziert, man könne ruhig 150 000 Soldaten der Bundeswehr nach Hause schicken. Jetzt wird plötzlich aus einer Sicherheitskommission der SPD laut, zwischen sechs und acht Monaten Wehrdienst würde genügen.
— Herr Ehmke, Sie konnten das hier auch nicht zerstreuen. Ich freue mich, daß Sie sich zwischenzeitlich wieder zu uns gesellt haben.
— O ja, ich habe Ihre Rede, die Sie vorhin gehalten haben, noch gut in Erinnerung.Sie wollen diese Soldaten nach Hause schicken, obwohl die damaligen SPD-VerteidigungsministerLeber und Apel und auch die Langzeit-Kommission gesagt haben: Wir müssen den Wehrdienst um drei Monate — von 15 Monate auf 18 Monate — verlängern. Von dem, was Sie vor nahezu drei Jahren noch gesagt haben, ist heute nichts mehr übrig. Ein Chamäleon könnte es nicht besser, meine Damen und Herren.
Seit 1982 haben wir dagegen wieder eine Verteidigungspolitik durchgesetzt, die unsere Sicherheitsinteressen wahrt
und die, Herr Kollege Horn, unsere Verbündeten nicht durch nationale Alleingänge und Unterwerfungsgesten gegenüber der Sowjetunion beunruhigt.
Friedenserhaltung liegt im Interesse aller Menschen in West und Ost. Für uns, Herr Kollege Ehmke, kommt jedoch die Freiheit, die Achtung der Menschenwürde — Herr Kollege Ehmke, dazu haben wir von Ihnen heute kein Wort gehört — und der Schutz unserer demokratischen Staatsordnung hinzu. Meine Damen und Herren, wir sind bereit, mit diesem Haushalt diesen Preis zu bezahlen. Unser Bekenntnis zur Bundeswehr als Organ unserer Verfassung möchte ich hier ausdrücklich bestätigen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Genscher hat uns vorhin herausgefordert, indem er unsere Einstellung zum Terrorismus abfragte. Ich will darauf auch eine Antwort geben. Wir verurteilen den brutalen Mord an dem amerikanischen Soldaten genauso wie wir uns von den Ankündigungen des amerikanischen Präsidenten distanzieren, eines der kleinsten Länder der Welt, das sich von einer der schlimmsten Diktaturen Lateinamerikas befreit hat, das einen schwierigen Prozeß vor sich hat, das viele Fehler macht und das im Einzelfall auch Menschenrechtsverletzungen begeht, die wir ebenfalls verurteilen, kaltblütig über den Haufen schießen zu wollen, wenn es nicht nach seiner Pfeife tanzt. Von beiden Dingen distanzieren wir uns.
Glauben Sie nicht, wir wären antiamerikanisch eingestellt. Mit diesem Vorwurf hätten Sie bei uns nie und nimmer Erfolg. Wir arbeiten seit Jahren mit den Vertretern des anderen Amerikas zusammen, mit den Gruppen der Ökologie-, der Friedens- und Frauenbewegung, die sich in der Kultur, die „Das andere Amerika" heißt, zusammengeschlossen haben. Eine Vertreterin dieses anderen Amerikas ist z. B. im Moment in meinem Büro angestellt. Wir beide, die amerikanische Kollegin und ich, sind der
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VolmerAnsicht: Die Politik von Präsident Reagan ist genauso schlimm wie die Außenpolitik eines deutschen Außenministers, der sich von Reagan nicht ausdrücklich distanziert.
Da Sie schon meinten, Sie müßten hier im Stile des Pedells der Elite-Hochschule, die Sie gründen wollen, freihändig über Technologiepolitik improvisieren, möchte ich auch dazu einiges sagen,
vor allen Dingen aber auch deswegen, weil Sie sich nicht gescheut haben, auch noch die Dritte Welt in Ihre Pseudo-Philosophie einzubeziehen.
Schauen wir uns doch an, wie Ihre TechnologiePolitik gegenüber der Dritten Welt aussieht.Nehmen wir als Beispiel die Politik Ihres Kollegen Minister Warnke. Wie sieht die Entwicklungspolitik, wie sieht die Technologiepolitik aus? Ihm kommt es doch nicht im mindesten darauf an, Technologien in der Dritten Welt zu fördern, die den Menschen dort wirklich helfen, die aufbauen auf den Grundbedürfnissen, auf den tradierten Formen, sondern ihm kommt es darauf an, Hochtechnologie, Großtechnologie von hier aus zu exportieren, dort überzustülpen, womit er viel mehr Lebenschancen erstickt, als er damit fördert.
Er scheut sich dabei nicht mal, Herr Minister Genscher, das Gesetz zu brechen, wie ich Ihnen jetzt darstellen will. Das halte ich bei dieser Regierung nicht für besonders erwähnenswert; die Beträge sind auch nicht sonderlich hoch.
— Hören Sie zu, Herr Kollege! Ich sage Ihnen, wie das geht, wenn man als Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit das Gesetz brechen möchte.
1975 gab es eine Zusage vom Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit für die Energieversorgung Kolumbiens. Dieses Projekt ist geplatzt. Die Sozialdemokratie hat verschlampt, ein neues Projekt zu machen. So weit war alles im Rahmen der Tagesordnung. Nun kam die berühmte Wende. Das Geld lag noch immer auf der hohen Kante. Warnke sieht es, nimmt es, verschiebt es nach Kolumbien und hat das Gesetz gebrochen. Warum? Es gibt einen Vermerk im Haushaltsrecht, daß über alle Projekte, die umgewidmet werden, die anders eingesetzt werden, als sie ursprünglich gewidmet waren, und die einen Betrag von über 50 Millionen Mark überschreiten, dem Ausschuß Bericht erstattet werden muß. Dies ist in diesem Fall nicht geschehen. Das Projekt belief sich auf 52 Millionen DM. Es ist möglicherweise, quantitativ gesehen, für Sie kein großer Gesetzesbruch — es sind nur 2 Millionen DM über 50 Millionen DM —, aber es ist in vollemUmfang die Linie zum Gesetzesbruch — das Haushaltsrecht ist doch wohl ein Gesetz — überschritten.
Nun gucken wir uns an, was das für ein Projekt war. Es handelte sich um die Installierung einer Hochbahn. Wenn wir uns anschauen, wer diese Hochbahn baut, dann sehen wir, daß es ein Firmenkonsortium unter Führung von Siemens ist. Wenn es darum geht, dem Hause Siemens Profite zu beschaffen und die Kurse hochzutreiben, dann scheut dieser Minister vor nichts zurück.
Wir haben eine Dokumentation aufgelegt, die in der nächsten Woche erscheinen wird. Ich kann Sie nur dringend auffordern, Ende der nächsten Woche die Zeitungen zu studieren. Die wird sicherlich so ein Rauschen durch den Blätterwald nach sich ziehen wie unsere Dokumentation zur Mischfinanzierung im letzten Jahr.
Dort wird fein säuberlich aufgelistet, welche Projekte, die ursprünglich der Deckung von Grundbedürfnissen gedient haben, durch Vorhaben ersetzt wurden, die nichts anderes bezwecken, als Absatzmärkte für die deutsche Industrie zu sichern.
Dies ist die Technologiepolitik, die die Bundesregierung, bezogen auf die Ärmsten der Armen, macht.In Pakistan wurde z. B. ein Landwirtschaftsprojekt gekippt, statt dessen wurde ein Gasturbinenwerk eingesetzt. In Indonesien wurde die Wasserversorgung gestrichen und statt dessen ein Fernschreibnetz eingerichtet. Ebenfalls in Indonesien wurde ein zweites Bewässerungsvorhaben gekippt; statt dessen bekommen die Indonesier jetzt digitale Fernmeldetechnologien.Hier hat man zu einem Mittel gegriffen, das in der nächsten Zeit als Reprogrammierung der Entwicklungshilfe diskutiert werden wird. Diese Reprogrammierung besagt, daß Altmittel in einer Weise eingesetzt werden können, die vom Ausschuß nie diskutiert und nie beschlossen worden ist. Diese Reprogrammierung bedeutet gleichzeitig eine Reprogrammierung der entwicklungspolitischen Programmatik. Es geht nicht mehr um die Befriedigung der Grundbedürfnisse, es geht nicht mehr darum, die frei werdenden Mittel einzusetzen, um Ernährungssicherungsprogramme für Afrika zu finanzieren, es geht nur noch darum, deutschen Großkonzernen Absatzmärkte für ihre Technologien zu beschaffen.
— Sie können es in der Dokumentation lesen.
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11534 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
VolmerWenn da gesagt wird, dies sei beschäftigungswirksam für deutsche Arbeitsmärkte, so kann ich da nur lachen. Selbst das DIW kam mittlerweile zu dem Ergebnis, daß dieses Argument ein reiner Bluff, ein reiner Vorwand ist, um diese Absatzmärkte hier ideologisch durchsetzen zu können.
Für die deutschen Arbeitnehmer ist es genauso wie Ihre Sozialpolitik ein Bluff, und für die armen und ärmsten Völker der Welt ist es ein Verbrechen in entwicklungspolitischer und in moralischer Hinsicht.
Ich frage mich: Wenn dieser Minister nichts Besseres zu tun hat, als die Profite von Siemens umzusetzen, warum quittiert er nicht hier seinen Dienst und läßt sich hauptamtlich als Handelsvertreter in diesem Hause anstellen?
Spätestens 1987 muß mit dem Spuk Schluß sein.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen von den Sozialdemokraten! Als Mitglied des Haushaltsausschusses bin ich es gewöhnt, von Ihren Kollegen Kollegialität, Seriosität zu erleben und die Bereitschaft, einmal getroffene Absprachen auch einzuhalten. Wenn der Stil, den Sie hier heute nachmittag praktiziert haben, im Haushaltsausschuß einreißen würde, könnten wir unser Geschäft drangeben.
Wieso Sie glaubten, hier mit diesem sozialpolitischen Scharfmacher einen seriösen Beitrag zur Lösung des Problems, das uns alle bedrängt, leisten zu können, wissen Sie allein. Aber wahrscheinlich wissen Sie es selber auch nicht.
Und auf Ihren Beitrag, Herr Volmer, werde ich auch nicht eingehen, weil ich es im höchsten Maße für unkollegial halte, zu einem Etat zu sprechen, wenn die Kollegen, die diesen Etat mitbehandeln, nicht anwesend sind und auch der Minister keine Gelegenheit gehabt hat, zu Ihren Vorwürfen Stellung zu nehmen.
Ich bin Berichterstatter zum Einzelplan 23. Ich könnte Ihnen antworten. Ich tue es bewußt nicht, weil ich finde, daß die Kollegen ein Anrecht darauf haben, sich an dieser Debatte zu beteiligen.
Meine lieben Kollegen, verabredungsgemäß werde ich mich jetzt mit dem Einzelplan 14 auseinandersetzen, weil ich glaube, daß es der zweitgrößte Haushalt
wert ist und er wichtig genug ist, daß wir uns seriös und ausführlich mit ihm beschäftigen.
Meine Damen und Herren, dieser Haushalt entspricht in Volumen und Struktur den sicherheitspolitischen Notwendigkeiten und unseren Verpflichtungen im Bündnis, und er braucht auch mit einer Steigerungsrate von 3,1 % in diesem Jahr keinen Vergleich mit den Bündnispartnern zu scheuen.Aber, meine Damen und Herren, ein Haushalt, der im Verteidigungsbereich Ausgaben von über 50 Milliarden DM vorsieht, muß in der Bevölkerung vermittelbar sein. Das heißt, daß die Regierung aufgefordert ist, einerseits um Verständnis und damit um Akzeptanz auf Grund einer realistischen Bedrohungsanalyse zu werben, andererseits aber auch im Bemühen um Rüstungskontrolle und konkrete Abrüstungsschritte nicht nachzulassen, sondern verstärkt fortzufahren.Der Einzelplan 14 spiegelt die Entschlossenheit dieser Bundesregierung wider, auch unter angespannten Haushaltsbedingungen die Kampfkraft und Einsatzbereitschaft der Bundeswehr nicht nur zu halten, sondern zu verbessern. Dies ist die Voraussetzung für den Erhalt der Abschreckungsfähigkeit und damit für die Sicherung des Friedens.Der Haushaltsentwurf, der uns vorliegt und den wir ab der nächsten Woche beraten werden, zeigt nach unserer Überzeugung, daß gesunde Staatsfinanzen und wirtschaftliche Wiederbelebung langfristig die verläßlichsten Grundlagen für die Finanzierung der notwendigen Verteidigung sind.Einer der Schwerpunkte dieses Verteidigungshaushaltes 1986 ist die Verbesserung der Personallage, unter anderem durch die Erhöhung der Zahlen der länger Dienenden, der Wehrübungsplätze sowie durch eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Personalstruktur in den verschiedenen Laufbahnen. Die vorgesehenen Maßnahmen in diesem Bereich entsprechen nicht nur der Fürsorgepflicht des Dienstherrn, nein, der soziale Status der Soldaten steht in einem ganz unmittelbaren Zusammenhang mit der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Nur wenn die sozialen Rahmenbedingungen für unsere Soldaten stimmen, ist die Bundeswehr attraktiv genug, um genügend geeignetes Personal zur Aufrechterhaltung des Dienstumfanges aufzubringen.
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Frau Seiler-AlbringWir freuen uns, daß nach dem Anstoß aus dem parlamentarischen Bereich — viele von Ihnen erinnern sich vielleicht noch an die Reise der ,,Haushälterinnen" zu den Soldaten — und die Bestandsaufnahme von Oberst Möller — erste Maßnahmen zur Verbesserung der persönlichen Ausrüstung unserer Soldaten im Haushalt durchgeführt worden sind.Wir werden sehr genau verfolgen, Herr Minister, ob die Maßnahmen im Bereich des Kälte- und des Nässeschutzes auch tatsächlich ausreichen, um Vorkommnisse, wie sie sich im letzten Winter leider ereignet haben, einmalig bleiben zu lassen. Allerdings muß auch dafür gesorgt werden, daß vorhandenes Material, welches wir zu unserem großen Erstaunen des öfteren gefunden haben, nicht in irgendwelchen Magazinen vor sich hindämmert, wenn auch säuberlich geordnet.
Wir werden prüfen, welche Maßnahmen zur Verbesserung der Bedingungen beim Umzugs- und Trennungsgeld möglich und notwendig sind. Wir freuen uns darüber, daß der Vorbehalt der 300-kmGrenze bei der Familienheimfahrt nach einem Beschluß der Bund-Länder-Kommission in der vorletzten Woche gefallen ist. Dieses war, wie sich viele von Ihnen erinnern werden, ein sehr dringendes Anliegen des Haushaltsausschusses im letzten Jahr. Wir bitten den Finanzminister hier um ein geneigtes Ohr.Meine Damen und Herren, Materialerhaltung, Betrieb und hinreichende Munitionsbevorratung können mit den vorgesehenen und eingestellten Mitteln zügig durchgeführt werden. Bei den Beschaffungsmaßnahmen ist positiv festzuhalten, daß wir gut im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung liegen und einige Beschaffungen sogar vorziehen können wie z. B. die der beiden Fregatten der Klasse 122.Ich will aber gleich, um hier nicht etwaige Begehrlichkeiten zu wecken, Herr Minister, darauf hinweisen, daß wir sehr genau prüfen werden, ob Sie hier Sparkassen versteckt haben. Die werden wir dann ausräumen.
Schwerpunkte zukünftiger Beschaffungen sind die Waffensysteme MLRS, der Jäger 90, der ja nun Gott sei Dank langsam Konturen annimmt — es ist erfreulich, daß die spanische Regierung ihre Bereitschaft zur Beteiligung erklärt hat —, der Panzerabwehrhubschrauber 2 und notwendige Verbesserungen im Bereich der elektronischen Kampfführung.Nach unserer Ansicht sind diese Maßnahmen aus heutiger Sicht solide zu finanzieren und dienen der Steigerung der konventionellen Kampfkraft unserer Bundeswehr. Sie sind ein wichtiger Schritt zur Erhöhung der nuklearen Schwelle.Unbedingt aber, meine Damen und Herren — da bitte ich das Ministerium, sehr genau zuzuhören —, ist es notwendig, daß alle Beschaffungsmaßnahmen stärker als bisher durch ein effizientes Kostenmanagement begleitet werden.
Nach unserer Ansicht ist es notwendig, daß sowohl im Verteidigungsministerium als auch beim Bundeswehrbeschaffungsamt qualifizierte Mitarbeiter in der jeweils erforderlichen Anzahl eingesetzt werden.
Die Kostenentwicklung beim Projekt MRCA Tornado in der Vergangenheit macht die Notwendigkeit eines qualifizierten Kostenmanagements und Kontrollsystems deutlich, das nicht nur reagiert, sondern auch aktiv gestalten kann. Mehrkosten für eine vernünftige moderne Sachmittelausstattung stehen in überhaupt gar keinem Verhältnis zur möglichen Kostenminimierung. Ich bin sicher, daß wir bei den Berichterstattergesprächen diese möglichen Mehrkosten durch Einsparungen an geeigneter Stelle auffangen können. Das werden wir wohl auch tun.Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt des Einzelplans 14 für das Haushaltsjahr 1986 ist die Verstärkung der Investitionsmittel im Baubereich. Ein Großteil dieser Mittel für die nationale Infrastruktur kommen hauptsächlich kleinen und mittleren Bauhandwerksbetrieben zugute. Damit leistet dieser Verteidigungshaushalt einen beträchtlichen Beitrag zur Erhaltung von Arbeitsplätzen und zur Stabilität im Baugewerbe. Er trägt ebenfalls zur notwendigen Belebung der Baukonjunktur bei.Unzulängliche Unterkünfte und Arbeitsplätze, Übungs- und Ausbildungseinrichtungen wirken sich nachteilig auf das Betriebsklima und damit auf die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte aus. Deshalb ist die überproportionale Steigerung im Haushalt von über 14 % sehr richtig und notwendig zur Verbesserung der Unterbringung unserer Soldaten.Wichtig erscheint mir — damit komme ich bald zum Schluß —, daß der Verteidigungshaushalt 1986 zusätzlich über 1 000 Stellen für Auszubildende aufweist.
Damit stellt die Bundeswehr insgesamt über 6 100 Ausbildungsplätze bereit
und leistet auch in den Folgejahren einen wesentlichen Beitrag zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit.
Wir werden den vorliegenden Haushalt, meine Damen und Herren, liebe Kollegen, sehr sorgfältig prüfen. Wir sehen ihn nicht unter dem Aspekt, wie die GRÜNEN unterstellen, den nächsten Krieg führen zu können, sondern wir wollen die Bundeswehr in die Lage versetzen, die Verteidigungsfähigkeit aufrechtzuerhalten und damit einen Beitrag zur Sicherung des Friedens zu leisten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Horn.
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11536 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte auf die Polemik von Herrn Hauser hier nicht eingehen. Aber ich muß sagen: Leute wie den künftigen Botschafter Richard Burt, wie Herrn Adelman, wie John Haws, wie Staatssekretär Hicks, wie Bill Furnis, Botschafter Dean so als niedere Frühstücksdirektoren zu behandeln, halte ich nicht für ganz korrekt.
— Sie sehen, die Witze kommen nicht an; denn
das ist zu billig und unangemessen.Ich möchte hier eine sehr freimütige, auch kollegiale Aussage machen: Frau Kollegin Seiler-Albring, was Sie gesagt haben, hat mich beeindruckt. Das war korrekt, und das war die Benennung eigentlich der Probleme, vor denen sich der Minister gescheut hat. Ich muß sagen: Meinen Respekt, zumal es auch in einer Weise vorgetragen war, in der es zum Nachdenken und zur Mitarbeit einfach aufgefordert hat. Da möchte ich Ihnen ausdrücklich danken.
Ich möchte — und das stand im Gegensatz zu dem, was wir vom Minister heute wieder einmal gehört haben, der anscheinend nicht mehr zu einer vernünftigen Auseinandersetzung fähig ist, der sich nur in allgemeinen Phrasen ergeht und nur in allgemeinen Polemiken gegen die SPD — —
— Entschuldigen Sie, ich will Ihnen etwas sagen: Der Minister Wörner sollte sehr vorsichtig sein, die Frage der politischen Moral hier in die öffentliche Debatte einzubringen. Ich möchte Sie einmal fragen — da ich mich geradezu schäme, mich an ihn zu wenden —: Was soll eigentlich der 18-, 19jährige Wehrpflichtige, was soll der 20jährige, 22jährige Zeitsoldat, was soll der 25jährige Unteroffizier, der 30jährige Offizier oder gar ein 50jähriger General von einem Mann halten, der hier über Moral redet und wie kein anderer Minister die Bundeswehr in der Person eines Mannes so gedemütigt hat, wie das geschehen ist?
Wir haben hier von diesem Minister nur Polemik gehört, nur allgemeine Aussagen, nicht ein einziges Wort über die schwerwiegenden Strukturprobleme der Bundeswehr,
kein Wort über die sich dramatisch entwickelnde Personalsituation, nicht ein einziges Wort darüber angesichts einer Haushaltslesung — das hat dankenswerterweise Frau Seiler-Albring nachgeholt —, kein Wort über die Rüstungsplanung und ihre Abstimmung im Hinblick auf die Verteilungsprobleme der nächsten Zukunft,
kein Wort über die Sozialprobleme, die auch Sie, verehrte Frau Kollegin, hier angesprochen haben, die in der Bundeswehr vorhanden sind,
kein Wort darüber, daß die Wehrpflichtigen, daß die Mehrzahl der Zeitsoldaten, verehrte Kolleginnen und Kollegen, nach Ende des Wehrdienstes heute in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, kein Wort zu den Problemen einer sich dramatisch verändernden strategischen Situation. Dazu hat einer der führenden Köpfe der Union, Professor Biedenkopf, unmißverständlich gesagt, daß eine Strategie, die zur Vernichtung des eigenen Volkes führt, auf absehbare Zeit keine Akzeptanz der Bevölkerung erhalten werde.
Kardinal Höffner gab dieser Strategie nur eine Gnadenfrist. — Und Herr Wörner schweigt dazu und betet hier seine tibetanischen Gebetsmühlen herunter. Er ist zu feige. Er drückt sich vor dem Gespräch.Als vor kurzem der Bundeswehrverband eine Großveranstaltung hatte, mußte ein Generalswort die jungen Soldaten zur Ordnung bringen. Das waren keine Chaoten. Das waren unsere Soldaten. Das sage ich auch gegenüber den Leuten von den GRÜNEN hier. Das waren unsere Soldaten, die offen sagten, was sie von diesem Minister und von dieser Regierung hielten, und die offen gesagt haben: Wir haben die Schnauze voll von Ihnen, meine Damen und Herren.
Kein Wort von diesem Minister dazu und zu den bedrängenden Zweifeln, denen Soldaten, Unteroffiziere und in zunehmendem Maß auch Offiziere ausgesetzt sind. Kein Wort und keine Bereitschaft zum Dialog mit den Soldaten, die angesichts der Frage der Selbstvernichtung des eigenen Volks Zweifel an einem Auftrag haben, gegebenenfalls atomare oder chemische Waffen einzusetzen. Das sind die Fragen, die hier gestellt werden müssen, und das sind die Antworten, die gegeben werden müssen.
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HornDrei Verteidigungsminister der SPD haben dieser Bundesregierung, namentlich Herrn Wörner, eine intakte Bundeswehr übergeben.
Die Leistungen sind unbestritten. Erstmals wurden die NATO-Verpflichtungen eingehalten und wurde eine Personalstärke von 495 000 Mann erreicht. Durch Runderneuerung aller Teilstreitkräfte wurde die Bundeswehr zusammen mit den Verbänden unserer amerikanischen Verbündeten zum Rückgrat der konventionellen Verteidigung in Europa, wie es die „Welt" formuliert, eine der SPD sicher nicht nahestehende Zeitung. Diese Leistung wurde im Westen anerkannt und von unseren östlichen Nachbarn nicht als bedrohlich empfunden, weil sie in eine aktive und glaubwürdige Entspannungspolitik eingebettet war, deren Grundlagen jedenfalls ich jetzt mehr und mehr schwinden sehe.
Das geht so weit, daß heute sogar Soldaten aller Dienstgrade Zweifel an ihrem Auftrag bekommen.Herr Minister Wörner hat die in ihn gesetzten Erwartungen schwer enttäuscht. Auch fachlich hat er enttäuscht. Was hat er getan, um das Hauptproblem der Bundeswehr, die Personalfrage, in den Griff zu bekommen? Was tat er für die Streitkräftestruktur und die Rüstungsplanung? Er hat sich für spektakuläre Rüstungsprojekte eingesetzt. Das Personal blieb außen vor.
Sein Bundeswehrplan sieht weit überzogene Mittel und langfristige Rüstungsbeschaffungen vor, ohne Auskunft darüber zu geben, welches Personal mit welchen Betriebskosten diese Waffensysteme einmal einsatzfähig halten soll.
Herr Wörner hat dem Parlament keinen Plan, sondern eine Beschaffungsorder vorgelegt,
der schon jetzt mangels Berechnung der Personalkostenentwicklung jede finanzielle Absicherung fehlt. Das umfangreiche Papier ist geheim, damit die Öffentlichkeit hier nicht sieht, daß es in sich nicht seriös ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Biehle?
Ja. Herr Kollege Biehle, Ihnen möchte ich das zugestehen.
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Horn, da sie wiederholt die Informationsfrage gegenüber dem Minister aufgeworfen und beklagt haben, daß keine Auskunft gegeben worden sei, frage ich Sie, ob es denn nicht seriöser wäre, dann, wenn Gelegenheit gegeben ist, diese Fragen zu stellen und beantwortet zu bekommen. Wir haben seit Montag bis heute abend Haushaltsberatungen und Besprechungen des Ausschusses gehabt, wo der Etat des Bundesministers zur Debatte stand und wo Sie Berichterstatter sind, aber leider zu dieser Besprechung nicht gekommen sind.
Herr Kollege Biehle, das ist in einem Punkt korrekt, im anderen Punkt ist es nicht korrekt.
Zum einen habe ich neulich über verschiedene Leute aus der Administration der Hardthöhe langstündige Informationen erhalten.
— Natürlich! Aber entschuldigen Sie bitte vielmals! Das ist doch wohl sinnvoll, und das ist doch wohl vernünftig.
Zum anderen, Herr Kollege Biehle: Die Frage nach der Glaubwürdigkeit dieses Ministers habe ich nicht an dem Punkt gestellt. Ich habe sie in einem völlig anderen Zusammenhang gestellt; das wissen Sie auch ganz genau. Ich kann das leidige Thema noch einmal anführen. Ich habe sie im Zusammenhang mit der leidigen Affäre Wörner/Kießling gestellt.
in der ein Mensch herabgesetzt und gedemütigt wurde, wie dies in der Bundeswehr noch nicht der Fall war. Im übrigen, Herr Kollege Biehle: Lesen Sie die Rede von Herrn Minister Wörner bitte noch einmal nach und überprüfen Sie diese Rede dann auf ihren Informationswert. Diese Rede hat keinen Informationswert, weil sie sich in billigen Polemiken gegen die Sozialdemokratische Partei erschöpfte.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Klejdzinski?
Nein, jetzt nicht mehr. —
Der Minister hat dem Parlament keinen Plan, sondern eine Beschaffungsorder vorgelegt. Ich muß für meine Fraktion feststellen: Der amtierende Verteidigungsminister wird seiner Hauptaufgabe, Personalplanung, Beschaffungsplanung und Finanzplanung zur Deckung zu bringen, nicht gerecht. Die Planung ist in den genannten Einzelbereichen nicht
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Hornaufeinander abgestimmt. Sie ist nicht einzuhalten und deshalb unsolide.
Herr Kollege Biehle, dies habe ich zwar nicht in einem offiziellen Gespräch über Berichterstatter erfahren, aber ich habe es sehr wohl im Bereich der Bundeswehr in unzähligen Informationsgesprächen erfahren. Auch viele hochrangige Soldaten der Bundeswehr und auch Zivilbeamte halten die Planung nicht für einhaltbar und für unsolide.
Aber auch Ihre Einkaufsliste, Herr Dr. Wörner, ist ja nicht bezahlbar. Hören Sie sich doch einmal in Ihrem eigenen Hause um! Da spricht man vom Wunschzettel der Teilstreitkräfte an das Christkind. Andererseits erfolgte in Ihrer kurzen, aber gründlich desolaten Amtszeit in einigen Bereichen eine erhebliche Überplanung. Im Klartext: Es wurde zuviel Geld bereitgestellt. So wollen Sie aus gehorteten Mitteln jetzt zusätzlich Tornados beschaffen.
Deren Zweckmäßigkeit wird ja nicht in Frage gestellt, aber der Punkt ist, daß Sie die Kontrolle des Parlaments dabei umgangen haben. Mit welch eindringlichen Argumenten haben Sie uns im letzten Jahr bei der Munitionsbeschaffung bekniet,
und nun fließen die Mittel nicht ab. Das wissen Sie doch. Das gilt auch für andere Bereiche, z. B. für die Kraftfahrzeugbeschaffung, Herr Wörner. Nennen Sie die Sache doch beim Namen! Sie schwimmen im Augenblick im Geld und wollen es für neue, beliebige Projekte umschichten. So geht es nicht, auch wenn die Aufgeregtheit der Kollegen der Union hier zeigt, daß ich dabei recht habe.
Herr Wörner, an dem, was Sie an Planung und Haushaltsvorlage nennen, zeigt sich immer wieder: Es geht Ihnen um Waffenkauf und um die Vorzeigarmee statt um die Verteidigungsfähigkeit. Genau dies aber will die SPD.Gehen wir ans Eingemachte: Ihr Präsenzfetischismus ist falsch. Wichtig ist vielmehr die Fähigkeit, rasch hohe Verteidigungsfähigkeit herzustellen und durchzuhalten. Die Frühpensionierung von Offizieren, statt sie für ein leistungsfähiges Mobilmachungssystem einzusetzen, ist falsch.
Außerdem: Dafür stellt die Bundesregierung mehr als eine halbe Milliarde DM zur Verfügung. Aber sie gibt nicht einmal den Bruchteil dieses Geldes für die Anrechnung des Baby-Jahres derjenigen Frauen,
die ihre Kinder in schwerster Zeit großgezogen haben. Ja, Sie geben noch nicht einmal 80 Millionen DM, um die Probleme arbeitsloser Wehrpflichtiger zu lindern. Denn es war Ihre Fraktion, Ihre Koalition, die das Entwicklungshelfermodell abgelehnt hat.
Die Initiative der Bundesregierung, die Wehrpflicht ab 1989 um drei Monate zu verlängern, geht in eine falsche Richtung. Richtig ist, daß der jährliche Bedarf an Wehrpflichtigen mit einer Strukturänderung der Bundeswehr erheblich gesenkt werden kann.
Die SPD lehnt eine Wehrpflichtverlängerung ab, die weder die Verteidigungsfähigkeit erhöht noch die Präsenzfrage löst, sondern nur dazu dient, konzeptionsloses Durchwursteln zu verlängern, und zwar um den Preis, daß in der zweiten Hälfte der 90er Jahre bereits eine zweite Wehrpflichtverlängerung vorprogrammiert werden muß. Die SPD tritt einer Personalplanung auf Abbruch nach zwei Legislaturperioden zu Lasten junger Bürger mit allem Nachdruck entgegen. Lassen Sie sich dazu von einem so bewährten und praxisnahen Mann wie dem früheren Wehrbeauftragten Karl Wilhelm Berkhan einiges erzählen. Berkhan hat sich ausdrücklich gegen eine Wehrpflichtverlängerung ausgesprochen, weil seine Kenntnis der Praxis darauf hinweist, daß das den Gammeldienst noch verlängern und die Effizienz der Bundeswehr nicht besser machen würde.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wörner?
Im Unterschied zu mir hat er nicht gedient. Aber trotzdem.
Herr Horn, würden Sie mir bitte die Frage beantworten, warum Sie diese Bemerkungen, die Sie eben mir gegenüber gemacht haben, nicht meinem Amtsvorgänger Apel gegenüber gemacht haben, der sich zu Ihrer Regierungszeit — zu einer Zeit, in der auch Sie schon Mitglied des Verteidigungsausschusses waren — eindeutig und klar für die Verlängerung der Wehrdienstzeit von 15 auf 18 Monate ausgesprochen hat?
Nein, das stimmt nicht. Das ist eine völlig alte Kiste.
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Horn— Das ist doch egal. Mein Gott, wir sind ja keine Formalisten.Herr Kollege Dr. Wörner, das ist eine völlig alte Kiste. Herr Apel hat genau das getan, was notwendig ist. Er hat nämlich erstens eine Bestandsaufnahme machen und zum zweiten einen Vorschlagskatalog erarbeiten lassen. Aber daraus sind noch keine Schlüsse gezogen worden. Ich bin der Überzeugung, daß er dieselben Schlüsse gezogen hätte, wie wir sie heute auch ziehen.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Nein.
Wir wollen uns nicht in Kritik erschöpfen. Ich habe das letzte Mal einen Katalog von sechs Punkten vorgetragen. Vielmehr stellt die SPD heute sieben konkrete Forderungen auf:Erstens. Wir sind aus den vor mir genannten Gründen gegen eine Wehrpflichtverlängerung.Zweitens. Bundeswehrplanung und -haushalt sind vorrangig auf die Stärkung der konventionellen Durchhaltefähigkeit auszurichten, damit die nukleare Schwelle angehoben werden kann.Drittens. Die Bundeswehr muß ohne Streichung von Strukturelementen unter Nutzung weiterer Kader umstrukturiert werden.Viertens. Die Umstrukturierung muß im Ergebnis die nicht provozierende, mehr konventionell organisierte Verteidigung nachhaltig stärken, ohne jedoch Ausfalltore für Air/Land-Battle-Konzepte aufzubauen.
Fünftens. Unter Hebung des Ausbildungsstandes der Reserven ist ein leistungsfähiges Mobilmachungssystem einzurichten. Hierzu sollte der Verteidigungsminister die Truppenoffiziere im Verwendungsstau einsetzen.Sechstens. Das Ausbildungssystem ist neu zu ordnen, damit jeder Wehrpflichtige am Ende seines Grupdwehrdienstes für seine Mobilmachungsverwendung ausgebildet ist.
Siebtens: Durch diese Maßnahmen müssen Planungssicherheit wiederhergestellt und Ressourcen freigesetzt werden, Personal zur Linderung des kommenden Personalmangels und Haushaltsmittel zur Erhaltung ausreichender Investitionsfähigkeit.In der Hoffnung, bereits entstandene Irritationen zu mildern, spreche ich zwei weitere Themen an — auf eines ging bereits Herr Kollege Hauser ein —: die chemischen Waffen und die Stationierung von Neutronenwarffen.Chemische Waffen sind Massenvernichtungswaffen. Sie haben keine eigenständige Rolle in der Strategie des Bündnisses. Deshalb wenden wir unsauch ganz entschieden dagegen, daß chemische Waffen gegebenenfalls konzeptionell zwischen die konventionellen und die atomaren Waffen als ein neues Element geschoben werden sollten.
Aus deutscher Interessenlage sind sie als Eskalationspotential ungeeignet und als Repressalie unzweckmäßig. Auch im konservativen Lager gibt es ernst zu nehmende Bedenken gegen chemische Waffen. Ich habe dem Minister in diesem Punkt genau zugehört. Das war wohl auch der konkreteste. Ich lese noch die Rede im Originaltext durch.
Der Minister hat sich in diesem Text für chemische Waffen auf dem Boden der Bundesrepublik ausgesprochen und keineswegs ein Wort gegen die Neustationierung binärer Waffen gesagt.
Die SPD hat sich wiederholt gegen die Stationierung modernisierter chemischer Waffen, der binären Waffen, auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen. Wir haben auch einen Vertragsentwurf unterbreitet, wie der Abzug chemischer Waffen nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR, gewissermaßen gesamtdeutsch, erfolgen kann. In den Vereinigten Staaten herrscht Irritation, weil sich die Bundesregierung in dieser Frage wieder einmal nicht festlegt. Wir haben Stimmen aus der CDU, die sagen: Wir sind gegen die chemischen Waffen. Wir haben Stimmen aus der CDU, die nach Repressalienmitteln greifen, die sagen: Wir brauchen ein Repressalienpotential dieser Art. Ich halte das für außerordentlich problematisch. Wo kämen wir übrigens mit dieser Logik hin, wenn ich heute als Repressalienmittel ja zu chemischen Waffen sage und morgen bestimmte Dienste darstellen würden, daß bakteriologische Waffen auf der anderen Seite wären, und dann bakteriologische Waffen zum selben Zwecke gefordert würden?
— Auch chemische Waffen; das wissen Sie ganz genau.Herr Dr. Wörner hat sich heute klar für den Verbleib und die Stationierung chemischer Waffen eingesetzt.
— Sie brauchen doch den Dr. Wörner hier überhaupt nicht zu interpretieren.
Er ist sicherlich selber in der Lage, für sich zu sprechen. Als Minister hat er dazu auch das Wort.
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11540 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985
HornMeine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe in Amerika genau das gesagt, was ich auch hier sage: daß ich nämlich gegen chemische Waffen bin und daß ich hier dem folge, was beispielsweise der sicherlich der SPD nicht nahestehende konservative General a. D. Domroese im Hearing des Deutschen Bundestages gesagt hat, daß er persönlich sogar für eine einseitige bündnisbezogene Vorleistung in der Frage der chemischen Waffen sei. Das halte ich auch für vernünftig.
Die Erfolgsmeldung des Fraktionsvorsitzenden der Union war hier etwas voreilig und wurde dann auf peinliche Weise dementiert.
Zu Neutronenwaffen habe ich Ihnen bereits am 12. Juni 1985 an dieser Stelle für die Opposition ebenfalls gesagt: mit uns nicht. Auch Verteidigungsminister Wörner hat sich nunmehr zu dieser Frage geäußert, wie bei dieser Regierung üblich, immer mißverständlich. Er ist nach Zeitungsmeldungen auch da wieder einmal mißverstanden worden. Entschuldigen Sie, Herr Dr. Wörner, Sie brauchen nicht mißverstanden zu werden. Sagen Sie hier eindeutig: Ich und die Bundesregierung sind erstens für den Abzug und zweitens für die Nichtstationierung neuer chemischer Waffen; in gleicher Weise verhalten wir uns gegenüber Neutronenwaffen! — Dann haben Sie eine klare Position gegenüber der eigenen Bürgerschaft und den Alliierten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Wimmer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zunächst für unsere Fraktion Dank aussprechen, Dank den Soldaten, den Beamten und Angestellten der Bundeswehr, die in hervorragender Weise auf vielen Gebieten ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung gerecht werden.
Ich darf dazu eine Reihe von Beispielen nennen.
Die Wehrpflichtigen der deutschen Bundeswehr tragen seit einem Jahr von ihrem Wehrsold in Höhe von 8,50 DM pro Tag in der Größenordnung von mehr als 1 Million DM dazu bei, daß die Welthungerhilfe unterstützt werden kann. Von diesen mehr als 1 Million DM werden Zehntausende von Kindern in der Dritten Welt an jedem Tag verpflegt.
Ich darf ein weiteres sagen. Nicht nur in Äthiopien haben die Soldaten der Bundeswehr unter Beweis gestellt, daß sie in hervorragender Weise der humanitären Verpflichtung der deutschen Bundeswehr und der Bundesrepublik Deutschland gerecht werden. Ich glaube, daß wir allen Anlaß haben, diesen Soldaten, die beispielhaft für viele in der Bundeswehr stehen, dafür zu danken, daß sie dieser Verpflichtung gerecht werden.
Aber auch dieses Ministerium steht dafür, daß der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung Rechnung getragen wird. Ich darf versuchen, das an zwei Beispielen deutlich zu machen. Mit einer Steigerung um mehr als 1 000 Stellen sind mit einer Gesamtzahl von inzwischen 6 111 Stellen junge Auszubildende in den Dienst der Streitkräfte aufgenommen worden, damit sie eine Ausbildung bekommen.Ich darf an dieser Stelle das Beispiel der 7. deutschen Panzerdivision ansprechen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles dazu getan hat, die Anzahl der jungen Arbeitslosen in ihrem Verantwortungsbereich so zu reduzieren, daß von ursprünglich 40 % arbeitslosen jungen Wehrpflichtigen und Soldaten der Prozentsatz inzwischen auf fast Null gedrückt worden ist.Ich glaube, wenn wir Dank sagen, sollten wir auch diese Beispielsfälle nennen, weil sie zeigen, in welchem Geist die deutschen Soldaten und die Beamten und Angestellten der deutschen Bundeswehr ihren Dienst verrichten.
Damit wir deutlich sehen, wie wir auch auf anderen Gebieten der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden — das steht für den Geist dieser Bundesregierung —: Wir tragen zur Beseitigung von Umweltschäden nicht nur 20 Millionen DM bei, wie das die Regierung Schmidt getan hat; in diesem Haushalt stehen 500 Millionen DM, die für die Beseitigung von Umweltschäden und zur Förderung des Umweltschutzes eingesetzt werden sollen. Ich glaube, das macht sehr deutlich, welcher Verpflichtung wir hier gerecht werden.
Herr Kollege Horn, ich will zu dem, was Sie gesagt haben, nur eines anmerken: Ihr Bild, das Sie von der Bundeswehr, von unserem Verteidigungsbeitrag, vom Ministerium gezeichnet haben, stimmt in keinem Punkt mit der Wirklichkeit überein. Ich will aber an Ihre persönliche Adresse etwas sagen. Sie stellen sich hier hin und tun so, als hätten Sie der sozialdemokratischen Fraktion 13 Jahre lang nicht angehört. Lieber Erwin Horn, in deinem persönlichen Verhalten stehst du für folgendes gerade: In deinem Heimatbezirk Gießen hast du als Unterbezirksvorsitzender einen Beschluß mitgefaßt, wo-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11541
Wimmer
nach an Soldaten kein öffentlich geförderter Wohnraum mehr vergeben werden darf.
Das sind die Verhältnisse, mit denen wir es zu tun haben. Ich glaube, daß hier auch einmal angemerkt werden muß: Wer versucht, sich als Vater der Soldaten aufzuspielen, den werden wir an seinen Taten messen. Das muß einmal mit aller Deutlichkeit festgehalten werden.
Meine Damen und Herren, ich darf in diesem Zusammenhang einmal zu unserem Selbstverständnis feststellen: Wir gehören seit vielen Jahren dem Verteidigungsausschuß an; es hat zu keinem Zeitpunkt durch den Minister, seine Staatssekretäre und seine sonstigen Mitarbeiter so viele Informationen gegeben wie gerade unter Dr. Wörner. Das sollten wir hier auch einmal mit Respekt und Dank feststellen.
Ich muß ein weiteres sagen. Sie haben von den 13 Jahren zumindest die letzten Jahre damit verbracht, daß Sie über die Probleme der Bundeswehr lamentiert haben. Wir haben sie gelöst.
Damit hier keine falschen Vorstellungen erweckt werden, darf ich noch einmal auf folgendes verweisen: Sie haben das Personal gekürzt, Sie haben die Dienstzeitpauschale gekürzt, Sie haben den Verwendungsstau bestehen lassen, haben die Planung aufgegeben, die Ansätze für Forschung und Entwicklung gekürzt und den Übungsbetrieb eingeschränkt. Mit diesen Phänomenen, die Sie verursacht haben, haben wir Schluß gemacht. Wir haben zum erstenmal seit 1978 für die Bundeswehr wieder eine funktionierende Planung.
Sie würden der Wirklichkeit entsprechen, wenn Sie das in diesem Hause einmal feststellten.Was Sie im Zusammenhang mit der chemischen Rüstung und mit anderen Phänomenen in diesem Bereich sagen,
zeigt, lieber Kollege Horn — das gilt im Grunde für die ganze sozialdemokratische Fraktion —: Sie entfernen sich in einem solchen Maße von der politischen Wirklichkeit in Europa, daß es in der Tat für uns, für unser ganzes Volk, eine katastrophale Entwicklung bedeutete, wenn Sie diese Politik in die Wirklichkeit umsetzen könnten.
— Herr Kollege Professor Ehmke, ich will Sie ja jetzt nicht auch noch als Oberlehrer bezeichnen; das tun ja andere in Ihrer Fraktion.
Wenn Sie in Ihrer Partei Papiere erarbeiten und auf Parteitagen beschließen lassen wollen, wonach die Wehrpflichtdauer in der Bundesrepublik Deutschland nur noch acht Monate betragen soll,
dann kann ich nur sagen:
Damit üben Sie nicht nur Verrat an diesem Volk, sondern auch Verrat an unseren westlichen Nachbarn genauso wie an denen im Osten, die daran interessiert sind — —
— Sie können nur schreien, Herr Professor, nur schreien! Sie können noch nicht einmal zuhören. Melden Sie sich doch, und sagen Sie doch einmal was! Stehen Sie doch auf, und sagen Sie mal was!
— Nein, nicht Sie, Herr Stahl, sondern Sie, Herr Ehmke! Sie können die Wahrheit in diesem Hause genauso wenig vertragen wie in der Öffentlichkeit.
Wir sind nicht angetreten, um dieses Volk erneut in eine Situation zu führen, wie Sie sie nach Ihrer Regierungszeit uns hinterlassen haben.
Bevor ich die Sitzung schließe, gebe ich dem Abgeordneten Horn die Gelegenheit, eine persönliche Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung abzugeben.
Herr Präsident, ich bedanke mich dafür. — Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wimmer erliegt einer Fehlinformation. Ich bedaure, daß er sie wahrscheinlich von dem anwesenden Kollegen Roth hat.
Entweder hat der ihn belogen, oder er hat hier bewußt die Unwahrheit gesagt.
Es gibt keinen Beschluß im Unterbezirksvorstand in Gießen — auch nicht in irgendeinem Unterbezirksvorstandsorgan —, nach dem keine Einrichtungen der Bundeswehr und keine öffentlichen Darstellungen der Bundeswehr besucht werden sollen.
Es gibt eine einzige Darstellung — —
Horn
- Es gibt einen Beschluß des Stadtverbandes Gießen,
der einen Teil darstellt, den Beschluß, keine künftigen Paraden der US-Armee mehr zu besuchen und die Amerikaner - -
- Nein, das ist nicht der Fall! - Die US-Streitkräfte sind nach vielen Gesprächen übrigens auch mit der Administration in Gießen und auch mit den politischen Kräften in Gießen, wozu auch der Bundestagsabgeordnete gehört, der Auffassung, daß man künftige Zusammenkünfte zwischen der Bevölkerung und den anwesenden verbündeten Streitkräften in anderer Form gestaltet, so daß dies gesellig und im Dialog stattfindet.
Ich persönlich begrüße dies und halte es für vernünftig.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir sind damit am Schluß der Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 6. September 1985, 9 Uhr ein. Im übrigen erlaube ich mir, Ihnen einen angenehmen Abend zu wünschen.
Die Sitzung ist geschlossen.