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ID1015300000

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    Plenarprotokoll 10/153 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 153. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 Inhalt: Ausscheiden des Abg. Paintner als Schriftführer 11447 A Wahl des Abg. Dr. Rumpf zum Schriftführer 11447A Fortsetzung der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1986 (Haushaltsgesetz 1986) — Drucksache 10/3700 — in Verbindung mit Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1985 bis 1989 — Drucksache 10/3701 — Dr. Vogel SPD 11447 B Dr. Waigel CDU/CSU 11458 A Schmidt (Hamburg-Neustadt) GRÜNE 11467C Mischnick FDP 11471 B Dr. Kohl, Bundeskanzler 11477 D Frau Fuchs (Köln) SPD 11490A Handlos fraktionslos 11496 D Rühe CDU/CSU 11498 C Lange GRÜNE 11503 D Schäfer (Mainz) FDP 11506C Dr. Ehmke (Bonn) SPD 11509C Genscher, Bundesminister AA 11514 B Dr. Wörner, Bundesminister BMVg 11519C Dreßler SPD 11525C Hauser (Esslingen) CDU/CSU 11530C Volmer GRÜNE 11532 D Frau Seiler-Albring FDP 11534B Horn SPD 11536A Wimmer (Neuss) CDU/CSU 11540 B Horn SPD (Erklärung nach § 30 GO) 11541D Vizepräsident Stücklen 11509C Nächste Sitzung 11542C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 11542* B Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1985 11447 153. Sitzung Bonn, den 5. September 1985 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 6. 9. Böhm (Melsungen) * 5. 9. Büchner (Speyer) * 5. 9. Frau Eid 5. 9. Dr. Enders * 5. 9. Frau Fischer ** 6. 9. Frau Geiger ** 6. 9. Dr. Götz 6. 9. Götzer 6. 9. Heyenn * 5. 9. Dr. Holtz ** 6. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an der 74. Jahreskonferenz der Interparlamentarischen Union Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Hupka 5. 9. Dr. Kreile 5. 9. Frau Krone-Appuhn 6. 9. Frau Dr. Lepsius ** 6. 9. Niegel 6. 9. Dr.-Ing. Oldenstädt 6. 9. Pfuhl 6. 9. Poss 5. 9. Dr. Schierholz 6. 9. Schlottmann * 5. 9. Schmidt (Hamburg) 6. 9. Schmidt (Wattenscheid) 6. 9. Schröer (Mülheim) 5. 9. Dr. Sperling 6. 9. Dr. Freiherr Spies von Büllesheim ** 6. 9. Dr. Stercken ** 6. 9. Frau Dr. Timm ** 6. 9. Dr. Unland * 5. 9. Verheugen 6. 9. Frau Dr. Wex 6. 9. Wolfgramm (Göttingen) ** 6. 9.
Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Die Sitzung ist eröffnet.
Vorab darf ich mitteilen, daß der Abgeordnete Paintner sein Amt als Schriftführer niedergelegt hat. Ich danke ihm für die Zusammenarbeit.
Die Fraktion der FDP schlägt als Nachfolger für das Amt des Schriftführers den Abgeordneten Dr. Rumpf vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Abgeordnete Dr. Rumpf zum neuen Schriftführer gewählt.
Meine Damen und Herren, wir fahren fort in der Behandlung des einzigen Tagesordnungspunktes:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1986 (Haushaltsgesetz 1986)

— Drucksache 10/3700 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1985 bis 1989
— Drucksache 10/3701 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich grüße alle sehr herzlich, die sich schon in dieser frühen Morgenstunde hier im Deutschen Bundestag eingefunden haben.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Oberlehrer!)

    — Das bedeutet allerdings nicht, daß die Schulstunde eröffnet ist, Schüler Seiters.

    (Heiterkeit)

    Ich weiß gar nicht, was Sie gegen den ehrenwerten Berufsstand der Lehrer haben. Sie sprechen sich doch sonst immer für die Lehrer aus.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU: Oberlehrer!)

    Im übrigen finde ich es viel besser, wenn man Oberlehrer genannt wird, als wenn man Hilfsschüler genannt wird. Die gibt es dann vielleicht woanders.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Dolata [CDU/CSU]: Haben Sie was gegen Hilfsschüler? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Große Unruhe in der Klasse der CDU/CSU.

    (Dolata [CDU/CSU]: Wir setzen uns noch ein für Hilfsschüler! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Ihre Betragensnoten werden wahrscheinlich kümmerlich ausfallen, wenn Sie so weitermachen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wie der Herr, so's Gescherr! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/ CSU]: Ihre Klasse ist ja noch nicht da heute morgen!)

    Die Sprecher der Koalition — allen voran der Bundesfinanzminister — haben sich gestern in Selbstlob geradezu überboten. Es hat zwar niemand die einfältige Behauptung des Bundeskanzlers wiederholt, seine Regierung sei die erfolgreichste Europas. Diese maßlose Übertreibung war wohl selbst den berufsmäßigen Schönrednern der Koalition ein bißchen zuviel. Sonst aber ist alle verfügbare Tünche aufgetragen worden, um Verwerfungen, Risse und Löcher im Gebäude der Koalitions- und Regierungspolitik zu überdecken, um einen Haushalt der nicht eingelösten Versprechungen als einen Haushalt der erfüllten Zusagen erscheinen zu lassen. Um, Herr Bundesfinanzminister, soziales Unrecht als wirtschaftspolitischen Erfolg darzustellen.

    (Beifall bei der SPD)

    Alle diese Anstrengungen, die deutliche Züge von Selbstsuggestion an sich tragen und die durch die mehr oder weniger geistreichen oder törichten Angriffe gegen die Opposition auch nicht an Substanz gewinnen, ändern aber nichts an den Tatsachen, die diesen Haushalt wirklich kennzeichnen. Dabei rede ich gar nicht von den vielen Ungereimtheiten und Mängeln mittleren Kalibers, etwa davon, daß Sie, Herr Bundesfinanzminister, fast 500 Millionen DM Mehreinnahmen an Mineralölsteuer nur deshalb in den Haushalt einstellen können, weil der Absatz bleifreien Benzins infolge des Fiaskos Ihrer Abgas-



    Dr. Vogel
    minderungspolitik nicht vorankommt. Das ist eine neue Finanzierungsart: Finanzierung auf Kosten unserer Wähler.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich rede von den ausschlaggebenden Fakten. Ich rede von den Fehlentwicklungen, die den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Juni 1985 zu einem Sondergutachten veranlaßt haben. Ich rede von den Sorgen unserer Handelspartner darüber, daß sich die Bundesregierung auf den Export als die Hauptquelle des Wachstums verläßt und zur Ankurbelung unserer Binnenwirtschaft wie zum Abbau unserer Arbeitslosigkeit so gut wie nichts beiträgt.
    Eine der ausschlaggebenden Tatsachen ist, daß dieser Haushaltsentwurf die Investitionsquote des Bundes auf 13,2 % senkt und Ihr Finanzplan sie bis 1989 nicht etwa steigern, sondern auf 12,1 % herunterdrücken will. Das ist dann die niedrigste Investitionsquote eines Bundeshaushalts seit 1949. Das ist ein Kennzeichen Ihrer Finanzpolitik.

    (Beifall bei der SPD)

    Gleichzeitig, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesfinanzminister, steigen allein die Steuersubventionen auf über 40 Milliarden DM. Das sind 10 Milliarden DM mehr als 1982. Das ist der höchste Betrag an Steuersubventionen seit 1949, von anderen Subventionen ganz zu schweigen.
    Herr Bundeskanzler, keiner Ihrer Vorgänger hat die Investitionsquote so reduziert und die Steuersubventionen so erhöht wie Sie. Sie, meine beiden Herren, die Sie sich gerade freundlich begrüßt haben, haben tatsächlich —

    (Lachen bei der CDU/CSU — Dolata [CDU/ CSU]: Wen begrüßen Sie denn freundlich? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Meine Damen und Herren, Sie sind wirklich schon mit Kleinigkeiten zufriedenzustellen.

    (Beifall bei der SPD — Jung [Lörrach] [CDU/CSU]: Zwangsläufig sind wir mit Kleinigkeiten zufrieden, Herr Dr. Vogel!)

    Sie sind ein rührendes Publikum.

    (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU)

    Sie, Herr Bundeskanzler, und Sie, Herr Bundesfinanzminister, haben tatsächlich Rekorde aufgestellt, allerdings Negativrekorde. Dabei haben Sie doch — Sie vor allem, Herr Bundeskanzler, in Person — während Ihrer Oppositionszeit ständig eine einschneidende Senkung der Subventionen versprochen. In Wahrheit sind diese Subventionen unter Ihrer Verantwortung geradezu explodiert. Die Steuervergünstigungen, und zwar natürlich für die Stärkeren, sind um über 30 % gestiegen. Im Sommer 1984 haben Sie binnen weniger Tage allein für einen ganz kleinen Kreis umsatzstarker Landwirte

    (Zuruf von der CDU/CSU: Keine Ahnung!)

    die Subventionen um 20 Milliarden DM erhöht. Um einer Legende von vornherein entgegenzutreten: Wir sind für nationale Unterstützung der Familienbetriebe, nicht für die Unterstützung der Agrarfabriken und für die Unterstützung der Umsatzstarken.

    (Beifall bei der SPD)

    Das, lieber Herr Stoltenberg, ist keine wohlüberlegte, das ist keine kühle, keine klare Haushaltspolitik; die würde vielmehr eine Steigerung der Investitionen und die Senkung der Subventionen erfordern. Was Sie tun, ist genau das Gegenteil: Sie betreiben mit dieser Art von Haushaltspolitik eine Politik des gebrochenen Wortes und eine beschäftigungsfeindliche Haushaltspolitik.

    (Beifall bei der SPD)

    Aber das ist noch nicht alles. Der Haushalt stellt noch weitere Negativrekorde auf.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Die Lohnsteuerquote, ein wichtiges Kriterium jedes Haushalts, steigt im nächsten Jahr auf 17,5 %. Das ist die höchste Lohnsteuerquote seit 1949. Was immer Sie auch über Ihre famose Steuerreform erzählen, die Wahrheit ist: Noch nie sind die breiten Schichten unseres Volkes so zur Steuerkasse gebeten worden wie jetzt von Ihnen in diesem Haushalt.

    (Beifall bei der SPD)

    Da werfen ausgerechnet Sie, die unserem Volk die höchste Lohnsteuerquote seit Gründung der Republik zumuten, uns vor, wir seien eine Steuerbelastungspartei! Das stellt doch die Wahrheit auf den Kopf.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Auch das ist ein Wortbruch, Herr Bundesfinanzminister: Kurz vor Ihrem Regierungsantritt sagten Sie immer wieder: Steuer- und Abgabenerhöhungen lehnen Sie konsequent ab. Offenbar ist Ihnen dies wie andere Versprechen aus dem Bewußtsein entschwunden. Natürlich hat eine solche Lohnsteuerquote auch beschäftigungsfeindliche Wirkungen, weil sie insbesondere die Kaufkraft derer vermindert, die jede Mark, die sie haben, auch tatsächlich zum Leben brauchen und ausgeben würden.
    Dann, Herr Bundesfinanzminister — Kollege Apel hat gestern schon darauf hingewiesen —: Ist nicht auch die Einstellung eines Bundesbankgewinnes wiederum von 12,5 Milliarden DM in diesen Haushalt ein eklatanter Wortbruch? Von Ihnen selbst, Herr Bundesfinanzminister, stammt doch der Satz, die Heranziehung von Bundesbankgewinnen sei schlimmer als die Neuverschuldung. Wissen Sie nicht mehr, was Herr Häfele, Ihr Parlamentarischer Staatssekretär, noch am 15. September 1982 — 14 Tage vor Ihrem Regierungsantritt — hier von diesem Pult aus gesagt hat? — Er sagte:
    Dieser Bundesbankgewinn, abgeführt zur Finanzierung von Deckungslücken im Staatshaushalt, wirkt volkswirtschaftlich wie eine Neuverschuldung.
    Und der übliche Sprechchor — so nach dem Protokoll —: „Sehr richtig! bei der CDU/CSU".

    Dr. Vogel
    Dann fuhr der wackere Häfele fort: Der Bundesbankgewinn, in den Haushalt eingestellt,
    ist haushaltspolitisch sogar noch schlimmer als eine Neuverschuldung, weil keine Zinslast daraus erwächst und damit der Anschein für den Staat entsteht, er habe insoweit gar keine Schulden, obwohl das nur eine vorübergehende und keine dauerhafte Lösung ist.
    Und dann Ihr übliches Echo an dieser Stelle — ebenfalls im Protokoll nachzulesen —: „Beifall bei der CDU/CSU".
    Eine eklatantere Widersprüchlichkeit kann man sich eigentlich kaum vorstellen.

    (Beifall bei der SPD)

    Seit Sie an der Regierung sind, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben Sie sich um Ihr Gerede vom September 1982 keinen Deut geschert. Sie haben 48 Milliarden DM — 48 Milliarden! — in drei Jahren an Bundesbankgewinnen in den Bundeshaushalt eingestellt und weitere 28 Milliarden DM an Bundesbankgewinnen bis zum Jahre 1989 verplant. Das sind nach Adam Riese 76 Milliarden DM an Bundesbankgewinnen, an Bundesbankgewinnen, die „schlimmer sind als eine Neuverschuldung". Uns standen während der 13 Regierungsjahre ganze 13 Milliarden DM zur Verfügung, also knapp ein Fünftel.

    (Hinsken [CDU/CSU]: Und wieviel müssen wir an Zinsen zahlen für die Erblast? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Meine Damen und Herren, lesen Sie Ihre eigenen Reden nach.
    Die Bundesbankgewinne — das kann man Ihnen nicht oft genug sagen — sind im übrigen nicht von Ihnen erwirtschaftet worden. Die Bundesbankgewinne sind Zinsen aus Devisenvermögen, das die Bundesbank im wesentlichen in den 70er Jahren — also zu Zeiten unserer Regierungsverantwortung — angesammelt hat.

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)

    Sie zehren heute von dem, was bei der Bundesbank zu unserer Zeit angesammelt wurde.

    (Lachen bei der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU: Da müssen Sie ja selber lachen! — Chefkomiker! — Spaßvogel! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Weil Sie sich, meine Damen und Herren, immer so gern auf Briefe des Herrn Bundesbankpräsidenten a. D. Klasen berufen, stelle ich Ihnen gern einen Brief von Herrn Klasen zur Verfügung, in dem er dies im einzelnen untermauert und im einzelnen belegt.

    (Jung [Lörrach] [CDU/CSU]: Thema verfehlt, Herr Oberlehrer!)

    — Ihre Heiterkeit täuscht nicht darüber hinweg,
    daß insbesondere auch in der Frage des Bundesbankgewinnes Ihre Politik widersprüchlich ist,
    nein, daß Ihre Politik unredlich ist — und ihre öffentliche Darstellung auch.

    (Beifall bei der SPD)

    Der zentrale Punkt unserer Kritik lautet aber, daß der Haushalt, den Sie vorgelegt haben, nicht das Mögliche zur Überwindung der Arbeitslosigkeit leistet. Im Gegenteil, dieser Haushalt erschwert die Bekämpfung und die Überwindung der Arbeitslosigkeit.

    (Beifall bei der SPD)

    Er leistet auch nichts zur Überwindung des von Ihnen an vielen Stellen begangenen sozialen Unrechts. Im Gegenteil, dieser Haushaltsentwurf für das Jahr 1986 vertieft und verlängert dieses Unrecht. Insofern — Kollege Apel hat mit dieser Charakterisierung völlig recht — ist dieser Haushalt ein getreues Spiegelbild Ihrer Politik, einer Politik, die dem Egoismus des einzelnen einen höheren Rang einräumt als der Solidarität der Gemeinschaft, einer Politik, die die Schwachen nicht nur sich selbst überläßt, sondern sie auch noch sozial deklassiert und absinken läßt.

    (Beifall bei der SPD)

    Das wird besonders deutlich an der zentralen Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit. Die Massenarbeitslosigkeit — ich hoffe und glaube, wir stimmen hier überein — ist nicht nur ein bitterer und verbitternder Entzug von Lebensqualität für die Betroffenen und ihre Angehörigen;

    (Stockhausen [CDU/CSU]: Gut, daß Sie sehen, was Sie angerichtet haben!)

    die Massenarbeitslosigkeit ist auch eine gesellschaftliche Krankheit, deren Giftstoffe immer tiefer in den Organismus unseres Volkes eindringen.
    Meine Damen und Herren, wir sollten — das geht uns alle an — nicht so sicher sein, daß wir heute diesen Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit auf lange Dauer wirklich besser gewachsen sind als im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, was auch immer uns von jener Zeit unterscheidet.
    Wenn am 31. August 1985, also vor 5 Tagen, zum achtenmal nacheinander die Arbeitslosigkeit am Monatsende jeweils den absoluten Höchststand seit 1949 erreichte, wenn 14 % der Altersgruppe zwischen 20 und 25 Jahren ohne Arbeit sind, wenn bei nicht wenigen Einheiten der Bundeswehr heute schon jeder zweite Wehrpflichtige oder Zeitsoldat damit rechnen muß, nach seiner Entlassung auf der Straße zu liegen und wenn auch für die Ersatz-dienstleistenden nichts anderes gilt, wenn rund 30 % der registrierten Arbeitslosen kein Arbeitslosengeld mehr bekommen und 40 % auch keine Arbeitslosenhilfe mehr, wenn also nur noch insgesamt 30 % Arbeitslosengeld beanspruchen können, wenn 40 % auf ihre Angehörigen oder auf die Sozialhilfe angewiesen sind, dann sind das, meine Damen und Herren, für uns als Volk und Gemeinschaft Alarmzeichen ersten Ranges.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Sie reden demgegenüber — ich verstehe das ja — unentwegt von Aufschwung. Jede neue Hiobsbot-



    Dr. Vogel
    Schaft begleiten Sie mit der Behauptung, die Besserung am Arbeitsmarkt stehe nun unmittelbar bevor. Wenn Sie einmal Ihre eigenen Erklärungen nachlesen, werden Sie feststellen, daß sich diese Äußerungen in den letzten zwei Jahren jeweils nach Bekanntwerden der Zahlen kaum geändert haben.
    Herr Bundeskanzler, das ist nicht nur irreführend. Wenn Sie sich einmal in die Rolle der langfristig Arbeitslosen versetzen, müssen Sie registrieren, daß solche Erklärungen für die Betroffenen der blanke Hohn und Anlaß zur Verbitterung sind. Geradezu erbärmlich ist es, wenn Sie — und zwar nicht nur Sprecher der CSU, sondern vorher schon Sie persönlich, Herr Bundeskanzler — neuerdings sogar die Arbeitslosenzahlen der Bundesanstalt für Arbeit anzweifeln und glauben, hier läge das Problem.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Glauben Sie denn wirklich, Herr Bundeskanzler, die Arbeitslosen und ihre Not stünden nur auf dem Papier? Glauben Sie, daß statistische Manipulationen auch nur einen einzigen Arbeitsplatz schaffen? Wo leben Sie denn eigentlich!
    Wenn Sie uns nicht glauben, dann lesen Sie, was gestern Herr Franke mit scharfen Worten denen ins Stammbuch geschrieben hat, die an dieser Statistik herummäkeln. Er hat zu Recht gesagt, dies sei die detaillierteste und konkreteste Statistik, die es über die Arbeitslosigkeit überhaupt gebe; er könne die Politiker nicht verstehen, die diese Statistik in Mißkredit zu bringen versuchen. Damit hat er Sie gemeint, Herr Bundeskanzler.

    (Beifall bei der SPD)

    Irreführend ist diese generelle Aufschwungbehauptung schon deshalb, weil der von Ihnen so gepriesene Aufschwung nach Ihrem eigenen Zeugnis jedenfalls jetzt und bisher nur die Unternehmenserträge erfaßt. Die sind seit Ihrem Amtsantritt um real 25,5 % gestiegen. Das ist wahr. Und wenn für bestimmte Branchen, etwa für die Banken, gesagt wird, die Erträge seien geradezu explodiert und das Problem der Banken bestehe heute nicht darin, ihre Erträge nach außen deutlich zu akzentuieren, sondern das Problem bestehe eher darin, diese enormen Ertragszuwächse ein bißchen im Unbestimmten zu lassen, dann ist das alles richtig.
    Gleichzeitig, Herr Bundeskanzler, sind aber die Löhne in dieser Zeit real gesunken. Und was entscheidend ist und wovon sie nicht sprechen, meine Herren von der Bundesregierung: Die privaten Investitionen sind mit einem Wachstum von 16,5 % weit hinter der Ertragssteigerung zurückgeblieben, ja der Anteil der Privaten Investitionen — und dies ist doch für jeden Volkswirtschaftler ein Alarmzeichen — am Bruttosozialprodukt ist 1984 auf den historischen Tiefstand von 19,8 % gesunken. Das ist die niedrigste private Investitionsquote seit vielen Jahrzehnten.
    Herr Bundeskanzler, wir beklagen doch die Erträge nicht. Wir wissen doch selber, daß gute Erträge die Voraussetzung dafür sind, daß anständige Löhne gezahlt werden, und daß etwas getan werden
    kann, um unsere Volkswirtschaft zu modernisieren.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Aber ...!)

    Aber — ja, selbstverständlich — die Zahlen, die ich Ihnen vorgetragen habe und die Sie dann ja widerlegen könnten, zeigen, daß diese gestiegenen Erträge nicht in ausreichendem Maße in die Investitionen fließen, sondern im Übermaß in Geldvermögensanlagen, vor allem in ausländische Geldvermögensanlagen, deren Zinsen die Finanzämter überdies nur mit Mühe, wenn überhaupt, erfassen können. Auch das ist ein Kennzeichen dieses Haushalts.

    (Beifall bei der SPD)

    Außerdem verschweigt Ihre Darstellung, Herr Bundesfinanzminister, leider, daß die Binnennachfrage stagniert. Hier gab es eben im ersten Halbjahr 1985 keinen Aufschwung, sondern gegenüber dem ersten Halbjahr 1984 sogar einen Rückgang um 1 %. Ihre Kürzungen zu Lasten der Schwächeren und die langjährigen Propagandafeldzüge gegen die angeblich überhöhten Löhne und die übertriebenen Lohnkosten wirken sich bei der Binnennachfrage aus. Herr Bundesfinanzminister, diese Politik ist eben nicht nur unsozial, sie ist auch volkswirtschaftlich verfehlt und auch volkswirtschaftlich betrachtet korrekturbedürftig.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Das müssen Sie gerade sagen!)

    Mit Ihren Aufschwungshymnen ist auch unvereinbar, daß die Gesundheitssicherungs- und die Alterssicherungssysteme trotz ständiger Beitragserhöhungen aus den finanziellen Schwierigkeiten nicht herauskommen. Der Sachverständigenrat hat den Fehlbetrag beider Systeme allein für das Jahr 1984 auf 7,3 Milliarden DM veranschlagt, und er hat zu Recht beklagt, daß immer noch kein schlüssiges Konzept zur Lösung dieser Probleme vorliege.
    Ich frage die Bundesregierung: Was ist das eigentlich für ein Aufschwung, bei dem die Pharmaindustrie und Teile der Ärzteschaft Rekordeinnahmen erzielen, den Versicherten aber trotz ständiger Beitragssteigerungen immer wieder mit der Selbstbeteiligung gedroht wird?

    (Beifall bei der SPD)

    Ich frage: Was ist das für ein Aufschwung, bei dem die Renten hinter der Preissteigerungsrate zurückbleiben, obwohl den Arbeitnehmern der höchste Rentenversicherungsbeitrag abverlangt wird, den es seit Gründung der Rentenversicherung vor hundert Jahren jemals gab? Ist das alles Aufschwung, wie Sie ihn verstehen?
    Damit wir uns recht verstehen: Ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie alle Faktoren der wirtschaftlichen, der weltwirtschaftlichen und der finanziellen Entwicklung zu vertreten hätten. Natürlich gibt es auch weltwirtschaftliche Faktoren, und es gibt Faktoren in der Verantwortung der Tarifparteien. Aber, Herr Stoltenberg, beides gilt dann ebenso für unsere Regierungszeit. Darum, Herr Kollege Stoltenberg, ist es nicht klar und kühl, sondern in hohem Maße unredlich, der Regierung von Helmut



    Dr. Vogel
    Schmidt die Preissteigerungsrate des Jahres 1981 vorzuwerfen. Sie wissen doch ganz genau, Herr Stoltenberg, daß wir 1981 mit der damaligen Preissteigerungsrate neben Japan die geringste Preissteigerungsrate aller Industrieländer hatten. Großbritannien, USA und Frankreich hatten doppelt so hohe Raten. Sie stehen doch heute im internationalen Vergleich nicht um einen Deut besser da als damals die Regierung Schmidt. Warum verschweigen Sie das eigentlich?

    (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

    Ich werfe Ihnen nicht die Arbeitslosigkeit als solche vor. Ich kritisiere, daß Sie nicht das Mögliche zur Verringerung der Arbeitslosigkeit getan haben.
    In Wahrheit haben Sie nicht nur das Mögliche nicht getan, in Wahrheit haben Sie vielmehr die Arbeitslosigkeit mißbraucht. Sie haben die Arbeitslosigkeit als Hebel für eine Politik der Umverteilung von unten nach oben und für eine Politik der sozialen Ungerechtigkeit benutzt, die in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Mehr noch: Diese Bundesregierung und diese Koalition haben durch ihre Politik den sozialen Konsens in unserem Volk ernsthaft in Frage gestellt.
    Davon, daß unter Ihrer Verantwortung die Löhne real gesunken, die Unternehmens- und Geldvermögenserträge aber explodiert sind, habe ich schon gesprochen. Sie haben die Sozialleistungen seit dem 1. Oktober 1982 um Dutzende von Milliarden DM gekürzt, gleichzeitig aber die Vermögensteuer gesenkt und die Subventionen gesteigert. Sie haben bei der sogenannten Steuerreform die Großen um ein Mehrfaches stärker entlastet als die Masse der Steuerzahler. Sie haben für die Frühpensionierung von 1 200 Offizieren weit mehr als eine halbe Milliarde DM bewilligt, gleichzeitig aber den Müttern, die im Krieg und in der Nachkriegszeit Kinder geboren und aufgezogen haben, die Anerkennung des Erziehungsjahres verweigert.

    (Beifall bei der SPD — Stockhausen [CDU/ CSU]: Und Sie haben überhaupt nichts getan! — Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Unverschämt!)

    Sie diskutieren unentwegt ernsthaft über eine Senkung des Spitzensteuersatzes für höchste Einkommen und müssen sich gleichzeitig von den Wohlfahrtsverbänden, etwa vom Deutschen Roten Kreuz, an dessen Spitze ein früherer Fraktionskollege von Ihnen steht, sagen lassen, daß seit 1982 in immer rascherem Tempo eine neue Armut um sich greift.
    Herr Bundeskanzler, zur Belastung der breiten Schichten haben Sie die Kraft. Aber die Kraft, die von Ihnen vor der Wahl versprochene Abgabe von den hohen Einkommen zu erheben, haben Sie nicht. In diesem Zwiespalt liegt die soziale Ungerechtigkeit Ihrer Politik.

    (Beifall bei der SPD) Das ist schlimm genug.

    Schlimmer noch ist, daß Sie unter Berufung auf die Arbeitslosigkeit soziale Schutzrechte abbauen, die sich die Arbeitnehmer im Lauf von Jahrzehnten erkämpft haben: Sie setzen den Kündigungsschutz durch die schrankenlose Zulassung befristeter Arbeitsverträge für viele Arbeitnehmer außer Kraft.

    (Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Schrankenlos? Ein Widerspruch in sich!)

    Sie weiten die Leiharbeit aus, die den Arbeitnehmer zu einer Art Verfügungsmasse degradiert. Und Sie mindern den Schutz der Arbeitnehmer bei Betriebsstillegungen dadurch, daß Sie die Pflicht zum Abschluß von Sozialplänen einschneidend reduziert haben.
    Dr. Waigel [CDU/CSU]: Weil das Verfassungsgericht es verlangt hat!)
    Am schlimmsten aber ist Ihre Doppelstrategie gegenüber den Gewerkschaften. Herr Bundeskanzler, es ist Ihr Geheimnis, wie Sie vertrauensvoll mit Gewerkschaften zusammenarbeiten wollen, die Sie gleichzeitig durch Ihre Novelle zum Betriebsverfassungsgesetz — also durch die Zulassung von Splitterlisten und durch die Einführung eines Konkurrenzbetriebsrats in Gestalt der Sprecherausschüsse — spalten wollen —, dies übrigens, sogar gegen den Rat der Arbeitgeber, die diese Ihre Pläne ebenfalls ablehnen.

    (Beifall bei der SPD)

    Es ist Ihr Geheimnis, wie Sie mit einer Gewerkschaft vertrauensvoll zusammenarbeiten wollen, die Sie gleichzeitig durch eine Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes für künftige Arbeitskämpfe schwächen und — wenn es nach Ihrem Bundeswirtschaftsminister geht — durch die Beseitigung der Verbindlichkeit von Tarifverträgen geradezu überflüssig machen wollen. Das ist die Politik, die die Solidarität und die Gemeinsamkeit aufkündigt und durch die Vereinzelung des Arbeitnehmers ersetzen will, weil der einzelne schwächer ist.

    (Beifall bei der SPD und Beifall des Abg. Schmidt [Hamburg-Neustadt] [GRÜNE])

    Es ist Ihr Geheimnis, wie Sie mit Gewerkschaften vertrauensvoll zusammenarbeiten wollen, die Ihr famoser Generalsekretär in einer Art und Weise beschimpft, die an die Schmähungen gegen die Gewerkschaften und die Sozialdemokraten durch die Kommunisten in den 30er Jahren erinnert.

    (Beifall bei der SPD)

    Jene sprachen damals von Sozialfaschisten. Dieser Herr spricht von Sozialdemagogen. In der Gehässigkeit des Angriffs gegen die Gewerkschaften ist da kaum ein Unterschied.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Bundeskanzler, hier sind Sie selbst gefordert. Hier geht es um den sozialen Konsens, um einen Konsens, der von Konrad Adenauer und Hans Böckler in der klassischen Auseinandersetzung um die Montan-Mitbestimmung, die mit unserer Hilfe Gesetz geworden ist, weil sich ein großer Teil Ihrer Fraktion damals verweigert hat, begründet worden ist, um einen Konsens, der sich seitdem



    Dr. Vogel
    auch in kritischen Situationen bewährt hat, um einen Konsens, dem die Bundesrepublik einen guten Teil ihrer bisherigen Stabilität verdankt. Wer auch hier, auf diesem Feld, einen Geißler wüten läßt, wer glaubt, er könne das Rad der Geschichte gerade an dieser Stelle zurückdrehen, versündigt sich an unserer Gemeinschaft und an dieser Bundesrepublik.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich sage Ihnen, gestützt auf die Wahlergebnisse der letzten Zeit: Wer auf diesem Feld des sozialen Konsenses weiter Wind sät, wird Sturm ernten, stärker noch als an der Saar und an Rhein und Ruhr.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Vogel, der Windmacher!)

    Ich sagte, es ist Ihr Geheimnis, wie Sie mit Gewerkschaften vertrauensvoll zusammenarbeiten wollen, die Sie gleichzeitig derartig provozieren. Es spricht für das Verantwortungsbewußtsein der Gewerkschaften, daß sich diese heute abend mit Ihnen dennoch an einen Tisch setzen.

    (Stockhausen [CDU/CSU]: Das paßt Ihnen gar nicht! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

    Ich sage für die Sozialdemokraten: Wir wünschen dieser Begegnung im Interesse der Millionen Arbeitslosen Erfolg — im Interesse der Millionen Arbeitslosen!

    (Beifall bei der SPD)

    Aber, Herr Bundeskanzler, eine solche Begegnung kann nur Erfolg haben, wenn Sie Ihre Politik ändern. Sie kann nur Erfolg haben, wenn Sie vor allem den Entwurf des sogenannten Neutralitätssicherungsgesetzes — das ist auch so ein Wort aus der Neusprache — vom Tisch nehmen, der jetzt in den Koalitionsfraktionen kursiert und die Gewerkschaften geradezu strangulieren will.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU)

    Sie können heute abend nur Erfolg haben, wenn Sie sich, so wie die Sozialausschüsse in Ihrer Partei — aber die stehen da ganz allein —, eindeutig von Vorschlägen distanzieren, die Angriffsaussperrung gesetzlich anzuerkennen, Warnstreiks einzuschränken, und wenn Sie vor allen Dingen der staatlich angeordneten Zwangsschlichtung von Arbeitskämpfen eine klare und nicht nur eine unbestimmte, verwaschene Absage erteilen.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen voraus: Nur so können Sie verhindern, daß das heutige Gespräch, das wir — ich sage es noch einmal — im Interesse der Arbeitslosen begrüßen, bestehende Kontroversen verschärft, statt sie zu vermindern. Oder wie der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der Kollege Ernst Breit, nicht ohne Grund befürchtet, als Versuch verstanden wird — dies würde die Möglichkeiten der Gespräche für die Zukunft mit einer schweren Hypothek belasten —, „Zeit zu gewinnen, sich ein Alibi für eigene Untätigkeit zu verschaffen und Proteste zu unterlaufen". Ich glaube, Ernst Breit weiß, wovon er spricht, wenn er diese Befürchtung äußert. Ich sage Ihnen, Herr
    Bundeskanzler: Wenn Sie diese Herausforderungen nicht zurücknehmen, dann brauchen Sie sich doch nicht zu wundern, daß die Gewerkschaften schon jetzt eine Protestwoche ankündigen und vorbereiten. Das ist doch Notwehr gegenüber solchen Angriffen.

    (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

    Wir setzen Ihrer Politik des sozialen Unrechts unsere sozialdemokratische Alternative entgegen, eine Alternative, die unser ganzes Volk zu einer großen solidarischen Anstrengung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zusammenführt. Wir Sozialdemokraten haben Vertrauen in unser Volk. Wir wissen: Unser Volk hat genug Willenskraft, und unser Volk hat auch die materielle Kraft, um die Arbeitslosigkeit fühlbar zu senken. Wir sind trotz aller Schwierigkeiten kein armes Volk. Im Vergleich zu den meisten Ländern der Welt sind wir reich, zumindest aber wohlhabend. Diejenigen in unserem Volk, denen es gutgeht, wollen in ihrer übrgroßen Mehrheit auch gar nicht, daß es anderen schlechtgeht. Und sie wollen schon gar nicht, daß es ihnen auf Kosten der anderen in unserem Volk gutgeht.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb, Herr Bundeskanzler, werden Sie mit dem Konzept der Zwei-Drittel-Gesellschaft ebenso scheitern, wie die Konservativen in Großbritannien mit diesem Konzept bereits in katastrophaler Weise gescheitert sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie werden scheitern mit einem Konzept, das die meisten derer, die die Hilfe unserer Gesellschaft brauchen, ohne diese Hilfe läßt und das nach wie vor auch die Familien benachteiligt. Sie haben nämlich gar keinen Anlaß, sich als familienpolitische Wohltäter zu feiern. Zu Recht hat Ihnen der Familienbund deutscher Katholiken in einer Stellungnahme vorgeworfen, daß Sie den Familien ab 1986 nur einen Bruchteil dessen zurückgeben, was Sie den Familien vorher seit 1982 genommen haben. Das ist doch Täuschung.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Gegenüber Ihrem Konzept gilt es, die Kraft unserer Gesellschaft zu bündeln und auf die entscheidenden Punkte zu lenken. Zu diesem Zweck muß von der Politik endlich wieder Führung ausgehen, und zwar Führung zugunsten der Schwächeren, zugunsten derer, die sich nicht selbst helfen können, die auf die Hilfe der Stärkeren, auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesen sind. Darum geht es, nicht um die abstrakte Frage nach mehr oder weniger Staat. Es geht um das soziale Grundprinzip und den Sozialstaatsauftrag unserer Verfassung. Das ist das Thema, nicht eine abstrakte Staatsdebatte.

    (Beifall bei der SPD)

    Das sind die wesentlichen Elemente unserer Alternative, von denen sich die wichtigsten auch schon in unserem Antrag vom 30. Mai 1985 finden:



    Dr. Vogel
    Erstens eine weitere kontinuierliche Arbeitszeitverkürzung. Herr Bundeskanzler, die gegen Ihren persönlichen erbitterten Widerstand im Sommer 1984 von den deutschen Gewerkschaften durchgesetzten Verkürzungen der Arbeitszeit haben nach objektivem Urteil über 100 000 neue Arbeitsplätze gebracht. Das sind im wesentlichen die zusätzlichen neuen Arbeitsplätze, auf die sich jetzt Herr Stoltenberg und Herr Bangemann als Erfolg ihrer Politik ständig berufen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Es ist ein Erfolg, den verantwortungsbewußte deutsche Gewerkschaften, denen die Hilfe für arbeitslose Kollegen wichtiger war als eine Lohnerhöhung, die angeboten war; ein Erfolg durchgesetzt gegen den Widerstand der Herren auf dieser Bank.

    (Beifall bei der SPD)

    Zweitens die Stärkung der Massenkaufkraft durch die Beseitigung der schlimmsten sozialen Ungerechtigkeiten und durch eine Lohnpolitik, die zumindest weiteren realen Einkommensverlusten vorbeugt. Wir haben gestern mit Interesse gehört, daß Herr Stoltenberg, wenn ich das richtig verstanden habe, die Gewerkschaften zu kräftigen Lohnforderungen bei der nächsten Runde ermuntert hat. Die Gewerkschaften werden das gehört haben.
    Drittens die verstärkte Förderung der Mittel- und Kleinbetriebe, insbesondere auch auf dem Dienstleistungssektor. Es muß eine Lösung dafür gefunden werden, daß Klein- und Mittelbetriebe, die nicht kontinuierlich investieren, sondern in einem Jahr eine große Investition haben, dann zwei, drei Jahre keine, dieselben steuerlichen Möglichkeiten bekommen wie der Großbetrieb mit einer durchgehenden Investitionsbreite.

    (Beifall bei der SPD)

    Viertens die Schaffung des Sondervermögens „Arbeit und Umwelt" und die Steigerung der öffentlichen Investitionen auf allen Ebenen. Es ist wieder Ihr Geheimnis, Herr Stoltenberg, wie Sie gegen das Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" polemisieren können, während Sie gleichzeitig halbherzig und klein dieses Programm zu kopieren versuchen und in bestimmten Etattiteln in unzulänglicher Höhe genau das tun, was Sie bei uns kritisieren.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir fordern weiter Unterstützung von örtlichen Sonderprogrammen und von Eigeninitiativen für zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten. Warum können wir uns nicht verständigen — meinetwegen auf der Grundlage der katholischen Soziallehre —, daß wir denen, die den Genossenschaftsgedanken wiederbeleben, die selber etwas tun wollen, in verstärktem Maße helfen, daß sie durch Eigenanstrengung vorankommen? Das ist auch eine Frage der Lebenskultur.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir fordern sechstens eine gemeinsame Anstrengung zur besseren beruflichen Qualifizierung der Arbeitslosen, aber auch der Arbeitnehmer insgesamt. Unsere sozialdemokratische Alternative setzt
    den verstärkten Einsatz umweltfreundlicher, sozial verträglicher Technologien, einen kontinuierlichen Strukturwandel und eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung voraus. Ich sage Ihnen: Die großen Veränderungen, die in den Betrieben auf Grund der technologischen Sprünge Platz greifen, etwa auf dem Gebiet der Roboter und der Mikroprozessoren, werden wir nur bewältigen, wenn die Mitverantwortung der Arbeitnehmer auf diesen Bereich ausgedehnt wird. Wir haben Krisen überall da am besten überstanden, wo die Arbeitnehmer Mitwirkung und Mitverantwortung hatten. Das gilt auch für dieses Gebiet.

    (Beifall bei der SPD)

    Denken Sie einmal darüber nach, wie Konrad Adenauer und damals die Maßgebenden in der Kohlewirtschaft die Arbeitnehmer geradezu gebeten haben, in der Montanindustrie Mitbestimmung und Mitverantwortung zu übernehmen, um die Demontagen abzuwenden. Das war eine Herausforderung, bei der man nach den Arbeitnehmern gerufen hat. Ich sage: Die technologischen Entwicklungen, die vor uns liegen, sind mindestens eine ebenso große Herausforderung. Es ist ein Gebot der Vernunft, genauso zu verfahren.

    (Beifall bei der SPD)

    Unsere Alternative bejaht Wachstum, das sich am sozialen Nutzen und an der Lebensqualität orientiert. Sie bejaht, meine Damen und Herren — Ihre Polemik, Herr Stoltenberg geht völlig ins Leere —, den Markt, aber als dienendes Instrument, nicht als Dogma. Wir akzeptieren natürlich nicht die Formel, die Marktwirtschaft sei die in die Wirtschaft übertragene Form der Demokratie. Demokratie lebt davon, daß jeder Bürger das gleiche Recht und die gleiche Möglichkeit hat. Wollen Sie ernsthaft behaupten, daß die wirtschaftlich Starken, die über Kapital verfügen, auf dem Gebiet der Marktauseinandersetzung in einem Atemzug mit denen genannt werden können, die nur ihre Arbeitskraft am Markt anbieten? Was ist denn das für ein Demokratieverständnis?

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Suhr [GRÜNE]: Das ist das Flicksche Demokratieverständnis!)

    Wir bejahen den Markt als dienendes Instrument, aber wir begnügen uns nicht damit, wie Sie es tun, allein auf die angeblichen Selbstheilungskräfte des Marktes zu vertrauen und die Dinge einfach treiben zu lassen.
    Wir greifen mit unserer Alternative dort ein, wo der Markt — ich wiederhole das — blind und gefühllos ist. Johannes Rau hat doch recht, wenn er konkretere Rahmenbedingungen fordert, wenn er sagt, daß der Markt für sich weder auf die soziale Gerechtigkeit noch auf die Umwelt Rücksicht nimmt.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Wo wären wir mit dem sozialen Zustand unserer Gesellschaft, wenn noch die Marktbedingungen des späten 19. Jahrhunderts gelten würden? Lesen Sie wenigstens einmal bei Nell-Breuning nach, bevor



    Dr. Vogel
    Sie einen solchen Unsinn unter die Leute bringen und Johannes Rau deswegen attackieren.

    (Beifall bei der SPD)

    Unsere sozialdemokratische Initiative ist auch finanzierbar, einmal durch steuerliche Maßnahmen, für die wir bereits konkrete Anträge eingebracht haben und die, anders als Ihre das tun, eben nicht die breiten Schichten, sondern vor allem die hohen und sehr hohen Einkommen belasten. Zum anderen durch den Gesetzentwurf zur Verbesserung der kommunalen Finanzen. Das, Herr Kollege Stoltenberg, was Sie gestern in der Replik auf Herrn Apel über den finanziellen Zustand der deutschen Städte und Gemeinden gesagt haben, kann einen erfahrenen Kommunalpolitiker nur zu Ausbrüchen verzweifelter Heiterkeit veranlassen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich gebe den deutschen Bürgermeistern und Städtevertretern den Rat, einmal bei einer Stoltenbergschen Versammlung mit derselben Lautstärke aufzutreten wie die schleswig-holsteinischen Bauern. Vielleicht lernt dann der Herr Bundesfinanzminister seine Lektion über die Kommunalfinanzen.

    (Beifall bei der SPD — Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Dann käme Johannes Rau gar nicht zum Sprechen!)

    Unsere Initiative ist finanzierbar durch einen geringen Zuschlag auf den Energieverbrauch zur Grundfinanzierung des Sondervermögens „Arbeit und Umwelt", was noch den guten Nebeneffekt hätte, daß der Energieverbrauch noch sparsamer gehandhabt würde — das ist nämlich auch ein zentrales Problem —,

    (Bueb [GRÜNE]: Ihr wollt doch Atomkraftwerke bauen!)

    durch die Beschränkung der Verteidigungsausgaben auf den prozentualen Stand des Jahres 1983

    (Bueb [GRÜNE]: Schwachsinn!)

    und durch die Mehreinnahmen und Minderausgaben, die sich durch jeden zusätzlichen Arbeitsplatz in einer Höhe von durchschnittlich 24 000 DM ergeben.
    Wir Sozialdemokraten — wir sprechen für mindestens 40 % dieses Volkes — sind bereit, für die Verwirklichung dieser Alternative die Verantwortung zu übernehmen. Wir sind bereit, sie schon jetzt mit allen zu erörtern, die Verantwortung tragen, mit den Gewerkschaften, den Arbeitgebern und trotz Ihrer ewigen Verweigerungs- und Neinsagenhaltung gegenüber unseren bisherigen Gesprächsangeboten auch mit der Koalition. Ich sage in dieser Debatte: Die deutsche Opposition ist bereit, mit Ihnen zu reden und nach Wegen zu suchen, wenn es um die Überwindung der Arbeitslosigkeit geht. Wir sind ohne Bedingungen gesprächsbereit.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir werden dann in solchen Gesprächen auch unseren Vorschlag vertiefen, die Kostenbelastung für lohnintensive Unternehmen, insbesondere auch für das Handwerk, dadurch zu mindern, daß die Beiträge der Unternehmen zu den Systemen der sozialen Sicherung nicht mehr nach der Lohnsumme, sondern nach der Wertschöpfung bemessen werden. Dies wäre ein Beitrag, um die Lohnnebenkosten für die lohnintensiven Betriebe zu reduzieren. Dies wäre auch eine beschäftigungsfreundliche Maßnahme.

    (Beifall bei der SPD)

    Ihr Beitrag zu dieser ernsthaften Debatte besteht bisher nur darin, daß Sie sich mit dem dümmlichen Schlagwort von der Maschinensteuer jeder ernsthaften Diskussion dieser Frage, die das Handwerk tief beschäftigt, entziehen.

    (Sehr wahr! bei der SPD)

    Wir werden außerdem dafür eintreten, im Rahmen einer wirklichen Steuerreform auch die steuerliche Benachteiligung des Arbeitseinsatzes gegenüber dem Kapitaleinsatz nicht von vornherein als tabu zu erklären.
    Ich sage noch einmal: Die Massenarbeitslosigkeit, die Spaltung unseres Volkes in solche, denen es gut oder doch erträglich geht, und in solche, die in Not absinken, ist kein Naturgesetz. Ein Volk wie das unsere, das — um nur ein Beispiel zu nennen — nach dem Krieg durch eine große Gemeinschaftsanstrengung binnen kurzer Zeit viele Millionen neue Wohnungen gebaut und so die Wohnungsnot überwunden hat, ein Volk, das dazu unter viel schwierigeren Umständen die Kraft hatte, kann auch die Not der Massenarbeitslosigkeit mildern, wenn die Verantwortlichen das wirklich wollen.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Übrigens, meine Damen und Herren, wollen wir uns nicht daran erinnern: Diese Wohnungsnot der Nachkriegsjahre ist doch nicht nur durch das freie Spiel der Kräfte und nicht einfach durch den Markt überwunden worden, sondern durch eine große gemeinsame Anstrengung unseres Volkes, durch Milliarden, die Bund, Länder und Gemeinden aus Gemeinschaftsmitteln planmäßig in den Wohnungsbau geleitet haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Wer kann eigentlich widersprechen, wenn gesagt wird: Wenn es möglich war, durch eine solche Gemeinschaftsanstrengung unter den damaligen schlimmen Verhältnissen die Wohnungsnot zu überwinden, warum haben wir nicht die Kraft, durch eine große Gemeinschaftsanstrengung auch auf die Herausforderung der Umweltzerstörung und auf die Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit durch planvolles Zusammenwirken der Gemeinschaft und der Kraft des einzelnen zu antworten? Wir werden nicht müde werden, für eine solche Anstrengung einzutreten.

    (Beifall bei der SPD)

    Neben der zentralen Herausforderung der Arbeitslosigkeit muß in einer umfassenden politischen Diskussion — und um eine solche handelt es sich bei der ersten Lesung eines Haushaltsentwurfs, auch noch eine zweite zentrale Herausforderung angesprochen werden, nämlich die Friedens-



    Dr. Vogel
    sicherung. Auch hier — und ich sage es mit Bedauern — droht ein Bruch des Konsenses und der Kontinuität,

    (Zuruf von CDU/CSU: Bei Ihrer Partei!)

    zu der Sie sich in Ihrer Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 bekannt haben. Er droht, Herr Bundeskanzler, weil angesichts der zunehmend heftiger werdenden Streitigkeiten außenpolitischer Art in Ihrer Koalition Ihr eigenes persönliches außenpolitisches Konzept mehr und mehr verschwimmt. Selbst Ihre Freunde wissen doch — jedenfalls in den befreundeten Redaktionsstuben — allmählich nicht mehr, was in Sachen SDI, Eureka, Oder-Neiße-Grenze oder hinsichtlich der berühmten neuen Phase der Ostpolitik eigentlich gilt. Auch Ihre Freunde wissen doch allmählich nicht mehr, ob die Deutschnationalen in Ihrer Fraktion, ob Herr Genscher oder ob Herr Teltschik das Sagen haben, ob Sie Ost-Berlin gerade mit Milliardenkrediten oder großzügigen Swing-Vereinbarungen — die großzügigste in der Geschichte des Swings ist von Ihnen vor wenigen Wochen unterschrieben worden — zur Seite stehen oder ob Sie die DDR-Führung als aggressiv und friedensfeindlich anprangern lassen. Das ist doch kein Konzept, das ist ein undurchschaubares Durcheinander und Gegeneinander, das sich in der Außenpolitik breitmacht.

    (Beifall bei der SPD)

    Deswegen die erste Frage: Zu welcher Politik wollen Sie denn eigentlich unseren Konsens? Sie selbst haben diesen Konsens als wünschenswert bezeichnet, und ich stehe nicht an, Ihnen zuzustimmen: Er ist in zentralen außenpolitischen Fragen in der Tat wünschenswert, und keiner sollte sich dem Versuch, ihn zu erreichen, widersetzen. Aber der Bruch droht ja nicht nur wegen der Unklarheit Ihres Konzeptes; er droht auch deshalb, weil Sie in Ihrer Sorge vor weiteren Wahlniederlagen dazu übergehen, selbst die empfindlichsten außenpolitischen Themen zu rücksichtslosen Verleumdungen Ihrer politischen Gegner zu mißbrauchen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wie kritisch Herr Bundeskanzler, müssen Sie eigentlich Ihre eigene Lage einschätzen, wenn Ihnen nicht nur schon der Begriff „Oberlehrer" als eine Art Rettungsanker erscheint,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    sondern wenn Sie auch Ihren Generalsekretär in Ihrem Auftrag politische Ansätze diffamieren lassen, die in nicht wenigen Punkten von Ihrem eigenen Außenminister, ja, von den Klügeren unter Ihren eigenen Parteifreunden kaum anders vertreten werden? Offenbar steht Ihnen das Wasser so sehr bis zum Hals, daß Sie nach jedem Strohhalm greifen, auch in der außenpolitischen Auseinandersetzung.

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)

    Wir lassen uns demgegenüber in unserem Kurs nicht beirren.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Welcher Kurs?)

    Wir bejahen das Bündnis als Mittel der Kriegsverhütung und damit auch als Mittel zur Sicherung unserer Gesellschaftsordnung, aber wir kämpfen auch im Bündnis mit aller Energie dafür, daß der wahnwitzige Rüstungswettlauf der Supermächte endlich zum Stehen kommt.

    (Beifall bei der SPD)

    Dieser Wettlauf tötet ja Menschen nicht erst, wenn er zu einer Konfrontation führt. Dieser Wettlauf tötet schon jetzt tagtäglich viele Menschen, nämlich diejenigen, die in der Dritten Welt nicht an Hunger oder Krankheit sterben müßten, wenn ihnen auch nur mit einem Bruchteil der Rüstungsbillionen, die Jahr für Jahr für diesen Wettlauf ausgegeben werden, geholfen würde.

    (Beifall bei der SPD — Bueb [GRÜNE]: Sind denn in der Regierungszeit der SPD die Rüstungsausgaben gesenkt worden?)

    Deshalb sind wir auch klipp und klar gegen die Ausdehnung der Rüstung in den Weltraum. Wir bedauern den Versuch, der gestern angekündigt worden ist, weil er einen weiteren Schritt zur Ausdehnung der Rüstung in den Weltraum darstellt. Deshalb sind wir für den Stationierungsstopp, deshalb sind wir gegen chemische Waffen, deshalb unterstützen wir den Appell der sechs Staats- und Regierungschefs aus vier Kontinenten, die schon jetzt für mehr als ein Fünftel der Menschheit sprechen und die beiden Supermächte immer dringender auffordern, endlich mit dem Rüstungswettlauf innezuhalten.
    In dieser Diskussion, Herr Bundeskanzler, verwenden wir nicht ein Argument — nicht eines! —, das nicht namhafte und angesehene Amerikaner und wesentliche Teile des amerikanischen Volkes ebenso ins Feld führen. Unsere Diskussion hat mit Antiamerikanismus nichts zu tun; das wissen Sie ganz genau.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU)

    Mit dem Schlagwort „Antiamerikanismus" wollen Sie nur primitive Wahlpropaganda und Wahlpolemik betreiben.

    (Beifall bei der SPD)

    Es geht Ihnen und vor allen Dingen Ihrem Generalsekretär hierbei nicht um Außenpolitik, sondern um die Diffamierung der Sozialdemokraten.
    Unsere Politik gewährleistet die Sicherheit unseres Landes. Wir geben der Bundeswehr, was sie zur Erfüllung ihres Auftrags braucht. Aber wir übernehmen nicht blind jede Bedrohungsbehauptung, mit deren Hilfe auch die unvernünftigsten Rüstungsforderungen durchgesetzt werden sollen.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von den GRÜNEN: Es gibt keine vernünftigen!)

    Wir sind mehr denn je davon überzeugt, daß der
    Rüstungswettlauf, das Aufhäufen immer neuer Ver-



    Dr. Vogel
    nichtungswaffen die Sicherheit nicht erhöht, sondern im Gegenteil unsere Sicherheit und die Sicherheit aller Völker insgesamt mehr und mehr gefährdet. Herr Bundeskanzler, sie sagen manchmal, der Herbst 1983 und die große Welle der Diskussionen, die durch unser Volk gegangen ist, seien vergessen. Herr Bundeskanzler, Sie irren. Millionen in unserem Volk sind tiefer denn je überzeugt, daß mehr Rüstung nicht automatisch mehr Sicherheit, sondern daß mehr Rüstung genauso weniger Sicherheit und mehr Gefahr bedeuten kann.

    (Beifall bei der SPD)

    Wollen Sie übrigens im Ernst behaupten, die Welt oder gar wir hier in Mitteleuropa wären heute sicherer als im Oktober 1982? Reden Sie darüber, wenn Sie uns nicht glauben, einmal nicht bei großen öffentlichkeitswirksamen Auftritten, sondern in privaten Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern der DDR, die ihrem eigenen System weiß Gott kritisch gegenüberstehen. Reden Sie mit Leuten aus beiden Kirchen darüber, was sie zu dieser Politik des Rüstungswettlaufes und zu ihren Entscheidungen sagen. Es wäre es wert, darauf einmal Stunden zu verwenden.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir wissen: Die Friedenssicherung ist heute mehr denn je eine politische Aufgabe. Militärische Strategien und erst recht technische Entwicklungen haben sich der Politik unterzuordnen, nicht aber die Politik zu bestimmen. Vor allem kann und darf Technik, und sei sie noch so faszinierend, die Politik nicht ersetzen.
    Deshalb bejahen wir die Fortsetzung der von Willy Brandt eingeleiteten und von Helmut Schmidt fortgesetzten Entspannung. Wir brauchen von niemandem — und von Ihnen schon gar nicht — Belehrungen über die Unterschiede zwischen unserer Gesellschaftsordnung und der Gesellschaftsordnung der osteuropäischen Staaten. Wir wollen aber jede Gelegenheit nutzen, um das Gesprächs- und Beziehungsgeflecht über alle Unterschiede hinweg zu verstärken, Lösungen zu finden, die im beiderseitigen wohlverstandenen Selbstinteresse liegen, und so Mißtrauen und Argwohn abzubauen. Das ist der einzige Weg, um die Lebenssituation der Menschen zu verbessern — in den osteuropäischen Staaten und in der DDR, aber auch bei uns selber.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn Ihre Propagandazentrale — so füge ich hinzu — unsere Gesprächskontakte mit osteuropäischen Führungen verteufelt, dann seien Sie wenigstens so redlich und sagen unserem Volk, daß Sie jeden dieser Gesprächskontakte nützen, um diejenigen, die zu uns kommen, auch selber als Gesprächspartner im Auswärtigen Amt oder in Ihrer Fraktion zu empfangen. Es ist Heuchelei, uns diese Kontakte vorzuwerfen und sie selber — was wir begrüßen — für Ihre Zwecke auszunützen.

    (Beifall bei der SPD)

    An dieser Fortsetzung der Politik der Entspannung arbeiten wir als Opposition. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Sie haben als Opposition die Schlußakte von Helsinki mit einer Begründung abgelehnt, deren Sie sich heute wahrscheinlich selber nicht mehr erinnern wollen oder deren sich die Klügeren vielleicht sogar schämen. Kluge in Ihren Reihen haben ja damals schon vergeblich dafür gekämpft, daß Sie der Schlußakte zustimmten. Wir haben als Opposition in Gesprächen mit der anderen Seite konkrete Vorschläge erarbeitet, wie beispielsweise Mitteleuropa von chemischen Waffen freigemacht und wie die Einhaltung dieser Verpflichtungen international an Ort und Stelle kontrolliert werden kann. Wir haben die neue Phase der Ostpolitik, von der der Bundesaußenminister Genscher jetzt häufig spricht, nicht nur gefordert. Wir haben uns vielmehr als Opposition auch bemüht, diese neue Phase mit konkreten Maßnahmen einzuleiten und zu fördern. Dies alles als prosowjetisch zu verteufeln ist absurd und kann nur verbogenen Gehirnwindungen, die durch lange Tätigkeit in einer bestimmten Funktion offenbar verbogen worden sind, einfallen. Widerspruch gegen das SDI-Programm als unmoralisch zu bezeichnen, wie dies der von mir eben beschriebene Herr tut, ist geradezu eine empörende Anmaßung, die ich mit Entschiedenheit zurückweise.

    (Beifall bei der SPD)

    Kümmern Sie sich um die Moral in Ihrem eigenen Laden, und ersparen Sie unserem Volk Ihre anmaßenden moralischen Werturteile in einer Frage, die die Kirchen und alle Welt bewegt.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU und den GRÜNEN)

    Übrigens, Herr Dregger hat sich doch selbst auch für einen Abzug chemischer Waffen aus der Bundesrepublik und gegen die Stationierung neuer Waffen dieser Art in Mitteleuropa ausgesprochen. Ist denn das auch prosowjetisch, Herr Kollege Dregger, oder ist Ihre Behauptung, Herr Weinberger habe Ihnen beides verbindlich zugesagt, antiamerikanisch, seitdem Herr Weinberger diese von Ihnen behauptete Zusage rundum bestreitet?

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)

    Gehört das auch in die Kategorie?
    Herr Bundeskanzler, schaffen Sie wenigstens auf diesem Gebiet endlich Klarheit. Wenn schon Ihr Fraktionsvorsitzender, was ich begrüße, den Abzug chemischer Waffen aus der Bundesrepublik begrüßt, warum nutzen Sie dann nicht die Chance, die das von uns initiierte Papier eröffnet? Gehen Sie doch auf die DDR-Regierung zu. Nehmen Sie doch diese Regierung beim Wort. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn auf diese Weise auch der Abzug chemischer Waffen aus der DDR — dies ist auch Gegenstand dieses Papiers — Wirklichkeit würde.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wir wollen die vernichten, nicht verlegen, Herr Vogel!)

    Noch in einem weiteren Punkt ist dringend Klarheit erforderlich. Das ist Ihre Haltung, Herr Bundeskanzler, und die Ihrer Regierung gegenüber der immer explosiveren Entwicklung in Südafrika. Hier bleiben die halbherzigen Äußerungen der Bundes-



    Dr. Vogel
    regierung und vor allem aus den Koalitionsfraktionen weit hinter den wesentlich entschiedeneren Beschlüssen des amerikanischen Kongresses zurück. Ihr Zögern, Herr Bundeskanzler, ist geeignet, bei den Machthabern in Pretoria gefährliche Illusionen hervorzurufen und die Glaubwürdigkeit und das Ansehen der deutschen Politik in ganz Afrika und darüber hinaus aufs Spiel zu setzen. Herr Bundeskanzler, wollen Sie wirklich als einer der Letzten erscheinen, der dem Apartheid-Regime in Pretoria mit Verständnis — einzelne aus Ihrer Fraktion sogar mit heimlichem Wohlwollen — begegnet? Es ist international schon schlimm genug, daß die Machthaber in Pretoria durch ihren Botschafter Ihre Haltung gegenüber der Apartheid ausdrücklich loben lassen und als ermutigend empfinden.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Bundeskanzler, Sie sprechen gerne — d. h. in letzter Zeit nicht mehr so gerne — von der geistig-moralischen Erneuerung und der geistigen Führung, die Sie seit dem Oktober 1982 der Politik und unserem Volk zuteil werden lassen. Ich will das nicht vertiefen. Aber die positiven Impulse — wenn ich etwa an den 8. Mai denke — werden auf dem Gebiet der geistig-politischen Führung längst von anderen gegeben. Sie leisten zu diesem Thema wenig überzeugende und häufig negative Beiträge. Es sind — leider muß ich das sagen — nicht selten Beiträge zur geistig-moralischen Verunsicherung der Politik. Mit einigen Beispielen für solche Beiträge befassen wir uns bei anderen Gelegenheiten. Mit einem haben wir uns bei der Debatte am Dienstagnachmittag befaßt. Ich beschränke mich deshalb heute auf zwei Bemerkungen, wenn Sie so wollen: auf zwei Bitten.
    Die erste Bitte. Herr Bundeskanzler, bitte hören Sie auf, die Fragen der Reform des § 218 innerhalb Ihrer Partei zum Gegenstand von Gehorsamkeit oder Loyalitätsprüfungen oder von glatten Opportunitätserwägungen zu machen.

    (Beifall bei der SPD — Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Das ist ja blanker Unsinn!)

    Für eine solche Vorgehensweise ist das Thema zu ernst.

    (Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Primitiver geht es nicht!)

    Das Hin und Her, das gegenseitige Zu- und Abschieben von Verantwortung, die taktischen Spiele, die Sie, Ihre Fraktion und Ihre Ministerpräsidenten in diesem Zusammenhang zur Zeit tagtäglich öffentlich veranstalten, sind einfach peinlich und der Politik nicht würdig.

    (Beifall bei der SPD — Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Sie sind eine einzige Peinlichkeit!)

    Ich sage hier für die Sozialdemokraten: Wer immer die Reform des § 218 ganz oder teilweise rückgängig machen will, wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen. Wir wissen, daß die Frauen in unserem Volk dabei über alle Parteigrenzen hinweg und weit bis in Ihr Lager hinein, bis in Ihre
    Fraktion hinein — ich respektiere das — auf unserer Seite stehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wer hingegen im Rahmen des bestehenden Rechts Frauen konkret helfen will, in einer existentiellen Lage eine lebensbejahende Entscheidung zu treffen, der kann wie bisher mit unserer Unterstützung rechnen. Das ist unsere Aussage zu dieser Debatte.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU: Das sagen Sie mal Herrn Rau in Düsseldorf! — Heuchelei!)

    Zweitens. Herr Bundeskanzler, streichen Sie bitte aus Ihrem Vokabular den Begriff „Kloakenjournalismus". Ludwig Erhard hat kritische Intellektuelle einmal als „Pinscher" bezeichnet;

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind ein ganz kleiner Wadenbeißer!)

    das war kurz vor seinem Abgang. Sie, Herr Bundeskanzler, steigen mit Ihrer Schmähung eine Stufe tiefer. Auch das ist keine geistige Führung, sondern die beleidigte Reaktion eines Mannes, der sich der Auseinandersetzung in der Sache entzieht. Auch wir Sozialdemokraten sind durchaus nicht mit jeder öffentlichen Kritik einverstanden, die an uns geübt wird, auch wir setzen uns zur Wehr, wo wir es für geboten halten. Aber daß sich Journalisten in unserem Land mit Kloaken, wie Sie es ausdrücken, mit stinkendem Unrat, beschäftigen, das liegt doch wohl zunächst einmal daran, daß andere stinkenden Unrat produziert haben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Manche Kloake wäre nicht geleert und gesäubert worden, wenn nicht Journalisten hartnäckig auf ihr Vorhandensein aufmerksam gemacht hätten.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von den GRÜNEN)

    Herr Bundeskanzler, wir haben Ihnen bei Ihrer Wahl das Vertrauen verweigert; Sie haben seitdem nichts getan, um dieses Vertrauen im nachhinein zu erwerben. Im Gegenteil, unsere Bedenken gegen Ihre Politik und unsere Bedenken gegen Ihre Amtsführung sind von Monat zu Monat gewachsen. Auch in unserem Volk haben Sie rapide an Ansehen und Vertrauen verloren, stärker als je ein Bundeskanzler seit 1949 vor Ihnen. Mit unserer Zustimmung zu dem von Ihnen vorgelegten Haushalt können Sie daher nicht rechnen. Wir sind nicht Ihnen, wir sind unserem Volke verpflichtet.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Deshalb ist und bleibt Ihre Ablösung und die Ablösung dieser Bundesregierung unser Ziel. Die von Ihnen proklamierte Wende muß zum Ende kommen. Diese Wende muß eine Episode bleiben, an die später einmal in der deutschen Geschichte nur noch eine Fußnote erinnert.
    Ich danke für die Aufmerksamkeit.

    (Langanhaltender Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)