Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 21 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen von Bundesminister Dr. Theodor Waigel auf dem Sudetendeutschen Tag zu den deutsch-tschechischen Beziehungen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns geht es in. dieser Aktuellen Stunde nicht darum, einen parteipolitisch gefärbten, polemischen Nachtrag zum Sudetendeutschen Tag zu liefern.
Wir wollen vielmehr erreichen, daß der Deutsche Bundestag in einer schwierigen Phase der deutschtschechischen Beziehungen ein Signal in Richtung Prag aussendet, aus dem unser gemeinsamer Wille zur Versöhnung und zur dauerhaften gutnachbarlichen Zusammenarbeit klar und unzweideutig hervorgeht.
Es ist bedrückend zu sehen, daß es uns bisher nicht gelungen ist, das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik auf eine ähnlich solide Grundlage zu stellen, wie es mit allen anderen Nachbarn, namentlich mit den beiden größten, Frankreich und Polen, möglich war.
Die Initiative, die von Präsident Havel bei seiner Rede in der Karls-Universität ausging, hat dazu geführt, daß jetzt der Versuch gemacht wird, das Versäumte nachzuholen. Dieser Prozeß ist schwierig; er verlangt Rücksichtnahme auf beiden Seiten. Die angestrebte deutsch-tschechische Erklärung können wir nur erreichen, wenn beide Seiten voneinander nichts Unmögliches verlangen.
Die Bundesrepublik Deutschland war und ist zum Beispiel nicht bereit, das schmachvolle Münchener Abkommen als von Anfang an nichtig zu erklären. Das kann sie ganz einfach deshalb nicht, weil die inzwischen eingetretenen Rechtsfolgen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die tschechische Seite ist darüber nicht glücklich, aber sie versteht es.
Die Bundesrepublik Deutschland war und ist zum Beispiel auch nicht bereit, ihre Rechtsordnung dahin gehend zu ändern, daß auf individuelle Vermögensansprüche vertriebener und enteigneter Sudetendeutscher formell verzichtet werden könnte. In Tschechien würde ein solcher formeller Verzicht bei den einfachen Menschen viele Ängste beseitigen. Ich halte diese Ängste zwar für unbegründet, aber das ändert nichts daran, daß es sie gibt. Auch dieser deutsche Standpunkt ist der tschechischen Seite nicht angenehm, aber sie akzeptiert ihn.
Können wir nun umgekehrt von der Tschechischen Republik erwarten, daß sie nach mehr als fünfzig Jahren Rechtsakte, die moralisch ebenso Unrecht sind wie das Münchener Abkommen, für ungültig erklärt? Wem hilft die Forderung nach Aufhebung der Beneš-Dekrete oder des sogenannten Amnestie-Gesetzes? Welches Problem von heute oder morgen würde damit gelöst? Welches Unrecht würde ungeschehen gemacht? Wenn wir die Versöhnung auf der Durchsetzung von Rechtsstandpunkten aufbauen wollen, wird sie nicht gelingen.
Ich fand die Vokabel vom Schlußstrich, die Präsident Havel gebraucht hat, so abwegig nicht. Immerhin haben wir im Nachbarschaftsvertrag mit Polen von 1991, fast auf den Tag genau vor fünf Jahren, schon im ersten Satz gesagt, daß wir diesen Vertrag in dem Bestreben schließen, die leidvollen Kapitel der Vergangenheit abzuschließen. Dieses Wort fehlt im deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag von 1992. Aber deshalb ist es nicht unmöglich.
Günter Verheugen
Können wir mehr tun, als zu erklären, daß wir das, was wir uns als Deutsche und Tschechen gegenseitig angetan haben, als Unrecht bedauern? Anders als Herr Waigel und Herr Stoiber auf dem Sudetendeutschen Tag behauptet haben, hat Präsident Havel dieses Bedauern längst ausgedrückt. Es geht nicht um eine juristische Aufarbeitung der Jahre 1938 bis 1945. Es geht um eine politisch-moralische Selbstreflektion beider Völker, die nach vorne gewandt ist.
Wir werden bald gemeinsam in der Europäischen Union sein - das kann der Freistaat Bayern nicht verhindern. Wir haben uns im Vertrag von 1992 verpflichtet, die Bemühungen der Tschechischen Republik um Aufnahme in die Europäische Union zu unterstützen. Dabei sind die Bedingungen nicht genannt worden, die vor allem Herr Stoiber in einem Ton, der nur als Drohung zu verstehen war, in Nürnberg aufgestellt hat. Sollen wir uns im gemeinsamen Europa denn immer noch über das Münchener Abkommen, die Potsdamer Beschlüsse und die BenešDekrete streiten oder über das Heimatrecht der Sudetendeutschen? Präsident Havel hatte auch dafür eine Lösung angeboten, die doppelte Staatsbürgerschaft. Darauf ist die Bundesregierung, der Herr Waigel angehört, nicht eingegangen. Sudetendeutsche, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, können das tun,
wenn sie bereit sind, die Staatsangehörigkeit anzunehmen, die sie vor 1938 auch schon hatten.
Diese Frage ist lösbar in Gesprächen in einem Klima des Vertrauens, aber nicht, wenn dröhnende Forderungen erhoben werden. Gegen eine Einbeziehung der Sudetendeutschen in die Gespräche ist nichts einzuwenden - es ist sogar klug, wenn die Bundesregierung es tut -, aber wir können nicht im Ernst verlangen, daß die Sudetendeutsche Landsmannschaft als dritte Partei an den Verhandlungen teilnimmt.
Bei allem Verständnis: Die deutsch-tschechischen Beziehungen sind kein Privileg einer Landsmannschaft.
Daß man mit Fingerspitzengefühl und gegenseitigem Vertrauen viel erreichen kann, haben wir Sozialdemokraten im Umgang mit unserer tschechischen Schwesterpartei bewiesen. Es ist uns nicht nur gelungen, schon vor mehr als einem Jahr eine gemeinsame Erklärung zu veröffentlichen, die zeigt, was möglich ist. Denken Sie nicht, es gebe keine große sozialdemokratische Tradition bei den Sudetendeutschen. Es gibt sie, und sie wird von der SPD gehütet und gepflegt. Sudetendeutsche Sozialdemokraten waren die ersten Opfer des Münchener Abkommens. Uns ist es ebenfalls gelungen, unsere Schwesterpartei davon zu überzeugen, daß sie im tschechischen Wahlkampf aus europäischer Verantwortung darauf verzichten muß, das deutsch-tschechische Verhältnis zum Wahlkampfthema zu machen. Hätte sie es getan, wäre mein Freund Milos Zeman heute vielleicht schon tschechischer Ministerpräsident, aber unsere Beziehungen wären vergiftet. Ich möchte unseren tschechischen Freunden für ihr verantwortungsvolles Handeln ausdrücklich danken.
Herr Waigel und Herr Stoiber haben anders gehandelt. Sie haben einen kurzfristigen Vorteil für sich selber gesucht und langfristige Vorteile für unser Land gefährdet. Von einem Mitglied der Bundesregierung muß erwartet werden, daß es genug außenpolitisches Gespür aufbringt, in einer heiklen Lage nicht neue Probleme zu schaffen. Das ist vor allem durch den fordernden, oft auch selbstgerechten Ton der Reden geschehen, die in Nürnberg zu Pfingsten gehalten wurden. Der Bundeskanzler und der Außenminister haben geschwiegen. Das sollten sie heute nicht tun. Gerade vom Bundeskanzler, den ja ein Gespür für historische Zusammenhänge auszeichnet, muß erwartet werden, daß er dem Gezerre und Gewürge um die deutsch-tschechische Erklärung ein Ende bereitet und sich offen und öffentlich zur Versöhnung mit unseren tschechischen Nachbarn bekennt.
Diese Erklärung kann und soll der Schlußstein jener Ostpolitik werden, die von Willy Brandt 1969 begonnen wurde.
Herr Verheugen, kommen Sie bitte zum Schluß. Die Redezeit ist abgelaufen.
Der letzte Satz. - Sie eröffnet gleichzeitig den Weg in eine neue Politik der guten Nachbarschaft, die die Dämonen der Vergangenheit aus dem gemeinsamen Europa für immer fernhalten wird.
Als nächster spricht der Kollege Hans Klein.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Verheugen, über große Teile Ihrer Rede könnte man reden. Sie sollten aber die sudetendeut-
Hans Klein
schen Sozialdemokraten für Ihre Argumentation tunlichst nicht in Anspruch nehmen.
Denn was Männer wie Jaksch, Wanka, Hochfelder - ich weiß nicht, wie weit Ihnen die Namen vertraut sind -
zu dieser Frage erklärt haben, steht in diametralem Gegensatz zu dem, was Sie eben hier gesagt haben.
Im übrigen stelle ich mir die Frage: Was wollten Sie eigentlich wirklich damit erreichen, sich unter diesem scheinheiligen Vorwand mit der Rede des Bundesfinanzministers in Nürnberg auseinanderzusetzen? Sie haben überhaupt nichts zu seiner Rede gesagt,
kein Wort - außer einer allgemeinen polemischen Bemerkung über „Waigel und Stoiber" , wie Sie das nannten.
Wo sind wir denn? Sie kommen als SPD hierher und sagen, Sie müßten sich mit der Rede auseinandersetzen, die Sie nicht gehört
und offensichtlich auch nicht gelesen haben. Wenn Sie sie vor sich liegen haben, heißt das noch nicht, daß Sie sie gelesen haben.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wem nützen Sie mit dieser Debatte? Wessen Interessen vertreten Sie?
Die der Sudetendeutschen nicht, die der Deutschen auch nicht.
Auch den tschechischen Interessen dient es nicht, daß wir hier Gespräche dieser Art führen.
Im Gegensatz zu fast allen anderen in diesem Hohen Hause hatte ich den Vorzug - ich meine wirklich Vorzug -, die Rede des Bundesfinanzministers in Nürnberg zu hören.
Dabei handelte es sich um die Beschreibung eines Stücks deutscher Geschichte, auch eines Stücks persönlicher Geschichte: von dem Bauernbuben aus Oberrohr, dem eine sudetendeutsche Familie damals das Tor zur Welt aufgestoßen hat. Da sprach ein
Mann in Dankbarkeit über das Zusammentreffen mit den vertriebenen Sudetendeutschen. Das war das Kernstück seiner Rede.
Darüber kann man doch jetzt nicht hinweggehen, als wäre das eine billige polemische Sonntagsrede gewesen.
Ich frage Sie: Glauben Sie im Ernst, daß man mit dieser Art der Einforderung von Papieren, Kompromißformeln und mühsam ausgehandelten, im Grunde genommen inhaltslosen Worthülsen der Versöhnung von zwei Völkern dient?
Die Versöhnung der Menschen ist sehr viel weiter fortgeschritten, als Sie das hier beschreiben.
Aber es kann doch wohl nicht sein, daß Sie hier sagen, verehrter Herr Kollege Verheugen: Die sudetendeutsche Landsmannschaft - was ist das schon? Was sind schon 3 Millionen Menschen?
Wenn auch nur ein Teil von ihnen - aber ein großer Teil - in dieser Landsmannschaft organisiert ist - -
- Entschuldigung, Sie reden hier - nicht in dieser Debatte, aber bei anderer Gelegenheit - mit großer Verve über die Menschenrechte in Tibet.
Aber die Menschenrechte von 3 Millionen von Haus und Hof Verjagten sind Ihrer Meinung nach eine Sache, die Sie nur noch mit einem Nebensatz abtun.
240 000 Ermordete erwähnen Sie nur noch in einem Nebensatz.
Herr Meckel, Sie haben in Ihrer letzten Rede ein paar bemerkenswerte Äußerungen gemacht. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, haben Sie gesagt: Es hilft uns nichts, wenn wir mit dem Unrecht vor oder nach 1945 argumentieren.
Diese Meinung teile ich. Es muß aber erst einmal auf beiden Seiten bekannt werden.
Wir müssen es auf beiden Seiten bekennen.
Hans Klein
Es geht auch nicht, daß wir nur von den deutschen Verbrechen und von dem den Deutschen widerfahrenen Unrecht reden. Verbrechen sind auf beiden Seiten geschehen. Wir müssen auf das Rechtsempfinden der Menschen - für mich sind wir alle Menschen: die Tschechen wie die Sudetendeutschen -
Rücksicht nehmen. Das ist unsere Aufgabe in diesem Hohen Hause.
Das Wort nimmt jetzt die Kollegin Antje Vollmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich jedenfalls war in Nürnberg dabei und habe die Rede des Herrn Finanzministers gehört. Deswegen kann ich sie auch beurteilen.
Ich würde gegenüber manchen anderen Interpretationen tatsächlich sagen: So viel dramatischer als im Jahr zuvor war sie nicht.
Sie war sogar, mit Verlaub, in manchen Passagen ganz genau so wie die Rede im Jahr zuvor.
Das war dann für gerade dieses Jahr vielleicht etwas zuwenig.
Ich kann das sagen: Ich habe mich auf dem Sudetendeutschen Tag ein bißchen wie auf einem CSU- Parteitag gefühlt.
Das ist auf Dauer nicht gut.
Die Rede hat übrigens zu laut gefordert, wovon Sie eigentlich schon wissen müssen, daß es längst in den Gesprächen und in den ausgearbeiteten Erklärungen enthalten ist. Diesen Charakter darf eine Rede in dieser Situation vor diesen Zuhörern nicht haben: Man darf nicht pathetisch, lauthals den Eindruck erwekken, die Dinge ständen anders, als sie, wie Sie wohl wissen, wirklich stehen.
Das zweite, das Sie, glaube ich, nicht bedacht haben, ist ein Unterschied zwischen den Sudetendeutschen Tagen vor zehn Jahren oder vor fünf Jahren und der heutigen Situation: Sie haben nämlich inzwischen ein zweites sehr sensibles, hochaufmerksames Publikum für diese Reden, und das ist die deutsche Öffentlichkeit. Die deutsche Öffentlichkeit - das kann man ganz sicher sagen - versteht, je mehr Monate und Jahre ins Land gehen, immer weniger, worin noch so ein Problem besteht, daß wir mit den tschechischen Nachbarn keinen Frieden schließen können.
Das dritte Publikum war die tschechische Öffentlichkeit. Man kann sich fragen, ob Sie mit dieser Rede Ihren Parteikollegen in Prag einen wirklichen Dienst erwiesen haben; die Wahlergebnisse sprechen nicht dafür. Diese tschechische Öffentlichkeit hat - daß das bedacht wird, vermisse ich manchmal bei den CSU-Politikern und auch bei Vertretern der Sudetendeutschen Landsmannschaft - eine solch erstaunliche Entwicklung gemacht - gerade auch in bezug auf die Debatte über ihre eigene Vergangenheit -, sie hat einen solchen Schritt nach vorne gemacht in der Bereitschaft, darüber zu diskutieren, sie hat eine solche demokratische Reife gezeigt - auch die Sozialdemokraten -, indem sie die nationale Karte nicht gezogen hat; daß ich denke: Sie hat sich schneller bewegt und politischer gesprochen als Sie auf diesem Tag.
Wir sollten uns mit der Vergangenheit und mit Reden, die in der Vergangenheit gehalten wurden, eigentlich nicht länger aufhalten. Wir sollten gucken: In welcher Lage sind wir in bezug auf die Zukunft und in bezug auf die Erklärungen zwischen den beiden Parlamenten? Da sind wir tatsächlich in einer sehr schwierigen Situation; das habe ich die ganze Zeit über befürchtet. Auch in der Politik muß man die Eisen schmieden, wenn sie heiß sind. Dinge, die zu tun Regierungen Vollmacht haben, darf man auch gegenüber Landsmannschaften nicht immer und immer wieder auf die lange Bank schieben. Man darf nicht immer und immer wieder auf den nächsten Sudetendeutschen Tag warten.
Da erwarte gerade ich von denen, die besondere Freunde der Sudetendeutschen sind, nämlich von den Mitgliedern und führenden Vertretern der CSU, daß endlich auch sie ihren Part spielen, wenn die Brücke geschlagen wird, damit diese Erklärung zustande kommt. Ich denke, daß auch Sie seit langem sehen, daß auch zum Beispiel ich und Vertreter meiner Partei und der Sozialdemokraten sich bemühen, die Spitze ihrer Möglichkeiten auszunutzen, damit endlich diese Erklärung zustande kommt.
Sie bezeichnen die Sudetendeutschen als vierten Stand Bayerns, und Sie haben immer Ihre besondere Nähe zu ihnen betont. Ihr Part ist nun, denen zu sagen: Das war das politisch Mögliche, was wir für euch erreicht haben;
Dr. Antje Vollmer
jetzt ist es genug. Ich bin immer davon ausgegangen: Es geht nicht ohne die Bereitschaft eines großen Teils der Sudetendeutschen; es geht nicht ohne die Mitwirkung Bayerns. Aber diese zu formulieren, das genau erwarte ich von den Vertretern der CSU. Das bedeutet auch ein bißchen Tapferkeit gegenüber dem Freund.
Sie dürfen nicht aus innenpolitischen Gründen den Sudetendeutschen immer nur nach dem Munde reden. Damit sind Sie nicht auf der Höhe der Zeit.
Es ist ein ganz dringlicher und wirklich ernsthafter Wunsch von mir, daß Sie endlich diese Rolle spielen.
Denn im Moment ist die Lage in bezug auf den Abschluß von Erklärungen schwierig. Wir haben keinen Partner in der Tschechischen Republik, mit dem wir sie abschließen könnten. Wir könnten aber von unserer Seite durch die Bereitschaft zur Versöhnung einiges dafür tun, daß die Regierungsbildung in der Tschechischen Republik einfacher wird.
Ich will noch eines sagen. Durch den Prozeß der Entwicklung der Debatte in der Tschechischen Republik hat sich die Politik des Außenministers Zieleniec, der immer auf den Konsens mit den Sozialdemokraten gesetzt hat, als außerordentlich klug und weitsichtig erwiesen. Das sollten wir in diesem Hause ruhig einmal sagen. Es hat nämlich manchmal auch andere Stimmen gegenüber diesem Außenminister gegeben. Ich finde, er ist ein hochpolitischer Partner, der die schwierige Konsensbildung in seinem Land auch in bezug auf die Vergangenheitsdebatte vorangebracht hat. Ich denke, mit diesem Partner und mit den Partnern im tschechischen Parlament insgesamt sollten wir dieses Stück der Politik, diesen letzten Stein der deutschen Außenpolitik, endlich zum Ende bringen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die Freien Demokraten wiederhole ich das, was wir immer gesagt haben:
Erstens. Bei der Vertreibung handelt es sich um schlimmes Unrecht; es war eine ethnische Säuberung. Gerade in einer Zeit, in der wir zunehmend ethnische Säuberungen in verschiedenen Teilen der Welt erleben, muß das so deutlich gesagt werden. Das wird auch nicht durch irgendwelche völker- oder staatsrechtlichen Pseudolegitimationen - Stichworte: Potsdam, Beneš-Dekrete, Amnestiegesetz - bemäntelt. Es war Unrecht.
Zweitens. Die F.D.P. würdigt das Sonderopfer, das den Vertriebenen auferlegt wurde. Im Vergleich zu vielen anderen Deutschen hatten sie ein besonders hartes Schicksal zu tragen. Wir würdigen auch die konstruktive Rolle, die sie seit dem Zweiten Weltkrieg gespielt haben, um Gräben zu überwinden.
Drittens. Aufrechnung führt nicht zur Versöhnung, ebensowenig wie Vergessen, Verschweigen und Vertuschen. All dies vorausgeschickt, muß man aber auch sagen, daß es außerordentlich problematisch erscheint, wenn man angesichts der heiklen Beziehungen immer wieder Entschuldigungen von Nachbarn verlangt, die Opfer des Hitlerschen Aggressionskrieges waren.
Es könnte sonst sehr leicht der Zustand eintreten, daß Ursachen und Folgen nicht mehr richtig gesehen werden.
Vergessen wir nicht: Es waren Deutsche, die mit massiven Kriegsdrohungen das Münchener Abkommen herbeigepreßt haben. Es waren Deutsche, die in Böhmen und Mähren eingefallen sind. Es waren Deutsche, die die - wie es damals hieß - Resttschechoslowakei zerschlagen haben. Es waren Deutsche, die die Greuel von Lidice gegenüber der Zivilbevölkerung, gegenüber Frauen und Kindern begangen haben. Und es waren - auch daran möchte ich erinnern - Deutsche, die durch die Ausrottung der Juden dafür ursächlich waren, daß ein ganz wesentlicher, elementarer Kulturbestandteil dieser europäischen Region nicht überleben konnte. Prag war nämlich das Zentrum einer Kultur, die sich aus tschechischen, deutschen und jüdischen Elementen in gleicher Weise zusammensetzte und das europäische Geistesleben in heute kaum mehr vorstellbarer Weise bereichert hat.
Das alles gibt es nicht mehr.
Meine Damen und Herren, all das rechtfertigt in keiner Weise das Unrecht der Vertreibung. Dennoch darf all das genausowenig verschwiegen werden wie das Unrecht der Vertreibung. Ich meine aber: Wer heute den Vertriebenen vorgaukelt - ich nenne keine Namen -,
das Rad der Geschichte könne zurückgedreht werden - die meisten der Vertriebenen sind zur Versöhnung bereit; die große Mehrheit der Vertriebenen stellt keine Ansprüche -, der begeht ein anderes Unrecht, weil er Hoffnungen erweckt, von denen er genau weiß, daß sie sich nicht erfüllen können.
Ulrich Irmer
Die vermögensrechtlichen Ansprüche sind bewußt ausgeklammert worden, weil wir uns sonst Reparationsforderungen in ungeahnter Höhe ausgesetzt hätten. Eine förmliche rückwirkende Aufhebung - des Beneš-Dekrets, des Amnestiegesetzes - lehnen die Tschechen ab, so wie wir es mit Recht abgelehnt haben, das Münchener Abkommen als für von Anfang an null und nichtig zu erklären. Es bringt nichts, förmliche Rechtsakte nachträglich aufzuheben, weil dies nicht in die Zukunft weist. Präsident Havel hat im übrigen mehrfach das Bedauern, die Reue angesprochen und hat das Unrecht der Vertreibung als Unrecht bezeichnet.
Die Verhandlungen führt selbstverständlich der Bundesaußenminister, der dafür von der Regierung beauftragt ist. Er redet mit den Vertriebenen, aber am Tisch sitzen er und die Regierung.
Ein letztes Wort: Es darf aus der Vergangenheit heraus keine Vorbedingungen für die Aufnahme der Tschechischen Republik und Polens in die Europäische Union geben.
Das wäre auch ganz unlogisch; denn durch die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union erreicht jeder Unionsbürger, dann also auch die Sudetendeutschen, das Recht, sich dort niederzulassen, wo er herkommt.
Insofern würde durch die Aufnahme dieser Länder in die Europäische Union auch ein Teil der Vergangenheit bewältigt werden können.
Ich fordere alle auf, daran und an der Versöhnung mitzuwirken, und bitte insbesondere die Vertriebenen, die auf Grund ihrer Geschichte dazu prädestiniert, dazu besonders geeignet sind, sich diesem Versöhnungswerk nicht zu verschließen, sondern daran - wie die meisten von ihnen bisher - konstruktiv und zukunftsweisend mitzuwirken.
Ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Gerhard Zwerenz.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Pfingstkrise dieses Jahres 1996 in den deutsch-tschechischen Beziehungen trug leider auch das unverständliche Verhalten unseres Außenministers Kinkel bei, der in dieser Zeit kurz vordem die Geltung des Potsdamer Abkommens für Bonn in Abrede stellte.
Was immer von verschiedenen juristischen Seiten zum Potsdamer Abkommen gesagt werden kann: Das Abkommen ist für uns nicht zuvörderst juristischer Natur, sondern ein politisches Dokument der deutschen Niederlage in dem von Deutschland provozierten Angriffs- und Vernichtungskrieg, über den, um mit einem Wort des Prager Premiers Klaus zu sprechen, die Deutschen - ich zitiere - mit Bedauern reden sollten, jedenfalls nicht auftrumpfend, jedenfalls nicht eskalierend, angstmachend, in einer Siegessprache wie auf dem Pfingstreffen, besonders dem letzten.
Insgesamt waren die Nürnberger Pfingsttreffen der sudetendeutschen Landsmannschaften in ihrem Provokationswert zwar stets unüberhörbar, aber zu ertragen, solange daraus nicht bayerisches Landes- und deutsches Bundesrecht gemacht worden ist. Das letztere erst läßt aus Pfingsten 1996 den staatspolitischen Skandalfall werden, den der immer noch amtierende CSU-Generalsekretär Protzner mit dem ihm eigenen Ungeschick steigert, indem er schwadroniert, die Deutschen wollten fürderhin nicht allein im Büßerhemd herumlaufen.
Ich stelle fest: Uns ist nicht gedient, wenn überhaupt jemand im Büßerhemd herumläuft. Dies den Tschechen anzusinnen ist eine ungeheuerliche germanische Unverschämtheit.
Es geht nämlich darum, aufrecht zu gehen nach einem konsequenten Bruch mit dieser Vergangenheit Deutschlands, das schuldig ist an diesem Krieg. Diesen Bruch verweigern Sie.
Für die Gruppe der PDS erkläre ich: Wir wissen, die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs wurden nicht, wie politische Heuchelei meist auch heute noch behauptet, im deutschen Namen begangen, sondern von Deutschen begangen. Wir haben das Potsdamer Abkommen deshalb stets nicht nur anerkannt, sondern als eine moralische und politische Schlußfolgerung gesehen - und Schlußfolgerungen daraus gezogen, nämlich daß es keinerlei Rückkehr in den deutschen Nationalismus und Rassismus geben dürfe. Unser Bruch ist endgültig, und da gibt es kein Zurück in irgendeine Vergangenheit. Das Recht auf Heimat läßt sich nicht rückwirkend auf die Geschehnisse und auf die gewiß besonders für die vertriebenen Sudetendeutschen bedauerlichen Folgen des deutschen Angriffskrieges anwenden.
Es gibt auch kein durchsetzbares Recht auf Rückkehr ins Leben. Wenn es dies nämlich gäbe, dann müßten wir 40 Millionen Tote ertragen, die dann auferstehen und eine Rückkehr in ihr Leben fordern würden, das ihnen schließlich durch unsere, durch Deutschlands Schuld genommen worden ist.
Gerhard Zwerenz
Ich glaube, für die PDS darf ich dem tschechischen Volk auch unser Bedauern darüber aussprechen, daß deutsche Politiker wieder in die Sprache der Macht, der Drohung und der Schamlosigkeit zurückfielen.
Ich selbst war im Jahre 1938 13 Jahre alt, als ich meine sächsische Volksschule tagelang nicht betreten durfte, weil dort ein sudetendeutsches Freikorps aufgestellt, bewaffnet und trainiert worden ist, das dann beim Marsch über die Grenze tschechische Verkehrspolizisten ermordet hat.
Daß 58 Jahre später von Deutschen Forderungen an Prag gestellt werden, empfinde ich als politisch borniert, menschlich enttäuschend, moralisch verwerflich.
Ich darf allerdings hinzufügen: Wie zu vernehmen ist, bewirkten einige CDU-Abgeordnete, daß dem tschechischen Botschafter in Bonn ein sudetendeutscher Kulturpreis verliehen wird. Wir gratulieren dem Botschafter, der im Neben- oder auch im Hauptberuf ein interessanter tschechischer Dichter gewesen ist und ist und sich auch als Exponent des Prager Frühlings zu bewahren verstanden hat.
Wir gratulieren dem Botschafter zu diesem Preis; wir gratulieren den CDU-Abgeordneten, die geholfen haben, daß ihm dieser Preis verliehen wird. Wir gratulieren ihnen zu dieser Umkehr, weil wir meinen, dies ist der Anfang einer Umkehr auf dem Weg zur Besserung.
Ich danke Ihnen.
Es spricht jetzt der Außenminister, Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daß wir uns über unser Verhältnis zu unserem wichtigen tschechischen Nachbarn in der Aktuellen Stunde unterhalten, ist gut und richtig. Daß dies an Äußerungen des Kollegen Waigel beim Pfingsttreffen aufgehängt wird, halte ich für weniger gut; denn wenn Sie die Rede nachlesen, werden Sie wohl nicht so sehr viel finden - nicht einmal aus Ihrer Sicht -, was da zu kritisieren wäre.
Der Kollege Waigel hat in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der CSU Ausführungen zum Stand der deutsch-tschechischen Beziehungen gemacht. Er hat sich dabei - wenn Sie es bitte nachlesen wollen - nachdrücklich zur Versöhnung und zur Zusammenarbeit mit der Tschechischen Republik bekannt und seine Unterstützung für die Heranführung an und Hineinführung in die europäischen Institutionen bekannt und die Einrichtung eines deutsch-tschechischen Zukunftsfonds unterstrichen. Das entspricht voll und ganz der Politik der Bundesregierung.
Er hat im übrigen Fragen angesprochen, die im Augenblick Gegenstand der Gespräche sind, die zu einer gemeinsamen Erklärung führen sollen. In diesem Zusammenhang hat er sich ausdrücklich zu dem schlimmen Unrecht bekannt, das den Tschechen geschehen ist, und von der tschechischen Seite ein klares Wort des Bedauerns zum Unrecht der Vertreibung der Sudetendeutschen sowie ein klärendes Wort zu den Beneš-Dekreten und zum sogenannten Amnestiegesetz gefordert. Das sind alles Punkte, die wir in unsere Gespräche mit der tschechischen Seite aufgenommen haben,
und wir sind dabei sehr weit.
All das, was wir erreichen wollen, soll zusammen mit einem klaren deutschen Bekenntnis zu den Verbrechen der Nazidiktatur am tschechischen Volk seinen Niederschlag in der gemeinsamen Erklärung finden, mit der wir über den Nachbarschaftsvertrag von 1992 hinaus die Schatten der Vergangenheit verscheuchen und Versöhnung erreichen wollen.
Ich finde jedenfalls, daß die Äußerungen des Kollegen Waigel in diesem Zusammenhang keinerlei Anlaß zu Aufgeregtheit geben.
- Ja, das ist meine ehrliche Überzeugung. Es gibt ja ein paar andere Äußerungen; vielleicht haben Sie die verwechselt.
Im übrigen war auch die tschechische Reaktion auf den Sudetendeutschen Tag insgesamt gelassen, sieht man von eher wahlkampfbedingten Bemerkungen einmal ab.
Die seit Juli letzten Jahres von mir geführten Gespräche sind sehr weit gediehen. Ich verletze die zwischen den Verhandlungspartnern vereinbarte Vertraulichkeit nicht - ich habe übrigens heute nacht in Florenz das letzte Gespräch mit dem tschechischen Vertreter geführt -, wenn ich sage, daß sich in einer Reihe der wichtigsten Fragen die Positionen weitgehend angenähert haben.
Das Ergebnis der tschechischen Parlamentswahlen Anfang Juni und die jetzt in Gang gekommene Regierungsbildung in Prag werden den weiteren zeitlichen Ablauf zweifellos beeinflussen. Aber nach dem, was wir heute nacht und in den letzten Tagen besprochen haben, bin ich ganz ruhig und zuversichtlich. Ich bin auch froh, daß mit Ausnahme des Kollegen Zwerenz, der offensichtlich bewußt etwas in die Debatte hineinbringen wollte, hier bisher ruhig und sachlich, im Interesse der gegenseitigen Beziehungen diskutiert wurde.
Wir wollen mit der angestrebten gemeinsamen Erklärung einen entscheidenden weiteren Impuls für den Aussöhnungsprozeß zwischen Deutschen und Tschechen setzen. Ich bin fest entschlossen, das bald zu einem erfolgreichen Abschluß zu führen. Ich weiß sicher, daß das auch der Wille der Koalition und der Bundesregierung ist.
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß ich mit den Gesprächen und Verhandlungen, die ich geführt habe, in einer jahrzehntelangen Tradition der deutschen Außenpolitik, wie sie von meinen Vorgän-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
gern Scheel und Genscher geprägt wurde, stehe. Diese Politik wurde übrigens stets vom Deutschen Bundestag unterstützt.
Wir möchten unsere engen und freundschaftlichen Beziehungen mit der Tschechischen Republik konsequent fortentwickeln. Diese Beziehungen sind gut. Ein gutes Verhältnis zu unserem wichtigen Nachbarn ist im Hinblick auf unsere gemeinsame Geschichte von absolut zentraler Bedeutung. Dabei wissen wir sehr genau, daß wir die Vergangenheit nicht abstreifen, nicht verdrängen können - wir wollen das auch nicht -, sondern uns dieser Vergangenheit stellen müssen. Das gilt für beide Seiten.
Aber es darf nicht nur um das gehen, was war. Unser Blick muß, so wie ich es vor diesem Hause am 31. Januar 1996 gesagt habe, in die Zukunft gerichtet sein. Dazu gehört auch, daß Deutschland ohne Bedingungen den Wunsch der Tschechischen Republik nach Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO unterstützt.
Die Bundesregierung steht zu ihrer Aussage, daß die Sudetendeutschen in die Gespräche, wie bisher schon geschehen, einbezogen werden. Ich habe in den Gesprächen, die liefen und laufen, die sudetendeutsche Seite, so wie es nur irgendwie ging, einbezogen. Ich habe mich auch, übrigens schon vor Jahren, der tschechischen Seite gegenüber, Ministerpräsident Klaus und dem Außenminister gegenüber, für Gespräche zwischen der sudetendeutschen und der tschechischen Seite eingesetzt.
Die Verhandlungen selbst sind selbstverständlich Sache der Regierungen.
Dabei ist es genauso selbstverständlich, daß wir die Anliegen der Sudetendeutschen im Auge haben.
Ich habe mich außerordentlich bemüht, den Versuch zu machen, alles zu tun, damit die Wunden wirklich verheilen können. Aber Versöhnung wird eben nur dann eintreten, wenn sie von beiden Seiten kommt und wenn sie wirklich hilft, die Wunden auf beiden Seiten, so weit es irgend möglich ist, zu heilen.
Die Sudetendeutschen haben schon früh ihren Willen zur Aussöhnung bekundet und haben, wie der Kollege Waigel in Nürnberg zu Recht festgestellt hat, die Brücke nach Osten gebaut und die Hand zum gemeinsamen Bau des neuen Europa ausgestreckt.
Die deutsch-tschechischen Beziehungen sind ein besonders wichtiger Eckpfeiler im Bau des neuen Europa. Wir müssen mit aller Kraft, die wir haben - und das tun wir -, anstreben, das Verhältnis zu diesem wichtigen Nachbarn politisch und atmosphärisch so zu gestalten, wie uns das mit den anderen Nachbarn möglich war.
Ich bin zuversichtlich, daß wir in absehbarer Zeit, wenn es die Umstände in der Tschechischen Republik zulassen, zu dieser gemeinsamen Erklärung kommen werden, die die Versöhnung hoffentlich endgültig bringt.
Vielen Dank.
Als nächster hat Markus Meckel das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich Dank sagen, Dank den beiden großen Parteien in der Tschechischen Republik, daß es ihnen gelungen ist - das wurde schon angesprochen, es war nicht einfach für sie -, dieses Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Ich denke, das ist eine große Leistung, die gewürdigt werden muß.
Dies ist um so mehr zu würdigen, als eben wenige Tage vor der Wahl die hier zur Debatte stehenden Reden in Nürnberg gehalten worden sind. Von denen ist eben doch nicht nur zu sagen, daß es das gleiche war wie immer - wobei das, ehrlich gesagt, manchmal ja schon schlimm genug sein kann -, sondern es sind dann doch ein paar Dinge zur Sprache gekommen, die ich für ausgesprochen problematisch halte.
- Ich komme gleich darauf.
Ich glaube, daß genau so den Republikanern und Kommunisten in die Hände gespielt wird, und genau das wollen wir nun wahrhaftig alle nicht. Auch das haben Sie selbst und Herr Stoiber zum Ausdruck gebracht.
Sie fragen, was ich zitiere. Ich möchte auf den Punkt zu sprechen kommen, den dankenswerterweise der Kollege Irmer zuletzt angesprochen hat. Es geht um die Frage Europa. Wenn Herr Waigel fragt, „kann Europa entstehen ohne Gerechtigkeit für alle Europäer?",
dann ist ja die Frage, was damit gemeint ist. Ich vermute, er meint damit, daß das zum Beispiel nicht geschehen kann, ohne daß endlich die nationalsozialistischen Opfer in der Tschechischen Republik von Deutschland entschädigt werden; denn das steht nun wahrhaftig schon seit langem an, und hier haben wir versagt und niemand anderes.
Markus Meckel
Aber es ist durch den Zusammenhang deutlich, daß dies genau nicht gemeint ist. Hier kann man die Rede von Herrn Stoiber dazunehmen, der es an dieser Stelle sehr deutlich macht, wenn er sagt, daß diese Fragen offensichtlich bei den Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union auf die Tagesordnung kommen sollen. Soll denn der EU-Beitritt mit diesen offenen Fragen belastet werden? So fragt er an dieser Stelle.
Ich möchte dann doch sagen, das klingt wie eine Erpressung der Tschechischen Republik bei den Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union.
Dies halte ich nun wirklich für nicht verträglich. Die Tschechische Republik ist ein demokratischer Staat, ein Rechtsstaat, auch wenn die Rechtsprechung der Verfassungsorgane manchmal nicht gefällt, weder manchen Tschechen noch uns selbst.
Wir haben diese Schwierigkeit ja auch in Deutschland, und, ich glaube, gerade in Bayern kann man dies sagen. Da hatten wir in der letzten Zeit so manche Diskussion über das Verhältnis Bayerns zu dem, was Bundesorgane und auch das Bundesverfassungsgericht beschließen. Darüber wird offensichtlich gestritten. Ich möchte die alten Debatten in Deutschland und zu Bayern hier nicht aufheben.
Die Frage der Beněs-Dekrete kann jedenfalls offensichtlich nicht gemeint sein;
denn es ist angesprochen worden, daß auch schon heute klar ist, aus den Beneš-Dekreten folgen keine aktuellen Rechtsakte mehr. Hier gibt es eine ganz klare Vergleichbarkeit mit dem Münchener Abkommen, das wir ja auch nicht von Anfang an für null und nichtig erklären können, weil es eine Frage der sich darauf gründenden Rechtsakte ist. Genauso ist das für die Teschechen. Darauf müssen wir uns einstellen, und ich denke, darauf können wir uns einstellen.
Dann ist natürlich die Frage, was Heimatrecht heißt, egal, ob man es möglich machen kann. Da gibt es ja durchaus eine tschechische Bereitschaft, hier auf manches einzugehen. Die Frage des Heimatrechtes darf jedenfalls kein Hindernis für den Beitritt zur Europäischen Union sein. Denn daß dann gegenseitig die Niederlassungsfreiheit bestehen wird, ist auch ohne Frage.
Ich denke, es ist wichtig, von diesem Hause das klare Signal ausgehen zu lassen, daß wirklich gilt, was Anfang der 90er Jahre sehr deutlich gesagt wurde und auch sonst immer von uns beschworen wird: Die Deutschen treten dafür ein, und zwar vorbehaltlos, daß die Tschechen um die Jahrtausendwende zur Europäischen Union gehören sollen.
Das jedenfalls ist unsere feste Meinung.
Die Reden, in denen gesagt wird, wir sind weitergekommen, haben wir schon vor Monaten gehört. Es wird immer gesagt: Wir kommen voran, und wir hoffen, bald zum Abschluß zu kommen. Ich erwarte, daß die Dinge endlich so zum Abschluß gebracht werden, auch wenn wir alle wissen, daß die Probleme damit nicht aufhören werden. Mit einer solchen Erklärung wird keine Heilserwartung zu verbinden sein.
Zu der Einbeziehung in die Verhandlungen möchte ich noch einmal bestätigen, daß auch jetzt schon eine Einbeziehung da ist. Man kann nicht einfach den Anschein erwecken, daß zusätzlich etwas geschehen muß. Der Außenminister hat bestätigt, daß die Gespräche ständig stattfinden.
Man muß fragen, ob aus der Art, wie einbezogen wird, in der Vergangenheit eher eine Blockade erwachsen ist. Deshalb ist es mein deutlicher Wille, daß wir mit der Erklärung vorankommen und daß endlich das, was in der Bevölkerung im Wachsen ist, von uns, von Regierung und Parlament, weiter vorangetrieben wird.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Freiherr von Schorlemer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte über diese Aktuelle Stunde die Worte Verantwortungsbewußtsein und Besonnenheit setzen und deshalb zu zwei Vorrednern zwei Bemerkungen machen.
Erstens. Herr Kollege Meckel, ich habe aus Ihren Worten leider den Eindruck gewonnen, daß hier eher eine Art Verleumdungsinszenierung stattfinden sollte, als daß wirklich Zitate aus der Rede unseres Finanzministers angeführt wurden.
Zweitens. Herr Zwerenz, Sie und Ihre politischen Freunde müssen die Frage beantworten: Welche Panzer sind denn 1968 in Prag eingerollt?
Reinhard Freiherr von Schorlemer
Ich empfehle uns allen, die Rede des Finanzministers sorgfältig zu lesen. Ich werde jetzt einige Zitate anführen. Er sagt dort:
Am Ende der 90er Jahre ist eine Reihe von politischen Visionen dieses Jahrhunderts Realität oder zumindest realisierbar geworden: die Vision der deutschen Heimatvertriebenen, die in einer gemeinsamen europäischen Zukunft den einzigen Weg sahen, millionenfaches Unrecht zu überwinden und das Heimatrecht für alle Menschen zu verwirklichen.
Es heißt weiter:
Die Sudetendeutschen haben Brücken nach Osten gebaut.
Er führt weiter aus:
Sie handeln damit gemäß der Selbstverpflichtung in der Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahre 1950. In diesem großartigen und für die Welt beispielgebenden Dokument haben die Vertriebenen, noch unter dem Eindruck der Not, des Elends und der Grausamkeit der Vertreibung, auf Rache und Revanche verzichtet.
Er führt in seiner Rede weiter aus:
Dabei weiß jeder: Kein Tscheche braucht Angst zu haben, dabei Haus und Hof zu verlieren.
Er fügt weiter hinzu:
Die Anerkennung des Rechts auf Heimat beinhaltet etwas anderes: Es geht um den zutiefst im natürlichen Recht eines jeden Menschen wurzelnden Anspruch darauf, dort leben zu können, wohin er eine innere Verbindung hat.
Er verweist dann auf die Erfahrungen des deutschfranzösischen Weges zu dieser gemeinsamen hervorragenden nachbarschaftlichen Beziehung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hatte Gelegenheit, anläßlich des Parteitages der ODA im März in Prag im Beisein von Herrn Klaus sagen zu dürfen: Diese deutsch-tschechische Vereinbarung muß vor der Geschichte und damit vor den Deutschen, den Tschechen und - das füge ich hinzu - den Sudetendeutschen Bestand haben.
Ich glaube fest daran: Dies wird uns gelingen. Die CDU will eine solche Vereinbarung auch vor den entscheidenden EU-Aufnahmeverhandlungen. Sie will diese Vereinbarung insbesondere, weil wir durch das gegenseitige Vergeben am Ende dieses Jahrhunderts und Jahrtausends ein neues Fundament für ein versöhntes Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen erreichen wollen.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß lassen Sie mich folgendes sagen: Ich bin davon überzeugt, daß sich das deutsch-tschechische Verhältnis, das ein gutes Verhältnis ist, weiterentwickeln wird. Denn, so formulierte es - auch in Nürnberg - der bayerische Ministerpräsident Stoiber:
Wir wollen doch gemeinsam eine Erklärung zustande bringen, die nicht wieder vieles offenläßt, sondern die Bestand hat - Bestand vor der Geschichte, Bestand vor den Deutschen, den Sudetendeutschen, den Tschechen, die Bestand hat in Europa. Nicht banale Schlußstricherklärungen haben Bestand, sondern Gesten und Worte, die im Wissen um die Vergangenheit und im Willen, geschlagene Wunden zu heilen, in die Zukunft weisen.
Als nächster der Kollege Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Waigel, einem Satz, den Sie in Nürnberg gesprochen haben - mindestens einem; es gibt auch andere, ich muß das freimütig sagen - kann ich zustimmen. Sie sagen: Nach vorne muß der Blick gerichtet sein. Lieber Kollege Dr. Waigel, darüber ließe sich wohl und trefflich streiten, was das denn bedeutet. Aber dann lese ich den Satz genau, auf den es mir ankommt; das ist der Satz, den Sie zusätzlich gesagt haben. Ich zitiere ihn, damit es auch einmal im Protokoll steht.
- Endlich mal einer, Herr Vizepräsident. - Sie sprechen in Nürnberg über die Verbrechen, die Tschechen an Deutschen begangen haben, richten, wie Sie sagen, „unsere klare Forderung" an die tschechische Seite, und dann heißt es:
Ein solches Bekenntnis und ein Wort des Bedauerns wären gleichzeitig ein weiteres Stück Annäherung an den europäischen Rechtsstandard.
- Alle, die jetzt klatschen, sollten sich doch bitte genau überlegen, wie das bei denen ankommen muß, die in der Tschechischen Republik seit vielen Jahren, seit 1979 mindestens, eine ernsthafte, schmerzhafte, schonungslose Debatte über die eigene Schuld führen, die bewirkt hat, daß es eine Übereinkunft bei all denen gibt, die in Prag unsere Partner in den zentralen Fragen sind und die sagen: Wir haben uns selbst aus Europa vertrieben, als wir die Deutschen, die Sudetendeutschen, aus der Tschechoslowakei vertrieben haben.
- Das ist ein Zitat von Erazim Kohak. - Es ist doch nicht zu leugnen, Herr Dr. Waigel, daß es diese ernst-
Gert Weisskirchen
hafte, schwierige, harte, schonungslose Debatte innerhalb der Tschechischen Republik gibt.
Hat nicht der tschechische, damals noch tschechoslowakische Präsident Václav Havel, kurz nachdem er gewählt worden war, als erstes eine Reise nach München unternommen und Worte des Bedauerns ausgesprochen? Er hat sich entschuldigt.
- Ja, als Präsident, und später hat er auch als tschechischer Präsident zum Ausdruck gebracht, daß er verurteile, was geschehen ist, daß es unmoralisch gewesen sei, was mit Sudetendeutschen geschehen ist.
Herr Dr. Waigel, der Duktus der Rede, die Sie in Nürnberg gehalten haben, hat einen ganz anderen Eindruck vermitteln können. Vielleicht wollten Sie es nicht. Aber sie hat ihn für diejenigen in der Tschechischen Republik vermitteln können, die Sorge um die weitere Entwicklung ihrer eigenen Demokratie haben. Sie haben nämlich den Eindruck erwecken können, als gäbe es diese Debatte gar nicht, als gäbe es gar nicht diese ernsthafte, schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld.
Das, Herr Dr. Waigel, werfe ich Ihnen vor. Niemals mehr darf es deutsche Außenpolitik geben, die den Maßstab an andere richtet, wie sie sich zu verhalten haben, wenn es um die Integration Europas geht. Das darf nie der Fall sein.
Darum geht es, Herr Dr. Waigel.
Schauen Sie: Diese Tschechische Republik ist eine ganz junge Demokratie. Sie hat es äußerst schwer, sich zu entwickeln. Die inneren Grundlagen, das Fundament der zivilen Gesellschaft, sind erst im Entstehen begriffen. Wie kann denn dann die Haltung so mißverständlich sein? Ich will gar nicht sagen, daß Sie selbst diesen Eindruck erwecken wollten.
So mißverständlich auch manche Reden von Sudetendeutschen Landsmannschaftsfunktionären sind, -
lieber Herr Dr. Waigel, ich bitte Sie herzlich: Lassen Sie sich nicht zur Geisel von rückwärtsgewandten Funktionären, von kleinen Gruppen der Sudetendeutschen Landsmannschaft machen! Lassen Sie das bitte nicht zu!
7 000 Deutsche sind seit 1991 in die Tschechische Republik zurückgekehrt. Das sind die wirklichen
Vorboten eines Zusammenwachsens von Deutschen und Tschechen von innen und von unten.
Wir sollten alles dazu beitragen, daß dieses Zusammenwachsen durch keine Reden gestört wird.
Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt J. Rossmanith.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gäbe es nicht die Begründung für diese Aktuelle Stunde, wäre ich an sich sehr dankbar für diese Debatte; denn der heutige Tag, der 14. Juni 1996, ist für mich und meine Familie ein bewegendes Datum.
Exakt vor 50 Jahren, am 14. Juni 1946, wurde meine Familie aus ihrer Heimat vertrieben - mein Vater, gerade aus dem tschechischen KZ entlassen, meine Mutter mit acht Kindern im Alter von 2 bis 16 Jahren. Da damals natürlich die Verwaltung funktionieren mußte, wurde dem jüngsten Kind - mir - im „Ausweisungsschein für alle Deutschen, Magyaren und sonstigen Verbrecher der Tschechoslowakischen Republik" die Berufsbezeichnung „Baby" verliehen.
Wenn wir heute über die Rede des Bundesministers Dr. Theo Waigel auf dem Sudetendeutschen Tag reden, die er in seiner Eigenschaft als CSU-Parteivorsitzender gehalten hat, müssen wir mit berücksichtigen, daß natürlich die Gestaltung einer friedlichen europäischen Zukunft auch die Wahrung des Rechts und damit das Eingeständnis von Unrecht voraussetzt.
Wenn Sie, Herr Kollege Verheugen, beklagen, daß angeblich niemand von der Unionsseite oder auch von den Vertriebenen und der Sudetendeutschen Landsmannschaft jeweils ein Wort der Entschuldigung oder des Bedauerns ausgedrückt haben,
darf ich Sie nicht nur auf die Charta der Vertriebenen vom 5. August 1950, sondern auch auf das verweisen, was der CSU-Vorsitzende Theo Waigel auf dem Sudetendeutschen Tag gesagt hat. Es wäre schön gewesen, Herr Kollege Weisskirchen, Sie hätten dieses Zitat ebenfalls gebracht.
Deswegen zitiere ich jetzt Herrn Dr. Waigel. Er hat, an das anschließend, was der Kollege Weisskirchen vorgetragen hat, gesagt:
Es geht nicht um die Relativierung deutscher Schuld. Wir stehen fassungslos in den Ruinen von Lidice. Trauer und Scham beherrschen uns, wenn wir an die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft in Böhmen und Mähren denken. Wir bitten
Kurt J. Rossmanith
um Verzeihung für das Leid, das so vielen im deutschen Namen angetan wurde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, historische Wahrheiten sind nun einmal so, wie sie sind. Man kann sie nicht beliebig verändern. Sie sind Voraussetzung dafür, daß wir uns der Zukunft zuwenden können. Wenn ich weiß, woher ich komme, kann ich auch sagen, wohin ich eigentlich gehen will.
Zur historischen Wahrheit gehört, daß eine Vertreibung stattgefunden hat, keine Abschiebung, kein Transfer, keine Aussiedlung.
Wieso ist denn das so schwierig mit den Beneš-Dekreten, mit dem Amnestiegesetz? Ich verlange doch nicht von der tschechischen Seite, daß sie das, was alles gefordert wird, erfüllt. Ich verstehe ja die Zwänge. Aber wieso kann man nicht so, wie wir es über das Münchener Abkommen gesagt haben - obwohl ich das eine mit dem anderen nicht vergleichen möchte -, erklären, daß das für uns heute nicht mehr gültig ist? Herr Kollege Meckel, Sie haben die Außenrechtsposition hier angesprochen.
Wieso ist es für die tschechischen Abgeordneten und das tschechische Parlament nicht möglich zu sagen, daß dieses Amnestiegesetz - das wirklich ein Verbrechensgesetz war, denn es hat alle Verbrechen an den Deutschen sanktioniert - und daß die BenešDekrete heute für die tschechische Seite nicht mehr gültig sind? Das würde uns doch schon genügen. Das wäre doch ein Stück Vergangenheitsbewältigung und Blick in die Zukunft.
Geist und Text dieser Beneš-Dekrete - das muß uns immer wieder in Erinnerung gerufen werden - stehen in einem absoluten Widerspruch zur Charta der Menschenrechte, denn sie enthalten eine schwerwiegende Diskriminierung und eine kollektive Schuldzuweisung gegenüber einem ganzen Volk.
Deshalb bin ich allen dankbar. Ich bin dankbar für die Worte, die auf dem Sudetendeutschen Tag gefallen sind. Ich danke Herrn Bundesminister Dr. Waigel für diese Aussagen, die er dort getroffen hat. Ich danke allen, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind und zu ihrer Verantwortung stehen.
Ich danke auch den sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen, die sich in der Seliger-Gemeinde - ich darf hier nur einmal Volkmar Gabert nennen - auch dieser Verantwortung stellen. Gerade die Sudetendeutschen, die jahrhundertelang mit den Tschechen Seite an Seite miteinander gelebt haben, die dieses Land und die Kultur mitgestaltet haben, betreiben diese Aussöhnung seit vielen, vielen Jahren.
Gehen Sie in die Heimatgemeinden, schauen Sie, was dort an Kultur, was an direktem persönlichem Austausch stattfindet. Das sind die Sudetendeutschen, und sie muß man bei diesen Gesprächen zumindest anhören und ihre Meinung erfragen. Sie sind die Betroffenen, sie sind diejenigen, die vor 50 Jahren Haus und Hof verloren haben, die ausgetrieben wurden und die dabei ihre Menschenwürde mit Füßen treten lassen mußten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Ernstberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach christlichem Verständnis ist normalerweise Pfingsten der Zeitpunkt, an dem der Geist und die Kraft des Herrn über die Menschen ausgeschüttet wird.
Sieht man die Rede unseres CSU-Bundesfinanzministers auf dem Pfingsttreffen der Sudetendeutschen Landsmannschaft als Anhaltspunkt hierfür, so muß ich einfach bemerken, daß uns diese Hoffnung leider getrogen hat.
Als pfingstlicher Sonntagsredner hat nämlich Herr Waigel als Mitglied der Bundesregierung
Worte gefunden - Samstag, gut -, die man üblicherweise von den Berufsfunktionären der Vertriebenen gewöhnt ist.
Waren die Forderungen an Prag, die Vertreibung als Verstoß gegen das Völkerrecht anzuerkennen, sowie der Wunsch, den Vertriebenen in der Tschechischen Republik ein Heimatrecht zuzugestehen, wirklich nicht neu, so frage ich mich aber, welche politische Absicht, welches politische Kalkül den Bundesfinanzminister dazu getrieben hat,
in so ultimativer Form Prag damit zu drohen, daß bei einer Nichterfüllung der Forderungen der mögliche EU-Beitritt Tschechiens gefährdet sei.
Es ist für mich unerträglich und spricht eigentlich von einer fehlenden Sensibilität
Petra Ernstberger
für dieses fragile, junge Verhältnis zwischen den Deutschen und den Tschechen, wenn Herr Waigel
den angestrebten Beitritt von solchen Bedingungen abhängig macht.
Kommunikation hat nämlich immer zwei Seiten, nämlich die eine, was man sagt, und die andere, wie sie ankommt.
Wer zuviel und zu schnell nach tschechischen Unterwerfungserklärungen zum Unrecht der Vertreibung und zum Heimatrecht der Sudetendeutschen verlangt, heizt bei den Tschechen ablehnende, ja zum Teil auch feindselige Gefühle an und provoziert deren Angst vor den Ansprüchen zurückkehrender Deutscher.
Befürchtungen bekommen nämlich gerade dadurch Nahrung, daß die Deutschen dort zu einem Staat im Staate werden würden, wenn man ihnen die Rückkehr und gleichzeitig auch einen Teil an Autonomie zusprechen würde.
Daß diese Konsequenzen der Realität entsprechen, erlebe ich ganz unmittelbar in meinem Wahlkreis, der in einem langen Stück an die Tschechische Republik angrenzt. Ich glaube, daß bei der letzten Wahl in der Tschechischen Republik die Saat in den Grenzregionen aufgegangen ist. Erreichten doch die rechtsradikalen Republikaner in Westböhmen schon im Vergleich zu den Wahlergebnissen in Gesamttschechien 10 Prozent, so wurden sie in der Kreisstadt Eger als dritte politische Kraft mit erschütternden 12,35 Prozent der Stimmen gewählt.
Die antideutsche Stimmung wird derweilen durch rechtsradikale tschechische Republikaner in Westböhmen auch nach der Wahl weiter geschürt. So schlug der Pilsener Abgeordnete Josef Krejsa ganz schön schrille Töne an:
Jetzt kommen die Sudetendeutschen massenhaft ins tschechische Grenzgebiet zurück, Arbeitslosigkeit und Preise werden drastisch steigen.
Rechtsradikale Tschechen und Herr Waigel spielen sich hier doch gegenseitig Bälle in die Hände.
Sehen Sie eigentlich so die Formen des Aufeinanderzugehens und des Abbaus von Vorurteilen? - Nein, ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Solche Äußerungen von einem hochrangigen Mitglied dieser Bundesregierung
konterkarieren die zahlreichen und vielseitigen Bemühungen gerade der Euregiones an den Grenzen. Solche Äußerungen zerstören die zarten Pflänzchen der Zusammenarbeit in den grenznahen Gebieten.
Sie zerstören das mittlerweile gewachsene, gute Klima der Kooperation,
der menschlichen, nachbarschaftlichen Nähe, der Zusammenarbeit in den Bereichen Sport, Kultur und Jugend.
Solche Äußerungen sind für mich schallende Ohrfeigen für all die Seiten, die in den letzten 40 Jahren voneinander getrennt waren und jetzt engagiert und guten Willens sind, Verständigung und Annäherung in diesem Bereich vorwärtszubringen.
Lassen wir es nicht zu - wie es die „Frankfurter Rundschau" kommentiert -, daß durch „das Herumtrampeln zweier Pfingstochsen in höchsten Regierungsämtern" die Zusammenarbeit der sich entwikkelnden Euregiones zerstört wird. Das tägliche aktive Handeln darf durch Worte nicht einfach kaputtgemacht werden.
Ich erteile dem Abgeordneten Karl Lamers das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, der letzte Beitrag hat in besonders plumper und - ich scheue mich nicht, es zu sagen - widerlicher Weise deutlich gemacht,
daß es hier nur um eines geht: um eine infame Verleumdung des Kollegen Waigel.
Sie haben in Ihrer Rede nichts vorgebracht, was einen einzigen Ihrer Sätze rechtfertigte. -Sie haben Herrn Waigel überhaupt nicht zitiert.
Die Sätze, die von dem Kollegen Weisskirchen endlich einmal zitiert worden sind, rechtfertigen nicht einmal annäherungsweise das, was Sie hier vorgetragen haben.
Die Kollegen kennen mich gut genug, um zu wissen, daß es lange dauert, bis ich solche Sätze sage. Ich verstehe nicht, wie man Sie hat reden lassen kön-
Karl Lamers
nen. Ich muß es wirklich sagen. Es ist mir wirklich unverständlich.
Wenn es uns wirklich um das deutsch-tschechische Verhältnis geht, dann war die ganze Veranstaltung überflüssig, Herr Kollege Verheugen. Es ist ja in der Tat so: Durch das Wahlergebnis in Tschechien sind die Dinge auf der tschechischen Seite etwas schwieriger geworden. Wenn Sie recht haben sollten, ist das nicht der Fall. Um so besser! Aber eine solche Befürchtung gibt es doch. Deshalb sollten wir, die wir uns in der Regel bislang bemüht haben, dieses Thema sehr, sehr behutsam behandeln.
Frau Kollegin Vollmer, ich bin wirklich dankbar, daß ich Sie wieder ansprechen kann. Sie haben etwas Falsches gesagt, aber vor einem richtigen Hintergrund. Sie haben die CSU aufgefordert, endlich ihre Rolle zu spielen. Die CSU spielt ihre Rolle.
- Ja, das weiß jeder. Sie wissen das auch; Sie wissen das sehr gut. Das wissen auch manche Kollegen in der SPD. Jedermann weiß, daß diese Rolle keine ganz leichte ist.
Ich finde, vor diesem Hintergrund hat der Bundesfinanzminister als Vorsitzender der CSU auf dem Sudetendeutschen Tag eine hervorragende Rede gehalten.
Ich habe mir die Zitate, die er gebracht hat, alle angestrichen. Er hat mir die Rede übrigens sofort geschickt,
weil ich am nächsten Tag manche Anfragen hatte - übrigens dieses Mal nur von Journalisten von deutschen Zeitungen. Sie alle habe ich gefragt: Wo gibt es denn die große Aufregung in Prag? Die Aufregung haben Sie hier in Deutschland zu inszenieren versucht. In Prag hat es sie nicht gegeben.
Ich habe aus dem zitiert, was Kollege Waigel gesagt hat. Darauf haben viele Journalisten gemeint: Eigentlich lohnt es sich gar nicht, darüber etwas zu schreiben.
Es stehen wunderbare Sätze in dieser Rede, Sätze von Wärme und Verständnis getragen.
- Diese Kollegin hat die Rede nicht gelesen.
Sonst müßte ich ihr etwas unterstellen, was ich ihr gar nicht unterstellen darf, jedenfalls nicht öffentlich.
Ich muß schon sagen: Das ist nicht in Ordnung. Das, was Sie hier versucht haben, ist wirklich nicht in Ordnung.
Nun lassen Sie uns einen Strich unter die Angelegenheit ziehen! Lassen Sie uns das versuchen, so wie wir das in der Vergangenheit oft getan haben! Ich habe immer anerkannt, daß Sie sich bei Ihren sozialdemokratischen Freunden in Prag sehr darum bemüht haben, daß nicht die nationalistische Karte gezogen wird. Das ist Ihnen auch gelungen. Dafür danke ich Ihnen. Für die heutige Veranstaltung kann ich Ihnen nicht danken. Ich hoffe, daß ich Ihnen bei nächster Gelegenheit dafür danken kann, daß Sie nach diesem Ausrutscher, der völlig überflüssig war, wieder einen konstruktiven Beitrag geleistet haben.
Ich bedanke mich.
Herr Kollege Lamers, Sie haben nach dem Protokoll einem Kollegen dieses Hauses infame Verleumdung vorgeworfen.
Das ist kein Stil, den wir hier untereinander pflegen sollten. Ich empfehle Ihnen sehr, das in geeigneter Weise in Ordnung zu bringen.Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis d und die Zusatzpunkte 22 bis 26 auf:14. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs einesJahressteuergesetzes 1997 - Drucksache 13/4839 —Überweisungvorschlag:Finanzausschuß
SportausschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für VerkehrAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Albert Schmidt , Christine Scheel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Juni 1996 9889
Vizepräsident Dr. Burkhard HirschGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der künstlerischen und kulturellen Vielfalt bei Auftritten von Künstlern und Künstlerinnen, die ihren Wohnsitz im Ausland haben
- Drucksache 13/4750 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß InnenausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Scheel, Rita Grießhaber, Halo Saibold, Waltraud Schoppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVielfältige Kinderbetreuungseinrichtungen sichern- Drucksache 13/3990 -Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugendd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen gemäß § 12 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 für die Jahre 1993 bis 1996
- Drucksachen 13/2230, 13/4607)
Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Karl DillerOswald MetzgerZP22 Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Scheel, Franziska Eichstädt-Bohlig, Kristin Heyne, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer- Drucksache 13/4838 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
SportausschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für VerkehrAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Fremdenverkehr und TourismusHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO ZP23 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDSDen Reichtum umverteilen - Für eine gerechte Ausgestaltung der Erbschaftsbesteuerung- Drucksache 13/4845 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuuß
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend HaushaltsausschußZP24 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDAktionsprogramm gegen Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung- Drucksache 13/4859 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungZP25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oswald Metzger, Christine Scheel, Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinstieg in eine umfassende Gemeindefinanz- und Unternehmensteuerreform- Drucksache 13/4870 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß InnenausschußAusschuß für WirtschaftZP26 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz , Christine Scheel, Margareta Wolf (Frankfurt) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSolidaritätszuschlag weiter notwendig- Drucksache 13/4871 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Ausschuß für WirtschaftHaushaltsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Finanzen, Theodor Waigel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen bringen heute den Entwurf für das Jahressteuergesetz 1997 ein, einen Eckpfeiler für den künftigen Standort Deutschland.
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Das Jahressteuergesetz 1997 ergänzt die wichtigen Konsolidierungsmaßnahmen und Strukturreformen des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung. Dieses Programm ist unsere Antwort auf die aktuellen und künftigen Herausforderungen an den Standort Deutschland.
Die Konjunktur steht in Deutschland und in Europa an einem Scheideweg. Die Wachstumsvoraussetzungen sind weiterhin gut - die Wechselkurse haben sich für uns verbessert, die Löhne sind moderat, die Zinsen sind niedrig, der Export zieht wieder an -, auch wenn das Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorquartal noch um einen halben Prozentpunkt gesunken ist.
Erste konjunkturelle Frühlingsboten sind sichtbar. Ich denke an die Aufträge, das Geschäftsklima und die Produktion.
Die jetzt zu treffenden Entscheidungen geben die Richtung an, ob wir beim Wachstum abrutschen oder wie in den 80er Jahren auf einen Pfad langanhaltenden Wachstums einschwenken.
- Meine Damen und Herren, angesichts Ihrer Reaktion stellt sich die Frage, ob man an einer ernsthaften Debatte und einer Kooperation in einer entscheidenden Frage für die Zukunft Deutschlands mitwirken will oder ob man ein Spektakel veranstalten möchte.
Wenn Sie sich laut betätigen wollen, dann haben Sie morgen dazu Gelegenheit. Heute müssen Sie mit sachlichen Beiträgen aufwarten, und darauf sind wir gespannt.
Die Handlungsnotwendigkeiten liegen auf der Hand. Sie bestehen in einer Stärkung des Wachstums, in der Förderung von Investitionen, neuer Technologien und neuer Produkte, der Eroberung neuer Märkte und der Erhaltung und Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze in Deutschland.
Die Welt um uns herum ist weiß Gott nicht stehengeblieben. Globalisierung ist das Stichwort unserer Zeit. Viele unserer Konkurrenten auf den Weltmärkten haben die Zeichen der Zeit erkannt. In vielen Ländern wird mit zum Teil drastischen Konsolidierungsprogrammen in Höhe von 1 bis 2 BIP-Punkten pro Jahr die eigene Wirtschaft fit für das nächste Jahrhundert gemacht.
Österreich: jährliche Einsparungen von 1,4 BIP- Punkten; Maßnahmen: Null-Runden im öffentlichen Dienst, Einschnitte bei Pensionen, Renten und bei der Arbeitslosenversicherung.
Schweden: Der Haushalt soll bis 1998 ausgeglichen sein. Das erfordert Einsparungen von jährlich 1,1 BIP-Punkten. Die Maßnahmen lauten: Einsparungen und Kürzungen im Personal- und Sozialbereich.
Ich erinnere an Finnland. Allein 1996 sollen 1,9 BIP-Punkte eingespart werden. Die Maßnahmen lauten: Renten, Arbeitslosenunterstützung.
Die Niederlande: Bis 1998 sollen 23/4BIP-Punkte eingespart werden. Die Maßnahmen lauten: Einsparungen im Gesundheitswesen, bei Renten, Kindergeld, sonstigen Sozialleistungen; Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst: 1994 gab es eine nominale Null, 1995 0,5 Prozent und 1996 0,75 Prozent.
Wer, meine Damen und Herren, konsolidiert in diesen Ländern? Auch und vor allem gestandene Sozialdemokraten wie Wim Kok, Göran Persson, Franz Vranitzky und bis vor kurzem Felipe Gonzales.
In diese Reihe großer europäischer Sozialdemokraten können Sie, Herr Ministerpräsident Lafontaine, nicht eingereiht werden. Sie werden weder Ihrer Verantwortung als Ministerpräsident des Saarlandes noch Ihrer Verantwortung als Vorsitzender der SPD gerecht.
Sie sind auch persönlich für die Blockade von Einsparmaßnahmen für Bund und Länder im Bundesrat verantwortlich.
Dabei sollte gerade der Ministerpräsident des Saarlandes Interesse an einem starken und finanzkräftigen Bund haben; denn das Saarland lebt von einer kräftigen Bundeshilfe.
Es ist, Herr Ministerpräsident Lafontaine, scheinheilig, die Einhaltung des Maastricht-Fahrplans und der -Kriterien zu fordern und an einem Konsolidierungsprogramm nicht mitzuwirken, es zu torpedieren und zu blockieren.
Was ist das eigentlich für eine Strategie, den Wagen aus parteipolitischen Gründen an die Wand zu fahren und dann den Aufprall zu beklagen?
Die SPD hat als eine große Volkspartei mit Regierungsverantwortung in vielen Ländern die Pflicht, mehr an das Gemeinwohl als an parteipolitische Macht zu denken.
Europas führende Sozialdemokraten haben es längst begriffen: Soziale Verantwortung steht nicht im Widerspruch zur Konsolidierung.
Die gestrige Einigung in der Schlichtungskommission für den öffentlichen Dienst zeigt Verantwortungsbewußtsein. Das Ergebnis ist für die öffentlichen Kassen noch verkraftbar.
Es gibt keine ernsthafte Alternative für den Standort Deutschland zu unserer Politik. Die Staatsquote muß herunter, das Staatsdefizit muß sinken. Mittelfristig geht es um ein ausgeglichenes Budget. Schließlich geht es um die Reduzierung der Steuer- und Abgabenlast. Das Instrument dafür heißt Konsolidierung, und zwar Konsolidierung über die Ausgabenseite des Budgets.
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Das bedeutet: Einsparungen, Strukturreformen und Brechung der vorhandenen Ausgabenspiralen.
Konsolidierungspolitik bringt nach Auffassung fast aller Experten bereits kurzfristig eine stärkere Wachstumsdynamik. Konjunkturpolitik ist heute mehr denn je Psychologie; denn richtiges Handeln schafft Vertrauen, und Vertrauen zahlt sich über niedrige Zinsen und Preise in Mark und Pfennig aus. Der Internationale Währungsfonds und die OECD- Studien bestätigen, daß Konsolidierung nicht nur mittel- und langfristig der richtige Weg ist, sondern auch kurzfristig zu mehr Wachstum und zu mehr Beschäftigung führt. Wir haben das 1982/83 und in den folgenden Jahren sowie 1993/94 selbst in Deutschland erlebt.
Diese Konsolidierungsmaßnahmen sind keine sozialen Grausamkeiten. Nicht die Begrenzung sozialer Leistungen ist grausam, grausam ist es, die Finanzierbarkeit des Sozialsystems zu gefährden.
Nicht die Lockerung arbeitsrechtlicher Regulierungen ist grausam, grausam ist es, die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu blockieren.
Konsolidierung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Solide öffentliche Haushalte mit Spielräumen für Zukunftsaufgaben will nicht nur der Bundesfinanzminister, sondern auch jeder Landesfinanzminister. Darum ist ein nationaler Stabilitätspakt unverzichtbar. Der Bundesrat, die Bundesratsmehrheit, muß die gesamtstaatliche Verantwortung auch für Maastricht wahrnehmen.
Leider sind die Finanzminister der SPD vom Parteivorsitzenden Lafontaine und der Bundestagsfraktion der SPD offensichtlich an die ideologische Kette gelegt worden. Vollmundigen Äußerungen der SPD-Finanzminister auf dem Treffen von Krickenbeck folgte immerhin eine für die SPD fast revolutionäre Einsparliste von 38 Milliarden DM. Auf Beamtenebene hatten sich alle Länder auf ein 14-Milliarden-Paket geeinigt.
Dann kam die offensichtliche SPD-Weisung von oben: Nichts unterschreiben, Rücksicht auf die Großveranstaltung am Samstag!
Nur, die Chefideologen der SPD in Bund und Ländern haben den Ernst der Lage nicht begriffen. Bereits im Januar hatte der Finanzminister von BadenWürttemberg, Mayer-Vorfelder, eine erste Sparliste vorgelegt. Zeit war genug. Jetzt geht es wohl in den Herbst. Damit geht für den Konsolidierungsprozeß in den Ländern ein wichtiges Jahr verloren.
Die Verzögerungstaktik der SPD-Länder kann verheerende Folgen haben. Das ist dann ein „Merseburg" -Effekt für den Arbeitsmarkt. Ich zitiere den
SPD-Bundesgeschäftsführer Müntefering aus der Sonntagszeitung der FAZ vom 9. Juni:
Es gibt keine Sparliste der Länder ... Das ist nicht gewichtet, und es gibt keine Verbindlichkeit. Heiße Luft.
Hier wird doch deutlich, daß dies im diametralen Gegensatz auch zum Willen vieler SPD-Länder, SPD- Finanzminister und auch einiger SPD-Ministerpräsidenten steht. Darum bin ich froh, daß gestern endlich - spät, leider zu spät - der Auftrag der Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers an die Kollegen Voscherau und Diepgen, an den Kollegen Bohl und mich ergangen ist, ein Sparpaket zusammenzustellen und Gespräche über unseren Vorschlag aufzunehmen. Nur, das hätten wir schon vor Wochen und Monaten haben können, wenn Herr Lafontaine nicht seine parteipolitische Tour gefahren wäre.
Meine Damen und Herren, die Elemente des Jahressteuergesetzes sind: Vermögensteuer - es gibt hier eine klare Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts -, Freistellung des üblichen Gebrauchsvermögens, besondere Bedeutung des Betriebsvermögens und Belastungsobergrenze von 50 Prozent.
Die Vermögensteuer wird aus selbst versteuertem Einkommen bezahlt, in ertragsschwachen Jahren aus der Substanz. Die Vermögensteuer behindert gerade in der Startphase junger Unternehmen den Aufbau von Eigenkapital. Sie führt zu einer Doppelbesteuerung bei Körperschaften, zur Besteuerung auch beim Anteilseigner.
Die Entlastung des Faktors Kapital ist im internationalen Vergleich dringend notwendig. Die Kapitalrenditen in Deutschland sind vergleichsweise niedrig. Es gibt einen Wettbewerb um knappes Kapital, um Investitionen und Arbeitsplätze. Dieser Wettbewerb nimmt keine Rücksicht auf verteilungspolitische Ideologien in Deutschland. Die Vermögensteuer ist erhebungsaufwendig und kompliziert; es wäre ein Beitrag zur Steuervereinfachung und Entlastung der Verwaltung vor allen Dingen in den Ländern, wenn sie ganz wegfiele. Es ist kein Geschenk für die Reichen,
sondern ein wichtiger Impuls für Investitionen und Arbeitsplätze.
Bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer geht es um eine sozial verträgliche Neugestaltung.
Der Wegfall der privaten Vermögensteuer wird bei der Neuregelung der Erbschaft- und Schenkungsteuer berücksichtigt.
Wir wollen keine allgemeine Neubewertung des Grundbesitzes, sondern eine sogenannte Bedarfsbewertung. Es gibt eine deutliche Anhebung der persönlichen Freibeträge und eine Verdoppelung des Versorgungsfreibetrages.
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Wir wollen eine neue Tarifstruktur. Es soll nur noch drei Steuerklassen, andere Steuersätze, nur noch fünf statt 25 Wertstufen und eine deutliche Senkung der Höchststeuersätze geben.
Wir wollen vor allen Dingen eine Generationenbrücke für Betriebe, deren Existenz wir damit weiter festigen. Der Bewertungsabschlag für die die Freibeträge übersteigenden Vermögensteile wird verdoppelt.
Wie sehen nun die Vorschläge der SPD-Länder zur Vermögen- und Erbschaftsteuer aus? Es ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich:
Ein Freibetrag in Höhe von 300 000 DM soll das durchschnittliche Einfamilienhaus freistellen? Das ist nach meiner Überzeugung mit dem, was das Bundesverfassungsgericht dazu gesagt hat, nicht in Einklang zu bringen.
Eine Mehrbelastung für weite Teile der Wirtschaft durch milliardenschwere Steuererhöhungen ist doch geradezu Gift für die Industrie, Gift für das Wachstum, Gift für neue Arbeitsplätze in Deutschland.
Dazu kommt das wiederholte SPD-Gerede über eine Vermögensabgabe. Zwischenzeitlich haben Sie offensichtlich gemerkt, daß sie nicht mal verfassungskonform ist, und wollen für sie noch eine Verfassungsänderung. Welches Signal ist das für die internationale Finanzwelt, für nationale oder internationale Investoren, die in Deutschland Geld anlegen wollen! Es ist ein verheerendes Signal, das gegen Arbeitsplätze und gegen die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gerichtet ist.
Unser Programm enthält keine soziale Schieflage.
Die größte soziale Schieflage ist die Arbeitslosigkeit. Einer Behebung dieser Schieflage verweigern Sie sich.
Was müssen der österreichische Bundeskanzler Vranitzky und sein Finanzminister Klima oder sein früherer Finanzminister Lacina denken, wenn sie hören, wie Sie sich hier benehmen?
Denn die haben die Vermögensteuer abgeschafft, die haben die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft, werden daran festhalten und verstehen Sie und Ihre Ideologie nicht. Die haben halt mehr Verstand und
mehr im Kopf als Sie - so wie Sie hier im Moment diskutieren.
Fahren Sie doch nach Österreich; Reisen bildet. Oder lassen Sie über die Friedrich-Ebert-Stiftung Herrn Klima kommen und sich Nachhilfeunterricht in Steuerpolitik - zum Beispiel im Hinblick auf die Vermögensteuer - geben.
Meine Damen und Herren, wir haben seit 1990 Steuervergünstigungen in Höhe von 47 Milliarden DM abgebaut. Im Jahressteuergesetz 1997 werden die Sonderabschreibungen für Schiffe und Flugzeuge abgeschafft.
Zum Solidaritätszuschlag möchte ich sagen: Wir beginnen am 1. Januar kommenden Jahres mit der Senkung um einen Prozentpunkt.
Am 1. Januar 1998 folgt ein weiterer Prozentpunkt.
Wir wollen von den Ländern nicht mehr als das, was an Überfinanzierung festgelegt wurde, was bei der Vorwegauffüllung über die den Ländern zufließenden sieben Umsatzsteuer-Prozentpunkte hinausgeht. Genau das fordern wir für den Abbau des Solidaritätszuschlages zurück.
Wir haben gestern eine Diskussion über den Vorschlag des Abgeordneten Conradi, den Solidaritätszuschlag für höhere Einkommen auf 10 Prozent zu erhöhen, geführt. Man kann dies nur noch als ein Stück aus dem Panoptikum bezeichnen,
wenn man die internationale Situation und die Wirkung auf die Investoren in Deutschland berücksichtigt.
Negativ hat sich auch das RWI zu Ihrem Vorschlag hinsichtlich der Ökosteuer geäußert.
In unserem Vorschlag sind sonstige arbeitsplatzschaffende Elemente enthalten. Ich denke dabei an die privaten Haushalte als Arbeitgeber und an die Ansparabschreibung für Existenzgründer. Jeder Existenzgründer schafft im Durchschnitt vier Arbeitsplätze.
Auch die dritte Stufe der Unternehmensteuerreform ist entscheidend für neue Arbeitsplätze. Diese dritte Stufe - mit dem Wegfall der Gewerbekapitalsteuer, mit der Senkung der Gewerbeertragsteuer und mit der vollen Beteiligung der Kommunen an der
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Umsatzsteuer - könnte seit dem 1. Januar 1996 in Kraft sein. Sie, Herr Lafontaine, haben das verhindert. Das ist Ihre Schuld. Dieses Inkrafttreten wäre für unsere Wirtschaft wichtig gewesen.
Der Internationale Währungsfonds hat bei den Deutschlandkonsultationen die Verwirklichung dieses Plans dringend angemahnt.
Die Gewerbekapitalsteuer als international fast einmalige und substanzverzehrende Sonderbelastung muß fallen. Die Erleichterung für den Mittelstand durch die Senkung der Gewerbeertragsteuer muß erreicht werden.
Die verbundene Gemeindefinanzreform bedeutet zugleich einen qualitativen und quantitativen Sprung bei den Gemeindefinanzen.
Das SPD-Modell einer Ausdehnung der Gewerbesteuer, Revitalisierung genannt, ist keine Alternative.
Die Gewerbesteuer ist eine Kostensteuer. Ihre Ausdehnung würde zu einer drastischen Verteuerung freiberuflicher Leistungen beispielsweise im Gesundheitswesen führen.
Unser Ziel ist, mit der Steuerreform 1998/99 eine Senkung der Steuersätze mit einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage zu erreichen und damit auch einen entscheidenden Schritt zur Steuervereinfachung zu leisten.
Es geht um eine unvoreingenommene Prüfung aller Vorschläge. Sie müssen kalkulierbar sein, und sie müssen solide finanziert werden können.
Meine Damen und Herren, die Opposition muß Farbe bekennen. Wer sich bei den zentralen Aufgaben der Steuerpolitik verweigert, wer blockiert und bremst, ist direkt mitverantwortlich für niedriges Wachstum, niedrige Investitionen und eine andauernd hohe Arbeitslosigkeit in der Zukunft.
Am 29. April 1988 schrieb die „Zeit":
In nahezu allen Staaten der Europäischen Gemeinschaft und in den wichtigen Konkurrenzländern der Bundesrepublik auf den Weltmärkten sind die Regierungen dabei, die Steuerlast für ihre Unternehmen zu senken.
Das Kontrastprogramm der SPD-Kommission .. . paßt dazu wie die Faust aufs Auge ... Gegen den Strom sollte eine Opposition schon schwimmen, aber doch nicht gleich gegen den Rest der Welt.
Es grenzt an Realitätsverweigerung, die Probleme des Standorts Deutschland und die Anstrengungen anderer Länder, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, Schlichtweg zu negieren.
Es muß doch jedem klar sein: Nicht Verteilungspolitik, sondern Wachstumspolitik und Strukturreformen sind der Schlüssel zum Erfolg. Jeder, der sich jetzt dem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung verweigert oder es blockiert, übernimmt Verantwortung für eine schwere Hypothek des Standorts Deutschland.
Meine Damen und Herren, wenn die Sozialdemokraten sich als ernstzunehmender Faktor der deutschen Politik
behaupten wollen, dann sollten sie jetzt den Gang nach einem neuen Godesberg nicht zu spät beginnen. Rainer Barzel hat einmal gesagt: Wer sich versagt, versagt. Sie haben die Möglichkeit zu taktieren, Sie haben die Möglichkeit zu verzögern, Sie haben die Möglichkeit zu blockieren, und Sie können das Notwendige verhindern. Sie würden dann aber Ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen nicht gerecht. Sie würden vor sich und vor Ihrer Geschichte versagen. Das können Sie nicht wollen, und wir werden das verhindern.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Herr Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der jüngste Bericht der Europäischen Kommission über die „Steuern in der Europäischen Union" zeigt eine besorgniserregende Entwicklung: Überall in Europa wurde in den letzten Jahren die Arbeit immer höher belastet, die steuerliche Belastung des Kapitals ging immer weiter zurück. In Deutschland ist der Anteil der Unternehmensteuern am Gesamtsteueraufkommen von 1989 bis 1995 deutlich gesunken: von 14,3 Prozent auf 8,7 Prozent. Der Anteil der Lohnsteuer aber ist deutlich angestiegen: von 33,9 Prozent auf 37 Prozent.
Wir sind der Überzeugung, daß die Politik dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen darf.
Es wäre wünschenswert, wenn auch Sie, Herr Kollege Waigel, das begreifen würden, nachdem Sie so doziert haben. Die von der Europäischen Kommission festgestellte Überbelastung der Arbeit hat schwerwiegende Folgen: Die Arbeitslosigkeit steigt immer weiter an, der Marsch in die Schwarzarbeit geht immer weiter, die Einkommensverteilung wird immer ungerechter.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Deshalb müssen wir dafür sorgen, daß die Arbeit endlich entlastet wird.
Die Bundesregierung aber geht den falschen Weg. Sie will die Verbesserung des steuerlichen Grundfreibetrages zum 1. Januar 1997 verhindern. Ich sage noch einmal: Die Europäische Kommission stellt fest, daß die Arbeit viel zu hoch mit Steuern und Abgaben belastet ist. Das kann doch kein ernstzunehmender Mensch bestreiten. Insbesondere trifft das natürlich die unteren Einkommen. Daß wir vor einigen Monaten vereinbart haben, die unteren Einkommen über den Grundfreibetrag besonders zu entlasten - das geht natürlich durch den ganzen Tarif -, war eine vernünftige Maßnahme. Auch Sie haben dem zugestimmt. Ich sage: Grundlage muß sein, daß Vereinbarungen Bestand und Geltung haben. Sonst hat es doch gar keinen Sinn mehr, etwas zu vereinbaren.
Statt die Arbeit zu entlasten, wollen Sie die Vermögensteuer abschaffen. Sie haben hier noch einmal in herzerweichenden Worten dargelegt, was alles das für Wachstum und Beschäftigung bringe und wie notwendig das sei, und haben sich dann auf das Verfassungsgericht berufen. Das hätte ich an Ihrer Stelle nicht getan, Herr Kollege Waigel. Denn es ist in Ihrer Amtszeit als Finanzminister ein ganz bemerkenswerter Vorgang zu verzeichnen: Nicht mehr die Bundesregierung macht Finanzpolitik und Steuerpolitik, sondern das Bundesverfassungsgericht, das Sie ständig darauf hinweisen muß, daß Sie bei Familien, beim Existenzminimum und bei anderen Steuerfragen eine gegen die Verfassung gerichtete Finanzpolitik machen. Das ist ein völlig unerträglicher Zustand.
Sie haben dargelegt, daß der Vorschlag, eine Vermögensabgabe zu erheben, international von niemandem gebilligt würde. Aber Sie sollten zumindest wissen, was in der Europäischen Kommission los ist, Herr Kollege Waigel. Oder muß ich unterstellen, daß Sie bei den Beratungen des Ecofin-Rates immer Zeitung lesen oder etwas anderes tun?
Der Europäischen Kommission geht es um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. In dem Monti-Bericht „Steuern in der Europäischen Union" steht unter dem Kapitel „Beschäftigungsförderung":
Ausgabenkürzungen der öffentlichen Hand können zwar einen Beitrag leisten, sie dürften allein aber nicht ausreichen, eine Verringerung der steuerlichen Belastung der Arbeit im erforderlichen Maße, um Beschäftigung zu erreichen, zu finanzieren. Als alternative Finanzierungsquellen kommen indirekte Steuern, unter anderem auch die Besteuerung von Vermögen und Grundbesitz, in Betracht.
Nach Ihrer Rede, Herr Kollege Waigel, müßte das zu einer erheblichen Reaktion der Finanzmärkte führen. Es dürfte kein Kapital mehr in Europa angelegt werden. Lassen Sie doch solche fehlerhaften Behauptungen! Was die Kommission feststellt, ist ganz einfach die Wahrheit: Die Arbeitnehmer wurden immer stärker belastet. Wir haben die Pflicht und Schuldigkeit, diese Belastungen zurückzunehmen.
Statt mit einer ökologischen Steuerreform, wie sie die gesamte europäische Kommission fordert und wie sie viele Länder der Europäischen Gemeinschaft bereits angehen, die Lohnnebenkosten zu senken, läßt die Bundesregierung wider alle ökologische Vernunft das Sinken der Energiepreise zu.
Sie müssen erkennen: Die übermäßige Steuer- und Abgabenbelastung ist eines der größten Beschäftigungshindernisse in Deutschland. Sie haben ja recht, wenn Sie sagen, das Hauptproblem sei die Arbeitslosigkeit - dafür haben Sie Beifall des ganzen Hauses erhalten -,
aber wenn Sie die Arbeit immer weiter besteuern, werden Sie die Arbeitslosigkeit immer weiter steigern. Das ist der Zusammenhang.
Ursache für die Strukturverschiebung zu Lasten der Arbeit ist ein verhängnisvoller Wettbewerb der Staaten. Um Kapital und Arbeitsplätze im Lande zu halten oder ins eigene Land zu holen, werden die Unternehmensteuern immer weiter gesenkt. Weil die Mobilität der Arbeit geringer ist als die Mobilität des Kapitals, wird die Arbeit immer stärker belastet. Die Europäische Kommission auf die berufe ich mich - stellt zu Recht fest:
Die scheinbare Verteidigung der einzelstaatlichen Steuerhoheit hat durch Aushöhlung der Besteuerungsgrundlagen,
- dabei haben Sie erheblich mitgewirkt, Herr Kollege Waigel -
insbesondere bei den mobileren Steuergrundlagen, Schritt für Schritt einen realen Verlust an Steuerhoheit für jeden einzelnen Mitgliedstaat zugunsten der Märkte bewirkt. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, mußte jeder Mitgliedstaat bis zu einem gewissen Grade den Faktor Arbeit überbelasten, was wiederum unerwünschte gegenteilige Auswirkungen auf Beschäftigung und Einkommensverteilung hat.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Dieser Analyse ist voll und ganz zuzustimmen. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Grundlagen von Wohlstand und Beschäftigung zerstört werden. Deshalb müssen wir der Internationalisierung der Wirtschaft auch auf diesem Gebiet eine politische Antwort aller Staaten, insbesondere der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, entgegensetzen.
Der Bericht der Europäischen Kommission weist dafür den richtigen Weg. Wir brauchen in der Europäischen Union eine Steuerharmonisierung - bei den Unternehmensteuern, bei den Kapitalertragsteuern und bei den Umweltsteuern. Die Kommission denkt zu Recht daran, einen effektiven Mindeststeuersatz in der Europäischen Union einzuführen. Wir halten das für den richtigen Weg. Ich fordere daher die Bundesregierung auf: Tragen Sie dazu bei, daß die Vorschläge der Europäischen Kommission aufgegriffen werden! Sie sind der richtige Ansatz, um die Beschäftigungskrise in Europa zu überwinden.
Die ökonomischen Rahmenbedingungen werden vor allem vom Bund gesetzt. Deshalb sind Arbeitsmarktzahlen einer der wichtigsten Maßstäbe für den politischen Erfolg oder Mißerfolg einer Bundesregierung. Gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl der Arbeitslosen um 357 000 angestiegen. Noch niemals gab es in dieser Jahreszeit so viele Arbeitslose wie in diesem Jahr. In ganz Deutschland fehlen 6 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Das ist nun einmal auch das Ergebnis Ihrer falschen Politik.
Angesichts dieser Rekordarbeitslosigkeit stellen immer mehr Menschen fest, daß die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung gescheitert ist. Sie versagen bei der wichtigsten Aufgabe unseres Landes: die Menschen am Erwerbsleben zu beteiligen. Die hohe Arbeitslosigkeit ist ein Ergebnis Ihrer Politik. Schieben Sie das nicht immer anderen zu!
Es muß einen klaren Vorrang für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen geben. Alle Sparpakete ändern nichts an der Feststellung: Nur wenn die Arbeitslosigkeit überwunden wird, können die Staatsfinanzen saniert und die sozialen Sicherungssysteme stabilisiert werden. Ich wiederhole: Sie können noch so viele Kürzungspakete, Sparpakete und was immer vorlegen - nur wenn die Arbeitslosigkeit überwunden wird, können die Staatsfinanzen saniert und die sozialen Sicherungssysteme stabilisiert werden.
Herr Kollege Waigel, ich greife auch auf die Diskussion des gestrigen Tages zurück. Es ist ja notwendig, daß wir auf die Stabilität achten. Aber Sie sollten endlich erkennen - und auf der europäischen Ebene geeigneten Maßnahmen zustimmen -, daß wir jetzt in der gesamten Europäischen Union eine wirksame Beschäftigungspolitik, einen Beschäftigungspakt brauchen. Sonst werden Sie die Haushalte niemals in den Griff bekommen.
Nach den Feststellungen des Sachverständigenrates und der Wirtschaftsinstitute wird die Arbeitslosenzahl steigen, um 300 000. Noch nie in der Geschichte gab es so viele Arbeitslose, noch nie war die Staatsverschuldung so hoch, und noch niemals wurden die Arbeitnehmer so sehr mit Steuern und Abgaben belastet. Eine Politik, die solch verheerende Folgen hat, kann nicht richtig sein. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, was der Sachverständigenrat festgestellt hat:
Die Finanzpolitik hat zu der Wachstumsschwäche, die ihr über Steuerausfälle und höhere Ausgaben für die Finanzierung der Arbeitslosigkeit erheblich zu schaffen macht, zu einem nicht unerheblichen Teil selbst beigetragen.
Es war ja wirklich belustigend, mit anzuhören, daß Sie, Herr Kollege Waigel, dann sofort erklärt haben, Sie fühlten sich durch den Sachverständigenrat voll und ganz bestätigt. Karneval am Rhein! Wenn der Sachverständigenrat Ihnen ins Stammbuch schreibt, daß Ihre Finanzpolitik zu Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche beigetragen hat, dann fühlen Sie sich voll bestätigt. - Nein, voll bestätigt fühlen sich all diejenigen, die immer wieder darauf hingewiesen haben, daß Ihre Finanzpolitik die Grundlage hoher Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche ist.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Ziehen Sie die Konsequenzen, korrigieren Sie diese Politik! Mit Ihrer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik, die ja gut gemeint gewesen ist, haben Sie das Land in die Krise geführt. Ergreifen Sie endlich die notwendigen Maßnahmen, damit das Land nicht noch weiter in die Krise treibt!
Die Bundesanstalt für Arbeit hat darauf hingewiesen, daß die Ausbildungslücke in Deutschland immer größer wird. Die Schere zwischen den freien Ausbildungsstellen und der Zahl der Bewerber wird größer. In ganz Deutschland sind 430 000 junge Menschen ohne Arbeit. Arbeit und Ausbildung sind die Grundvoraussetzungen dafür, daß die jungen Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Darum müssen diese Zahlen für jeden verantwortlichen Politiker ein Alarmsignal sein.
Die Jugend ist die Zukunft unseres Landes. Deshalb sagen wir: Eine Politik, die diese Jugendarbeitslosigkeit tatenlos hinnimmt, ist verantwortungslos.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Wir müssen den jungen Menschen eine Chance geben.
Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um den jungen Menschen die Chance auf einen Arbeitsplatz oder einen Ausbildungsplatz zu geben. Deshalb fordern wir ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.
- Was soll dieser Zwischenruf „Wer bezahlt das?" ? Wenn Sie nicht endlich etwas gegen die Jugendarbeitslosigkeit tun, dann bezahlen wir alle das. Denn eine gutausgebildete Jugend ist die Zukunft unseres Landes.
13 Jahre der von Ihnen zu verantwortenden Politik haben unser Land in eine schwere Finanzkrise geführt.
Die Staatsverschuldung ist zu einer drückenden Last geworden. Durch die steigende Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte droht dem Staat die Handlungsunfähigkeit.
Es ist unstreitig, es muß gespart werden. Ich sage auch im Hinblick auf die morgige Demonstration: Die Menschen begreifen, daß gespart werden muß, aber die Frage ist, wie die Lasten verteilt werden.
Der Protest morgen ist ein Protest großer Teile der Bevölkerung gegen die soziale Ungerechtigkeit, die in den letzten Jahren zur Grundlage Ihrer Politik geworden ist.
Bei einer Staatsverschuldung von über 2 000 Milliarden DM und einer Rekordbelastung mit Steuern und Abgaben muß den Menschen gesagt werden: Die Ansprüche an den Staat müssen zurückgenommen werden. Vieles, was wünschbar wäre, ist nicht mehr finanzierbar. Die öffentlichen Haushalte müssen aus der Zinsfalle herauskommen.
Deshalb müssen wir Anstrengungen unternehmen, um das strukturelle Staatsdefizit abzubauen. Wir brauchen allerdings auch eine konjunkturgerechte Politik, die notwendige Sparmaßnahmen umsetzt, aber eine prozyklische Verschärfung des Abschwungs vermeidet.
Es ist wirklich nicht falsch zu sagen, daß wir bei allen unseren Entscheidungen auch noch die Konjunktur und die Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung berücksichtigen müssen. Rein fiskalische Gesichtspunkte sind auf Dauer nicht tragfähig.
Durch strukturelle Maßnahmen müssen wir die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung verbessern. An einem harten Sparkurs, der strukturell wirksam ist, führt kein Weg vorbei. Die knappen Kassen zwingen auch alle Ministerpräsidenten zu tiefgreifenden Einsparungen in allen Ländern.
Da in den Länderhaushalten die Personalausgaben den bei weitem größten Ausgabenblock bilden, muß die Konsolidierung hier ansetzen. Die Landeszentralbank Rheinland-Pfalz und Saarland hat kürzlich festgestellt, daß das von mir vertretene Land „in den 90er Jahren von allen westdeutschen Flächenstaaten den härtesten Sparkurs gefahren" hat.
- Meine Damen und Herren, ich zitiere. Wenn Ihnen das nicht gefällt, setzen Sie sich mit denen auseinander, die dieses festgestellt haben. Es gibt auch eine entsprechende Statistik dazu.
Meine Damen und Herren, es hat ja keinen. Sinn, daß Sie Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Ich will Ihnen einmal zwei Beispiele geben. Der Bundesfinanzminister hat hier stolz darüber schwadroniert, daß man die Ministerialzulage abschaffen oder bei den Beihilferegelungen im Beamtenrecht sparen könnte. Das ist in den Ländern längst geschehen. Tun Sie doch nicht so, als wenn Sie das Rad neu erfinden müßten!
Meine Damen und Herren, Sie haben das verschlafen, und zwar lange Jahre.
Die politische Auseinandersetzung geht also überhaupt nicht darum, daß gespart werden muß. Wir fordern jedoch, daß die Lasten gerecht verteilt werden. Bei Ihrer Politik ist die Lastenverteilung so extrem ungerecht, daß der soziale Friede zerstört wird.
Ihr Geschenk- und Kürzungspaket bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Stabilität unseres Landes. Deshalb trifft diese Politik der sozialen Ungerechtigkeit auf Widerstand. Da hilft es auch nicht, wenn der Kollege Schäuble sagt: Wir wollen dem Druck der Straße nicht nachgeben. Was soll denn diese verächtliche Sprache gegenüber Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, um von ihrem demokratischen Recht auf Demonstration Gebrauch zu machen!
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Die Länder haben Sparvorschläge gemacht. Die Bundesregierung geht darauf nicht ein. Wir schlagen einen durchgreifenden Abbau von Steuersubventionen vor, von denen die höheren Einkommen überproportional profitieren. Sie aber vertagen diese Maßnahmen mit unglaubwürdigen Steuermodellen immer weiter und verhindern, daß hier für Bund, Länder und Gemeinden Milliardeneinsparungen möglich sind und der Steuertarif korrigiert wird.
Es nützt doch nichts, daß wir für zwei Jahre wieder eine Operette aufgeführt bekommen, die darin besteht, daß F.D.P. und CDU sich mit Steuertarifsenkungsmodellen überbieten, von der Streichung von Steuersubventionen reden, aber genau wissen, daß in Wirklichkeit überhaupt nichts passiert, und das über Jahre.
Wir fordern strukturelle Sparmaßnahmen im Beamtenrecht, zum Beispiel leistungsorientierte Gehälter statt einer automatischen Anhebung nach Dienstalter. Wir plädieren zum Beispiel für eine Abschaffung der Ministerialzulage und eine Ausweitung der Teilzeitarbeit. Ich will nur ein Beispiel aufgreifen. Nachdem der Bundeskanzler jahrelang die Verlängerung der Arbeitszeit befürwortet hat, hat er irgendwann eine Kurswende eingeleitet, die wir für richtig halten, und gesagt: Wir brauchen in Deutschland mehr Teilzeitarbeitsplätze. Das ist richtig. Dem stimmen wir zu. Aber seit Jahren liegen Vorschläge im Bundesrat vor, um Teilzeitarbeit auch für Beamte einzuführen. Sie blockieren diese Vorschläge. Geben Sie diese Blockade endlich auf!
Der Bund weigert sich, den Versorgungsbericht vorzulegen, mit dem die Daten geliefert werden sollen, um die Pensionslasten der öffentlichen Haushalte zu verringern. Es war richtig rührend, Herr Kollege Waigel, als Sie den Sparkatalog der Beamten vorgetragen haben. Ich sage in aller Bescheidenheit: Politik müssen wir schon selbst machen, dafür sind wir gewählt; das können wir nicht an Beamte delegieren.
Wenn Sie Beamte auffordern, Vorschläge für Sparmaßnahmen vorzulegen, ist es menschlich verständlich, daß durchgreifende Reformen im Beamtenrecht nicht vorgeschlagen werden. Seien Sie etwas zurückhaltend mit Ihrem Lob, was diese Liste angeht! Wenn Sie die Länderhaushalte entlasten wollen - das könnte Ihnen Herr Kollege Stoiber, mit dem Sie ja in inniger Freundschaft verbunden sind, mitteilen -, müssen Sie im Beamtenrecht strukturelle Eingriffe vornehmen. Anders geht das nicht. Deshalb haben wir seit Jahren solche Vorschläge vorgelegt, die Sie immer blockiert haben.
- Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege Fischer: Mit dieser Regierung geht das nicht. Es ist ja interessant, die Politik dieser Regierung zu betrachten. Sie hat jahrelang Wahlkampagnen mit der Parole „Weiter so, Deutschland!" geführt. Jetzt ist sie bei der Parole gelandet „So kann es aber nicht weitergehen, Deutschland!" Da hat sie völlig recht. Wenn wir aber etwas verändern wollen, müssen wir hier bei dieser Regierung etwas verändern.
Wir fordern noch einmal eine Begrenzung des Aussiedlerzuzugs
nach den Möglichkeiten des Arbeitsmarktes und des Wohnungsmarktes. - Was heißt hier „Aha!", Herr Kollege Schäuble? Täuschen Sie nicht die Öffentlichkeit! Sie tun das doch auch. Sie haben, je nachdem, wie die Tagesaktualität ist, eine unehrliche Sprache.
Wir fordern ferner das Schließen des Fremdrentengesetzes. Die bisherigen Vorschläge der Bundesregierung - es gibt sie ja - sind für uns unzureichend. Das ist der Dissens.
Wir fordern die wirksame Bekämpfung von Subventionsbetrug und Steuerhinterziehung. Die Kapitalflucht nach Luxemburg und die Steuerhinterziehung bei Kapitalerträgen zeigen, daß es Ihnen an dem Willen fehlt, für die Durchsetzung von Recht und Gesetz zu sorgen. Das schimmerte auch vorhin bei der Rede des Bundesfinanzministers durch.
Eine der beliebtesten Formulierungen ist: „Kapital ist ein scheues Reh" . Dann schlagen alle möglichen Sachverständigen, wie Sie, Herr Kollege Waigel, vor, daß man das Kapital schonen und daß man im Gegenzug die Arbeitnehmer stärker belasten muß.
Meine Damen und Herren, wenn ich sehe, daß die Stars unserer Medienwelt ihre Steuern in Monaco oder sonstwo zahlen wollen, wenn ich sehe, daß einzelne Unternehmen stolz darauf sind, daß sie ihre Steuern ins Ausland verlagern, dann frage ich: Wo bleibt eigentlich die soziale Verantwortung in dieser Republik?
Das schafft Staatsverdrossenheit. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen nicht mehr ein, daß sie „Sonderrechte" in der Form genießen, daß sie brav ihre Steuern zahlen müssen, während diejenigen in dieser Republik noch beklatscht und bejubelt werden, die Steuern systematisch hinterziehen und ins Ausland abwandern.
Wir sind bereit, den Anstieg der Sozialhilfe am Zuwachs der Nettolöhne der Arbeitnehmer zu orientieren. Beim Asylbewerberleistungsgesetz sind wir für den Vorrang von Sach- vor Geldleistungen; wir ha-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
ben das gestern wieder besprochen. Es geht einfach nicht an, daß Sie diese notwendigen Entscheidungen dadurch blockieren, daß Sie sie in Artikelgesetzen mit zusätzlichen Belastungen für Länder und Gemeinden verbinden.
Geben Sie endlich diese Blockadepolitik - oder wie immer Sie Ihre Politik formulieren wollen - auf! Notwendige Sachentscheidungen dürfen nicht dadurch verhindert werden, daß man sie mit sachfremden Zusatzentscheidungen belastet.
Wir fordern einen Verzicht auf die geplante Abschaffung der Vermögensteuer. Allein das verbessert die Situation der Haushalte um 9 Milliarden DM. Ich sage noch einmal: Das Verfassungsgericht kann die Verfassung interpretieren und auslegen, aber es macht sie nicht.
Wenn Sie tatsächlich der Auffassung sind, daß bestimmte Entscheidungen dem Verfassungsgerichtsurteil entgegenstünden, ist das keine sachgemäße Antwort auf unsere Forderung, die größeren Vermögen stärker heranzuziehen, statt eine immer stärkere Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieser Republik zu bewirken.
Diese Ihre Politik zeigt: Es geht Ihnen gar nicht nur um das Sparen. Sie mißbrauchen das notwendige Sparen für eine weitere Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dazu aber werden wir die Hand nicht reichen. Wir werden dieser Politik Widerstand entgegensetzen.
Auch dürfen wir nicht sparen zu Lasten der Kinder. Glauben Sie mir: Die Kinder sind genau so viel wert wie die Vermögen in Deutschland. Glauben Sie mir das bitte! Sie sind wirklich so viel wert.
Es ist kurzsichtig und unverantwortlich, daß diese Bundesregierung den Familien mit Kindern die Erhöhung des Kindergeldes verweigern will. Sie reden immer von der Blockadepolitik des Bundesrates. Geben Sie endlich diese alberne Sprachregelung auf!
Wir haben vor einigen Monaten - und wir haben lange dazu verhandelt - vereinbart, den Grundfreibetrag bei den Steuern zu erhöhen, und wir haben weiter vereinbart, das Kindergeld zu erhöhen. Was muten Sie eigentlich dem Verfassungsorgan Bundesrat zu, wenn Vereinbarungen und Gesetze, die wir beschlossen haben, nach wenigen Monaten wieder in Frage gestellt werden?
Diese Behandlung weise ich für den gesamten Bundesrat zurück.
Daß Sie, obwohl Sie das Kindergeld nicht erhöhen wollen, gleichzeitig den Vermögensmillionären milliardenschwere Steuergeschenke machen wollen, ist für uns schamlos und empörend, und dabei bleibt es.
Wer die Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme in Ordnung bringen will, der muß vor allem für Wachstum und Beschäftigung sorgen. Die geplanten Eingriffe bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und beim Kündigungsschutz für Arbeitnehmer haben mit Wachstum und Beschäftigung nichts zu tun. Dadurch wird nur das Betriebsklima in Unternehmen und Verwaltungen gestört, Motivation und Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer werden belastet. Wir fordern Sie auf: Ziehen Sie diese Pläne aus dem Verkehr! Damit würden Sie dem Standort einen guten Dienst erweisen.
Es ist überhaupt interessant, daß Ihnen die Worte „Motivation" und „Leistung" immer nur ab einer bestimmten Einkommensgruppe einfallen, immer nur bei den ach so armen, ächzenden Managern von 1 Million DM Einkommen an aufwärts. Meine Damen und Herren, erkennen Sie endlich: Die Leistungsträger dieser Gesellschaft sind nicht nur die Bezieher ganz hoher Einkommen, es sind auch die Krankenschwestern und die Bauarbeiter, die Maschinenschlosser und die Handwerker. Das sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft, nicht nur die, die Sie immer nennen.
Wer Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaffen will, der muß die Steuer- und Abgabenlast auf Arbeit senken. Deshalb fordern wir eine sofortige Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten. - Wir sind da in Übereinstimmung mit der gesamten Europäischen Gemeinschaft. Bitte tun Sie endlich etwas!
Sie reden immer nur vom Senken der gesetzlichen Lohnnebenkosten, aber Sie erhöhen sie permanent. - Eine Senkung der Lohnnebenkosten entlastet alle Arbeitnehmer und alle Betriebe, und das schafft neue Arbeitsplätze in Mittelstand und Handwerk.
Wir fordern eine umfassende Steuerentlastung für Arbeitnehmer, das heißt zunächst die Verbesserung des Grundfreibetrages. Das kann aber nur ein erster Entlastungsschritt sein.
Die Bundesregierung hat in den letzten 13 Jahren aus dem deutschen Steuerrecht ein Steuerchaos gemacht.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Durch die vielen Steuerschlupflöcher ist das Steuersystem immer undurchschaubarer und immer ungerechter geworden. Das Steuerchaos der Bundesregierung zerstört das Vertrauen in unseren demokratischen Rechtsstaat. Deshalb muß jetzt endlich Ernst gemacht werden mit Steuervereinfachung und Steuergerechtigkeit.
Wir brauchen eine grundlegende Reform der Lohn- und Einkommensteuer, und zwar sofort. Der Grundsatz muß lauten: Absenkung der Steuersätze auf breiter Front und - im Gegenzug - Beseitigung von Steuerschlupflöchern und Steuersubventionen. Vor allem muß der Eingangssteuersatz endlich gesenkt werden.
Hier werfe ich mir vor, daß ich leider nicht blokkiert habe. Ich habe Sie immer wieder darauf hingewiesen, Herr Kollege Waigel, daß das gesellschafts- und sozialpolitisch ein wirklich verfehlter Steuersatz ist. Wir haben damals auf dem Kompromißwege zugestimmt. Ich werfe mir hier vor, daß ich das seinerzeit nicht blockiert, daß ich zugestimmt habe; denn dieser viel zu hohe Steuersatz führt jetzt mittlerweile dazu, daß die Schwarzarbeit immer weiter zunimmt und die Zahl der nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, der 590-Mark-Jobs, immer weiter ansteigt. Das kann doch nicht ernsthaft gewollt sein.
Der Eingangssteuersatz muß auf 20 Prozent gesenkt werden.
Nach 13 Jahren Regierungskoalition aus CDU, CSU und F.D.P. ist die Lastenverteilung in diesem Land aus dem Gleichgewicht geraten. Das sagt nicht nur die „böse" Opposition, das sagen auch viele Verbände und insbesondere die Kirchen, die auf Grund ihres Auftrags das Wort „soziale Verantwortung" nicht nur im Munde führen, sondern sich dafür einsetzen, daß sie in unserer Gesellschaft Wirklichkeit wird.
Wir wollen dafür sorgen, daß die soziale Symmetrie in Deutschland wiederhergestellt wird. Deshalb plädieren wir für einen gerechten Lastenausgleich. Das Privatvermögen hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt: Das private Geldvermögen beträgt über 4,3 Billionen DM, das private Grundvermögen über 6 Billionen DM.
Wir wollen die Vermögensmillionäre in unserem Land zu einem solidarischen Finanzierungsbeitrag heranziehen. Oswald von Nell-Breuning hat die Frage gestellt, ob es auf Dauer tragfähig sei, daß eine Generation sowohl die Jugend als auch die Rentner finanziert. Das war eine lange Diskussion. Wir haben nun zusätzlich die große Aufgabe, auch den Aufbau im Osten Deutschlands zu bewerkstelligen. In dieser Situation können Sie die Lasten nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufbürden. Das ist die große Schieflage Ihrer Politik.
Es ist wirtschaftspolitisch vernünftig, die Arbeitnehmer zu entlasten, denn das stärkt die Kaufkraft. Es ist auch sozial gerecht, denn es schafft einen gewissen Ausgleich dafür, daß es vor allem die Arbeitnehmer sind, die zur Finanzierung unseres Staates herangezogen werden.
Investitionen und Innovation sind die Schlüssel für neue und sichere Arbeitsplätze. Deshalb ist es wirtschaftspolitisch absurd, daß die Bundesregierung die Investitionsbedingungen in Deutschland verschlechtern will. Auch der F.D.P.-Parteitag kann nichts daran ändern, daß Sie die Investitionsbedingungen in Deutschland verschlechtern wollen. Der Parteitag war ja ein ganz nettes Gartenfest,
mit kabarettistischen Einlagen, aber es ändert nichts daran, daß Sie die Investitionsbedingungen in Deutschland verschlechtern wollen. Das ist doch die Faust aufs Auge. Ziehen Sie diesen törichten Vorschlag endlich zurück!
Sie wollen die Gewerbekapitalsteuer abschaffen und die Abschreibungsmöglichkeiten verschlechtern. Da in Deutschland nur 16 Prozent der Unternehmen die Gewerbekapitalsteuer bezahlen, heißt das: Kapitalstarke Großunternehmen, Banken und Versicherungen werden entlastet, aber alle Unternehmen, die investieren, werden belastet.
Aber in diesen Zusammenhang gehört der richtige Hinweis, daß Substanzsteuern an sich nicht vernünftig sind. Aber ehe die Substanzsteuern von Siemens oder BASF oder der Deutschen Bank Sie ständig beschweren, sollte es Sie beschweren, daß Ihre Steuer- und Abgabenpolitik vielen Einkommensschwachen an die Substanz geht. Darüber muß endlich einmal in Deutschland geredet werden!
Wir brauchen in Deutschland Investitionen für 6 Millionen neue Arbeitsplätze. Wer in dieser Lage die Investitionsbedingungen verschlechtern will, der zeigt nur - ich greife Ihre Sprache auf -, daß er vom Einmaleins der Wirtschaftspolitik nichts verstanden hat.
Mit Ihrem Kürzungspaket schafft die Bundesregierung neue soziale Konflikte und spaltet das Land. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung ist eine schwere Belastung für Deutschland. Mit ihrer jetzigen Politik beschädigen CDU, CSU und F.D.P. die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft. Dabei
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
vergessen Sie: Gesellschaftlicher Konsens und soziale Marktwirtschaft sind die Grundlagen für Wohlstand und soziale Sicherheit. Deshalb stehen wir nicht nur zur Marktwirtschaft, sondern wir stehen zur sozialen Marktwirtschaft. Wir werden das Soziale gegen all diejenigen verteidigen, die der Marktwirtschaft das Soziale rauben wollen.
In der Bevölkerung wachsen Widerstand und Protest. Morgen werden Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von diesem ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen. - Das ist nicht der Druck der Straße. Herr Kollege Schäuble, nehmen Sie dieses Wort zurück, auch wenn es geläufig ist! -
Sie werden hier nach Bonn kommen und deutlich machen, daß sie mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung nicht mehr einverstanden sind, weil diese eine unerträgliche soziale Schieflage hat.
Den Frauen und Männern, die morgen hier in Bonn für Arbeit und soziale Gerechtigkeit demonstrieren, gehören unsere Sympathie und unsere Solidarität.
Gemeinsam mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern machen wir deutlich: Wir wollen nicht hinnehmen, daß der soziale Friede in diesem Lande zerstört wird, und wir akzeptieren es nicht, daß die soziale Gerechtigkeit durch Ihre Politik mit Füßen getreten wird.
Es spricht jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Lafontaine, da Sie so sehr auf Äußerungen von mir, die heute in einer Zeitung abgedruckt sind, abgehoben haben, möchte ich Ihnen diese Äußerungen zu Beginn doch im Originalwortlaut vortragen, damit wir wissen, worüber wir reden. Dann können wir uns auch darüber verständigen, ob es in Ordnung ist oder nicht. Die Frage lautet - ich zitiere es jetzt ganz wörtlich -:
Hunderttausende wollen an diesem Samstag gegen die Pläne der Koalition in Bonn auf die Straße gehen ...
Schäuble: Es ist in Ordnung, wenn jemand anderer Meinung ist und dafür demonstriert. Aber die
Zahl der Teilnehmer überzeugt mich überhaupt nicht. Vor gut zehn Jahren gab es - übrigens mit ähnlichen Veranstaltern - eine Demonstration gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluß. Wenn wir damals dem Druck der Straße nachgegeben hätten, gäbe es heute noch die Sowjetunion, den Warschauer Pakt, die DDR und die Mauer.
Damit dieses Zitat vollständig ist, lese ich weiter:
Auch heute, wo es um die Finanzierbarkeit des Sozialstaats geht, werden wir dem Druck der Straße nicht nachgeben. Die Demonstranten sprechen weder für die Arbeitslosen noch die Mehrheit der Bevölkerung. Die meisten Menschen in unserem Land haben im Gegensatz zur SPD und den Gewerkschaften längst erkannt, daß gespart werden muß.
Dann ist die nächste Frage:
Drohen auch bei uns demnächst französische Verhältnisse?
Darauf antworte ich:
Ich hoffe nicht. Wir sitzen alle in einem Boot und müssen uns gemeinsam in die Riemen legen. Wenn wir kentern, saufen wir alle miteinander ab! Deshalb: Alle, die für diese Demonstration am Samstag in Bonn Verantwortung tragen, dürfen keine zusätzlichen Gräben aufreißen. Wir müssen am Montag wieder vernünftig miteinander reden können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu diesen Äußerungen stehe ich; deshalb habe ich sie noch einmal vorgetragen. Die Kritik von Herrn Lafontaine ertrage ich, aber ich teile sie nicht.
Weil ich nun meine, daß die Lage schwierig genug ist, will ich mit dem anfangen, was ich in der Rede von Herrn Lafontaine an Übereinstimmung gefunden habe, also mit Punkten, bei denen wir versuchen könnten, Gemeinsamkeiten zu finden.
Sie haben gesagt - das kritisiere ich nicht, sondern da stimme ich zu -, wir sollten darauf achten, daß der soziale Friede nicht zerstört wird. Sie haben gesagt, daß die Arbeitslosigkeit zu hoch sei. Das hat auch der Bundesfinanzminister Theo Waigel gesagt. Auch darin stimmen wir überein. Sie haben heute auch gesagt, es müsse gespart werden. Auch darin stimme ich Ihnen zu.
In den Antworten darauf, wie wir diese Ziele erreichen, sind wir allerdings unterschiedlicher Meinung.
Dr. Wolfgang Schäuble
Ich finde aber, daß wir angesichts einer so hohen Arbeitslosigkeit
und der Sorgen der Menschen um ihren Arbeitsplatz zu einer Einigung kommen sollten.
Sie haben gerade appelliert, wir sollten den Gefühlen der Menschen, die sich Sorgen machen - morgen bringen viele in einer Demonstration, die völlig legitim ist, diese Sorgen öffentlich zum Ausdruck -, die arbeitslos sind oder Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, Rechnung tragen. Lassen Sie uns dann aber die Debatte so führen, daß die Menschen das Gefühl haben, daß es uns wirklich um ihre Sorgen geht.
Deswegen sage ich Ihnen: Bei der Beantwortung dieser Fragen müssen wir meines Erachtens ein wenig sorgfältiger argumentieren, als es Herr Lafontaine eben getan hat.
Ich will Ihnen unsere Antworten erläutern. - Herr Lafontaine, ich will versuchen, diese nicht in der Tonart vorzutragen, der Sie wieder einmal nicht widerstehen konnten; denn ich glaube: In der Art, wie Sie reden, finden die Menschen ihre Sorgen nicht wieder, und Antworten finden sie schon gar nicht.
Sie haben einleitend lange aus dem Gutachten der Kommission der Europäischen Union zitiert. Dabei ist Ihnen ein kleiner Fehler unterlaufen. Vielleicht war es auch ein Trick; ich weiß es nicht. Sie haben gesagt, die Arbeitnehmer würden zu hoch belastet - darauf hebe die Kommission ab -, deswegen sei die Arbeitslosigkeit so hoch. - Wenn Sie den ökonomischen Zusammenhang betrachten würden, müßten Sie sagen, daß der Grund dafür die zu hohen Kosten der Arbeit sind. Das ist der Punkt.
- Auch die Lohnnebenkosten. Aber nicht nur die Lohnnebenkosten, Frau Kollegin Fuchs, auch die Lohnhauptkosten.
Deswegen müssen wir bei der Verantwortung der Tarifpartner, die die Lohnkosten definieren, anfangen. Wer diese Verantwortung verschweigt, der kann das Problem nicht richtig lösen.
Ich will einen zweiten Punkt nennen, bei dem meiner Meinung nach Ihre Argumentation nicht sorgfältig genug ist. Sie haben gesagt - das ist jetzt ein Schritt weiter -, daß auch gespart werden muß. Sie haben zwar nicht gesagt, wie, aber das wird vielleicht noch nachgereicht.
Den vom Volumen her größten Sparvorschlag Ihrer angedeuteten Vorschläge - Ihr Manuskript ist verteilt worden; es liegt auf meinem Platz, notfalls lasse ich es holen - stellt der Verzicht auf die Abschaffung der Vermögensteuer dar. Das, Herr Minister Lafontaine, ist jedoch im Kern kein Sparvorschlag. Sparen kann man nur auf der Ausgabenseite.
Ich muß Sie daran erinnern, daß der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt vor kurzem in einem - insbesondere für Sie - lesenswerten Aufsatz gesagt hat: Wer heute Steuern senken will, muß zuerst Ausgaben senken. - Anders geht es nicht. Das ist bitter.
Es wäre viel einfacher - und man könnte viel mehr solcher Reden halten, wie Herr Lafontaine es heute getan hat -, wenn man durch Verschiebung von Einnahmen, Übertragung von versicherungsfremden Leistungen in den Bundeshaushalt, Senkung von Versicherungsbeiträgen - ohne zu sagen, daß man dafür die Mehrwertsteuer erhöhen müßte - oder durch Steuererhöhungen, die keiner bemerkt, die Probleme lösen könnte. Das können wir aber nicht tun.
Ich unterstreiche das, was der Bundesfinanzminister gesagt hat: In dieser Lage des Arbeitsmarktes, in dieser Lage der nationalen, der europäischen und der weltweiten Konjunktur Steuern zu erhöhen wäre das falscheste, was wir machen könnten.
Es wäre Gift, hieße, Öl ins Feuer zu gießen.
Deswegen bleibt uns - jedem, der die Probleme lösen will - der bessere, der anstrengendere Weg nicht erspart: die zu hohe Belastung durch Steuern und Abgaben - das ist zwischen uns gar nicht streitig - dadurch zu senken, daß wir bei den Ausgaben sparen und uns so und nicht anders Spielräume für die Senkung von Steuern und Abgaben erschließen. Das ist der Kern des Programms für Wachstum und Beschäftigung von Regierung und Koalition.
Dazu haben Sie bisher keine einzige Alternative vorgetragen.
- Ich habe Ihnen zugehört.
- Aber natürlich. Ich habe Ihnen präzise zugehört, obwohl es gelegentlich schwerfiel. Andere lesen Zeitung, das mache ich nicht. Ich habe wirklich zugehört und antworte darauf, wie Sie sehen. Ich gehe auf Ihre Argumente ein.
Ich sage Ihnen: Der Verzicht auf die Abschaffung der Vermögensteuer ist kein Einsparvorschlag. Damit können Sie die Steuer- und Abgabenbelastung nicht senken. Wir können gern darüber diskutieren.
Ich komme zum nächsten Punkt: Sie haben auch darauf hingewiesen - hier haben Sie wieder die Kommission der Europäischen Union zitiert -, daß wir uns in einem Standortwettbewerb um Investitio-
Dr. Wolfgang Schäuble
nen befinden und daß in der Tat die Mobilität von Kapital zu den Problemen führt, die wir haben. Arbeitskräfte sind weniger mobil; das ist wahr. Was heute am mobilsten ist, sind Kapital und Informationen. Das gehört zu den dramatischen Veränderungen, mit denen alle in der Weltwirtschaft zu tun haben. Wir, die wir das höchste Maß an Wohlstand und sozialer Sicherheit, nicht jedoch das höchste Maß an Flexibilität und Innovationsfreundlichkeit haben, müssen uns darauf, daß Kapital und Informationen heute rund um den Weltball mobil sind, durch Innovation und Veränderung einstellen.
Das heißt nun einmal: Wenn wir Arbeitsplätze in Deutschland behalten und neue schaffen wollen, brauchen wir Investitionen in Deutschland. Wenn wir Investitionen in Deutschland behalten wollen, müssen wir uns dem - angesichts größerer Mobilität von Kapital härter gewordenen - Wettbewerb um Investitionen stellen.
Die Antwort darauf in Ihrer Rede, Herr Lafontaine, war: Wir brauchen deshalb die europäische Steuerharmonisierung. - Das ist wahr, das ist völlig unstreitig. Wahr ist auch, wir haben sie noch nicht. Und wahr ist auch, daß wir nicht warten können, bis wir sie haben, sondern wir müssen jetzt handeln.
Es ist überhaupt kein Streit zwischen uns: Wir wollen die europäische Steuerharmonisierung. Keine Regierung setzt sich mehr dafür ein als diese Bundesregierung. Wenn wir uns da einig sind, ist es gut. Aber es gehört zur Wahrheit, daß das noch dauern wird. Deswegen noch einmal: Es wäre besser gewesen, wenn wir letztes Jahr schon die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft hätten.
Jede Woche länger, die sie nicht abgeschafft wird, verhindert Investitionen am Standort Deutschland und schadet dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit.
Sie können doch im Ernst nicht mehr bestreiten, daß wir weniger Investitionen und Arbeitsplätze in Deutschland haben werden, wenn investiertes Kapital in Deutschland wesentlich höher als in anderen - auch westeuropäischen - Ländern besteuert wird. Deswegen muß die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft werden, deswegen verstehe ich bis jetzt Ihre Alternative zu unserem Vorschlag nicht, die Vermögensteuer auf investiertes Kapital, auf Betriebsvermögen, ersatzlos wegfallen zu lassen. Das kann man natürlich sozialdemagogisch diffamieren, wie Sie es jetzt wieder versucht haben. Dessen waren wir uns bewußt. Aber als Antwort auf die Frage, was das Richtige für die Menschen ist, was uns hilft, mehr Arbeitsplätze zu bekommen, gibt es immer noch kein überzeugendes Argument dagegen, daß das Ergebnis einer im Vergleich zu Frankreich, Belgien und den Niederlanden höheren Besteuerung des in Deutschland investierten Kapitals die Abwanderung von Arbeitsplätzen ist.
Vor dieser Alternative haben wir uns in der Regierung, in der Koalition dafür entschieden - auch wissend, daß wir solche Angriffe wie die von Ihnen aushalten müssen; aber sie sind ein wenig zu billig, weil das Problem zu ernst ist -,
zu sagen: Laßt uns doch dafür sorgen, daß wir mehr Investitionen und damit mehr Arbeitsplätze in Deutschland haben. Deswegen muß die Vermögensteuer auf Betriebsvermögen wegfallen, deswegen muß die Gewerbekapitalsteuer wegfallen.
Wenn wir uns durch Zurückhaltung bei Ausgaben in den öffentlichen Haushalten und in den sozialen Sicherungssystemen Spielräume für Steuer- und Abgabensenkungen erschließen - je mehr, desto besser -, dann haben wir auch die Möglichkeit, darüber hinaus die Lohnnebenkosten und die Steuern auf Löhne und Einkommen zu senken - aber nur in diesem Maße.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich bin wieder ein wenig hoffnungsvoll. Wir erleben ja richtige Wechselbäder. Vor Monaten schon war verabredet - Bundesfinanzminister Waigel hat daran erinnert -, daß von Bundesregierung und Landesregierungen gemeinsam Sparvorschläge erarbeitet werden sollen. Diese Absprache gab es mit Herrn Schleußer und Herrn Voscherau. Dann fand die Ministerpräsidentenkonferenz statt. Auf einer Klausurtagung wurde angekündigt, die Länder würden entsprechende Sparvorschläge vorlegen. Dann sind die Finanzminister beauftragt worden, diese zu erarbeiten; ihrer Klausurtagung haben wir mit großen Erwartungen entgegengesehen.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung war allerdings nicht dabei; Herr Schleußer ist gar nicht erst hingefahren - er hat nicht einmal einen Staatssekretär geschickt -, weil er inzwischen offenbar wußte, daß die Weisung aus der Parteizentrale der SPD war: Es werden keine Vorschläge gemacht, es wird alles blockiert.
Jetzt ist Herr Voscherau gestern wieder beauftragt worden, die Gespräche doch zu führen, wobei ich allerdings gehört habe, daß zwischen Ihnen und dem Vorsitzenden der CDU, Helmut Kohl, offenbar darüber diskutiert worden ist, ob diese Vorschläge im SPD-Präsidium Unterstützung finden, damit Herr Voscherau entsprechend legitimiert ist. Herr Bundeskanzler, notfalls müssen Sie einmal in das SPD-Präsidium gehen, damit das, was im Kanzleramt verabredet worden ist, dort auch durchgesetzt wird.
Vom Spaß nun aber wieder zum Ernst. Das alles zeigt, daß an Einsparungen kein Weg vorbeiführt.
Der Präsident des Städte- und Gemeindebunds, Kollege Bernrath - bis vor kurzem Mitglied der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion -, hat dieser Tage in klaren, nüchternen Worten gesagt: Es führt kein Weg an Einsparungen auch im Sozialbereich vorbei. Die Sozialdemokratie sollte ihre bisherige Haltung
Dr. Wolfgang Schäuble
möglichst schnell aufgeben. - Hören Sie doch ein wenig auf diejenigen, die Verantwortung - auch für Sie - in den Kommunen tragen!
Wenn an Einsparungen also kein Weg vorbeiführt, dann geben Sie doch das taktische Geplänkel, das Ihre Bundesratsmehrheit Ihnen ermöglicht, auf - lieber heute als morgen -, weil es unserem Land und seinen Bürgern schadet.
Wir bleiben mit allen über alle Fragen gesprächsbereit. Wir wollen um die besten Lösungen gemeinsam ringen. Sie aber müssen ernsthafte, in der Sache begründete Alternativen vorlegen.
Es führt kein Weg daran vorbei: Die Rahmenbedingungen für Investitionen müssen verbessert werden. Wenn wir einig sind, daß die Kosten für Arbeit zu hoch sind, dann müssen wir verhindern, daß sie weiter steigen. Wir brauchen die Verantwortung der Tarifpartner, um Arbeitskosten zu senken, und können die Lohn- und die Lohnzusatzkosten nur dadurch reduzieren, daß wir bei den Ausgaben sparen.
Es führt kein Weg daran vorbei, daß wir beweglicher werden müssen. Angesichts einer sich so dramatisch veränderden Arbeitswelt werden in den großen Industrieunternehmen, in den großen Verwaltungen keine zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen - weder bei VW noch bei den großen Banken oder Versicherungen. Das ist die Wahrheit! Das ist bitter, hat aber mit der Mobilität von Information zu tun, mit der Modernität von Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Technik. Das nennt man Rationalisierungsprozeß, dem man nicht ausweichen kann.
Wenn wir trotzdem wollen, daß alle Menschen, die dazu fähig und willens sind, auch in Zukunft Arbeit finden, dann müssen wir neue, beweglichere Modelle finden. Wir müssen sie vor allem im Bereich von Dienstleistungen finden. Deswegen hoffe ich, daß Sie den Schritt, private Haushalte als Arbeitgeber stärker für reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu nutzen,
endlich nicht mehr blockieren - was Sie jahrelang getan haben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der sozialdemokratischen Opposition und der Mehrheit im Bundesrat, ein anderes Beispiel: Wir haben uns in dieser Woche bei unserer Fraktionssitzung in Berlin mit der Novellierung des Ladenschlusses nicht leicht getan - das ist kein Ruhmesblatt; aber so sind die Realitäten in Deutschland.
Man kann sehr unterschiedlicher Meinung über diese Frage sein; jedenfalls wir haben sehr um eine Entscheidung gerungen. Aber die Antwort aus Ihrer Partei, daß mit Sozialdemokraten überhaupt keine Änderung des Ladenschlusses zu machen sei, zeigt
wiederum Ihre typische Position, jede Innovation, jede Flexibilität zu verhindern. Wer jede Veränderung, jede Anpassung verweigert, wird den sozialen Besitzstand verlieren. Das sind die wahren Sozialabbauer!
In einer Zeit, in einer Welt, in der sich so vieles verändert, kann man Veränderungen zwar beklagen, aber dann muß man ins Museum gehen.
Wer jede Veränderung verweigert und blockiert, wer nicht auf die Modernität unserer Zeit antwortet und die Veränderung von Besitzständen tabuisiert, wird die Grundlagen von Wohlstand und sozialer Sicherheit verspielen. Das darf im Interesse der Zukunft unseres Landes nicht passieren. Das ist die eigentliche Frage.
Ich behaupte ja gar nicht, daß wir in allen Fragen den Stein der Weisen alleine gefunden hätten. Das kann doch gar nicht das Problem sein. Ich behaupte ja gar nicht, daß es bei jeder Frage, um die es geht - Veränderungen sind immer schmerzhaft -, auch berechtigte Kritik und Rückfragen gibt. Ich weiß, daß es Auseinandersetzungen geben muß und daß streitige Prozesse auch in der Öffentlichkeit sein müssen. Nur, das Ergebnis darf nicht sein, daß alles blockiert wird.
Das Ganze ist im übrigen zu schade, um parteipolitische, taktische Spielchen zu treiben.
- Nein, das können Sie nun wirklich nicht sagen. - Ich knüpfe noch einmal in aller Ruhe und in aller - -
- Na gut. Frau Matthäus-Maier, wir gehen gelegentlich freundlich und gelegentlich hart und klar miteinander um. Sie erlauben mir sicherlich, daß ich für mich das Recht in Anspruch nehme, zu sagen, was ich möchte. Ich gestehe Ihnen das Recht zu, anderer Meinung zu sein.
Jetzt sage ich trotzdem: Die Lage ist zu ernst, um diese parteipolitischen Spielchen zu treiben. Deswegen sage ich Ihnen noch einmal in aller Ruhe und in aller Eindringlichkeit - dies richtet sich an alle, die es angeht und die zuhören mögen -: Wir waren in diesem Lande schon weiter.
Wir waren im Januar weiter bei der gemeinsamen Verabredung von Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften sowie bei dem 50-Punkte-Programm.
Dr. Wolfgang Schäuble
- Ich komme gleich darauf. - Mit dem 50-PunkteProgramm für Wachstum und Beschäftigung haben wir im Januar alles in der Richtung beschrieben, was wir jetzt Schritt für Schritt konkretisieren.
Darin war zum Beispiel enthalten, daß man Einstellungshemmnisse für Meine Unternehmen abbauen muß, um die Einstellungsbereitschaft gerade bei den kleinen Betrieben, bei Existenzgründern, im Handwerk, im Mittelstand und bei Dienstleistern zu stärken, und daß man über den Abbau von Einstellungshemmnissen im Arbeitsrecht reden muß. Dafür haben wir jetzt die Gesetze eingebracht.
Es war auch ganz unstreitig - bleiben Sie doch einmal bei der Sache -, daß wir die Motivation der Beschäftigten verbessern müssen. Deswegen haben Arbeitgeber und Gewerkschaften verabredet, sie wollten über den Abbau von Fehlzeiten in den Betrieben miteinander reden. Sie sind leider nicht zu Ergebnissen gekommen. Ich beurteile nicht, bei wem die Schuld liegt. Ich war bei diesen Gesprächen nicht dabei. Aber wir haben immer gesagt: Das kann nicht dazu führen, daß über einen unbegrenzten Zeitraum nichts geschieht. Deswegen haben wir jetzt diesen Vorschlag vorgelegt.
Wir haben das doch nicht getan, um das Klima anzuheizen oder zu verschärfen, sondern weil das von Gewerkschaftern und Arbeitgebern selber im Januar im Prinzip für notwendig erklärt worden ist. Handlungsbedarf beim Abbau von Fehlzeiten in Betrieben ist von ihnen als gegeben erklärt worden. Ich meine, in dem Bereich, der nicht durch Tarifverträge geregelt ist, sondern durch den Gesetzgeber, müssen wir eine Lösung schaffen, weil wir sonst wie auch in allen anderen europäischen Ländern Lohnkosten und Lohnzusatzkosten nicht gesenkt bekommen, von denen wir übereinstimmend sagen: Sie sind zu hoch, und das ist ein Grund, warum wir eine zu hohe Arbeitslosigkeit haben.
Es geht uns bei allen Maßnahmen darum, die Chancen zu verbessern.
- Nein, doch nicht mit der Peitsche, sondern mit Argumenten und mit Vorschlägen dafür, um die Lage zu verbessern. - Es geht uns darum, mehr Arbeitsplätze zu bekommen.
Ich will noch etwas sagen: Ich habe seit Januar die Schwierigkeiten derjenigen, die sich auf der Gewerkschaftsseite an diesem Diskussionsprozeß beteiligt haben, gut verstanden. Denn für Gewerkschaftsvertreter und für diejenigen, die für die Beschäftigten in besonderer Weise sprechen - Verantwortung tragen wir alle in gleicher Weise; ich nehme das in meinem Engagement so wichtig wie irgend jemand -, sind die Gegenleistungen in diesen Gesprächen, die Arbeitsplätze, das Ergebnis der Prozesse und der Entscheidungen, die wir in Gang setzen müssen. Kein Verbandsvertreter, keine Regierung kann am Anfang der Gespräche zusagen, daß es um soundsoviel Arbeitsplätze geht. Das ist vielmehr das Ergebnis der Prozesse. Darin liegt ein Problem. Deswegen müssen wir so schnell wie möglich Ergebnisse haben.
Deswegen ist es so wichtig, daß wir Maßnahmen ergreifen, die kurzfristig die Beschäftigtenzahl erhöhen. Dies können wir durch Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Gestaltung der Arbeitsverhältnisse in den privaten Haushalten und dergleichen mehr erreichen. Hier setzt unser Programm an. Deswegen ist es so wichtig, daß in diesem Jahr die Ausbildungszusage der deutschen Wirtschaft erfüllt wird. Es kann nicht wahr sein, daß in diesem Jahr die gesamte deutsche Wirtschaft, nicht nur die kleinen und mittleren Unternehmen, sondern auch die Großunternehmen, nicht dafür sorgen, daß jeder junge Mensch in Deutschland, der einen Ausbildungsplatz will, auch einen Ausbildungsplatz findet. Auch das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit.
Das ist der wichtigste Beitrag, der kurzfristig auch von denjenigen geleistet werden kann, die gelegentlich Anforderungen und Mahnungen an die Politik richten. Dies trägt dazu bei, bei Gewerkschaften wie bei Arbeitnehmern das Vertrauen zu stärken, daß der Weg, den wir gemeinsam gehen, um für mehr Beschäftigung zu sorgen, der richtige Weg ist.
Eine Bemerkung zu Ihnen, Herr Lafontaine, weil Sie wieder ein wenig in die Zeiten vor den Landtagswahlen zurückgefallen sind. In einem Punkt haben Sie Ihre Position gegenüber der Zeit vor der Landtagswahl verändert. Damals haben Sie sehr Stimmung gegen die europäische Währungsunion gemacht. Inzwischen sagen Sie, Kriterien und Zeitplan müssen eingehalten werden. Da stimmen wir genau überein.
- Ich habe genau gelesen, was Sie vor der Landtagswahl gesagt haben. - Ich habe vorgestern mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments diskutiert. Das ist Ihr Parteifreund. Ich weiß, was er davon gehalten hat. Er hat es öffentlich gesagt. Jetzt ist Ihre Position in Ordnung. Allerdings gilt, was Theo Waigel gesagt hat: Wenn wir die Kriterien der Währungsunion erfüllen wollen, dann darf die SPD über ihre Mehrheit im Bundesrat nicht verhindern, sie zu erreichen. Den Karren gegen die Wand zu fahren und dann zu beklagen, daß er zerschellt ist, geht nun wirklich nicht.
Mit dem Thema Fremdrenten sind Sie aber in Ihren Versuch vor den Landtagswahlen zurückgefallen, die Aussiedler zu den Sündenböcken unserer Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft zu machen. Das ist nicht in Ordnung. Es ist eine Unverschämtheit. Das ist nun wirklich nicht berechtigt.
Dr. Wolfgang Schäuble
- Wenn Ihre demagogischen Methoden einmal konkret entlarvt werden, dann schreien Sie auf, dann tut es weh, aber es muß gelegentlich sein.
- Wenn wir nach den Maßstäben gehen, nach denen vorhin in der Aktuellen Stunde das Präsidium die Sitzung geführt hat, dann wird es, Frau MatthäusMaier, noch eine Nachwirkung geben.
Aber wieder zum Ernst. Wir können die Probleme nur lösen, wenn, was die öffentliche Hand betrifft, Bund, Länder und Gemeinden an einem Strang ziehen. Deswegen dürfen wir keinen Verschiebebahnhof zu Lasten der Gemeinden machen.
- Ich bitte Sie wirklich! Ich gehe darauf ein. Wir haben gestern wieder die Anrufung des Vermittlungsausschusses beschlossen, weil Sie die Änderung des Bundessozialhilfegesetzes und des Asylbewerberleistungsgesetzes bisher blockieren. Bisher haben Sie gesagt, es wird bei den Ärmsten der Armen gespart. Heute sagen Sie, wenn ich es richtig verstanden habe, Sie stimmen der Sozialhilfereform zu - das ist ein Schritt weiter -, aber Sie möchten nicht, daß damit verbunden die originäre Arbeitslosenhilfe abgeschafft wird.
Zu diesem Argument sage ich Ihnen folgendes. Wir können Einsparungen natürlich nicht nur für die Länder und die Gemeinden, sondern müssen sie auch für den Bund beschließen.
- Frau Fuchs, fallen Sie mit Ihren Zwischenrufen nicht unter Ihr Niveau! Ich rede wirklich ganz ernsthaft und eindringlich zur Sache und tue nichts anderes. - Bei der Sozialhilfereform geht es um Einsparungen zugunsten der Gemeinden. Diese Einsparungen sind übrigens um ein Vielfaches höher als die äußerstenfalls zu befürchtenden Folgewirkungen bei einer Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe, die für die Sozialhilfeträger entstehen können.
Ich sagte, wir brauchen Einsparungen für Gemeinden, Länder und den Bund. Unsere Gesetze beinhalten ausgewogen Einsparungen für Länder, Gemeinden und den Bund. Wir haben die zweite Stufe der Pflegeversicherung zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft gesetzt. Das führt zu einer erheblichen Einsparung bei den Sozialhilfeträgern, insbesondere den Gemeinden und Gemeindeverbänden. Verweigern Sie bitte nicht auch dem Bund die notwendigen Einsparungen! Wir sind bereit, unserer Verantwortung für Gemeinden und Länder Rechnung zu tragen. Meine Bitte ist aber, von seiten der Bundesratsmehrheit der Verantwortung auch für den Bundeshaushalt Rechnung zu tragen.
Unsere Gesetze verschieben im Saldo die Belastungen nicht auf die Gemeinden, sondern sind in Wahrheit eine Entlastung der Gemeinden.
Ihr Vorschlag, Herr Lafontaine, die Fremdrentenregelung zu schließen, ist allerdings nun eine ganz einseitige Verschiebung der Belastung von der Rentenversicherung in die Sozialhilfehaushalte. Wenn Sie die Fremdrentenregelung schließen, müssen die Sozialhilfeträger genau denselben Betrag, der nach unserem Gesetz daraus entsteht, aufbringen. Wenn Sie konsequent sein wollen, ziehen Sie diesen Vorschlag gleich wieder zurück.
- Frau Fuchs, ich habe es doch schon zweimal gesagt, aber ich sage es Ihnen auch noch ein drittes Mal, weil ich wirklich hoffe, daß Sie zuhören und dann nicht wider besseres Wissen das Gegenteil behaupten. Ich bestreite ja gar nicht, daß die Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe gewisse Folgewirkungen für die Sozialhilfehaushalte haben wird.
- Das bestreite ich doch gar nicht. Mein Argument ist: Zusammen mit der Sozialhilfereform und mit dem Asylbewerberleistungsgesetz ist unser Gesetz im Saldo eine Entlastung für die Gemeinden.
Ich gehe einen Schritt weiter. Auch wenn Sie sagen, Sie wollen die originäre Arbeitslosenhilfe unter gar keinen Umständen abschaffen, dann werden wir trotzdem, CDU/CSU, F.D.P., Regierung und Koalition
- ich spreche jetzt für Sie mit, aber wir sind uns so einig, daß ich mir das ohne Auftrag anmaße -,
unsere Verantwortung für die Länder und die kommunalen Haushalte als Gesetzgeber wahrnehmen. Aber meine Bitte ist, daß Sie wie auch die Bundesratsmehrheit Ihrer Verantwortung auch für den Bundeshaushalt gerecht werden, denn der Bundesrat ist ein Verfassungsorgan des Bundes. Wenn Sie die Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe nicht wollen, dann machen Sie doch bitte einen gleichwertigen und geeigneten Alternativvorschlag. Wir werden dann darüber reden.
Ich bin wirklich gesprächsbereit. Ich will, daß Lösungen zustande kommen. Ich will nicht, daß in diesem Lande die Konfrontation immer stärker wird und das Ergebnis nur Stillstand ist, weil ich weiß: Stillstand ist Rückschritt. Stillstand gefährdet die Grundlagen von Wohlstand, sozialer Sicherheit und am Ende die demokratische Stabilität. Das darf unter gar keinen Umständen sein! Notwendige, auch schmerzliche Entscheidungen, kritische Diskussionen und auch Durchsetzen gegen Widerstand müssen sein, aber immer heißt das Ziel: mehr Arbeitsplätze, und damit die Chancen einer guten Zukunft für die Menschen zu sichern und die Stabilität unseres freiheitlichen rechtsstaatlichen und sozialen Wohlfahrtsstaates zu
Dr. Wolfgang Schäuble
erhalten. Das ist das Anliegen der Union und der Koalition, dafür werden wir arbeiten,
dafür werden wir mit jedem streiten und zusammenarbeiten, der guten Willens ist.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Schäuble, ich denke, wir kommen nicht weiter, wenn wir die Schuld, daß sich bestimmte Dinge nicht weiterentwickeln, immer auf die andere Seite schieben und gleichzeitig erfahren, daß die Bereitschaft der Bundesregierung nicht diejenige gewesen ist, die wir uns bei den notwendigen Verhandlungen zu einer positiven Umsetzung gewünscht hätten.
Auch in bezug auf das von Ihnen beschriebene Ziel, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, frage ich Sie: Glauben Sie im Ernst, daß es eine Person in diesem Parlament gibt, die dieses Ziel nicht auch verfolgt und dieses von Ihnen formulierte Anliegen mit Ihnen teilt? Die Frage ist nur, wie wir zu mehr Arbeitsplätzen in diesem Land kommen.
In bezug auf die Ausbildungszusagen der deutschen Wirtschaft, die selbstverständlich erfüllt werden müssen, möchte ich folgende Überlegungen anstellen: Es nutzt uns nichts, wenn Verbandsfunktionäre der großen Industrieunternehmen mit Verlagerungen herumdoktern und mit Belastungen argumentieren, andererseits gerade aber bei Kleinunternehmen und im Mittelstand diese Ausbildungssituation gegeben ist. Hier werden immer wieder neue Ausbildungsplätze geschaffen. Genau in diesem Bereich, bei Beziehern kleinerer Einkommen und beim Mittelstand, liegt die höchste Belastung mit Steuern und Abgaben in diesem Land.
Interessant ist auch, daß die Bundesregierung bis zum heutigen Tag - obwohl heute das Jahressteuergesetz 1997 vorgelegt worden ist - anscheinend nicht in der Lage ist, zu beurteilen, welche Auswirkungen das Jahressteuergesetz 1996 überhaupt gehabt hat. Sie können die Auswirkungen des sogenannten Familienlastenausgleichs nicht beziffern. Wir haben eine Anfrage in bezug darauf gemacht, welche Maßnahmen eingeführt werden müßten. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, das zu beantworten. Wir warten auch auf die Antwort darauf, was die Bundesregierung in den letzten 13 Jahren zur Vereinfachung des Steuersystems überhaupt getan hat. Diese Antwort steht seit 28. Februar aus. Mir scheint langsam, daß wir von Unwissenden regiert werden.
- Ich glaube, Herr Poß, da haben Sie recht.
Heute diskutieren wir nun über ein 230 Seiten umfassendes Paket in Sachen Steuerpolitik. Der Gesetzentwurf ist uns vor zwei Wochen vorgelegt worden. Ich meine, es ist eine Zumutung für die Parlamentarier, die sich mit diesem Paket auseinandersetzen müssen, wenn sie es erst so kurz vor der Sommerpause bekommen.
Zur Bewertung: Das Ganze ist für uns ein weiterer Baustein im berühmt-berüchtigten sogenannten Programm für Wachstum und Beschäftigung der Bundesregierung. Den Titel dieses Programms muß man jedoch wie folgt übersetzen: Steuergeschenke an die sehr Vermögenden - ich betone: sehr Vermögenden -, Vermögensteuer weg, Erbschaftsteuer herunter und letztendlich - das ist ebenfalls ein sehr großes Problem - Genickschuß für Ostdeutschland beim Solidaritätszuschlag, der ja abgebaut werden soll, obwohl Sie genau wissen, daß die Arbeitsmarktlage in den neuen Bundesländern immer noch sehr verheerend ist.
Bezahlen werden das die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, für die das Existenzminimum nicht erhöht wird, die Familien mit mehreren Kindern, für die es keine Kindergelderhöhung gibt, und letztendlich die Länder, denen der Umsatzsteueranteil abverlangt wird.
In bezug auf den zweiten Bereich schaue ich ein wenig in Richtung F.D.P. Sie sitzen seit 13 Jahren in dieser Koalition und haben es geschafft, immer wieder populistisch von Steuerentlastungen zu reden. Sie haben in dem letzten halben Jahr, im Zusammenhang mit den drei Wahlkämpfen, aber auch danach - ich denke an Ihren letzten Parteitag, dieses Gartenfest, wie er hier immer wieder bezeichnet wird -, den Menschen Steuerentlastungen versprochen, obwohl Sie wissen, daß in der heutigen Situation, bei der Lage des Staatshaushaltes und bei den Steuermindereinnahmen, die Steuerentlastungen in der Form, wie Sie sie vorgeschlagen haben, niemals finanziert werden können.
Dies ist Wählertäuschung; damit tragen Sie zu mehr Politikverdrossenheit bei. Das ist das große Problem, Herr Westerwelle, daß es Ihnen nämlich scheißegal ist, ob die Leute draußen das bekommen, was Sie ih-
Christine Scheel
nen hier versprechen. Vielmehr gehen Sie hier mit polemischen Vorschlägen an die Öffentlichkeit
und wissen ganz genau, Herr Gerhardt, daß Sie beispielsweise für Ihre Forderung nach einem Drei-Stufen-Tarif eine Gegenfinanzierung in Höhe von 75 Milliarden DM benötigen. Sie sagen niemals, wo Sie dieses Geld hernehmen. Eine Mehrwertsteuererhöhung wollen Sie ja angeblich nicht.
Das gleiche gilt für den Koalitionsvertrag, wo die F.D.P. klipp und klar gesagt hat: Okay, wir wollen die Gewerbekapitalsteuer abschaffen. Darin sind wir uns einig; dazu werde ich noch kurz kommen. Die F.D.P. hat aber hinzugefügt: Wir wollen auch die Gewerbeertragsteuer abschaffen. Dies haben Sie kundgetan. Ich frage Sie auch zu diesem Punkt: Wo wollen Sie die 40 Milliarden DM hernehmen? Wollen Sie sie den Kommunen wegnehmen, denen Sie sie für die Erfüllung ihrer notwendigen Aufgaben eigentlich wieder zukommen lassen müßten? Das geht aber doch nur mit Steuererhöhungen an anderer Stelle. Aber dann sagen Sie auch endlich einmal, wo.
Herr Waigel ist leider weg.
- Der ist im Moment wohin, sagt der Bundeskanzler. Das beruhigt mich. Ich habe auch nicht gedacht, er sei ganz abgetaucht.
- Das würde uns ganz gut passen, natürlich.
- Es freut mich, daß der Herr Waigel immer präsent ist, auch wenn er nicht da ist. Es gibt bestimmte Wunder, die kommen immer wieder aus Bayern.
Ich hätte ihn wirklich sehr gern gefragt, ob nicht auch er langsam mal der Auffassung ist, daß der größte Feind seiner Konsolidierungsbemühungen, die er teilweise wirklich ernsthaft anstellt, in der eigenen Regierung sitzt.
Dieser Punkt kann im Moment leider nicht geklärt werden.
Sie wissen auch ganz genau - das ist etwas, was mich sehr ärgert -, daß die Hauptsteuer, das heißt die maßgebende Steuer, in diesem Land die Lohn- und Einkommensteuer ist. Sie wissen auch ganz genau, daß Ihre Versprechungen hinsichtlich der Reform der Einkommensteuer eigentlich nicht so umgesetzt werden sollten, wie Sie das tun, daß Sie nämlich einfach eine neue Kommission einsetzen. In diesem Lande haben schon zig Kommissionen getagt. Es gibt alle möglichen Modellrechnungen. Diese Kommissionen können keine politischen Entscheidungen ersetzen. Das Problem wird immer wieder nur verschoben nach dem Motto: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründe ich einen Arbeitskreis.
Wir werden uns politisch - das meine ich sehr ernst - mit der heiklen Frage beschäftigen müssen: Was sind überhaupt Steuervergünstigungen? Das ist im „Handelsblatt" in dieser Woche sehr treffend beschrieben worden: Ein Steuersystem sei kein Haus, das erst auf dem Reißbrett geplant würde und das Objekt einer beliebigen architektonischen Gestaltung sein könne. Das ist durchaus richtig. Es ist sehr kompliziert; das wissen wir alle.
Die Priorität, das Einkommensteuerrecht zu reformieren, muß Vorrang gegenüber der Priorität haben, die beispielsweise im Unternehmensteuerbereich gesetzt wird, und der, die darauf abzielt, die Vermögensteuer abzuschaffen.
Ich frage mich auch immer wieder: Wo sind Ihre Vorschläge in puncto Steuervergünstigungen? Bis jetzt erfahren wir konkret immer nur, was Ihrer Meinung nach keine Steuervergünstigung ist, zum Beispiel im Jahressteuergesetz 1997: Einsatz von Personal in Privathaushalten unterliegt offensichtlich keiner Steuerbegünstigung mehr, wenn unterschiedslos alle Haushalte mit Dienstpersonal - die es sich leisten können; darauf liegt die Betonung - subventioniert werden sollen.
Bislang - das bedauere ich sehr - wurde mit der alten Regelung wenigstens ansatzweise versucht, eine Steuerminderung sozial zu begründen. Das heißt, bei einer Pflegeperson oder Kindern bis zu zwölf Jahren in einem Haushalt konnte unter bestimmten Umständen eine Hilfe im Haushalt zwingend notwendig werden. Das könnte man steuermindernd geltend machen; das wäre sozial begründet. Darüber kann man reden. Sie wollen aber alles aufweichen und sagen: Wer sich eine Haushaltshilfe leisten kann, kann diese als Sonderausgabe abziehen und bekommt dafür ein Steuergeschenk.
An diesem Punkt muß man klipp und klar sagen: Das ist Pech für alle Alleinerziehenden. Wir bekommen eine absolute Schieflage; denn die, die sich den Luxus nicht leisten können und Kinderbetreuungskosten zu tragen haben - für den Kindergarten, den Hort, die Krabbelgruppe oder eine private Unterbringung; das gilt gerade für die Alleinerziehenden -, bleiben außen vor. Das geschieht, obwohl der Bundesfinanzhof - auch das wissen Sie ganz genau - schon mehrfach erklärt hat, daß diese Hal-
Christine Scheel
tung der Regierung nicht korrekt ist. Aber es passiert nichts.
Sie subventionieren nur dort, wo es Ihnen paßt, und nicht dort, wo es sozial notwendig und politisch dringend geboten wäre.
Grundsätzlich muß man an dieser Stelle auch anmerken, daß Sie mit einer verdammten Beliebigkeit vorgehen. Steuergeschenke werden verteilt. Das ist politisch gesehen, finde ich, skandalös. Es ist fachlich nicht mehr nachvollziehbar. Der größte Skandal ist im Prinzip der, daß die Bundesregierung das Existenzminimum von Erwachsenen und Kindern ab 1997 - wie wir meinen: wieder verfassungswidrig - besteuern und gleichzeitig die Vermögensteuer abschaffen will.
Das paßt nicht zusammen. Wir müssen das Gegenteil erreichen. Wir müssen das Aufkommen aus der Vermögensteuer und aus der Erbschaftsteuer auf große Privatvermögen steigern. Wir müssen dann selbstverständlich - das ist der umgekehrte Schluß - das Kindergeld und das Existenzminimum anheben.
Unsere Fraktionsvorsitzenden, Joschka Fischer und Kerstin Müller, haben dem Herrn Bundeskanzler, der jetzt auch abgetaucht ist
- Entschuldigung, er sitzt noch -, einen Brief darüber geschrieben, wie der Kindergeldbetrag, der im Finanzvolumen für das Jahr 1997 notwendig wäre, gegenfinanziert werden kann, nämlich durch die Besteuerung von Spekulationsgewinnen. Sie hätten in das Jahressteuergesetz 1997 auch hineinschreiben können, daß Sie Spekulationsgewinne weiter besteuern wollen. Dann hätten wir eine saubere Gegenfinanzierung gehabt.
Aber das entspricht anscheinend nicht dem politischen Willen.
Deshalb spreche ich von einer Beliebigkeit, die mittlerweile vor allem auch moralisch überhaupt nicht mehr akzeptabel sein kann. Es ist unserer Auffassung nach sogar geschmacklos, wenn hier - ich frage mich, warum Herr Blüm sich da nicht mehr einmischt - Sparmaßnahmen für Arbeitslose verkündet werden, wenn die Länder sich wegen des Widerstandes bei der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe mit der Bundesregierung prügeln. Das ist nicht mehr gerecht, wenn man sieht, daß Sie auf der einen Seite nackten Leuten in die Tasche greifen und auf der anderen Seite den Reichen - das kann man für 1997 voraussehen - über die Abschaffung der Vermögensteuer noch einmal 9 Milliarden DM schlicht hinterherschmeißen.
Wir stehen heute in einer ganz anderen Situation als vor 20 Jahren. Wir haben mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland ein Gesamtvermögen, das sich auf 22 Billionen DM beziffert. Man kann sich diese Dimension kaum mehr vorstellen. Man muß fragen: Wo kommt es her? Es kommt selbstverständlich von den staatlichen Maßnahmen; es kommt von den Leistungsträgern, von den steuerlichen Vergünstigungen, von dem wirtschaftlichen Erfolg. Das ist alles in Ordnung; wir haben überhaupt nichts dagegen. Das ist eine stolze Leistung für dieses Land. Aber was nicht mehr stimmt, ist die Verteilungssituation in diesem Land, was die Besteuerung insgesamt betrifft.
Wenn gut ein Drittel des Privatvermögens in Deutschland sich in den Händen von nur noch 5,5 Prozent aller Haushalte befindet, muß man sich schon fragen, ob es moralisch wirklich vertretbar ist, diesen Schritt zu gehen, den Sie hier vorgeschlagen haben.
Herr Waigel hat auch wieder das Argument mit dem Bundesverfassungsgericht gebracht, das wie eine Monstranz vorneweg getragen wird: Das Bundesverfassungsgericht würde eine Beibehaltung der Vermögensteuer nicht zulassen. Das ist doch überhaupt nicht wahr! Das Bundesverfassungsgericht hat niemals gesagt, daß die Vermögensteuer verfassungswidrig sei. Es hat gesagt, das Prinzip der Sollertragsteuer sei hier bestätigt, und sonst nichts.
Das bedeutet in der Konsequenz, daß wir die Vermögensteuer selbstverständlich beibehalten und gleichzeitig die 50-Prozent-Hürde einhalten können. Ich finde es gut, daß die steuerliche Belastung in Deutschland bei der Ertragsbesteuerung insgesamt nicht über 50 Prozent hinausgehen darf.
- Jetzt kommt wieder dieses blöde Argument.
Wir haben auf der einen Seite eine Steuerrealität und auf der anderen Seite eine Fiktion. Was Sie immer sagen, ist eine Fiktion. Die Steuerrealität drückt sich in der tatsächlichen Steuerbelastung aus, beispielsweise in der tatsächlichen Belastung durch Einkommen- und Körperschaftsteuer, die selten über 35 Prozent liegt. Deswegen haben wir Spielraum nach oben. Wir können bei anderen Sollerträgen noch draufsatteln und kommen letztendlich nicht an 50 Prozent Besteuerung heran.
Christine Scheel
- Ich sage Ihnen ein weiteres Argument, wenn Sie es unbedingt wollen.
Alle Steuern auf Grund und Boden, auf Kapital und andere Vermögenswerte in Deutschland haben 1994 im Verhältnis zum Gesamtvermögen - das muß man sich einmal vorstellen - nur knapp 0,1 Prozent ausgemacht. Wenn Unternehmen und Privathaushalte insgesamt über 6 Billionen DM Geldvermögen verfügen und nur die Hälfte von diesem Vermögen der Haushalte zu etwa fünf Prozent Zinsen angelegt würde - in der Praxis liegt der Anteil weit darüber -, hätten wir einen Vermögensteueranteil, der die Zinserträge noch lange nicht aufwiegen würde; denn er betrüge nur ein Zehntel. Das heißt, das, was an Erträgen aus Anlagen da ist wäre das Zehnfache von dem, was an Vermögensteuer überhaupt bezahlt werden müßte. Uns geht es um eine sozial verträgliche Lösung.
Wir machen natürlich auch Vorschläge. Sie sehen es auf der Tagesordnung. Es liegen viele Anträge vor. Wir haben einen Gesetzentwurf zur Beibehaltung der Vermögensteuer und zur Erbschaftsteuer vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf, Herr Lafontaine, bringt den Ländern 11 Milliarden DM mehr. Ich denke, das ist auch in Ihrem Interesse.
Wir belasten dabei - das ist ein ganz wesentlicher Punkt - nicht die kleinen Häuslebauer oder die kleinen Sparer, die in Zukunft ihr hart erarbeitetes und mühsam Gespartes vielleicht von dannen gehen sehen. Diese sind bei uns freigestellt. Wir haben eine Erhöhung der Freibeträge vorgesehen. Ich sage Ihnen: Wenn ein Haushalt mit 1,3 Millionen DM Rohvermögen vererbt wird, ist es nach unserer Auffassung von der Verteilungsgerechtigkeit her durchaus legitim, diesen Haushalt mit 6 000 DM Erbschaftsteuer zu besteuern.
Ganz kurz etwas zur Unternehmensteuerreform. Der Entwurf liegt seit letztem Jahr im Ausschuß. Wir haben im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1997 keine neue Vorlage erhalten. Wir werden uns wahrscheinlich mit dem Entwurf vom letzten Jahr bzw. mit Umdrucken, die oft erst zu mitternächtlicher Stunde vorgelegt werden, konfrontieren lassen müssen. Bei solchen Umdrucken werden oft die aktuellen Erkenntnisse malträtiert, und es kommt zu Änderungen der eigenen Vorschläge. Das muß man auch sehen. Es ist das Problem, das Herr Lafontaine vorhin angesprochen hat, daß Sie sich oft nicht an das halten, was Sie vorher gesagt haben.
Fest steht, daß wir strukturelle Verbesserungen der Unternehmensbesteuerung brauchen. Ich denke, darin sind wir uns in diesem Hause alle einig. Aber nach unserer Auffassung greift die Bundesregierung mit ihren Vorschlägen zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und Absenkung der Gewerbeertragsteuer in unverantwortlicher Weise - so wie der Vorschlag ausformuliert ist - in die zentrale Säule der kommunalen Finanzautonomie ein, ohne dabei - das ist genau der Punkt, den wir kritisieren - die strukturellen Defizite im Bereich der Gewerbesteuer zu beseitigen.
Deshalb haben wir den Antrag für eine Reform eingereicht, die alte Fehler beheben und andererseits dazu beitragen würde, einen wichtigen Baustein im Zusammenspiel von Unternehmen oder Kommunen zu erhalten.
Wir sind bereit - das haben wir gesagt -, die Gewerbekapitalsteuer wegfallen zu lassen, wenn die Gewerbeertragsteuer gleichzeitig in ihrer Bemessungsgrundlage verbreitert würde und eine ausreichende Umsatzsteuerbeteiligung für die Kommunen in diesem Hause grundgesetzlich garantiert werden würde.
- Das ist nicht mein Problem, da müssen Sie andere fragen.
- Ich bin nicht in der SPD, falls Sie das noch nicht gemerkt haben sollten. Ich gehöre dem Bündnis 90/Die Grünen an.
Fest steht jedenfalls, daß die Reform der Gewerbesteuern keinesfalls eine konzeptionelle Strategie zur ökologischen und ökonomischen Erneuerung in diesem Land und des Industriestandortes Deutschland sein kann. Deswegen haben wir - das sage ich heute an dieser Stelle wieder - die ökologische Steuerreform beantragt. Wir haben einen entsprechenden Antrag eingereicht. Die Vorschläge liegen dezidiert auf dem Tisch.
Lassen Sie uns endlich anfangen, den Weg in Richtung einer ökologischen und ökonomischen Erneuerung in diesem Land zu gehen. Aber hier verweigern Sie sich wieder im Jahressteuergesetz 1997. Statt dessen fällt Ihnen ein, zur Kfz-Steuer entsprechend den Emissionen zu veranlagen, obwohl damit verwaltungsmäßig ein gigantischer Aufwand verbunden wäre; gleichzeitig sagen Sie: Wir schaffen diese Steuer 2002 wieder ab.
Ich frage Sie: Was hat das mit Verwaltungsvereinfachung zu tun, wenn man das ganze System erst einmal komplizierter macht, ohne ökologische Konsequenzen, ohne irgendeinen Sinn, und bei der technischen Umsetzung auch noch Probleme schafft und hinterher sagt: Ätsch bätsch, wir haben die Probleme gesehen, jetzt schaffen wir die Steuer wieder ab? Dann tun Sie es doch bitte gleich.
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dort, wo eine kontroverse Diskussion erforderlich ist, muß man sich ihr stellen. Aber dort, wo man sich freundlich gegenübersteht, sollte man sich auch so begegnen. Deshalb möchte ich mich zu Beginn ausdrücklich bei Ihnen, Herr Ministerpräsident Lafontaine, für die außerordentlich positive Würdigung des F.D.P.-Parteitages vom vergangenen Wochenende bedanken.
Wir wünschen Ihnen ein ähnliches Ereignis; denn wir haben ein Interesse an einer gesunden, konstruktiven SPD, die in der Lage ist, praktikable Vorschläge für die Modernisierung des Standortes Deutschland zu machen.
Wir haben auf diesem Parteitag im übrigen auch deshalb diesen Erfolg gehabt, weil in der Öffentlichkeit ein tiefes Bedürfnis nach Modernisierung besteht. Die Menschen wissen persönlich sehr wohl, daß etwas verändert werden muß, wenn wir ein Stück Zukunft gewinnen wollen. Eine Demonstration mit 400 000 Beteiligten ändert nichts daran - das wußten alle, die auf dem Parteitag waren und im übrigen aus allen Ländern kamen -, daß die öffentlichen Haushalte gegenwärtig nicht in der Lage sind, die Programme zu finanzieren, die Sie zur Bewältigung der Schwierigkeiten in Deutschland vorschlagen.
Auf diesem Parteitag haben uns Delegierte aus dem Saarland darüber unterrichtet - wir kannten das ja schon -, daß Ihr Land selbst zur Deckung der Kosten politischer Führung Bundesergänzungszuweisungen braucht, weil Sie weder in der Lage sind, aus Ihrem Haushalt das Personal zu bezahlen, noch die entscheidenden Probleme der Regierungsorganisation bewältigen können.
Delegierte aus Niedersachsen berichten uns, daß dieses Land den höchsten Schuldenstand und die geringste Investitionsquote habe.
In Hessen kenne ich mich selbst noch gut genug aus. Aber ich zitiere trotzdem den Ministerpräsidenten Eichel, der sagt, sein Haushalt bewege sich bereits jetzt an der Grenze verfassungswidriger Neuverschuldung. Das Land schafft mit politischer Kraft von Rot-Grün noch nicht einmal einen dringend notwendigen Nachtragshaushalt.
Deshalb ist es doch Unsinn, hier so zu tun, als gebe es diese Probleme nicht, und der Bundesregierung mit Blick auf die Demonstration vorzuwerfen, daß sie den falschen Weg gehe.
Angesichts nahezu gleichgerichteter Probleme in Bund und Ländern bestände sogar die große Chance, zu einem Konsens zu finden. Mit Blick auf den Personalkostenanteil von 40 Prozent der Länderhaushalte muß ich sogar zu der Feststellung gelangen, daß Sie den Tarifabschluß, der mit einem Finanzrahmen von 4 Milliarden DM für Sie sehr problematisch wird, eher ausbaden müssen als der Bund. Diese 4 Milliarden DM kommen denen zugute, die gesicherte Arbeitsplätze haben. Aber es sollte doch niemand die Augen verschließen: Irgendwo werden sie dann für die fehlen, die Arbeitsplätze suchen. Wer das nicht mehr ausdrücken kann, begeht einen Fehler.
Die 7 Milliarden DM, die für Ihr Programm gebraucht würden, um die Kindergelderhöhung von 20 DM im nächsten Jahr zu gewähren - nachdem das Kindergeld gerade von 70 DM auf 200 DM erhöht worden ist -, müssen Sie doch irgendwo hernehmen. Für eine Steigerung um 20 DM versperren Sie wieder ein Stück Sparvolumen zugunsten derjenigen, die Arbeitsplätze in Deutschland suchen.
Deshalb können die Demonstranten morgen - es ist zwar legitim in einer Demokratie, daß sich Widerstand gegen Sparpläne regt; das kann niemand anders erwarten - die Sparnotwendigkeiten nicht wegdemonstrieren. Eine Demonstration kann kein Geld drucken, um Probleme zu bewältigen.
Die drängenden Fragen werden von Ihnen nicht ausreichend beantwortet. Im übrigen schreiben führende SPD-Politiker, die nicht verpflichtet sind, am Leitseil von Herrn Lafontaine zu gehen, in allen Zeitungen, daß der Kurs der Koalition in die richtige Richtung geht und daß die SPD an einem Bahnsteig steht, an dem in absehbarer Zeit kein Zug mehr vorbeikommt.
Jedem ist dies offenkundig, nur nicht Herrn Lafontaine. Es gibt kaum einen mit volkswirtschaftlichen Daten vertrauten Sozialdemokraten, der nicht eher dem Kurs der Koalition zustimmen würde als dem der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.
Zuletzt hat sich das ja in bemerkenswerten Kapriolen der SPD-Bundestagsfraktion deutlich gemacht. Doch nicht wir haben kontroverse Diskussionen geführt über das Thema Neuverschuldung; Herr Schwanhold und Frau Matthäus-Maier aus Ihrer
Dr. Wolfgang Gerhardt
Fraktion haben sich doch direkt widersprochen. Schöner ging es doch überhaupt nicht mehr: die einen dagegen, die anderen dafür.
Und jetzt wünschen wir dem Herrn Scharping weiter gute Genesung. Er hat ja einen Unfall gehabt. Aber der Dachschaden ist bei der SPD-Fraktion geblieben. Erklären Sie mir doch mal diesen Purzelbaum mit dem Solidarzuschlag, den Sie in den letzten Tagen geschlagen haben! Das ist doch überhaupt nicht mehr zu vertreten.
- Es tut mir leid, ich habe es ironisch gemeint. Wenn Sie es ernst auffassen: Ich bedaure das, so war das nicht gemeint.
Die alten Rezepte, die Sie vortragen, sind doch völlig verbraucht. Sie sind im übrigen auch alle schon angewandt worden: Wir haben Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschlossen. Wir haben Investitionsprogramme beschlossen. Die Tarifvertragsparteien haben Arbeitszeitverkürzung beschlossen.
Alles hat uns nicht davor bewahrt, auf rund vier Millionen Arbeitslose zu kommen. Die Rezepte, die Sie auflegen, haben das doch nicht gebracht.
Deshalb ist die einzige Chance, die wir jetzt ergreifen können, eine erneute Chance für Investitionen und Leistungsbereitschaft in Deutschland. Deshalb vertreten wir Steuersenkungen. Hohe Steuern haben wir genug. Da müßten ja die öffentlichen Haushalte solide finanziert sein. Wir müssen herunter, wenn wir öffentliche Haushalte wieder solide machen wollen.
Es macht niemand öffentliche Haushalte solide wenn nicht die, die wieder in Beschäftigung kommen. Herr Lafontaine, Sie haben völlig recht. Sie haben gesagt, soziale Systeme werden solide finanziert und Haushalte können gut bewältigt werden, wenn Menschen in Arbeit kommen, wenn Menschen in Beschäftigung kommen.
Darüber streiten wir doch, welches der bessere Weg ist, um Menschen in Deutschland wieder in Beschäftigung zu bringen.
Herr Kollege Gerhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil ich zwölf Minuten Redezeit habe und das als einen Beitrag vortragen möchte.
Wir haben alle Instrumente ausprobiert, die die Sozialdemokratische Partei für arbeitsmarktpolitische Instrumente gehalten hat, und wir sind trotzdem auf diese Beschäftigungslosigkeit in Deutschland zugelaufen.
Wir wenden uns jetzt Möglichkeiten zu, die nahezu alle europäischen Nachbarländer eingeleitet haben, viel drastischer als wir, im übrigen nicht nur Österreich. Ist denn Dänemark ein Schwellenland, das im Elend lebt, weil es sich zu diesen Maßnahmen durchgerungen hat?
Sind denn die Niederlande, in die viele in Urlaub fahren, ein Elendsquartier, das den Ministerpräsidenten nicht mehr bezahlen kann, weil man die Lohnfortzahlung geändert hat?
Ist denn unser befreundetes Nachbarland Frankreich ein Land, das einem tiefen Fall entgegengeht, weil man dort auch den Mut hat - wie wir -, nahezu in der gleichen Richtung Steuern zu senken, flexible Arbeitsmärkte herzustellen und etwas Beweglichkeit zu bekommen?
Nein, das sind alles Länder, die einen Vorteil gegenüber uns haben. Sie sind nicht in diese innenpolitischen Grabenkämpfe verstrickt, wenn es um Modernisierung ihres Landes geht.
Es gibt einen großen Mentalitätsvorsprung unserer europäischen Nachbarn in bezug auf die Modernisierung ihrer Standorte, die Flexibilisierung ihrer Arbeitsbeziehungen, das Wissen, daß sie Investoren nur ins Land bekommen, wenn sie Steuern herunternehmen, anstatt Steuern zu erhöhen, das Bewußtsein, daß ein Kündigungsschutz eine Wohltat für die ist, die Beschäftigung haben, und eine Ablehnung derer ist, die Beschäftigung suchen. Das sind Binsenweisheiten, die Sie überall in Europa hören, nur nicht bei der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland.
Deshalb können Sie kein Ratgeber sein. Sie können Opposition sein. Sie können das Denken von Menschen vertreten, die keine Veränderung wollen, die alles so belassen wollen, wie es ist. Aber dann werden Sie auch ein Stück Mitverantwortung für Arbeitslosigkeit in Deutschland übernehmen müssen.
So geht es dann nicht: auf die Bundesregierung zeigen und sich selbst kein Stück bewegen.
Das föderative System in Deutschland verpflichtet auch die Länder zur bundespolitischen Verantwortung. Hier ist keiner außerhalb einer notwendigen eigenen Entscheidung.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Es ist schon ein dramatischer Prozeß, Finanzminister der Länder mehrmals tagen zu lassen, ohne bis heute einen konstruktiven Beitrag zu dieser dramatischen Situation liefern zu können.
Das ist eine Verabschiedung weiter Teile des Föderalismus auch aus gesamtstaatlicher Verantwortung.
Ich sage auch ganz deutlich: Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß erwachsene Menschen, die über einem 39-Milliarden-Sparpaket sitzen und ihre Länderhaushalte kennen, auch noch der Öffentlichkeit gegenüber sagen, sie bedauerten, daß sie nicht hätten entscheiden können; sie seien doch von Herrn Lafontaine angehalten worden, zunächst nicht zu entscheiden. Im übrigen sage ich Ihnen: Das ist auch ein Hintergehen der Demonstration, die jetzt kommt.
Die Chemnitzer „Freie Presse" schreibt das sehr schön. Sie sagt:
Da ist schon ein Stück parteipolitisch motivierter Verantwortungslosigkeit im Spiel. Lafontaine und seine Genossen fürchten um ihre Glaubwürdigkeit, wenn ein Teil der SPD in diesem Moment einem Kürzungspaket zustimmt und der andere Teil eine Woche später in Bonn mit den Gewerkschaften auf einer der größten Kundgebungen der vergangenen Jahre gegen das Sparpaket der Bundesregierung zu Felde zieht.
Nach dem Tag am Rhein wird die Wirklichkeit die SPD aber rasch einholen. An den Sparzwängen führt auch in den SPD-Ländern kein Weg vorbei.
Das ist die Wahrheit.
Sprechen wir jetzt über die bevorstehenden Tage! Sie müssen, wenn Sie ehrlich gegenüber dem Deutschen Gewerkschaftsbund sind, ihm auch sagen, daß an einer Flexibilisierung des Arbeitsrechts, an einer größeren Mobilität in den Arbeitsbeziehungen, an größerer Beweglichkeit bei den Öffnungszeiten und an neuen Denkansätzen hinsichtlich steuerlicher Belastungen kein Weg vorbeiführt.
Wenn Sie das nicht sagen können, dann verabschieden Sie sich von einem Stück Mitgestaltung, das in der Bundesrepublik Deutschland jetzt ganz entscheidend ist.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß diejenigen politischen Kräfte, auch wenn es jetzt schwer ist, am Ende gewinnen, die Modernisierung einleiten, die politische Bewegung zeigen und die Flexibilisierung offensiv angehen, und daß diejenigen verlieren werden, die nur defensiv reagieren, die keine Veränderungsbereitschaft zeigen. Das äußere Zeichen war auch der Wahltag am 24: März: Die Menschen spüren zutiefst,
daß in der gegenwärtigen Situation die wahren Konservativen in der Opposition sitzen und daß diejenigen, die etwas bewegen und bewältigen wollen, dieser Koalition angehören.
Es ist schwierig, es macht auch keine Freude, Menschen zum Sparen zu überreden. Es ist aber der einzig richtige Weg, den diese Koalition jetzt einschlägt.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß dieses Land auch mit dem eingeschlagenen Weg nicht in wenigen Tagen oder in wenigen Wochen vier Millionen Arbeitslose beseitigen kann. Selbst wenn es aber nur gelingt, mit dem eingeschlagenen Weg der Beschäftigung in privaten Haushalten einige Hunderttausend in Arbeit zu bringen, selbst wenn es nur gelingt, in kleinen Betrieben mit der Änderung der Schwellenwerte von fünf auf sieben oder acht Beschäftigte zu kommen, selbst wenn es nicht die prognostizierte 1 Million neue Beschäftigte gibt, auch wenn es nur 800 000 werden, ist es besser, diesen Weg einzuschlagen und ihn auch kritisch und gegen Widerstände weiter zu beschreiten, als weiterhin so zu verharren, wie Sie es empfehlen.
Nein, hinter der ganzen Diskussion steckt im Kern die Frage, wer in Bereitschaft zur Modernisierung in Deutschland antritt, wer Strukturwandel begünstigt oder wer ihn verweigert.
Sie kennen alle aus der Tiefenpsychologie das Ergebnis, wenn Menschen sich weigern, Probleme aufzunehmen: Das führt zu Neurosen.
Der Zustand der SPD signalisiert das politisch ganz genau.
Detlev von Larcher [SPD]: Jetzt wird er Kasper!)
Deshalb wird die Koalition auch aus tiefer medizinischer Erkenntnis heraus ihren Weg für Beschäftigung in Deutschland fortsetzen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Dr. Luft.
Herr Abgeordneter Gerhardt, ich wollte Ihnen gar nichts von Ihrer kostbaren Redezeit wegnehmen. Ich wollte Sie nur fragen, was Sie den Millionen Arbeitslosen, die vermutlich jetzt am Fernseher sitzen, weil sie leider sonst nichts zu tun haben, oder die am Radio hängen und diese Debatte verfolgen, zu folgendem Problem sagen: Seit 1990 wurden die Unternehmensteuern in diesem Lande erheblich gesenkt. Die Steuerbelastung der Gewinneinkommen wurde um 20 Prozent gesenkt. In der gleichen Zeit ist die Arbeitslosigkeit um
Dr. Christa Luft
100 Prozent gestiegen. Wie wollen Sie diesen vielen Millionen Menschen, die auch auf diese Debatte und auf das, was diese Bundesregierung auf den Weg bringen will, Hoffnung setzen, klarmachen, daß den neuerlichen Unternehmensteuersenkungen, die Sie in Aussicht gestellt haben, nun tatsächlich neue Arbeitsplätze folgen? Das ist mein erstes Problem.
Das zweite: Gefälligkeitsdemokratie ist ja doch eine Vokabel aus Ihren Reihen in den letzten Monaten gewesen und wohl auch bis in die jüngste Zeit. Sie unterstellen Gefälligkeitsdemokratie all jenen, die sich für die sozial Benachteiligten einsetzen.
Ich frage Sie: Ist es nicht Gefälligkeitsdemokratie höchsten Maßes, wenn sich die F.D.P. pausenlos dafür einsetzt, die Steuerbelastungen für die Vermögenden zu senken und den Vermögenden ständig mehr in die Tasche zu stecken? Ist das nicht Gefälligkeitsdemokratie für eine Klientel, der Sie sich besonders verpflichtet fühlen?
Danke.
Herr Dr. Gerhardt, bitte.
Wir haben einen Denkunterschied, Frau Kollegin Luft, der ist ganz einfach. Ich glaube nicht, daß Arbeitsplätze über staatlichen Transfer und Beschäftigungsprogramme gehalten werden können, sondern ich glaube, daß Arbeitsplätze nur durch Dienstleistungen oder Produkte, die einen Markt haben, die sich verkaufen lassen, gehalten werden können. Um diesen Markt herzustellen, ist es besser, Steuern für die zu senken, die Produkte herstellen, Dienstleistungen anbieten und Risiken eingehen, weil nur über diesen Weg Arbeitnehmer beschäftigt werden können.
Das zur ersten Frage.
Zur zweiten Frage: Es ist richtig, diese Koalition hat immer maßgeblich versucht, Unternehmensbesteuerungen zurückzuführen, und zwar nicht, um Unternehmen eine dickere Tasche zu verschaffen, sondern um Arbeitsplätze möglich zu machen.
Die heutige Bilanz sieht so aus: Da europäische Nachbarländer für einen Investor im Schnitt immer noch etwa um zehn Punkte besser dastehen als wir, ist es aus meiner Sicht im höchsteigenen Interesse der deutschen Arbeitnehmer, die hier ihren Arbeitsplatz suchen, die Steuern herunterzufahren, damit sie hier ihren Arbeitsplatz sichern können. Mich interessiert nämlich die Investition in Frankfurt/Oder und in Berchtesgaden und in Flensburg und weniger die Investition in Belgien, in Frankreich und in den Niederlanden. Deshalb tun wir das.
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst, Herr Gerhardt, war ich schon ein bißchen erschüttert, als Sie mit der Auswertung Ihres Parteitages hier im Parlament begonnen haben. Das kannte ich zwar von früheren Volkskammertagungen vor 1989, aber ich dachte eigentlich, die Zeit ist vorbei.
-Ja sicher muß ich das sagen, weil ich es ja weiß.
In bin darüber hinaus schon ein bißchen entsetzt, wie hier mit dem Wort „modern" umgegangen wird. Was Sie vorschlagen, ist die permanente Begünstigung der sowieso schon Vermögenden, der Reichen und Privilegierten, die Schmälerung des Einkommens derjenigen, die sowieso schon am sozialen Rand sind. Und das Ganze soll modern sein? In Wirklichkeit wird diese Art von Politik schon seit 2 000 Jahren versucht. Da ist überhaupt nichts Modernes dran. Soziale Gerechtigkeit ist etwas Modernes, wohin wir kommen müssen, nicht der Abbau von Sozialleistungen, wie Sie das vorschlagen.
Ich bin ein bißchen entsetzt darüber, Herr Schäuble, daß Sie gesagt haben, man werde dem Druck der Straße nicht nachgeben und damit die Demonstration von möglicherweise 200 000 Menschen - -
- Wenn es 400 000 werden, um so besser, wenn Herr Gerhardt das so vermutet; er wird das ja vielleicht wissen.
Sie versuchen die Demonstration dadurch ein wenig zu diskreditieren. Das ist für mich unverständlich. Was glauben Sie denn, was diese Menschen treibt? Da sind Hunderttausende in größter Sorge, und sie sind dies stellvertretend für Millionen, die in den gleichen Sorgen sind. Eigentlich ist es Ihre Aufgabe als Politiker, die Interessen dieser Menschen zu vertreten, und nicht, zu sagen, sie würden deren Wünschen und deren Druck nicht nachgeben.
Das zweite ist, daß es auch überhaupt nicht glaubwürdig ist; es soll ja tapfer klingen, als ob Sie sozusagen niemals aus irgendwelchen Gründen einem solchen Druck nachgeben. Sie geben doch ganz schnell dem Druck der Arbeitgeberverbände und dem Druck der Banken nach. Dann geben Sie doch endlich auch einmal dem Druck der Bevölkerung und der Gewerkschaften nach! Das wäre ein neuer Stil in der Politik.
Sie haben hier über das „Bündnis für Arbeit" gesprochen; das haben mehrere getan. Ich will das jetzt gar nicht im einzelnen bewerten. Ich will nur darauf hin-
Dr. Gregor Gysi
weisen, daß Sie das Bündnis für Arbeit gebrochen haben. Sie tun das ja immer mit dem gleichen Trick. Das haben Sie übrigens auch schon früher, wenn ich an den Solidarpakt denke, mit der SPD gemacht.
Heute haben wir dafür wieder ein Beispiel. Sie haben den Gewerkschaften die Zustimmung abgetrotzt, daß das Rentenalter schrittweise auf 63 Jahre erhöht wird. Darum wird es ja in der nächsten Debatte dieses Hauses gehen. Damit war auch eine Begrenzung auf 63 Jahre vereinbart. Jetzt bringen Sie einfach ein weiteres Gesetz ein, mit dem Sie die stufenweise Anhebung des Rentenalters auf 65 Jahre durchsetzen wollen. Das ist ein glatter Vertragsbruch. Sie haben Ihre Versprechen gebrochen.
Sie können jetzt doch nicht im Ernst erwarten, daß die Gewerkschaftler an den Konzessionen festhalten, die sie gemacht haben, um andere Dinge zu erreichen, die Sie jetzt nicht einhalten. Diese Art von Politik wird bei der großen Demonstration am morgigen Sonnabend kritisiert werden.
Sie, Herr Gerhardt, haben darauf hingewiesen, daß man Geld nicht durch Demonstrationen drucken lassen kann. Das ist richtig, aber Sie unterstellen damit, daß es in der Bundesrepublik Deutschland zuwenig Geld gibt. Das ist aber nicht wahr; es wird nur höchst ungerecht verteilt.
Ich will Ihnen dazu folgendes sagen: Das Geldvermögen der privaten Haushalte - ich rede jetzt gar nicht von den Banken usw. - hat sich seit 1980 verdreifacht. Auf nahezu 4 Billionen DM bezifferte sich das Nettogeldvermögen im Jahre 1994. Das Grundvermögen privater Haushalte belief sich auf rund 5 Billionen DM.
Doch dieser Reichtum konzentriert sich nur in den Händen eines geringen Teils der Bevölkerung. 10 Prozent der privaten Haushalte besaßen 1993 mehr als die Hälfte des gesamten Geldvermögens. 50 Prozent der Haushalte besaßen gerade einmal 1,2 Prozent des Geldvermögens. 1980 gab es 384 000 Haushalte mit einem Einkommen von mehr als 10 000 DM monatlich, 1988 waren es bereits 972 000, und heute sind es weit mehr als 1 Million.
Nein, es gibt nicht zuwenig Geld in dieser Bundesrepublik, und die Demonstration will auch kein Geld drucken, sondern sie will erreichen, daß es in dieser Bundesrepublik endlich gerechter verteilt wird.
Sie haben darauf hingewiesen, daß Sie eine Wirtschaftspolitik machen müßten, die Investitionen ermöglicht und Arbeitslosigkeit abbaut, die verhindert, daß Unternehmen weiter ins Ausland gehen. Aber alle Rezepte, die Sie dafür vorschlagen, taugen gar nichts; denn das, was Sie als neu verkünden, machen Sie in Wirklichkeit seit 15 Jahren.
Wenn es so wäre, daß der Abbau von Unternehmenssteuern und der Sozialabbau neue Arbeitsplätze schaffen würden - das ist Ihre Theorie -, dann müßten wir inzwischen um Arbeitskräfte aus dem
Ausland betteln; denn diese Politik betreiben Sie seit 15 Jahren, sie hat aber in Wirklichkeit zu über 4 Millionen registrierten und real zu über 6 Millionen Arbeitslosen in dieser Gesellschaft geführt.
- Jedesmal fragen Sie nach einer neuen Zahl, Herr Solms. Das letzte Mal haben Sie mich gefragt, was ich vor 30 Jahren gemacht habe. Das konnte ich beantworten, da habe ich gerade Abitur gemacht. Ich nehme an, vor 15 Jahren habe ich in einem Ehescheidungsverfahren dafür gesorgt, daß die Ehefrau nicht ganz ungerecht behandelt aus der Scheidung hervorgeht. Sie organisieren im übrigen gerade wieder einmal diese Ungerechtigkeit mit Ihren neuen Rechtsakten; dazu komme ich aber noch.
Ich sage Ihnen folgendes: Wenn Sie wirklich Arbeitsplätze schaffen wollen, dann müssen Sie endlich - Sie haben davon gesprochen, daß man Produkte und Dienstleistungen verkaufen können muß - die Binnennachfrage stärken, Sie müssen die Kaufkraft stärken. Dann ist jede Sozialleistungskürzung auch ökonomisch tödlich; denn die Kaufkraft kann man insbesondere bei den unteren Einkommensgruppen, insbesondere bei denen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, stärken; denn diese müssen ihr gesamtes Geld ausgeben.
Wenn Sie den Vermögenden immer mehr Geld geben, erreichen Sie nur, daß sie mehr sparen, aber diese Menschen kaufen nicht mehr. Damit erreichen Sie keine Kaufkrafterhöhung. Deshalb sage ich: Das, was Sie selbst gesagt haben, steht konträr zu dem, was Sie an Politik anbieten.
Sie müßten endlich erreichen, daß das Finanzkapital höher besteuert wird, daß die Spekulationsgewinne abgeschöpft werden und nicht ständig die Wirtschaft belastet wird. Sie müßten dafür sorgen, daß die Kapitalflucht besteuert wird.
Natürlich kann man auch die Lohnnebenkosten ganz anders gestalten. Nirgendwo steht geschrieben, daß es gerechtfertigt ist, daß Betriebe mit gleichem Umsatz und gleichen Gewinnen bei den Lohnnebenkosten unterschiedlich belastet sind, je nachdem, ob es beschäftigungsintensive oder beschäftigungsarme Unternehmen sind. Man könnte die beschäftigungsarmen Unternehmen mit hohen Umsätzen und Gewinnen auch hinsichtlich der Lohnnebenkosten und der Einzahlung in die Versicherungssysteme anders belasten und dafür die beschäftigungsintensiven Unternehmen entlasten. Aber an solche Reformen, die uns wirklich weiterhelfen würden, denken Sie überhaupt nicht.
Wenn Sie sparen, auf wessen Kosten sparen Sie eigentlich und für wen sparen Sie? Die Frage müssen Sie doch beantworten. Sie wollen die Vermögensteuer abschaffen. Welche Bevölkerungsgruppe betrifft denn das? Sie lehnen eine Abgabe für Besserverdienende ab und sprechen in diesem Zusammenhang, Herr Gerhardt, immer von den Leistungsträgern. In Wirklichkeit verdient doch das deutsche Management viel zu gut, es ist satt und bequem, denen
Dr. Gregor Gysi
fällt doch gar nichts mehr ein. Es gibt Manager auf der Welt, die viel mehr Ideen haben, unter anderem auch, weil sie kreativer und nicht derart maßlos überbezahlt sind wie die in der Bundesrepublik Deutschland.
Sie argumentieren, daß mit dem Dienstmädchenprivileg so wunderbare Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Aber Sie kommen doch an der Tatsache nicht vorbei, daß Sie im Grunde genommen nur eines machen: Sie sagen den Vermögenden und Reichen in dieser Gesellschaft, wer sich ein Dienstmädchen leisten kann, der kann die Kosten komplett von der Steuer absetzen. Das ist in höchstem Maße sozial ungerecht.
Was Ihren Erbschaftsteuergesetzentwurf anbetrifft, den Sie jetzt vorgelegt haben: Mit ihm begünstigen Sie wieder die hohen Erbschaften. Was hat nun eigentlich Erbschaft mit Leistung zu tun, Herr Gerhardt? Diese Frage haben Sie noch nie beantwortet. Wieso wird der Freibetrag für einen Ehegatten plötzlich auf 1,5 Millionen DM verdreifacht? Sie stützen sich auf Art. 6 des Grundgesetzes auf den Schutz von Ehe und Familie. Aber der Art. 6 spricht nicht von der Privilegierung der Ehe; er spricht nur von dem Schutz der Ehe und der Familie.
Weshalb werden immer noch in mittelalterlicher Weise nichteheliche Lebensgemeinschaften so schwer diskriminiert?
- Nein, lassen Sie sich diese eine Zahl doch einmal durch den Kopf gehen: Wenn nach Ihrem neuen Gesetzentwurf eine Erbschaft von 2 Millionen DM anfällt, müßte ein Ehegatte 50 000 DM Erbschaftsteuer zahlen, ein nichtehelicher Lebenspartner aber 900 000 DM. Das ist eine so ungeheuerliche Diskriminierung anderer Lebensweisen, daß ich dachte, als ich das gelesen hatte, ich sei wieder im vorigen Jahrhundert angekommen.
- Ja, ich mache Ihnen gleich einen Vorschlag. - Dann sagen Sie, das Ganze sei Schutz der Familie. Aber das Kind einer alleinerziehenden Mutter oder eines alleinerziehenden Vaters sitzt nach Ihrem Gesetzentwurf in der höchsten Steuerklasse. Das soll etwas mit Schutz der Familie zu tun haben? Das alles liegt daran, daß Sie die alleinerziehende Mutter und den alleinerziehenden Vater permanent diskriminieren. Sie erkennen sie nicht an, obwohl sie vielleicht größere Leistungen als andere in dieser Gesellschaft erbringen.
Unser Entwurf liegt Ihnen vor; Sie können ihn sich ansehen. Er enthält eine einheitliche Freigrenze von 250 000 DM, eine einheitliche Steuer für alle, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad, und eine progressive Steigerung nach oben, je höher die Erbschaft ist; denn die Erbschaftsteuer soll ja auch der Vermögensumverteilung in einer Gesellschaft dienen, um bestimmte Dinge finanzieren zu können.
Gleichzeitig haben wir aber auch beim Betriebsvermögen Gerechtigkeit hergestellt und Existenzgründer sowie kleine und mittelständische Unternehmen durchaus geschützt. Es handelt sich also um einen sehr differenzierten Vorschlag, der wesentlich mehr Gerechtigkeit herstellen würde.
Was Sie sich in bezug auf Ostdeutschland in letzter Zeit erlauben, das ist eine Fortsetzung der Diskriminierung aus der vergangenen Zeit. Wenn Sie die Mittel bei der Bundesanstalt für Arbeit derart kürzen, wie Sie es vorschlagen, dann wissen Sie auch, was die Auswirkung ist: daß nämlich die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutschland rigide gestrichen werden, obwohl sie zumeist die einzige Hoffnung für Millionen Menschen in den neuen Bundesländern darstellen. Unter ihnen befinden sich übrigens überwiegend Frauen, die Sie in andere Sozialsysteme schicken, indem Sie ihnen selbst diese Beschäftigung wieder nehmen.
Herr Kollege Gysi, gucken Sie bitte einmal auf die Uhr. Das geht jetzt alles zu Lasten Ihres Kollegen Rössel.
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident.
Wenn ich dann höre, daß beim Schlichtungsvorschlag im öffentlichen Dienst gesagt wird, daß die Löhne im Osten im nächsten Jahr um 1 Prozent angehoben werden sollen, um dann 85 Prozent zu betragen, wobei alle Nebenverdienste nicht mitberücksichtigt sind, dann bitte ich Sie, der Krankenschwester in den neuen Bundesländern einmal zu erklären, weshalb sie für 100 Prozent Arbeit nur 85 Prozent Lohn bekommt, und dies auch noch auf Jahre hinaus.
Nein, was Sie betreiben, ist nicht modern. Sie betreiben nicht nur einen materiellen Kampf, Sie betreiben auch eine geistige Auseinandersetzung. Aber wir werden dafür streiten, daß der Begriff der sozialen Gerechtigkeit modern bleibt, einen guten Klang behält und morgen hier in Bonn bei der großen Demonstration ganz laut ertönt.
Das Wort hat die Kollegin Gerda Hasselfeldt, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, es ist an der Zeit, daß wir wieder zur Sache kommen.
Der bisherige Verlauf der Debatte hat die Unterschiede zwischen unserem steuerpolitischen Ansatz und den diversen Vorschlägen der Oppositionsparteien deutlich gemacht: Wir setzen unsere Politik der steuerlichen Entlastung fort und legen einen besonderen Schwerpunkt auf Wachstum und Beschäftigung.
Sie wollen statt Entlastung eine stärkere Belastung der Bürger. Statt weniger Steuern wollen Sie Steuererhöhungen.
- Schauen Sie sich doch Ihre Gesetzentwürfe zur Erbschaft- und Vermögensteuer an! Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft ist Ihnen egal.
Wir hingegen setzen deutliche Wachstumsimpulse: durch die Abschaffung der wachstumsschädlichen betrieblichen Vermögensteuer,
durch die Absenkung des Solidaritätszuschlags, durch die Hilfen bei Existenzgründungen und durch Anreize für Beschäftigungsverhältnisse in privaten Haushalten.
Meine Damen und Herren, für leidige Neiddiskussionen, wie Sie sie im Verlauf der Debatte wieder an den Tag gelegt haben, und für Verteilungskämpfe ist in dieser Debatte wahrlich kein Raum.
Auch bei der Erbschaft- und Vermögensteuer setzen wir die richtigen Akzente. Das Verfassungsgericht hat uns in seinen beiden Beschlüssen vom Juni vergangenen Jahres die Grenzen gezeigt. Es hat auch deutlich darauf hingewiesen, daß die Stunde der Entlastung, nicht die der Belastung geschlagen hat. Dies gilt in besonderer Weise für das Familiengebrauchsvermögen, für das selbstbewohnte Einfamilienhaus und für die mittelständischen Unternehmen. All diesen Vorgaben trägt unser Entwurf Rechnung: durch eine gegenwartsnähere Bewertung, durch Freibeträge, durch sachgerechte Abschläge und durch entsprechende Tarife.
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten die Beratung bezüglich aller Einzelheiten dieses Gesetzes sehr ernst nehmen. Wir werden uns mit allen Vorschlägen ernsthaft auseinandersetzen. Eines aber wird am Schluß nicht der Fall sein: Es wird nicht dazu kommen, daß das Ganze, wie Ihre Vorschläge, nicht den Beschlüssen des Verfassungsgerichts gerecht wird.
Dagegen gehen die Vorschläge der SPD zur Vermögen- und Erbschaftsteuer in eine völlig andere Richtung. Dadurch nämlich soll ein Mehraufkommen in Höhe von sage und schreibe 6 Milliarden DM erzielt werden. Die Vorschläge der Grünen führen sogar zu einem Mehraufkommen von 11 Milliarden DM.
Sie verdoppeln damit das bisherige Aufkommen aus Vermögen- und Erbschaftsteuer und rühmen sich dann auch noch damit, indem sie dem Ministerpräsidenten Lafontaine sagen: Das wird Ihnen sicher recht sein. - Bestreiten Sie deshalb nicht die von mir anfangs gemachte Äußerung, daß dies nur ein Steuererhöhungs- und kein Steuerentlastungsprogramm sei!
Meine Damen und Herren, in diesen Zeiten ist nicht Steuererhöhung, sondern Steuervereinfachung und Steuerentlastung angesagt.
Frau Kollegin Hasselfeldt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Scheel?
Ja, bitte. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
Frau Hasselfeldt, ich habe in meinem Redebeitrag ein Beispiel genannt, wonach ein Ehepartner ohne Kinder - angenommen, der Mann stirbt und vererbt an seine Ehefrau - einen relativ geringen Anteil an Erbschaftsteuer zahlen muß. Dieser würde letztendlich bei einem Rohvermögen in Höhe von 1,3 Millionen DM nur 6 000 DM betragen.
Ich habe ein weiteres Beispiel: Das Familienerbe beträgt 1,5 Millionen DM; es sind zwei Kinder vorhanden. Nach unseren Vorschlägen hat der Mann bzw. die Frau - je nachdem, welcher Partner stirbt - nur 2 750 DM, jedes Kind lediglich 150 DM an Erbschaftsteuer zu zahlen.
Christine Scheel
Glauben Sie nicht, daß diese Besteuerung bei einem Rohvermögen von 1,5 Millionen DM als noch sozialverträglich bezeichnet werden kann?
Frau Scheel, ich glaube, es macht wenig Sinn, wenn wir uns auf einzelne Beispiele beziehen.
Ich könnte Ihnen auch jede Menge von Beispielen aus unserem Entwurf nennen. In den Ausschußberatungen werden wir das intensiv tun. Wir werden daran das eine oder andere beweisen.
Tatsache ist - das können Sie nicht bestreiten - daß Sie mit Ihrem Entwurf der Erbschaft- und Vermögensteuerreform ein Gesamtvolumen von mehr als 11 Milliarden DM über das bisherige Maß hinaus vorschlagen. Das stellt in etwa eine Verdoppelung des bisher erzielten Betrages dar.
Das kann nur von denjenigen, die steuerpflichtig sind, und von denjenigen, die eventuell bis jetzt noch gar keine Steuer zahlen, das heißt von denjenigen, die dann künftig steuerpflichtig sind, aufgebracht werden. Eine Verdoppelung des Steueraufkommens entspricht also einer deutlichen Steuererhöhung für alle Beteiligten.
Frau Kollegin Hasselfeldt, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?
Ja. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
Frau Kollegin Hasselfeldt, es ist in der letzten Zeit bei den Koalitionsfraktionen geradezu Mode geworden, den Sozialdemokraten in diesem Hause die Politik anderer sozialdemokratischer Regierungen etwa in Österreich, in den Niederlanden oder in Schweden vorzuhalten. Heute hat der Bundesfinanzminister dies wieder mit dem Beispiel Österreich getan.
Ist Ihnen bewußt, daß zum Beispiel die schwedische sozialdemokratische Reichsregierung die notwendigen Einsparungen im Sozialbereich durch eine genauso notwendige Erhöhung der Vermögensteuer abgefedert hat, und warum verschweigen Sie dies immer?
Ich habe in meinem Redebeitrag zumindest bislang nicht und auch sonst keine anderen Beispiele gebracht, finde es aber - um das einmal klarzustellen - richtig, wenn andere Beispiele herangezogen werden.
Im übrigen geht es bei unserem Gesetzentwurf darum, die Weichen richtig zu stellen. - Ich bin noch bei der Beantwortung Ihrer Frage. Ich bitte darum, daß mir das nicht von der Redezeit abgezogen wird, denn sonst wird es etwas knapp.
Es geht bei der Beantwortung dieser Frage und bei der Regelung durch diese Gesetze nicht darum, nur einige Teilbereiche aus Regelungen in anderen Ländern herauszupicken, sondern es geht um ein Gesamtkonzept. Dieses Gesamtkonzept - auf die Vermögensteuer komme ich noch - ist mit Sicherheit dann richtig, wenn es zu einer Entlastung bei den substanzverzehrenden Steuern führt, nämlich bei der die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigenden, wachstumsschädlichen Vermögensteuer. Darauf komme ich anschließend noch zu sprechen.
Meine Damen und Herren, in einer Zeit leerer öffentlicher Kassen, in einer Zeit, in der die Steuerbelastung mit an der Spitze vergleichbarer Länder steht, kann die Devise nur lauten: Senkung der Steuerlast und Beschränkung der Staatsausgaben. Deshalb muß dieses gesamte Steuerpaket auch im Zusammenhang mit den Konsolidierungsbemühungen aller öffentlichen Haushalte gesehen werden.
Dazu gehört in der Tat Mut. Dieser Mut ist aber auch schon im Vorfeld von Demonstrationen angebracht. Keiner spart gerne, und auch mir ist es nicht leichtgefallen, die Nichtanhebung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages zu unterstützen, aber es ist zweifellos richtiger, noch gar nicht gewährte Erhöhungen zu verschieben als bestehende Leistungen zu kürzen.
Nach meinen Gesprächen vor Ort haben die betroffenen Familien wesentlich mehr Verständnis für diese Entscheidung als so manche Funktionsträger und notorischen Neinsager aus Ihren Reihen.
Mit der vorgesehenen Abschaffung der betrieblichen Vermögensteuer ergreifen wir nun die Chance, uns einer substanzverzehrenden, einer wachstumsschädlichen Steuer zu entledigen. Es wurde schon angesprochen, daß sie aus versteuertem Einkommen und in Verlustjahren sogar aus der Substanz entrichtet werden muß, und das ist vor allem für junge Unternehmen in der Existenzgründungsphase besonders wachstumsschädlich,
ganz zu schweigen von den Unternehmen in den neuen Bundesländern, wo sie bisher nicht erhoben wurde und wo die Unternehmen noch über wenig Eigenkapital verfügen.
Gerda Hasselfeldt
Wer für die Beibehaltung der betrieblichen Vermögensteuer plädiert, der setzt leichtfertig zusätzliche Arbeitsplätze aufs Spiel.
Weil es keinen Sinn macht, für ein geringes Aufkommen aus der privaten Vermögensteuer einen hohen Verwaltungsaufwand zu betreiben, soll auch die private Vermögensteuer in der jetzigen Erhebungsform abgeschafft werden, aber das Aufkommen aus dieser in die Erbschaftsteuer integriert werden.
Meine Damen und Herren, diese Vermögensteuerdiskussion eignet sich nicht für eine Neiddiskussion.
An dieser Stelle sollten wir doch zur Sachlichkeit und zu einem Pro und Kontra in bezug auf die einzelnen Argumente übergehen.
Tatsache ist nun einmal, daß sich im Fall ihrer Beibehaltung die Vermögensteuer auf Grund der Bundesverfassungsgerichtsbeschlüsse zu einer reinen Sandwich-Steuer entwickeln würde, weil nämlich sowohl der untere als auch der obere Bereich nicht mehr besteuert werden dürften.
Da hilft auch alles nichts, liebe Frau Scheel, wenn Sie sagen, das Verfassungsgericht habe nicht gesagt, die Vermögensteuer müsse abgeschafft werden. Das ist richtig, aber wenn man genau betrachtet, was das Verfassungsgericht gesagt hat, dann kommt man eben zu dem Ergebnis, daß nur mehr ein kleiner Bereich übrigbleibt, der in erster Linie den Mittelstand belastet, weil der obere und der untere Bereich nicht mehr besteuert werden dürfen. Dann haben Sie einen unheimlich hohen Verwaltungsaufwand - der bei der Erhebung der privaten Vermögensteuer noch höher ist als bei der betrieblichen - für ein relativ geringes Aufkommen. Dies kann nicht im Sinne von Steuervereinfachung und -gerechtigkeit sein.
Frau Kollegin Hasselfeldt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Scheel?
Bitte sehr.
Frau Hasselfeldt, Sie sagen, daß dies nur den Mittelstand trifft. Sie wissen genau, daß wir bei den unteren und mittleren Einkommen entlasten. Sie müssen aber auch sehen, daß die Überlegung „Beibehaltung der Vermögensteuer" mit den Überlegungen zu koppeln ist, die Sie und auch wir im Bereich der Einkommensteuer anstellen, das heißt, die Spitzensteuersätze auch bei der Einkommensteuer zu senken. Wenn ich dies tue und bei der Besteuerung der Unternehmen die Gewerbekapitalsteuer beseitige, habe ich genug Spielraum, um die Vermögensteuer für die Höhervermögenden beibehalten zu können. Glauben Sie das nicht auch?
Frau Scheel, auch Sie wissen genau, daß die Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer - die wir anstreben, wozu wir Kommissionen gebildet haben, die daran arbeiten - nicht schon in einigen wenigen Monaten fertiggestellt sein kann. Es sind vielmehr in der Tat, wenn man es richtig machen will, umfangreiche und fundierte Vorarbeiten notwendig, um diese Reform wirklich sachgerecht über die Bühne bringen zu können. Ich halte nichts davon, dies alles, nur um dem einen oder anderen gerecht zu werden, in einen Topf zu werfen und eine für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes so wichtige Entscheidung Hals über Kopf zu treffen.
Nun wird die Diskussion um die Vermögensteuer auch immer unter dem Gesichtspunkt des Neides und der sozialpolitischen Asymmetrie geführt.
Ich will Ihnen dazu einige Zahlen nennen. Untersuchungen in Rheinland-Pfalz und in Bayern im vergangenen Jahr haben gezeigt, daß die private Vermögensteuer gerade nicht eine Zusatzbelastung für die sogenannten Besserverdienenden ist. Rund 71 Prozent der Vermögensteuerpflichtigen haben nämlich bei der Einkommensteuer einen Grenzsteuersatz von unter 35 Prozent. Dennoch trägt dieser Bereich etwa 32 Prozent des privaten Vermögensteueraufkommens. Die Neiddiskussion, die Sie bei diesem Thema immer entfachen, greift also nicht.
Ich möchte schon darum bitten, daß wir die Verteilung des gesamten Steueraufkommens und die sachlichen Argumente in bezug auf die Vermögensteuer in die Bewertung ganz genau mit einbeziehen.
Im Zusammenhang mit dieser Neiddiskussion ist auch die Entscheidung der SPD über die Anhebung des Solidaritätszuschlages für sogenannte Besserverdienende von 7,5 auf 10 Prozent zu sehen.
- Herr von Larcher, ich verstehe ja, daß Sie das nicht gerne hören; es ist nun aber einmal so. Weil es so ist, werde ich es auch immer wieder behaupten, auch wenn Sie es nicht gerne hören.
Frau Kollegin Hasselfeldt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Ja, bitte sehr.
Frau Kollegin Hasselfeldt, da Sie jetzt wiederum auf eine angebliche Neiddiskussion abheben,
würde mich doch noch einmal Ihre Antwort auf die Frage interessieren, wie Sie die Erbschaftsteuer, über die wir hier in erster Linie sprechen, mit Leistung in Verbindung bringen. Ich möchte einmal auf den doch sehr bekannten liberalen Ökonomen Eukken verweisen, der die Meinung vertrat, daß man im Prinzip die gesamte Höhe einer Erbschaft versteuern könnte, weil keine eigene Leistung dahinter steht.
Warum lassen Sie sich durch die Ablehnung der von uns vorgeschlagenen Nachlaßbesteuerung diese Quelle einer tatsächlich möglichen Umverteilung entgehen?
Liebe Frau Dr. Höll, ich darf Sie darauf hinweisen, daß wir in einem Rechtsstaat auf der Grundlage des Grundgesetzes leben und daß wir uns alle - insbesondere der Gesetzgeber - an Beschlüsse des Verfassungsgerichtes zu halten haben. Dies ist Punkt eins.
Punkt zwei: Leistung hat auch etwas mit Eigentum zu tun. Nicht nur Verfassungsgerichtsbeschlüsse sind einzuhalten, sondern auch das Eigentum - auch im Bereich der Familie - ist zu schützen.
Das ist - vielleicht im Gegensatz zu Ihrer Auffassung - eine wichtige Grundauffassung von uns.
- Ich habe Ihre Frage beantwortet.
Im Zusammenhang mit dieser Neiddiskussion ist der Vorschlag der letzten Tage von seiten der SPD zu sehen, bei Besserverdienenden den Solidaritätszuschlag zu erhöhen. Wissen Sie eigentlich noch, was Sie vor wenigen Wochen gefordert haben? - Wenn Sie es nicht mehr wissen, dann sage ich es Ihnen: Da haben Sie nämlich die Absenkung des Solidaritätszuschlags gefordert.
- Sogar die Abschaffung. - Wissen Sie auch, was Sie mit dieser Erhöhung fordern? - Sie fordern eine Progression auf eine schon vorhandene Progression. Denn durch den linear-progressiven Tarif werden die höheren Einkommen schon ohnehin stärker mit dem Solidaritätszuschlag belastet. Ihr Vorschlag wurde gestern im Bundestag also zu Recht abgelehnt. Er ist rechtlich problematisch, er ist volkswirtschaftlich schädlich, und er ist politisch in höchstem Maße unglaubwürdig.
Wir setzen dagegen auf Anreize für mehr Beschäftigung. Ein wichtiges Beispiel dafür sind die Hilfen für die Existenzgründer. Ich habe großen Respekt vor und große Anerkennung für jeden jungen Menschen, der sich nach seiner Ausbildung, nach seiner Qualifizierung selbständig macht, der Risiken eingeht, der seine Zukunft selbst in die Hand nimmt und auch noch Arbeitsplätze für andere schafft.
Diese jungen Menschen haben häufig Probleme mit Eigenkapitalbildung und gehen Insolvenzrisiken ein. Wir wollen ihnen helfen, wir wollen sie fördern, weil wir genau wissen, daß in diesem Bereich, beim Mittelstand, ein großes Potential an zusätzlichen Arbeitsplätzen besteht.
Auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten in privaten Haushalten werden wir erschließen. Der Sonderausgabenabzug wird durch den Wegfall der bisherigen Einschränkungen und durch die Verdoppelung des abziehbaren Höchstbetrags auf 24 000 DM erweitert. Dies ist ein echter Anreiz zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze und im übrigen auch ein Vorteil für viele Arbeitnehmer, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden.
Ich begrüße es im übrigen, daß die SPD von ihrer früher völlig ablehnenden Haltung in dieser Frage nun doch etwas abgerückt ist. Aber die von Ihnen jetzt geplante Subvention von 25 DM bei 2,5 Stunden pro Woche ist im Einzelfall als Anreiz zu gering. Es ist ein Gießkannenprinzip. Die Beschränkung auf Haushalte mit mindestens einem Kind unter 14 Jahren oder einer hilfsbedürftigen Person über 80 Jahre beschränkt zudem den geförderten Personenkreis, der Arbeitsplätze schaffen könnte, zu stark. Sie haben also mit Ihrem Vorschlag zwar Mitnahmeeffekte;
aber Sie haben keine tatsächlichen Anreize. Deshalb ist die von Ihnen erwartete Größenordnung von 700 000 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen völlig unrealistisch.
Wir sollten, denke ich, diese Maßnahmen ideologiefrei diskutieren
und letztlich nach folgenden Kriterien bewerten: Womit schaffen wir tatsächliche Anreize für zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse? Womit schaffen wir Verbesserungen für die Arbeitnehmer? Wie schaffen wir es, daß in diesem Bereich mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte tätig werden und nicht im
Gerda Hasselfeldt
Schwarzbereich oder unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze? Was ist einfach praktikabel?
Ich bin sicher, daß unser Vorschlag dazu die richtige Grundlage ist.
Wir haben in den nächsten Monaten die große Chance, unser Steuersystem zu vereinfachen, indem wir beispielsweise die Vermögensteuer abschaffen,
es wachstumsfreundlicher zu gestalten und damit die Grundlage für mehr Beschäftigung zu legen. In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die Unternehmensteuerreform, die heute schon mehrfach angesprochen wurde.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie wären gut beraten, sich dabei nicht zu verweigern und nicht weiter zu blockieren. Wer sich den jetzt notwendigen Entscheidungen verweigert, wer nur auf Besitzständen beharrt,
der schadet den Menschen in unserem Land, die Arbeit suchen oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind.
Dieser Appell gilt auch für die Länder. Sie sind nicht die Befehlsempfänger aus der SPD-Baracke, sondern sie haben eine gesamtstaatliche Aufgabe zu erfüllen. Diese gesamtstaatliche Aufgabe lautet, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft für den internationalen Wettbewerb fitzumachen und nicht die Augen davor zu verschließen, was sich in anderen Ländern rings um uns herum bewegt.
Dies geht nur mit einem strikten Sparkurs aller öffentlichen Haushalte. Dies geht nur mit einer Steuerpolitik, die Anreize für Leistung und Beschäftigung bietet.
Ich will hinzufügen: Dies geht auch nur mit einer Verantwortung aller in unserer Gesellschaft, auch der Tarifpartner, die in der jetzigen Situation einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten können und auch leisten müssen.
Ich denke, daß wir mit dem vorliegenden Entwurf des Jahressteuergesetzes 1997 eine ganz wichtige und gute Grundlage dafür geschaffen haben, in unserem Land wieder mehr Beschäftigung, mehr Arbeitsplätze für unsere Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Sie haben die Möglichkeit, hieran konstruktiv mitzuarbeiten.
Das Wort hat Kollege Joachim Poß, SPD.
Herr Präsident, zunächst möchte ich Ihnen zu Ihrem heutigen Geburtstag herzlich gratulieren.
Danke!
Nach diesem erfreulichen Ereignis möchte ich mich einem weniger erfreulichen zuwenden, nämlich der Rede von Herrn Waigel heute morgen.
Ich will den Finanzminister direkt ansprechen: Herr Waigel, Sie haben heute morgen eine herabsetzende Bemerkung gemacht. Sie haben bezweifelt, daß die deutschen Sozialdemokraten etwas im Kopfe haben. Ich glaube, Sie haben allen Anlaß, mit herabsetzenden Bemerkungen vorsichtig zu sein, denn angesichts des Steuerchaos und der Staatsverschuldung und der Ergebnisse Ihrer Politik muß man fragen: Was müssen Sie im Kopf haben?
Wer zu solchen persönlichen Klassifizierungen kommt, vergiftet in der Tat die Atmosphäre. Dies sage ich gemessenen Wortes.
Das gilt auch für Herrn Gerhardt. Er hat das böse Wort vom „Dachschaden" im Zusammenhang mit dem Fahrradunfall von Herrn Scharping aufgenommen. Herr Gerhardt ist leider nicht mehr da.
Er ist der lebende Beweis dafür, wie man lächelnden Gesichtes und mit leiser Stimme schlimme Gemeinheiten formulieren kann.
Ansonsten ist er sehr stark darin, Allgemeinplätze und Belanglosigkeiten von sich zu geben. Er ist der Belanglosigkeitsweltmeister der F.D.P.
Aber man sieht, es geht auch auf der gemeinen Ebene.
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sohns?
Ja, bitte.
Herr Kollege Poß, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß Herr Gerhardt gerade nicht den Kollegen Scharping gemeint hat, sondern gesagt hat, daß das woanders eingetreten wäre?
Herr Kollege Solms, die Assoziation, die erzeugt werden sollte, war schon klar; sie war von anderen vorher auch schon in der Presse zu lesen. Auch Herr Hörster hat sich so ähnlich eingelassen.
Nun aber zur Sache, zunächst zur Gewerbesteuer. Es geht nicht isoliert darum, wie die SPD zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer steht. Es geht darum, daß diese Koalition endlich Klarheit über die Zukunft der Gewerbesteuer insgesamt schaffen muß. Will sie mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer den Einstieg in den Ausstieg, oder will sie den Gemeinden Planungssicherheit geben? Will sie bei der Gewerbeertragsteuer bleiben, will die Koalition insgesamt wie Herr Waigel sie sogar im Grundgesetz verankern und damit deren Aufkommen sichern? Dies ist bis heute unklar. Es wird vernebelt. Sie müssen die Antwort geben, was mit der Gewerbesteuer wird!
Angesichts der enormen Probleme, mit denen die Kommunen vor Ort zu tun haben, dem Abbau der Infrastruktur, dem Abbau des Sozialangebots, all dem, was auf der Tagesordnung steht, brauchen sie diese Planungssicherheit.
Zu Herrn Schäuble - ich nehme ihm nicht übel, daß er nicht mehr da ist - wollte ich nur sagen: Herr Lafontaine hatte recht, als er den Monti-Bericht zitierte.
Während, so steht es im Monti-Bericht ausdrücklich, die Arbeit allerdings immer höher belastet wurde, sank die steuerliche Belastung der übrigen Produktionsfaktoren insgesamt. So, wie es Lafontaine hier dargestellt hat, war es genau richtig.
Zurück zu unserem fulminanten Finanzminister Waigel. Schon heute ist abzusehen, daß beim Jahressteuergesetz 1997 das gleiche Beratungschaos und die gleiche Beratungshektik entstehen werden wie bei allen Steuergesetzen der letzten Jahre. Die Verantwortung dafür trägt einzig und allein die Bundesregierung, denn sie zwingt das Parlament, Gesetze in einer Weise zu beraten, die mit einem ordnungsgemäßen Verfahren nichts mehr zu tun haben.
Wir überweisen heute in erster Lesung ein Gesetz an die Ausschüsse, das schon für den Beginn dieses Jahres angekündigt war. Aber die Bundesregierung hat ihren Gesetzentwurf, der mit dem heute vorliegenden Entwurf der Koalitionsfraktionen identisch ist, bewußt verschleppt, weil sie sich davon parteipolitische Vorteile versprochen hat.
Der erste Grund hierfür ist: Vor den Landtagswahlen am 24. März wollten Sie den Wählern nicht die Wahrheit sagen: nicht die Wahrheit über die Lage der Staatsfinanzen, nicht die Wahrheit über die Einschnitte, die Sie vorhaben. Monatelang haben Sie behauptet, Sie müßten erst die Ergebnisse der Steuerschätzung im Mai abwarten, denn erst danach hätten Sie die notwendige Klarheit. Dies war aber nur vorgeschoben. Sie sagten: So ist es.
Sie haben die Öffentlichkeit absichtlich getäuscht. Ich zitiere den Bundesfinanzminister aus seiner Presseerklärung zu den Ergebnissen der Steuerschätzung vom 15. Mai 1996: Diese Ergebnisse „sind von der Bundesregierung seit längerem erwartet" worden. Das habe sich schon seit dem Spätsommer 1995 abgezeichnet.
Ja, wenn Sie das alles schon so lange gewußt haben, warum haben Sie sich als Bundesfinanzminister nicht hingestellt, Ihrer Verantwortung gerecht werdend, und dies auch der Öffentlichkeit gesagt? Dazu haben Ihnen Wille und Mut gefehlt,
weil Sie auf Geheiß des Bundeskanzlers und zur Stützung Ihres maroden Koalitionspartners handeln mußten. Die Politik dieser Bundesregierung ist von Falschinformation, Verschleierung, Unwahrheiten und Halbwahrheiten gekennzeichnet.
Was ist das für ein Umgang mit dem Parlament, mit den Bürgerinnen und Bürgern und mit der gesamten deutschen Öffentlichkeit?
Es gibt noch einen zweiten Grund für das Verschleppen Ihres Entwurfs zum Jahressteuergesetz 1997. Sie wollten zum Jahresende Zeitdruck erzeugen, um die Vermögensteuer zu beseitigen. Der Finanzminister selbst hat mit diesem Fristablauf gedroht, wenn die Länder seinen Plänen nicht zustimmen. Das ist kein Stil für den parlamentarischen Entscheidungsablauf. Das ist brutale parteipolitische Instrumentalisierung.
Die Steuer- und Finanzpolitik dieser Regierung verletzt zentrale Grundsätze der Besteuerung. Sie setzt sie zur bewußten Umverteilung von unten nach oben ein - das kann mit Zahlen belegt werden - und zur Klientelbedienung in einem bisher nicht vorstellbaren Ausmaß. Diese Politik der Klientelbedienung und der sozialen Kälte wird von Ihnen semantisch als Politik zur Standortsicherung verschleiert. Die Koalition betreibt tatsächlich pure Gefälligkeitspolitik. Unser Land braucht aber eine solide Steuerreformpolitik.
Joachim Poß
Die bisher aus Ihren Reihen bekanntgewordenen Vorschläge für eine Reform der Einkommensbesteuerung sind auf billigen Stimmenfang angelegt und finanzpolitisch völlig unseriös. Mit Steuergerechtigkeit haben diese Vorschläge überhaupt nichts zu tun.
Seit dem letzten Wochenende hat die F.D.P. nun ihr Stufenmodell. Es bedeutet im Klartext: Progression nur noch für kleinere und mittlere Einkommen, einheitlicher Grenzsteuersatz für die Bezieher hoher Einkommen. Wer als Alleinstehender 5 000 DM im Monat verdient, soll den gleichen Steuersatz haben wie jemand, der 50 000 DM im Monat verdient. Daß es keine Progression mehr geben soll, ist ein schwerer Verstoß gegen die Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit.
Legt man die Durchschnittsbelastung zugrunde, dann ergibt sich nach dem F.D.P.-Stufenmodell für einen Verheirateten mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 200 000 DM eine Steuerbelastung von etwa 25 Prozent. Das ist Klassenkampf von oben mit Hilfe der Steuerpolitik.
Der von der F.D.P. vorgeschlagene Stufentarif ist aber nicht nur unsozial, er ist auch unseriös. Er reißt riesige Finanzlöcher auf, die F.D.P. selbst gibt bereits ein Finanzloch von rund 75 Milliarden DM zu. Das bei den Haushaltsproblemen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Das gleiche gilt für den Vorschlag von Herrn Uldall. Hier gibt es sogar noch höhere Ausfälle. Solche Vorschläge sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen.
Von allen Fachleuten werden diese Stufentarife deshalb zu Recht abgelehnt. Es ist schon ein trauriges Bild, das Sie bei den Reformen der Einkommensbesteuerung abgeben. Erst die kläglichen Versuche bei der Freistellung des Existenzminimums, Buckeltarif usw., und jetzt diese absurden Stufentarife.
Wer eine grundlegende Einkommensteuerreform will, muß sich zuerst ernsthaft Gedanken machen, welche steuerlichen Vergünstigungen und Ausnahmeregelungen er beseitigen will. Dann läßt sich das zur Verfügung stehende Finanzvolumen abschätzen. Ein größeres Volumen erreicht man auch durch konsequente Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht.
Erst dann kann man über Tarifstrukturen reden.
Aber Ihnen geht es gar nicht um eine ernsthafte Reform; es geht Ihnen um Augenwischerei. Sie wollen gar nicht ernsthaft Vergünstigungen abbauen.
Das Jahressteuergesetz 1997 ist dafür ein weiteres Beispiel. Unter „Zielsetzung" steht in Ihrem Gesetzentwurf - schauen Sie nach; das ist Seite 1 -: Abbau von Steuervergünstigungen. Das hat auch Herr Waigel heute morgen erwähnt.
Ein Blick in den Teil „Finanzielle Auswirkungen des Gesetzes" zeigt folgendes: Abbau steuerlicher Vergünstigungen in Höhe von 75 Millionen DM - es handelt sich um den Wegfall der Sonderabschreibungen für Schiffe und Flugzeuge, die ich hier jetzt gar nicht inhaltlich bewerten will -, Ausweitung der steuerlichen Vergünstigungen in Höhe von 400 Millionen DM, nämlich bei der Ansparabschreibung und bei den häuslichen Beschäftigungsverhältnissen. Im Ergebnis ist das also eine Ausweitung von 325 Millionen DM.
Wenn Sie ehrlich wären, hätten Sie nicht in das Gesetz schreiben dürfen: „Abbau steuerlicher Vergünstigungen", sondern Sie hätten schreiben müssen: Ausweitung steuerlicher Vergünstigungen.
Das ist ein Etikettenschwindel, der allerdings charakteristisch für Ihre Politik ist.
Wir haben für die häuslichen Beschäftigungsverhältnisse ein Modell entwickelt, das eine einkommensunabhängige Förderung außerhalb des Steuerrechts vorsieht. Das ist konkrete Steuervereinfachung; die Förderung ist einkommensunabhängig und wird transparent ausgewiesen. Nur, Sie haben gar kein Interesse daran, weil Sie bewußt die einkommensstärkeren Gruppen bevorteilen wollen, und Sie nehmen dafür massive Mißbrauchsmöglichkeiten bewußt in Kauf, wenn Sie eine Regelung im Steuerrecht wollen. Deswegen lehnen wir Ihren Vorschlag ab; unser Vorschlag ist nämlich besser.
Der eigentliche Knackpunkt dieses Gesetzes ist ein verteilungspolitischer Skandal ersten Ranges. Sie haben keine Skrupel, beschlossene Gesetze wieder zu kassieren, um Vermögensmillionären Geschenke in Milliardenhöhe zu machen. Sie wollen die gesetzlich bereits beschlossene Erhöhung des Kindergeldes und des Grundfreibetrags verschieben.
Bei den Familien mit zwei Kindern sammeln Sie pro Monat 40 DM ein. Bei den großen Privatvermögen teilen Sie Geschenke aus, die für einzelne in die Millionen gehen. Die Bundesregierung garantiert einzelnen Vermögensmillionären jedes Jahr einen Volltreffer im Lotto - den Einsatz sollen die Familien mit Kindern und die Bezieher kleiner Einkommen bezahlen. Darum geht es hier.
Sie sagen, da die Sozialhilfe nicht angepaßt werde, sei eine Verschiebung beim Kindergeld und beim
Joachim Poß
Grundfreibetrag zumutbar. Das ist blanker Zynismus. Wenn Sie Ihre Argumentation zu Ende denken, heißt das: Wenn Sie die Sozialhilfe ganz abschaffen, dann brauchen Sie überhaupt kein Kindergeld und auch keinen Grundfreibetrag mehr. Das ist, auf den Punkt gebracht, der Kern Ihrer Politik, und das ist die Linie, die der Bundeskanzler vorgegeben hat - wörtlich, so nachzulesen in der FAZ vom 14. Mai -: „Durchstarten oder abdanken" .
Nein, meine Damen und Herren, in bezug auf diesen verteilungspolitischen Skandal werden Sie sich einer Auseinandersetzung stellen müssen. Hier müssen Sie Farbe bekennen. Es wird Ihnen nicht gelingen, Ihre Position zu verschleiern oder hinter falschen Argumenten zu verstecken.
Die Behauptung, die Abschaffung der Vermögensteuer sei nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zwingend,
ist schlicht falsch. Das Gericht faßt das Ergebnis seiner Prüfung wie folgt zusammen - ich zitiere aus dem Urteil -: „Das Konzept der geltenden Vermögensteuer entspricht den Anforderungen" . Wenn Sie also die Vermögensteuer abschaffen wollen, dann können Sie sich nicht auf das Verfassungsgericht berufen. Sie können sich nicht hinter dem Urteil verstecken.
Wir bleiben dabei: Das Vorhandensein von Vermögen begründet eine besondere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Das war seit eh und je die Auffassung des Bundesgesetzgebers und auch des Bundesfinanzministers. Diese Begründung steht wörtlich in der Broschüre des Finanzministers „Unsere Steuern von A bis Z", auch noch in der Ausgabe 1995.
In der erst vor einigen Tagen neu aufgelegten Ausgabe 1996 werden Sie diese Passage aber vergeblich suchen. Der Bundesfinanzminister hat offensichtlich angeordnet, daß diese Passage gestrichen wird, weil sie ihn jetzt bei seinen Plänen stört.
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?
Ja, bitte.
Herr Kollege Poß, sagen Sie mir doch einmal, wie Sie Ihre These von einem angeblichen Verteilungsskandal begründen wollen, da es doch eine Tatsache ist, daß 71 Prozent der Vermögensteuerpflichtigen über ein Einkommen von unter 110 000 DM verfügen und daß sie damit immerhin 32 Prozent des gesamten Vermögensteueraufkommens bestreiten? Wieso führen Sie hier die wenigen Einkommensmillionäre an, die Ihnen als Stichwort für eine Neiddiskussion dienen, da ja 71 Prozent der Vermögensteuerpflichtigen als Verheiratete über ein Einkommen von unter 110 000 DM verfügen?
Die Vermögen der von Ihnen zitierten kleinen Einkommensbezieher
mit nur 110 000 DM zu versteuerndem Einkommen werden durch großzügige Freibetragsregelungen - auch der Länder; das findet sich auch im Vorschlag der Grünen - wirklich ausreichend freigestellt. Sie dürfen aber nicht die kleinen Vermögensbesitzer heranziehen, um andere in der öffentlichen Debatte zu schonen. Das versuchen Sie hier.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts in der Sache selbst, die Gleichbehandlung der verschiedenen Vermögensarten, ist richtig. Diese Entscheidung war sogar überfällig. Mit dem, was das Gericht ohne Sachzusammenhang mit der Entscheidung sonst noch ausgeführt hat, werden wir uns in den kommenden Wochen und Monaten noch intensiv befassen müssen.
Es ist absehbar, daß wir beim Jahressteuergesetz 1997 wieder unter großen Zeitdruck kommen werden. Bei allen unterschiedlichen Positionen in der Sache sollten wir dennoch die Hoffnung nicht aufgeben, bereits im Bundestag den einen oder anderen Streitpunkt auszuräumen. Ich will an dieser Stelle an die positiven Erfahrungen mit der Neuregelung der Wohneigentumsförderung erinnern.
Wenn Sie aus taktischen Gründen auf Korrekturen erst in einem Vermittlungsverfahren setzen, heißt das, daß es Ihnen nicht um die Sache geht, sondern nur um parteipolitisches Kalkül.
Es gibt Punkte, die auf unseren Widerstand stoßen; sie sind bekannt.
Ich möchte zum Schluß unseren Bundespräsidenten zitieren:
Wer laut den Abbau angeblich untragbarer Soziallasten fordert, sich an anderer Stelle aber vehement für neue Subventionen und neue staatliche Wirtschaftshilfen einsetzt, verliert seine Glaubwürdigkeit nicht nur als Unternehmer, sondern auch als denkender Mensch.
Das hat er am 21. April 1996 auf der Hannover-Messe ausgeführt. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Professor Gisela Frick, F.D.P.
Herr Präsident! Zunächst einmal auch von unserer Seite aus die herzlichsten Glückwünsche zum Geburtstag.
Meine Damen und Herren! Herr Poß, das Zitat vom Bundespräsidenten, das Sie zum Abschluß Ihrer Rede gewählt haben, paßt wunderbar auch auf Sie: Wer ständig die Senkung von Abgaben und Steuern fordert, sich im parlamentarischen Verfahren entsprechenden Vorhaben aber verweigert, der verspielt seine Glaubwürdigkeit.
- Sie fragen „Wo denn?". Es gibt ein Beispiel aus dem letzten Jahr, das noch als Restant übrig ist, nämlich die Unternehmensteuerreform.
Wir haben heute schon mehrfach gehört, daß bereits seit dem 1. Januar 1996 die Abschaffung der Gewerbesteuer Tatsache sein könnte - mit all den positiven Wirkungen, die davon ausgehen -, wenn Sie sich im letzten Jahr der Änderung des Grundgesetzes nicht verweigert hätten. Im weiteren Verfahren war gar kein Raum mehr vorhanden.
Frau Kollegin Frick, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte.
Frau Kollegin, sind Sie freundlicherweise bereit, dem Deutschen Bundestag zu erklären, ob die F.D.P. bereit ist, nach einer eventuellen Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer langfristig an der Gewerbeertragsteuer festzuhalten und damit den Kommunen Planungssicherheit zu geben?
Ich bin freundlicherweise bereit, Ihnen Ihre Frage zu beantworten - aber anders, als Sie es mir durch die Frage in den Mund gelegt haben. Die Gewerbeertragsteuer soll langfristig oder sogar mittelfristig abgeschafft werden - das ist gar keine Frage -,
aber natürlich nicht ohne eine Kompensation für die Kommunen. Das ist doch selbstverständlich.
Verzeihung, Frau Kollegin. Es gibt noch eine Zwischenfrage des Kollegen Rössel. Gestatten Sie auch die?
Ja.
Bitte.
Ich möchte gerne an die vorangestellte Frage anknüpfen und von Ihnen eine Auskunft darüber erbitten, welche qualitative und quantitative Verbesserung für die 15 000 Städte und Gemeinden, für die 326 Landkreise in der Bundesrepublik aus der von Ihnen beabsichtigten Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der Verringerung der Gewerbeertragsteuer resultieren würde. Die Bundesregierung ging davon aus, daß sich mit diesem Schritt eine qualitative und quantitative Verbesserung ergeben würde. Mir ist dieser Beweis in den Dokumenten und den vorliegenden Aufzeichnungen des Bundesfinanzministeriums nicht angetreten worden.
Also, da sind die Kommunen schon weiter als Sie, Herr Rössel;
denn die haben erkannt, daß die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und die dafür in Aussicht gestellte Kompensation über die Umsatzsteuer für sie einen wesentlichen Vorteil darstellen würde. Die derzeitige finanzielle Situation der Kommunen ist unter anderem deshalb so schlecht, weil die Gewerbesteuer keine stabile Finanzierungsgrundlage für unsere Kommunen ist.
Deshalb wollen wir das ändern. Wir wollen doch den Kommunen nichts Unangenehmes antun. Es ist doch in unserem Staatsaufbau ganz selbstverständlich, daß wir die Kommunen finanziell stärken müssen. Aber das bisherige System der Gewerbesteuer als eine der Hauptfinanzierungsquellen der Kommunen hat sich nun einmal leider nicht bewährt. Das sehen wir immer mehr.
Deshalb müssen wir in unserem Finanzausgleich zu einer ganz neuen Ordnung kommen. Die Kommunen, wie gesagt, haben bereits erkannt, welche Chance darin besteht, an einer dynamischen, ständig wachsenden Umsatzsteuer beteiligt zu werden, im Gegensatz zu einer statischen und zum großen Teil rückläufigen Gewerbesteuer. Also seien Sie nicht schlauer als unsere Kommunen. Sie wissen schon, wo die Freunde ihrer Probleme sind.
- Jetzt machen wir vielleicht einmal weiter und hören mit diesen etwas undisziplinierten und zum Teil auch unqualifizierten Zwischenrufen auf.
Wir waren bei dem Einkommensteuerreformgesetz oder dem Jahressteuergesetz 1997, wie es heißt. Ich möchte dazu einiges sagen. Herr Poß, Sie haben vorhin das Verfahren beklagt. Daß wir mit dem Verfahren auch nicht ganz glücklich sind, ist kein Geheimnis. Daß alles wieder unter sehr starken Zeitdruck
Gisela Frick
geraten wird, ist auch klar. Aber ich glaube, es reicht nicht aus, wenn wir immer nur am Verfahren herumbasteln. Im Gegenteil ergibt sich vielmehr genau aus diesen verschiedenen Verfahrensschritten immer wieder mehr eine unbedingte Notwendigkeit zu einer Steuerstrukturreform, die diesen Namen wirklich verdient hat.
Wir müssen an die Strukturen unseres Steuerrechtes heran. Es kommt nicht darauf an, ob ein Gesetzentwurf in jedem Jahr ein oder zwei Monate früher oder später vorliegt, sondern darauf, daß wir ihn irgendwann überhaupt nicht mehr brauchen, weil unser Steuersystem so sauber ist, daß nur noch allerkleinste Korrekturen notwendig sind und nicht mehr. Aber immer nur am Verfahren herumzubasteln und trotzdem alles zu lassen, das bringt uns in diesem Bereich überhaupt nicht weiter. Da müssen wir heran.
In diesem Sinne ist unser Vorschlag zu verstehen, daß wir möglichst schnell und zügig an eine Steuerreform herangehen, die diesen Namen tatsächlich verdient hat, an eine Steuerstrukturreform.
Die Frage des Einkommensteuertarifs, bei der Sie eben dem Stufentarif gegeißelt haben, ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, weil der nominale Steuersatz
- Herr Poß, ich möchte jetzt gerne einmal ausreden - das Signal an die Investoren insbesondere aus dem Ausland ist und auch im internationalen Vergleich eine ganz entscheidende Rolle spielt.
Sie selber von der Opposition beklagen, daß bei uns nominaler Steuersatz und Bemessungsgrundlage und damit die tatsächliche Steuerbelastung weit auseinanderklaffen. Jetzt haben wir unter anderem - natürlich nicht auf Ihre Anregung hin, sondern aus eigener Erkenntnis - den Schritt gemacht und gesagt: Wir wollen das ändern. Wir wollen bei uns die Steuerbemessungsgrundlage umfassend erweitern, soweit das überhaupt mit dem Prinzip der Leistungsfähigkeit zu vereinbaren ist. Das werden wir weiter beachten müssen. Das ist gar keine Frage. Wir gehen mit den Steuersätzen herunter. Wieso Sie gerade das beklagen, kann ich beim besten Willen nicht verstehen.
- Ja, genau den Tarif. Das hängt aber doch zusammen: Bemessungsgrundlage und Tarif. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis: Wenn wir die Bemessungsgrundlage entsprechend verbreitern und damit die berühmten Schlupflöcher stopfen, dann können wir auch mit dem Tarif heruntergehen. Das ist das, was wir wollen.
Wir waren an sich der Meinung, daß wir damit Ihren Bedenken, die Sie in den letzten Jahren immer wieder geäußert haben, sehr entgegenkommen.
Ich muß jetzt hören - eigentlich zu meiner Überraschung -, daß offensichtlich noch nicht einmal solch ein vernünftiges Reformvorhaben, das auch von allen Kräften in der Wissenschaft unterstützt wird, bei Ihnen auf Verständnis stößt.
- Ganz genau, alle die. Bareis hat Ihnen in der letzten Woche doch einiges ins Stammbuch geschrieben, zum Beispiel hinsichtlich der Vermögensabgabe, die Sie planen.
Um das noch kurz zur Steuerreform zu sagen: Wir werden an diesem Vorhaben auf jeden Fall festhalten und entsprechende Vorschläge vorlegen. Sie werden sich sehr, sehr schwertun, vernünftige Argumente dagegen zu finden. Da bin ich ganz sicher.
Zum vorliegenden Entwurf eines Jahressteuergesetzes 1997: Der Hauptknackpunkt ist - das hat sich jetzt auch in der Diskussion gezeigt - das Auslaufen der Vermögensteuer. Ich möchte dazu doch noch einmal Stellung nehmen, weil dieser Punkt in den Debattenbeiträgen eine große Rolle gespielt hat. Wir sind nicht der Meinung, daß das Bundesverfassungsgericht die Abschaffung der Vermögensteuer zwingend verlangt. Das hat nie einer von uns gesagt.
- Nein. - Aber aus alledem, was uns das Bundesverfassungsgericht vorgibt und was auch sonst zu einer Vermögensteuer als einer Substanzsteuer zu sagen ist, bleibt uns vernünftigerweise nichts anderes übrig -
das ist unser Schluß aus den ganzen Rahmenbedingungen -, als die Vermögensteuer abzuschaffen.
Ich möchte noch einmal ganz kurz versuchen, Sie mit einer Begründung dafür zu überzeugen, obwohl ich wenig Hoffnung habe, daß das gelingt: Wir haben bei der Vermögensteuer - das verschweigen Sie immer wieder - die Tatsache zu beachten, daß es sich bei den Beträgen, die dieser Steuer unterliegen, um konsolidiertes, eigenversteuertes Einkommen handelt.
- Das ist jedenfalls die Regel, Frau Matthäus-Maier. Die Beträge, die Vermögen bilden, sind als Einkommen versteuert und in der Regel durch Konsumverzicht, das heißt durch Sparen, gebildet worden.
- Jawohl. Kommen Sie einmal nach Baden-Württemberg. Sie werden bei uns - ich komme aus Stuttgart - in breiten Bevölkerungskreisen kein Verständnis dafür finden, daß eine Vermögensteuer im Prinzip die Leistung - „das Schaffen", wie man bei uns sagt - und das Sparen bestraft. Diese Einsicht geht quer durch alle Bevölkerungskreise. Sie werden schon von daher überhaupt kein Verständnis für eine Vermögensteuer finden.
Gisela Frick
Im übrigen ist die Vermögensteuer - das haben wir heute schon häufiger gehört - eigentlich eine Substanzbesteuerung. In diesem Punkt hat das Bundesverfassungsgericht die Akzente aber schon neu gesetzt, indem es die Vermögensteuer als eine Sollertragsteuer charakterisiert hat: Der Sollertrag ist entscheidend. Es darf eigentlich nicht verlangt werden, daß die Substanz angegriffen wird, um Steuern zu zahlen.
Wenn wir das aber ernst nehmen, müssen wir zu der Feststellung gelangen: Wenn damit der Sollertrag besteuert werden soll, hat man in der Regel nur einen Istertrag, und dieser unterliegt der Ertragsteuer, der Einkommensbesteuerung - und zwar, wie wir wissen, progressiv. Der Grenzsteuersatz - er ist doch entscheidend für die Leistungsbereitschaft - beträgt zur Zeit, wie wir heute und auch gestern schon gehört haben, zusammen mit dem Solidaritätszuschlag 57 Prozent.
- Hinzu kommt die Kirchensteuer. - Wenn wir überlegen, ob es aus Sicht der Steuerzahler Sinn macht, sich weiter anzustrengen, noch mehr zu verdienen, ist doch der Grenzsteuersatz entscheidend. Wenn man weiß, daß von einer Mark, die man mehr verdient, vielleicht gerade noch 25 Pfennig erhalten bleiben, dann macht das keinen Sinn mehr. Das erschwert den Leistungsanreiz in unserem Steuersystem.
- Es sind nicht nur die Reichen, Herr von Larcher. Das sagen Sie immer so, aber das ist falsch.
Die Vermögensteuer als eine Sollertragsteuer führt also letztendlich zu einer Doppelbesteuerung von ein und denselben Erträgen. Das macht keinen Sinn.
Darüber hinaus sind wir vom Bundesverfassungsgericht gehalten - dieser Punkt ist genauer geregelt -, das persönliche Gebrauchsvermögen entsprechend dem Existenzminimum von den Ertragsteuern freizustellen.
Die Leitgröße für dieses persönliche Gebrauchsvermögen ist der Wert eines üblichen Einfamilienhauses, des Hausrats und gewisser Teile der Alterssicherung. Wie Sie da mit 250 000 oder 300 000 DM hinkommen wollen, weiß ich nicht. Ich mache dahinter nicht nur ein Fragezeichen, ich halte es für glatt unmöglich, daß das funktioniert. Das ist verfassungswidrig.
Die zweite Grenze, die zu beachten ist, ist die steuerliche Belastungsobergrenze. Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Grundgesetz heraus - ich bin ihm dafür ausgesprochen dankbar - eine Belastungsobergrenze entwickelt, die bei ungefähr
50 Prozent, in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand, liegt.
Es ist sehr vernünftig, diese Grenze herauszuziehen. Wenn wir diese Belastungsobergrenze beachten, bleibt für eine Vermögensteuer im Prinzip nur noch eine Art „Sandwichsteuer" übrig, nämlich der mittlere Bereich, der von unten und von oben gedrückt wird. Und gerade diesen mittleren Bereich können und wollen wir auch nicht noch stärker belasten, als er sowieso schon belastet ist.
Denn das sind die Garanten für unsere Arbeitsplätze. Das sind die Hauptgaranten für Wachstum und Beschäftigung, und die dürfen wir auf dem Umweg über die Vermögensteuer nicht auch zusätzlich belasten.
Der vierte Punkt wäre, wenn wir zunächst einmal akzeptieren, daß dieser mittlere Bereich theoretisch noch möglich wäre: Wir müssen darauf sehen, daß gerade die Vermögensteuer wegen der notwendigen Einheitsbewertung als einer Dauerbewertung unheimlich verwaltungsaufwendig ist. Wir brauchen im Moment ungefähr 6 000 Beamte, um die Vermögensteuer in der derzeitigen, unzureichenden Form zu verwalten. Wenn wir zu einer zeitnahen ordentlichen Bewertung des Immobilienbesitzes kommen wollten, wie ich das bei Ihnen ja unterstelle, brauchten wir noch einmal 4 000 bis 5 000 Beamte mehr, um dies zeitnah und in den notwendigen regelmäßigen Abständen zu machen.
Sie selber beklagen immer, daß viel zuwenig Personal für Betriebsprüfungen zur Verfügung stehe. Ja, meine Güte, dann binden Sie doch das vorhandene Personal nicht mit solchen Lächerlichkeiten!
- Nein, die „Horrorzahlen" sind belegt; es sind keine Horrorzahlen. Es sind genau die Zahlen, die uns von den Ländern zur Verfügung gestellt werden. Deshalb hatten die Länder auch unheimliche Angst vor einer Rechtsprechung, die eine Neubewertung des Immobilienbesitzes verlangt.
Insofern können wir doch dieses Personal, soweit es denn vorhanden ist, sehr viel besser für andere, lohnendere Aufgaben im Rahmen der Steuerverwaltung einsetzen und brauchen neues Personal in diesem Bereich nicht mehr einzustellen.
Der letzte Punkt, der bei der Vermögensteuer natürlich eine ganz entscheidende Rolle spielt: Es ist eine Ländersteuer, und da wird immer beklagt, daß der Bund sozusagen mit einem Federstrich acht Milliarden DM oder manchmal bis zu neun Milliarden DM zu Lasten der Länder einkassiert.
Dazu muß ich sagen: Auch die Länder, denen die Ertragshoheit an einer Steuer zusteht, müssen beach-
Gisela Frick
ten, daß sie nur Anspruch auf verfassungsgemäße Steuern haben.
Sie können doch nicht mit dem Volumen einer schon für verfassungswidrig erklärten Steuer argumentieren und daraus Kompensationsansprüche in dieser ursprünglichen Höhe herleiten.
Das geht nicht. Sie sind da in einer Risikogemeinschaft, und wenn bestimmte Steuern für verfassungswidrig erklärt werden, haben sie leider Gottes keinen Anspruch auf diese Steuern.
Das Entscheidende bei der Besteuerung - das ist es, was in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts so schön deutlich zum Ausdruck gekommen ist - ist die Gesamtbelastung unserer Bürger. Die Bürger interessiert es relativ wenig, auf welcher Ebene die Ertragshoheit für die Steuern liegt.
Die Bürger interessiert es: Wie hoch ist die steuerliche Belastung in meinem ganz speziellen Fall? Die zweite Frage kann erst sein, welche von den staatlichen Ebenen denn Anspruch auf welche Steuern hat.
Daß das neugeordnet werden muß, bestreiten wir ja gar nicht. Es sollte aber nicht der umgekehrte Weg gegangen werden, daß man immer wieder sagt: Ja, aber den Ländern steht die Steuer zu, deshalb darf sie nicht weg; den Kommunen steht die Steuer zu, deshalb darf sie nicht weg.
Nein, der Weg muß sein, umgekehrt zu fragen: Welche Belastung können wir dem Bürger fairerweise zumuten? Der zweite Weg ist, zu fragen: Wohin gehen diese Steuern?
Alle anderen Wege sind in der falschen Reihenfolge. Das machen wir nicht mit.
Wir sind mit unseren Vorhaben, die Vermögensteuer abzuschaffen, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen und damit die Einheitsbewertung abzuschaffen, mit unseren Vorschlägen im Jahressteuergesetz 1997 einen erheblichen Schritt weitergekommen -
Frau Kollegin, gucken Sie bitte einmal auf die Uhr!
- Ja, das tue ich. Der letzte Satz! -
zur Vereinfachung unserer Steuern und auch zur Absenkung. Das sind beides Ziele, denen Sie sich angeblich - jedenfalls verbal - auch verschrieben haben. Ich kann Sie nur auffordern: Machen Sie mit!
Danke schön.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Kollege Dr. Rössel.
Frau Kollegin Frick, Sie haben mit Ihrer Antwort auf die von mir aufgeworfene Frage den Eindruck erweckt, als ob die rund 15 000 deutschen Städte und Gemeinden der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der weiteren Einschränkung der Gewerbeertragsteuer mit großer Freude entgegensähen. Ich erhalte aber täglich sehr viele Briefe aus Kommunen des gesamten Bundesgebietes und habe diesen Eindruck nicht. Deshalb bitte ich, doch noch einige Bemerkungen dazu machen zu dürfen.
Die kommunalen Spitzenverbände haben, wenn überhaupt, Zustimmung in diese Richtung signalisiert, dafür aber ganz konkrete Bedingungen genannt, unter denen sie darüber mit sich reden lassen würden.
Die entscheidende Bedingung ist, daß die Bundesregierung die Garantie ausspricht, daß bei einer Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer die Gewerbeertragsteuer als Realsteuer im Grundgesetz fest verankert wird. Ich habe bisher dazu keine Position von Ihnen gehört und auch nicht im Beitrag des Bundesfinanzministers.
Ein zweites Problem: Die Kommunen nutzen in erheblichem Maße kommunale Infrastruktur - Straßen, Wege, Wohnungen etc. Die Unternehmen würden, falls die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft und die Gewerbeertragsteuer weiter reduziert wird, immer weniger Beiträge für die Finanzierung Ihrer Infrastruktur leisten. Sie würden sich immer mehr aus deren Finanzierung zurückziehen. Das Konfliktfeld Rathaus/Unternehmen würde immer mehr belastet.
Zum Ausgleich: Sie haben gesagt, die Bundesregierung beabsichtige, zum Ausgleich für die Ausfälle bei der Gewerbekapitalsteuer und der Gewerbeertragsteuer die Kommunen künftig an der Umsatzsteuer zu beteiligen. Dazu möchte ich zumindest zwei Anmerkungen machen.
Erstens. Um die Kommunen an der Umsatzsteuer zu beteiligen, ist bekanntermaßen ein orts- und wirtschaftsbezogener Schüssel erforderlich, der jede Stadt und jede Gemeinde im tatsächlichen Niveau ihrer Wirtschaftskraft an dem Kuchen Umsatzsteuer beteiligt.
Nun wissen wir aus dem Bundesfinanzministerium, daß ein solcher Schlüssel zumindest bis zum Jahre 2000 nicht möglich ist und daß die Kommunen deshalb mit unsicheren Übergangsregelungen arbeiten müßten. Sie wären de facto gezwungen, die Katze im Sack zu kaufen.
Zweitens. Sie haben - auch der Bundesfinanzminister hat es getan - noch einmal auf die Kompensation dieser Umsatzsteuerneuverteilung zwischen Bund und Ländern hingewiesen. Als Ausgleich für die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und die Reduzierung der Gewerbeertragsteuer sollen die Abschreibungsbedingungen für Unternehmen in Deutschland in einer Situation verschlechtert wer-
Dr. Uwe-Jens Rössel
den, in der keine Hochkonjunktur besteht, sondern wir sogar Anzeichen von Rezession, zumindest in einzelnen Branchen, haben.
Die drei Minuten sind abgelaufen.
Ich möchte eine Bemerkung noch dazu machen.
Nein, Sie können noch einen Satz formulieren. Drei Minuten Kurzintervention - Punkt.
Danke. Punkt.
Wollen Sie darauf kurz erwidern?
Nur ganz kurz. - Herr Rössel, ich habe es schon eben in meinem Redebeitrag gesagt: Wir sollten uns nicht schlauer dünken als diejenigen, die betroffen sind.
Das trifft für beides zu: Die Kommunen wollen die Beteiligung an der Umsatzsteuer; das ist überhaupt keine Frage. Natürlich wollen sie, daß ein gerechter, fairer orts- und wirtschaftsgebundener Schlüssel gefunden wird. Das werden wir auch unter Beteiligung der Kommunen machen. Das ist selbstverständlich. Wir brauchen nur eine Übergangszeit.
Was die Kompensation der Gewerbesteuer durch die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen angeht: Sie waren letztes Jahr in der Anhörung des Finanzausschusses dabei und haben gehört, daß sogar der ZDH dem zugestimmt hat, und zwar deshalb, weil ihm die Strukturveränderung, nämlich die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, wesentlich wichtiger ist als Abschreibungsbedingungen, deren Stabilität für die nächsten 50 Jahre sowieso nicht festgeschrieben wird. Das wissen wir alle.
Insofern können wir vertrauensvoll auf das hören, was uns die betroffenen Kreise dazu sagen. Da sehe ich auf breiter Basis nur Zustimmung.
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Rauen, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Poß hat in seiner Rede eben auf die unterschiedlichen Entwicklungen der Steuern verwiesen: Die Einnahmen durch Unternehmensteuern sind rückläufig, die Entwicklung bei der Lohnsteuer ist positiv. Das hat heute morgen zu Beginn seiner Rede auch Herr Lafontaine herausgestellt.
Das ist richtig und falsch zugleich. Deshalb muß hier einiges klargestellt werden: Bei den Lohnsteuern sind auch die Steuern der Geschäftsführer der
GmbHs dabei sowie die Lohnsteuern der gut verdienenden Manager und Abgeordneten. Was aber viel wichtiger ist: Der Lohnsteuerjahresausgleich und die Erstattungen werden bei der Einkommensteuer verrechnet.
Das hat besondere Bedeutung bei uns in Deutschland, weil wir sehr bewußt Steuervergünstigungen beim Schaffen von Wohnraum und ähnlichem in den neuen Bundesländern eingeführt haben. Das hat in den letzten Jahren in hohem Maße dazu geführt, daß Lohnsteuer rückerstattet wurde und sich deshalb diese Statistik in dieser Richtung sehr verändert hat. Das muß meiner Meinung nach einmal sehr deutlich klargestellt werden, weil Lafontaine hier von Unternehmensgeschenken spricht und dann entsprechend gegen die Abschaffung der Vermögensteuer polemisiert.
Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Uneinsichtigkeit die SPD die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer verhindern will. Gleichzeitig erwartet sie von der deutschen Wirtschaft, daß zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden.
Meine Damen und Herren, das paßt einfach nicht zusammen. Sowohl die betriebliche Vermögensteuer als auch die Gewerbekapitalsteuer sind, streng genommen, Strafsteuern auf getätigte Investitionen für Arbeitsplätze. Wesentliche Bemessungsgrundlage dieser Steuern ist der Einheitswert des Betriebes und damit in aller Regel das Eigenkapital, also die positive Differenz zwischen Passiva und Aktiva in der Steuerbilanz. Da ist natürlich das Anlagevermögen bei den Aktiva dabei, das, was investiert wurde, um Arbeitsplätze zu sichern.
Diese Steuern sind substanzverzehrend, ja sie können sogar substanzvernichtend sein, weil sie auch gezahlt werden müssen, wenn keine Gewinne gemacht werden - die betriebliche Vermögensteuer darüber hinaus noch von bereits versteuertem Geld.
Im Vergleich zu anderen Steuerarten sind diese beiden Steuern für den Staat relativ unergiebig und ihre Erhebung mit hohen Bürokratiekosten verbunden, wie eben bereits von Frau Professor Frick ausgeführt wurde.
Die Kumulation aus Körperschaftsteuer oder Einkommensteuer, Kirchensteuer, Solidaritätszuschlag, Gewerbesteuer und Vermögensteuer ist im internationalen Wettbewerb in Deutschland einfach zu groß. Diese Steuern verhindern Direktinvestitionen in Deutschland und damit die Arbeitsplätze von morgen.
Die beste Steuerreform unter dem Grundgedanken der Steuervereinfachung ist die Abschaffung ganzer Steuerarten. Es wird Zeit, daß Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer endlich abgeschafft werden.
Diese Steuerarten erhalten und gleichzeitig Arbeitsplätze schaffen zu wollen ist genauso verlogen
Peter Rauen
wie die ständige Wiederholung seitens der SPD, durch Senkung der Lohnzusatzkosten Arbeitsplätze zu schaffen, indem ein Verschiebebahnhof zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung in Gang gesetzt werden soll.
Dadurch wird alles erreicht, nur nicht die notwendige Absenkung der Staatsquote unter gleichzeitiger Absenkung der Steuer- und Abgabenquote.
Es gibt überhaupt keine Frage: Mit Blick auf die Arbeitsplätze ist die Steuerbelastung der arbeitenden Menschen in Deutschland zu hoch, egal ob Arbeitnehmer oder Unternehmer. Steuern und Abgaben können aber nur gesenkt werden, wenn durch Konsolidierung über die Ausgaben aller öffentlichen Haushalte und der Sozialversicherungssysteme die dazu notwendigen Finanzspielräume geschaffen werden und darüber hinaus strukturelle Veränderungen in den sozialen Sicherungssystemen vorgenommen werden.
Hierzu habe ich heute von der Opposition keine wirklichen Alternativen zum Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung gehört.
Ich bin sehr zufrieden darüber, daß mittlerweile offenbar in allen Parteien der enge Zusammenhang zwischen den zu hohen Lohnzusatzkosten und dem Rückgang der Beschäftigung, ja vielleicht sogar dem Abkoppeln von Wachstum und Beschäftigung gesehen wird.
Wer aber Lohnzusatzkosten abbauen will und gleichzeitig jeglichen Abbau von Soziallöhnen, wie zum Beispiel der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, verhindern will, hat offenbar nicht begriffen, wodurch Lohnzusatzkosten entstehen.
- Hören Sie einmal zu! Sie reden nämlich davon immer wie die Blinden von der Farbe. Sie sollten wirklich einmal zuhören, wodurch Lohnzusatzkosten entstehen.
Sie entstehen ausschließlich durch zwei Faktoren. Der erste Faktor sind die unternehmensbezogenen Sozialbeiträge auf den Lohn, also im wesentlichen die Sozialversicherungsbeiträge und die Beiträge für die Berufsgenossenschaften, heute zusammen rund 26 Prozent.
Der zweite Faktor ist das Verhältnis zwischen bezahlter Nichtarbeit und der tatsächlich geleisteten Arbeit. Im Baugewerbe, das zur Zeit besonders unter einer schlechten Konjunktur leidet, wird für 280 Tage im Jahr Lohn bezahlt, und an durchschnittlich 170 Tagen wird wirklich gearbeitet. Damit ist die geleistete Stunde mit 64 Prozent Soziallohnkosten belastet.
Die Multiplikation beider Faktoren ergibt im Bauhauptgewerbe heute Lohnzusatzkosten von 103 Prozent auf das Direktentgelt. Das Direktentgelt ist der Bruttolohn des Arbeitnehmers, der zu Recht, Herr Lafontaine, als einer der Leistungsträger in der deutschen Gesellschaft bezeichnet wurde.
Wie ist die Situation des Arbeitnehmers? Er hat zum Beispiel einen Bundesecklohn von 24,48 DM, davon bekommt der Junggeselle mit der Steuerklasse I 14,33 DM ausgezahlt und der Verheiratete mit zwei Kindern 17,50 DM. Wenn ein Arbeitnehmer von seinem Nettolohn vier bis fünf Stunden arbeiten gehen muß, um sich eine einzige Stunde legal zurückkaufen zu können, dann liegt genau darin die Ursache für die Schattenwirtschaft, die Schwarzarbeit, illegale Arbeitnehmerüberlassung und vieles andere mehr.
Genau an diesem Punkt muß angesetzt werden.
Das heißt im Klartext: Wenn ich die Lohnzusatzkosten senken will, muß ich entweder die Sozialversicherungsbeiträge deutlich reduzieren oder die Soziallöhne korrigieren. Es muß also nicht weniger, sondern wieder mehr in Deutschland gearbeitet werden.
Da es in Deutschland genügend Arbeit gibt, aber offenbar nicht mehr genügend Arbeit zu bezahlbaren Preise, sind hier sowohl der Staat als auch die Tarifpartner dringend gefordert, die Probleme mit dem Ziel anzugehen, daß die Arbeitskosten in Deutschland billiger werden und die Arbeitnehmer gleichzeitig netto wieder mehr verdienen.
- Frau Fuchs, Ihr Zuruf zeigt mir, daß Sie wirklich nichts begriffen haben.
- Wenn Sie eine Frage stellen wollen, geht das nicht von meiner Zeit ab, dann gebe ich Ihnen gern eine Antwort.
Das „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" - deshalb verdient es diesen anspruchsvollen Namen - geht diese Probleme konsequent an. Da die Menschen das spüren und auch wissen, daß einiges geändert werden muß, wird die Opposition letztendlich mit ihren Kassandrarufen gegen das Programm nur Unverständnis ernten.
Auch mit dem heute eingebrachten Jahressteuergesetz halten die Regierung und die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. konsequent an ihrem Ziel fest, die Staatsquote und die Steuer- und Abgabenquote zu senken, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Peter Rauen
Dieser Weg, der schon einmal in den 80er Jahren erfolgreich gegangen wurde und an dessen Ende 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland standen, wird konsequent fortgeführt werden. Daran wird die Opposition die Regierung und die Koalitionsfraktionen nicht hindern.
Ich kann Sie nur auffordern mitzutun, damit das wichtige Ziel, mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen, erreicht wird.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier, SPD.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir haben heute eine Staatsverschuldung in Höhe von über 2 Billionen DM - gleich 2 000 Milliarden DM - in Bund, Ländern und Gemeinden. Darauf zahlen alle miteinander rund 140 Milliarden DM Zinsen.
Wenn wir aus dieser Schulden- und Zinsfalle herauskommen wollen, müssen wir sparen; aber ein Sparpaket, das diesen Namen verdienen soll, müßte die Lasten sozial gerecht verteilen.
Die mit den kleinen Schultern müßten kleine Belastungen tragen und die mit den großen Schultern große Belastungen.
Eine zweite Voraussetzung: Die Maßnahmen dürften die Arbeitslosigkeit nicht erhöhen, sie müßten sie verringern.
Wenn man diese Meßlatte an Ihr Paket heute anlegt, stellt man fest, daß es kein Sparpaket in diesem Sinne ist. Das, was Sie vorlegen, ist die Kombination eines rücksichtslosen Kürzungspaketes zu Lasten der finanziell Schwächeren und eines großzügigen Geschenkpaketes zugunsten der Besitzer großer Vermögen.
Wir sind zwar von dieser Bundesregierung schon lange gewohnt, daß diejenigen, die verlangen, den Gürtel enger zu schnallen, selber Hosenträger tragen.
Aber die Einseitigkeit, die soziale Schlagseite, ist bei Ihrem heutigen Steuergesetzentwurf ganz besonders auffällig.
Die Bundesregierung sagt, sie habe kein Geld, um die bereits beschlossene Kindergelderhöhung - Kosten: 3,6 Milliarden DM - für den 1. Januar 1997 zu bezahlen. Gleichzeitig aber hat sie in diesem Gesetz
9,3 Milliarden DM zur Verfügung, um die Vermögensteuer abzuschaffen. Den Familien mit Kindern wird genommen, was an Zuwachs versprochen war, und denen, die ja großes Vermögen haben - sonst unterliegt man nicht der Vermögensteuer -, wird gegeben. Das ist klassische Umverteilung von unten nach oben.
Da Sie bis weit in Ihre Reihen hinein spüren, daß das sozial nicht in Ordnung ist, und sich dafür schämen, versuchen Sie, in den Angriff zu gehen. Immer, wenn man auf das Thema kommt - das haben wir heute x-mal gehört -, sprechen Sie von Sozialneid.
Nun können Sie ja vielleicht mit der SPD als Opposition so umgehen. Aber wollen Sie denn wirklich behaupten, daß die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, die karitativen Verbände, die alle kritisieren, daß die Vermögensteuer heruntergehen soll und das Kindergeld verschoben wird, vom Sozialneid befallen sind? Das ist doch abwegig!
Die Verschiebung der Kindergelderhöhung ist auch verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft. Kindergeld ist doch keine Gnade, die man je nach Beliebigkeit den Familien mit Kindern gewähren kann oder auch nicht. Es ist ein guter, selbstverständlicher Grundsatz unseres Steuerrechts, daß das, was der Bürger für sich selbst und für seine Kinder als Existenzminimum zum Leben braucht, der Staat ihm nicht wegbesteuern darf. Deshalb darf der Staat das Kindergeld nicht willkürlich kürzen oder seine Erhöhung verschieben. Jedermann weiß doch, daß das, was wir heute für die Familien mit Kindern tun, das absolute Minimum ist. Deswegen sage ich Ihnen: Unterlassen Sie diese verfassungsrechtlich zweifelhafte Aktion!
Ich weiß, Herr Waigel, gerade auch Sie persönlich haben die Kindergelderhöhung nie gewollt. Die 200 DM haben Ihnen schon gestunken - Sie haben noch vor einem Jahr im Frühjahr gesagt, beim Erstkindergeld tun Sie gar nichts -, und die 220 DM haben Ihnen auch nicht gefallen. In nächtelangen Sitzungen im Vermittlungsausschuß haben wir Ihnen im letzten Herbst die 220 DM abgetrotzt. Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Sie von der Opposition verlangen können, diesen Erfolg vom Jahressteuergesetz 1996 mit einem Federstrich zurückzunehmen.
Die meisten unter Ihnen wissen, daß es so ist. Warum ist denn wohl Ihr CDU-Kollege Fell von seinem Amt als Präsident des katholischen Familienbundes zurückgetreten? Er hat hier als Begründung sinngemäß gesagt, er wolle nicht in Loyalitätskonflikte zwischen dem Familienbund und dem kommen, was er hier beschließen soll, nämlich die Nichterhöhung des Kindergeldes. Dazu kann ich nur sa-
Ingrid Matthäus-Maier
gen: Herr Fell hätte sich auch anders entscheiden können, nämlich Präsident des Familienbundes zu bleiben und hier bei dieser unsozialen Kürzung mit Nein zu stimmen. Dann wäre er auf der richtigen Seite.
Diese Verschiebung ist, wie gesagt, sozial ungerecht und verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft. Aber es gibt noch ein drittes Argument, meine Damen und Herren: Die ganze Operation ist auch ökonomisch unvernünftig. Warum?
Nehmen wir eine Familie mit zwei Kindern. Dieser enthalten Sie im nächsten Jahr - monatlich 20 DM Kindergeld pro Kind, macht bei zwei Kindern 40 DM, mal 12 Monate - insgesamt 480 DM vor. Wenn Sie aber einer solchen Familie - die allermeisten sind nicht auf Rosen gebettet; sie haben große Probleme, sich und ihre Kinder angesichts der hohen Mieten durchzubringen - 480 DM bar im Jahr vorenthalten, dann schwächt das weiter die Binnenkaufkraft, die wir eigentlich dringend erhöhen müßten.
Wenn Sie gleichzeitig die Vermögensteuer abschaffen - hier beziehe ich mich vor allen Dingen auf die private -, schafft das keinen einzigen neuen Arbeitsplatz. Auch deswegen lehnen wir Ihre Operation aus ökonomischen Gründen ab.
Verlassen Sie sich darauf: Die SPD wird Ihrer Operation - Vermögensteuer abschaffen, Kindergeld einfrieren - weder im Deutschen Bundestag noch im Bundesrat zustimmen.
Wir Sozialdemokraten stehen nicht nur in dieser Frage an der Seite der Frauen und der Familien mit Kindern. Wo steht eigentlich die Familienministerin?
Die meisten Leute haben noch gar nicht mitbekommen: Wir haben eine Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Sei es beim Kindergeld, sei es bei der Aushebelung des sozialen Kündigungsschutzes, der vor allem Frauen in kleinen Unternehmungen treffen wird,
sei es bei dem von der bayerischen Landesregierung beabsichtigten frauenfeindlichen Vorhaben bei der Schwangerschaftsberatung,
sei es bei der Festschreibung der sozial ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, der Billigjobs: Von
dieser Ministerin hat noch keiner in diesem Hause ein Wort des Protestes gehört.
Bundeskanzler Kohl hat in diesen Tagen aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens ihres Ministeriums gesagt: Mehr Frauen in Führungspositionen!
Da hat er recht. Aber wenn sich solche Frauen nicht wirklich für die Interessen von Frauen und Familien einsetzen, können wir diese nicht in Führungspositionen gebrauchen.
Es kommt noch ein Punkt hinzu, meine Damen und Herren: die überfallartige Verlängerung der Lebensarbeitszeit für ältere Frauen.
Jedermann weiß, daß wir bei den Sozialversicherungen, auch bei der Rentenversicherung, etwas tun müssen. Deswegen haben wir im Rahmen der großen Rentenreform gemeinsam beschlossen, daß, wenn es die Arbeitsmarktlage zuläßt, ab dem Jahre 2001 mit einem Übergang bis zum Jahre 2012 die Lebensarbeitszeit der Frauen an die der Männer angepaßt wird. Das war aber für die Jahre nach der Jahrtausendwende vorgesehen.
Noch im April hat die Bundesregierung ein Heftchen herausgegeben - das bekam ich vorige Woche mit der Post - mit dem Titel „Informationen für Frauen" . Darin steht auf Seite 161, daß Frauen mit 60 Jahren unter bestimmten Voraussetzungen in Rente gehen können. Wissen Sie eigentlich, welches Vertrauen und welche Lebensplanungen Sie mit Ihrem überfallartigen Vorhaben zerstören?
Meine Kollegin Margot von Renesse hat dankenswerterweise Frauen, die betroffen sind - das ist der Jahrgang 1937 - gebeten, ihr zu schreiben. Sie hat mir einige Briefe überlassen. Schauen Sie sich diese einmal an! Vielleicht kommen Sie dann doch zu einer anderen Überzeugung.
Ich will nur aus einem der vielen Briefe zitieren: geb.:... 1937
Ich bin der Meinung, meine Rente ohne Abzug mit 60 Jahren ... erarbeitet zu haben, denn zu diesem Zeitpunkt ... habe ich 44 Jahre ununterbrochen in Vollzeit gearbeitet. In diesen Jahren der Arbeit habe ich fünf Kinder geboren und so erzogen, daß diese für mich arbeiten und somit meine Rente sicher sein sollte.
Ingrid Matthäus-Maier
In all den schweren Jahren habe ich nicht ein einziges Mal Urlaub machen können ... Ich will mich aber nicht beklagen, denn meine Kinder .. . gehen ... einer geregelten Arbeit nach.
Bitte hellen Sie mir,
- das schreibt sie an Margot von Renesse -
daß ich wenigstens mit 60 Jahren ohne Abzug in Rente gehen kann, denn ich kann einfach nicht mehr.
Meine Damen und Herren, hinzu kommt: Bis 1967 konnten sich die Frauen nach der Heirat ihre Rentenansprüche auszahlen lassen. Die Bundesregierung und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte haben im vorigen Jahr geworben, man könne diese Heiratserstattung wieder einzahlen, um die Rente zu verbessern. Das haben über 600 000 Frauen gemacht, ein großer Teil von ihnen in der Erwartung, daß sie mit 60 Jahren in Rente gehen können und damit ihre Rente etwas verbessert wird.
Herr Blüm sagt so gern: Rente ist Lohn für Lebensleistung. Ich sage: Das, was Sie hier vorhaben, ist die Verhöhnung der Lebensleistung dieser älteren Frauen.
Diese Maßnahme ist nicht nur sozial ungerecht, sie ist auch ökonomisch unvernünftig. Gerade in dieser Woche haben wir gehört, daß die Jugendarbeitslosigkeit weiter wächst. Wie kann man denn auf die Schnapsidee kommen, ältere Frauen gegen ihren Willen zu zwingen, noch drei Jahre daranzuhängen, wenn man gleichzeitig den jungen Leuten sagen muß, daß man sie nicht braucht, weil man keine Arbeitsplätze für sie hat?
Nebenbei: Die Landtagswahlen vom 24. März wurden hier mehrfach erwähnt, ebenso,
daß Sie immer schon die Wahrheit gesagt hätten.
Ich habe vor den Landtagswahlen nicht von Ihnen gehört oder gesehen oder gelesen, daß Sie die Kindergelderhöhung verschieben wollen, daß Sie die älteren Frauen länger arbeiten lassen wollen. Das war eine klassische Lüge. Ihre Reden vor der Wahl und nach der Wahl sind seit Jahren das gleiche, nämlich die Unwahrheit.
Wir wissen, daß bis weit hinein in Ihre Reihen diese Teile des Paketes umstritten sind. Es ist nicht so, daß wir 100 Prozent von dem, was Sie vorschlagen, ablehnen, aber diese soziale Schlagseite kann so nicht hingenommen werden.
Es sind die christlichen Arbeitnehmer unter Ihnen, die das nicht hinnehmen wollen.
Es sind viele Frauen unter Ihnen, die das nicht hinnehmen wollen. Es ist die Präsidentin des Deutschen Bundestages, die öffentlich sagt: So geht das nicht.
Deswegen appelliere ich an Sie alle in Ihren Reihen: Spitzen Sie nicht nur die Lippen! Stehen Sie einmal hier im Deutschen Bundestag. Sie haben das Recht, nach Ihrem Gewissen zu entscheiden. Dann tun Sie es auch, und beschließen Sie ein Sparpaket, das sozial gerecht ist und die Arbeitslosigkeit bekämpft! Das, was Sie vorgelegt haben, entspricht diesem Maßstab nicht.
Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS.
Herr Präsident! Auch ich möchte Ihnen herzlich zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fürst Hans-Adam von Liechtenstein warnte schon vor Jahrzehnten davor,
daß die Steuerflucht nicht dadurch verhindert werden könne, indem die Steueroasen zerstört werden, sondern nur dadurch, daß das eigene Land nicht zur Steuerwüste gemacht wird.
Die Bundesregierung, die maßgeblich mit dafür verantwortlich ist, daß Deutschland zu einer Steuerwüste mit Chaos und dramatischer sozialer Schieflage verkommen ist, diese Bundesregierung sollte sich diese Worte des Fürsten ins Stammbuch schreiben.
Die Steuerhinterziehung vor allem der Großunternehmen, der Banken und Versicherungen muß endlich vom Bund, aber auch von den Ländern entschieden bekämpft werden. Wir brauchen endlich mehr als 1 000 neue Betriebsprüferinnen und Betriebsprüfer in den Finanzämtern.
Es ist ein Skandal, daß Bund, Ländern und Gemeinden jährlich 130 Milliarden DM an ihnen zustehenden Einnahmen verlorengehen. Deshalb ist auch auf die Einnahmenerzielung und nicht ausschließlich auf die Reduzierung der Ausgaben bei den sozial schwachen Bürgerinnen und Bürgern mehr Wert zu legen.
Dr. Uwe-Jens Rössel
Zur kommunalen Finanzausstattung: Immer mehr Kommunen sind angesichts leerer Kassen - das ist keine Übertreibung - nicht mehr in der Lage, ihnen obliegende Selbstverwaltungsaufgaben insbesondere auf sozialem und soziokulturellem Gebiet zu erfüllen. Auch dadurch wird die Spaltung vor allem der großen Städte in Arm und Reich weiter vorangetrieben - eine unhaltbare Situation.
Dramatisch ist auch der gravierende Rückgang der kommunalen Investitionen in West wie Ost. Trotz immensen Staubedarfs verringerten sich diese in den neuen Bundesländern von 17,7 Milliarden DM in 1995 auf 15,9 Milliarden DM im vergangenen Jahr und sollen in diesem Jahr um weitere 2 Milliarden DM zurückgehen. Arg gebeutelt ist dadurch vor allem das Bauhandwerk.
Die PDS hat gestern einen Antrag zur Reform der Kommunalfinanzierung eingebracht, die ihren Namen verdient und über eine ausschließliche Unternehmensteuerentlastung hinausgeht.
Erster Punkt. Unternehmen dürfen auch künftig nicht aus ihrer Verantwortung für die von ihnen genutzte Infrastruktur entlassen werden. Der Kreis der Steuerpflichtigen bei der Gewerbesteuer sollte insbesondere durch Einbeziehung kapital- und ertragsstarker Freiberufler bzw. Vermögensberatungsfirmen erweitert werden, die über einer angemessenen Einkommensgrenze liegen. Bei dieser Regelung haben wir selbstverständlich berücksichtigt, daß kleinere Gewerbetreibende und Handwerker, kapital- und ertragsschwache Unternehmen überhaupt, von der Zahlung dieser Steuer auch künftig weitgehend entlastet bleiben.
Zweiter Eckpunkt. Wir verlangen die Erhöhung des Anteils der Gemeinden an der Einkommensteuer, der derzeitig 15 Prozent beträgt, auf künftig 20 Prozent.
Herr Kollege, die Redezeit ist beendet.
Die Finanzierungsgrundlage dafür ist in unserem Antrag nachgewiesen worden. Steuerrechtsänderungen des Bundes haben nämlich zu einer Mehrbelastung vor allem der Kommunen geführt - 180 Milliarden DM Mehreinnahmen für den Bund, 4,4 Milliarden DM weniger für die Kommunen. Hier muß ein Ausgleich für die Kommunen her.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Johannes Selle, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin etwas enttäuscht von Frau Matthäus-Maier.
Sie weiß, daß die Zeiten schwierig sind. Das ist in vielen Beiträgen auch der SPD deutlich geworden. Sie macht die Kritik an unserer Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fest, die auch lieber verteilen würde, als in diesen schwierigen Zeiten das „Programm für Wachstum und Beschäftigung" mitzutragen.
Ich möchte hinzufügen, daß eine verläßliche Finanzpolitik, wie sie durch Bundesfinanzminister Waigel vertreten wird, nichts mit Stinken zu tun hat. Klarzustellen ist weiterhin, daß durch unsere Vorschläge - so wie Sie hier behauptet haben - die private Vermögensteuer nicht abgeschafft wird, sondern mit der Erbschaftsteuer zusammengefaßt wird.
Ich komme aus einer Region im Norden Thüringens mit den Städten Sömmerda, Sondershausen, Artern und Bad Langensalza. In dieser Region sind mit dem Strukturwandel infolge der deutschen Einheit Zehntausende von Arbeitsplätzen weggefallen. Der Wegfall eines Arbeitsplatzes ist immer beklagenswert, aber nicht in jedem Fall unverständlich. Heute werden zum Beispiel in Sömmerda mit ein paar hundert Arbeitskräften so viele Personalcomputer hergestellt wie noch vor wenigen Jahren mit 12 000.
Die im Jahre 1990 begonnene Industrialisierung schreitet nicht wie gewünscht voran. Alte Industriebrachen bleiben ungenutzt; Gewerbegebiete stehen leer; die Arbeitslosigkeit steigt an. Diese Entwicklung ist leider trotz massiver Finanzhilfen und Infrastrukturprogramme festzustellen, die wir im Osten anerkennen und für die wir dankbar sind.
Heute müssen wir aber auch erkennen, daß diese Entwicklung nicht nur in den Besonderheiten der neuen Länder begründet ist, sondern daß es auch eine wesentlich andere Ursache gibt: In Deutschland wird zu wenig investiert. Deutsche Investoren fehlen ebenso wie ausländische. Diese Zurückhaltung hat Gründe. Wenn Arbeitgeber in Deutschland keine Arbeitsplätze mehr bereitstellen wollen oder dies nicht mehr können, dann muß man solchen Gründen nachgehen.
Ich habe mir die Situation von einem in Sondershausen ansässigen, international agierenden Unternehmen, das seit 1990 bereits 150 Arbeitsplätze geschaffen hat, schriftlich schildern lassen. Dieses Unternehmen steht vor Erweiterungsinvestitionen und hat eine Analyse möglicher Investitionsstandorte in Tschechien, Polen und Ungarn gemacht und im Vergleich mit Sondershausen feststellen müssen: Der Standort Sondershausen ist zu teuer. Eine solche Folgerung wird von diesem Unternehmen sehr beklagt und bedauert. Eine endgültige Entscheidung wurde noch nicht getroffen.
Doch ist dies kein Einzelfall, und deshalb muß gehandelt werden. Die Koalition handelt. Das „Programm für Wachstum und Beschäftigung" ist zielgerichtetes Handeln.
Es leistet mit der Nichteinführung der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer im Osten und ihrer
Johannes Selle
Abschaffung im Westen sowie mit der Neuregelung der Erbschaftsteuer einen wichtigen Beitrag zur Stärkung all derer, die Arbeitsplätze schaffen können.
Die Regelungen des Jahressteuergesetzes 1997 stellen nur ein Minimum des gesamten Handlungsbedarfs dar und werden allein nicht ausreichen, um eine schnelle Trendwende zu ermöglichen. Diesen ersten Schritt aber nicht zu tun, hieße, den Weg zur Vereinfachung, Deregulierung und Entlastung erst gar nicht zu betreten.
Da sich die Faktoren Steuermindereinnahmen und erhöhte Kosten noch gegenseitig verstärken, fehlen den Städten und Gemeinden Gelder für Investitionen. Fehlende öffentliche Aufträge belasten zusätzlich den Arbeitsmarkt. Ebenso deutlich ist allerdings festzustellen: Ostdeutsche Kommunen hätten bereits in diesem Jahr über mehr Geld verfügen können, und zwar aus Umsatzsteueranteilen, wäre der von der Koalition angestrebte faire Ausgleich bei der Neuordnung der Gewerbesteuer schon im letzten Jahr gelungen.
Wir haben ein wertvolles Jahr verloren, in dem Reformen dringend nötig gewesen wären. Aber wir werden nicht aufgeben, Deutschland für Investoren interessant zu machen.
Mein Vater bittet mich inständig, darauf achtzugeben, daß die Arbeitslosigkeit nicht weiter steigt. Denn er hat in der Endphase der Weimarer Republik mit einem Arbeitslosenheer von sechs Millionen leidvolle Erfahrungen machen müssen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Das Jahressteuergesetz ist nötig, weil wir, auch mit unserem Steuersystem, im internationalen Wettbewerb stehen. Eine Mannschaft im Wettkampf sollte sich einig sein, wenn sie etwas zu verteidigen hat. Sie muß einen guten Tabellenplatz halten wollen. An diesem Geist und an dieser Aufbruchstimmung fehlt es zuallererst im deutschen Vaterland. Ich fordere deshalb die Opposition auf, die Interessengruppen im deutschen Volk nicht gegeneinander auszuspielen, wie dies morgen geschehen soll, sondern mit uns zusammen alles Erdenkliche zu tun, um den Tabellenplatz zu halten.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4839, 13/4750, 13/3990, 13/ 4838, 13/4845, 13/4859, 13/4870 und 13/4871 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zum Fünfzehnten Subventionsbericht der Bundesregierung, Drucksachen 13/2230 und 13/4607. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Genehmigung des Vollzugs von gerichtlichen Durchsuchungsbeschlüssen erweitert werden. Erhebt sich dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe diesen Tagesordnungspunkt auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages
- Drucksache 13/4904 -
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 13/ 4904. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand
- Drucksachen 13/4336, 13/4719 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/4877 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Ottmar Schreiner
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/4878 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel
Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Ina Albowitz
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und So-
Vizepräsident Hans Klein
zialordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Solidarität der Arbeitgeber einfordern:
Bedingungen für Teilzeitarbeit im Alter und Vorruhestand
- Drucksachen 13/3747, 13/4877 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Ottmar Schreiner
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 13/4814 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Soziaordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Dr. Maria Böhmer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach der Anhörung von Sachverständigen am 22. Mai dieses Jahres und intensiven Beratungen, die wir im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung geführt haben, verabschieden wir heute das neue Altersteilzeitgesetz. Dafür, daß das bereits vier Monate nach dem Konsens, der in dem Gespräch bei Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl am 12. Februar 1996 gefunden wurde, möglich ist, möchte ich dem Bundesarbeitsminister ganz herzlich für seinen intensiven Einsatz danken.
Es ist ein Konsens, der von Arbeitgebern und Gewerkschaften gemeinsam getragen wird. Dies wurde in der Anhörung noch einmal unterstrichen, als der DGB sagte, er steht voll und ganz zu diesem Kompromiß. Ich finde das einen beachtlichen Punkt, den wir festhalten sollten.
Durch das Altersteilzeitgesetz soll den Fehlentwicklungen im Bereich der Frühverrentung ein Riegel vorgeschoben werden und der gleitende Übergang von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den Ruhestand neu gestaltet werden.
Meine Damen und Herren, es ist klar: Die bisherige Praxis der Frühverrentung konnte so nicht beibehalten werden, und die daraus erwachsenden Belastungen für die Rentenkassen konnten auch nicht länger hingenommen werden, denn damit wäre eine ernsthafte Gefährdung unseres Rentensystems eingetreten.
Unabhängig von dieser finanziellen Seite halte ich es für wichtig, auch die humane Zielsetzung in den
Blick zu nehmen. Darüber haben wir im Ausschuß intensiv gesprochen. Ich verkenne nicht, daß es Tätigkeiten gibt, bei denen die Arbeitnehmer nach langen Arbeitsjahren ausgelaugt sind, beispielsweise bei Arbeiten in einer Eisengießerei oder an einer Stanzmaschine.
Aber das ist nur die eine Seite. Die andere Seite beinhaltet, daß sehr viele gern an ihrem Arbeitsplatz bleiben möchten. Ein Beleg dafür ist, daß zunehmend Rentner eine Arbeit suchen und eine Arbeit aufnehmen. Deshalb kommen wir mit der Flexibilisierung der Arbeitszeit dem Anliegen der Älteren nach. Es ist für viele zukünftig in der Tat eine durchaus attraktive Lösung, wenn - das betone ich - die Rahmenbedingungen stimmen. Wir haben diesen Gesetzentwurf intensiv beraten und an einigen Stellen Verbesserungen für die Arbeitnehmer eingefügt.
Ich will noch einmal betonen, daß die bisherige Praxis der Frühverrentung unter verschiedenen Gesichtspunkten keine Lösung dargestellt hat. Es war weder für die Arbeitnehmer, die einfach ausgemustert wurden, noch für die Arbeitslosen ein Weg; denn die Praxis hat gezeigt, daß in der Regel keine Arbeitslosen eingestellt worden sind, und auch Auszubildende sind nicht in dem Umfang von den Betrieben übernommen worden, wie es sich mancher gedacht hat.
Auch war es keine Lösung für die große Zahl der kleinen und mittelständischen Unternehmer; denn diese waren gezwungen, über die Lohnnebenkosten die für die Sozialkasse anfallenden Kosten für die Frühverrentung mitzutragen.
Die Gewinner waren die Großunternehmen, denn sie konnten die Kosten für den Personalabbau auf die Bundesanstalt für Arbeit und die Rentenkassen abwälzen, und zwar in Höhe von 21,9 Milliarden DM. Das waren immerhin 92 Prozent der Kosten. Nur 8 Prozent der Kosten haben die Unternehmen selbst getragen. Es war ein deutliches Alarmzeichen, daß die Frühverrentungen auf 300 000 Fälle im Jahr 1995 hochgeschnellt sind. Das bedeutet, daß im Jahr 1995 fast jede vierte Versichertenrente wegen Arbeitslosigkeit bewilligt wurde.
Ich meine, der Weg, den wir heute beschreiten, ist ein Gebot der Vernunft. Auch die Gewerkschaften - das möchte ich noch einmal betonen - sehen das so. In dem jüngsten Papier des DGB lese ich, Teilzeitarbeit und gleitender Übergang in die Rente sind humaner und produktiver als Arbeitslosigkeit und Frühverrentung. Die chemische Industrie hat mit Tarifverträgen schon jetzt eine entsprechende Regelung.
Wir haben bei den Beratungen im Ausschuß eine Regelung aus diesen Tarifverträgen aufgenommen, nach der die Arbeitszeit über fünf Jahre hinweg gestreckt werden kann. Bei dieser Regelung habe ich durchaus Bedenken gehabt. Ich habe aber zugestimmt, weil ich der Meinung bin, daß wir eine Regelung, die die Tarifparteien getroffen haben, auch gesetzlich abdecken sollten.
Ich darf an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der SPD sagen: Es kann nicht sein, daß man
Dr. Maria Böhmer
einem Antrag folgt, der eine Ausdehnung auf zehn Jahre vorsieht. Damit hätten wir in der Tat eine Blockbildung von Arbeit, die nichts anderes als die Wiedereinführung der alten Praxis der Frühverrentung durch die Hintertür bedeutete, nämlich daß die Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit en bloc ableisten und dann im Grunde genommen doch in den Ruhestand gehen, auch wenn der Arbeitsvertrag weiter besteht. Deswegen haben wir diesem Antrag der SPD nicht stattgegeben.
Ich will auch einen kurzen Satz zu dem immer wieder erhobenen Vorwurf sagen, daß der beim Bundeskanzler gefundene Konsens nachher einseitig durch die Bundesregierung aufgekündigt worden sei. Ich habe mir noch einmal sehr genau das 50-Punkte-Programm der Bundesregierung angeschaut: Es wurde wohlgemerkt am 30. Januar vorgelegt, also noch vor diesen Konsensgesprächen und auch vor den Wahlen im März. Diesen Punkt monieren Sie ja sonst immer. Dort ist klar gesagt worden, daß weitere Schritte im Rentenbereich erforderlich sind. Wir haben also schon ganz klar die Signale gesetzt, und es kann von Ihnen nicht immer wieder behauptet werden, daß hier ein Wortbruch stattfinde.
Bei allen Maßnahmen, die wir in diesem Bereich treffen, sind die Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen und der Abbau der Arbeitslosigkeit das maßgebliche Ziel. Wer heute vielleicht kritisch mit dieser Regelung umgeht, wird morgen froh sein, wenn sein Arbeitsplatz und seine Rente immer noch auf sicherem Grund gebaut sind.
Deshalb müssen wir alle Kraft daransetzen, daß die Lohnnebenkosten weiter sinken. Das ist auch die Absicht, die wir mit diesem Gesetz verbinden: Die Lohnnebenkosten müssen sinken und dürfen nicht steigen.
In bezug auf den Antrag der SPD, eine neue Vorruhestandsumlage für Unternehmen zu schaffen, sage ich: Wenn wir diesem Antrag folgen würden, dann würden die Lohnnebenkosten in der Tat ansteigen. Was wäre das anderes, als den Unternehmen neue Belastungen aufzubürden? Das kann nicht der Weg sein, der in die Zukunft führt und den Boden für mehr und sichere Arbeitsplätze bereitet.
Meine Damen und Herren, die SPD hat in der heutigen Debatte deutlich gemacht, daß sie alten Ideen nach wie vor anhängt und sich gegen Innovationen sperrt. Wir setzen auf flexible Lösungen im Bereich der Arbeitszeit. Ich appelliere noch einmal an Sie, für diesen Gesetzentwurf zu stimmen und einen Weg zu bejahen, der Vorteile für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Arbeitgeberseite bringt und der vor allen Dingen unsere sozialen Sicherungssysteme stützt.
Ich halte eine Menge davon, jetzt alle Kraft darauf zu verwenden, daß die Unternehmen das Ihre dazu beitragen, alle Möglichkeiten auszuloten, die Altersteilzeit wirklich umzusetzen. Wir haben hier noch ein deutlich ungenutztes Potential zur Flexibilisierung.
Die Redezeit!
Ich appelliere an Arbeitgeber und Arbeitnehmer, diese Chancen wahrzunehmen und das Gesetz mit Leben zu erfüllen.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Ottmar Schreiner.
- Bringen Sie Proviant mit?
Herr Präsident, ich habe ein Geschenk dabei, das will ich aber erst am Ende meiner Rede überreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das hier zur Beratung anstehende Gesetz soll die bisherige Frühverrentungspraxis ablösen. Es besteht im wesentlichen aus einem arbeitsrechtlichen und aus einem rentenrechtlichen Teil. Im Mittelpunkt steht die Absicht der Bundesregierung, die finanzielle Lage der Rentenversicherung zu konsolidieren.
Was den arbeitsrechtlichen Teil anlangt, ist es dem Deutschen Gewerkschaftsbund in den Verhandlungen mit der Bundesregierung gelungen, auf drei Feldern deutliche Verbesserungen gegenüber dem ursprünglich von der Bundesregierung geplanten Entwurf durchzusetzen.
Der DGB hat erreichen können, daß die Aufstokkungsbeträge, die bei Inanspruchnahme von Altersteilzeitarbeit von seiten der Bundesanstalt für Arbeit gezahlt werden, erhöht werden. Der DGB hat bewirkt, daß der Geltungsbereich des Vertrauensschutzes vom ursprünglich vorgesehenen 57. Lebensjahr auf 55 Jahre und in bestimmten Sonderfällen auf 52 Jahre ausgedehnt werden konnte. Ferner konnte erreicht werden, daß der Geltungsbereich der Altersteilzeitarbeit insgesamt nicht erst ab dem 57., sondern ab dem 55. Lebensjahr beginnt.
Was die Erfolgsaussichten des Angebots an Altersteilzeitarbeit anlangt, wird es nun sehr davon abhängen, inwieweit die Arbeitgeber entsprechende Arbeitsplätze anbieten und inwieweit die materiellen Bedingungen der Altersteilzeitarbeit so gestaltet werden können, daß sie für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinreichend attraktiv sind. Ein positives Signal setzt der Tarifvertrag für die Chemiewirtschaft, der insbesondere auf Drängen der Industriegewerkschaft Chemie durchgesetzt werden konnte. Wir haben ja einvernehmlich in den Schlußberatungen des Ausschusses das Gesetz so geändert, daß im Gesetz ein Bezug auf die Teilung des Arbeits-
Ottmar Schreiner
zeitvolumens - das ist der Kern des Chemie-Tarifvertrages - mit enthalten ist.
Hier gibt es übrigens, Frau Dr. Böhmer, auch eine En-bloc-Regelung; die entsprechenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen ja zweieinhalb Jahre lang Vollzeit arbeiten und dann zweieinhalb Jahre lang auf Null gehen können, bei Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses. Insoweit würde sich Ihr Argument gegen Sie selbst kehren; das ist mit Ihrem Einverständnis im Ausschuß so geändert worden.
Wir halten das Angebot von Altersteilzeitarbeit für einen richtigen Weg. Im wesentlichen sind die entsprechenden Überlegungen bereits in einem Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion enthalten gewesen, der sich seit geraumer Zeit in der parlamentarischen Beratung befindet, dem sogenannten Arbeits- und Strukturfördergesetz. Sie haben offenkundig dort von den guten Teilen abgeschrieben.
Wir haben zudem vorgeschlagen, daß neben dem Angebot an Altersteilzeitarbeit auch Vorruhestandsangebote aufrechterhalten werden sollen, allerdings bei einer deutlich stärkeren finanziellen Beteiligung der Arbeitgeber, als dies bisher der Fall gewesen ist. Die Zahlen sind ja eben . noch einmal vorgetragen worden: Der Arbeitgeberanteil an den Vorruhestandskosten beträgt etwa 8 Prozent. Wir waren für eine deutliche Aufstockung, um andererseits das Angebot an Altersteilzeitarbeit noch attraktiver zu machen.
Der zweite Teil, der rentenrechtliche, ist wesentlich problematischer. Vorgesehen ist die stufenweise Anhebung der Altersgrenze wegen Arbeitslosigkeit von 60 auf 63 Jahre, wobei es den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern freigestellt bleibt, auch ab dem 60. Lebensjahr wegen Arbeitslosigkeit in Rente gehen zu können, allerdings - das ist neu - unter Inkaufnahme von versicherungsmathematischen Abschlägen in Höhe von 10,8 Prozent, und zwar bezogen auf die Rente für die gesamte verbleibende Lebenszeit des betroffenen Arbeitnehmers oder der betroffenen Arbeitnehmerin.
Hier kann man noch argumentieren, daß es sehr wohl denkbar ist, diese versicherungsmathematischen Abschläge über Beträge aus Sozialplanmitteln auszugleichen. Das würde die Härten für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich mildern.
Allerdings sei ein kritischer Hinweis erlaubt: Was geschieht eigentlich mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die von kleinen und mittelständischen Betrieben entlassen werden, wo es keine Sozialpläne gibt, oder die Opfer von Betriebsschließungen werden, wo es ebenfalls keine Sozialpläne gibt? Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Herr Minister, gehen, wenn sie arbeitslos werden, häufig nach 40 harten Arbeitsjahren, den direkten Weg in die Armut. Sie wollen den Bezug von Arbeitslosengeld einschränken; Sie wollen die Arbeitslosenhilfe jährlich um 3 Prozent reduzieren. Schließlich greifen für diese Personen, nachdem sie eine Zeitlang zusätzliche Sozialhilfemittel bezogen haben, die Regelungen über die versicherungsmathematischen Abschläge bei der Rente, wodurch bei einem Großteil der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Rente vermutlich dann nicht einmal oberhalb der Sozialhilfesätze liegen wird - und dies nach 40 harten Arbeitsjahren.
Das ist ein ganz, ganz kritischer Punkt. Ich nehme an, daß er von Ihnen bewußt in Kauf genommen worden ist.
Gleichwohl haben wir als sozialdemokratische Fraktion gesagt - weil es dem DGB gelungen war, in einer Reihe von Punkten, die ich dargestellt habe, deutliche Verbesserungen zu erreichen -, der ursprüngliche Gesetzentwurf wäre unserer Meinung nach zustimmungsfähig gewesen.
Seit einiger Zeit haben wir eine neue Lage. Die Bundesregierung hat unter klarem Bruch der Vereinbarungen mit dem DGB die Altersgrenze wegen Arbeitslosigkeit einseitig auf 65 Jahre hochgeschraubt und die Altersgrenze für Frauen in der Rentenversicherung einseitig ebenfalls deutlich nach oben verändert. Die Frauen hätten ohne diese Veränderungen - auch nach dem hier zur Diskussion stehenden Gesetzentwurf - weiterhin ohne Abschläge mit 60 Jahren in Rente gehen können.
Im nachhinein gibt es also zumindest zwei massive Verschlechterungen, die einseitig unter Bruch der Verabredungen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund von der Bundesregierung in Gang gesetzt worden sind, die natürlich unmittelbar auf die Bedingungen dieses Gesetzentwurfs einwirken und damit die Attraktivität der Angebote für Altersteilzeitarbeit deutlich verschlechtern.
Ich will Ihnen das an einem Zahlenbeispiel zeigen. Durch die Verschiebung der Altersgrenze bei der Rente wegen Arbeitslosigkeit summieren sich die versicherungsmathematischen Abschläge von der Rente auf bis zu 18 Prozent, und zwar für den Rest des Lebens des Betroffenen.
Ich möchte Ihnen eine Zahl nennen, um deutlich zu machen, worum es geht. Nach dem bisherigen Stand der Dinge würde der Bezieher eines Durchschnittseinkommens bei Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung nach altem Recht eine Monatsrente von 1 682 DM netto bekommen; nach dem Kompromiß im Kanzleramt - mit Zustimmung der Gewerkschaften - eine Monatsrente in annähernd der gleichen Höhe: 1 644 DM; nach den einseitig massiv verschlechterten Bedingungen bekommt der gleiche Arbeitnehmer als Monatsrente 1 397 DM. Das ist also eine massive Verschlechterung.
Es müßte mir jemand klarmachen, inwieweit das bei denjenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, deren Renten vielleicht über Sozialplanmittel aufgestockt werden, überhaupt noch in Betracht kommt angesichts der enormen Differenzbeträge zu dem, was herausgekommen wäre, wenn es bei den alten Verabredungen vom Februar dieses Jahres geblieben wäre - ganz zu schweigen von der großen Gruppe derjenigen, für die Sozialplanmittel über-
Ottmar Schreiner
haupt nicht in Frage kommen, weil sie aus Kleinoder Mittelbetrieben ausscheiden oder wegen Betriebsschließungen ihre Arbeitsplätze verlieren.
Der übergroße Teil der Betroffenen wird im Rentenalter nur überleben können, wenn er zusätzliche Bezüge aus der Sozialhilfe in Anspruch nehmen kann - und das nach rund 40 schweren Arbeitsjahren, nach 40 Versicherungsjahren. Das ist sozialpolitisch, um es freundlich zu formulieren, eine ziemlich dicke Sauerei.
Meine Damen und Herren, die Gewerkschaften haben diese Vorgänge entsprechend gewürdigt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat am Dienstag alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages angeschrieben und erklärt: Die Bundesregierung hat mit diesem Gesetz - nämlich dem sogenannten Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - den bei der Kanzlerrunde im Februar 1996 gefundenen Kompromiß zur Frühverrentung und über die Anhebung der Altersgrenzen bei Rente wegen Arbeitslosigkeit gröblich verfälscht.
Der DAG-Vertreter sagte vor wenigen Tagen während der Ausschußanhörung: Im Prinzip ist die politische Geschäftsgrundlage der Altersteilzeitregelung aus der Kanzlerrunde im nachhinein vernichtet worden.
Meine Damen und Herren, das ist der Versuch der Bundesregierung, hausgemachte Probleme bei der Rentenversicherung über eine doppelte Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Rentner wettzumachen.
Der DGB hat darauf hingewiesen, daß der Beitragssatz im Durchschnitt der Jahre 1990 bis einschließlich 1997 mit 18,5 Prozent auf dem Niveau des Jahrzehnts von 1980 bis 1990 liege. Die hohen Beitragssätze 1996 und 1997 hätten ihre Ursachen im wesentlichen darin, daß vom 1. April 1991 bis Ende 1993 der Beitragssatz auf 17,7 Prozent bzw. 17,5 Prozent gesenkt worden sei, um die Anhebung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung zur Finanzierung der hohen Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland zu kompensieren. Das. ist genau der Punkt. Wir hätten heute nicht die geringsten Probleme bei der gesetzlichen Rentenversicherung, wenn Sie sich von Anfang an dafür entschieden hätten, die einheitsbedingten Lasten über Steuern, über den Bundeshaushalt zu finanzieren und nicht über einen Verschiebebahnhof zwischen den gesetzlichen sozialen Sicherungssystemen.
Ihre Redezeit!
Das ist die zentrale Ursache, warum Sie heute die finanziellen Probleme bei der Rentenversicherung haben.
Darauf ist ausdrücklich und mehrfach hingewiesen worden. Anstatt diese verfehlte Politik zu korrigieren, sollen die Versicherten, die bisher schon über höhere Beiträge für die versicherungsfremden Leistungen den Staat subventioniert haben, auch noch über Leistungskürzungen ein zweites Mal zur Kasse gebeten werden.
Meine Damen und Herren, die Vertrauenskrise in die Finanzkraft der gesetzlichen Rentenversicherung ist über katastrophale Fehler der Bundesregierung in den letzten Jahren hausgemacht verursacht worden.
Da hätten Sie ansetzen können und müssen, nämlich die Ursachen für diese Fehlentwicklung zu korrigieren, anstatt die Rentnerinnen und Rentner und die Arbeitnehmerschaft, die Beitragszahler, zusätzlich zu belasten.
Lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Weil wir vor der Verhandlungsleistung des DGB und vor seiner Vertragstreue als Verhandlungspartner während der Gespräche im Kanzleramt großen Respekt haben, hätten wir den Gesetzentwurf angenommen. Aber im nachhinein sehen wir uns auf Grund der nun seit einiger Zeit im Parlament liegenden Kürzungspakete, die wir entschieden ablehnen und die ihrerseits unmittelbar auf die Bedingungen der Altersteilzeit einwirken, veranlaßt, uns in der abschließenden dritten Lesung des Gesetzentwurfs der Stimme zu enthalten.
Ich darf Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, zum Abschluß ein kleines Geschenk überreichen. Es handelt sich um viele tausend Unterschriften von Frauen, die sich gegen den gröblichen Bruch des Vertrauensschutzes, gegen die rasche und schnelle Anhebung der Altersgrenzen von Frauen wehren. Es sind Unterschriften vieler tausend Frauen nur aus Ostdeutschland, nur aus der Region der Lausitz, geschickt an unseren Kollegen Stephan Hilsberg. Das sind Frauen, die mit ihrem Protest - stellvertretend für Millionen von Frauen - der Bundesregierung deutlich machen wollen, daß sie sich von dieser Bundesregierung verraten, verkauft und verschaukelt fühlen.
Schönen Dank.
Herr Kollege Schreiner, ich darf Sie der Ordnung halber darauf hinweisen, daß wir in diesem Hause rhetorisch miteinander verkehren. Sie sind einer von denen, die das meisterlich beherrschen. Wir reagieren normalerweise nicht mit optischen Hilfsmitteln. Das sind eigentlich eher die Mätzchen, die den Grünen vorbehalten sind.
Ich erteile der Kollegin Andrea Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erstens habe ich kein Geschenk dabei, zweitens fürchte ich, daß Sie den Kollegen Schreiner nicht hätten tiefer treffen können als mit einem Vergleich mit den Grünen.
Ausgangspunkt für das Gesetz, das wir heute besprechen, ist die wachsende Erkenntnis, daß die ursprünglich einmal kluge Idee, den Arbeitsmarkt durch Frühverrentung zu entlasten und damit jungen Leuten bessere Chancen für den Zugang zum Arbeitsmarkt zu geben, im Laufe der Jahre insbesondere durch die Praxis der Großbetriebe zunehmend ihrer eigentlichen Bedeutung entkleidet wurde. Sie ist längst zu einem Vertrag zu Lasten Dritter geworden, mit dem sich die Großbetriebe auf für sie unverhältnismäßig günstige Art und Weise von ihren älteren Beschäftigten getrennt und die finanziellen Lasten dafür der Gemeinschaft der Versicherten aufgebürdet haben. Aus diesem Grund waren die Gewerkschaften bereit, nach einem Ersatz für die alte Lösung zu suchen, der sowohl den Unternehmen, aber auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern etwas abverlangt.
Der in der Kanzlerrunde am 12. Februar 1996 ausgehandelte Kompromiß zur Altersteilzeit nimmt den Gedanken auf, daß in der Umverteilung der Arbeit ein wesentliches - wenn nicht sogar das wesentliche - Instrument zur Entlastung des Arbeitsmarktes liegt. Ältere Menschen sollen die Chance zu einem gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand erhalten. Sie sollen auf eine halbe Stelle gehen und 20 Prozent des entgangenen Lohnes von der Bundesanstalt für Arbeit erhalten. Damit sollte der Weg für Neueinstellungen bereitet werden.
Dieser Vorschlag ist mit einem nicht unerheblichen, mit einem einschneidenden Verzicht für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbunden. Die Gewerkschaften sind dennoch bereit gewesen, diesen Weg einzuschlagen. Das war ihr Angebot: über die Umverteilung von Arbeit und Einkommen den Teilen der Bevölkerung wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt einzuräumen, die zur Zeit ganz ausgegrenzt sind.
Das heißt, dieser Kompromiß ist ein Ausdruck dafür, mit welch großer Verantwortung die Gewerkschaften in das „Bündnis für Arbeit" gegangen sind und wie ernst es ihnen damit war, der immer rasanteren Spaltung unserer Gesellschaft durch die Arbeitslosigkeit etwas entgegenzusetzen.
Frau Kollegin, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen. - Einige Kollegen führen so wichtige Gespräche, daß sie Ihnen den Rücken zukehren müssen. Vielleicht kann man diese Gespräche nach draußen verlegen.
Bitte, fahren Sie fort.
Was hat die Regierung mit diesem Kompromiß gemacht? Sie hat das Angebot dankend angenommen, sich umgedreht und das „Bündnis für Arbeit" mutwillig zum Platzen gebracht - und dann all die Gesetze nachgeschoben, die die Arbeitnehmer jetzt noch zusätzlich belasten. Insbesondere - das hat der Kollege Schreiner gerade sehr ausführlich dargestellt - betrifft das die vorzeitige Anhebung der Altersgrenzen für Frauen.
Das betrachte ich nicht nur als Wortbruch, sondern in der Tat als Betrug. Denn ein Kompromiß bedeutet, daß beide Seiten etwas einbringen. Für die Gewerkschaften war der schwierige Weg des Verzichts verbunden mit der Erwartung, daß im Gegenzug nicht weiter an das Rentenrecht herangegangen würde.
Frau Kollegin Böhmer, auch wenn Sie darauf verweisen, daß Sie das schon im Januar in einem Ihrer Punkteprogramme angekündigt haben: Zum Bündnisgedanken hätte gehört, daß Sie versuchen, auch über die weiteren Maßnahmen zu verhandeln und den Weg des Kompromisses zu finden. Das haben Sie nicht mehr gemacht.
Wir haben durchaus Kritik an dem vorgelegten Kompromiß. Angesichts der Situation in den Betrieben sind es gerade die Unternehmen mit ihrer unflexiblen Arbeitszeitpolitik, die die Umverteilung der Arbeit behindern. Wir glauben, daß ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit dort geholfen hätte.
Als langjährige aktive Gewerkschafterin stelle ich heute meine Kritik an dem Gesetzentwurf zurück. Ich werde diesem Gesetzentwurf trotz aller Bedenken zustimmen und verstehe dies als demonstrative Unterstützung der Gewerkschaften, die tausendmal mehr Mut gehabt haben als die Bundesregierung, indem sie dieses „Bündnis für Arbeit" vorgeschlagen haben.
Auch meine Fraktion wäre gerne bereit gewesen, diesen Kompromiß mitzutragen. Aber weil wir eben schon heute wissen, daß wir in der nächsten und übernächsten Woche Teile des Sparpaketes auf den Tisch bekommen, mit denen die Bundesregierung dem Bündnis die Geschäftsgrundlage entziehen will, und wir uns dieser parlamentarischen Absegnung des Betrugsmanövers verweigern wollen, wird sich meine Fraktion bei der heutigen Abstimmung enthalten.
Herr Kollege Uwe Lühr, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich die Debatte richtig verfolgt habe, läuft hier im Moment das Szenario ab: Wir schimpfen kräftig auf die Bundesregierung, aber im
Uwe Lühr
Endeffekt verweigern wir uns dem Gesetzentwurf nicht. Ich finde, das ist zumindest sehr konstruktiv.
Die Vorruhestandsregelungen waren für die betroffenen Beteiligten am Arbeitsmarkt ein in der Regel zufriedenstellender Ausweg aus vielen ihrer Probleme. Das zeigen die in letzter Zeit sprunghaft angestiegenen Fallzahlen. Vor allen in den neuen Bundesländern haben diese Möglichkeiten der Frühverrentung einen erheblichen Beitrag geleistet zur Befriedung der angespannten Situation nach dem katastrophalen Zusammenbruch der mit Personal hoffnungslos überbesetzten Industriebetriebe und Verwaltungseinheiten der ehemaligen DDR.
Allerdings sind das teure Instrumente der Arbeitsmarktpolitik und - das ist das Bedeutsame - Ausgaben, die zu Lasten Dritter gehen, nämlich von beitragsfinanzierten Sozialsystemen getragen werden müssen. Ohne Korrekturen führte unter anderem diese Entwicklung mit zu einem Defizit, das nur mit kontraproduktiv hohen Beitragssteigerungen aufzufangen wäre. Wir brauchen aber Entlastung von den hohen Lohnzusatzkosten, nicht zusätzliche Belastung. Die beabsichtigten Regelungen versuchen, die positiven Elemente zu erhalten und, wo möglich, auszubauen und dennoch notwendige Spareffekte zu erzielen.
Daß Sparen trotzdem jeweils schmerzliche Eingriffe bedeutet, wer wollte das bestreiten? Und daß Sparmaßnahmen immer die Empfänger von Leistungen, also auch die Schwachen, treffen, ist eine ebenso elementare wie banale Erkenntnis, so daß man sich wundert, daß sie immer noch für Schlagzeilen herhalten kann.
Gespart werden kann halt nur dort, wo ausgegeben wird, ob das nun personenbezogene Subventionen in der sozialen oder gesundheitlichen Vorsorge und Sicherung, die innere und äußere Sicherheit oder die Sicherung von Arbeitsplätzen durch Hochsubventionen, zum Beispiel im Steinkohlenbergbau, sind.
Der ebenso oft wie irrig erhobene Vorwurf, daß nur an einer Stelle gespart werde - und natürlich an der falschen -, kann nur dort formuliert werden, wo der Überblick über die gesamte Palette von Maßnahmen fehlt oder nicht gewollt ist.
Daß bestimmte Vorhaben nicht kurzfristig greifen, weil sie langfristig festgelegte Vereinbarungen und Zusagen berühren, ändert nichts an der Breite der insgesamt zu treffenden Sparmaßnahmen, die ja mit dem sogenannten Sparpaket nicht erschöpft sind.
Ein solches, sich kurzfristigen Maßnahmen verschließendes Feld ist das der Rentenversicherung. Etwa zu der vorgezogenen Anhebung der Altersgrenze für Frauen gibt es meines Erachtens daher eine nicht unberechtigte Kritik an der Regelung für den Vertrauensschutz der rentennahen Jahrgänge. Während es 1989 noch eine Ankündigungsfrist von zwölf Jahren gab, ist diese Ankündigungsfrist jetzt auf fünf Jahre verkürzt. Das ist sicherlich schon zu kurz. Alterssicherung muß langfristig angelegt sein,
und sie muß verläßlich sein. Lebensplanung, insbesondere Lebensabendplanung, verträgt keine spontanen Änderungen, da zur Realisierung einer abrupt veränderten Vorsorgeplanung die notwendige Vorlaufzeit fehlt.
Die F.D.P.-Fraktion stimmt trotz dieser meiner Bedenken der im Ausschuß geringfügig geänderten Fassung des Gesetzentwurfs zu.
Das Wort hat die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorschläge, die Arbeit gerechter zu verteilen, sind zweifellos unterstützenswert. Insofern verschließen wir uns auch nicht den Ideen des vorliegenden Gesetzentwurfs und des SPD-Antrags, die Verdienste von Teilzeitarbeit durch Zuschüsse der Bundesanstalt für Arbeit aufstocken, die Sozialversicherungsbeiträge höher anerkennen, als Arbeit verrichtet wurde, und die Arbeit wochen-, monats-
und jahresweise verschieden verteilen lassen.
Allerdings bezweifeln wir im Konkreten die Realisierbarkeit. Zu bezweifeln ist, ob überhaupt Arbeit für Ältere geteilt wird, wenn zugleich ein Jüngerer eingestellt werden muß zu einem Zeitpunkt, wo die meisten Unternehmen Personal abbauen.
Zu bezweifeln ist, ob viele der Beschäftigten mit 70 Prozent des bisherigen Verdienstes genug zum Leben haben werden. Und zu bezweifeln ist auch, ob sich Unternehmen mit traditionellen Männerberufen wirklich Gedanken über Teilzeitarbeit machen. Erfahrungsgemäß ist sie vor allem in den Bereichen angesiedelt, wo überwiegend Frauen beschäftigt sind.
Aber das prinzipiell konstruktive Herangehen an die Altersteilzeitarbeit wird mit der Anhebung der Altersgrenze für den Rentenbezug nach Arbeitslosigkeit beziehungsweise mit der Bestrafung durch Abschläge gekoppelt, wenn die Rente doch vorher in Anspruch genommen werden muß.
Zahllos sind wohl die älteren Betroffenen - der Kollege Schreiner hat bereits darauf verwiesen -, die keine Chance auf einen gleitenden Übergang in den Ruhestand haben, sondern ohne komfortablen Sozialplan entlassen werden und dann sehnlichst auf den frühestmöglichen Rentenbeginn warten. Nun sollen sie dauerhafte Abschläge von jährlich 3,6 Prozent hinnehmen. Das wird vor allem ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern treffen, wenn Privatisierungen der Treuhand auffliegen oder Kleinstunternehmen in Konkurs gehen.
Wenn die Gewerkschaften zu Beginn des Jahres im Bündnis für Arbeit dennoch den Kompromiß eingegangen sind, die Altersteilzeitarbeit mit einem späteren Rentenbeginn zu verbinden, dann war das
Petra Bläss
zu einer Zeit, in der im „Bündnis für Arbeit" ein Arrangement getroffen wurde, die Gewerkschaften tatsächlich an der Reform des Sozialstaates zu beteiligen.
Das Schlucken der Kröte wurde versüßt mit einem Vertrauensschutz für ältere Arbeitslose und bereits unterzeichnete Auflösungsverträge bzw. Sozialpläne, den die Regierung ursprünglich nicht vorgesehen hatte. Druck darauf hatte unter anderem die IG Metall am 13. Februar mit 40 000 Demonstrierenden in Bonn gemacht.
Doch das gewerkschaftliche Zugeständnis bei der Rente wurde jetzt im Sparpaket schamlos ausgenutzt. Nun sollen in rasantem Tempo auch die Altersgrenzen für den Rentenbeginn von Frauen angehoben werden. Einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Änderung des SGB VI haben Sie ja heute schnurstracks nachgeschoben. Die Umschreibung „Verlängerung der Lebensarbeitszeit und Stärkung des Versicherungsprinzips in der gesetzlichen Rentenversicherung" ist einfach ein Hohn für die betroffenen Frauen.
Herr Bundesminister Blüm, ich wünschte mir, Sie wären in Cottbus am 7. Juni dabei gewesen. Dort hätten Sie die wütenden Frauen erleben müssen, die jetzt zum zweiten Mal betrogen werden, denn die Auffüllbeträge im Osten werden ja ohnehin abgeschmolzen.
Damit ist die Geschäftsgrundlage für den Kompromiß einseitig aufgekündigt.
Ihre Redezeit ist zu Ende!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist der letzte Satz.
Auch wenn sich die Gewerkschaften diesem Exempel weiterhin verpflichtet fühlen: Die Zeiten von Absprachen sind vorbei. Die Regierung fährt nachweislich auf Konfrontationskurs. Die PDS wird deshalb den Gesetzentwurf der Bundesregierung ablehnen. Beim SPD-Antrag werden wir uns der Stimme enthalten.
Danke.
Ich erteile dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte in dieser Schlußberatung ausdrücklich dem Parlament, dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung - ausdrücklich auch Ihnen, Frau Vorsitzende - für die zügige Beratung Dank sagen. Drei Wochen nach der Vereinbarung mit den Sozialpartnern hat das Kabinett den Gesetzentwurf vorgelegt. Drei Monate nach Vorlage des Gesetzentwurfs ist dieses Gesetz heute in der Schlußberatung. Mein Dank für diese engagierte Mitarbeit an einem wichtigen Gesetz, das dem Konsens mit den Sozialpartnern entspricht.
Meine Bitte für den morgigen Tag ist,
daß die Gewerkschaften ihr Licht nicht unter den eigenen Schatten stellen, daß sie bei ihrer Demonstration nicht vergessen, daß sie wichtige Ergebnisse in den Kanzlergesprächen zustande gebracht haben.
- Ich bin Ihnen dankbar für den Zuruf. Jetzt kann ich sie noch nennen: neben der Frühverrentung die Vereinbarung über die Schaffung von Ausbildungsplätzen und ein Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit mit einem Volumen von 3 Milliarden DM. Allein schon wegen dieser drei Punkte bitte ich, bei der morgigen Demonstration nicht alles kurz und klein zu schlagen, sondern sich daran zu erinnern, was wir im Konsens erreicht haben - jedenfalls mehr als im Konflikt.
Das war eine Gedächtnisstütze.
Zweitens - nicht nur fürs Protokoll -: Ausdrücklich ist in dieser Kanzlerrunde auch darüber gesprochen worden, ob mit der Vorlage dieses Gesetzes die Diskussion über Altersgrenzen beendet sei. Diese Frage habe ich in der Kanzlerrunde mit Nein beantwortet. Ich nehme die Gewerkschaften für die Neuregelung der Altersgrenze für Frauen nicht in Anspruch. Aber eine Nichtneuregelung war nicht die Bedingung der Vereinbarung. Ich bin gegen Geschichtsklitterung. Deshalb wollen wir in der Schlußrunde noch einmal klarstellen, um was es hier geht, nämlich um ein Gesetzespaket, das mit den Gewerkschaften und Arbeitgebern vereinbart wurde. Es hat einen finanziellen und einen humanen Gesichtspunkt.
Zum finanziellen Aspekt: Längere Lebenserwartung, die wir uns alle wünschen - Gott sei Dank -, und immer frühere Renteneintrittsalter - das hält kein System aus. Das faktische Renteneintrittsalter liegt heute fünf Jahre unter der gesetzlichen Altersgrenze von 65 Jahren. Es geht nicht, daß wir immer längere Rentenlaufzeiten dadurch finanzieren, daß wir immer früher in die Rente eintreten. Das geht nicht. Das hält kein Rentensystem der Welt aus.
Zum humanen Gesichtspunkt: Ich habe es nie für human gehalten, daß Personalprobleme der Betriebe, besonders der Großbetriebe, einfach auf Kosten der älteren Arbeitnehmer gelöst werden. Es kann nicht human sein, wenn die Gesellschaft ihre Arbeitsmarktprobleme dadurch löst, daß sie die Arbeitnehmer immer früher verabschiedet. Das ist auch nicht im Sinne der Arbeitnehmer.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Ich halte einen gleitenden Übergang in den Ruhestand für die beste Lösung, indem man einerseits den älteren Arbeitnehmern den Kontakt mit dem Betrieb erhält und andererseits ihre Arbeit reduziert. Warum soll ein 60jähriger dieselbe Arbeitszeit haben wie ein 20jähriger? Warum können wir nicht mehr maßschneidern? Warum muß alles über die Schablone gezogen werden? Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leisten wir einen Beitrag zu einer Arbeitswelt, die den unterschiedlichen Lebensbedürfnissen gerecht wird. Und ich behaupte, daß die Bedürfnisse eines 60jährigen Arbeitnehmers nach 40 Jahren Arbeit eben andere sind als die eines 20jährigen. Wir unterstützen das durch die Bundesanstalt für Arbeit.
Wie Sie sehen, sind die Gewerkschaften schneller, als selbst die SPD geglaubt hat. Die IG-Chemie hat einen entsprechenden Tarifvertrag, in der IG-Metall wird verhandelt, in der Stahlindustrie schneller als der Gesetzgeber; schneller als wir hier waren die Sozialpartner.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß wir mit dem heutigen Gesetz erstens einen Beitrag zur Entlastung der Rentenkasse und zweitens zur Humanisierung des Arbeitslebens leisten. Wir leisten einen Beitrag, der Flexibilität mehr Schub zu geben, als sie heute hat.
Deshalb bedanke ich mich für die Zustimmung zu diesem Gesetz.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand, Drucksachen 13/4336, 13/4719 und 13/4877 Buchstabe a.
Die Fraktion der SPD hat zu einem Artikel getrennte Abstimmung verlangt.
Ich rufe Art. 1 in der Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Art. 1 ist angenommen.
Ich rufe Art. 2 in der Ausschußfassung auf. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer lehnt ab? - Wer enthält sich der Stimme? - Art. 2 ist angenommen.
Ich rufe Art. 3 bis Art. 10. Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf.
- Das Schlimme, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen ist, daß der sitzungsleitende Präsident keine Ordnungsgewalt über die Regierungsbank hat.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die zuzustimmen gedenken, um ihr Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.
Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten nun in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/4877, den Antrag der Fraktion der SPD zu Bedingungen für Teilzeitarbeit im Alter und Vorruhestand für erledigt zu erklären. Stimmt das Haus dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch auf Drucksache 13/4814 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Besteht damit Einverständnis? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 19. Juni 1996, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.