Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gäbe es nicht die Begründung für diese Aktuelle Stunde, wäre ich an sich sehr dankbar für diese Debatte; denn der heutige Tag, der 14. Juni 1996, ist für mich und meine Familie ein bewegendes Datum.
Exakt vor 50 Jahren, am 14. Juni 1946, wurde meine Familie aus ihrer Heimat vertrieben - mein Vater, gerade aus dem tschechischen KZ entlassen, meine Mutter mit acht Kindern im Alter von 2 bis 16 Jahren. Da damals natürlich die Verwaltung funktionieren mußte, wurde dem jüngsten Kind - mir - im „Ausweisungsschein für alle Deutschen, Magyaren und sonstigen Verbrecher der Tschechoslowakischen Republik" die Berufsbezeichnung „Baby" verliehen.
Wenn wir heute über die Rede des Bundesministers Dr. Theo Waigel auf dem Sudetendeutschen Tag reden, die er in seiner Eigenschaft als CSU-Parteivorsitzender gehalten hat, müssen wir mit berücksichtigen, daß natürlich die Gestaltung einer friedlichen europäischen Zukunft auch die Wahrung des Rechts und damit das Eingeständnis von Unrecht voraussetzt.
Wenn Sie, Herr Kollege Verheugen, beklagen, daß angeblich niemand von der Unionsseite oder auch von den Vertriebenen und der Sudetendeutschen Landsmannschaft jeweils ein Wort der Entschuldigung oder des Bedauerns ausgedrückt haben,
darf ich Sie nicht nur auf die Charta der Vertriebenen vom 5. August 1950, sondern auch auf das verweisen, was der CSU-Vorsitzende Theo Waigel auf dem Sudetendeutschen Tag gesagt hat. Es wäre schön gewesen, Herr Kollege Weisskirchen, Sie hätten dieses Zitat ebenfalls gebracht.
Deswegen zitiere ich jetzt Herrn Dr. Waigel. Er hat, an das anschließend, was der Kollege Weisskirchen vorgetragen hat, gesagt:
Es geht nicht um die Relativierung deutscher Schuld. Wir stehen fassungslos in den Ruinen von Lidice. Trauer und Scham beherrschen uns, wenn wir an die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft in Böhmen und Mähren denken. Wir bitten
Kurt J. Rossmanith
um Verzeihung für das Leid, das so vielen im deutschen Namen angetan wurde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, historische Wahrheiten sind nun einmal so, wie sie sind. Man kann sie nicht beliebig verändern. Sie sind Voraussetzung dafür, daß wir uns der Zukunft zuwenden können. Wenn ich weiß, woher ich komme, kann ich auch sagen, wohin ich eigentlich gehen will.
Zur historischen Wahrheit gehört, daß eine Vertreibung stattgefunden hat, keine Abschiebung, kein Transfer, keine Aussiedlung.
Wieso ist denn das so schwierig mit den Beneš-Dekreten, mit dem Amnestiegesetz? Ich verlange doch nicht von der tschechischen Seite, daß sie das, was alles gefordert wird, erfüllt. Ich verstehe ja die Zwänge. Aber wieso kann man nicht so, wie wir es über das Münchener Abkommen gesagt haben - obwohl ich das eine mit dem anderen nicht vergleichen möchte -, erklären, daß das für uns heute nicht mehr gültig ist? Herr Kollege Meckel, Sie haben die Außenrechtsposition hier angesprochen.
Wieso ist es für die tschechischen Abgeordneten und das tschechische Parlament nicht möglich zu sagen, daß dieses Amnestiegesetz - das wirklich ein Verbrechensgesetz war, denn es hat alle Verbrechen an den Deutschen sanktioniert - und daß die BenešDekrete heute für die tschechische Seite nicht mehr gültig sind? Das würde uns doch schon genügen. Das wäre doch ein Stück Vergangenheitsbewältigung und Blick in die Zukunft.
Geist und Text dieser Beneš-Dekrete - das muß uns immer wieder in Erinnerung gerufen werden - stehen in einem absoluten Widerspruch zur Charta der Menschenrechte, denn sie enthalten eine schwerwiegende Diskriminierung und eine kollektive Schuldzuweisung gegenüber einem ganzen Volk.
Deshalb bin ich allen dankbar. Ich bin dankbar für die Worte, die auf dem Sudetendeutschen Tag gefallen sind. Ich danke Herrn Bundesminister Dr. Waigel für diese Aussagen, die er dort getroffen hat. Ich danke allen, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind und zu ihrer Verantwortung stehen.
Ich danke auch den sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen, die sich in der Seliger-Gemeinde - ich darf hier nur einmal Volkmar Gabert nennen - auch dieser Verantwortung stellen. Gerade die Sudetendeutschen, die jahrhundertelang mit den Tschechen Seite an Seite miteinander gelebt haben, die dieses Land und die Kultur mitgestaltet haben, betreiben diese Aussöhnung seit vielen, vielen Jahren.
Gehen Sie in die Heimatgemeinden, schauen Sie, was dort an Kultur, was an direktem persönlichem Austausch stattfindet. Das sind die Sudetendeutschen, und sie muß man bei diesen Gesprächen zumindest anhören und ihre Meinung erfragen. Sie sind die Betroffenen, sie sind diejenigen, die vor 50 Jahren Haus und Hof verloren haben, die ausgetrieben wurden und die dabei ihre Menschenwürde mit Füßen treten lassen mußten.
Ich danke Ihnen.