Rede von
Oskar
Lafontaine
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der jüngste Bericht der Europäischen Kommission über die „Steuern in der Europäischen Union" zeigt eine besorgniserregende Entwicklung: Überall in Europa wurde in den letzten Jahren die Arbeit immer höher belastet, die steuerliche Belastung des Kapitals ging immer weiter zurück. In Deutschland ist der Anteil der Unternehmensteuern am Gesamtsteueraufkommen von 1989 bis 1995 deutlich gesunken: von 14,3 Prozent auf 8,7 Prozent. Der Anteil der Lohnsteuer aber ist deutlich angestiegen: von 33,9 Prozent auf 37 Prozent.
Wir sind der Überzeugung, daß die Politik dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen darf.
Es wäre wünschenswert, wenn auch Sie, Herr Kollege Waigel, das begreifen würden, nachdem Sie so doziert haben. Die von der Europäischen Kommission festgestellte Überbelastung der Arbeit hat schwerwiegende Folgen: Die Arbeitslosigkeit steigt immer weiter an, der Marsch in die Schwarzarbeit geht immer weiter, die Einkommensverteilung wird immer ungerechter.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Deshalb müssen wir dafür sorgen, daß die Arbeit endlich entlastet wird.
Die Bundesregierung aber geht den falschen Weg. Sie will die Verbesserung des steuerlichen Grundfreibetrages zum 1. Januar 1997 verhindern. Ich sage noch einmal: Die Europäische Kommission stellt fest, daß die Arbeit viel zu hoch mit Steuern und Abgaben belastet ist. Das kann doch kein ernstzunehmender Mensch bestreiten. Insbesondere trifft das natürlich die unteren Einkommen. Daß wir vor einigen Monaten vereinbart haben, die unteren Einkommen über den Grundfreibetrag besonders zu entlasten - das geht natürlich durch den ganzen Tarif -, war eine vernünftige Maßnahme. Auch Sie haben dem zugestimmt. Ich sage: Grundlage muß sein, daß Vereinbarungen Bestand und Geltung haben. Sonst hat es doch gar keinen Sinn mehr, etwas zu vereinbaren.
Statt die Arbeit zu entlasten, wollen Sie die Vermögensteuer abschaffen. Sie haben hier noch einmal in herzerweichenden Worten dargelegt, was alles das für Wachstum und Beschäftigung bringe und wie notwendig das sei, und haben sich dann auf das Verfassungsgericht berufen. Das hätte ich an Ihrer Stelle nicht getan, Herr Kollege Waigel. Denn es ist in Ihrer Amtszeit als Finanzminister ein ganz bemerkenswerter Vorgang zu verzeichnen: Nicht mehr die Bundesregierung macht Finanzpolitik und Steuerpolitik, sondern das Bundesverfassungsgericht, das Sie ständig darauf hinweisen muß, daß Sie bei Familien, beim Existenzminimum und bei anderen Steuerfragen eine gegen die Verfassung gerichtete Finanzpolitik machen. Das ist ein völlig unerträglicher Zustand.
Sie haben dargelegt, daß der Vorschlag, eine Vermögensabgabe zu erheben, international von niemandem gebilligt würde. Aber Sie sollten zumindest wissen, was in der Europäischen Kommission los ist, Herr Kollege Waigel. Oder muß ich unterstellen, daß Sie bei den Beratungen des Ecofin-Rates immer Zeitung lesen oder etwas anderes tun?
Der Europäischen Kommission geht es um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. In dem Monti-Bericht „Steuern in der Europäischen Union" steht unter dem Kapitel „Beschäftigungsförderung":
Ausgabenkürzungen der öffentlichen Hand können zwar einen Beitrag leisten, sie dürften allein aber nicht ausreichen, eine Verringerung der steuerlichen Belastung der Arbeit im erforderlichen Maße, um Beschäftigung zu erreichen, zu finanzieren. Als alternative Finanzierungsquellen kommen indirekte Steuern, unter anderem auch die Besteuerung von Vermögen und Grundbesitz, in Betracht.
Nach Ihrer Rede, Herr Kollege Waigel, müßte das zu einer erheblichen Reaktion der Finanzmärkte führen. Es dürfte kein Kapital mehr in Europa angelegt werden. Lassen Sie doch solche fehlerhaften Behauptungen! Was die Kommission feststellt, ist ganz einfach die Wahrheit: Die Arbeitnehmer wurden immer stärker belastet. Wir haben die Pflicht und Schuldigkeit, diese Belastungen zurückzunehmen.
Statt mit einer ökologischen Steuerreform, wie sie die gesamte europäische Kommission fordert und wie sie viele Länder der Europäischen Gemeinschaft bereits angehen, die Lohnnebenkosten zu senken, läßt die Bundesregierung wider alle ökologische Vernunft das Sinken der Energiepreise zu.
Sie müssen erkennen: Die übermäßige Steuer- und Abgabenbelastung ist eines der größten Beschäftigungshindernisse in Deutschland. Sie haben ja recht, wenn Sie sagen, das Hauptproblem sei die Arbeitslosigkeit - dafür haben Sie Beifall des ganzen Hauses erhalten -,
aber wenn Sie die Arbeit immer weiter besteuern, werden Sie die Arbeitslosigkeit immer weiter steigern. Das ist der Zusammenhang.
Ursache für die Strukturverschiebung zu Lasten der Arbeit ist ein verhängnisvoller Wettbewerb der Staaten. Um Kapital und Arbeitsplätze im Lande zu halten oder ins eigene Land zu holen, werden die Unternehmensteuern immer weiter gesenkt. Weil die Mobilität der Arbeit geringer ist als die Mobilität des Kapitals, wird die Arbeit immer stärker belastet. Die Europäische Kommission auf die berufe ich mich - stellt zu Recht fest:
Die scheinbare Verteidigung der einzelstaatlichen Steuerhoheit hat durch Aushöhlung der Besteuerungsgrundlagen,
- dabei haben Sie erheblich mitgewirkt, Herr Kollege Waigel -
insbesondere bei den mobileren Steuergrundlagen, Schritt für Schritt einen realen Verlust an Steuerhoheit für jeden einzelnen Mitgliedstaat zugunsten der Märkte bewirkt. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, mußte jeder Mitgliedstaat bis zu einem gewissen Grade den Faktor Arbeit überbelasten, was wiederum unerwünschte gegenteilige Auswirkungen auf Beschäftigung und Einkommensverteilung hat.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Dieser Analyse ist voll und ganz zuzustimmen. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Grundlagen von Wohlstand und Beschäftigung zerstört werden. Deshalb müssen wir der Internationalisierung der Wirtschaft auch auf diesem Gebiet eine politische Antwort aller Staaten, insbesondere der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, entgegensetzen.
Der Bericht der Europäischen Kommission weist dafür den richtigen Weg. Wir brauchen in der Europäischen Union eine Steuerharmonisierung - bei den Unternehmensteuern, bei den Kapitalertragsteuern und bei den Umweltsteuern. Die Kommission denkt zu Recht daran, einen effektiven Mindeststeuersatz in der Europäischen Union einzuführen. Wir halten das für den richtigen Weg. Ich fordere daher die Bundesregierung auf: Tragen Sie dazu bei, daß die Vorschläge der Europäischen Kommission aufgegriffen werden! Sie sind der richtige Ansatz, um die Beschäftigungskrise in Europa zu überwinden.
Die ökonomischen Rahmenbedingungen werden vor allem vom Bund gesetzt. Deshalb sind Arbeitsmarktzahlen einer der wichtigsten Maßstäbe für den politischen Erfolg oder Mißerfolg einer Bundesregierung. Gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl der Arbeitslosen um 357 000 angestiegen. Noch niemals gab es in dieser Jahreszeit so viele Arbeitslose wie in diesem Jahr. In ganz Deutschland fehlen 6 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Das ist nun einmal auch das Ergebnis Ihrer falschen Politik.
Angesichts dieser Rekordarbeitslosigkeit stellen immer mehr Menschen fest, daß die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung gescheitert ist. Sie versagen bei der wichtigsten Aufgabe unseres Landes: die Menschen am Erwerbsleben zu beteiligen. Die hohe Arbeitslosigkeit ist ein Ergebnis Ihrer Politik. Schieben Sie das nicht immer anderen zu!
Es muß einen klaren Vorrang für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen geben. Alle Sparpakete ändern nichts an der Feststellung: Nur wenn die Arbeitslosigkeit überwunden wird, können die Staatsfinanzen saniert und die sozialen Sicherungssysteme stabilisiert werden. Ich wiederhole: Sie können noch so viele Kürzungspakete, Sparpakete und was immer vorlegen - nur wenn die Arbeitslosigkeit überwunden wird, können die Staatsfinanzen saniert und die sozialen Sicherungssysteme stabilisiert werden.
Herr Kollege Waigel, ich greife auch auf die Diskussion des gestrigen Tages zurück. Es ist ja notwendig, daß wir auf die Stabilität achten. Aber Sie sollten endlich erkennen - und auf der europäischen Ebene geeigneten Maßnahmen zustimmen -, daß wir jetzt in der gesamten Europäischen Union eine wirksame Beschäftigungspolitik, einen Beschäftigungspakt brauchen. Sonst werden Sie die Haushalte niemals in den Griff bekommen.
Nach den Feststellungen des Sachverständigenrates und der Wirtschaftsinstitute wird die Arbeitslosenzahl steigen, um 300 000. Noch nie in der Geschichte gab es so viele Arbeitslose, noch nie war die Staatsverschuldung so hoch, und noch niemals wurden die Arbeitnehmer so sehr mit Steuern und Abgaben belastet. Eine Politik, die solch verheerende Folgen hat, kann nicht richtig sein. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, was der Sachverständigenrat festgestellt hat:
Die Finanzpolitik hat zu der Wachstumsschwäche, die ihr über Steuerausfälle und höhere Ausgaben für die Finanzierung der Arbeitslosigkeit erheblich zu schaffen macht, zu einem nicht unerheblichen Teil selbst beigetragen.
Es war ja wirklich belustigend, mit anzuhören, daß Sie, Herr Kollege Waigel, dann sofort erklärt haben, Sie fühlten sich durch den Sachverständigenrat voll und ganz bestätigt. Karneval am Rhein! Wenn der Sachverständigenrat Ihnen ins Stammbuch schreibt, daß Ihre Finanzpolitik zu Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche beigetragen hat, dann fühlen Sie sich voll bestätigt. - Nein, voll bestätigt fühlen sich all diejenigen, die immer wieder darauf hingewiesen haben, daß Ihre Finanzpolitik die Grundlage hoher Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche ist.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Ziehen Sie die Konsequenzen, korrigieren Sie diese Politik! Mit Ihrer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik, die ja gut gemeint gewesen ist, haben Sie das Land in die Krise geführt. Ergreifen Sie endlich die notwendigen Maßnahmen, damit das Land nicht noch weiter in die Krise treibt!
Die Bundesanstalt für Arbeit hat darauf hingewiesen, daß die Ausbildungslücke in Deutschland immer größer wird. Die Schere zwischen den freien Ausbildungsstellen und der Zahl der Bewerber wird größer. In ganz Deutschland sind 430 000 junge Menschen ohne Arbeit. Arbeit und Ausbildung sind die Grundvoraussetzungen dafür, daß die jungen Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Darum müssen diese Zahlen für jeden verantwortlichen Politiker ein Alarmsignal sein.
Die Jugend ist die Zukunft unseres Landes. Deshalb sagen wir: Eine Politik, die diese Jugendarbeitslosigkeit tatenlos hinnimmt, ist verantwortungslos.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Wir müssen den jungen Menschen eine Chance geben.
Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um den jungen Menschen die Chance auf einen Arbeitsplatz oder einen Ausbildungsplatz zu geben. Deshalb fordern wir ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.
- Was soll dieser Zwischenruf „Wer bezahlt das?" ? Wenn Sie nicht endlich etwas gegen die Jugendarbeitslosigkeit tun, dann bezahlen wir alle das. Denn eine gutausgebildete Jugend ist die Zukunft unseres Landes.
13 Jahre der von Ihnen zu verantwortenden Politik haben unser Land in eine schwere Finanzkrise geführt.
Die Staatsverschuldung ist zu einer drückenden Last geworden. Durch die steigende Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte droht dem Staat die Handlungsunfähigkeit.
Es ist unstreitig, es muß gespart werden. Ich sage auch im Hinblick auf die morgige Demonstration: Die Menschen begreifen, daß gespart werden muß, aber die Frage ist, wie die Lasten verteilt werden.
Der Protest morgen ist ein Protest großer Teile der Bevölkerung gegen die soziale Ungerechtigkeit, die in den letzten Jahren zur Grundlage Ihrer Politik geworden ist.
Bei einer Staatsverschuldung von über 2 000 Milliarden DM und einer Rekordbelastung mit Steuern und Abgaben muß den Menschen gesagt werden: Die Ansprüche an den Staat müssen zurückgenommen werden. Vieles, was wünschbar wäre, ist nicht mehr finanzierbar. Die öffentlichen Haushalte müssen aus der Zinsfalle herauskommen.
Deshalb müssen wir Anstrengungen unternehmen, um das strukturelle Staatsdefizit abzubauen. Wir brauchen allerdings auch eine konjunkturgerechte Politik, die notwendige Sparmaßnahmen umsetzt, aber eine prozyklische Verschärfung des Abschwungs vermeidet.
Es ist wirklich nicht falsch zu sagen, daß wir bei allen unseren Entscheidungen auch noch die Konjunktur und die Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung berücksichtigen müssen. Rein fiskalische Gesichtspunkte sind auf Dauer nicht tragfähig.
Durch strukturelle Maßnahmen müssen wir die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung verbessern. An einem harten Sparkurs, der strukturell wirksam ist, führt kein Weg vorbei. Die knappen Kassen zwingen auch alle Ministerpräsidenten zu tiefgreifenden Einsparungen in allen Ländern.
Da in den Länderhaushalten die Personalausgaben den bei weitem größten Ausgabenblock bilden, muß die Konsolidierung hier ansetzen. Die Landeszentralbank Rheinland-Pfalz und Saarland hat kürzlich festgestellt, daß das von mir vertretene Land „in den 90er Jahren von allen westdeutschen Flächenstaaten den härtesten Sparkurs gefahren" hat.
- Meine Damen und Herren, ich zitiere. Wenn Ihnen das nicht gefällt, setzen Sie sich mit denen auseinander, die dieses festgestellt haben. Es gibt auch eine entsprechende Statistik dazu.
Meine Damen und Herren, es hat ja keinen. Sinn, daß Sie Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Ich will Ihnen einmal zwei Beispiele geben. Der Bundesfinanzminister hat hier stolz darüber schwadroniert, daß man die Ministerialzulage abschaffen oder bei den Beihilferegelungen im Beamtenrecht sparen könnte. Das ist in den Ländern längst geschehen. Tun Sie doch nicht so, als wenn Sie das Rad neu erfinden müßten!
Meine Damen und Herren, Sie haben das verschlafen, und zwar lange Jahre.
Die politische Auseinandersetzung geht also überhaupt nicht darum, daß gespart werden muß. Wir fordern jedoch, daß die Lasten gerecht verteilt werden. Bei Ihrer Politik ist die Lastenverteilung so extrem ungerecht, daß der soziale Friede zerstört wird.
Ihr Geschenk- und Kürzungspaket bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Stabilität unseres Landes. Deshalb trifft diese Politik der sozialen Ungerechtigkeit auf Widerstand. Da hilft es auch nicht, wenn der Kollege Schäuble sagt: Wir wollen dem Druck der Straße nicht nachgeben. Was soll denn diese verächtliche Sprache gegenüber Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, um von ihrem demokratischen Recht auf Demonstration Gebrauch zu machen!
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Die Länder haben Sparvorschläge gemacht. Die Bundesregierung geht darauf nicht ein. Wir schlagen einen durchgreifenden Abbau von Steuersubventionen vor, von denen die höheren Einkommen überproportional profitieren. Sie aber vertagen diese Maßnahmen mit unglaubwürdigen Steuermodellen immer weiter und verhindern, daß hier für Bund, Länder und Gemeinden Milliardeneinsparungen möglich sind und der Steuertarif korrigiert wird.
Es nützt doch nichts, daß wir für zwei Jahre wieder eine Operette aufgeführt bekommen, die darin besteht, daß F.D.P. und CDU sich mit Steuertarifsenkungsmodellen überbieten, von der Streichung von Steuersubventionen reden, aber genau wissen, daß in Wirklichkeit überhaupt nichts passiert, und das über Jahre.
Wir fordern strukturelle Sparmaßnahmen im Beamtenrecht, zum Beispiel leistungsorientierte Gehälter statt einer automatischen Anhebung nach Dienstalter. Wir plädieren zum Beispiel für eine Abschaffung der Ministerialzulage und eine Ausweitung der Teilzeitarbeit. Ich will nur ein Beispiel aufgreifen. Nachdem der Bundeskanzler jahrelang die Verlängerung der Arbeitszeit befürwortet hat, hat er irgendwann eine Kurswende eingeleitet, die wir für richtig halten, und gesagt: Wir brauchen in Deutschland mehr Teilzeitarbeitsplätze. Das ist richtig. Dem stimmen wir zu. Aber seit Jahren liegen Vorschläge im Bundesrat vor, um Teilzeitarbeit auch für Beamte einzuführen. Sie blockieren diese Vorschläge. Geben Sie diese Blockade endlich auf!
Der Bund weigert sich, den Versorgungsbericht vorzulegen, mit dem die Daten geliefert werden sollen, um die Pensionslasten der öffentlichen Haushalte zu verringern. Es war richtig rührend, Herr Kollege Waigel, als Sie den Sparkatalog der Beamten vorgetragen haben. Ich sage in aller Bescheidenheit: Politik müssen wir schon selbst machen, dafür sind wir gewählt; das können wir nicht an Beamte delegieren.
Wenn Sie Beamte auffordern, Vorschläge für Sparmaßnahmen vorzulegen, ist es menschlich verständlich, daß durchgreifende Reformen im Beamtenrecht nicht vorgeschlagen werden. Seien Sie etwas zurückhaltend mit Ihrem Lob, was diese Liste angeht! Wenn Sie die Länderhaushalte entlasten wollen - das könnte Ihnen Herr Kollege Stoiber, mit dem Sie ja in inniger Freundschaft verbunden sind, mitteilen -, müssen Sie im Beamtenrecht strukturelle Eingriffe vornehmen. Anders geht das nicht. Deshalb haben wir seit Jahren solche Vorschläge vorgelegt, die Sie immer blockiert haben.
- Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege Fischer: Mit dieser Regierung geht das nicht. Es ist ja interessant, die Politik dieser Regierung zu betrachten. Sie hat jahrelang Wahlkampagnen mit der Parole „Weiter so, Deutschland!" geführt. Jetzt ist sie bei der Parole gelandet „So kann es aber nicht weitergehen, Deutschland!" Da hat sie völlig recht. Wenn wir aber etwas verändern wollen, müssen wir hier bei dieser Regierung etwas verändern.
Wir fordern noch einmal eine Begrenzung des Aussiedlerzuzugs
nach den Möglichkeiten des Arbeitsmarktes und des Wohnungsmarktes. - Was heißt hier „Aha!", Herr Kollege Schäuble? Täuschen Sie nicht die Öffentlichkeit! Sie tun das doch auch. Sie haben, je nachdem, wie die Tagesaktualität ist, eine unehrliche Sprache.
Wir fordern ferner das Schließen des Fremdrentengesetzes. Die bisherigen Vorschläge der Bundesregierung - es gibt sie ja - sind für uns unzureichend. Das ist der Dissens.
Wir fordern die wirksame Bekämpfung von Subventionsbetrug und Steuerhinterziehung. Die Kapitalflucht nach Luxemburg und die Steuerhinterziehung bei Kapitalerträgen zeigen, daß es Ihnen an dem Willen fehlt, für die Durchsetzung von Recht und Gesetz zu sorgen. Das schimmerte auch vorhin bei der Rede des Bundesfinanzministers durch.
Eine der beliebtesten Formulierungen ist: „Kapital ist ein scheues Reh" . Dann schlagen alle möglichen Sachverständigen, wie Sie, Herr Kollege Waigel, vor, daß man das Kapital schonen und daß man im Gegenzug die Arbeitnehmer stärker belasten muß.
Meine Damen und Herren, wenn ich sehe, daß die Stars unserer Medienwelt ihre Steuern in Monaco oder sonstwo zahlen wollen, wenn ich sehe, daß einzelne Unternehmen stolz darauf sind, daß sie ihre Steuern ins Ausland verlagern, dann frage ich: Wo bleibt eigentlich die soziale Verantwortung in dieser Republik?
Das schafft Staatsverdrossenheit. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen nicht mehr ein, daß sie „Sonderrechte" in der Form genießen, daß sie brav ihre Steuern zahlen müssen, während diejenigen in dieser Republik noch beklatscht und bejubelt werden, die Steuern systematisch hinterziehen und ins Ausland abwandern.
Wir sind bereit, den Anstieg der Sozialhilfe am Zuwachs der Nettolöhne der Arbeitnehmer zu orientieren. Beim Asylbewerberleistungsgesetz sind wir für den Vorrang von Sach- vor Geldleistungen; wir ha-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
ben das gestern wieder besprochen. Es geht einfach nicht an, daß Sie diese notwendigen Entscheidungen dadurch blockieren, daß Sie sie in Artikelgesetzen mit zusätzlichen Belastungen für Länder und Gemeinden verbinden.
Geben Sie endlich diese Blockadepolitik - oder wie immer Sie Ihre Politik formulieren wollen - auf! Notwendige Sachentscheidungen dürfen nicht dadurch verhindert werden, daß man sie mit sachfremden Zusatzentscheidungen belastet.
Wir fordern einen Verzicht auf die geplante Abschaffung der Vermögensteuer. Allein das verbessert die Situation der Haushalte um 9 Milliarden DM. Ich sage noch einmal: Das Verfassungsgericht kann die Verfassung interpretieren und auslegen, aber es macht sie nicht.
Wenn Sie tatsächlich der Auffassung sind, daß bestimmte Entscheidungen dem Verfassungsgerichtsurteil entgegenstünden, ist das keine sachgemäße Antwort auf unsere Forderung, die größeren Vermögen stärker heranzuziehen, statt eine immer stärkere Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieser Republik zu bewirken.
Diese Ihre Politik zeigt: Es geht Ihnen gar nicht nur um das Sparen. Sie mißbrauchen das notwendige Sparen für eine weitere Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dazu aber werden wir die Hand nicht reichen. Wir werden dieser Politik Widerstand entgegensetzen.
Auch dürfen wir nicht sparen zu Lasten der Kinder. Glauben Sie mir: Die Kinder sind genau so viel wert wie die Vermögen in Deutschland. Glauben Sie mir das bitte! Sie sind wirklich so viel wert.
Es ist kurzsichtig und unverantwortlich, daß diese Bundesregierung den Familien mit Kindern die Erhöhung des Kindergeldes verweigern will. Sie reden immer von der Blockadepolitik des Bundesrates. Geben Sie endlich diese alberne Sprachregelung auf!
Wir haben vor einigen Monaten - und wir haben lange dazu verhandelt - vereinbart, den Grundfreibetrag bei den Steuern zu erhöhen, und wir haben weiter vereinbart, das Kindergeld zu erhöhen. Was muten Sie eigentlich dem Verfassungsorgan Bundesrat zu, wenn Vereinbarungen und Gesetze, die wir beschlossen haben, nach wenigen Monaten wieder in Frage gestellt werden?
Diese Behandlung weise ich für den gesamten Bundesrat zurück.
Daß Sie, obwohl Sie das Kindergeld nicht erhöhen wollen, gleichzeitig den Vermögensmillionären milliardenschwere Steuergeschenke machen wollen, ist für uns schamlos und empörend, und dabei bleibt es.
Wer die Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme in Ordnung bringen will, der muß vor allem für Wachstum und Beschäftigung sorgen. Die geplanten Eingriffe bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und beim Kündigungsschutz für Arbeitnehmer haben mit Wachstum und Beschäftigung nichts zu tun. Dadurch wird nur das Betriebsklima in Unternehmen und Verwaltungen gestört, Motivation und Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer werden belastet. Wir fordern Sie auf: Ziehen Sie diese Pläne aus dem Verkehr! Damit würden Sie dem Standort einen guten Dienst erweisen.
Es ist überhaupt interessant, daß Ihnen die Worte „Motivation" und „Leistung" immer nur ab einer bestimmten Einkommensgruppe einfallen, immer nur bei den ach so armen, ächzenden Managern von 1 Million DM Einkommen an aufwärts. Meine Damen und Herren, erkennen Sie endlich: Die Leistungsträger dieser Gesellschaft sind nicht nur die Bezieher ganz hoher Einkommen, es sind auch die Krankenschwestern und die Bauarbeiter, die Maschinenschlosser und die Handwerker. Das sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft, nicht nur die, die Sie immer nennen.
Wer Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaffen will, der muß die Steuer- und Abgabenlast auf Arbeit senken. Deshalb fordern wir eine sofortige Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten. - Wir sind da in Übereinstimmung mit der gesamten Europäischen Gemeinschaft. Bitte tun Sie endlich etwas!
Sie reden immer nur vom Senken der gesetzlichen Lohnnebenkosten, aber Sie erhöhen sie permanent. - Eine Senkung der Lohnnebenkosten entlastet alle Arbeitnehmer und alle Betriebe, und das schafft neue Arbeitsplätze in Mittelstand und Handwerk.
Wir fordern eine umfassende Steuerentlastung für Arbeitnehmer, das heißt zunächst die Verbesserung des Grundfreibetrages. Das kann aber nur ein erster Entlastungsschritt sein.
Die Bundesregierung hat in den letzten 13 Jahren aus dem deutschen Steuerrecht ein Steuerchaos gemacht.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Durch die vielen Steuerschlupflöcher ist das Steuersystem immer undurchschaubarer und immer ungerechter geworden. Das Steuerchaos der Bundesregierung zerstört das Vertrauen in unseren demokratischen Rechtsstaat. Deshalb muß jetzt endlich Ernst gemacht werden mit Steuervereinfachung und Steuergerechtigkeit.
Wir brauchen eine grundlegende Reform der Lohn- und Einkommensteuer, und zwar sofort. Der Grundsatz muß lauten: Absenkung der Steuersätze auf breiter Front und - im Gegenzug - Beseitigung von Steuerschlupflöchern und Steuersubventionen. Vor allem muß der Eingangssteuersatz endlich gesenkt werden.
Hier werfe ich mir vor, daß ich leider nicht blokkiert habe. Ich habe Sie immer wieder darauf hingewiesen, Herr Kollege Waigel, daß das gesellschafts- und sozialpolitisch ein wirklich verfehlter Steuersatz ist. Wir haben damals auf dem Kompromißwege zugestimmt. Ich werfe mir hier vor, daß ich das seinerzeit nicht blockiert, daß ich zugestimmt habe; denn dieser viel zu hohe Steuersatz führt jetzt mittlerweile dazu, daß die Schwarzarbeit immer weiter zunimmt und die Zahl der nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, der 590-Mark-Jobs, immer weiter ansteigt. Das kann doch nicht ernsthaft gewollt sein.
Der Eingangssteuersatz muß auf 20 Prozent gesenkt werden.
Nach 13 Jahren Regierungskoalition aus CDU, CSU und F.D.P. ist die Lastenverteilung in diesem Land aus dem Gleichgewicht geraten. Das sagt nicht nur die „böse" Opposition, das sagen auch viele Verbände und insbesondere die Kirchen, die auf Grund ihres Auftrags das Wort „soziale Verantwortung" nicht nur im Munde führen, sondern sich dafür einsetzen, daß sie in unserer Gesellschaft Wirklichkeit wird.
Wir wollen dafür sorgen, daß die soziale Symmetrie in Deutschland wiederhergestellt wird. Deshalb plädieren wir für einen gerechten Lastenausgleich. Das Privatvermögen hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt: Das private Geldvermögen beträgt über 4,3 Billionen DM, das private Grundvermögen über 6 Billionen DM.
Wir wollen die Vermögensmillionäre in unserem Land zu einem solidarischen Finanzierungsbeitrag heranziehen. Oswald von Nell-Breuning hat die Frage gestellt, ob es auf Dauer tragfähig sei, daß eine Generation sowohl die Jugend als auch die Rentner finanziert. Das war eine lange Diskussion. Wir haben nun zusätzlich die große Aufgabe, auch den Aufbau im Osten Deutschlands zu bewerkstelligen. In dieser Situation können Sie die Lasten nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufbürden. Das ist die große Schieflage Ihrer Politik.
Es ist wirtschaftspolitisch vernünftig, die Arbeitnehmer zu entlasten, denn das stärkt die Kaufkraft. Es ist auch sozial gerecht, denn es schafft einen gewissen Ausgleich dafür, daß es vor allem die Arbeitnehmer sind, die zur Finanzierung unseres Staates herangezogen werden.
Investitionen und Innovation sind die Schlüssel für neue und sichere Arbeitsplätze. Deshalb ist es wirtschaftspolitisch absurd, daß die Bundesregierung die Investitionsbedingungen in Deutschland verschlechtern will. Auch der F.D.P.-Parteitag kann nichts daran ändern, daß Sie die Investitionsbedingungen in Deutschland verschlechtern wollen. Der Parteitag war ja ein ganz nettes Gartenfest,
mit kabarettistischen Einlagen, aber es ändert nichts daran, daß Sie die Investitionsbedingungen in Deutschland verschlechtern wollen. Das ist doch die Faust aufs Auge. Ziehen Sie diesen törichten Vorschlag endlich zurück!
Sie wollen die Gewerbekapitalsteuer abschaffen und die Abschreibungsmöglichkeiten verschlechtern. Da in Deutschland nur 16 Prozent der Unternehmen die Gewerbekapitalsteuer bezahlen, heißt das: Kapitalstarke Großunternehmen, Banken und Versicherungen werden entlastet, aber alle Unternehmen, die investieren, werden belastet.
Aber in diesen Zusammenhang gehört der richtige Hinweis, daß Substanzsteuern an sich nicht vernünftig sind. Aber ehe die Substanzsteuern von Siemens oder BASF oder der Deutschen Bank Sie ständig beschweren, sollte es Sie beschweren, daß Ihre Steuer- und Abgabenpolitik vielen Einkommensschwachen an die Substanz geht. Darüber muß endlich einmal in Deutschland geredet werden!
Wir brauchen in Deutschland Investitionen für 6 Millionen neue Arbeitsplätze. Wer in dieser Lage die Investitionsbedingungen verschlechtern will, der zeigt nur - ich greife Ihre Sprache auf -, daß er vom Einmaleins der Wirtschaftspolitik nichts verstanden hat.
Mit Ihrem Kürzungspaket schafft die Bundesregierung neue soziale Konflikte und spaltet das Land. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung ist eine schwere Belastung für Deutschland. Mit ihrer jetzigen Politik beschädigen CDU, CSU und F.D.P. die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft. Dabei
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
vergessen Sie: Gesellschaftlicher Konsens und soziale Marktwirtschaft sind die Grundlagen für Wohlstand und soziale Sicherheit. Deshalb stehen wir nicht nur zur Marktwirtschaft, sondern wir stehen zur sozialen Marktwirtschaft. Wir werden das Soziale gegen all diejenigen verteidigen, die der Marktwirtschaft das Soziale rauben wollen.
In der Bevölkerung wachsen Widerstand und Protest. Morgen werden Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von diesem ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen. - Das ist nicht der Druck der Straße. Herr Kollege Schäuble, nehmen Sie dieses Wort zurück, auch wenn es geläufig ist! -
Sie werden hier nach Bonn kommen und deutlich machen, daß sie mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung nicht mehr einverstanden sind, weil diese eine unerträgliche soziale Schieflage hat.
Den Frauen und Männern, die morgen hier in Bonn für Arbeit und soziale Gerechtigkeit demonstrieren, gehören unsere Sympathie und unsere Solidarität.
Gemeinsam mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern machen wir deutlich: Wir wollen nicht hinnehmen, daß der soziale Friede in diesem Lande zerstört wird, und wir akzeptieren es nicht, daß die soziale Gerechtigkeit durch Ihre Politik mit Füßen getreten wird.