Herr Präsident, ich habe ein Geschenk dabei, das will ich aber erst am Ende meiner Rede überreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das hier zur Beratung anstehende Gesetz soll die bisherige Frühverrentungspraxis ablösen. Es besteht im wesentlichen aus einem arbeitsrechtlichen und aus einem rentenrechtlichen Teil. Im Mittelpunkt steht die Absicht der Bundesregierung, die finanzielle Lage der Rentenversicherung zu konsolidieren.
Was den arbeitsrechtlichen Teil anlangt, ist es dem Deutschen Gewerkschaftsbund in den Verhandlungen mit der Bundesregierung gelungen, auf drei Feldern deutliche Verbesserungen gegenüber dem ursprünglich von der Bundesregierung geplanten Entwurf durchzusetzen.
Der DGB hat erreichen können, daß die Aufstokkungsbeträge, die bei Inanspruchnahme von Altersteilzeitarbeit von seiten der Bundesanstalt für Arbeit gezahlt werden, erhöht werden. Der DGB hat bewirkt, daß der Geltungsbereich des Vertrauensschutzes vom ursprünglich vorgesehenen 57. Lebensjahr auf 55 Jahre und in bestimmten Sonderfällen auf 52 Jahre ausgedehnt werden konnte. Ferner konnte erreicht werden, daß der Geltungsbereich der Altersteilzeitarbeit insgesamt nicht erst ab dem 57., sondern ab dem 55. Lebensjahr beginnt.
Was die Erfolgsaussichten des Angebots an Altersteilzeitarbeit anlangt, wird es nun sehr davon abhängen, inwieweit die Arbeitgeber entsprechende Arbeitsplätze anbieten und inwieweit die materiellen Bedingungen der Altersteilzeitarbeit so gestaltet werden können, daß sie für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinreichend attraktiv sind. Ein positives Signal setzt der Tarifvertrag für die Chemiewirtschaft, der insbesondere auf Drängen der Industriegewerkschaft Chemie durchgesetzt werden konnte. Wir haben ja einvernehmlich in den Schlußberatungen des Ausschusses das Gesetz so geändert, daß im Gesetz ein Bezug auf die Teilung des Arbeits-
Ottmar Schreiner
zeitvolumens - das ist der Kern des Chemie-Tarifvertrages - mit enthalten ist.
Hier gibt es übrigens, Frau Dr. Böhmer, auch eine En-bloc-Regelung; die entsprechenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen ja zweieinhalb Jahre lang Vollzeit arbeiten und dann zweieinhalb Jahre lang auf Null gehen können, bei Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses. Insoweit würde sich Ihr Argument gegen Sie selbst kehren; das ist mit Ihrem Einverständnis im Ausschuß so geändert worden.
Wir halten das Angebot von Altersteilzeitarbeit für einen richtigen Weg. Im wesentlichen sind die entsprechenden Überlegungen bereits in einem Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion enthalten gewesen, der sich seit geraumer Zeit in der parlamentarischen Beratung befindet, dem sogenannten Arbeits- und Strukturfördergesetz. Sie haben offenkundig dort von den guten Teilen abgeschrieben.
Wir haben zudem vorgeschlagen, daß neben dem Angebot an Altersteilzeitarbeit auch Vorruhestandsangebote aufrechterhalten werden sollen, allerdings bei einer deutlich stärkeren finanziellen Beteiligung der Arbeitgeber, als dies bisher der Fall gewesen ist. Die Zahlen sind ja eben . noch einmal vorgetragen worden: Der Arbeitgeberanteil an den Vorruhestandskosten beträgt etwa 8 Prozent. Wir waren für eine deutliche Aufstockung, um andererseits das Angebot an Altersteilzeitarbeit noch attraktiver zu machen.
Der zweite Teil, der rentenrechtliche, ist wesentlich problematischer. Vorgesehen ist die stufenweise Anhebung der Altersgrenze wegen Arbeitslosigkeit von 60 auf 63 Jahre, wobei es den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern freigestellt bleibt, auch ab dem 60. Lebensjahr wegen Arbeitslosigkeit in Rente gehen zu können, allerdings - das ist neu - unter Inkaufnahme von versicherungsmathematischen Abschlägen in Höhe von 10,8 Prozent, und zwar bezogen auf die Rente für die gesamte verbleibende Lebenszeit des betroffenen Arbeitnehmers oder der betroffenen Arbeitnehmerin.
Hier kann man noch argumentieren, daß es sehr wohl denkbar ist, diese versicherungsmathematischen Abschläge über Beträge aus Sozialplanmitteln auszugleichen. Das würde die Härten für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich mildern.
Allerdings sei ein kritischer Hinweis erlaubt: Was geschieht eigentlich mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die von kleinen und mittelständischen Betrieben entlassen werden, wo es keine Sozialpläne gibt, oder die Opfer von Betriebsschließungen werden, wo es ebenfalls keine Sozialpläne gibt? Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Herr Minister, gehen, wenn sie arbeitslos werden, häufig nach 40 harten Arbeitsjahren, den direkten Weg in die Armut. Sie wollen den Bezug von Arbeitslosengeld einschränken; Sie wollen die Arbeitslosenhilfe jährlich um 3 Prozent reduzieren. Schließlich greifen für diese Personen, nachdem sie eine Zeitlang zusätzliche Sozialhilfemittel bezogen haben, die Regelungen über die versicherungsmathematischen Abschläge bei der Rente, wodurch bei einem Großteil der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Rente vermutlich dann nicht einmal oberhalb der Sozialhilfesätze liegen wird - und dies nach 40 harten Arbeitsjahren.
Das ist ein ganz, ganz kritischer Punkt. Ich nehme an, daß er von Ihnen bewußt in Kauf genommen worden ist.
Gleichwohl haben wir als sozialdemokratische Fraktion gesagt - weil es dem DGB gelungen war, in einer Reihe von Punkten, die ich dargestellt habe, deutliche Verbesserungen zu erreichen -, der ursprüngliche Gesetzentwurf wäre unserer Meinung nach zustimmungsfähig gewesen.
Seit einiger Zeit haben wir eine neue Lage. Die Bundesregierung hat unter klarem Bruch der Vereinbarungen mit dem DGB die Altersgrenze wegen Arbeitslosigkeit einseitig auf 65 Jahre hochgeschraubt und die Altersgrenze für Frauen in der Rentenversicherung einseitig ebenfalls deutlich nach oben verändert. Die Frauen hätten ohne diese Veränderungen - auch nach dem hier zur Diskussion stehenden Gesetzentwurf - weiterhin ohne Abschläge mit 60 Jahren in Rente gehen können.
Im nachhinein gibt es also zumindest zwei massive Verschlechterungen, die einseitig unter Bruch der Verabredungen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund von der Bundesregierung in Gang gesetzt worden sind, die natürlich unmittelbar auf die Bedingungen dieses Gesetzentwurfs einwirken und damit die Attraktivität der Angebote für Altersteilzeitarbeit deutlich verschlechtern.
Ich will Ihnen das an einem Zahlenbeispiel zeigen. Durch die Verschiebung der Altersgrenze bei der Rente wegen Arbeitslosigkeit summieren sich die versicherungsmathematischen Abschläge von der Rente auf bis zu 18 Prozent, und zwar für den Rest des Lebens des Betroffenen.
Ich möchte Ihnen eine Zahl nennen, um deutlich zu machen, worum es geht. Nach dem bisherigen Stand der Dinge würde der Bezieher eines Durchschnittseinkommens bei Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung nach altem Recht eine Monatsrente von 1 682 DM netto bekommen; nach dem Kompromiß im Kanzleramt - mit Zustimmung der Gewerkschaften - eine Monatsrente in annähernd der gleichen Höhe: 1 644 DM; nach den einseitig massiv verschlechterten Bedingungen bekommt der gleiche Arbeitnehmer als Monatsrente 1 397 DM. Das ist also eine massive Verschlechterung.
Es müßte mir jemand klarmachen, inwieweit das bei denjenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, deren Renten vielleicht über Sozialplanmittel aufgestockt werden, überhaupt noch in Betracht kommt angesichts der enormen Differenzbeträge zu dem, was herausgekommen wäre, wenn es bei den alten Verabredungen vom Februar dieses Jahres geblieben wäre - ganz zu schweigen von der großen Gruppe derjenigen, für die Sozialplanmittel über-
Ottmar Schreiner
haupt nicht in Frage kommen, weil sie aus Kleinoder Mittelbetrieben ausscheiden oder wegen Betriebsschließungen ihre Arbeitsplätze verlieren.
Der übergroße Teil der Betroffenen wird im Rentenalter nur überleben können, wenn er zusätzliche Bezüge aus der Sozialhilfe in Anspruch nehmen kann - und das nach rund 40 schweren Arbeitsjahren, nach 40 Versicherungsjahren. Das ist sozialpolitisch, um es freundlich zu formulieren, eine ziemlich dicke Sauerei.
Meine Damen und Herren, die Gewerkschaften haben diese Vorgänge entsprechend gewürdigt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat am Dienstag alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages angeschrieben und erklärt: Die Bundesregierung hat mit diesem Gesetz - nämlich dem sogenannten Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - den bei der Kanzlerrunde im Februar 1996 gefundenen Kompromiß zur Frühverrentung und über die Anhebung der Altersgrenzen bei Rente wegen Arbeitslosigkeit gröblich verfälscht.
Der DAG-Vertreter sagte vor wenigen Tagen während der Ausschußanhörung: Im Prinzip ist die politische Geschäftsgrundlage der Altersteilzeitregelung aus der Kanzlerrunde im nachhinein vernichtet worden.
Meine Damen und Herren, das ist der Versuch der Bundesregierung, hausgemachte Probleme bei der Rentenversicherung über eine doppelte Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Rentner wettzumachen.
Der DGB hat darauf hingewiesen, daß der Beitragssatz im Durchschnitt der Jahre 1990 bis einschließlich 1997 mit 18,5 Prozent auf dem Niveau des Jahrzehnts von 1980 bis 1990 liege. Die hohen Beitragssätze 1996 und 1997 hätten ihre Ursachen im wesentlichen darin, daß vom 1. April 1991 bis Ende 1993 der Beitragssatz auf 17,7 Prozent bzw. 17,5 Prozent gesenkt worden sei, um die Anhebung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung zur Finanzierung der hohen Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland zu kompensieren. Das. ist genau der Punkt. Wir hätten heute nicht die geringsten Probleme bei der gesetzlichen Rentenversicherung, wenn Sie sich von Anfang an dafür entschieden hätten, die einheitsbedingten Lasten über Steuern, über den Bundeshaushalt zu finanzieren und nicht über einen Verschiebebahnhof zwischen den gesetzlichen sozialen Sicherungssystemen.