Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir haben heute eine Staatsverschuldung in Höhe von über 2 Billionen DM - gleich 2 000 Milliarden DM - in Bund, Ländern und Gemeinden. Darauf zahlen alle miteinander rund 140 Milliarden DM Zinsen.
Wenn wir aus dieser Schulden- und Zinsfalle herauskommen wollen, müssen wir sparen; aber ein Sparpaket, das diesen Namen verdienen soll, müßte die Lasten sozial gerecht verteilen.
Die mit den kleinen Schultern müßten kleine Belastungen tragen und die mit den großen Schultern große Belastungen.
Eine zweite Voraussetzung: Die Maßnahmen dürften die Arbeitslosigkeit nicht erhöhen, sie müßten sie verringern.
Wenn man diese Meßlatte an Ihr Paket heute anlegt, stellt man fest, daß es kein Sparpaket in diesem Sinne ist. Das, was Sie vorlegen, ist die Kombination eines rücksichtslosen Kürzungspaketes zu Lasten der finanziell Schwächeren und eines großzügigen Geschenkpaketes zugunsten der Besitzer großer Vermögen.
Wir sind zwar von dieser Bundesregierung schon lange gewohnt, daß diejenigen, die verlangen, den Gürtel enger zu schnallen, selber Hosenträger tragen.
Aber die Einseitigkeit, die soziale Schlagseite, ist bei Ihrem heutigen Steuergesetzentwurf ganz besonders auffällig.
Die Bundesregierung sagt, sie habe kein Geld, um die bereits beschlossene Kindergelderhöhung - Kosten: 3,6 Milliarden DM - für den 1. Januar 1997 zu bezahlen. Gleichzeitig aber hat sie in diesem Gesetz
9,3 Milliarden DM zur Verfügung, um die Vermögensteuer abzuschaffen. Den Familien mit Kindern wird genommen, was an Zuwachs versprochen war, und denen, die ja großes Vermögen haben - sonst unterliegt man nicht der Vermögensteuer -, wird gegeben. Das ist klassische Umverteilung von unten nach oben.
Da Sie bis weit in Ihre Reihen hinein spüren, daß das sozial nicht in Ordnung ist, und sich dafür schämen, versuchen Sie, in den Angriff zu gehen. Immer, wenn man auf das Thema kommt - das haben wir heute x-mal gehört -, sprechen Sie von Sozialneid.
Nun können Sie ja vielleicht mit der SPD als Opposition so umgehen. Aber wollen Sie denn wirklich behaupten, daß die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, die karitativen Verbände, die alle kritisieren, daß die Vermögensteuer heruntergehen soll und das Kindergeld verschoben wird, vom Sozialneid befallen sind? Das ist doch abwegig!
Die Verschiebung der Kindergelderhöhung ist auch verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft. Kindergeld ist doch keine Gnade, die man je nach Beliebigkeit den Familien mit Kindern gewähren kann oder auch nicht. Es ist ein guter, selbstverständlicher Grundsatz unseres Steuerrechts, daß das, was der Bürger für sich selbst und für seine Kinder als Existenzminimum zum Leben braucht, der Staat ihm nicht wegbesteuern darf. Deshalb darf der Staat das Kindergeld nicht willkürlich kürzen oder seine Erhöhung verschieben. Jedermann weiß doch, daß das, was wir heute für die Familien mit Kindern tun, das absolute Minimum ist. Deswegen sage ich Ihnen: Unterlassen Sie diese verfassungsrechtlich zweifelhafte Aktion!
Ich weiß, Herr Waigel, gerade auch Sie persönlich haben die Kindergelderhöhung nie gewollt. Die 200 DM haben Ihnen schon gestunken - Sie haben noch vor einem Jahr im Frühjahr gesagt, beim Erstkindergeld tun Sie gar nichts -, und die 220 DM haben Ihnen auch nicht gefallen. In nächtelangen Sitzungen im Vermittlungsausschuß haben wir Ihnen im letzten Herbst die 220 DM abgetrotzt. Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Sie von der Opposition verlangen können, diesen Erfolg vom Jahressteuergesetz 1996 mit einem Federstrich zurückzunehmen.
Die meisten unter Ihnen wissen, daß es so ist. Warum ist denn wohl Ihr CDU-Kollege Fell von seinem Amt als Präsident des katholischen Familienbundes zurückgetreten? Er hat hier als Begründung sinngemäß gesagt, er wolle nicht in Loyalitätskonflikte zwischen dem Familienbund und dem kommen, was er hier beschließen soll, nämlich die Nichterhöhung des Kindergeldes. Dazu kann ich nur sa-
Ingrid Matthäus-Maier
gen: Herr Fell hätte sich auch anders entscheiden können, nämlich Präsident des Familienbundes zu bleiben und hier bei dieser unsozialen Kürzung mit Nein zu stimmen. Dann wäre er auf der richtigen Seite.
Diese Verschiebung ist, wie gesagt, sozial ungerecht und verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft. Aber es gibt noch ein drittes Argument, meine Damen und Herren: Die ganze Operation ist auch ökonomisch unvernünftig. Warum?
Nehmen wir eine Familie mit zwei Kindern. Dieser enthalten Sie im nächsten Jahr - monatlich 20 DM Kindergeld pro Kind, macht bei zwei Kindern 40 DM, mal 12 Monate - insgesamt 480 DM vor. Wenn Sie aber einer solchen Familie - die allermeisten sind nicht auf Rosen gebettet; sie haben große Probleme, sich und ihre Kinder angesichts der hohen Mieten durchzubringen - 480 DM bar im Jahr vorenthalten, dann schwächt das weiter die Binnenkaufkraft, die wir eigentlich dringend erhöhen müßten.
Wenn Sie gleichzeitig die Vermögensteuer abschaffen - hier beziehe ich mich vor allen Dingen auf die private -, schafft das keinen einzigen neuen Arbeitsplatz. Auch deswegen lehnen wir Ihre Operation aus ökonomischen Gründen ab.
Verlassen Sie sich darauf: Die SPD wird Ihrer Operation - Vermögensteuer abschaffen, Kindergeld einfrieren - weder im Deutschen Bundestag noch im Bundesrat zustimmen.
Wir Sozialdemokraten stehen nicht nur in dieser Frage an der Seite der Frauen und der Familien mit Kindern. Wo steht eigentlich die Familienministerin?
Die meisten Leute haben noch gar nicht mitbekommen: Wir haben eine Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Sei es beim Kindergeld, sei es bei der Aushebelung des sozialen Kündigungsschutzes, der vor allem Frauen in kleinen Unternehmungen treffen wird,
sei es bei dem von der bayerischen Landesregierung beabsichtigten frauenfeindlichen Vorhaben bei der Schwangerschaftsberatung,
sei es bei der Festschreibung der sozial ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, der Billigjobs: Von
dieser Ministerin hat noch keiner in diesem Hause ein Wort des Protestes gehört.
Bundeskanzler Kohl hat in diesen Tagen aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens ihres Ministeriums gesagt: Mehr Frauen in Führungspositionen!
Da hat er recht. Aber wenn sich solche Frauen nicht wirklich für die Interessen von Frauen und Familien einsetzen, können wir diese nicht in Führungspositionen gebrauchen.
Es kommt noch ein Punkt hinzu, meine Damen und Herren: die überfallartige Verlängerung der Lebensarbeitszeit für ältere Frauen.
Jedermann weiß, daß wir bei den Sozialversicherungen, auch bei der Rentenversicherung, etwas tun müssen. Deswegen haben wir im Rahmen der großen Rentenreform gemeinsam beschlossen, daß, wenn es die Arbeitsmarktlage zuläßt, ab dem Jahre 2001 mit einem Übergang bis zum Jahre 2012 die Lebensarbeitszeit der Frauen an die der Männer angepaßt wird. Das war aber für die Jahre nach der Jahrtausendwende vorgesehen.
Noch im April hat die Bundesregierung ein Heftchen herausgegeben - das bekam ich vorige Woche mit der Post - mit dem Titel „Informationen für Frauen" . Darin steht auf Seite 161, daß Frauen mit 60 Jahren unter bestimmten Voraussetzungen in Rente gehen können. Wissen Sie eigentlich, welches Vertrauen und welche Lebensplanungen Sie mit Ihrem überfallartigen Vorhaben zerstören?
Meine Kollegin Margot von Renesse hat dankenswerterweise Frauen, die betroffen sind - das ist der Jahrgang 1937 - gebeten, ihr zu schreiben. Sie hat mir einige Briefe überlassen. Schauen Sie sich diese einmal an! Vielleicht kommen Sie dann doch zu einer anderen Überzeugung.
Ich will nur aus einem der vielen Briefe zitieren: geb.:... 1937
Ich bin der Meinung, meine Rente ohne Abzug mit 60 Jahren ... erarbeitet zu haben, denn zu diesem Zeitpunkt ... habe ich 44 Jahre ununterbrochen in Vollzeit gearbeitet. In diesen Jahren der Arbeit habe ich fünf Kinder geboren und so erzogen, daß diese für mich arbeiten und somit meine Rente sicher sein sollte.
Ingrid Matthäus-Maier
In all den schweren Jahren habe ich nicht ein einziges Mal Urlaub machen können ... Ich will mich aber nicht beklagen, denn meine Kinder .. . gehen ... einer geregelten Arbeit nach.
Bitte hellen Sie mir,
- das schreibt sie an Margot von Renesse -
daß ich wenigstens mit 60 Jahren ohne Abzug in Rente gehen kann, denn ich kann einfach nicht mehr.
Meine Damen und Herren, hinzu kommt: Bis 1967 konnten sich die Frauen nach der Heirat ihre Rentenansprüche auszahlen lassen. Die Bundesregierung und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte haben im vorigen Jahr geworben, man könne diese Heiratserstattung wieder einzahlen, um die Rente zu verbessern. Das haben über 600 000 Frauen gemacht, ein großer Teil von ihnen in der Erwartung, daß sie mit 60 Jahren in Rente gehen können und damit ihre Rente etwas verbessert wird.
Herr Blüm sagt so gern: Rente ist Lohn für Lebensleistung. Ich sage: Das, was Sie hier vorhaben, ist die Verhöhnung der Lebensleistung dieser älteren Frauen.
Diese Maßnahme ist nicht nur sozial ungerecht, sie ist auch ökonomisch unvernünftig. Gerade in dieser Woche haben wir gehört, daß die Jugendarbeitslosigkeit weiter wächst. Wie kann man denn auf die Schnapsidee kommen, ältere Frauen gegen ihren Willen zu zwingen, noch drei Jahre daranzuhängen, wenn man gleichzeitig den jungen Leuten sagen muß, daß man sie nicht braucht, weil man keine Arbeitsplätze für sie hat?
Nebenbei: Die Landtagswahlen vom 24. März wurden hier mehrfach erwähnt, ebenso,
daß Sie immer schon die Wahrheit gesagt hätten.
Ich habe vor den Landtagswahlen nicht von Ihnen gehört oder gesehen oder gelesen, daß Sie die Kindergelderhöhung verschieben wollen, daß Sie die älteren Frauen länger arbeiten lassen wollen. Das war eine klassische Lüge. Ihre Reden vor der Wahl und nach der Wahl sind seit Jahren das gleiche, nämlich die Unwahrheit.
Wir wissen, daß bis weit hinein in Ihre Reihen diese Teile des Paketes umstritten sind. Es ist nicht so, daß wir 100 Prozent von dem, was Sie vorschlagen, ablehnen, aber diese soziale Schlagseite kann so nicht hingenommen werden.
Es sind die christlichen Arbeitnehmer unter Ihnen, die das nicht hinnehmen wollen.
Es sind viele Frauen unter Ihnen, die das nicht hinnehmen wollen. Es ist die Präsidentin des Deutschen Bundestages, die öffentlich sagt: So geht das nicht.
Deswegen appelliere ich an Sie alle in Ihren Reihen: Spitzen Sie nicht nur die Lippen! Stehen Sie einmal hier im Deutschen Bundestag. Sie haben das Recht, nach Ihrem Gewissen zu entscheiden. Dann tun Sie es auch, und beschließen Sie ein Sparpaket, das sozial gerecht ist und die Arbeitslosigkeit bekämpft! Das, was Sie vorgelegt haben, entspricht diesem Maßstab nicht.