Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst, Herr Gerhardt, war ich schon ein bißchen erschüttert, als Sie mit der Auswertung Ihres Parteitages hier im Parlament begonnen haben. Das kannte ich zwar von früheren Volkskammertagungen vor 1989, aber ich dachte eigentlich, die Zeit ist vorbei.
-Ja sicher muß ich das sagen, weil ich es ja weiß.
In bin darüber hinaus schon ein bißchen entsetzt, wie hier mit dem Wort „modern" umgegangen wird. Was Sie vorschlagen, ist die permanente Begünstigung der sowieso schon Vermögenden, der Reichen und Privilegierten, die Schmälerung des Einkommens derjenigen, die sowieso schon am sozialen Rand sind. Und das Ganze soll modern sein? In Wirklichkeit wird diese Art von Politik schon seit 2 000 Jahren versucht. Da ist überhaupt nichts Modernes dran. Soziale Gerechtigkeit ist etwas Modernes, wohin wir kommen müssen, nicht der Abbau von Sozialleistungen, wie Sie das vorschlagen.
Ich bin ein bißchen entsetzt darüber, Herr Schäuble, daß Sie gesagt haben, man werde dem Druck der Straße nicht nachgeben und damit die Demonstration von möglicherweise 200 000 Menschen - -
- Wenn es 400 000 werden, um so besser, wenn Herr Gerhardt das so vermutet; er wird das ja vielleicht wissen.
Sie versuchen die Demonstration dadurch ein wenig zu diskreditieren. Das ist für mich unverständlich. Was glauben Sie denn, was diese Menschen treibt? Da sind Hunderttausende in größter Sorge, und sie sind dies stellvertretend für Millionen, die in den gleichen Sorgen sind. Eigentlich ist es Ihre Aufgabe als Politiker, die Interessen dieser Menschen zu vertreten, und nicht, zu sagen, sie würden deren Wünschen und deren Druck nicht nachgeben.
Das zweite ist, daß es auch überhaupt nicht glaubwürdig ist; es soll ja tapfer klingen, als ob Sie sozusagen niemals aus irgendwelchen Gründen einem solchen Druck nachgeben. Sie geben doch ganz schnell dem Druck der Arbeitgeberverbände und dem Druck der Banken nach. Dann geben Sie doch endlich auch einmal dem Druck der Bevölkerung und der Gewerkschaften nach! Das wäre ein neuer Stil in der Politik.
Sie haben hier über das „Bündnis für Arbeit" gesprochen; das haben mehrere getan. Ich will das jetzt gar nicht im einzelnen bewerten. Ich will nur darauf hin-
Dr. Gregor Gysi
weisen, daß Sie das Bündnis für Arbeit gebrochen haben. Sie tun das ja immer mit dem gleichen Trick. Das haben Sie übrigens auch schon früher, wenn ich an den Solidarpakt denke, mit der SPD gemacht.
Heute haben wir dafür wieder ein Beispiel. Sie haben den Gewerkschaften die Zustimmung abgetrotzt, daß das Rentenalter schrittweise auf 63 Jahre erhöht wird. Darum wird es ja in der nächsten Debatte dieses Hauses gehen. Damit war auch eine Begrenzung auf 63 Jahre vereinbart. Jetzt bringen Sie einfach ein weiteres Gesetz ein, mit dem Sie die stufenweise Anhebung des Rentenalters auf 65 Jahre durchsetzen wollen. Das ist ein glatter Vertragsbruch. Sie haben Ihre Versprechen gebrochen.
Sie können jetzt doch nicht im Ernst erwarten, daß die Gewerkschaftler an den Konzessionen festhalten, die sie gemacht haben, um andere Dinge zu erreichen, die Sie jetzt nicht einhalten. Diese Art von Politik wird bei der großen Demonstration am morgigen Sonnabend kritisiert werden.
Sie, Herr Gerhardt, haben darauf hingewiesen, daß man Geld nicht durch Demonstrationen drucken lassen kann. Das ist richtig, aber Sie unterstellen damit, daß es in der Bundesrepublik Deutschland zuwenig Geld gibt. Das ist aber nicht wahr; es wird nur höchst ungerecht verteilt.
Ich will Ihnen dazu folgendes sagen: Das Geldvermögen der privaten Haushalte - ich rede jetzt gar nicht von den Banken usw. - hat sich seit 1980 verdreifacht. Auf nahezu 4 Billionen DM bezifferte sich das Nettogeldvermögen im Jahre 1994. Das Grundvermögen privater Haushalte belief sich auf rund 5 Billionen DM.
Doch dieser Reichtum konzentriert sich nur in den Händen eines geringen Teils der Bevölkerung. 10 Prozent der privaten Haushalte besaßen 1993 mehr als die Hälfte des gesamten Geldvermögens. 50 Prozent der Haushalte besaßen gerade einmal 1,2 Prozent des Geldvermögens. 1980 gab es 384 000 Haushalte mit einem Einkommen von mehr als 10 000 DM monatlich, 1988 waren es bereits 972 000, und heute sind es weit mehr als 1 Million.
Nein, es gibt nicht zuwenig Geld in dieser Bundesrepublik, und die Demonstration will auch kein Geld drucken, sondern sie will erreichen, daß es in dieser Bundesrepublik endlich gerechter verteilt wird.
Sie haben darauf hingewiesen, daß Sie eine Wirtschaftspolitik machen müßten, die Investitionen ermöglicht und Arbeitslosigkeit abbaut, die verhindert, daß Unternehmen weiter ins Ausland gehen. Aber alle Rezepte, die Sie dafür vorschlagen, taugen gar nichts; denn das, was Sie als neu verkünden, machen Sie in Wirklichkeit seit 15 Jahren.
Wenn es so wäre, daß der Abbau von Unternehmenssteuern und der Sozialabbau neue Arbeitsplätze schaffen würden - das ist Ihre Theorie -, dann müßten wir inzwischen um Arbeitskräfte aus dem
Ausland betteln; denn diese Politik betreiben Sie seit 15 Jahren, sie hat aber in Wirklichkeit zu über 4 Millionen registrierten und real zu über 6 Millionen Arbeitslosen in dieser Gesellschaft geführt.
- Jedesmal fragen Sie nach einer neuen Zahl, Herr Solms. Das letzte Mal haben Sie mich gefragt, was ich vor 30 Jahren gemacht habe. Das konnte ich beantworten, da habe ich gerade Abitur gemacht. Ich nehme an, vor 15 Jahren habe ich in einem Ehescheidungsverfahren dafür gesorgt, daß die Ehefrau nicht ganz ungerecht behandelt aus der Scheidung hervorgeht. Sie organisieren im übrigen gerade wieder einmal diese Ungerechtigkeit mit Ihren neuen Rechtsakten; dazu komme ich aber noch.
Ich sage Ihnen folgendes: Wenn Sie wirklich Arbeitsplätze schaffen wollen, dann müssen Sie endlich - Sie haben davon gesprochen, daß man Produkte und Dienstleistungen verkaufen können muß - die Binnennachfrage stärken, Sie müssen die Kaufkraft stärken. Dann ist jede Sozialleistungskürzung auch ökonomisch tödlich; denn die Kaufkraft kann man insbesondere bei den unteren Einkommensgruppen, insbesondere bei denen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, stärken; denn diese müssen ihr gesamtes Geld ausgeben.
Wenn Sie den Vermögenden immer mehr Geld geben, erreichen Sie nur, daß sie mehr sparen, aber diese Menschen kaufen nicht mehr. Damit erreichen Sie keine Kaufkrafterhöhung. Deshalb sage ich: Das, was Sie selbst gesagt haben, steht konträr zu dem, was Sie an Politik anbieten.
Sie müßten endlich erreichen, daß das Finanzkapital höher besteuert wird, daß die Spekulationsgewinne abgeschöpft werden und nicht ständig die Wirtschaft belastet wird. Sie müßten dafür sorgen, daß die Kapitalflucht besteuert wird.
Natürlich kann man auch die Lohnnebenkosten ganz anders gestalten. Nirgendwo steht geschrieben, daß es gerechtfertigt ist, daß Betriebe mit gleichem Umsatz und gleichen Gewinnen bei den Lohnnebenkosten unterschiedlich belastet sind, je nachdem, ob es beschäftigungsintensive oder beschäftigungsarme Unternehmen sind. Man könnte die beschäftigungsarmen Unternehmen mit hohen Umsätzen und Gewinnen auch hinsichtlich der Lohnnebenkosten und der Einzahlung in die Versicherungssysteme anders belasten und dafür die beschäftigungsintensiven Unternehmen entlasten. Aber an solche Reformen, die uns wirklich weiterhelfen würden, denken Sie überhaupt nicht.
Wenn Sie sparen, auf wessen Kosten sparen Sie eigentlich und für wen sparen Sie? Die Frage müssen Sie doch beantworten. Sie wollen die Vermögensteuer abschaffen. Welche Bevölkerungsgruppe betrifft denn das? Sie lehnen eine Abgabe für Besserverdienende ab und sprechen in diesem Zusammenhang, Herr Gerhardt, immer von den Leistungsträgern. In Wirklichkeit verdient doch das deutsche Management viel zu gut, es ist satt und bequem, denen
Dr. Gregor Gysi
fällt doch gar nichts mehr ein. Es gibt Manager auf der Welt, die viel mehr Ideen haben, unter anderem auch, weil sie kreativer und nicht derart maßlos überbezahlt sind wie die in der Bundesrepublik Deutschland.
Sie argumentieren, daß mit dem Dienstmädchenprivileg so wunderbare Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Aber Sie kommen doch an der Tatsache nicht vorbei, daß Sie im Grunde genommen nur eines machen: Sie sagen den Vermögenden und Reichen in dieser Gesellschaft, wer sich ein Dienstmädchen leisten kann, der kann die Kosten komplett von der Steuer absetzen. Das ist in höchstem Maße sozial ungerecht.
Was Ihren Erbschaftsteuergesetzentwurf anbetrifft, den Sie jetzt vorgelegt haben: Mit ihm begünstigen Sie wieder die hohen Erbschaften. Was hat nun eigentlich Erbschaft mit Leistung zu tun, Herr Gerhardt? Diese Frage haben Sie noch nie beantwortet. Wieso wird der Freibetrag für einen Ehegatten plötzlich auf 1,5 Millionen DM verdreifacht? Sie stützen sich auf Art. 6 des Grundgesetzes auf den Schutz von Ehe und Familie. Aber der Art. 6 spricht nicht von der Privilegierung der Ehe; er spricht nur von dem Schutz der Ehe und der Familie.
Weshalb werden immer noch in mittelalterlicher Weise nichteheliche Lebensgemeinschaften so schwer diskriminiert?
- Nein, lassen Sie sich diese eine Zahl doch einmal durch den Kopf gehen: Wenn nach Ihrem neuen Gesetzentwurf eine Erbschaft von 2 Millionen DM anfällt, müßte ein Ehegatte 50 000 DM Erbschaftsteuer zahlen, ein nichtehelicher Lebenspartner aber 900 000 DM. Das ist eine so ungeheuerliche Diskriminierung anderer Lebensweisen, daß ich dachte, als ich das gelesen hatte, ich sei wieder im vorigen Jahrhundert angekommen.
- Ja, ich mache Ihnen gleich einen Vorschlag. - Dann sagen Sie, das Ganze sei Schutz der Familie. Aber das Kind einer alleinerziehenden Mutter oder eines alleinerziehenden Vaters sitzt nach Ihrem Gesetzentwurf in der höchsten Steuerklasse. Das soll etwas mit Schutz der Familie zu tun haben? Das alles liegt daran, daß Sie die alleinerziehende Mutter und den alleinerziehenden Vater permanent diskriminieren. Sie erkennen sie nicht an, obwohl sie vielleicht größere Leistungen als andere in dieser Gesellschaft erbringen.
Unser Entwurf liegt Ihnen vor; Sie können ihn sich ansehen. Er enthält eine einheitliche Freigrenze von 250 000 DM, eine einheitliche Steuer für alle, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad, und eine progressive Steigerung nach oben, je höher die Erbschaft ist; denn die Erbschaftsteuer soll ja auch der Vermögensumverteilung in einer Gesellschaft dienen, um bestimmte Dinge finanzieren zu können.
Gleichzeitig haben wir aber auch beim Betriebsvermögen Gerechtigkeit hergestellt und Existenzgründer sowie kleine und mittelständische Unternehmen durchaus geschützt. Es handelt sich also um einen sehr differenzierten Vorschlag, der wesentlich mehr Gerechtigkeit herstellen würde.
Was Sie sich in bezug auf Ostdeutschland in letzter Zeit erlauben, das ist eine Fortsetzung der Diskriminierung aus der vergangenen Zeit. Wenn Sie die Mittel bei der Bundesanstalt für Arbeit derart kürzen, wie Sie es vorschlagen, dann wissen Sie auch, was die Auswirkung ist: daß nämlich die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutschland rigide gestrichen werden, obwohl sie zumeist die einzige Hoffnung für Millionen Menschen in den neuen Bundesländern darstellen. Unter ihnen befinden sich übrigens überwiegend Frauen, die Sie in andere Sozialsysteme schicken, indem Sie ihnen selbst diese Beschäftigung wieder nehmen.