Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Waigel, einem Satz, den Sie in Nürnberg gesprochen haben - mindestens einem; es gibt auch andere, ich muß das freimütig sagen - kann ich zustimmen. Sie sagen: Nach vorne muß der Blick gerichtet sein. Lieber Kollege Dr. Waigel, darüber ließe sich wohl und trefflich streiten, was das denn bedeutet. Aber dann lese ich den Satz genau, auf den es mir ankommt; das ist der Satz, den Sie zusätzlich gesagt haben. Ich zitiere ihn, damit es auch einmal im Protokoll steht.
- Endlich mal einer, Herr Vizepräsident. - Sie sprechen in Nürnberg über die Verbrechen, die Tschechen an Deutschen begangen haben, richten, wie Sie sagen, „unsere klare Forderung" an die tschechische Seite, und dann heißt es:
Ein solches Bekenntnis und ein Wort des Bedauerns wären gleichzeitig ein weiteres Stück Annäherung an den europäischen Rechtsstandard.
- Alle, die jetzt klatschen, sollten sich doch bitte genau überlegen, wie das bei denen ankommen muß, die in der Tschechischen Republik seit vielen Jahren, seit 1979 mindestens, eine ernsthafte, schmerzhafte, schonungslose Debatte über die eigene Schuld führen, die bewirkt hat, daß es eine Übereinkunft bei all denen gibt, die in Prag unsere Partner in den zentralen Fragen sind und die sagen: Wir haben uns selbst aus Europa vertrieben, als wir die Deutschen, die Sudetendeutschen, aus der Tschechoslowakei vertrieben haben.
- Das ist ein Zitat von Erazim Kohak. - Es ist doch nicht zu leugnen, Herr Dr. Waigel, daß es diese ernst-
Gert Weisskirchen
hafte, schwierige, harte, schonungslose Debatte innerhalb der Tschechischen Republik gibt.
Hat nicht der tschechische, damals noch tschechoslowakische Präsident Václav Havel, kurz nachdem er gewählt worden war, als erstes eine Reise nach München unternommen und Worte des Bedauerns ausgesprochen? Er hat sich entschuldigt.
- Ja, als Präsident, und später hat er auch als tschechischer Präsident zum Ausdruck gebracht, daß er verurteile, was geschehen ist, daß es unmoralisch gewesen sei, was mit Sudetendeutschen geschehen ist.
Herr Dr. Waigel, der Duktus der Rede, die Sie in Nürnberg gehalten haben, hat einen ganz anderen Eindruck vermitteln können. Vielleicht wollten Sie es nicht. Aber sie hat ihn für diejenigen in der Tschechischen Republik vermitteln können, die Sorge um die weitere Entwicklung ihrer eigenen Demokratie haben. Sie haben nämlich den Eindruck erwecken können, als gäbe es diese Debatte gar nicht, als gäbe es gar nicht diese ernsthafte, schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld.
Das, Herr Dr. Waigel, werfe ich Ihnen vor. Niemals mehr darf es deutsche Außenpolitik geben, die den Maßstab an andere richtet, wie sie sich zu verhalten haben, wenn es um die Integration Europas geht. Das darf nie der Fall sein.
Darum geht es, Herr Dr. Waigel.
Schauen Sie: Diese Tschechische Republik ist eine ganz junge Demokratie. Sie hat es äußerst schwer, sich zu entwickeln. Die inneren Grundlagen, das Fundament der zivilen Gesellschaft, sind erst im Entstehen begriffen. Wie kann denn dann die Haltung so mißverständlich sein? Ich will gar nicht sagen, daß Sie selbst diesen Eindruck erwecken wollten.
So mißverständlich auch manche Reden von Sudetendeutschen Landsmannschaftsfunktionären sind, -
lieber Herr Dr. Waigel, ich bitte Sie herzlich: Lassen Sie sich nicht zur Geisel von rückwärtsgewandten Funktionären, von kleinen Gruppen der Sudetendeutschen Landsmannschaft machen! Lassen Sie das bitte nicht zu!
7 000 Deutsche sind seit 1991 in die Tschechische Republik zurückgekehrt. Das sind die wirklichen
Vorboten eines Zusammenwachsens von Deutschen und Tschechen von innen und von unten.
Wir sollten alles dazu beitragen, daß dieses Zusammenwachsen durch keine Reden gestört wird.