Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns geht es in. dieser Aktuellen Stunde nicht darum, einen parteipolitisch gefärbten, polemischen Nachtrag zum Sudetendeutschen Tag zu liefern.
Wir wollen vielmehr erreichen, daß der Deutsche Bundestag in einer schwierigen Phase der deutschtschechischen Beziehungen ein Signal in Richtung Prag aussendet, aus dem unser gemeinsamer Wille zur Versöhnung und zur dauerhaften gutnachbarlichen Zusammenarbeit klar und unzweideutig hervorgeht.
Es ist bedrückend zu sehen, daß es uns bisher nicht gelungen ist, das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik auf eine ähnlich solide Grundlage zu stellen, wie es mit allen anderen Nachbarn, namentlich mit den beiden größten, Frankreich und Polen, möglich war.
Die Initiative, die von Präsident Havel bei seiner Rede in der Karls-Universität ausging, hat dazu geführt, daß jetzt der Versuch gemacht wird, das Versäumte nachzuholen. Dieser Prozeß ist schwierig; er verlangt Rücksichtnahme auf beiden Seiten. Die angestrebte deutsch-tschechische Erklärung können wir nur erreichen, wenn beide Seiten voneinander nichts Unmögliches verlangen.
Die Bundesrepublik Deutschland war und ist zum Beispiel nicht bereit, das schmachvolle Münchener Abkommen als von Anfang an nichtig zu erklären. Das kann sie ganz einfach deshalb nicht, weil die inzwischen eingetretenen Rechtsfolgen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die tschechische Seite ist darüber nicht glücklich, aber sie versteht es.
Die Bundesrepublik Deutschland war und ist zum Beispiel auch nicht bereit, ihre Rechtsordnung dahin gehend zu ändern, daß auf individuelle Vermögensansprüche vertriebener und enteigneter Sudetendeutscher formell verzichtet werden könnte. In Tschechien würde ein solcher formeller Verzicht bei den einfachen Menschen viele Ängste beseitigen. Ich halte diese Ängste zwar für unbegründet, aber das ändert nichts daran, daß es sie gibt. Auch dieser deutsche Standpunkt ist der tschechischen Seite nicht angenehm, aber sie akzeptiert ihn.
Können wir nun umgekehrt von der Tschechischen Republik erwarten, daß sie nach mehr als fünfzig Jahren Rechtsakte, die moralisch ebenso Unrecht sind wie das Münchener Abkommen, für ungültig erklärt? Wem hilft die Forderung nach Aufhebung der Beneš-Dekrete oder des sogenannten Amnestie-Gesetzes? Welches Problem von heute oder morgen würde damit gelöst? Welches Unrecht würde ungeschehen gemacht? Wenn wir die Versöhnung auf der Durchsetzung von Rechtsstandpunkten aufbauen wollen, wird sie nicht gelingen.
Ich fand die Vokabel vom Schlußstrich, die Präsident Havel gebraucht hat, so abwegig nicht. Immerhin haben wir im Nachbarschaftsvertrag mit Polen von 1991, fast auf den Tag genau vor fünf Jahren, schon im ersten Satz gesagt, daß wir diesen Vertrag in dem Bestreben schließen, die leidvollen Kapitel der Vergangenheit abzuschließen. Dieses Wort fehlt im deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag von 1992. Aber deshalb ist es nicht unmöglich.
Günter Verheugen
Können wir mehr tun, als zu erklären, daß wir das, was wir uns als Deutsche und Tschechen gegenseitig angetan haben, als Unrecht bedauern? Anders als Herr Waigel und Herr Stoiber auf dem Sudetendeutschen Tag behauptet haben, hat Präsident Havel dieses Bedauern längst ausgedrückt. Es geht nicht um eine juristische Aufarbeitung der Jahre 1938 bis 1945. Es geht um eine politisch-moralische Selbstreflektion beider Völker, die nach vorne gewandt ist.
Wir werden bald gemeinsam in der Europäischen Union sein - das kann der Freistaat Bayern nicht verhindern. Wir haben uns im Vertrag von 1992 verpflichtet, die Bemühungen der Tschechischen Republik um Aufnahme in die Europäische Union zu unterstützen. Dabei sind die Bedingungen nicht genannt worden, die vor allem Herr Stoiber in einem Ton, der nur als Drohung zu verstehen war, in Nürnberg aufgestellt hat. Sollen wir uns im gemeinsamen Europa denn immer noch über das Münchener Abkommen, die Potsdamer Beschlüsse und die BenešDekrete streiten oder über das Heimatrecht der Sudetendeutschen? Präsident Havel hatte auch dafür eine Lösung angeboten, die doppelte Staatsbürgerschaft. Darauf ist die Bundesregierung, der Herr Waigel angehört, nicht eingegangen. Sudetendeutsche, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, können das tun,
wenn sie bereit sind, die Staatsangehörigkeit anzunehmen, die sie vor 1938 auch schon hatten.
Diese Frage ist lösbar in Gesprächen in einem Klima des Vertrauens, aber nicht, wenn dröhnende Forderungen erhoben werden. Gegen eine Einbeziehung der Sudetendeutschen in die Gespräche ist nichts einzuwenden - es ist sogar klug, wenn die Bundesregierung es tut -, aber wir können nicht im Ernst verlangen, daß die Sudetendeutsche Landsmannschaft als dritte Partei an den Verhandlungen teilnimmt.
Bei allem Verständnis: Die deutsch-tschechischen Beziehungen sind kein Privileg einer Landsmannschaft.
Daß man mit Fingerspitzengefühl und gegenseitigem Vertrauen viel erreichen kann, haben wir Sozialdemokraten im Umgang mit unserer tschechischen Schwesterpartei bewiesen. Es ist uns nicht nur gelungen, schon vor mehr als einem Jahr eine gemeinsame Erklärung zu veröffentlichen, die zeigt, was möglich ist. Denken Sie nicht, es gebe keine große sozialdemokratische Tradition bei den Sudetendeutschen. Es gibt sie, und sie wird von der SPD gehütet und gepflegt. Sudetendeutsche Sozialdemokraten waren die ersten Opfer des Münchener Abkommens. Uns ist es ebenfalls gelungen, unsere Schwesterpartei davon zu überzeugen, daß sie im tschechischen Wahlkampf aus europäischer Verantwortung darauf verzichten muß, das deutsch-tschechische Verhältnis zum Wahlkampfthema zu machen. Hätte sie es getan, wäre mein Freund Milos Zeman heute vielleicht schon tschechischer Ministerpräsident, aber unsere Beziehungen wären vergiftet. Ich möchte unseren tschechischen Freunden für ihr verantwortungsvolles Handeln ausdrücklich danken.
Herr Waigel und Herr Stoiber haben anders gehandelt. Sie haben einen kurzfristigen Vorteil für sich selber gesucht und langfristige Vorteile für unser Land gefährdet. Von einem Mitglied der Bundesregierung muß erwartet werden, daß es genug außenpolitisches Gespür aufbringt, in einer heiklen Lage nicht neue Probleme zu schaffen. Das ist vor allem durch den fordernden, oft auch selbstgerechten Ton der Reden geschehen, die in Nürnberg zu Pfingsten gehalten wurden. Der Bundeskanzler und der Außenminister haben geschwiegen. Das sollten sie heute nicht tun. Gerade vom Bundeskanzler, den ja ein Gespür für historische Zusammenhänge auszeichnet, muß erwartet werden, daß er dem Gezerre und Gewürge um die deutsch-tschechische Erklärung ein Ende bereitet und sich offen und öffentlich zur Versöhnung mit unseren tschechischen Nachbarn bekennt.
Diese Erklärung kann und soll der Schlußstein jener Ostpolitik werden, die von Willy Brandt 1969 begonnen wurde.