Protokoll:
8145

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 8

  • date_rangeSitzungsnummer: 145

  • date_rangeDatum: 29. März 1979

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:45 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/145 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 145. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 Inhalt: Gedenkworte zum 130. Jahrestag der Verabschiedung der Frankfurter Reichsverfassung 11559 A Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Dr. Schachtschabel und Dr. Gradl . . 11560 C Wahl des Abg. Müller (Nordenham) zum ordentlichen Mitglied und des Abg. Dr. Enders zum stellvertretenden Mitglied im Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt 11560 C Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 11560 C Erweiterung der Tagesordnung 11561 C Absetzung eines Punktes von der Tagesordnung 11673 B Beratung des Antrags der- Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Erste Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines 18. Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Gradl CDU/CSU 11561 D Dr. Emmerlich SPD 11565 C Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 11569 D Kleinert FDP 11575 C Schmidt, Bundeskanzler 11579 A Graf Stauffenberg CDU/CSU 11581 A Dr. Wendig FDP 11585 D Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 11590 B Waltemathe SPD 11593 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP 11596 A Dr. Mikat CDU/CSU 11601 C Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 11607 C Dr. Vogel (München) SPD 11611 C Engelhard FDP 11617 A Dr. Weber (Köln) SPD 11619 C Wissmann CDU/CSU 11622 A Oostergetelo SPD 11624 A Dr. Klein (Göttingen) CDU/CSU 11625 D Frau Matthäus-Maier FDP 11627 C Blumenfeld CDU/CSU 11631 A Hartmann CDU/CSU 11633 B Hansen SPD 11635 B Helmrich CDU/CSU 11638 A Dr. Schwencke (Nienburg) SPD 11639 C Dr. Schwarz- Schilling CDU/CSU 11642 B Dr. Stark (Nürtingen) CDU/CSU 11645 B Sieglerschmidt SPD 11647 A Josten CDU/CSU 11649 C Präsident Carstens 11575 A Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europaabgeordnetengesetz) — Drucksache 8/362 — Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 8/2708 — Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses — Drucksache 8/2707 — Krey CDU/CSU 11651 A Bühling SPD 11652 C Dr. Klepsch CDU/CSU 11654 D Wolfgramm (Göttingen) FDP 11656 D Luster CDU/CSU 11657 D Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr — Drucksache 8/2453 — Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 8/2697 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung — Drucksache 8/2696 — Hölscher FDP 11658 C, 11660 C Burger CDU/CSU 11658 D Kratz SPD 11659 D Dr. Ehrenberg, Bundesminister BMA . . 11661 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP Enquete-Kommission „Zukünftige Energie-Politik" und dem Antrag der Abgeordneten Lenzer, Pfeifer, Dr. Probst, Benz, Engelsberger, Gerstein, Dr. Hubrig, Dr. Riesenhuber, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Laufs, Pfeffermann, Dr. Stavenhagen, Frau Dr. Walz, Dr. Narjes und der Fraktion der CDU/CSU Enquete-Kommission „Zukünftige Energie-Politik" — Drucksachen 8/2353, 8/2374, 8/2628 — Dr. Freiherr Spies von Büllesheim CDU/CSU 11663 B Ueberhorst SPD 11664 D Dr.-Ing. Laermann FDP 11666 A Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie gemäß § 60 Abs. 3 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Lenzer, Dr. Riesenhuber, Dr. Probst, Pfeifer, Benz, Engelsberger, Gerstein, Dr. Hubrig, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Stavenhagen, Frau Dr. Walz, Pfeffermann und der Fraktion der CDU/CSU Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 III Einrichtung einer Prognose- und Bewertungskapazität zur Begutachtung technologischer und forschungspolitischer Entwicklungen beim Deutschen Bundestag — Drucksachen 8/1241, 8/2629 (neu) — Dr. Riesenhuber CDU/CSU 11667 B Stockleben SPD 11669 B Dr.-Ing. Laermann FDP 11670 D Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom 17. November 1977 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Bau einer Autobahnbrücke über den Rhein zwischen Steinenstadt und Ottmarsheim sowie über den Bau einer Straßenbrücke über den Rhein zwischen Weil am Rhein und Hüningen — Drucksache 8/2437 — Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 8/2686 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post-und Fernmeldewesen — Drucksache 8/2642 — 11672 D Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den gewerblichen Binnenschiffsverkehr — Drucksache 8/2366 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen — Drucksache 8/2640 — 11673 A Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. Februar 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über den Luftverkehr — Drucksache 8/2436 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen — Drucksache 8/2669 — 11673 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Viehseuchengesetzes — Drucksache 8/2646 — 11673 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. Juli 1978 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Großherzogtums Luxemburg über verschiedene Fragen der Sozialen Sicherheit Drucksache 8/2645 — 11673 D Beratung der Sammelübersicht 43 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen — Drucksache 8/2665 11673 D Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Veräußerung von Teilflächen des ehemaligen Standortübungsplatzes Bad Vilbel an die Stadt Frankfurt — Drucksachen 8/2478, 8/2648 — 11674- A Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Verbilligte Veräußerung von bundeseigenen Grundstücken — Drucksachen 8/2558, 8/2649 — 11674 A Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der zustimmungsbedürftigen Verordnung der Bundesregierung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs (Nr. 3/79 — Zollkontingent für Walzdraht 1. Halbjahr 1979) — Drucksachen 8/2536, 8/2632 — 11674 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Anpassung der Kapazität für den gewerblichen Güterkraftverkehr zwischen den Mitgliedstaaten — Drucksachen 8/2357, 8/2641 — 11674 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung VI Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 816/70 zur Festlegung ergänzender Vorschriften für die gemeinsame Marktorganisation für Wein — Drucksachen 8/2513 Nr. 3, 8/2670 — . . 11674 C Beratung des Berichts der Bundesregierung über Möglichkeiten zur Umstellung des 7 b EStG auf ein anderes Förderungssystem — Drucksache 8/2554 — 11674 D Beratung des Berichts der Bundesregierung über die Auswirkungen des Gesetzes über steudrliche Vergünstigungen bei der Herstellung oder Anschaffung bestimmter Wohngebäude auf das geltende Grunderwerbsteuerrecht und über die Überlegungen, die zur Reform des Rechts der Grunderwerbsteuer angestellt worden sind — Grunderwerbsteuerbericht — Drucksache 8/2555 — 11674 D Nächste Sitzung 11675 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 11677* A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 11559 145. Sitzung Bonn, den 29. März 1979 Beginn: 9.01 Uhr
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    Berichtigung 144. Sitzung, Seite 11 405 A: In den Zeilen 10 bis 13 ist statt „ ... an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend —" zu lesen: ,,... an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend —, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — mitberatend —" ; Seite 11 526 * D: In der Zeile 8 von unten ist statt „36" zu lesen: „38". Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Aigner * 30. 3. Dr. Althammer 30.3. Dr. Bangemann* 29. 3. Dr. Becher (Pullach) 30. 3. Frau Berger (Berlin) 30. 3. Blumenfeld ** 30. 3. Dr. Corterier ** 30. 3. Frau Erler 30. 3. Fellermaier * 30. 3. Frau Fischer 30. 3. Friedrich (Würzburg) 29. 3. Genscher 30. 3. Dr. Hornhues 30. 3. Horstmeier 29. 3. Dr. Jahn (Braunschweig) * 30. 3. *) für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments *5) für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung ***) für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. h. c. Kiesinger 30. 3. Klinker 30. 3. Koblitz 30. 3. Lange * 30. 3. Leber 30.3. Lemp * 30.3. Lenzer 30.3. Dr. Müller *** 29.3. Müller (Mülheim) * 30. 3. Müller (Remscheid) 30. 3. Sauer (Salzgitter) 30. 3. Schmidt (München) * 30. 3. Schreiber* 30. 3. Dr. Schröder (Düsseldorf) 30. 3. Dr. Schwencke (Nienburg) *** 29. 3. Dr. Schwörer * 29. 3. Seefeld * 30. 3. Spitzmüller 30. 3. Stahlberg 30. 3. Dr. Starke (Franken) * 30. 3. Frau Tübler 30. 3. Dr. Vohrer *** 29. 3. Frau Dr. Walz 30. 3. Baron von Wrangel 30. 3. Wuwer 30.3. Ziegler 30. 3.
Gesamtes Protokol Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814500000
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich möchte vor Eintritt in die Tagesordnung eines historischen Ereignisses gedenken: Am 28. März 1849, gestern vor 130 Jahren, verkündete die Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt am Main nach zehnmonatiger Beratung die Verfassung des Deutschen Reiches. Dieser kurze Zeitraum veränderte das deutsche Staatsdenken entscheidend und schuf die Grundlagen für den Parlamentarismus in Deutschland.
Der 28. März 1849 ist ein großer Tag, er ist ein Ruhmesblatt in unserer Geschichte. Die Frankfurter Verfassung verband nationalstaatliche, rechtsstaatliche und demokratische Elemente. Sie fand einen ausgewogenen Ausgleich zwischen der Forderung nach einer handlungsfähigen Zentralgewalt und den historisch gewachsenen Rechten der Einzelstaaten.
Kernstück der Verfassung war die Garantie der Grundrechte des deutschen Volkes, die schon vorab durch ein besonderes Gesetz im Dezember 1848 in Kraft gesetzt waren. Ich möchte die wichtigsten dieser Grundrechte wörtlich verlesen:
Jeder Deutsche hat das Recht, an jedem Orte des Reichsgebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen.
Vor dem Gesetz gilt kein Unterschied der Stände.
Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Die Todesstrafe ... (ist) abgeschafft.
Die Wohnung ist unverletzlich.
Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern.
Die Pressefreiheit darf unter keinen Umständen und in keiner Weise ... beschränkt, suspendirt oder aufgehoben werden.
Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.
Es steht einem Jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will.
Das Eigenthum ist unverletzlich.
Eine Enteignung kann nur aus Rücksichten des gemeinen Besten, nur auf Grund eines Gesetzes und gegen gerechte Entschädigung vorgenommen werden.
Die richterliche Gewalt wird selbständig von den Gerichten geübt.
Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.
Soweit die Zitate aus dem Grundrechtskatalog der Frankfurter Verfassung.
Wir finden in diesem Katalog wesentliche Teile der Grundrechte unserer Verfassung, des hundert Jahre später in Kraft getretenen Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, wieder.
Die Verfassung von 1849 führte als erste Verfassung der Welt das Institut der Verfassungsbeschwerde ein. Jeder Bürger konnte wegen Verletzung der durch die Verfassung gewährleisteten Rechte das Reichsgericht anrufen. Es wurde also für den einzelnen Bürger der Rechtsweg unmittelbar zum höchsten Gericht eröffnet. Erst hundert Jahre später, in unserem Grundgesetz und in dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, taucht dieses Rechtsinstitut der Verfassungsbeschwerde wieder auf.
Darf ich Ihnen aus der Begründung des Verfassungsausschusses zur Frankfurter Verfassung einige Sätze vorlesen, die das freiheitliche und rechtsstaatliche Denken unserer Vorfahren kennzeichnen. In der Begründung heißt es mit Bezug auf das Reichsgericht:
Denn nicht darin ist die Vollkommenheit eines entwickelten Verfassungslebens zu suchen, daß alle Reibungen, alle Differenzen gemieden werden — sie sind, wo Leben ist, unvermeidlich —, sondern darin, daß den Streit weder Gewalt noch Willkür noch Sonderinteresse entscheide, sondern das Recht; und Recht zu sprechen, wenn Stände und Regierung, wenn Staat und Staat streiten, ja gegen die Reichsgewalt selbst, wenn sie, ihre Befugnisse überschreitend, über das Recht die Interessen und über die Verfassung die Allgewalt parlamentarischer Majoritäten sollte stellen wollen, ein Hort des Rechts



Präsident Carstens
und der Verfassung zu sein, das ist der Beruf dieses Tribunals, eines Staatsgerichtshofes im höchsten Sinne des Wortes.
Wenn ich der Frankfurter Nationalversammlung gedenke, so möchte ich auch auf ihre beiden bedeutenden Präsidenten hinweisen. Der erste war Heinrich von Gagern aus dem Großherzogtum Hessen, dessen herausragende Leistung darin bestand, trotz einer zunächst fehlenden Geschäftsordnung und trotz Fehlens einer langjährigen parlamentarischen Tradition in Deutschland die Versammlung durch Krisen und turbulente Szenen hindurchgesteuert zu haben. Als Gagern Chef der provisorischen Reichsregierung wurde, löste ihn Eduard Simson ab. Er war in Königsberg gewählt, wurde später der erste Präsident des Deutschen Reichstages von 1871 bis 1873. Auch er hat sich um die Entwicklung des deutschen Parlamentarismus unvergängliche Verdienste erworben.
Das Werk der Paulskirche ist, wie wir wissen, zunächst gescheitert. Die Frage der Einbeziehung des österreichischen Gesamtstaates erwies sich als nicht lösbar. Auch gewannen im Frühjahr 1849 antidemokratische Gegenkräfte wieder die Oberhand. Preußen und Osterreich sowie einige andere deutsche Staaten verweigerten der Reichsverfassung die Anerkennung und riefen ihre Abgeordneten zurück. Ein Rumpfparlament tagte noch einige Wochen in Stuttgart weiter, wurde aber dort im Juni mit Waffengewalt auseinandergetrieben. Viele Freiheitskämpfer wanderten ins Gefängnis oder flohen ins Ausland. Zu ihnen gehörten der Bonner Professor Gottfried Kinkel und der Bonner Student Carl Schurz, der später bedeutende politische Stellungen in Amerika bekleidete. Aufstände in Baden und in der Pfalz, die die Einführung der Verfassung erzwingen wollten, wurden blutig niedergeschlagen.
Aber das traurige Ende der mit großen Hoffnungen verbundenen und zu großen Leistungen gelangten Revolution von 1848 darf uns nicht den Blick für die außerordentliche Wirkung verstellen, die von dieser Erhebung und von der Verfassung vom 28. März ausgegangen ist. Sie bildete die Grundlage, an die alle späteren deutschen Verfassungen, insbesondere die Weimarer Verfassung und unser Grundgesetz, anknüpften. Wir können mit Recht in der Verfassung von 1849 die historischen Grundlagen unserer freiheitlich-demokratischen, föderativen und rechtsstaatlichen Ordnung erblicken.
Es hat Zeiten gegeben, in denen die Deutschen ebenso wie ihre Nachbarn kriegerischer Ereignisse und militärischer Siege als der bedeutendsten Vorgänge ihrer Geschichte gedacht haben. Wir dagegen wollen uns auf die großen geistigen, politischen und vor allem auf die freiheitlichen Errungenschaften besinnen, auf die unser Volk zurückblicken kann.
Der 28. März 1849 ist ein solcher Gedenktag. Im Rückblick auf ihn sollten wir alle einig sein.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Meine Damen und Herren, ich habe nun die Freude, einige Glückwünsche auszusprechen. Am 16. März
vollendete der Herr Abgeordnete Dr. Schachtschabel sein 65. Lebensjahr. Ich spreche ihm herzliche Glückwünsche 'aus.

(Beifall)

Am 25. März vollendete der Herr Abgeordnete Dr. Gradl sein 75. Lebensjahr. Ich spreche ihm gleichfalls herzliche Glückwünsche aus.

(Beifall)

Für den aus dem Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt ausscheidenden Abgeordneten Dr. Kreutzmann hat die Fraktion der SPD den Abgeordneten Müller (Nordenham), bisher stellvertretendes Mitglied, benannt. Als stellvertretendes Mitglied wird an Stelle des Abgeordneten Müller (Nordenham) der Abgeordnete Dr. Enders vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Damit sind der Abgeordnete Müller (Nordenham) als ordentliches Mitglied und der Abgeordnete Dr. Enders als stellvertretendes Mitglied im Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt gewählt.
Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung
Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vom 9. März 1979 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Riedl (München), Dr. Kreile, Glos, Dr. Rose, Dr. Althammer, Dr. Friedmann, Dr. Langner, Dr. Pfennig, Geisenhofer, Spranger, Haase (Kassel), Dr. Meyer zu Bentrup, Gerster (Mainz), Röhner, Dr. Bötsch, Dr. Möller, Kiechle, Dr. Waigel, Gerlach (Obernau), Lintner, Regenspurger, Reichold, Voigt (Sonthofen), Höpfinger, Frau Schleicher, Dr. Probst, Dr. Wittmann (München), Hartmann, Klein (München), Schedl, Höffkes, Dr. Sprung, Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Dr. Jobst und der Fraktion der CDU/CSU betr. Zahl und Alter der seit 1969 in den einstweiligen Ruhestand versetzten politischen Beamten des Bundes — Drucksache 8/2572 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 8/2679 verteilt.
Die Monopolverwaltung für Branntwein Berlin hat mit Schreiben vom 19. März 1979 gemäß den §§ 6 und 9 des Gesetzes über das Branntweinmonopol den
Geschäftsbericht der Monopolverwaltung für Branntwein Berlin und die Bilanz mit Gewinn- und Verlustrechnung der Verwertungsstelle für das Geschäftsjahr 1977/78 (1. Oktober 1977 bis 30. September 1978)

übersandt. Der Bericht wird als Drucksache 8/2704 verteilt.
Der Stellv. Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 23. Februar 1979 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen hat:
Drucksache 8/1435 Nr. 1 bis 16 und 18 Drucksache 8/1477 Nr. 1 bis 3 und 5
Drucksache 8/1525 Nr. 2 Drucksache 8/1552 Nr. 1 und 2
Drucksache 8/1608 Nr. 1, 2, 4 und 5
. Drucksache 8/1705 Nr. 1 bis 6 Drucksache 8/1724 Nr. 3 und 4 Drucksache 8/1759 Nr. 1
Drucksache 8/1802 Nr. 4 bis 8 Drucksache 8/1851 Nr. 1 und 2 Drucksache 8/1889 Nr. 1 bis 3 Drucksache 8/1928 Nr. 5 und 6 Drucksache 8/2098 Nr. 1 bis 9, 11 bis 23, 25 bis 29
Drucksache 8/2167 Nr. 1 bis 7 Drucksache 8/2238 Nr. 1 bis 9, 11 bis 21
Drucksache 8/2272 Nr. 1 bis 3, 10 und 13 Drucksache 8/2337 Nr. 1, 3 bis 6 und 8 Drucksache 8/2364 Nr. 1 bis 3
Drucksache 8/2395 Nr. 1 bis 20
Drucksache 8/2466 Nr. 1 bis 8, 10 bis 19 Drucksache 8/2513 Nr. 1
Der Stellv. Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 23. Februar 1979 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehende EG-Vorlage zur Kenntnis genommen hat:
Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Unterrichtung über den Energieverbrauch durch Etikettierung
Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Anwendung der Richtlinie 78/. ../EWG über die Unterrichtung durch Etikettierung auf elektrische Backöfen
— Drucksache 8/2220 —



Präsident Carstens
Der Vorsitzende des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat mit Schreiben vom 6. März 1979 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehende EG-Vorlage zustimmend zur Kenntnis genommen hat:
Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Baubedarfsartikel
Vorschlag einer Entschließung des Rates zur Aufstellung eines Verzeichnisses vorrangiger Erzeugnisse, die in Anwendung der Richtlinie zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Baubedarfsartikel durch Richtlinien zu regeln sind
— Drucksache 8/2466 Nr. 38 —
Der Vorsitzende des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit hat mit Schreiben vom 8. März 1979 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehende EG-Vorlage zur Kenntnis genommen hat:
Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Regelung gesundheitlicher Fragen beim innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit gehacktem, gemahlenem oder in ähnlicher Weise zerkleinertem frischem Fleisch und frischem Geflügelfleisch mit oder ohne Zusatz von anderen Lebensmitteln, Zusatzstoffen und Gewürzen
— Drucksache 8/2337 Nr. 16 —
Der Vorsitzende des Ausschusses für Forschung und Technologie hat mit Schreiben vom 7. März 1979 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehende EG-Vorlage zustimmend zur Kenntnis genommen hat:
Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für ein mehrjähriges Forschungsprogramm auf dem Gebiet der Klimatologie (indirekte Aktion, 1979-1983)

— Drucksache 8/2271 —
Der Vorsitzende des Finanzausschusses hat mit Schreiben vom 14. März 1979 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen hat:
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Festlegung der Voraussetzungen, unter denen eine Person eine Zollanmeldung abgeben kann
— Drucksache 8/2583 Nr. 11 —
Entwurf eines Beschlusses des Gemischten Ausschusses zur Ergänzung der Anhänge II und III des Protokolls Nr. 3 über die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in" oder „Ursprungserzeugnisse" und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen durch die Aufnahme alternativer Regeln für die Waren der Kapitel 84 bis 92 des Zolltarifschemas des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens
Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Durchführung des Beschlusses Nr. .../79 des Gemischten Ausschusses EWG/. .. (1) zur Ergänzung der Anhänge II und III des Protokolls Nr. 3 über die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in" oder „Ursprungserzeugnisse" und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen durch die Aufnahme alternativer Regeln für die Waren der Kapitel 84 bis 92 des Zolltarifschemas des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens
— Drucksache 8/2559 Nr. 3 —
Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mit Schreiben vom 8. März 1979 mitgeteilt, daß der Ausschuß von einer Beratung der nachstehenden, bereits verkündeten EG-Vorlage abgesehen hat:
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Änderung des Berichtigungskoeffizienten, der auf die Dienst- und Versorgungsbezüge der in Italien dienstlich verwendeten oder ansässigen Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften anwendbar ist
— Drucksache 8/2395 Nr. 22 —
Der Präsident des Deutschen Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember 1977 die in der Zeit vom 7. bis 13. März 1979 eingegangenen EG-Vorlagen an die aus Drucksache 8/2674 ersichtlichen Ausschüsse überwiesen.
Die in Drucksache 8/2559 unter Nr. 5 aufgeführte EG-Vorlage
Empfehlung zu einem Beschluß des Rates, mit dem die Kommission zu Verhandlungen über ein Abkommen zur Errichtung eines Europäischen Forschungsinstituts für Wirtschafts-und Sozialpolitik ermächtigt wird
ist als Drucksache 8/2652 verteilt.
Die in Drucksache 8/2583 unter Nr. 2 aufgeführte EG-Vorlage
Vorschlag für einen Beschluß des Rates über eine Beteiligung der Gemeinschaft an Umstrukturierungs- oder Umstellungsinvestitionen der Schiffbauindustrie
Vorschlag für einen Beschluß des Rates fiber eine Beteiligung der Gemeinschaft an Umstrukturierungs- oder Umstellungsmaßnahmen der Textilindustrie, insbesondere der Kunstfaserindustrie
wird als Drucksache 8/2687 verteilt.
Die in Drucksache 8/2513 unter Nr. 5 aufgeführte EG-Vorlage
Mitteilung der Kommission an den Rat über die künftige Methode der Finanzierung des Gemeinschaftshaushalts
wird als Drucksache 8/2695 verteilt.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat wird die Tagesordnung um den Zusatzpunkt „Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Europaabgeordnetengesetzes — Drucksachen 8/362, 8/2707, 8/2708 —" ergänzt.
Ist das Haus mit der so ergänzten Tagesordnung einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 2 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen
Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines 18. Strafrechtsänderungsgesetzes (18. StrÄndG)

— Drucksache 8/2653 (neu)
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
c) Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord
— Drucksache 8/2616 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Dr. Gradl das Wort.

Dr. Johann Baptist Gradl (CDU):
Rede ID: ID0814500100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kollegen! Als derzeit ältestes Mitglied möchte ich am Beginn dieser wichtigen Debatte des Bundestages eine kurze Vorbemerkung machen. Jede der drei Fraktionen hat das Thema der Verjährung zur Gewissensfrage erklärt. Jedes Mitglied des Bundestages hat also aus eigener Verantwortung zu entscheiden; keine Fraktionsmehrheit nimmt sie ihm ab. Das entspricht der Bedeutung des Themas mit seinem geschichtlichen Hintergrund, das verlangt aber auch persönliche Toleranz und sachliche Fairneß gegenüber der jeweils anderen Meinung.

(Josten [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

Noch eines möchte ich hinzufügen. Dieser Debatte wird im Inland und im Ausland viel Aufmerksamkeit gewidmet. Deshalb füge ich gerade als Gegner der Verjährung betont hinzu: Bei aller Verschiedenheit der Meinungen und Argumente sind sich alle



Dr. Gradl
Abgeordneten dieses Hohen Hauses in einem einig: in der Abscheu gegen die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Nun darf ich den Antrag begründen, den am 7. Februar eine Gruppe von Mitgliedern meiner Fraktion; der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, eingebracht hat. Der Antrag hat das Ziel, daß die Strafverfolgung von Mord nicht der Verjährung unterliegen soll. Bereits bei der ersten Erörterung der Verjährungsfrage im Bundestag 1965 war von Mitgliedern meiner Fraktion ein solcher Antrag gestellt worden. Bei der zweiten Beratung 1969 hatte die damalige Bundesregierung der Großen Koalition denselben Standpunkt vertreten; aber beide Male wurde für eine befristete Lösung entschieden. Man wollte in dieser wichtigen Sache jeweils eine möglichst breite Zustimmung gewinnen. 1969 durfte man noch hoffen, daß die Verlängerung der Verjährungsfrist um zehn auf 30 Jahre reichen würde, um die NS-Morde, um die es damals primär ging, in den weiteren zehn Jahren aufzuarbeiten. Man durfte auch annehmen, daß alle in Frage kommenden Staaten für volle Mithilfe bei der Erfassung zu gewinnen seien. Beide Erwartungen haben sich, wie wir heute wissen, als irrig erwiesen. Man muß heute davon ausgehen, daß noch neues Material gefunden bzw. vorgelegt wird.
Oberstaatsanwalt Rückerl, als Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen unstreitbar sachverständig, glaubt — ich zitiere — „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen" zu können, daß „bisher noch unbekannte größere Tatkomplexe mit einer Vielzahl von Opfern festgestellt werden" können. Aber er rechnet in seiner jüngsten Dokumentation damit, „daß den Strafverfolgungsbehörden auch nach 1979 bisher nicht bekannte nationalsozialistische Gewaltverbrechen zur Kenntnis gebracht werden". Rükkerl fügt hinzu, daß es sich dabei nach der Zahl der Opfer und der Beteiligten um kleinere Komplexe handeln wird. Aber er ergänzt zugleich und mit Recht, daß die Größe der Tatkomplexe für die Bewertung der strafrechtlichen Relevanz nicht wesentlich ist.
Im übrigen ist damit zu rechnen, daß außerhalb der Bundesrepublik Material auch zurückgehalten ist, um nach etwaigem Ablauf der Verjährungsfrist gegen die Bundesrepublik propagandistisch mißbraucht zu werden.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Vor allem in der DDR!)

Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach dem Gang der Verfolgung von NS-Verbrechen ist in dieser Hinsicht zurückhaltend formuliert, aber trotzdem aufschlußreich gerade auch in bezug auf das Verhalten der DDR.
Es gibt noch einen wesentlichen Unterschied zwischen heute und der Situation von 1965 und 1969. Damals ging es vornehmlich um NS-Mord. Auf Mord generell wurde die Verjährungsfrage wegen der Schwierigkeit bezogen, NS-Mord begrifflich abzugrenzen. Heute geht es auch in der Sache um die Nichtverjährung von Mord allgemein. Unbestritten haben den Anstoß zur jetzigen Erörterung wiederum die NS-Morde gegeben. Sie würden, soweit die Verjährung nicht unterbrochen würde, Ende 1979 verjähren.
Der NS-Mord war politische Barbarei und äußerste Entmenschlichung. Er war, ob als Völkermord oder Massenmord oder in Einzelaktionen, von dem Willen bestimmt, eine nationale, eine rassische, eine religiöse Volksgruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören oder eine politische Opposition, eine bestimmte Gesinnung oder auch eine Eigenart auszutilgen. Über alles dies spannte sich der blutige Bogen der NS-Verbrechen. Vieles solcher Art gibt es auch heute in der Welt. Aber wir Deutschen haben, meine ich, in dieser Sache für unser Tun geradezustehen, für die Schuld, die NS-Verbrechen uns einst aufgelastet haben.
Der NS-Mord gehört einer vergangenen und überwundenen Periode an. Seine Verjährung verlangt vorrangig politische und moralische Beurteilung. Die Verjährung von Mordtaten, die zum gewohnten kriminellen Geschehen gehören und leider auch in Zukunft gehören werden, ist mit Blick auf den heutigen und den künftigen Schutz unserer Bürger und ihres Gemeinwesens zu beurteilen. Deshalb will unser Antrag ganz allgemein und ganz bewußt und nicht nur taktisch, daß kein Mörder, früherer oder künftiger, in unserem Lande damit rechnen kann, einmal ungestraft — ich betone: ungestraft — von Verfolgung freigestellt zu sein.
Warum? Wir alle müssen beobachten, daß sich seit geraumer Zeit in unserer Gesellschaft eine wachsende Brutalisierung vollzieht. Seit wir in diesem Hause 1969 das letztemal über Verjährung diskutierten und entschieden, haben insgesamt die Straftaten gegen das Leben erschreckend zugenommen. Nach der amtlichen Kriminalstatistik ist von 1968 bis 1977 die Zahl der Verbrechen gestiegen: in den Delikts-gruppen „Mord und Totschlag" um 41,6 % auf fast 2 600 Fälle, in der Deliktsgruppe „Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer" um 118,3 % auf mehr als 21 000 Fälle, in der Deliktsgruppe „gefährliche und schwere Körperverletzung" um 61 % auf über 52 000 Fälle. Insgesamt ist eine Zunahme dieser Akte der Gewaltkriminalität um 72,9 % zu verzeichnen. Die Zahlen für 1978 liegen noch nicht vor, aber erkennbar ist ein weiterer Anstieg, wenn auch abgeflacht.
Dies alles sind Verbrechen, bei denen das Äußerste, das Begehen eines Mordes, immer im Spiel ist. In den Erläuterungen der Kriminalstatistik heißt es denn auch, daß gerade in diesen Deliktsgruppen „die meisten Fälle sind, bei denen mit einer Schußwaffe geschossen wurde" und weiter:
Das Drohen mit einer Schußwaffe war bei den Straftatengruppen „Straftaten gegen die persönliche Freiheit" und • „Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer" besonders häufig.
Etwas Weiteres kommt hinzu. Sicher, schwere und abscheuliche Gewalttat hat es immer gegeben, aber



Dr. Gradl
ganz neue Arten äußerster Gewalt haben sich in den letzten zehn Jahren entfaltet. Was noch vor zehn Jahren Ausnahmeerscheinung war, ist jetzt eben keine Ausnahme mehr, sondern ständige, fast würde ich sagen, allgegenwärtige Gefahr. Der Mord hat in diesen Verbrechenskategorien neue Dimensionen bekommen. Ich meine die Banden- und Erpressungsmorde, die Mafia-Erscheinungen bei uns im Lande, ich meine die Pest der Raubmorde an hilflosen alten Menschen. Der alte Mensch ist heute immer häufiger Anreiz zu gewalttätigem Raub statt zu rücksichtsvollem helfenden und schützenden Verhalten. Ich meine den terroristischen Mord, der, wie z. B. bei Flugzeugentführungen, auch vor Massentötungen nicht zurückschreckt. Keiner von uns wird glauben, daß diese schreckliche Entwicklung am Ende ist. Wir brauchen uns nur die Schutzmaßnahmen rund um dieses Haus anzusehen. Die Menschen haben Anspruch auf jede legale mögliche Abwehr, Gegenwehr. Auch deshalb verlangen wir, daß generell die Strafverfolgung von Mord nicht durch Fristablauf, durch Verjährung aufgehoben wird.
Natürlich wird von uns nicht erwartet, daß allein mit der Aufhebung der Verjährung von Mord das Anwachsen krimineller Gewalt, daß Mord und Lebensbedrohung als gesellschaftliche Erscheinungen bewältigt werden können. Aber wenn Verjährung von Mord aufgehoben wird, dann wird damit ein unübersehbares Zeichen gesetzt, ein Signal für alle, die kriminelle Gewalt gegen das Leben üben wollen oder mit der Möglichkeit auch nur spielen. Es wird ihnen die Schwere ihrer verbrecherischen Tat oder Absicht auch auf diese Weise warnend deutlich gemacht, daß sie, auch wenn sie zunächst entkommen, zeit ihres Lebens mit Strafverfolgung rechnen müssen. Diese Drohung gewinnt dadurch noch an Gewicht, daß die Kriminalistik heute mit den Mitteln moderner Technik ungleich viel mehr als früher in der Lage ist, Tatvorgänge zu durchleuchten und Beweiselemente zu konservieren.
Noch einmal: natürlich muß weitaus mehr geschehen, um der Flut krimineller Gewalt Herr zu werden.
Verzeihen Sie eine kleine Abschweifung. Muß denn z. B. wirklich hingenommen werden, daß mit primitiv-raffiniertem Schrifttum von Skandalblättern über Comic Strips bis zu den Billigheften auf niedrigste Instinkte spekuliert, das Gewalt verherrlicht, daß offen oder unterschwellig zu Gewalt angereizt wird?

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Was in dieser Hinsicht insbesondere auf junge Menschen einfällt, ist gemeingefährlich, und es ist wie Hohn, wenn solche Verfasser und Verleger sich zum Schutze ihres schmutzigen Geschäfts auf die Grundrechte berufen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wer einen zuverlässigen Eindruck von diesem Bereich gewinnen will, braucht sich nur mit den Erfahrungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften vertraut zu machen.
Dieser Hinweis muß genügen; aber ich meine, es könnte nicht schaden, wenn sich der Bundestag einmal mit diesem Thema ausführlich und gründlich befassen würde. Es wäre sogar ein Kapitel im Bericht zur Lage der Nation in diesem Teil Deutschlands wert. Letzten Endes sind doch Existenz und Zukunft eines Volkes entscheidend auch von seiner Moral abhängig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Aber nun zurück zur Verjährungsfrage. Für die Verjährung wird argumentiert, sie sei feste deutsche Rechtstradition, auch für Mord. Nun war die deutsche Rechtslage, zumindest bis vor hundert Jahren, ohnehin recht vielfältig. Aber wichtiger ist das Ausmaß und die Brutalität der buchstäblich mörderischen Wirklichkeit, die wir in den letzten 50 Jahren haben erfahren müssen, durch NS-Verbrechen zuerst, durch die Flut der Gewaltkriminalität neuerdings. Dies alles war vor hundert Jahren, als Verjährung allgemein zu einem strafrechtlichen Prinzip — auch bei Mord — gemacht wurde, in Deutschland nicht vorstellbar. Die Frage stellt sich uns heute von Grund auf neu, sowohl aus der NS-Zeit als auch aus der heutigen Gewaltkriminalität. Bei den Angehörigen der Opfer, der NS-Opfer und ihren Landsleuten, würde die Berufung auf deutsche Rechtstradition — das ist jedenfalls meine Überzeugung und mein Wissen — die Frage hervorrufen, wo denn die deutsche Rechtstradition damals von 1933 bis 1945 war,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)

von der Röhm-Affäre bis Auschwitz. Darf ich die Blicke einen Augenblick zurücklenken auf die Röhm-Affäre? Sie war eine Auseinandersetzung innerhalb der NSDAP, aber das war sie nicht nur. Die Gelegenheit wurde benutzt — und zynisch wurde es sofort zugegeben —, um gleichzeitig mit alten politischen Feinden abzurechnen. Ich nenne nur drei Namen: den bayerischen Staatskommissar von Kahr, den Ministerialdirektor Erich Klausener und den General von Schleicher, dessen Frau gleich mit umgebracht wurde.
Ich erinnere mich noch haargenau an meine und meiner Freunde Gedanken und Empfindungen, als nach der Mordserie des 30. Juni — es waren ja drei Tage: 30. Juni, 1. Juli, 2. Juli — im Reichsgesetzblatt eine Verordnung erschien, die dieses Geschehen nachträglich in. aller Form für — so wörtlich — Rechtens erklärte. Diese Verordnung war noch unterschrieben von einem deutschen Reichsjustizminister, der übrigens nicht einmal erklärter Nationalsozialist war. Nein, ich fürchte, im Bereich der NS-Morde kann man eine Verjährung, eine Strafverfolgung noch unbekannter, noch nicht erfaßter Täter mit der deutschen Rechtstradition nicht begründen. In der Welt würde das nicht verstanden.
Ich will den menschlichen Kern dieses Komplexes an einem Gegenwartsbeispiel, am Terroristenmord, noch deutlicher machen. Denken wir einen Augenblick an die Opfer der Botschaftsangehörigen in Stockholm, an den Lufthansa-Kapitän Jürgen Schumann und an Hanns Martin Schleyer. Die Terrori-



Dr. Gradl
sten hatten diese Opfer lebend in ihre Gewalt gebracht. Komplizen des Terrors sollten freigepreßt werden. Ein Nachgeben, so war zu befürchten, hätte die Terroristen zu einer nicht endenden Kette politischer Erpressungen und Morde verleiten, ja herausfordern können. So mußte zum Schutz der Gesamtheit der Bürger und aus Gründen der Staatsräson die Geisel in der Gefahr des Äußersten bleiben.
Diejenigen, die damals im Krisenstab waren, werden diese Stunden sicherlich nie vergessen. Leben ging dann verloren. Das mußte den Opfern also zugemutet werden, und mit den Opfern mußten die Angehörigen tagelang, im Fall Schleyer sogar wochenlang die Qual, die Todesangst mitleben, mitleiden. Das ist die neue Dimension Mord. Sie stellt sich übrigens in der finanziellen Erpressung durch Entführung für die Opfer und ihre Angehörigen gar nicht anders dar. Ich frage: Sollen solche Verbrechen nach Zeitablauf wirklich verfolgungsfrei bleiben? Kann man das den von solchem Leid getroffenen Angehörigen überhaupt zumuten? Ich meine nein.
Aber nun zu dem anderen Bereich, zum Thema NS-Mord. Diese mörderischen Verbrechen der NS-Zeit sind — ich sagte es bereits — Verbrechen einer vergangenen Periode, und sie gehören einem System an, daß wir alle niemals wieder aufleben lassen wollen, unter welcher Verkleidung, Farbe, Ideologie auch immer. Aber diese Verbrechen sind noch nicht in die Vergangenheit, in die Geschichte abgesunken. Sie sind in Millionen Angehörigen und Millionen Opfern und ihren Völkern noch immer sehr lebendig. Das Geschehen war nach Art und Umfang eben so ungeheuerlich, daß manche unserer Landsleute es auch heute noch nicht wahrhaben wollen.
Wer von uns könnte den Wunsch nicht verstehen, es sollte endlich Schluß sein damit, das Schreckliche immer wieder wachzurufen, zumal doch eine ganze Generation nachgewachsen ist, die persönlich überhaupt nichts mit den Verbrechen zu tun hat! Wer heute nicht älter als 50 bis 55 Jahre ist, kann persönlich gar nicht an den Verbrechen beteiligt gewesen sein. Aber wir alle, ob jung oder alt, können nicht aus der Geschichte unseres Volkes aussteigen.

(Josten [CDU/CSU]: So ist es!)

Aus unserem Volk ist dieses Entsetzliche hervorgekrochen, sind die Anführer, die Täter und die Verführten gekommen. So sind wir alle mit in der Haft. Der Ruf unseres Volkes, der so schrecklich Schaden genommen hat, ist auch der Ruf eines jeden von uns, jedenfalls für die Welt. Der einzelne mag sich frei wissen von Schuld; an der Gesamthaftung ändert das nichts.
Es ist wahr: Auch Deutsche haben Widerstand geleistet. Wir wollen es nicht verschweigen, wir dürfen es gar nicht verschweigen. Sie haben sich gegen Gleichschaltung gewehrt und behauptet, haben Opfer an Freiheit und Leben bringen müssen, haben unter Gefahr bedrängten Mitbürgern zu helfen versucht. Dies alles ist in großer Zahl geschehen.
Aber die Gegenrechnung ist zu ungeheuerlich: die Zahl der jüdischen Mitbürger und die Zahl der Angehörigen anderer Völker, die Opfer des NS-Mordes geworden sind. Vergessen wir doch nicht: Die meisten Länder Europas standen unter deutscher Besatzung, und die mordenden Aktivitäten der NS-Apparatur folgten nach. Ihre Perfektion reichte überall hin, nicht selten begleitet von persönlichem Sadismus.
So müssen wir tragen, daß es noch immer Vorbehalte gegen uns Deutsche gibt, zumal in Europa, in Ost und in West. So müssen wir respektieren, daß es für die Angehörigen der Opfer und für die Be-. troffenen ein unerträglicher Gedanke ist, daß bisher nicht erfaßte Mörder in Zukunft, nach 1979, unbehelligt bleiben könnten, nur weil sie sich lange genug unerkannt verborgen halten konnten.
Aber nun wird gefragt: Bringt man nach mehr als dreieinhalb Jahrzehnten mit einer Aufhebung der Verjährung unsere Gerichte nicht in eine unmögliche, ja unzumutbare Lage? Der zur Zeit in Düsseldorf laufende Majdanek-Prozeß z. B. zeigt die Problematik in allen Hinsichten. Das Erinnerungsvermögen der Betroffenen und der Zeugen wird immer unsicherer, das Erkennen und Aufhellen der Tatbestände immer schwieriger. Aber nun bleiben die Gerichte ohnehin in dieser Lage; denn gegen nicht gefaßte, aber bekannte Tatverdächtige kann der Ablauf der Verjährungsfrist unterbrochen werden. Heute schon laufen Verfahren bis über das Jahr 2000 hinaus, theoretisch jedenfalls.
Trotzdem: Der Einwand der Beweisschwierigkeit muß auf jeden Fall ernst genommen werden. Oberstaatsanwalt Rückerl — ich darf ihn in diesem Zusammenhang noch einmal zitieren — schließt seine Dokumentation mit der Feststellung ab, daß die Chancen, einen erst nach dem 31. Dezember 1979 entdeckten NS-Täter auf die Anklagebank zu bringen, wegen des Alters der Beschuldigten, wegen zunehmender Ermittlungs- und Beweisschwierigkeiten und relativ langer Verfahrensdauer „nur noch äußerst gering" sind. Wahrscheinlich hat er recht. Es sind eben dreieinhalb Jahrzehnte und mehr vergangen. Aber wir, die wir gegen die Verjährung sind, meinen, daß dies kein durchschlagendes Argument gegen die Aufhebung der Verjährung ist.
Entscheidend ist heute nicht die niedrige Zahl der den Gerichten möglichen Verurteilungen im Verhältnis zu der Zahl der anstehenden oder noch einzuleitenden Verfahren. Entscheidend ist denen, die den Opfern nahestehen, so glaube ich zu wissen, heute nicht so sehr die prozessuale Ergiebigkeit solcher Verfahren. Entscheidend ist vielmehr — darin müssen wir mit ihnen übereinstimmen —, das Geschehene im einzelnen zu ermitteln, klarzulegen und auszusprechen, solange das noch möglich ist. Entscheidend ist — lassen Sie es mich so sagen —, daß Leid und Opfer der Toten, sofern immer möglich, nicht der Anonymität des Massensterbens überlassen bleiben und nicht in den Millionenzahlen untergehen dürfen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD und der FDP)




Dr. Gradl
Auch diese Toten haben Anspruch auf die Würde der Person, auf die Verdeutlichung und Kennzeichnung dessen, was mit ihnen ganz persönlich geschehen ist. Auch so betrachtet, sollten die Tatverdächtigen so lange verfolgt werden, bis der unaufhaltsame Gang der Zeit ohnehin Einhalt gebietet.
Lassen Sie mich zum Schluß noch dies sagen: Aus unserer Bevölkerung wird auch gefragt, warum nur von dem gesprochen wird, was wir Deutsche angerichtet haben, nicht aber von dem, was andere uns Deutschen angetan haben. Die Frage kann nicht damit erledigt sein, daß Deutschland den Krieg begonnen hat und daß deutsche Truppen zuerst einmarschiert sind, so wahr das ist. Man kann nicht Verbrechen gegen Verbrechen aufrechnen wie die Aktiva und Passiva einer Bilanz.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Jede Seite muß das, was sie gefehlt und verbrochen hat, für sich bewältigen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir Deutsche beweisen vor uns selbst und kommenden Generationen mit dem Nein zur Verjährung der NS-Verbrechen unseren Willen, die zwölf schlimmen Jahre unserer Geschichte bis in die äußersten Winkel hinein aufzuhellen. . .

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Wir zeigen damit auch unseren jüngeren Generationen, die solche Schrecklichkeiten nicht unmittelbar durchleben mußten, wohin ideologische Verranntheit, politischer Fanatismus und Haß gegen Andersdenkende führen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Gerade indem wir selber mit uns unnachsichtig ins Gericht gehen, legitimieren wir uns aber auch zu dem Verlangen, daß auch das Unrecht, das von anderen uns angetan worden ist, respektiert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das heißt, daß die mehr als 21 Millionen toten und vermißten Deutschen von der Welt zur Kenntnis genommen werden, die Opfer der Drangsalierungen und Vertreibungen in Ostdeutschland, in der Tschechoslowakei, in Ost- und Südosteuropa geworden sind. Man möge sie dort, wo ihnen dies noch bei und nach Kriegsende angetan worden ist, wenigstens nicht verleugnen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Verehrte Kollegen, die volle Aufhebung der Verjährbarkeit von Mord ist von der Vergangenheit her letztlich ein Akt moralisch-politischer Selbstreinigung unseres Volkes. Auf die Zukunft hin ist die Aufhebung, d. h. die unbegrenzte Strafverfolgung, eine vorbeugend abschreckende Warnung für jeden, der auch nur mit dem Gedanken eines mörderischen Verbrechens spielt.
In diesem Sinne bitten wir unseren Antrag zu verstehen. In diesem Sinne bitten wir um Unterstützung für die generelle Aufhebung der Verjährung von Mord.

(Anhaltender Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814500200
Das Wort zur Begründung des Antrags auf Drucksache 8/2653 hat Herr Abgeordneter Dr. Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID0814500300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 31. Dezember 1979 verjähren die Mordtaten, die in Ausübung oder unter Ausnutzung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begangen worden sind, sofern die Verjährung nicht unterbrochen worden ist. Nach allen vorliegenden Informationen ist die Unterbrechung der Verjährung gegen alle Mordverdächtigen herbeigeführt worden, die der Person nach bekannt sind. Die großen Massenvernichtungsaktionen des NS-Regimes dürften den Strafverfolgungsbehörden bekannt sein, viele der kleineren Vernichtungsaktionen ebenfalls, wahrscheinlich aber nicht alle. Davon, daß die Strafverfolgungsbehörden alle Mordtaten der NS-Zeit kennen, dürfen wir aber keineswegs ausgehen.
Schließlich dürfen wir nicht annehmen, daß die Strafverfolgungsbehörden alle diejenigen kennen, die als Täter in den bekannten Mordtaten beteiligt waren.
Das bedeutet: Wenn wir den Eintritt der Verjährung nicht verhindern, nehmen wir in Kauf, daß NS-Mörder strafrechtlich nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können, daß sie ohne Furcht vor Strafe unter uns leben und ihren Geschäften nachgehen dürfen. Wir müssen damit rechnen, daß sie und andere ihre Taten relativieren, entschuldigen und rechtfertigen. Wir müssen sogar damit rechnen, daß das Leben und die Taten dieser Mörder vermarktet werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie immer der Nationalsozialismus zu definieren sein mag — das, was ihn vor allem anderen kennzeichnete, ist, daß er die Wertbezogenheit staatlichen und politischen Handelns beseitigte, daß er als Maßstab für Politik nicht ethische Kategorien ansah, daß er die Orientierung der Politik auf Gerechtigkeit und moralische Prinzipien abgestreift hatte und statt dessen die Politik zu einer bloßen Machtfrage degradierte.
Von daher war es nur folgerichtig und unvermeidbar, daß der Einzelmensch, seine Würde und seine Lebensbedingungen im Nationalsozialismus zu einem bloßen Mittel der Politik, zu ihrem Objekt wurden. Die Versklavung von Menschen und die Vernichtung von „lebensunwertem" Leben, dessen, was die damaligen Machthaber in ihrer Verblendung und Verrohung als lebensunwertes Leben glaubten ansehen zu dürfen, waren keine Auswüchse und Verwilderungen des Nationalsozialismus. Im Gegenteil, gerade darin kommen sein Wesen und sein



Dr. Emmerlich
Charakter zum Ausdruck. Der politische und geistige Terror, die Gestapo, der SD, die sogenannte Euthanasie, die Konzentrationslager, die Einsatzgruppen und die Vernichtungslager sind keine Randerscheinungen des Nazisystems.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Sie sind das, was das Nazisystem schlechthin charakterisiert. Der Nationalsozialismus lief also auf die Beseitigung der zivilisatorischen und kulturellen Bedingungen hinaus, die das Zusammenleben der Menschen erst ermöglichen. Die abgrundtiefe Menschenverachtung und der sadistische Zynismus sind ein Rückfall in die Barbarei und infolgedessen ein verbrecherischer Anschlag auf den Menschen als Individuum und auf die Menschheit.
Deshalb — und nicht nur weil er sich im Zweiten Weltkrieg mit militärischer Gewalt über große Teile Europas ausbreiten konnte — geht der Nationalsozialismus nicht allein das deutsche Volk an, sondern alle Menschen und alle Völker. Der Nationalsozialismus ist eine Gefahr für die gesamte Menschheit. Der Kampf gegen den Nationalsozialismus und ihm gleichartige Gewaltsysteme ist daher eine Sache aller Menschen und aller Völker.
Wir Deutsche tragen in diesem Kampf eine besondere Verantwortung, weil der Nationalsozialismus in unserem Lande entstanden und an die Macht gekommen ist, sich der Machtmittel des deutschen Staates bedient und seine Verbrechen gegen die Menschheit in unserem Namen begangen hat. Unsere Verantwortung ist auch deshalb eine besondere, weil der Nationalsozialismus jedenfalls in den Anfangsjahren seiner Herrschaft Zustimmung bei großen Teilen unseres Volkes gefunden hatte, wenngleich diese Zustimmung zum größten Teil darauf beruhte, daß sein verbrecherischer Charakter von den meisten verdrängt oder verkannt wurde.
Das Bekenntnis zu dieser unserer besonderen Verantwortung, das keineswegs eine Bejahung der These von der Kollektivschuld war, sondern wesentliche Voraussetzung dafür, daß sie abgewehrt und widerlegt werden konnte, und die Übernahme der sich aus dieser besonderen Verantwortung ergebenden Verpflichtungen, das war es, was nach dem Ende des Nationalsozialismus Politik für Deutschland durch Deutsche wieder ermöglicht hat. Das Ja zu unserer Verantwortung war und ist die moralische und die politische Voraussetzung für deutsche Politik.
Von dieser Einsicht hat sich das deutsche Volk in seiner übergroßen Mehrheit in der Nachkriegszeit leiten lassen. Diese Einsicht hat die politisch Verantwortlichen im Parlamentarischen Rat, im Deutschen Bundestag, in den Parlamenten der Länder und Kommunen getragen. Diese Einsicht hat das Handeln aller deutschen Bundesregierungen und aller Landesregierungen bis heute bestimmt.
Neben diesen allgemeinen Erwägungen, die für unsere Beratungen und unsere Entscheidung der Hintergrund, und die Grundlage sein müssen, halte ich bei dieser erneuten Verjährungsdebatte vor dem Deutschen Bundestag und damit vor der Welt drei Feststellungen für geboten.
Erstens. Das deutsche Volk hat sich vom Nationalsozialismus entschieden abgewandt. Es verabscheut ihn und seine Verbrechen in gleicher Weise wie andere Völker. Diese Feststellung wird dadurch nicht aufgehoben oder relativiert, daß es — wie in manchem anderen Land — auch bei uns einige neofaschistische Kleinstgruppen gibt. Wir unterschätzen diese Gruppierungen keineswegs, zumal sich in ihnen in der letzten Zeit eine zunehmende Bereitschaft zur Militanz und Gewalttätigkeit breitmacht. Wir sind entschlossen, mit allen uns zur Verfügung stehenden politischen und auch rechtlichen Mitteln zu verhindern, daß diese neonazistischen Sektierer Einfluß in der Bundesrepublik gewinnen. Wir wissen uns darin mit allen demokratischen Parteien einig, wir wissen auch, daß dabei die Bürger unseres Landes mit überwältigender Mehrheit hinter uns stehen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Zweitens. Das deutsche Volk hat aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus die richtigen Folgerungen gezogen. Es hat sich, soweit dazu die Möglichkeit bestand,. für Freiheit und Demokratie entschieden. Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland manifestiert sich diese Entscheidung für Freiheit und Demokratie. Der erste Artikel des Grundgesetzes lautet in seinen ersten beiden Absätzen:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und der Menschenwürde, die Menschenrechte und die Unverbrüchlichkeit des 'Rechts sind 'die tragenden Grundlagen unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Diese freiheitliche und demokratische Ordnung ist heute in unserem Land, in unserem Volk fest verankert und zum unbestrittenen Fundament unseres Gemeinwesens geworden.
Drittens. Abkehr vom Nationalsozialismus hat für uns Deutsche in der Bundesrepublik immer bedeutet, alles zu tun, damit ein menschenfeindlicher Unrechts- und Terrorstaat wie der des Nationalsozialismus sich nicht wiederholen kann, und hat zugleich auch — im Rahmen des Menschenmöglichen — Wiedergutmachung des Unrechts bedeutet, das der Nationalsozialismus angerichtet hat.
Herr Kollege Mertes und andere haben in der Diskussion über die Verjährung darauf hingewiesen, die Entscheidung des Deutschen Bundestages im Jahre 1979 müsse in der Kontinuität der Rechtspolitik unseres Landes stehen. Dabei ist insbesondere auf die Beschlüsse der Jahre 1965 und 1969 Bezug genommen worden. Ich nehme diese Mahnung gern auf. Nach meiner Auffassung muß die Entscheidung des Jahres 1979 nicht nur die Kontinuität der Rechtspolitik, sondern die Kontinuität der deut-



Dr. Emmerlich
schen Nachkriegspolitik insgesamt wahren und sich in sie einfügen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das läßt sich nicht trennen, Herr Kollege!)

Das heißt, wir müssen eine Politik fortsetzen, deren Fundamente die Abkehr vom Nationalsozialismus und die Wiedergutmachung, die Begründung einer freiheitlich-demokratischen Ordnung und der Respekt vor den unveräußerlichen Menschenrechten und vor der Unverbrüchlichkeit des Rechts gewesen sind und bleiben müssen.
Diese Politik der Jahre nach 1945 ware unglaubwürdig gewesen, wenn sie über die Verbrechen des Nationalsozialismus hinweggesehen hätte, wenn sie sie ignoriert oder verdrängt hätte, wenn nicht erkannt worden wäre, daß die Ahndung dieser Verbrechen eine der Voraussetzungen und Bedingungen für deutsche Politik nach Hitler gewesen ist.
Diese Einsicht war es, die die SPD-Fraktion schon 1960 und 1965 sowie 1969 veranlaßt hat, der damals jeweils drohenden Verjährung schwerster Verbrechen aus der NS-Zeit entgegenzuwirken. Von dieser Einsicht, sehr geehrter Herr Kollege Mertes, hat sich der Deutsche Bundestag 1965 und 1969 leiten lassen, als er dafür sorgte, daß es nicht zu einer Verjährung der Mordtaten der NS-Zeit gekommen ist. Diese Einsicht müssen wir zur Grundlage der Entscheidung machen, die wir in diesem Jahr zu treffen haben.
Wir müssen dabei auch an den präjudizierenden Charakter unserer Entscheidung denken. Mörder dürfen nicht darauf spekulieren können, daß sie nach Ablauf einer Verjährungszeit strafrechtlich nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können. Das gilt insbesondere für solche Mordtaten, die in Ausübung oder unter Ausnutzung staatlicher Gewalt- und Terrorherrschaft begangen werden. Auch dadurch leisten wir einen, wie ich finde, unverzichtbaren Beitrag dazu, Barrieren zu errichten, damit sich eine. Gewalt- und Terrorherrschaft wie die des Nationalsozialismus nicht wiederholt.
Wenn ich, meine sehr geehrten Damen und Herren, die bisherige Diskussion richtig verstanden habe, werden die Bedeutung und das Gewicht dieser Argumente von niemandem im Deutschen Bundestag verkannt. Das war auch 1960, 1965 und 1969 schon so.
Daß viele Abgeordnete damals gleichwohl einer Änderung der Verjährungsvorschriften nicht zuzustimmen vermochten, lag im wesentlichen daran, daß sie glaubten, einer Änderung der Verjährungsfristen für bereits begangene Straftaten stünden verfassungsrechtliche Bedenken, insbesondere das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 des Grundgesetzes entgegen.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : 1969 war das nicht mehr so!)

Nachdem das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, daß die Verlängerung oder Aufhebung noch nicht abgelaufener Verjährungsfristen bei Verbrechen, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, nicht gegen das Rückwirkungsverbot und auch nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip und den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, sollten diese Argumente für unsere Entscheidung nicht länger bestimmend sein.
Bleibt der Gesichtspunkt der Beweisnot. Diese, wer wollte das bestreiten, ist in sehr vielen Fällen gegeben — übrigens nicht erst seit gestern und heute, sondern seit Beginn der sogenannten NS-Prozesse und auch nicht nur in diesen, sondern in sehr vielen Strafverfahren. Richtig ist auch, daß die Beweisschwierigkeiten mit dem Zeitablauf in der Regel zunehmen und infolgedessen der Anteil der Fälle, in denen es mangels Beweises zu keiner Verurteilung kommt, kontinuierlich ansteigt. Das Argument der Beweisnot trägt aber schon deshalb nicht, weil zur Zeit noch gegen rund 3 000 Personen Strafverfahren laufen und über den 31. Dezember 1979 hinaus durchgeführt werden, weil in diesen Verfahren die Verjährung unterbrochen worden ist. Die Zahl der Strafverfahren, die erst durch eine Aufhebung der Verjährung für Mord eingeleitet und durchgeführt werden könnten, wird dagegen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ganz erheblich geringer sein.
Konsequent zu Ende gedacht müßte das Argument von der Beweisnot auf die Forderung nach einer Amnestierung der noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten hinauslaufen. Eine solche Forderung ist im Deutschen Bundestag bisher nicht erhoben worden — zu Recht; denn eine solche Amnestie käme einem Generalpardon sehr nahe. Sie würde jedenfalls zur Trägerrakete für die uns allen sattsam bekannten Versuche zur Leugnung, Relativierung, Entschuldigung und Rechtfertigung der Verbrechen des Nationalsozialismus werden.
Herr Carl-Friedrich von Weizsäcker hat im Rahmen einer Veranstaltung zur Woche der Brüderlichkeit unter Bezug auf die Verjährungsdebatte darauf hingewiesen, daß Gerechtigkeit ohne Gnade keinen Bestand habe. Gewiß ist das richtig und gewiß verdient diese alte Rechtsweisheit generell Beachtung. Gnade kann vor allem bei Mord aber erst dann in Betracht kommen, wenn der Gerechtigkeit wenigstens dadurch Genüge getan ist, daß der Mörder vor Gericht gestellt und seine Tat abgeurteilt worden ist.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zu den Morden der NS-Zeit: Bei ihnen handelt es sich keineswegs um Kriegsverbrechen, um solche strafbaren Handlungen also, die im Kampf zur Niederwerfung des Gegners und zur Erringung des Sieges begangen worden sind, im Gefolge von Kriegshandlungen, aus Empörung oder aus Rache z. B. für Unterdrückung und Drangsalierung. Die Morde im Zusammenhang mit dem, was Hitler zynisch als
„Röhm-Putsch" zu bezeichnen pflegte — Herr Kollege Gradl hat dankenswerterweise insbesondere .darauf hingewiesen; ich erinnere nochmals an die Ermordung des Generals Schleicher und seiner Frau, des Generals von Bredow, des Führers der Katholischen. Aktion Ministerialdirektor Klausener, und



Dr. Emmerlich
des früheren bayerischen Ministerpräsidenten von Kahr —, die Morde der sogenannten Euthanasie, die Verbrechen und die Morde in den Konzentrationslagern, der Massenmord in den Vernichtungslagern, die Morde der Einsatzgruppen insbesondere in Polen und in der UdSSR — das alles hat mit Kriegsverbrechen nicht das geringste zu tun.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Theodor Heuss hat gesagt, diejenigen, die im Zusammenhang mit den Verbrechen des NS-Staates glauben, sich damit begnügen zu können, auf andere zu zeigen, seien die moralisch Anspruchslosen. Ich bin sicher — Ihr Beifall zu den Ausführungen, die Herr Gradl zu diesem Punkt gemacht hat, beweist das —, daß im Deutschen Bundestag niemand ist, der sich an die Seite dieser Aufrechner stellt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Problem der Morde aus der NS-Zeit wirft zugleich auch die Frage der Verjährung von Mord überhaupt auf. Das ist auch 1965 und 1969 gesehen worden und hat dazu geführt, daß die SPD-Fraktion und Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion schon 1965 die generelle Aufhebung der Verjährung von Mord vorgeschlagen haben. Die Abgeordneten, die den Ihnen vorliegenden Entwurf eines 18. Strafrechtsänderungsgesetzes unterzeichnet und eingebracht haben, sind nach neuerlicher sorgfältiger Abwägung des Für und Wider zu dem gleichen Ergebnis gelangt. Das Leben ist das höchste Gut des Menschen. Nach unseren jüngsten geschichtlichen Erfahrungen, auch nach den Erfahrungen unserer Tage ist das menschliche Leben zunehmend von der vorsätzlichen Vernichtung durch Menschen bedroht. Es ist daher geboten, den strafrechtlichen Schutz des Lebens dadurch zu verstärken, daß Mord nicht verjährt. Mord ist nicht nur die vorsätzliche Vernichtung menschlichen Lebens; hinzu treten muß auch, daß die Tötung entweder aus besonders niedrigen Beweggründen oder auf besonders verabscheuungswürdige Art und Weise geschieht. Der außerordentlichen Schwere des Unrechtsgehalts und der Schuld bei einem Mord entspricht die außerordentliche Strafandrohung: lebenslange Freiheitsstrafe. Dem entspricht es auch, daß die Vollstreckung einer solchen Strafe nicht verjährt. Zu der Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe und zu der Unverjährbarkeit der Strafvollstreckung bei Mord steht im Widerspruch, daß die Strafverfolgung von Mordtaten nach geltendem Recht nur zeitlich begrenzt möglich ist, nämlich 30 Jahre lang. Dieser Widerspruch wird dadurch verschärft, daß bei Mordverdächtigen, die der Person nach bekannt sind, die Strafverfolgungsverjährung unterbrochen wird — mit der Folge, daß die Strafverfolgung faktisch so lange durchgeführt werden kann, wie der Verdächtige lebt. Im Ergebnis läuft dies darauf hinaus, daß derjenige, der seine Tat besonders gut zu verschleiern versteht, dafür mit der Strafverfolgungsverjährung belohnt wird, während gegen andere die Strafverfolgung bis an das Ende ihrer Tage durchgeführt wird.
Mit der Aufhebung der Verjährung für Mord würde — um einem noch immer weit verbreiteten Irrtum entgegenzutreten — das Rechtsinstitut der Verjährung insgesamt nicht in Frage gestellt. Die strafrechtliche Verjährung an sich ist aus mehreren Gründen unverzichtbar, z. B. weil auch bei strafbaren Handlungen im allgemeinen ein Ausgleich für den gestörten Rechtsfrieden dadurch eintreten kann, daß die Straftat lange Zeit zurückliegt, weil die Strafe an Sinn verliert, je länger die Tat zurückliegt, und weil der staatliche Strafanspruch überdehnt werden würde, wenn er angesichts des das Strafrecht beherrschenden Legalitätsprinzips von den Strafverfolgungsbehörden zeitlich unbegrenzt durchgesetzt werden soll. Ist somit das Rechtsinstitut der Verjährung für das Strafrecht unverzichtbar, so folgt daraus nicht, daß jede Straftat verjähren muß. Die strafrechtlichen Verjährungsfristen laufen je nach Schwere der Tat von drei bis zu dreißig Jahren. Schon aus dieser Staffelung der Verjährungsfristen folgt, daß es zulässig ist, die Verjährung von Straftaten ganz außerordentlichen Unrechts- und Schuldgehalts gänzlich auszuschließen. Diese Notwendigkeit des Ausschlusses der Verjährung ist bisher bei Verbrechen nach. § 220 a StGB bejaht worden, der bekanntlich nicht nur die Tötung von Mitgliedern einer national, rassisch, religiös oder durch ihr Volkstum bestimmten Gruppe, sondern auch andere gegen solche Gruppen gerichteten Verhaltensweisen umfaßt, z. B. die Geburtenverhinderung.
Es ist richtig, daß die Verjährung auch den Sinn hat zu verhindern, daß Bürger lange Zeit nach einer Straftat mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren überzogen werden können. Das hat allerdings Fehlurteile zu Lasten des Beschuldigten infolge des Grundsatzes in dubio pro reo nicht zur Folge. Damit möchte ich einem weiteren Irrtum entgegenwirken.
Bei Morden kommt neben dem zunächst genannten relevanten Gesichtspunkt dem für das Strafrecht entscheidenden anderen Ansatz, nämlich der Notwendigkeit der Verfolgung strafbarer Handlungen, ausschlaggebende Bedeutung zu. Rechtsfrieden und Rechtssicherheit nehmen in schwer erträglicher Weise Schaden, wenn Mörder allein wegen der seit ihrer Tat verstrichenen Zeit nicht mehr vor Gericht gestellt werden können und straflos bleiben.
Die Annahme, für die Verjährung von Mord gebe es in unserem Land eine gesicherte Rechtstradition, erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht stichhaltig. Bis zum 19. Jahrhundert verjährte Mord nicht. Erst das Deutsche Reichsstrafgesetzbuch von 1870 hat die Strafverfolgungsverjährung für Mord generell eingeführt. Dabei muß aber beachtet werden, daß der Mordtatbestand des Reichsstrafgesetzbuchs nicht nur die Tötungsdelikte umfaßte, die unter den heutigen, erst seit 1941 existierenden Mordtatbestand fallen, sondern auch solche, die nach heutigem Recht als Totschlag zu qualifizieren sind.
Zu Unrecht wird eingewandt, die Unverjährbarkeit von Mord stehe im Widerspruch zu den auf Resozialisierung des Täters ausgerichteten Zieles des modernen Strafrechts. Die Unterzeichner des



Dr. Emmerlich
Ihnen vorliegenden Gesetzentwurfs bekennen sich nachdrücklich zum Resozialisierungsstrafrecht.

(Beifall bei der SPD)

Die Befürworter des Resozialisierungsstrafrechts sind jedoch nie dem Trugschluß verfallen, daß die Spezialprävention, die Sozialisation und die Resozialisierung der ausschließliche Strafzweck sind. Das Strafrecht hat selbstverständlich auch eine generalpräventive Funktion. Darüber hinaus stellen die Verurteilung und die Strafvollstreckung einen unverzichtbaren Ausgleich für den in einer Straftat liegenden schweren Rechtsbruch und für die infolgedessen eingetretene schwere Störung des Rechtsfriedens dar. Selbst wenn bei Mördern die Notwendigkeit oder die Möglichkeit einer Resozialisierung nicht bestehen sollte, so darf das keineswegs dazu führen, daß der Mörder in einem solchen Fall nicht bestraft wird.
Hier und da wird vorgebracht, zwischen der Aufhebung der Verjährbarkeit für Mord und der Absicht, auch bei lebenslangen Freiheitsstrafen nach langjähriger Strafverbüßung die Strafaussetzung zur Bewährung zuzulassen, bestehe ein Widerspruch.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : In der Tat!)

Das trifft nicht zu.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Doch!)

Bei der Mordverjährung handelt es sich um die Frage, ob ein Mörder, wenn die Tat sehr lange zurückliegt, noch vor Gericht gestellt und bestraft werden kann. Bei lebenslangen Freiheitsstrafen soll nach Verurteilung und nach langjähriger Strafverbüßung nicht länger im Gnadenwege, sondern durch unabhängige Gerichte geprüft werden, ob eine Strafaussetzung mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsentwicklung des Verurteilten verantwortet werden kann. Die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung bei lebenslangen Freiheitsstrafen ist eine dem Resozialisierungsgedanken entsprechende Ergänzung unseres Strafrechts und wird die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht voll befriedigende Gnadenpraxis weitgehend ablösen.
Es trifft zu, daß die Aufhebung der Verjährung für Mord wie .1965 und 1969 im Zusammenhang mit der Diskussion über die Verjährung der Morde der NS-Zeit vorgeschlagen wird. Das ist keineswegs ein Umstand, der die Initiatoren der Gesetzesvorlage oder ihr Vorhaben ins Zwielicht zu bringen vermöchte. In der Politik ist es oft so, daß erst ein besonderer Anlaß die Notwendigkeit einer allgemeinen Maßnahme ins Bewußtsein hebt und erst dadurch die Chance eröffnet wird, sie zu realisieren. Die Behauptung, die generelle Aufhebung der Verjährung für Mord werde von uns nur angestrebt, um die Nichtverjährung der sogenannten NS-Morde zu erreichen, ist eine ungerechtfertigte und, wie ich meine, nicht faire Unterstellung.
Die Beratung und die Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Verjährung werden vom deutschen Volk, von den Völkern, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben, von den überlebenden Opfern des Naziterrors, ihren Angehörigen und
ihren Freunden und von weiten Teilen der Weltöffentlichkeit mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Wir alle sind uns dessen bewußt. Wir wissen, daß die Entscheidung, vor der wir stehen, schwer und von erheblicher Tragweite ist. Alle drei Fraktionen des Deutschen Bundestages stimmen darin überein, daß es sich um eine Entscheidung handelt, bei der das Gewissen eines jeden einzelnen Abgeordneten den Ausschlag geben muß. So sehr ich um Unterstützung unserer Gesetzesinitiative werbe und so sehr ich für sie eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag erhoffe, so sehr liegt mir daran, schon heute zu erklären, daß jede vom Gewissen getragene Entscheidung zu respektieren ist.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Um etwaigen Mißverständnissen deutlich entgegenzutreten, erkläre ich auch und wiederholend: Bei unserer Entscheidung geht es nicht um ein Ja oder ein Nein zum Nationalsozialismus, geht es nicht darum, ob seine Verbrechen zu verurteilen sind oder nicht. In der unzweideutigen Ablehnung des Nationalsozialismus und im Abscheu vor seinen Verbrechen stimmte der Deutsche Bundestag stets überein. Darin ist er sich auch heute einig.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Lassen Sie mich, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen mit den Sätzen schließen, mit denen Adolf Arndt am 10. März 1965 seine Rede beendet hat. Ich zitiere:
Was haben wir zu tun? Wir haben nicht nur daran zu denken, daß der Gerechtigkeit wegen, auf die wir uns berufen, die überführten Mörder abgeurteilt werden sollen, sondern wir haben auch den Opfern Recht zuteil werden zu lassen, schon allein durch den richterlichen Ausspruch, daß das hier ein Mord war. Schon dieser Ausspruch ist ein Tropfen, ein winziger Tropfen Gerechtigkeit, der doch zu erwarten ist zur Ehre aller derer, die in unbekannten Massengräbern draußen in 'der Welt liegen. Nicht daß wir Jüngstes Gericht spielen wollen; das steht uns nicht zu. Nicht daß es hier eine iustitia triumphans gäbe! Es geht darum, eine sehr schwere ... Last und Bürde auf uns zu nehmen. Es geht darum, daß wir dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, nicht den Rükken kehren, sondern daß wir uns als das zusammenfinden, was wir sein sollen: kleine, demütige Kärrner, Kärrner der Gerechtigkeit, nicht mehr.

(Beifall)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814500400
Ich eröffne nunmehr die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Erhard (Bad Schwalbach).

Benno Erhard (CDU):
Rede ID: ID0814500500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorsätzliche Tötung und Mord sind beides schreckliche Verbrechen. Jeder Mord verlangt nach Sühne und Vergeltung. Der Staat übt durch die Strafe Vergeltung. Voraussetzung dafür aber ist .der Wahrspruch, .das Urteil. Das Datum 31. Dezember 1979



Erhard (Bad Schwalbach)

gibt ins für heute einen Hinweis, worum es heute wirklich geht.
Als die Begleiter von Hanns Martin Schleyer, von Herrn Buback und auch Herr Buback auf offener Straße hingemordet wurden, hat niemand verlangt, die Verfolgungsverjährung für Mord zu ändern. Unsere nationalsozialistische Vergangenheit ist der eigentliche Grund für den Vorschlag, die Verjährungsvorschriften aufzuheben. Das wurde auch in den beiden Vorreden vor mir sehr deutlich.

(Wehner [SPD] : Eine schlimme Unterstellung!)

Wenn es das Europäische Parlament in seiner Entschließung zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord für unerträglich hält, daß Kriegsverbrechen auf Grund der Verjährung ohne Bestrafung bleiben, dann wird hier etwas zum Thema gemacht, was heute nicht Thema ist; denn sogenannte Kriegsverbrechen gab es in mehr oder minder schwerer Form auf allen Seiten und nicht nur bis 045 und nicht nur auf deutscher Seite, aber auch sicher an Deutschen.
Herr Emmerlich meint, Mord, die NS-Tat darf nie verjähren. Wenn ich ihn richtig verstehe, so glaubt er, dies sei auch ein Gebot der Gerechtigkeit. Wir sind uns einig — auch das hat er gesagt — in der Verurteilung aller Mordtaten und selbstverständlich der 'Greueltaten, die in unserem Lande im Namen des Volkes, ja, im Namen des Führers begangen wurden. Auf diesem Hintergrund in dieser breiten Übereinstimmung der Meinungen ist der Streitpunkt das Wort und der Begriff und die Institution Verjährung.
Verjährung der Strafverfolgung ist gemeint. Das hat nichts zu tun mit Vergessen, mit Strich-unter-dieVergangenheit-Ziehen, Verzeihen, Amnestie oder Gnade. Verfolgungsverjährung kennen wir in der Rechtsgeschichte seit dem römischen Kaiserreich. Verfolgungsverjährung im Strafrecht besteht mit unterschiedlichen Fristen je nach der Schwere der Tat. Es ist die Frage gestellt, ob es für Mord beim geltenden Recht bleibt, einer Verjährungsfrist von 30 Jahren. Für nationalsozialistische Verbrechen sind das mindestens 35 Jahre.
Meine Damen und Herren, bisher ist der Deutsche Bundestag jedenfalls der Meinung gewesen, er müsse generell auch für Mord bei der Strafverfolgungsverjährung bleiben. 1953 wurde das in diesem Punkt andere nationalsozialistische Recht, das dem „Führer" nach Belieben die Möglichkeit ließ, alle schweren Verbrechen unbegrenzt oder überhaupt nicht zu verfolgen, aufgehoben und eine Mordverjährung — ich wiederhole: Mordverjährung — von 20 Jahren als feste Grenze bestätigt; 1953 durch den Bundestag! 1960 wurde ein Antrag, schwere NS-
Verbrechen unterhalb der Mordschwelle — die, von denen Herr Gradl sprach — mit einer längeren Verjährungsfrist auszustatten, abgelehnt. 1965 verlängerte der Deutsche Bundestag die Verjährungsfrist praktisch um fünf Jahre für Mord und Teilnahme an Mordhandlungen. 1969 war die große Mehrheit des Bundestages für eine Verlängerung der Frist auf 30 Jahre.
Die vorsätzliche Tötung eines Menschen – wir nennen es Totschlag — unterliegt der 20jährigen Verfolgungsverjährung. Das zerstörte Leben des Opfers ist das gleiche hohe Rechtsgut. Das neue, jetzt geltende Strafgesetzbuch trat erst am 1. Januar 1975 in Kraft. Es enthält die gleichen Verjährungsfristen.
An dem bewährten Institut der Verjährung hat der Deutsche Bundestag nunmehr über 2 1/2 Jahrzehnte festgehalten. Denn die Verfolgungsverjährung dient der Strafrechtspflege, meine Damen und Herren, bewahrt die Strafrechtspflege vor Leerlauf, vor Willkür und Fehlurteilen in beiden Richtungen. Beständigkeit der Rechtssetzung aber ist ein wichtiges Element der Rechtssicherheit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Schon vor 150 Jahren schrieb Unterholzner in seinem zweibändigen Werk über die gesamte Verjährungslehre aus den gemeinen in Deutschland geltenden Rechten:
Es liegt dem Staat daran, daß die peinlichen Gerichte nicht mit fruchtlosen Untersuchungen beschäftigt werden. Auch ist es dem Ansehen der peinlichen Rechtspflege nicht günstig, wenn allzuoft die Untersuchungen mit dem Geständnis endigen, daß man über die Wahrheit nicht ins klare haben kommen können.
Deshalb Verfolgungsverjährung auch für Mord.
Herr Emmerlich will mehr Gerechtigkeit, ich auch. Mehr Wahrheit aber gehört zu mehr Gerechtigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Stimmt es denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß allzuoft Strafverfahren mit dem Geständnis enden, man habe über die Wahrheit nicht ins klare kommen können? Oder ist das nur eine Prognose von damals gewesen? Was lehrt uns denn unsere Erfahrung heute, nicht 1965, nicht 1960, nicht 1969, sondern heute im Jahre 1979? Schauen wir hin! Entgegen einer bemerkenswerten Legendenbildung haben die deutschen Strafgerichte NS- und Mordtaten schon ab 20. November 1945 verfolgt. Bis 1950 wurden von deutschen Strafgerichten gegen 16 120 Verdächtige Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bis Ende 1950 waren bereits 5228 Personen als NS-
Täter verurteilt.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Hört! Hört!)

In der gleichen Zeit haben auf deutschem Boden im Gebiet der Bundesrepublik die amerikanischen, britischen und französischen Militärgerichte 5133 Personen abgeurteilt, davon 668 zum Tode. Nur wenige der Angeklagten waren freigesprochen worden.
Übrigens sind Verurteilte vor deutschen Gerichten vor Inkrafttreten des Grundgesetzes zum Teil auch zum Tode verurteilt worden, und an 12 ist die Todesstrafe vollstreckt worden.
In Frankreich, Belgien, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen und Polen wurden ca. 7960 Deutsche wegen NS- bzw. Kriegsverbrechen abgeurteilt. Auch hier gab es nur wenige Freisprüche.



Erhard (Bad Schwalbach)

Die Verfahren in der Sowjetunion, in Jugoslawien und der Tschechoslowakei muß ich aus diesen Betrachtungen auslassen. Aber dort wurden auch Deutsche, möglicherweise NS-Täter, verurteilt oder hingerichtet.
In der Folgezeit nahmen die Verurteilungen stetig ab. Ab 1965 bis zum 31. Dezember 1977 wurden von deutschen Gerichten noch 317 Personen verurteilt — ich spreche nur von den NS-Tätern —, davon 77 zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Das bedeutet für den Kundigen: also als Mörder.
Im Jahre 1977 endeten die Verfahren mit sieben Verurteilungen, aber bei 2709 Verdächtigen endeten die Verfahren ohne Bestrafung. In der Zeit von 1965 bis Ende 1977 sind Verfahren gegen 33 051 Personen ohne Bestrafung abgeschlossen worden. Die Verurteilungsquote liegt also unter 1 %.
Die Untersuchungen ab 1965 endeten fast durchgängig mit dem Geständnis, daß man über die Wahrheit nicht hat ins klare kommen können. Doch Herr Kollege Emmerlich meint, mehr Gerechtigkeit sei, wenn man das Ganze besehe, auch bei immer weniger Wahrheitsfindung möglich. Ich meine, es sei besser, e i n wahrscheinlich Schuldiger wird nicht mehr verfolgt, als 50 wahrscheinlich Schuldigen wird durch Einstellung des Verfahrens oder Freispruch ein amtlicher Freibrief erteilt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Leider wird die Auffassung verbreitet, als ob die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern begangenen Verbrechen nicht strafrechtlich verfolgt und die Täter nicht zur Verantwortung gezogen worden wären. Es scheint vergessen, daß gegen sogenannte Hauptverantwortliche alliierte Gerichte vorgegangen sind. Es scheint vergessen, daß die amerikanischen Gerichte das erreichbare Personal der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald, Mauthausen, Mittelbau-Dora, Flossenbürg abgeurteilt haben. Es scheint vergessen, daß die britischen Militärgerichte gegen die Angehörigen der Konzentrationslager Auschwitz, Bergen-Belsen, Natzweiler und daß die französischen Militärgerichte gegen das Personal der Lager Neue Bremme und Natzweiler mit allen Nebenlagern Strafverfahren durchgeführt haben. Es scheint vergessen, daß die umfangreichen Ermittlungen dazu führten, daß die von alliierten Gerichten nicht erfaßten Personen vor deutsche Gerichte gestellt wurden und weiterhin vor deutsche Gerichte gestellt werden. Das wird auch nach dem 1. Januar 1980 so sein.
Hat der Film „Holocaust" Neues gebracht? Sind durch diesen Film neue Taten bekanntgeworden, die der Verfolgung bisher vorenthalten waren? Die Antwort kann schlicht lauten: Nein. Das grausige Geschehen in Auschwitz, die fast über ganz Europa organisierte, kontinuierliche Erfassung und Verhaftung jüdischer Menschen, Zigeuner, ihre zielstrebige, fabrikmäßige Vernichtung ist in Urteilen deutscher Gerichte in allen Einzelheiten beschrieben. Es ist seit langem bekannt, wie diese entsetzliche, auf Rassenwahn und blindem Haß beruhende Vernichtungsmaschinerie funktionierte. In echt deutscher Gründlichkeit wurden die einzelnen Menschen wie Sachen
registriert: Jeder, der in die Gaskammern ging, wurde als Ziffer festgehalten. Darüber wurde buchhalterisch exakt berichtet unter dem Decknamen „gesondert untergebracht" oder „Sonderbehandlung".
Die Prozesse vor deutschen Gerichten haben die verschiedenen Vernichtungsmethoden offenbart. Alle nennenswerten Tatkomplexe dieser furchtbaren Zeit des verbrecherischen Geschehens sind erforscht. Soweit Täter bekanntgeworden sind, werden sie auch nach dem 1. Januar 1980 strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, wenn es beim geltenden Recht bleibt, wenn also vom Bundestag keine Aufhebung der Verjährung beschlossen wird.
Aber wie soll ein Gericht nach so langer Zeit den Täter überführen? Der Leiter der zentralen Stelle in Ludwigsburg schrieb kürzlich: „Die Chancen, einen erst nach dem 31. 12. 1979 entdeckten NS-Täter auf die Anklagebank zu bringen, sind jedoch nur äußerst gering", geschweige denn — füge ich hinzu — ihn zu verurteilen.
Herr Emmerlich will mehr Gerechtigkeit. Ist das möglich mit dem Geständnis, man habe über die Wahrheit nicht ins klare kommen können? Das Ansehen der deutschen Justiz nimmt Schaden, meine Damen und Herren, „deutsche Justiz" ist ein Teil unseres Staates, dahinter steht unser Staat. Die Kritik an den deutschen Gerichten, an der deutschen Justiz, an unserem Staat nimmt zu und ist unüberhörbar. Lassen Sie mich einige Beispiele anführen.
Herr Friedmann, der Leiter des Dokumentenzentrums in Haifa, erklärte, die Prozesse bei uns in der Bundesrepublik dürften höchstens drei Monate dauern. Die bundesdeutsche Justiz habe die Naziverbrecher wiel zu spät vor Gericht gestellt. Das ist der doppelte Vorwurf.
Das Internationale Buchenwaldkomitee schrieb, man solle der Komödie der Freisprüche oder höhnenden Verurteilungen ein Ende bereiten. Diese Verfahren seien eine Beschimpfung der Opfer und Hinterbliebenen. Meine Damen und Herren, ich wiederhole: die Gerichtsverfahren seien eine Beschimpfung der Opfer und Hinterbliebenen.
Auch Herr Rückerl stellte fest,' daß die noch durchgeführten Hauptverhandlungen mehr und mehr auf das . Unverständnis der Zeugen und Angehörigen, d. h. auch der Opfer, stießen.
Die kommunistische VVN meinte im Januar dieses Jahres, die Männer aus der Rassenschandejustiz oder der SS-Polizei seien auch heute noch als Richter tätig. Es wird der Eindruck vermittelt, deshalb würden die Konzentrationslagerprozesse über Jahre hingeschleppt. Die ganze Welt empöre sich darüber.
Ein anderer Verfolgtenverband unterstellt der deutschen Justiz die Absicht, die Strafverfahren so schleppend und ohne Verurteilung zu betreiben, um die „biologische Amnestie" zu erreichen.
Es bewahrheitet sich, meine Damen und Herren, danz deutlich, daß es dem Ansehen unserer Justizorgane und unseres Staates schadet, wenn die Verfahren allzuoft mit dem Geständnis enden, daß man über die Wahrheit nicht habe ins klare kommen können. Dies wirkt wie ein Hohn auf die Gerechtig-



Erhard (Bad Schwalbach)

keitserwartung aller. Das ist eben keine Erhellung der zwölf schlimmen Jahre bis in den letzten Winkel, Herr Kollege Gradl, sondern das Gegenteil tritt ein: Weil man es nicht mehr feststellen kann, gibt es Freisprüche, obwohl die Taten feststehen.
Wie recht hatte doch Adolf Arndt, der Kronjurist der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, als ei schon 1965 wie folgt feststellte — ich zitiere —:
Kein Zufall, daß heute schon Urteile gefällt werden, die in entsetzlicher Weise wie ein Hohn wirken müssen. Darin offenbaren sich nicht Unverständnis oder Böswilligkeit, sondern tiefe Unsicherheit in der Frage der Wahrheit,

(Dr. Ritz [CDU/CSU] : Sehr gut!)

die zwar offenkundig vor uns liegt, was die Taten angeht, aber dunkel und verworren ist, was die individuelle Teilnahme und das höchstpersönliche Maß an Schuld des einzelnen Angeklagten betrifft.
Soweit Adolf Arndt 1965.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es kommt hinzu — nicht von ungefähr, meine Damen und Herren —, daß sogar das kanonische Recht, das katholische Kirchenrecht, für Mord seit 1918 eine Strafverfolgungsverjährung von zehn Jahren eingeführt hat und das damit begründet, es sei eine „nützliche Frist".
Mit dem Verlust des Ansehens unserer Justizorgane — ich wiederhole es — ist unserem Staat Schaden zugefügt. Ich wäre, meine Damen und Herren — wie Sie wahrscheinlich alle — glücklich, wenn die Naziverbrecher längst überführt und abgeurteilt wären und wir über die Frage der Strafverfolgungsverjährung unbeschwerter urteilen könnten. Für unsere heutige Wirklichkeit kommt hinzu, daß bei einer Aufhebung der Verjährungsfrist nicht mehr Gerechtigkeit, sondern noch mehr Ungerechtigkeit und Zufall entstehen müssen. Gerechtigkeit ohne Gleichheit ist nicht möglich.
Es war und ist für mich unerträglich, daß Hauptverantwortliche, die von den alliierten Strafverfolgungsbehörden in einem abgeschlossenen Verfahren freigesprochen oder auch verurteilt wurden, seit Anfang der 50er Jahre auf freiem Fuß und für die
deutsche Justiz unerreichbar sind. Der sogenannte Überleitungsvertrag bestimmte ausdrücklich, daß alle Personen, gegen die ein Verfahren vor den allierten Behörden oder Gerichten abgeschlossen wurde, der deutschen Justiz nicht unterliegen.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Hört! Hört!)

In Verfahren gegen die letzten in der Befehlskette treten sie, wie Oberstaatsanwalt Rückerl schreibt, als Zeugen auf! Mit keiner Strafe wurde je der Vorgesetzte von Adolf Eichmann, Albert Hartl, Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt, belegt. Zu seiner Abteilung gehörte nicht nur das Referat Eichmann, zuständig für die Judenfrage, sondern dazu gehörten drei weitere Referate, zuständig für die katholische Kirche, für die evangelische Kirche
und für die Zeugen Jehovas. Niemand aus dieser Gruppe ist in ein Konzentrationslager gekommen, ohne daß seine Unterschrift unter der Einweisungsverfügung stand.
Meine Damen und Herren, werfen Sie doch einen Blick in die Broschüre von Adalbert Rückerl, in der das Schicksal der Führer der Einsatzgruppen und Einsatzkommandos dargestellt ist. Das waren die Gruppen, die hinter der Front im Osten tätig waren und fast alle, die irgendwie im Verdacht standen, nicht arisch zu sein, erschossen haben. In einem einzigen Abschnitt, im Südabschnitt, waren es 150 000 Menschen, die eine solche Gruppe erschossen hat. Die dafür Verantwortlichen sind alle bekannt. Ich nenne Ihnen hier folgende Namen: Sandberger: zum Tode verurteilt, entlassen 1953; Blume: zum Tode verurteilt, entlassen 1953; Steimle: zum Tode verurteilt, entlassen 1954; Professor Dr. Sicks: 20 Jahre Freiheitsstrafe, entlassen 1952. Es handelt sich bei den Entlassenen, meine Damen und Herren, um insgesamt rund 2300 Personen, die alle nicht mehr vor deutsche Gerichte gestellt werden können. Sie sind der deutschen Justiz, dem deutschen Staat entzogen. Verdächtigt aber, wir hätten hier die Verfahren hinausgeschoben, wird unsere deutsche Justiz.
Schon Adolf Arndt sprach von der unheilbaren Zerstörung der Gleichheit und damit einer schweren Belastung aller Elemente der Gerechtigkeit. Recht und Gerechtigkeit gehören zusammen. Auf gleiches Unrecht muß eine mehr oder weniger gleiche rechtliche Antwort gegeben werden. Andernfalls muß bei allen Beteiligten der Eindruck von 'Willkür, Zufall und Ungerechtigkeit entstehen.
Wir, meine Damen und Herren, haben alliierte Rechtsetzung nicht zu verantworten. Wir haben sie aber in unsere Betrachtungen mit einzubeziehen.

(Wehner [SPD] :. Aber wir haben uns auch nicht dahinter zu verstecken!)

- Wir verstecken uns nicht dahinter, Herr Wehner.

(Wehner [SPD] : Ich habe gesagt: Niemand soll sich dahinter verstecken! Ich habe nicht gesagt, daß Sie sich dahinter verstecken!)

— Aber der Zwischenruf kam ja mir gegenüber.

(Wehner [SPD] : Natürlich, weil Sie mir Anlaß geben! — Dr.. Zimmermann [CDU/CSU] : Der einzige, der hier Terror macht, sind wieder Sie!)

— Ich halte mich zurück. Sie werden gleich Gelegenheit haben, noch einen Zwischenruf zu machen.
— Ich wiederhole: Wir haben alliiertes Recht und alliierte Rechtsetzung nicht zu verantworten. Wir haben aber diese Rechtsetzung in unsere Betrachtungen mit einzubeziehen. Wenn aber die Justiz schon heute die ihr gestellten Aufgaben nicht in befriedigender Weise lösen kann — ich glaube, ich habe dies deutlich gemacht —, dann wird sie dies in Zukunft immer weniger können. Dabei entsteht dann eine noch viel größere Gefahr.
Wir haben uns 1965 und 1969 im Zusammenhang mit der Verjährung über Rechtsstaatsprinzipien, über rechtliche Elemente in aller Breite ausgespro-



Erhard (Bad Schwalbach)

chen. Damals wie heute mußte und muß uns allen klar sein, daß es letzte Gerechtigkeit auf Erden nicht geben kann. Gerade diesen Gesichtspunkt macht die Verfolgungsverjährung deutlich. Denn mit ihr gibt der Gesetzgeber zu, daß die Erkenntnisschwäche des Menschen der Verwirklichung irdischer Gerechtigkeit Grenzen setzt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit dem Eintritt der Verfolgungsverjährung werden nicht die kriminelle Tat und ihr Unrecht geleugnet. Es geht eben nicht um die Verjährung von Schuld, sondern um die rechtsstaatlichen Grenzen der Verfolgbarkeit. Wer das Recht will, muß auch die Grenzen des Menschen annehmen.
Ganz offensichtlich steht für diejenigen, die die Verjährung aufheben wollen — wir haben es heute von zwei Sprechern gehört —, der Gedanke Pate, wir könnten so für unser Volk, unsere Jugend und für alle Zeit deutlich machen und sicherstellen, daß eine Wiederholung von Verbrechen durch den Staat, wie das NS-Regime sie beging, künftig verhindert wird:

(Dr. Emmerlich [SPD] : So einfach machen wir uns das nicht!)

Sühne durch die Täter, Abschreckung für die Zukunft. Nach dieser Vorstellung soll die Justiz die Vergangenheit klären und aufarbeiten. Diese Vorstellung verdrängt und verdeckt nach meiner Ansicht aber den eigentlichen Grund, aus dem heraus es zu diesen Verbrechen kommen konnte, und sie verstellt den Blick für die möglichen Gefahren in der Zukunft. Die Justiz kann nicht politische und allgemeine Umstände der Geschichte aufarbeiten. Sie muß die persönlichen Taten der Täter und deren Schuld feststellen. Dies gilt natürlich nicht im totalitären Machtstaat, in dem der Rechtsprechung die Durchsetzung der ideologischen Machtansprüche als politische Aufgabe zugewiesen ist.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Auch in der Sowjetunion!)

— In allen diesen Staaten. — Es entsteht die Gefahr, daß man in unserem Volk, vielleicht sogar in diesem Hause glaubt, damit habe man die Vergangenheit aufgearbeitet und für die Zukunft sei alles gesichert. Das ist eine verhängnisvolle Fehlentwicklung!
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß „Holocaust" nichts Neues gebracht hat, daß aber ganz offensichtlich „Holocaust" Millionen von Bürgern neue Erkenntnisse geliefert hat.
In Urteilen deutscher Gerichte ist die Vernichtung der polnischen Intelligenz, bedeutender Teile des polnischen Klerus, die Vernichtung der Zigeuner und vor allem die Vernichtung der Juden nach öffentlichen Verhandlungen festgestellt. Gutachten wurden publiziert. Das Kalendarium in den Heften von Auschwitz in deutscher Sprache gibt Auskunft über die Geschehnisse dort: Tag für Tag. Dennoch Unkenntnisse darüber in weitesten Teilen unseres Volkes!
So ist es möglich, daß Herr Dr. Seichter von der Hamburger FDP in einer Stellungnahme in einer
Zeitung mitteilen konnte, ihn beschleiche bodenlose Beschämung, er sehe — wörtlich — „keine Möglichkeit, diese Vorgänge überhaupt erklären zu können".
Meine Damen und Herren, die justizförmlichen Verfahren haben also nicht bewirkt, daß ein jüngerer Mensch mit Doktorgrad solche Zusammenhänge in den Ursachen erkennen konnte. Die Feststellung der individuellen Schuld eines Täters, eines Verbrechers durch ein Gericht erklärt eben nicht, wie es zu diesen vom Staat organisierten Verbrechen überhaupt kommen konnte. Der Justiz dürfen nicht Aufgaben zugeschoben oder zugedacht werden, die wir Politiker, die die Regierung allein im Zusammenwirken mit den Massenmedien und den Bildungseinrichtungen lösen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Wehner [SPD] : Na, na!)

Wir müssen uns dieser Aufgabe stellen und sollten uns nicht der Justiz als Alibi bedienen.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU)

Sebastian Haffner schließt sein Buch „Anmerkungen zu Hitler" mit der Feststellung, die Erinnerung an Hitler sei von den älteren Deutschen verdrängt, die meisten Jüngeren wüßten rein gar nichts mehr von ihm.
Die uns so bewegenden fabrikmäßigen Vernichtungshandlungen an ganzen Volksgruppen zwingen uns, nach dem Grund zu fragen und unseren Mitbürgern — wie Herrn Seichter — eine Antwort zu geben. Solche vom Staat organisierten Verbrechen machten die Beteiligung von Hunderttausenden von Menschen notwendig. Dies war mit Sicherheit auch nicht unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers 1933 möglich. Aber es war programmiert. Eine Weltanschauung mit grenzenloser Überheblichkeit und ebenso großem Haß war und ist eine der Ursachen. Ich wiederhole: eine Weltanschauung.
Ich darf daran erinnern, daß der ganze totalitäre Führerstaat Stufe um Stufe etabliert, propagiert und von allen Ebenen staatlichen Daseins mehr und mehr getragen wurde. Die Einheit von Partei und Staat war nichts typisch Nationalsozialistisches, aber sie ist typisch für alle totalitären Einparteiensysteme, auch wenn sie nicht auf deutschem Boden bestehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das weltanschauliche Element war unauflösbar mit der Staatsidee verknüpft. Das Volk war das eigentliche Lebewesen, der einzelne war nichts. Das Lebewesen handelte durch den Führer. Der Führer war mit dem deutschen Volk identisch. Des Führers Wille war Gesetz. Deshalb wurde bis in das letzte Dorf hinein von allen Parteigliederungen und dem NS-Staat gelehrt und verbreitet: „Führer, befiehl, wir folgen!" Nur so konnte der Mord an Röhm und vielen anderen, auch an Klausener, die gleichzeitig bei dieser Gelegenheit ermordet wurden, mit einem Gesetzesakt im Reichsgesetzblatt für rechtens erklärt werden. Und über Klausener konnte gehöhnt werden — ich weiß es noch aus meiner Kindheit, weil meine Eltern es mir erzählt haben —, daß er



Erhard (Bad Schwalbach)

aufgeschrien hat, als ihm die Augen ausgestochen wurden; dann hat man ihn erst umgebracht. Nur so war es möglich, Menschen ohne Verurteilung und ohne jedes Gerichtsverfahren in Konzentrationslager einzusperren und nach Belieben dort umzubringen. Internationale Kommissionen haben die Konzentrationslager besucht und für gut befunden.

(Zurufe von der SPD)

— Das ist die Wahrheit, leider.

(Wehner [SPD] : Eine sehr eigenartige!)

Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums waren schon 1933 alle Unliebsamen aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden. Auch mein Vater wurde 1933 aus dem Notariat als Freiberufler hinausgeworfen. Ich weiß, was man in der Zeit erlebt hat.
Es mutet heute schier unfaßbar an, daß viele Professoren des Staatsrechts und des Rechts diese Theorien aufnahmen, das Unrecht theoretisch befürworteten und rechtfertigten und so den Tätern ein gutes Gewissen vermittelten und sie in ihrem Mordwillen bestätigten. Die Lehre dieser Theoretiker und Rhetoren des Unrechts gipfelte in der aus Rassenwahn geborenen Feststellung: Der Jude ist kein Mensch, er ist Ungeziefer, ja, Ungeziefer an eben diesem Lebewesen „Deutsches Volk".
Von daher versteht man auch manche Doktorarbeit, weil jemand den Doktorgrad nicht erhalten hätte, wenn er sich nicht angepaßt hätte. Heute tut es weh. Nur so war es möglich, daß auch weite Teile der Rechtsprechung und vor allem der Strafjustiz diesen Vorstellungen folgten. Nur so war es möglich, die jüdischen Mitbürger deutscher Staatsangehörigkeit zu entrechten, außer Landes zu jagen und ihnen dabei mit der Reichsfluchtsteuer das Vermögen abzunehmen.
Nur so war es möglich, die Polen-Strafrechtsverordnung zu erlassen und durch Polizei, Strafverfolgung und Gerichte zu praktizieren, nicht nur durch die Schergen in Konzentrationslagern. Wem stockt nicht noch heute das Blut in den Adern, wenn er solche Urteile in die Hand nimmt, wo beispielsweise ein polnisches Mädchen, das gegen eine körperliche Mißhandlung durch eine deutsche Frau seine Hand zur Abwehr erhoben hatte, dafür von einem deutschen Gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden ist? Tausende von solchen Urteilen sind auf Grund dieser Polen-Strafrechtsverordnung ergangen — ,,im Namen des deutschen Volkes".
Eine Orientierung über etwas anderes als das, was der Staat wollte und zuließ, gab es nicht. Keine Informationsmöglichkeit, totale Gleichschaltung aller Presseorgane, totale Kontrolle der Druckereien. Ausländische Rundfunksendungen' wurden so gestört, daß man sie kaum abhören konnte.
Als im Jahr 1937 das päpstliche Rundschreiben „Mit brennender Sorge" auf dem Kurierwege in die deutschen Diözesen gelangte und heimlich gedruckt wurde, um es an die Pfarreien zu verteilen, wurden zwölf festgestellte Druckereien sofort geschlossen und entschädigungslos enteignet. In diesem Rundschreiben von Pius XI. hieß es:
Wer die Rasse oder das Volk oder den Staat oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt oder andere Grundwerte menschlicher Gemeinschaft aus ihrer irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und verfälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge.
Götzenkult, das war der Führerkult. Das Volk vergöttern, das ist die religiöse, die weltanschauliche Grundkomponente mit der Hybris der gottgegebenen Herrenrasse. Das war die Staatsideologie. Dieses zusammen ist die tiefere Ursache für die schamlosen Verbrechen.
Wie schrieb doch der Franzose Le Bon 1895 — lange vor Hitler — in seinem berühmten Buch „Psychologie der Massen", ich zitiere:
Der Held, dem die Masse zujubelt, ist in der Tat ein Gott für sie.
Und an anderer Stelle:
Ein ganzes Volk kann bisweilen ohne sichtbare Zusammenscharung unter dem Druck gewisser Einflüsse zur Masse werden.
Mit Recht hat Eugen Kogon geschrieben, totalitäre Ideen könnten nur so lange bekämpft werden, solange sie nicht etabliert seien. Die Deutsche Bischofskonferenz bemerkte ganz kürzlich, daß das Dilemma zwischen Erfüllung der staatsbürgerlichen, patriotischen Pflichten einerseits und der Ablehnung des Nationalsozialismus andererseits allenfalls in der Gewissensentscheidung des einzelnen auflösbar war. Und, meine Damen und Herren, ich füge hinzu: Die Gewissensentscheidung im totalitären Weltanschauungsstaat bedeutet in aller Regel — und bedeutete unter Hitler ganz besonders — das unmittelbare Risiko der Verhaftung und der Tötung. Das aber kann niemand von einem anderen verlangen. Zum Martyrium ist der Mensch normalerweise weder geboren noch fähig. Nicht umsonst bezeichnet die katholische Kirche das Martyrium als moralisches Wunder.
Meine Damen und Herren, aus diesen Quellen sind die Erkenntnisse für unser heutiges Grundgesetz und unseren heutigen Staat entstanden. Alle — ich wiederhole: alle — totalitären weltanschaulichen Ideen führen zum Unrechtsstaat, wenn sie sich mit der Staatsgewalt verbinden. Ich weise für meine Person darauf hin, daß hinreichend Anlaß besteht, hier einen Vergleich anzustellen, wenn „Rasse" durch „Klasse",

(Beifall bei der CDU/CSU)

„Volk" durch „Proletariat" ersetzt wird. Dies, so meine ich, gehört in die Aufarbeitung unserer Geschichte und unserer Erfahrungen. Der Blick dafür darf nicht durch die Ableitung der Problematik auf die Justiz verstellt werden!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sorge von damals brennt auch heute noch in mir,



Erhard (Bad Schwalbach)

die Sorge, daß wir die Lehren aus dem ideologischen Zwangsstaat unserer jungen Generation nicht deutlich machen könnten.

(Beifall bei der CDU/CSU — Wehner [SPD] : Nein, so nicht!)

— Sie meinen, durch Urteile, aber wir wissen bereits, daß das durch Urteile nicht geht.

(Dr. Ritz [CDU/CSU] gegen Abg. Wehner [SPD] : Abenteuerlich! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Der Mann ist schamlos!)

Ich meine die Sorge, daß wir uns unserer eigenen Vergangenheit — soweit wir sie damals schon mit Verstand erlebt haben — nicht stellen;

(Dr. Kohl [CDU/CSU] : Und das bei dieser Debatte! Er sollte sich schämen! — Franke [CDU/CSU] : Einer, der Stalin gedient hat!)

die Sorge, wir könnten verschweigen,

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD] : Herr Präsident, haben Sie das gehört? — Weitere Zurufe von der SPD: Unverschämtheit! — Das ist doch übel!)

könnten verschweigen, welche Faszination — —

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814500600
Herr Abgeordneter Franke, ich rufe Sie wegen Ihres Zwischenrufs zur Ordnung.

(Franke [CDU/CSU] : Ich habe nur eine historische Wahrheit festgestellt! — Gerster [Mainz] [CDU/CSU] : Ich schließe mich dem Zwischenruf an!)


Benno Erhard (CDU):
Rede ID: ID0814500700
Ich meine die Sorge, wir könnten verschweigen, welche Faszination die Einheit von Ideologie und staatlicher Macht auf allen Ebenen auf sehr viele Menschen ausübt; die Sorge, wir wären zu feige und unsere eigene Faszination, die sehr große Teile des deutschen Volkes mehr oder weniger erfaßt hatte, könnte uns im Wege stehen, wenn wir unseren jungen Menschen begegnen, weil wir uns vielleicht unserer Vergangenheit schämen.
Noch einmal darf ich Le Bon zitieren:
... und die Menschenschlächter durften von Ruhe träumen. Da sie tief davon durchdrungen waren, dem Vaterland gut gedient zu haben, verlangten sie von den Machthabern eine Belohnung; die Eifrigsten forderten sogar eine Auszeichnung.
Solches haben auch wir erlebt, und damit müssen wir leben.
Nicht ein Abschieben der Aufgabe auf die Justiz, nicht Grauzonen und Nebel über der Vergangenheit können uns für die Zukunft helfen, sondern Klarheit, Durchsichtigkeit, Offenheit und Bekenntnis gegebenenfalls der eigenen Irrtümer sind nach meiner Überzeugung die Voraussetzung für einen toleranten, rechtlich klar geordneten, vom Gesetzgebungszickzack freien menschlichen Staat.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — Wehner [SPD] : Das war verworren!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814500800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID0814500900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich glaube, die besondere Schwierigkeit nicht nur der heutigen Debatte, sondern der nun schon, wie dargestellt worden ist, jahrzehntelangen Auseinandersetzung u. a. über die uns heute beschäftigende Frage „Soll man es beim geltenden Recht und beim Eintritt der Verjährung auch für Mordtaten und damit insbesondere auch für Mordtaten aus der NS-Vergangenheit bewenden lassen, oder soll man diese Verjährung aufheben?" scheint mir darin zu liegen, daß wir Untaten von qualitativ und quantitativ so ungeheurem Ausmaß mit Mitteln eines nur für den einzelnen Täter und für die einzelne Tat geschaffenen Strafrechts begegnen müssen, weil ein anderes rechtliches Instrumentarium nicht zur Verfügung steht, daß also zwischen dér Bewältigung dieser geschichtlichen Dimension, dieser Summe von Untaten, und dem gegebenen rechtlichen Instrumentarium eine so große, eine so erschreckende Lücke klafft, daß man nicht sieht, wie unser Recht diesem Gesamtvorgang gerecht werden könnte. Das heißt nicht, daß wir es nicht versuchen müßten; das heißt nicht, daß dieser Versuch nicht immer wieder — leider nur zu einem Teil, im Einzelfall auch erfolgreich — unternommen worden ist. Das heißt aber: Je länger dieser Versuch der Bewältigung mit den Mitteln dieses unseres Strafrechts andauert, um so größer werden doch die Zweifel, ob das so zu leisten ist.
Wir haben es aber nun einmal in der heutigen Debatte mit der Diskussion um ein Rechtsinstitut, dessen Geschichte von den Vorrednern bereits angesprochen worden ist, zu tun. Inzwischen steht durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1969 fest, daß die früher insbesondere aus Kreisen unserer Fraktion geäußerte Ansicht, einer Verlängerung der Verjährungsfrist oder Aufhebung des Instituts der Verjährung stünden verfassungsmäßige Bedenken entgegen, erledigt ist. Das bedeutet aber nicht, daß dieses Institut, obwohl seine formale und eben nicht materielle Qualität durch das Verfassungsgericht festgestellt worden ist, für unser Rechtsbewußtsein nicht doch eine beachtliche materielle Wirkung hätte. Diese materielle Wirkung hat es auch für das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung im Ganzen, für die Einstellung zum Verbrechen und zur Sühne des Verbrechens wie auch zur Rechtspflege, zum Ansehen der Rechtspflege und deshalb auch ihrer Anerkennung im Bewußtsein der Bevölkerung. Daher ist das Problem für uns so schwer zu behandeln. Lösbar, so meine ich, in dem Sinne, daß man jetzt nach genügender Überlegung entweder etwas Richtiges oder etwas Falsches tun könnte, ist das Problem überhaupt nicht.

(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. SchmittVockenhausen)

Das ist auch der Grund dafür, daß alle Fraktionen des Hauses die besondere Qualität dieser Entscheidung dadurch anerkannt haben, daß sie jedem einzelnen Abgeordneten seine Meinungsbildung, seine



Kleinert
Gewissensentscheidung frei von jeder Beeinflussung durch die Fraktion überlassen haben.
Ich glaube allerdings — und damit spreche ich für diejenigen, insbesondere aus der FDP-Fraktion, die es nach dem heutigen Stand der Diskussion beim geltenden Recht bewenden lassen wollen und einer Aufhebung der Verjährung nicht zustimmen werden —, daß wir mit der Aufhebung der Verjährung einen verhängnisvollen Fehler für unsere Rechtsentwicklung und für das Rechtsbewußtsein unserer Bürger machen würden. Um dieses Rechtsbewußtsein haben wir bei allen Gesetzgebungsmaßnahmen in diesem Hause immer wieder zu kämpfen. Es zu entwickeln ist so ungeheuer schwierig, da , sehr mühsam eingesehen wird, was unsere Rechtsordnung bedeutet und wie sie sich entwikkelt. Wir sind es diesem Rechtsbewußtsein schuldig, bei Regelungen, die sich als sinnvoll erwiesen haben, zu bleiben, auch wenn außerordentliche und übergeordnete Tatbestände scheinbar einen anderen Weg weisen.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Scheinbar!)

Dieses Bewußtsein ist ja ganz offensichtlich im Deutschen Bundestag in allen Fraktionen sehr lebendig gewesen. Zwar hat Herr Emmerlich recht, wenn er sagt, daß die Feststellung aus dem Jahre 1965, daß ein Stillstand der Rechtspflege bestanden habe und darum die Verjährung der hier im wesentlichen in Frage stehenden Taten erst später eintreten könne, zu einem Zeitpunkt getroffen worden ist, als das Bundesverfassungsgericht die eben erwähnte Feststellung noch nicht getroffen hatte.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : 1969 war das aber anders!)

Im Jahre 1969 hingegen ist hier im Hause nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Entscheidung getroffen worden, daß die Verjährung eben nicht aufgehoben wird, wie das heute von den Antragstellern gewünscht wird, sondern daß man die Verjährungsfrist von seinerzeit 20 Jahren auf die nun geltenden 30 Jahre verlängert hat. Daraus wird meiner Ansicht nach ganz deutlich, wie schwer es den Abgeordneten in allen Fraktionen geworden ist, damals der Verlängerung der Verjährungsfrist oder gar einer Aufhebung der Verjährung näherzutreten, obwohl die verfassungsrechtliche Problematik inzwischen durch das im Frühjahr des Jahres ergangene Urteil klargestellt worden war.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dies, so meine ich, ist doch ein gutes Zeichen dafür, daß in allen Fraktionen in einem so wichtigen Punkt die Rechtstradition in bezug auf das Institut der Verjährung klar gesehen und auch respektiert worden ist.
Ich halte es für unsinnig, die Diskussion dadurch zu verschärfen, daß man etwa denjenigen, die nun für eine Aufhebung der Verjährung von Mord generell eintreten, unterstellt, sie meinten gar nicht, was sie sagten; sie meinten in Wirklichkeit nur den Ausschnitt der NS-Verbrechen und würden lediglich
aus rechtssystematischen Gründen den Mord insgesamt bei ihrem Gesetzgebungsvorhaben ansprechen. Ich halte das keineswegs für hilfreich; denn die Überlegung derjenigen, die diesen Antrag stellen, muß folgerichtig dazu führen, daß man den Mord insgesamt nicht mehr verjähren lassen will. Die Überlegung, ob man die Verjährung solcher Verbrechen wie der NS-Verbrechen zulassen kann, muß folgerichtig auch zu neuen Einsichten in die Frage führen, ob der Mord als solcher verjähren kann oder nicht, so daß diese beiden Tatbestände dann auch zusammen hier vorgetragen und geregelt wer- den müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das möchte ich ausdrücklich hervorheben, weil uns doch alles andere nur von der Diskussion über den Kern wegführt.
Das ganz Entscheidende bei dem, wie festgestellt, nicht materiellen, sondern formellen Charakter der Verjährung ist für uns, daß trotz dieses formellen Charakters das Institut mit allen Problemen von persönlicher Schuld und Sühne und den daran anschließenden Fragen der Rechtspolitik und des vernünftigen Strafvollzugs im Sinne einer Resozialisierung eng zusammenhängt. Wir sind nun einmal der Meinung, daß auch die scheinbar formelle Regelung der Verjährung mit all den tatsächlichen Gründen für ihre Einführung und Beibehaltung, die von den Vorrednern schon dargelegt worden sind, für das Bewußtsein unserer Bevölkerung über den Sinn des Strafens und die vernünftige, humane und einer modernen sozialen Gesellschaft angemessene Art des Strafens eine wesentliche Rolle spielt, eine bedeutende Komponente ist. Natürlich ist kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Überlegungen gegeben, lebenslange Freiheitsstrafen in einem rechtsförmlichen Verfahren nach einer gewissen Zeit zu überprüfen und dann zu Gnadenakten nicht herkömmlicher, sondern rechtlich begründeter Art zu kommen, und dem Institut der Verjährung. Formal gibt es keinen Zusammenhang. Praktisch und insbesondere für das Bewußtsein des juristischen Laien, also fast aller unserer Bürger, gibt es aber doch wesentliche Zusammenhänge. Es wird ganz unbewußt und unmittelbar, ohne große intellektuelle Reflektion, der Schluß gezogen: Man versucht, die Dinge dem Täter mehr gerecht werden zu lassen, man versucht, auf die Täterpersönlichkeit einzugehen, man versucht, wo immer das möglich ist, neben den spezialpräventiven und generalpräventiven Zweck der Strafe insbesondere den Resozialisierungsgedanken zu setzen. In einem anderen Bereich kommt man nun auf sehr alttestamentarische Grundregeln zurück, man verschärft, man will die Gnade der nicht so sehr praktisch, sondern in der Entwicklung der Täterpersönlichkeit begründeten schließlichen Verjährung auch einer noch so schweren Tat abschaffen. Man kommt hier im Ergebnis zu einer wesentlichen Verschärfung des geltenden Rechts. Insbesondere gilt das für den Eindruck, den die Bevölkerung von diesem geltenden Recht haben muß.

(Wehner [SPD]: Nein!)




Kleinert
Das Prägende für das Rechtsbewußtsein wird hier an einer Stelle im Gegenlauf und im Gegensatz zu dem verändert, was wir im allgemeinen in unserer Strafrechtsentwicklung anstreben.

(Wehner [SPD] : Es geht um das Ethos, um die Achtung vor dem höchsten Rechtsgut des Menschen, sein Leben! — Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Sie wollen doch nicht sagen, daß Herr Kollege Kleinert davor keine Achtung hätte!)

— Herr Wehner, ich glaube, daß gar kein Zweifel daran bestehen kann, daß das Leben 'das höchste Rechtsgut ist und der Schutz des Lebens deshalb am stärksten ausgestaltet sein muß. Wir können aber nicht die Augen davor verschließen, daß es keinen mathematisch einwandfreien Tatbestand der Verletzung dieses höchsten Rechtsgutes und der daran anzuknüpfenden Ahndung gibt, sondern daß die Dinge in der Lebenswirklichkeit abgestuft sind, daß wir schon heute ganz bedauerliche Entscheidungen haben, bei denen nicht von Mord, sondern von Totschlag ausgegangen wird, der nicht unter die hier angestrebte Regelung fallen würde. Wir können nicht die Augen davor verschließen, daß die Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag zu den besonders wenig glücklich geratenen Tatbeständen unseres Strafrechts überhaupt gehört, da recht willkürlich gewählte Merkmale, die dort katalogisiert sind, die Tötung zum Mord machen. Ich meine, deshalb muß wie in allen anderen Fällen auch gegenüber diesem Rechtsgut die Bemühung erlaubt sein, ein differenziertes Vorgehen vorzusehen und sich insbesondere mit dem Gedanken zu befassen, ob es unserer Rechtsordnung insgesamt entspricht, einen Täter nach 30 Jahren, nach einer in fast allen Fällen erheblichen Veränderung seiner Persönlichkeit noch wegen der Tat anzugreifen, die er vor diesen 30 Jahren einmal begangen hat.
Es wird von einigen, die die Verjährung aufheben möchten, u. a. argumentiert, praktisch sei sie bereits aufgehoben; denn angesichts einer inzwischen auf 30 Jahre festgelegten Verjährungsfrist und der Möglichkeit der Unterbrechung der Verjährung durch eine richterliche Handlung ließe sich leicht errechnen, daß in vielen Fällen eine Verjährung bis zum vorhersehbaren Tode des Täters nicht mehr möglich ist. Diese Ansicht ist richtig, sie ist auch rechnerisch zu belegen. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen man daraus zieht. Nach dem, was ich für unsere Auffassung darzulegen versucht habe, muß man daraus die Konsequenz ziehen, sobald das politisch möglich ist, wieder auf die frühere wohlerwogene und angemessene 20jährige Frist für die Verjährung zurückzugehen

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

und die Möglichkeiten der richterlichen Unterbrechung ,der Verjährung in vernünftiger Weise einzuschränken und genauer zu fassen, als es — wenn ich an die angeblich vorhandene Möglichkeit der Unterbrechung der Verjährung auf Grund von Hunderte von Namen umfassenden Listen denke — zur Zeit der Fall ist. Das ist unserer Ansicht nach die richtige Konsequenz, nicht aber, aus einem aus verständlichen Gründen eingetretenen,
nach unserer Rechtsauffassung höchst unbefriedigenden Zustand 'die Folgerung zu ziehen, man könne es nun auch gleich ganz dabei belassen und zum Gesetz erheben, was jetzt mit Hilfe der Unterbrechung Praxis in vielen Fällen sein kann. Das ist jedenfalls der Schluß, den wir ziehen wollen.
Die technischen Begründungen für die Verjährung, nämlich die von Jahr zu Jahr schwerer werdende Aufklärung und die größere Unsicherheit des Strafprozesses, sind bereits angesprochen worden. Mir scheint dies alles nicht im Vordergrund zu stehen. Damit würde man angesichts des Grundsatzes „in dubio pro reo" leben können. Wenn man der Meinung ist, ,daß Täter ohne Rücksicht auf irgendwelche Zeitabläufe bestraft werden sollen und einzelne — woran ja kein Zweifel bestehen kann — dann auch noch bestraft werden würden, dann muß man eben die größere Zahl von Freisprüchen in Kauf nehmen, so bedauerlich das, wie der Kollege Erhard ausgeführt hat, für das Ansehen der Rechtspflege auch sein mag. Das halte ich nicht für so schwerwiegend.
Für viel schwerwiegender halte ich den Gesichtspunkt, wie gerade angesichts der besonderen Ereignisse der NS-Verbrechen mit Zeugen und Opfern in diesen Prozessen zwangsläufig umgegangen werden muß, nachdem auch für diese Opfer und ihre Angehörigen inzwischen eine wohltätige lange Zeit abgelaufen ist. Darüber gibt es grausige Berichte zu hören. Das erscheint mir erheblich wichtiger als die Sorge um ,das Ansehen der Justiz nach einem so schwierigen Verfahren im Einzelfall. Das erscheint mir bedeutungsvoller.
Es gibt den Hinweis, einzelne würden nun hervortreten und sich ihrer Untaten berühmen können, weil eine Verfolgung nicht mehr möglich wäre, wenn Ende 1979 die Verjährung für solche Taten einträte. Ich halte diesen Einwand für nicht stichhaltig. Das ist nicht nur eine Vermutung über die künftige Entwicklung, sondern das ist eine Erfahrung, ,die belegt werden kann. Insofern ist mir das bereits zitierte Faktum wesentlich, daß es etwa 5000 Personen gibt, die sich für diese Morde in schwerster Form verantwortlich gemacht haben, die nämlich. die Organisatoren, die Drahtzieher, die Anstifter, die Schaffer 'des Klimas, in dem das Verbrechen dann gewuchert hat,

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Auch die Ideologen!)

gewesen sind und die in fast allen Fällen großzügig zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden sind, aber nach wenigen Jahren nicht nur durch eine generelle Amnestie freigelassen, sondern durch den Überleitungsvertrag zudem unserer Rechtsprechung ein für allemal entzogen wurden. Diese Personen gibt es in unserer Gesellschaft. Wir haben in den letzten Jahrzehnten mit ihnen leben müssen. Bei allem, was man sonst davon denken muß, haben sie jedenfalls eines nicht gewagt, nämlich sich etwa ihrer Taten zu berühmen. Das wird auch in Zukunft nicht der Fall sein.

(Beifall 'bei der FDP und der CDU/CSU)

Dafür brauchen wir keine Rechtsvorschriften, sondern das 'Bewußtsein unseres ganzen Volkes von



Kleinert
dem, was diese Menschen getan haben und was wir deshalb von ihnen zu halten haben. Das ist wichtiger als die Frage einer formalen Bestrafung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Den Gedanken, es sei nicht so, daß die Mehrzahl der aufklärbaren Fälle inzwischen entweder abgeurteilt oder in einem Stand des Ermittlungsverfahrens sei, daß eine Verjährung ohnehin nicht eintreten könne, sondern es könnten noch in größerer Zahl 'Akten etwa aus anderen Ländern auftauchen, in denen diese Verbrechen in großer Zahl begangen worden sind, und dann wären wir hilflos gegenüber dem Vorwurf, es sei durch unsere Schuld, dadurch, daß wir nicht gesetzgeberisch gehandelt hätten, möglich geworden, daß man umfangreichen Tatkomplexen dann nicht mehr nachgehen könne, halte ich auch nicht für richtig. Wir haben nun einmal hier über die Gestalturig unseres Strafrechts nicht nur für diese, sondern für alle Fälle zu entscheiden und gerade für alle zukünftigen Fälle. Wenn wir dann der Meinung sind — und wir sind nun einmal dieser Meinung —, daß die Verjährung ein vernünftiges und wichtiges Rechtsinstitut ist, aus humaner Gesinnung und aus einer modernen, vernünftigen Auffassung von Strafrecht, dann müssen wir diese Ansicht auch denen gegenüber vertreten, die etwa in einigen Jahren mit 'solchen Aktenbündeln auf uns zukommen.
Hierzu hat Herr Barzel im übrigen im Jahre 1965 einen Hinweis gegeben, den ich einmal wiederholen möchte, nicht um Schuld an andere weiterzugeben, sondern um diesen Punkt für andere klarzustellen: Wer Akten nicht herausgibt und in all diesen Jahren nicht herausgegeben hat, obwohl er das konnte, der leistet Beihilfe für diejenigen, die etwa dadurch einer Bestrafung entgehen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU)

Das muß bei dieser Gelegenheit wiederholt wenden.
Der entscheidende Punkt unserer Überlegungen, der tiefe Grund für unsere Haltung liegt nicht sosehr in den nur andeutungsweise im Rahmen dieser Diskussion wiedergegebenen rechtlichen Überlegungen, sondern er geht darüber hinaus. Wir sind der Meinung, daß niemand in unserem Volk ein reines Gewissen haben kann in Ansehung 'dessen, was gewesen ist, und zwar nicht nur diejenigen, die damals gelebt haben, sondern auch diejenigen, die danach geboren worden sind. Das ist nicht die Frage der Kollektivschuld in einem schmählichen Sinne als quasi strafrechtliche Verurteilung eines ganzen Volkes, sondern das ist die Frage 'der Einsicht in eine historische Verantwortung, die ein Volk insgesamt zu tragen hat, nicht zum Zwecke ewiger Buße, sondern viel wichtiger zum Zwecke der Verhütung von Wiederholungen.
In diesem Zusammenhang ist es mir auch unheimlich, wenn ich in Diskussionen mit jungen Menschen, die sich in den letzten Wochen besonders intensiviert haben, feststelle, •daß dort gelegentlich eine Einstellung anzutreffen ist: „Uns hätte das ja nicht passieren können; wir haben ja ein reines Gewissen; wir haben es mit einer Generation zu tun, die ganz anders war, die solche Verbrechen hat
geschehen lassen oder an ihrer Begehung beteiligt war; uns wird das nicht passieren." Diese Einstellung müssen wir auszuräumen versuchen, nicht heute hier von 'diesem Podium aus durch einige Beispiele und durch einige geschichtliche Darstellungen, sondern in einer immerwährenden Diskussion. Wir müssen das Gefühl für die tiefere Verantwortung wecken und zugleich klarmachen, daß natürlich die Wiederholungsgefahr, so wie die Menschen geschaffen sind, gegeben ist, daß diese Gefahr droht und daß man ihr entgegentreten muß. Das scheint mir gerade in 'der Diskussion mit der jungen Generation die ganz wichtige Aufgabe zu sein.
Der Gedanke, der ohnehin wohl nur unbewußt und dann auch nur bei wenigen im Zusammenhang mit der heutigen Debatte und der Einstellung dazu auftauchen könnte und ' vor dem ausdrücklich gewarnt werden sollte, daß nämlich durch die Verurteilung einiger, die noch nicht verurteilt sind, daß durch einige Prozesse, die noch nicht eingeleitet werden konnten, in Zukunft eine Art Generalabsolution für diese historische Verantwortung 'des ganzen Volkes erreicht werden könnte, muß ans Licht gezogen, bewußtgemacht und zurückgewiesen werden. 'Das kann nicht der Sinn dessen sein, was die Antragsteller hier beabsichtigen, und wir dürfen auch niemand gestatten, diese Ansicht bei sich aufkommen zu lassen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD und 'der CDU/CSU)

'Hier bestünde ein Weg, sich auf Kosten anderer Generalabsolution zu verschaffen; das geht nicht.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD und 'der CDU/CSU)

Ich möchte mit der etwas ausführlicheren Zitierung — mir stehen solche Worte nicht zu Gebote — eines Teils der Rede schließen, die Carl Friedrich von Weizsäcker anläßlich der Woche der Brüderlichkeit in Hannover gehalten hat und die bereits mit einem Satz zitiert worden ist. Herr von Weizsäcker sagt:
Die schaudernde Entdeckung: Ich bin Kain. Ich bin der Krieger, 'der Terrorist, der Nazi-Scherge. Welche bürgerliche Behütetheit hat mir erspart, meinem vor mir selbst verborgenen Hang nachzugeben und den Bruder zu töten, ' hat meiner offensichtlichen Gleichgültigkeit gestattet, bloß seinen Mord zu tolerieren? Hasset das Böse, heißt es freilich, aber nicht: hasset den Bösen. Hassen wir den Bösen, so legen wir ihn auf seine Bosheit fest und uns auf unsere vermeintliche Gerechtigkeit. Spontane Gegenwehr gegen die Gewalttat darf sein. Gerechtigkeit muß sein. Aber keine Gegenwehr ohne Selbstbegrenzung, auch keine Gerechtigkeit ohne Gnade. Menschliche Gerechtigkeit soll Menschen vor Menschen schützen, soweit Menschen das vermögen. Sie ist kein göttlicher Urteilsspruch. Menschliche 'Gerechtigkeit kann nicht alles Unrecht sühnen, das geschehen ist, und sie soll das, vor dem fragenden Angesicht Gottes, gar nicht versuchen. Dies mögen
— so sagt Herr von Weizsäcker —



Kleinert
wenn ich mir ein Wort zur Aktualität erlauben darf, unsere Gesetzgeber bedenken, wenn sie über Verjährung beraten. Ich sage das im Bewußtsein meiner Mitschuld an der Ermordung von Millionen Juden in einer Nation, deren erwachsener Bürger ich damals war und heute bin.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814501000
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814501100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Anlaß meines Beitrags ist der von Herrn Kollegen Gradl und sechsundzwanzig weiteren Mitgliedern des Hauses unterzeichnete Antrag, welcher heute morgen in eindrucksvoller Weise begründet worden ist, der zum Zwecke der Aufhebung der Strafverfolgungsverjährung für Verbrechen des Mordes einen Beschluß des Bundestages erreichen will, mit dem die Bundesregierung beauftragt werden soll, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Den Antragstellern und dem Bundestag insgesamt ist dabei offensichtlich bewußt, daß vor einem Jahrzehnt eine damalige Bundesregierung eine solche Vorlage an das Parlament gerichtet hat. Ihnen ist sicherlich auch das Schicksal der damaligen Vorlage durchaus vor Augen.
Die gegenwärtige Bundesregierung hat bewußt bislang von einer solchen Vorlage abgesehen. Ich will versuchen, Ihnen die Gründe dafür zu erläutern, die vor Monaten erwogen und bei mehrfacher erneuter Erwägung beibehalten worden sind.
Die sittlichen oder die ethischen oder die moralischen Argumente, auch die rechtspolitischen Argumente, 'die in der zu entscheidenden Frage für die gegensätzlichen Auffassungen geltend gemacht werden, berühren offensichtlich den Gewissensbereich jedes einzelnen von uns. Jeder muß für sich selbst den Konflikt verschiedener, auf allen Seiten sittlich begründeter Werturteile entscheiden. Die Meinungsbildung ist vor allem wohl aus diesem Grunde bisher nicht fraktionseinheitlich, sondern quer durch die Fraktionen verlaufen. In jeder Fraktion, in jeder Partei, im ganzen Volk, auch in der Bundesregierung gibt es im Ergebnis Befürworter und Gegner einer Aufhebung der Verjährung.
In allerletzter Zeit haben bedeutende Repräsentanten der beiden großen Kirchen die Bedeutung der zu treffenden Gewissensentscheidung hervorgehoben und uns ihr Urteil dahin gehend erkennen lassen, daß gute und überzeugende Gründe für verschiedene Auffassungen sprechen können. Bei einer Frage von solcher moralischen Komplexität, bei einer Frage, in der Menschen wie Thomas Dehler oder Gustav Heinemann oder Ferdinand Friedensburg unterschiedlicher Ansichten waren, bei einer Frage, in der Adolf Arndt, um in diesem Zusammenhang nur vier hervorragende Mitglieder des Bundestages zu nennen — über das Entsetzen und den Abscheu dieser vier Männer gegenüber den Morden, um die es hier geht, kann auf der ganzen Welt keinerlei Zweifel bestehen! —, bis zu seinem Ende um die richtige Antwort gerungen hat, erscheint der Bundesregierung eine solche Art der Meinungsbildung, die dén einzelnen Abgeordneten in besonderer Weise dazu herausfordert, seine eigene Entscheidung in höchstpersönlicher Verantwortung zu treffen, nicht als ungewöhnlich, sondern als angemessen.
Ebenso gerechtfertigt ist es dann aber auch, daß die Bundesregierung in diesem besonderen Fall von einer eigenen Vorlage Abstand nimmt. Ich füge in Klammern hinzu, daß die Bundesregierung natur lieh zu jedweder technischer und Formulierungshilfe zur Verfügung steht.
Ich bitte Herrn Dr. Gradl und seine Kollegen —für die Bundesregierung sprechend —, diese Erwägungen, die ich noch etwas näher ausführen will, zu bedenken. Gerade in der Verjährungsfrage sollte es nicht darum gehen, für oder gegen eine Auffassung der Bundesregierung oder für oder gegen eine Vorlage der Bundesregierung zu stimmen. Es sollte nur darum gehen, im eigenen Gewissen einer schweren Verantwortung gerecht zu werden. Dieser Pflicht muß jeder für sich Genüge leisten, natürlich auch jedes Mitglied der Bundesregierung — natürlich auch der gegenwärtige Sprecher — als Abgeordneter des Bundestages.
Es ist schon mehrfach an die Bundestagsdebatten der Jahre 1965 und 1969 zur Frage der Verjährung der Strafverfolgung von Mord erinnert worden, Debatten, die mich und wohl die weitaus meisten der damaligen Kollegen oder Zuhörer sehr bewegt und die im Ringen um die Probleme des Rechts und der Gerechtigkeit damals von dem Bemühen des Bundestags Zeugnis abgelegt haben, eine unserem Rechtsstaat, zugleich unserer unmittelbaren geschichtlichen Vergangenheit gemäße Lösung zu finden. Im Ergebnis ist das Ende der Verjährung für Mord zweimal hinausgeschoben worden.
Doch denke ich, daß man mit dem Abgeordneten Dr. Gradl heute feststellen muß: Wir können nicht ausschließen, daß aus der Zeit vor 1945 noch weitere Täter ermittelt oder, wie Sie gesagt haben, präsentiert werden.
Die Beschäftigung mit dieser Frage im ganzen Land und jedenfalls auch unsere Diskussion heute zeigen die Ernsthaftigkeit, mit der dieses Problem in Deutschland behandelt wird. Diese Ernsthaftigkeit ist entscheidend darin begründet, daß wesentliche moralische, wesentliche rechtliche Prinzipien in einer Spannung zueinander stehen, die nur sehr schwer und keineswegs restlos aufgelöst werden kann.
Ich habe wegen dieser moralischen Dimension unserer bevorstehenden Entscheidung vor einem guten Vierteljahr, am 9. November 1978, in der Synagoge in Köln den Rat, die Beteiligung anderer Menschen, auch anderer Institutionen öffentlich erbeten. Wir können ja als Gesetzgeber diese Entscheidung nicht treffen, ohne gehört zu haben, was alle, die wie wir selbst von dieser Frage innerlich betroffen sind; empfinden, was sie urteilen, was sie



Bundeskanzler Schmidt
uns raten. Wir wollten wissen, was unsere jüdischen Mitbürger, was unsere Kirchen, was unsere Nachbarvölker, was die Menschen in Israel und in anderen Teilen der Welt zu diesem Dilemma sagen.
Meine damalige Bitte um Rat ist in großem Maße erfüllt worden, zuletzt heute morgen noch durch das American Jewish Committee. Wir haben Ratschläge aus unserem eigenen Land, wir haben Ratschläge aus dem Ausland erhalten, die für die eine wie für die andere Position moralische und rechtliche Gründe vortragen. Überwiegend sprachen sich diese Ratschläge für die Aufhebung der Verjährung aus.
Die Entscheidung, die wir — nicht die Ratgeber — zu treffen haben,. führt uns in die Grundfragen von Schuld und Sühne, von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, von Sinn und Zweck staatlichen Strafens, vom Grundverständnis unseres Rechtsstaats.
Von diesem Platz aus hat in der Debatte 1965 Thomas Dehler gesagt — ich zitiere —:
Die staatliche Strafgewalt ist begrenzt. Auch insoweit ist der Staat nicht Herr des Rechts, sondern an das gesetzte Recht gebunden. Auch wenn es peinvoll ist, auch wenn es unserem Gefühl widerstrebt: Der Staat kann seine Strafgewalt nicht nachträglich auf abgeschlossene Tatbestände ausweiten.
Dieser Gedanke hat heute sein großes Gewicht ebenso wie damals. Ebenso müssen die Gedanken auch heute ins Gewicht fallen, die damals Adolf Arndt in die folgenden Worte gekleidet hat — ich zitiere —:
Je später es in der Zeit wird, um so beklagenswerter wird die Rolle der Opfer werden, die einst von den Mördern gepeinigt wurden und die jetzt von der Zeugenaufgabe gepeinigt werden, nach Jahrzehnten noch Aussagen zu machen, die unsere menschliche Gedächtniskraft übersteigen. Ebenso wird es den Richtern immer weniger möglich werden zu erkunden, was die Wahrheit war. Die unerträgliche Folge sind Freisprüche und Strafen, die wie Verspottung wirken.
Trotz solch schwerwiegender Erwägungen, die wir alle mindestens seit der Debatte der Jahre 1964/65 schon kennen, trete ich selbst für die Aufhebung der Verjährung ein. Ich habe aus Respekt vor der uns aufgegebenen Gewissensentscheidung und ich habe mit Bedacht auf mein staatliches Amt davon abgesehen, meine persönliche Haltung frühzeitig öffentlich in die gegenwärtige Debatte einfließen zu lassen.
Meine persönliche Auffassung gründet sich darauf, daß die bewußte Vernichtung von Menschenleben unter den Umständen des Mordes durch Zeitablauf gewiß nicht ungeschehen gemacht werden kann, daß sie im Gedächtnis der Menschen nicht verlöschen wird, auch ja nicht verlöschen soll, daß wir nicht wissen, welche Mordtaten noch offenbar
werden, und daß wir uns gleichzeitig allerdings auch dessen bewußt sind, daß unsere Gerichte gegenüber dem Ausmaß der Verbrechen, die zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begangen worden sind, nur bitter wenig zur Sühne beitragen können.
Doch wenn sich in den nächsten Jahren herausstellt, daß Mordtaten noch zu sühnen sind, auch gesühnt werden können, müssen wir dann für einen solchen Fall nicht die Möglichkeit des Strafverfahrens offenhalten? Wäre es nicht — anders als ein Vorredner heute morgen gemeint hat — eine geradezu unerträgliche Belastung für das Rechtsgefühl unseres Volkes und das Rechtsgefühl der Welt, wenn ein bislang noch nicht bekannter Täter nach Ablauf der Verjährung käme und sich seiner Taten rühmte? Wenn nach den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens dann keine Klärung mehr möglich sein sollte, wenn sie ausgeschlossen sein sollte, wären dann nicht Erschütterung und Verbitterung die Folge? Ich will nicht verhehlen, daß mir meine Betroffenheit erneut ins Bewußtsein dringt, wenn ich an die Stätten der Unmenschlichkeit denke, sei es Neuengamme, sei es Auschwitz.
Wie auch immer wir in der Frage der Aufhebung der Verjährung entscheiden — das Bemühen um die Aufklärung der Umstände, die zu den Mordtaten geführt haben, bleibt weit über die Gerichtssäle hinaus notwendig, damit alle erkennen lernen, auf welch schreckliche Weise menschliches Verhalten entarten kann, zur Entartung geführt, verführt werden kann. Indem wir uns, unseren Zeitgenossen und unseren Nachkommen darüber Aufklärung verschaffen, tragen wir dazu bei, das rechte Maß, wie ich hoffe, im menschlichen und politischen Zusammenleben zu finden und zu bewahren. Niemand sollte Gerichtsprozesse aus Anlaß jener Greueltaten, die heute und in Zukunft geführt werden, als ein lästiges Relikt aus ferner Vergangenheit mißdeuten. Sondern jedermann sollte sie als Beitrag dazu verstehen, der irdischen Gerechtigkeit Genüge zu tun und derartigen Untaten für die Zukunft vorzubeugen.
Die freiheitliche, demokratische Grundordnung unseres Landes wird von einer ganz breiten Mehrheit unserer Mitbürger getragen. Wir Deutschen haben aus den Jahren der totalitären Herrschaft und aus den Jahren des Krieges die Lehren gezogen. Aber gleichwohl können wir die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht beenden. Die Grundwerte unserer Verfassung müssen — auch vor dem Hintergrund dieser Vergangenheit — immer wieder, immer wieder neu mit Leben erfüllt und immer wieder neu gegen neue Bedrohungen gestärkt werden. Die Reife unserer Demokratie wird sich auch daran erweisen, in welchem Maße extremistischen Strömungen der Nährboden in unserem Lande entzogen wird; ich sage dies auch im Hinblick auf kommende Gewalttaten durch Rechtsextremisten.
In kritischer Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart ist von unserem Respekt vor der Würde und vor der Person eines jeden anderen
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnestag den 29. März 1979 11581
Bundeskanzler Schmidt
Zeugnis abzulegen. Dies gilt auch für jeden Beitrag in der heutigen Debatte.
Es geschieht übrigens in diesem Respekt, wenn ich Sie, verehrter Herr Kollege Dr. Gradl, und Ihre Kollegen, die den Antrag mitunterzeichnet haben, darum bitte, die von der Bundesregierung eingenommene und von mir soeben vorgetragene Haltung zu würdigen.

(Beifall bei der SPD, der FDP und Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814501200
Das Wort hat Herr Abgeordneter Graf Stauffenberg.

Graf Franz Ludwig Schenk von Stauffenberg (CSU):
Rede ID: ID0814501300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist jetzt wohl das vierte Mal seit 1949, daß der Deutsche Bundestag ganz grundsätzlich über das Thema der Verjährung schwerer Verbrechen diskutiert. Allein schon die Zahl, die Intensität und die Dauer der früheren Beratungen zeigen, daß diese Debatte von viel mehr bewegt wird als von der sachgerechten Regelung strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Fragen.
Niemand in diesem Haus wird den tiefen Ernst jener früheren Aussprachen in Zweifel ziehen, und niemand wird behaupten können, daß sich das Parlament seine Entscheidungen bisher leichtgemacht hat. Wer die alten Protokollaufzeichnungen nochmals durchgeht, spürt, wie schwer die Last geschichtlicher Erfahrungen auf jedem Wort, auf je- dem einzelnen Argument des Für und Wider gelegen hat. Heute, 34 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Schreckens — das zeigen auch die bisherigen Beiträge in dieser Debatte —, ergeht es uns nicht anders.'
Gleichwohl müssen wir uns, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bewußt bleiben, daß wir am Ende dieser Beratung eine Entscheidung über das rechtsstaatliche Verfahren zur Verfolgung strafbaren Unrechts fällen müssen. Ich darf ganz prosaisch hinzufügen: Wir müssen uns dabei stets erinnern, daß, wenn wir am Ende unser Gewissen haben sprechen lassen und nach bestem Vermögen gewissenhaft entschieden haben, andere mit den praktischen Auswirkungen zu leben haben: die Richter, die Staatsanwaltschaften, die Verteidiger, die Zeugen, die Beschuldigten, und zwar diejenigen, die freizusprechen, und diejenigen, die zu verurteilen sind.
Jede Rechtsordnung dieser Welt ist von geschichtlicher Enwicklung und historischen Erfahrungen geprägt. Es gibt kein brauchbares Rechtsverfahren, das sich allein aus abstrakter Theorie oder scheinbar absoluten Prinzipien erklären ließe. Deshalb ist es nicht nur legitim, sondern sogar notwendig, daß ein Volk wie das unsere in der lebendigen Fortentwicklung seines Rechts neue geschichtliche Erfahrungen aufnimmt und sinnvoll verarbeitet. Das gilt selbstverständlich auch für die Verjährung.
Es geht in dieser Debatte sicherlich nicht darum, meine Damen und Herren, Prinzipien der Rechtsordnung und der Rechtspraxis von den Erfahrungen und Lehren der Geschichte abzukoppeln. Ebensowenig kann es darum gehen, unter dem überwältigenden Eindruck des Erlebten und unter dem Eindruck einer weltweiten Aufmerksamkeit Erfahrungen, Notwendigkeiten und Erkenntnisse des Rechtslebens beiseite zu wischen.
Redlicherweise können wir nur darüber entscheiden, ob uns die Lehren der Geschichte zu einer Korrektur unserer Rechtsordnung veranlassen mit dem Ziel, die Autorität des Rechts zu stärken und den Rechtsfrieden wirkungsvoll zu sichern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Unter dem überwältigenden Eindruck des unheilvollen Geschehenen können wir nicht Rechtsregeln beschließen, die am eigentlichen Sinn, am konkreten Zweck des Strafverfahrens vorbeigehen.
Aufgabe des Strafverfahrens ist und bleibt es — das ist schon vorhin gesagt worden, aber es muß wiederholt werden —, konkrete Taten des Unrechts in der Person des konkreten Rechtsbrechers zu ahnden. In dieser Aufgabe liegen auch die Grenzen des Strafverfolgungsrechts. Das Gericht hat nicht nur die rechtlose Tat und das Unrecht festzustellen, das die Opfer haben erleiden müssen. Es muß den Täter einwandfrei im konkreten Fall der Tat überführen, seine persönliche Schuldfähigkeit beurteilen, seine konkrete Schuld beweisen und in jedem Stadium des Verfahrens auch seine Verhandlungsfähigkeit prüfen. Deshalb ist es ein schiefes und letztlich irreführendes Bild, wenn immer wieder gesagt wird, in den sogenannten KZ-Prozessen sitze das Verbrechen des gesamten nationalsozialistischen Systems mit auf der Anklagebank. Meine Damen und Herren, keine Anklagebank in der Welt ist groß genug und hat Platz genug für das entsetzliche Verbrechen des Nationalsozialismus.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Feststellung gehört auch zu unseren geschichtlichen Erfahrungen. Es sind Erfahrungen der Nachkriegsjahre, die mit dem Nürnberger Prozeß begannen und sich mit jedem der noch heute anhängigen Verfahren dokumentieren.
Auch in den streitigen Auseinandersetzungen heute und in den kommenden Wochen dürfen wir nicht zulassen, daß uns falsche Fronten aufgedrängt werden, weder von innen noch von außen. Niemand, der hier zur Verjährung der strafrechtlichen Verfolgung von Mordtaten ja sagt, kann und will sich aus dem Erbe einer — unserer — düsteren Vergangenheit davonstehlen. Ebenso kann niemand — und will wohl auch niemand —, der die Verjährung aufheben will, die Last deutscher Vergangenheitsbewältigung den Strafgerichten überbürden.
Zahllose Kommentare und Artikel haben während der vergangenen Monate unsere Überlegungen zur Verjährung begleitet. Viele, allzu viele dieser Stellungnahmen haben ein verzerrtes Bild gezeigt. Wo dieses aus Mangel an Wissen oder auch manchmal wider besseres Wissen geschehen ist, können wir kaum nachprüfen. Lassen Sie mich



Graf Stauffenberg
deshalb doch noch einmal wiederholen, was zwar schon oft festgestellt worden ist, jedoch immer wieder übergangen wird: Die Verjährung der Verfolgung von Straftaten ist alte und, wie ich meine, wohlbegründete Rechtstradition unseres Landes. Das heißt nicht, daß diese Rechtstradition unbedingt bindet, aber es ist alte Rechtstradition. Bereits nach dem württembergischen Strafgesetzbuch von 1839, dem hessischen von 1841 und dem badischen und dem preußischen von 1851 unterlagen alle Delikte der Strafverfolgungsverjährung. Natürlich ist nach dieser Zeit auch die Diskussion — ob ja oder nein bezüglich der Verjährung von Mord — fortgegangen. Da gibt es Beispiele, die man auch nicht übersehen darf.
In der 19. Sitzung der Strafrechtskommission beim Reichsjustizministerium am 3. März 1934 erklärte der damalige Staatssekretär im Preußischen Justizministerium — ich darf zitieren —:
Wenn es aber in einem deutschen Strafgesetzbuch heißt: „Die Strafbarkeit einer Tat erlischt durch Verjährung", so ist das ein Schlag ins Gesicht, weil dieser Satz eine sittliche Unmöglichkeit darstellt. Es ist Ideengut der Deutschen, daß überhaupt nichts, was einmal als Tat in die Welt gesetzt ist, jemals untergeht.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814501400

Meiner Ansicht nach entspricht es nicht der Würde des Staates und des vereinten Volkes, von vornherein mit bindender Wirkung auf den Strafanspruch zu verzichten.
Der Name dieses Staatssekretärs war Roland Freisler — ein Name, der zum Synonym für die schlimmste Perversion des Rechts unter nationalsozialistischer Herrschaft geworden ist.

(Frau Erler [SPD]: Wo ist da die Parallele?)

Mit der sogenannten Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943 hob der nationalsozialistische Staat, das nationalsozialistische Regime die Verjährung für Schwerstverbrechen auf. Es ersetzte sie durch den Übergang auf das Opportunitätsprinzip; es überließ dem Staatsanwalt die Entscheidung, ob er die Verfolgung noch einleiten wollte oder nicht.
Meine Damen und Herren, es war dann nach dem Krieg strittig, ob diese neue, seit 1943 geltende Rechtsbestimmung überhaupt weiterhin Gültigkeit habe oder ungültig geworden sei, weil sie Ausdruck nationalsozialistischer Rechtsvorstellungen war. Mit dem Dritten Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 hat dieses Hohe Haus das Prinzip der Verjährung — auch für Mord — wieder voll zur Geltung gebracht, und dies, wie ich meine, aus guten Gründen und in voller rechtsstaatlicher Verantwortung.
Verjährung zieht keinen Schlußstrich unter Unrecht und auch nicht unter die strafrechtliche Verfolgung von Unrecht. Nach dem 31. Dezember 1979 werden so oder so — wie unsere Entscheidung hier auch fällt — Tausende von Verfahren über NS-Verbrechen weitergeführt werden. Die Verjährung
hat nichts mit Amnestie zu tun und schon gar nichts -- wie leider manchmal, nicht hier in diesem Haus, aber von außen, unterstellt worden ist — mit der Umwandlung von Unrecht in Recht. Mit dem Eintritt der Verjährung endet — und das bedeutet sie wirklich — die Strafverfolgung praktisch nur für Delikte, bei denen nach 30 Jahren Tat und Täter so unbekannt geblieben sind, daß es nicht einmal zu einer richterlichen Handlung mit der Folge der Verjährungsunterbrechung gereicht hat. Das bedeutet Verjährung.
Gleichzeitig — ich möchte das noch einmal aufgreifen; die Kollegen Kleinert und Erhard haben schon darauf hingewiesen — wird auch in Zukunft eine Vielzahl von Untätern — ganz gleich, wie wir hier am Ende entscheiden — frei und rechtlich unbehelligt unter uns leben. Es sind Leute, deren Namen und Taten bekannt sind. Es sind Täter, die von den Gerichten der Alliierten nach dem Kriege verurteilt wurden und — wenn ich es richtig sehe, spätestens 1956/57, die letzten von ihnen — auf freien Fuß gesetzt wurden, ohne von der deutschen Gerichtsbarkeit belangt werden zu können.
Dazu doch vielleicht auch ein Wort an unsere amerikanischen Kollegen: Ich weiß nicht, ob diese Teile der Nachkriegsgeschichte bei der Verfolgung von NS-Verbrechen den Abgeordneten des amerikanischen Repräsentantenhauses bekannt gewesen sind und ob sie sie berücksichtigt haben, als sie in einem Appell an uns für die Aufhebung der Verjährung eingetreten sind.
Meine Damen und Herren, nach meiner Überzeugung und nach der vieler Kollegen hier im Hause ist das Institut der Verjährung Ausdruck der Erkenntnis, daß den Menschen Grenzen gesetzt sind — auch in ihren Möglichkeiten, schweres Unrecht zu ahnden und durch Sanktionen des Rechts den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Es ist in diesem Hause in den früheren Debatten schon mehrmals vor der Hybris einer Illusion perfekter, lückenloser Rechtsmechanismen gewarnt worden, und diese Warnung gilt heute dringender denn je. Wir können von einer Rechtsordnung nicht mehr verlangen, als die staatlichen Organe, d. h. die in ihnen tätigen Menschen, zu leisten in der Lage sind. Schon die heute laufenden Verfahren über die Verbrechen des Nationalsozialismus zeigen, wie unendlich schwer es in der Praxis ist, Taten nach 34 und mehr Jahren gerechter Sühne zuzuführen. Es ist leicht, an den Prozessen Kritik zu üben, weil sie sich über acht, zehn und mehr Jahre hinziehen. Diese Kritik ist von vielen Seiten geübt worden. Es ist wohlfeil, heute über niedrige Verurteilungsquoten in diesen Prozessen zu klagen. Aber keine Kritik, meine Damen und Herren, entläßt Richter, Staatsanwälte und Verteidiger aus der Pflicht, in einem jeden einzelnen Fall gemäß den Regeln und Vorschriften eines ordentlichen und fairen Verfahrens konkret feststellbaren Tatvorgängen, individueller Vorwerfbarkeit und persönlich-individueller Schuld nachzugehen.
Für jeden rechtlich denkenden und gerecht fühlenden Menschen muß es schmerzlich sein, sich mit der Begrenzbarkeit staatlicher Rechtsinstrumente



Graf Stauffenberg
abfinden zu müssen. Gerade angesichts der nach wie vor unfaßlichen Scheußlichkeit der „administrierten" Unmenschlichkeit, die den Nationalsozialismus kennzeichnet, erscheint es fast unerträglich, mit der Endlichkeit und — sagen wir — Unvollkommenheit rechtsstaatlicher Sanktionen leben zu müssen, sich abfinden zu müssen. Das gilt naturgemäß für die unserer Mitbürger um so mehr, die eine andere als irdische Gerechtigkeit nicht kennen, oder far die, die an sich alles auf dieser Welt für menschlich machbar halten.
Gleichwohl, meine Damen und Herren, dienen wir letztlich nur dann dem Recht, wenn wir ganz offen und ehrlich anerkennen, was das Recht kann und was es nicht vermag. Das Strafrecht kann niemals das geschehene Unrecht rückgängig machen. Sein Mittel, den schweren Rechtsbruch zu sühnen, ist stets begrenzt und muß begrenzt bleiben. Das gilt nicht nur für die Dauer der Verfolgung.
Dem rücksichtslosesten Mörder, der sich um die menschliche Würde und das Leiden seines Opfers nicht kümmert, auch ihm, stehen alle Rechte der Verteidigung, der Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Verfahren und alle Chancen des Instanzenzuges offen und, wenn er verurteilt wird, auch in vielfältiger Weise das Recht und die Ansprüche aus rechtlichen Verfahren, Beschwerdeweg und ähnliche Dinge mehr.
Wenn ein massenmordender KZ-Scherge, meine Damen und Herren, die schwerste Strafe verbüßt, die unsere Rechtsordnung kennt, dann hält sein Schicksal keinen Vergleich mit dem aus, was er anderen angetan hat. Aber — und auch das sollten wir bedenken — selbst diese lebenslange, also härteste Strafe gilt bei vielen Kollegen in unserem Haus als zu hart und zu menschenunwürdig. Es gibt nicht wenige, die diese Strafe modifizieren, in eine zeitliche Strafe umwandeln, sie in der Härte des Vollzugs erleichtern wollen. Unter diesen Kollegen sind viele, die auch den Antrag, der die Aufhebung der Verfolgungsverjährung bei Mord zum Gegenstand hat, unterschrieben haben. Mir scheint hier ein für mich nicht überbrückbarer merkwürdiger Widerspruch zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Oder geht es - und darauf deuten bereits einige der Diskussionsbeiträge in dieser Debatte hin — vielleicht gar nicht in erster Linie um die tatsächliche Sühne, um die tatsächliche Verhängung und Verbüßung der Strafe beim Straftäter, beim Verbrecher? Geht es vielleicht doch eher um die öffentlich sichtbare Feststellung des geschehenen Unrechts, um die sichtbare Distanzierung unseres Staates und unserer Ordnung von den Verbrechen des Nazismus? Zu einer solchen Demonstration eignet sich gerade ein rechtsstaatliches Strafverfahren wenig, heute, 34 Jahre nach dem Zusammenbruch, weniger denn je. Bürdet man eine derartige politische oder — vielleicht können Sie auch sagen — geschichtlichpädagogische Aufgabe dem Strafverfahren auf, dann gefährdet man seine eigentliche Aufgabe, seinen eigentlichen Sinn: mit der Folge, wie ich fürchte,
daß man damit in die Rechtsstaatlichkeit unserer Ordnung gefährdend einwirkt.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Ich wundere mich eigentlich immer wieder, daß ein Verzicht auf Strafverfolgung nach 30 und mehr Jahren als unerträglich für das Ansehen unseres Rechts und als fortlaufende Störung des Rechtsfriedens angesehen wird. Aber gleichzeitig wird die nach so viel Jahren doch notwendig steigende Zahl ergebnisloser Verfahren, die ja nicht zuletzt Ausdruck dessen ist, daß es ordentliche, faire und rechtliche Verfahren sind, schweigend in Kauf genommen. Meinen Sie nicht, daß dies letztere die Rechtsautorität und den Rechtsfrieden ebenso berührt, ja, eigentlich noch schlimmer trifft?
Die Aufhebung der Verfolgungsverjährung bei Mord stärkt, wie ich überzeugt bin, auf Dauer gesehen — vielleicht mögen wir es anders hoffen — weder die Autorität des Rechtes noch ist sie als Beitrag zur Sicherung des Rechtsfriedens geeignet. Die Aufhebung der Verjährung ist nach meiner Überzeugung deshalb eben auch kein geeignetes Instrument, um das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland als eines geachteten Rechtsstaates vor den Augen der Welt zu stärken.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, viele von uns haben im Fernsehen die Filmfolge „Holocaust" gesehen, und die meisten von uns waren sicherlich ebenso erschüttert wie Millionen unserer Mitbürger, unserer Mitmenschen im In- und Ausland. Es ist verständlich und, wie ich meine, weiß Gott ehrenhaft, wenn wir als Zuschauer, aufgewühlt und hilflos in der Passivität des Angesprochenen, leidenschaftlich danach drängen, etwas zu tun, wenn wir gewissermaßen ein Ventil des Tuns für das aufgestaute Entsetzen suchen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, muß uns aber nicht eine andere Frage viel mehr noch bewegen, eine Frage, die auch schon •angesprochen worden ist und die wir noch oft ansprechen müssen: Warum erschüttert denn gerade die „Holocaust"-Folge? Sie hat nichts Neues gebracht, nichts, was nicht seit Jahren, Jahrzehnten in ungezählten Büchern, Bildern, Zeitungsberichten, wissenschaftlichen Untersuchungen und Prozeßakten, ja, auch in Prozeßakten offen zutage lag. Warum konnte „Holocaust" bewirken, was alle Strafverfahren, öffentliche Strafverfahren mit Berichterstattungen im In- und Ausland nicht bewirkt haben? Der Grund dürfte darin liegen, daß hier am Schicksal einer Familie, weniger Menschen, am Schicksal von Menschen, die uns konkret und greifbar nahe schienen, das Schicksal von Millionen lebendig nachgezeichnet wurde, so, daß es unmittelbar nicht nur in den Verstand, sondern auch in das Herz hineinging. Ein Stück des Unbegreifbaren und des Unfaßbaren schien plötzlich greifbar und deswegen persönlich mitleidbar.
Daß dies Tausende von Strafverfahren gegen Naziverbrecher nicht bewirkten, liegt weder an



Graf Stauffenberg
der Unzulänglichkeit der Rechtsordnung noch an der Unzulänglichkeit der Gerichte. Es liegt am Wesen des rechtsstaatlichen Strafverfahrens, das eine andere Aufgabe und einen anderen Sinn hat, nämlich dem Unrecht im konkreten und einzelnen Fall mit dem Recht zu begegnen, Recht zu sprechen und, wo Sühne möglich ist, Rechtsbruch zu sühnen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben dankenswert an die Gedenkstunde in der Synagoge zu Köln am 9. November vergangenen Jahres erinnert, als Sie um Rat für unsere Entscheidung baten: den Rat des Auslands, den Rat der Opfer, den Rat der Hinterbliebenen. Wir haben — Sie haben darauf hingewiesen — vielfachen, ernsthaften, bewegenden, eindringlichen Rat erhalten. Wir haben den gutgemeinten Rat angenommen, wir haben Argumente erwogen und mit manchem auch ebenso wie Sie, Herr Bundeskanzler, lange, ernsthaft und leidenschaftlich diskutiert. Aber alle, die sich so an uns wandten, die mit gutem und ehrlichem Rat zu uns kamen, bitte ich zu verstehen — da möchte ich auch von meiner Position her das Wort des Bundeskanzlers aufgreifen —, daß uns letztlich niemand, auch bester Rat nicht, die Entscheidung abnehmen kann. Wir müssen in der Abwägung aller Argumente vor unserem Gewissen, unserer Überzeugung und in unserer Verantwortung entscheiden. Sie werden vielleicht nicht unsere Überzeugung und das Ergebnis unserer Gewissensentscheidung teilen und billigen; aber ich bitte jeden, der diese Debatte ernsthaft verfolgt, herzlich darum, uns abzunehmen, daß wir alle hier im Haus ernsthaft, im besten und ehrlichen Bemühen vor der Geschichte unseres Landes und in der Verantwortung für unsere Zukunft ehrenhaft und ehrlich entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben aber — das kann man auch nicht einfach übergehen — leider auch andere Stimmen gehört, die mit gutem Rat gar nichts zu . tun haben. Ich meine die unerträglich heuchlerischen Belehrungen von Vertretern totalitärer Regime, die sich als Hüter des „Antifachismus" aufspielen und nichts weiter sind als Funktionäre ähnlicher administrierter Unmenschlichkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In ihrem System dokumentieren sie — das ist in der Tat bitter —, wie wenig sich die Lehre aus den dunklen Zeiten unserer Geschichte in der Welt von heute insgesamt hat durchsetzen können. Aber diese Stimmen erinnern uns an etwas. Wenn und weil die Erinnerung an Auschwitz, Buchenwald, Treblinka unser Herz erfüllt, voll macht, gerade deshalb müssen wir doch in diesem Herzen für die ungesühnten Opfer der Ljubljanka, des Archipel GULag und des Mordstreifens an der Zonengrenze Platz finden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich glaube, nur aus der Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 erklärt sich, daß wir immer wieder
in den Jahren seit Bestehen dieses Hauses über das Institut der Verjährung diskutiert haben. Ohne diesen historischen Hintergrund würden wir heute sicherlich nicht über dieses Thema sprechen.
Beobachter, die einmal aus größerer zeitlicher Distanz diese Auseinandersetzung nachverfolgen, werden insgesamt wohl auf die Befangenheit der freien Deutschen gegenüber ihrer Vergangenheit schließen, ungeachtet des hohen Niveaus vieler individueller Diskussionsbeiträge. Ich finde, diese Befangenheit ist ehrenwert, sie ist unendlich besser als beispielsweise die betrügerische Bosheit, mit der sich etwa das Ost-Berliner Regime aus den historischen Lasten unseres Landes davonschleicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Autoren der hier zu beratenden Vorlagen haben ja deutlich gemacht, daß es ihnen insbesondere, vielleicht vor allem, um den bedrückenden Nachlaß der Jahre 1933 bis 1945 und — ich glaube, ich interpretiere das richtig — um das Bild der Bundesrepublik Deutschland in der Welt geht. Es war wohl sorgsam bedacht, daß der Fraktionsvorsitzende der SPD die Initiative der Kollegen aus seiner Partei in Israel ankündigte, und es scheint uns doch das erklärte, ja vielleicht sogar das 'hauptsächliche Ziel der Vorlagen zu sein, nicht nur Konsequenzen für die Zukunft aus den historischen Erfahrungen zu ziehen; nein, es ist Sinn und mit Hauptaufgabe, wenn nicht die Hauptaufgabe, rechtzeitig vor dem Termin des 31. Dezember 1979 das Unrecht des Nationalsozialismus nochmals ohne zeitliche Limitierung zu erfassen.
Das Bundesverfassungsgericht hat, wie Kollege Kleinert ja vorhin schon in Erinnerung gerufen hat, entschieden, daß die Veränderung von Verjährungsregeln für zurückliegende Straftaten statthaft ist. Deshalb können die Antragsteller mit gutem Grund erwarten, daß ein entsprechendes Gesetz nicht am Grundgesetz und nicht an den Richtern in Karlsruhe scheitern wird.
Ich gestehe offen, daß ich mit jener Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1969 nur schwer zurechtkomme. Die Unterscheidung zwischen dem materiellen Recht, das Rückwirkung ausschließt, und dem Verfahrensrecht, das Rückwirkung zuläßt, scheint mir persönlich immer noch zu formal zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Da sind Sie nicht allein!)

Denn das tatsächliche Ergebnis bleibt doch, daß mit der Aufhebung laufender Verjährungsfristen die tatsächliche Rechtsposition des Angeschuldigten, und zwar des zu Recht wie des zu Unrecht Angeschuldigten, rückwirkend verändert wird. Selbst wenn die verfassungsrechtliche Auslegung des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes in der Verjährungsfrage freie Hand zu geben scheint: Der Rechtsgrundsatz „nulla poena sine lege" — „keine Strafe ohne Gesetz" — muß uns doch zumindest veranlassen — und vielleicht können wir uns darauf verständigen —, mit großer Sorgfalt und mit äußerster Behutsamkeit und Bedachtsamkeit an die bestehenden Strafgesetze heranzugehen.



Graf Stauffenberg'
Wir stehen doch, wie ich meine, auch in der Verpflichtung der geschichtlichen Kontinuität dieses Parlaments.

(Beifall bei Abgeordneten. der CDU/CSU und der FDP)

Wir können nicht darüber hinweggehen, daß dieses Haus bei allen Veränderungen der Verjährungsvorschriften, obwohl es immer andere Meinungen gab, nach eingehenden Diskussionen mit großer Mehrheit an dem Prinzip der Verjährung für alle Straftaten festgehalten hat, übrigens, wie ich meine, mit gewichtigen und überzeugenden Gründen.
Lassen Sie mich hinzufügen: Auch der Hinweis, daß es in anderen Rechtsordnungen dieses Prinzip der Verjährung für Mord nicht gibt, hilft uns nicht weiter, weil dann mit dem gesamten Verfahrensrecht anderer Länder, mit dem Beweiserhebungsrecht, mit der Tatsache, daß Geschworene einstimmig beschließen müssen usw. usf., der Vergleich gezogen werden muß. Eine Reduzierung allein auf die Frage „Gilt Verjährung oder nicht" hilft überhaupt nicht weiter. Wir müssen das dann schon komplexer machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen fürchte ich, daß die hier vorliegenden Vorlagen —. selbstverständlich nicht bewußt und nicht gewollt, aber im Ergebnis doch — mit ihren Wirkungen in keinem günstigen Verhältnis mehr zu den negativen Folgen stehen, die sich aus dem Bruch der Rechtskontinuität und vielleicht einem allgemeinen Eindrudc einer mangelnden Zuverlässigkeit und fehlenden Dauerhaftigkeit unserer Rechtsordnung ergeben. .
Meine Damen und Herren, die feste, ja, eigentlich die einzig gültige Antwort, die die Deutschen auf das Verbrechensregime des Nationalsozialismus ha- ben geben können, war der Aufbau eines festen, eines verläßlichen, eines achtenswerten Rechtsstaats. Thomas Dehler sprach von einem „Rechtsstaat ohne Wenn und Aber". Zu einem Rechtsstaat gehört, daß er seine Reditsordnungen nach den Erfordernissen der Sache regelt, also so, daß er sein Strafverfahren unter Würdigung aller Argumente und geschichtlichen Erfahrungen, aber dann ' doch an den Erfordernissen eines gerechten, eines sinnvollen, eines durchfährbaren, eines glaubwürdigen Strafverfahrens orientiert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist offen ausgesprochen, daß die vorliegenden Anträge wenigstens zum Teil, wenn nicht zum überwiegenden Teil ihre Begründung in der drückenden Last der geschichtlichen Erfahrung und in der Sorge um das Bild des freien Deutschlands von heute finden. Diese Gründe sind natürlich ernst zu nehmende Gründe, das sind widitige Gründe. Dennoch haben diese Gründe die bewährten Prinzipien des deutschen Strafverfahrensrechts nicht widerlegt. Sie haben allenfalls die wohlerwogenen Gründe für das Institut der Verjährung in den Hintergrund gedrückt. Meine Damen und Herren, ich bitte, mich jetzt recht zu verstehen und mir hier nicht eine falsche Motivation zu unterstellen, weil das wirklich etwas ist, wovor ich Sorge habe: Für das Ansehen unseres Rechtsstaates, für das Vertrauen, das er beanspruchen muß, wäre es verhängnisvoll, wenn der Eindruck entstünde, dieser Rechtsstaat regle seine Strafverfahren nicht nach den Erfordernissen sinnvoller und' gerechter Strafverfolgung. Um der Integrität unseres Rechts willen darf und kann uns niemand ansinnen und auch niemand dazu bewegen; daß wir unser Strafrecht geschichtlicher Befangenheit oder gar außenpolitischen Erwägungen zur Disposition stellen. Wir würden damit nicht nur unserem Land und unserem Recht, sondern auch den Verbrechensopfern und den Hinterbliebenen einen schlechten Dienst erweisen:

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir können nicht ein- fach darüber hinwegsehen: es besteht weithin der Eindruck, als ob die Welt ausgerechnet an, der Verjährungsfrage beurteilen wolle, ob sich unser Volk tatsächlich aufrichtig, dauerhaft, bedingungslos vom Nationalsozialismus abgewandt habe. Ich muß sagen, ausgerechnet an der Verjährungsfrage, die für diese Fragestellung gar nichts hergibt. Dieser Eindruck ist beklemmend Hier begegnen wir dem weltweiten Engagement, die drückende Last nationalsozialistischer Vergangenheit aufzuarbeiten, für uns alle und auch für unsere Zukunft und für die, die nach uns kommen. Das ist notwendig. Aber dieses weltweite Engagement geschieht eben manchmal auch mit untauglichen Mitteln, mit tauglichen und mit untauglichen Mitteln. Dazu steht in krassem Gegensatz die weitverbreitete Langmut, die Schicksalsergebenheit wie auch die Gleichgültigkeit, mit denen die heutige Menschheit heutigen Massenverbrechen gegenübertritt. Es ist verhängnisvolle Illusion, zu glauben, das weltpolitisch Böse sei ein für allemal im Nationalsozialismus und Faschismus dingfest gemacht worden.
Der Ungeist Hitlerscher Menschenverachtung, meine Damen und Herren, lebt auch heute, unter anderer Flagge vielleicht, in anderen Farben, in vielen Teilen unserer Welt. Den Menschen, die heute leiden, geschunden und unterdrückt werden, zu. helfen und unerbittlich Partei für die Menschlichkeit zu ergreifen, das scheint mir das eigentliche, das überragende Vermächtnis zu sein, zu dem uns die Gemordeten verpflichten.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814501500
Das Wort
hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.

Dr. Friedrich Wendig (FDP):
Rede ID: ID0814501600
Herr Präsident.!! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich gehöre in der FDP-Fraktion zu denjenigen, die die Auffassung vertreten, daß aus zwingenden rechtspolitischen Gründen die Unverjährbarkeit von Mord in unser Strafrecht eingeführt werden sollte.
Die Frage nach der Verjährbarkeit oder Unverjährbarkeit von Mord verlangt eine Antwort, die wir in unserer rechtspolitischen Überzeugung und in unserem Gewissen finden müssen. Wir alle haben



Dr. Wendig
danach zu trachten, daß trotz gegensätzlicher Standpunkte keine Gegensätze in unserem Volk aufgerissen werden. Ob der eine oder der andere der bessere oder der schlechtere Deutsche ist, hängt nicht von der Position ab, die er in dieser Frage einnimmt. Das gilt sowohl für die Diskussion innen wie natürlich auch nach außen. Mit diesem Ziel sollten wir aber auch, unabhängig von dem Ausgang dieser Debatte, die notwendigen Gespräche mit den Bürgern unseres Landes führen.
Gemeinsam ist uns allen der Abscheu vor der NS-Gewaltherrschaft und das Bestreben, alles zu tun, daß in unserem Lande derartiges oder ähnliches verhindert wird.
Ich möchte zunächst im Vorfeld einige Einwendungen ausräumen, die einem hier und auch draußen entgegengehalten werden, wenn man sich für die Unverjährbarkeit von Mord einsetzt. Manche Kritiker — wir haben das auch heute gehört — verweisen auf die Tatsache, daß sich der Bundestag seit 1960 schon dreimal für die Beibehaltung des Prinzips der Verjährbarkeit von Mord ausgesprochen hat.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Schon seit 1953!)

An diese Feststellung wird die Forderung geknüpft, das Parlament möge in einer für den Rechtsstaat so wichtigen Frage im Interesse der Kontinuität fundamentaler Rechtsnormen nicht ohne Not von der mehrfach festgeschriebenen Linie abweichen. Das ist im Prinzip ein richtiger Grundsatz. Ich will ihn auch nicht damit abtun, daß ich selbst, ohne dem Deutschen Bundestag damals anzugehören, schon 1965 und 1969 die gleiche Auffassung vertreten habe wie heute,
Aber es sollte schon zu denken geben, daß der Tatbestand des Völkermordes bereits seit 1969 unverjährbar ist, das Prinzip der Unverjährbarkeit bestimmter, schwerster Delikte also schon heute Bestandteil des geltenden Rechts ist. Seit den Beratungen der Jahre 1965 und 1969 hat die generelle Unverjährbarkeit von Mord in einigen Fraktionen des Bundestages im übrigen immer wieder mit in Frage gestanden. Einen gänzlich neuen Gedanken enthält die Vorlage, über die wir heute diskutieren, mithin nicht. Im übrigen aber: So sehr ich eine gewisse Kontinuität in der Gesetzgebung bejahe, ja für notwendig halte, muß ich andererseits als Gesetzgeber auch in der Lage sein, aus einer, wie ich meine, Fehlentscheidung die notwendigen Konsequenzen u ziehen.
Von einigen Gegnern der Unverjährbarkeit von Mord wird weiter ausgeführt, daß sie sich in dieser Frage einem Druck von außen ausgesetzt fühlten, dem sie allerdings zu widerstehen gedächten. Ich halte einen solchen Hinweis für keine gute Sache. Richtig ist, wie jedermann weiß, daß in einigen ausländischen Staaten bestimmte Hoffnungen, bestimmte Erwartungen gehegt werden. Was uns jetzt zur Beratung vorliegt, ist indessen eine rein deutsche Angelegenheit, die wir nach unserer Überzeugung und nach unserem rechtsstaatlichen Gewissen entscheiden müssen — so oder so, welche Entscheidung man auch außerhalb unserer Grenzen erwartet.
Sicher lebt kein Staat in einer isolierten Welt, so daß es ihm nicht gleichgültig sein kann, was um ihn herum geschieht und gedacht wird. Das gilt — das muß man leider sagen — gerade auch für uns Deutsche. Gleichwohl sollte niemand in diesem Hause den Verdacht aufkommen lassen, in einer rein innerdeutschen Anglegenheit würde anders als nach unserer rechtspolitischen Überzeugung geurteilt.
Wir dürfen uns bei diesem Entscheidungsprozeß auch nicht davon beeindrucken lassen, daß wir für unsere Auffassung eventuell Zustimmung mit Argumenten bekommen, die uns gar nicht passen. Es gibt da Stimmen, die beispielsweise von der Generalamnestie sprechen, die mit der Verjährungsfrage überhaupt nichts zu tun hat. Von den Aufrechnungsstrategen — um das einmal so zu bezeichnen -- will ich gar nicht reden. Das gehört nicht zum Thema. Hier geht es um eine Frage, die wir als Deutscher Bundestag, als deutsche Parlamentarier nach unserer eigenen Überzeugung entscheiden müssen, und um nichts anderes.
Der letzte allgemeine Einwand fügt sich unmittelbar an den vorangegangenen an. Er wird immer wieder gehört, und er klang auch heute in vielen Diskussionsbeitragen durch. Es geht um den Einwand, die generelle Unverjährbarkeit von Mord sei nicht ehrlich. Manche formulieren es sogar noch schärfer: rei nicht ehrlich, weil man etwas in einen größeren rechtspolitischen Zusammenhang stelle, obwohl doch im Kern nur an Mordtaten in der NS-Zeit gedacht sei. So die Argumentation.
Ich will gerne einräumen — das wissen wir alle -, daß dieser Komplex 1965 und 1969 sicherlich allein auf die NS-Zeit fixiert diskutiert worden ist. Ich habe das schon damals nicht für gut gehalten, und schon deshalb fühle ich mich persönlich nicht daran gehindert, auch heute zu sagen, daß wir ein allgemein rechtspolitisches Problem vor uns haben, das wir generell lösen müssen, so sehr auch ein bestimmter Zeitraum unserer jüngsten deutschen Geschichte besonders starke Anstöße für solche Überlegungen liefert. Ich will deshalb, um ganz ehrlich zu sein, den Anlaß, der uns bei einem erneuten Überdenken des Verjährungsproblems mit leitet, keineswegs verschweigen.
Ich will das nicht wiederholen, was beinahe alle meine Vorredner über die Brutalität des Gewaltsystems der NS-Zeit gesagt haben. Es wäre zuviel, wenn ich das wiederholen wollte. Ich sage nur: Ich will den. Anlaß, der mich mit leitet, keineswegs verschweigen. Das darf uns jedoch nicht dazu führen, die Lösung dieser Frage wiederum nur mit dem verengten Blick auf den Komplex der Morde in der NS-Zeit anzugehen. Wenn uns aus der Vergangenheit — jetzt will ich sie einmal anführen — eine Erfahrung zuteil geworden ist, die noch in uns fortlebt, wie ich meine, so diese, daß der Wert des menschlichen Lebens im Zentrum unserer Überlegungen stehen muß. Mord und bestialische Grausamkeit sind auch in der Gegenwart nicht aus der Welt. Einige Redner — auch Herr Kollege Gradl — haben darauf hingewiesen: Nehmen wir die Vernichtung menschlichen Lebens als Anknüpfungs-
Deutscher Bundestag 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 11587
Dr. Wendig
punkt — so bitte ich das zu verstehen —, so vermag ich zwischen Morden verschiedener Qualität oder aus verschiedener Motivation generell nicht zu unterscheiden.
Deshalb gehe ich bei meinen Überlegungen von zwei Grunderkenntnissen aus und lasse dabei die Vergangenheit zunächst einmal ein bißchen beiseite, denn wir blicken ja auch nach vorn.
Erstens. Das menschliche Leben stellt in unserer Rechts- und Verfassungsordnung einen höchsten Wert dar,

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Ein en höchsten Wert!)

der deshalb gegenüber allen strafrechtlich relevanten Eingriffen in Rechtsgüter eines besonderen Schutzes bedarf. Recht auf Leben und Menschenwürde, die wiederum menschliches Leben voraussetzt, sind die ersten Grundrechte unserer Verfassung — Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 unseres Grundgesetzes —. Mord ist deshalb die größte Störung des Rechtsfriedens, die es in der menschlichen Gemeinschaft, die schließlich auch eine Rechtsgemeinschaft ist, geben kann. Ich bin mir nicht im Zweifel darüber, daß dies auch von der Mehrheit der Bürger so empfunden wird.
Mit der Erkenntnis, die sich vielleicht durch gewisse Geschehnisse in der letzten Zeit aktualisiert hat, taucht auch die Frage auf, ob nicht das, was wir als liberale Rechtstradition der Verjährung bezeichnen — mit Recht oder Unrecht —, gerade aus der neuen Erkenntnis vom Wert des menschlichen Lebens in unserer Verfassung Anlaß gibt, diese sogenannte Rechtstradition in Frage zu stellen.
Dies leitet über zu der zweiten Feststellung, nämlich daß Rechtsfrieden auch im Bewußtsein unserer Rechtsgemeinschaft bei so schweren Angriffen gegen das menschliche Leben nicht lediglich durch Zeitablauf bewirkt werden kann.
Diese Erwägungen veranlassen mich, das Problem der Mordverjährung rechtsgrundsätzlich anzugehen. Es stellt sich damit für mich die grundsätzliche Frage, ob kriminalpolitische, ob rechtspolitische, ob ethische Gesichtspunkte es gebieten und rechtfertigen — man muß beides sehen —, die bereits bei Völkermord bestehende Unverjährbarkeit der Strafverfolgung generell auf Mord auszudehnen. Deshalb halte ich den Versuch, die Unverjährbarkeit von Mord auf bestimmte Komplexe der NS-Zeit einzugrenzen, rechtspolitisch für unvertretbar, selbst wenn ich unterstelle, daß dies verfassungsrechtlich zulässig und rechtssystematisch hinreichend bestimmbar wäre.
Bei allen früheren Debatten bestand in diesem Hause trotz Meinungsverschiedenheiten in den wichtigen Fragen bei allen Abgeordneten jedenfalls Einigkeit darüber, daß kein Sondergesetz und damit kein Ausnahmerecht geschaffen werden darf. Ich meine, an diesem Prinzip sollten wir auch heute festhalten. Das gilt nach meinem Dafürhalten auch für den Vorschlag meines Kollegen Maihofer, der Ihnen heute nachmittag noch näher begründet werden wird. Dieser Vorschlag beinhaltet, die Unverjährbarkeit des Mordes auf die besonderen Voraussetzungen des Völkermords einzugrenzen. Ich sehe hier keine verfassungsrechtlichen und rechtssystematischen Bedenken. Aber dieser Vorschlag engt den Tatbestand zu sehr ein, so daß gewichtige Tatbereiche — nehmen wir die Euthanasie, nehmen wir die Morde an Deutschen nicht aus politischen Gründen und anderes mehr — einfach vor der Tür bleiben. Es würde so innerhalb vergleichbarer Täterkreise unterschiedliches Recht geschaffen.
Ich habe darüber hinaus auch Zweifel, ob es in sehr vielen Fällen gelingen wird, dem Täter Absicht, Völkermord zu begehen, nachzuweisen. Es wäre ein schlimmes Ergebnis, könnte bei einem nachgewiesenen Mord eine Strafverfolgung nur deswegen nicht Platz greifen, weil die Absicht, Völkermord zu begehen, dem Täter nicht nachgewiesen werden konnte.
Wir müssen uns schon zu einer rechtsgrundsätzlichen Grundsatzentscheidung durchringen, die nach meiner Überzeugung nur darin bestehen kann, anstelle der Verjährungsvorschriften für die Strafverfolgung von Mord die generelle Unverjährbarkeit von Mord vorzusehen. Die Gründe, die hiergegen vorgebracht werden, nehme ich sehr ernst. Nach gründlichem Überdenken eines jeden Für und Wider verbleibe ich bei der Auffassung, daß alle Gegenargumente — ich will einige davon aufführen — nicht durchschlagen können.
Der entscheidende Grund liegt für mich im Ansatzpunkt, nämlich darin, daß die Gegenargumente gemessen werden müssen nach dem Stellenwert, den der Schutz des menschlichen Lebens in unserer Rechtsordnung einnimmt. Da kommen die Fragen: Ist es richtig, daß lediglich der Zeitablauf den Täter in einem solchen Maße verändert, daß der Zweck der Strafe ihn überhaupt nicht mehr erreicht, weil die Strafe dann einen innerlich verwandelten Menschen trifft? Dies mag sicher bei einzelnen — je nach den Umständen — der Fall sein, ohne daß ich auf die Verwandlung der menschlichen Identität hier näher eingehen möchte. Es ist aber sehr die Frage, ob schon eine jeweils individuell verschieden verlaufende Entwicklung es bei Mord rechtfertigt — nur gestützt auf die Tatsache des Zeitablaufs —, von Strafverfolgung abzusehen. Es ist ferner nicht unbedenklich, bei einer Strafverfolgung nach 30 Jahren zwangsläufig eine Störung des Rechtsfriedens unterstellen zu wollen. Kann nicht vielmehr bei Mord der Rechtsfrieden sehr viel empfindlicher dadurch gestört werden, daß ein erkannter Täter in aller Öffentlichkeit außerhalb der Strafverfolgung bleibt? Kann nicht eine Ungleichbehandlung gleicher Täter etwa dergestalt, daß bei dem einen eine Unterbrechung der Verjährung eingetreten war, bei dem anderen aber nicht, den Rechtsfrieden empfindlicher stören?
Dies, meine Damen und Herren, ist nach meiner Überzeugung nicht mit dem Hinweis aus der Welt zu schaffen, daß die Strafzwecke Resozialisierung und Spezialprävention nach 30 Jahren nichts mehr bewirken können. Wer so argumentiert, bewertet den Gedanken der Resozialisierung bei der Abwägung der einzelnen Strafzwecke zueinander nicht



Dr. Wendig
richtig. Nebenbei gesagt: Eine Resozialisierung des Täters mit der Folge, daß weitere Straftaten nicht zu erwarten sind, kann gerade bei Mord schon nach sehr viel kürzerer Zeit eingetreten sein, ohne daß uns dies auch in unserer inneren Motivation daran hindert, die Strafverfolgung weiter zu betreiben. Der Denkfehler — ich möchte von einem Denkfehler sprechen — liegt nach meiner Ansicht darin, daß der Resozialisierungsgedanke unter den Strafzwekken zeitlich zu weit nach vorn gerückt ist und an dieser Stelle zu stark gewichtet wird. Während er bei der Strafverfolgung voll zur Wirkung kommt, muß er bei der Strafverfolgung gegenüber der abschreckenden und damit vorbeugenden Funktion der Strafe zurücktreten. Dies bedeutet aber, daß dem Täter bei einem Mord bewußt sein muß, daß er von einer Strafverfolgung durch Zeitablauf nicht freigestellt sein kann. Erst indem ich die Strafverfolgung für Mord unverjährbar stelle, lasse ich unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention dem menschlichen Leben denjenigen Schutz zukommen, den die Strafrechtsordnung ihm überhaupt gewähren kann.
Es besteht auch, wie ich meine, kein Widerspruch zu den Bestrebungen, die prüfen, unter welchen zeitlichen und anderen Voraussetzungen bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe Strafaussetzung auf Bewährung gewährt werden kann. Neben Verbüßung eines erheblichen Teils der Strafe nach Urteil wird hier nämlich individuell geprüft, ob eine Resozialisierung des Täters auch unter Berücksichtigung der Schwere der Tat und Schuld angenommen werden kann. Meine Damen und Herren, wir erkennen also: Selbst nach einem richterlichen Urteil reicht der objektive Tatbestand Zeitablauf für sich nicht aus. Ich meine: Um so weniger kann bei Mord der Resozialisierungsgedanke allein schon die Nichtverfolgung von Straftaten begründen.
Ich vermag weiter der rechtspolitischen Erwägung — jedenfalls bei Mord — nicht zu folgen — das ist eine sehr wichtige Erwägung; das gebe ich zu —, daß der Lauf der Zeit das staatliche Strafbedürfnis zum Erlöschen bringen müsse mit der Schlußfolgerung, der Staat müsse im Interesse des Rechtsfriedens auf eine letzte Gerechtigkeit verzichten, die ohnehin nie erreichbar sei. Dieser Grundsatz ist richtig. Nur: wie ist er anzuwenden? Wir haben gerade in jüngster Zeit erlebt, wie sehr die Rechtsgemeinschaft bei Völkermord und Mord Rechtsfrieden noch nicht als eingetreten ansieht. Im übrigen ist eines, meine Damen und Herren, sicher richtig: Staatliche Gesetze sind ebenso Menschenwerk wie Urteile unabhängiger Richter. Niemand von uns ist so vermessen, anzunehmen, mit dem, was wir hier beschließen, Ansprüchen letzter Gerechtigkeit gerecht werden zu können. Nur in dieser Beschränkung und Selbstbescheidung können wir im Parlament Rechtspolitik betreiben. Diese Erkenntnis schließt aber nicht unsere Verpflichtung aus, immer nach einem Höchstmaß an Gerechtigkeit zu streben, um ein Höchstmaß an Gerechtigkeit bemüht zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und bei der SPD — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/ CSU]: Das sind wir ja wohl alle!)

Sicher gibt es Fälle, bei denen es der Gegenstand der Rechtsverletzung gestattet, die verbindlichen Maßstäbe niedrig anzulegen. Diese Erwägung rechtfertigt die abgestuften Verjährungsfristen bei den einzelnen Delikten. Bei Mord indessen bin ich nach meiner Überzeugung als Gesetzgeber gehalten, die Entscheidungskriterien so hoch wie möglich anzusetzen.
Bei allen Gegenargumenten wird schließlich das Element der schwersten Schuld, die bei Mord mehr als anderswo Gewicht hat, zu sehr außer Betracht gelassen. Wenn auch Resozialisierung und Sozialprävention die obersten Strafzwecke sind, so können doch Sühne des verletzten Rechts und Gerechtigkeit bei Mord nicht unberücksichtigt bleiben. Erste Voraussetzung für den Eintritt des Rechtsfriedens ist bei Mord das richterliche Urteil. Voraussetzung für Maßnahmen der Strafaussetzung und Gnade sind danach Einsicht in eigene Schuld und Reue.
Erst an letzter Stelle nenne ich die ohne Zweifel wichtige Frage, in welchem Umfang nach größeren Zeitabläufen gerichtliche Verfahren noch zuverlässig nach rechtsstaatlichen Grundsätzen durchgeführt werden können. Dieses Argument wiegt gerade bei den Massenverfahren aus der NS-Zeit besonders schwer. Auch ich verkenne die Schwierigkeiten dieses Problems keineswegs.
Wenn ich zunächst einmal von den Massenverfahren absehe, so muß ich allerdings sagen: Heute sind Kriminalistik und Kriminaltechnik weit eher in der Lage, Täterspuren und Beweismittel über Jahrzehnte zu sichern. Dies unterscheidet uns z. B. von dem Jahr 1851, in dem die Verjährbarkeit von Mord in das preußische Strafgesetzbuch eingeführt worden ist.
Wie ich meine, können Unzulänglichkeiten in der Beweislage, die wir alle sehen — damit komme ich zu den Massenverfahren zurück —, keine ausreichende Grundlage dafür bieten, die Strafverfolgung von Mord nach Ablauf einer bestimmten Frist überhaupt aufzugeben. Sicher mag Einstellung des Verfahrens oder Freispruch kein Ergebnis sein, das uns gerade bei den noch laufenden und künftigen Mordprozessen aus der NS-Zeit befriedigt. Dies berührt die Erwägung, inwieweit überhaupt Handlungen oder Unterlassungen des Gesetzgebers für sich geeignet sind, kriminelle Restbestände aus der NS-Zeit historisch aufzuarbeiten; das ist eine andere Frage, auf die ich gleich noch zu sprechen kommen werde.
Vor allem aber gilt hier wie für alle anderen Einwendungen, die ich gegen die Unverjährbarkeit aufgeführt habe, eines: Solange das Instrument der Unterbrechung der Verjährbarkeit gilt, läßt sich kein einziges überzeugendes Argument gegen die Unverjährbarkeit von Mord vorbringen. Wie soll ich mit dem Problem fertig werden, daß beispielsweise im 29. Jahr — es ist ein extremes Beispiel — die Verjährung unterbrochen wird und danach weitere 30 Jahre laufen kann, wenn ich nicht bereit bin, die Unterbrechung der Verjährung abzuschaffen, was im Sinne der Verjährungsanhänger, wie ich meine, nur konsequent wäre?



Dr. Wendig
Manche argumentieren gegen die Unverjährbarkeit sogar mit dem Hinweis — wir haben ihn auch heute gehört -, bei den vermutlich noch ausstehenden Verfahren wegen Verbrechen in der NS-Zeit sei durch Akte der Verjährungsunterbrechung eine Strafverfolgung bis über das Jahr 2000 hinaus möglich. Diese Kritiker meinen, mit diesem Hinweis eine Regelung über die Unverjährbarkeit praktisch überflüssig gemacht zu haben. Sie merken, wie ich meine, indessen nicht, daß sie gerade hierdurch ihren eigenen Argumenten — Beweisschwierigkeiten, Änderungen der Täterpersönlichkeit, Erlöschen des Strafanspruchs — praktisch den Boden entzogen haben.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Ich halte daher meine Entscheidung für die generelle Unverjährbarkeit bei Abwägung aller Argumente für geboten. Sie widerspricht auch nicht unserem liberalen Verständnis von Strafrecht und von Sinn und Zweck menschlicher Gerechtigkeit.
Ich weiß, daß man es hier als liberaler Politiker auf den ersten Blick, so möchte ich sagen, besonders schwer hat, weil jedes Argument für die Unverjährbarkeit an dem hohen rechtsstaatlichen Rang der Argumente gemessen wird, die Thomas Dehler in der Verjährungsdebatte des Jahres 1965 an dieser Stelle sehr eindrucksvoll vorgetragen hat. Nur bin ich nach gründlichen Überlegungen zu dem Ergebnis gelangt, daß im Hinblick auf den Wert des menschlichen Lebens — darauf baue ich meine ganze Argumentation auf — die Frage einer Unverjährbarkeit der Strafverfolgung bei Mord für die Entwicklung liberaler Vorstellungen im Strafrecht nicht im Wege steht.
Ich betrachte die Rechtsposition meiner politischen Freunde, die an der Verjährbarkeit festhalten wollen, mit großem Respekt. Nur vermag ich ihren Argumenten nicht zu folgen, ohne daß ich — das möchte ich hier sagen — darin einen Bruch mit unserer liberalen Rechtstradition erblicke.
Ganz gleich, meine Damen und Herren, wie wir uns im Ergebnis entscheiden — über eines dürfen wir uns nicht täuschen. Das berührt einen Komplex, den gerade auch Kollege Graf Stauffenberg sehr ausführlich und eindrucksvoll angesprochen hat: Weder die eine noch die andere Entscheidung wird in der Lage sein, alle kriminellen Restbestände aus der NS-Zeit sozusagen historisch aufzuarbeiten — wenn ich mich einmal dieses saloppen Ausdrucks bedienen darf. Weder Täter, die sich nach Ablauf der Verjährungsfrist in unserem Lande ungestört bewegen können, noch Freisprüche mangels Erweislichkeit sind erfreuliche Perspektiven für die Zukunft. Wir Deutsche müssen noch lange mit der Erkenntnis leben, daß Gesetze auf diesem Feld nur wenig ausrichten können. Auch die Justiz kann die politische Aufgabe, die dahintersteht, sicherlich nicht lösen. Dieser Auffassung bin ich ganz uneingeschränkt, wie die anderen auch.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Aber das entbindet uns doch nicht von der politischen Frage, die — ganz gleich, wie wir die Frage
der Verjährung lösen — vor uns allen, gerade auch vor dem Parlament und seinen Parteien steht. Die politische Aufgabe besteht darin, mehr als bisher dazu beizutragen, daß die Zeit der NS-Gewaltherrschaft in unserem historischen und politischen Bewußtsein besser selbstkritisch verarbeitet wird. Es ist zwar richtig, daß das Volk, unser deutsches Volk, sich längst von den Morden und von den Untaten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft distanziert hat. Aber es gibt hier noch Lücken. Das will ich ganz offen sagen. Dabei spreche ich nicht von Kollektivschuld, wohl aber davon, den Fragen, die unsere jüngste Geschichte auch noch heute uns aufgibt, sich offener zu stellen, als das bisher manchmal in unserem Lande der Fall war.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Eigene, persönliche höchste Not, Verlust der Heimat, Verlust naher Angehöriger, Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz und vieles andere mehr haben nach 1945 bei vielen den Blick zu sehr auf den eigenen, den persönlichen Bereich verengt. Das ist menschlich verständlich, aber es hat für die Entwicklung unseres politischen Denkens und für die geschichtliche Kontinuität unseres Verständnisses von staatlicher Gemeinschaft nicht immer Früchte getragen. Ich wage die Frage, ob nicht die große Distanz zwischen den Generationen hierzulande auch darauf zurückzuführen ist, daß nicht rechtzeitig kritisch nachgedacht und Erkenntnisse uneingeschränkt an die jüngere Generation übermittelt worden sind.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielleicht ist es auch heute noch nicht zu spät. Erst wenn diese Aufarbeitung geleistet ist, sind wir als Volk, sind wir als deutsches Volk — Jüngere wie Ältere — wahrhaft frei. Erst das Bekenntnis auch zu den dunkelsten Perioden unserer Geschichte macht uns frei, auf andere Punkte in der Welt hinzuweisen, wo ebenfalls menschliches Unrecht geschieht.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Dieses Bekenntnis macht uns ferner frei, sich der eigenen Geschichte in ihren besseren Perioden voll Stolz bewußt zu sein. Es eröffnet schließlich für die junge Generation, die in unser Volk hineingeboren ist, den Weg in eine Zukunft, in der sie dann die Last unserer Vergangenheit nicht mehr zu tragen haben wird. Dies ist eine Aufgabe, an der uns allen, vor allen Dingen den Älteren in unserem Lande, gelegen sein. muß.
Gestatten Sie, daß ich zum Schluß auch noch einmal Carl-Friedrich von Weizsäcker zitiere, der in seinen Ausführungen zur Woche der Brüderlichkeit für unsere Debatte mit einigen Zitaten sehr ergiebig gewesen ist. Ich muß auf das zurückkommen, was auch schon Herr Emmerlich gesagt hat, auf die Worte, mit denen Herr von Weizsäcker davon sprach, daß Gerechtigkeit ohne Gnade nicht bestehen kann. Ich glaube, niemand ist in diesem Haus, der diesem Satz seine Zustimmung versagen wollte. Gnade, menschliche Gnade, setzt aber Einsicht in eigene Schuld voraus. Die Stunde der Gnade



Dr. Wendig
kann erst dann gekommen sein, nachdem der irdische Richter seinen Schuldspruch gefällt hat.
Niemand spricht heute zu diesem Thema für seine Fraktion. Jeder spricht für sich selbst oder für eine Gruppe von Kollegen. Wir erleben eine Debatte, die wahrhaft offen ist und, wie ich sehe, auch in vollem Respekt vor der Meinung des anderen geführt wird.

(Josten [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

Dennoch gestatten Sie mir den Ausdruck meiner Zuversicht, daß es im Laufe der Beratung gelingen wird, Kollegen, die bisher anderer Meinung sind, davon zu überzeugen, daß ihre Stimme für die Unverjährbarkeit von Mord am Ende dann doch die richtige Entscheidung ist.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814501700
Meine
Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Ich unterbreche die Beratung des Tagesordnungspunktes 2 bis 14 Uhr.

(Unterbrechung von 12.55 Uhr bis 14.00 Uhr)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814501800
Meine Damen und Herren, 'die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß die unter Tagesordnungspunkt 2 b) genannte Drucksache 8/2653 durch Drucksache 8/2653 (neu) ersetzt worden ist. Die neue Drucksache ist soeben im Hause verteilt worden.
Wir setzen die Beratungen fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogel (Ennepetal).

Friedrich Vogel (CDU):
Rede ID: ID0814501900
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich den bisherigen Verlauf der Debatte richtig werte, haben sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages trotz unterschiedlicher Standpunkte nicht auseinandergeredet. Ich halte dies bei der Schwierigkeit der Problematik für erfreulich und für bemerkenswert und hielte es für noch besser, wenn es uns gelänge, uns im Laufe der Beratung zusammenzureden.
Dies ist ganz sicher kein Thema, das sich für Polarisierungen eignet. Dagegen spricht schon, daß die Meinungen quer durch die Fraktionen gingen und gehen, und ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß es mich stutzig machen würde, wenn das in einer der Fraktionen dieses Hauses nicht so wäre.

(Katzer [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

Ich würde mich freuen, wenn — das vermisse ich bisher — auch aus der SPD-Fraktion einer der Kollegen, die für die Beibehaltung der Verjährungsvorschriften sind, hier seinen Standpunkt vortragen würde.
Dies ist kein Thema, bei dem wir die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in die Verjährer
auf der einen Seite und die Nicht-Verjährer auf der anderen Seite, in die guten und die bösen Abgeordneten, in die anständigen und die unanständigen Deutschen einteilen könnten. Dies wäre dem Thema unangemessen. Deshalb scheint es mir wichtig zu sein, vorweg doch einmal festzustellen, worin wir — was ich durch den bisherigen Verlauf der Debatte habe feststellen können — uns einig sind.
Wir sind uns doch offensichtlich — das ist eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht worden — einig in dem Abscheu gegenüber den NS-Verbrechen. Herr Kollege Emmerlich hat in diesem Zusammenhang eine Bemerkung gemacht, die ich aufgreifen möchte. Er hat darauf hingewiesen, die Konzentrationslager und andere Bereiche, in denen sich die Nazis ausgetobt haben, seien keine Randerscheinungen des Nationalsozialismus gewesen. Wenn ich dies aufgreife, meine ich, daß mit der Suche nach der Schuld des einzelnen das Ungeheuerliche, das geschehen ist, nicht zu fassen ist. Es war doch der Staat, der die Verbrechen beschlossen und betrieben hat, und an der Spitze dieses Staates war ein verbrecherischer Wille am Werk. Nur dann, wenn ich das berücksichtige, bin ich in der Lage, auch die Schuld des einzelnen zu messen.
Ich meine, in der geschichtlichen Dimension, die sich hier für den Deutschen Bundestag, für das Parlament der Deutschen im freien Teil Deutschlands, auftut, kann man nicht die Antwort geben, daß der Gesetzgeber diese Problematik von seiner Schulter rollt und sie der Justiz vor die Füße rollt.
Herr Kollege Stauffenberg hat gesagt: Wir können nicht die Last der Vergangenheitsbewältigung den Strafgerichten überantworten. Ich weiß nicht, ob wir in diesem Zusammenhang überhaupt von Vergangenheitsbewältigung reden können.
Ich meine, daß wir die Fragen, die sich hier auftun, nicht dadurch beantworten können, daß wir die Angelegenheit zum Zwecke der Suche nach Einzelschuld an die Justiz überweisen. Deshalb, meine ich, zielt die These von der letzten Gelegenheit, die der Deutsche Bundestag habe, in die falsche Richtung. Herr Kollege Wehner, ich habe darüber sehr lange nachgedacht und bin zu der Auffassung gekommen: Hier kommen wir möglicherweise in die falsche Richtung.
Ich bin im übrigen nicht der Auffassung, daß wir sozusagen eine letzte Gelegenheit wahrzunehmen haben, sondern daß wir das tun sollten, was uns Ludwig Raiser in den „Evangelischen Kommentaren" empfohlen hat: Man wünsche sich — so Ludwig Raiser —, daß sich der Deutsche Bundestag, unterstützt von den großen Kirchen, vor Ablauf der Verjährungsfrist zur Fortdauer der moralischen Verantwortung des deutschen Volkes für diese Verbrechen in einer würdigen Erklärung bekennte, nicht, um damit dieses abschließen zu können, sondern um deutlich zu machen, daß die geschichtliche Dimension, mit der wir es zu tun haben, eine andere ist.



Vogel (Ennepetal)

Das zweite, worin sich nach meinem Eindruck alle Redner heute vormittag einig gewesen sind, ist, daß Verjährung nicht Begnadigung bedeutet, daß Verjährung nicht Amnestie bedeutet und daß Verjährung schon gar nicht Vergebung bedeuten kann, Vergebung, die eigentlich nur diejenigen geben können, die die Opfer gewesen sind. Das Unwerturteil über Mord — das moralische wie das rechtliche — bleibt. Verjährung macht die Tat nicht ungeschehen. Sie bleibt als die persönliche, auch moralisch vorwerfbare Schuld mit dem Täter verhaftet — sein Leben lang.
Ich möchte mich mit der Frage befassen, warum ich es für falsch halte, daß diese Debatte als eine Debatte über die Frage der Verjährbarkeit oder Unverjährbarkeit von Mord geführt wird. Ich möchte vorab sagen: Es gibt moralisch vertretbare Gründe für die eine wie für die andere Position. Niemand sollte hier so argumentieren, als habe er die bessere Moral, als habe er die besseren moralischen Argumente für sich.

(Katzer [CDU/CSU] : Das tut ja keiner!)

Meine verehrten Kollegen, wir können diese Diskussion auch nicht so führen, als hätte es 1965 und vor allem 1969 Entscheidungen im Deutschen Bundestag nicht gegeben. Damals schon sind alle Argumente, die wir auch jetzt wieder hören, ausgetauscht worden. Und die Entscheidung des Deutschen Bundestages ist 1969 für die Verjährung ausgefallen, trotz einer anderen Empfehlung der Bundesregierung in ihrer damaligen Initiative. Diese Entscheidung für die Verjährung liegt in der Tradition der rechtshistorischen Entwicklung bei uns in Deutschland.
Ich meine, daß es, vor allen Dingen wenn über die Tradition der Nachkriegsgeschichte gesprochen wird, auch angemessen ist, einmal darüber nachzudenken, ob nicht Weisheit der Geschichte in einer solchen rechtshistorischen Entwicklung liegen kann und ob es dann nicht richtiger und besser ist, über einen langen Zeitraum sich der Weisheit der Geschichte zu unterwerfen und nicht einen kurzatmigen Zeitraum zum Maßstab für die eigene Entscheidung zu machen. Bei uns in Deutschland ist vor über 100 Jahren ein rechtshistorischer Prozeß zum Abschluß gekommen, von dem ich sagen möchte: Das, was wir in Deutschland rechtshistorisch entwickelt haben, ist eine rechtspolitische Errungenschaft, die wir nicht so ohne weiteres über Bord werfen sollten.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814502000
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Jahn?

Friedrich Vogel (CDU):
Rede ID: ID0814502100
Ja, gerne.

Gerhard Jahn (SPD):
Rede ID: ID0814502200
Herr Kollege Vogel, könnten Sie in diesem Zusammenhang versuchen, vielleicht auch eine Antwort auf die Frage zu geben, ob Ihr Hinweis auf rechtshistorische Entwicklungen und Bindungen — als solche empfinden Sie diese ja wohl — angesichts des ungeheuerlichen Maßes an Unrecht, das in diese rechtshistorische
Entwicklung ja wohl auch hineinfällt und das eine angemessene Antwort erfordert, eigentlich ausreicht?

Friedrich Vogel (CDU):
Rede ID: ID0814502300
Herr Kollege Jahn, ich habe mit dem Hinweis darauf begonnen, daß diese Debatte als eine Debatte für oder gegen die Verjährung von Mord generell geführt wird. Dies wollen wir doch einmal festhalten, weil ich der Auffassung bin, daß die Debatte so genau falsch geführt wird.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

Wir sind dabei, wegen einer Frage in einem geschichtlichen Augenblick eine Entwicklung über Bord zu werfen, von der ich — dabei bleibe ich — sagen möchte: Es ist eine rechtspolitische Errungenschaft, daß es die Verjährung bei uns in Deutschland gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vielleicht komme ich in einem anderen Zusammenhang auf das, was Sie angesprochen haben, noch zurück.
Ich meine jedenfalls, daß die derzeitige Diskussion uns gar keinen Anlaß gibt, die generelle Frage nach der Verjährbarkeit oder Nichtverjährbarkeit von Mord aufzuwerfen. Insoweit sind wir heute auch in einer anderen Entscheidungssituation als 1969. Damals wurde über die Frage im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Großen Strafrechtsreform diskutiert und entschieden. Diejenigen, die damals dabeigewesen sind, können sich an diesen Vorgang noch genau erinnern.
Der einzige Anlaß, weshalb wir heute über diese Frage diskutieren — daran kann doch keiner vorbeiargumentieren —, ist, daß am 31. Dezember dieses Jahres NS-Verbrechen, die den Tatbestand des Mordes erfüllen, verjähren. Das ist der einzige Grund.

(Wehner [SPD]: Das ist ja wohl auch ein Grund!)

— Herr Kollege Wehner, wer wäre auf die Idee gekommen, jetzt eine Grundsatzdiskussion über die Frage auszulösen, ob Mord verjähren soll oder nicht und ob wir das, was rechtshistorisch bei uns gewachsen ist, ändern sollen, wenn es diesen Termin des 31. Dezember dieses Jahres nicht gäbe?

(Wehner [SPD]: Es war so gewachsen, daß es zwischen 1933 und 1945 plötzlich ausgesetzt hat! Machen Sie doch nicht diese Sprüche!)

— Herr Kollege Wehner, Sie können mich in dieser Frage nicht provozieren. Das möchte ich Ihnen sehr deutlich sagen.

(Wehner [SPD] : Das verstehe ich! Sie sind selbstsicher!)

Ich meine jedenfalls, daß niemand hier — ich sage es noch einmal — so tun sollte, als habe er die bessere moralische Position für sich. Auch bei Zwischenfragen sollte in diesem Parlament nie-



Vogel (Ennepetal)

mand so fragen, als habe er diese bessere Position auf seiner Seite.

(Beifall bei der CDU/CSU — Wehner [SPD] : Der Schiedsrichter sind Sie — in eigener Sache! — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : 1931 hat er noch anders gesprochen!)

Herr Kollege Maihofer hat Überlegungen angestellt, von denen ich zunächst einmal sagen möchte, daß sie im Ansatz ehrlicher als die Diskussion sind, die im übrigen über die Frage der Verjährbarkeit oder Unverjährbarkeit von Mord geführt wird. Ich meine, daß es sich lohnt — ich kann Herrn Kollegen Maihofer nichts vorwegnehmen —, sich auch im weiteren Beratungsgang mit diesen Überlegungen des Kollegen Maihofer auseinanderzusetzen. Sie haben für sich, daß konsequent eine Linie weitergeführt wird, die einer Entscheidung des Deutschen Bundestages im Jahre 1969 entspricht. Damals hat der Deutsche Bundestag entschieden, daß Völkermord, d. h. ein Verbrechen, das den Tatbestand des § 220 a des Strafgesetzbuchs erfüllt, nicht verjährt. Das ist der Anknüpfungspunkt für Herrn Kollegen Maihofer. Er muß uns nur hilfreich sein, Bedenken auszuräumen, die sich hier auftun können.
Herr Kollege Maihofer, wir müssen bei solchen Überlegungen den Verdacht vermeiden, es könne sich hier um ein Sondergesetz für bestimmte Tätergruppen handeln. Dies ist ein rechtsstaatliches Erfordernis. Dies müssen wir klar „abklopfen", und wir müssen uns auch mit der Frage auseinandersetzen, ob dies nicht eine Umgehung des im Strafrecht geltenden Rückwirkungsverbots ist; denn zu unserem Strafrecht gehört es, daß es einige eherne Grundsätze gibt, an denen wir nicht rütteln können, wenn der Rechtsstaat bei uns nicht Schaden leiden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dazu gehört auch die strikte Einhaltung des Rückwirkungsverbotes, weil wir sonst nämlich Unrecht begehen. Diese Bedenken werden auszuräumen sein, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, Herr Kollege Maihofer, wenn Sie in Ihren Ausführungen auch dazu einiges sagen könnten, um uns zu zeigen, ob hier möglicherweise eine Brücke ist, die es uns möglich macht, die Frage, die sich konkret jetzt stellt, zufriedenstellend zu beantworten, ohne daß wir die Frage der Verjährbarkeit von Mord insgesamt heute anders als 1969 entscheiden.
Im übrigen hat mir noch niemand die Frage beantwortet, warum wir heute — das ist eine so allgemeine Fragestellung — zwar den Mord, aber nicht den Totschlag für unverjährbar erklären wollen. Diese Frage kann mir niemand schlüssig beantworten. Wer hier A sagt, muß, wie ich meine, auch bereit sein, B zu sagen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich etwas anderes ansprechen, wo ich aus eigener Erfahrung meine, in dieser Debatte etwas beitragen zu können. Ich habe in meinem früheren Beruf als Richter einige Jahre mit der Entschädigung von NS-Opfern als Entschädigungsrichter zugebracht. Ich bin Strafrichter im Schwurgericht gewesen, habe
als Strafrichter im Schwurgericht im Jahre 1960 einen großen KZ-Prozeß gehabt, wo die Ärzte des Konzentrationslagers Sachsenhausen auf der Anklagebank saßen, ich habe einen Judendeportationsprozeß gehabt. Ich meine, daß das eine Erfahrung ist, die man eigentlich haben sollte, wenn man eine letztgültige Antwort auf die hier gestellten Fragen geben will.
Ich kann niemandem von Ihnen die erdrückende Atmosphäre in einem solchen Prozeß vermitteln, wo eine unmenschliche Vergangenheit für die zur Gegenwart wird, die an diesem Prozeß beteiligt sind, wo die Vergangenheit für die Täter, für die Opfer, für die Richter, für die Staatsanwälte und für die Verteidiger in die Gegenwart hineingeholt wird. Man muß das erlebt haben, wenn in einem solchen Prozeß plötzlich die Schergen von gestern ihren Opfern gegenüberstehen und die Opfer ihren Schergen von gestern gegenüberstehen und in ihnen das, was sie an Grauen erlebt haben, wieder aufbricht. Solche Prozesse werden von' denen, die daran beteiligt sind, nicht geführt, sondern solche Prozesse werden erlitten. Daran muß, wie ich meine, jeder denken, der hier ohne einen solchen Realitätsbezug redet.
Und dann muß man auch wissen, in welcher Situation sich die Gerichte, die Richter befinden, wenn sie auf der einen Seite um das Grauen wissen, das in einem Konzentrationslager tagtäglich war, und wenn sie auf der anderen Seite wegen der Beweisschwierigkeiten nicht in der Lage sind, den Täter zu identifizieren und festzustellen, ob der, der dort als Angeklagter vor ihnen sitzt, der Täter ist, inzwischen 20, 25, 30 oder 35 Jahre älter als zu der Zeit, als er in einem solchen Konzentrationslager gewesen ist.
Herr Kollege Erhard hat heute morgen diese Frage angesprochen: Gibt es denn überhaupt eine Chance, heute noch in diesen Prozessen der Wahrheit auf die Spur zu kommen, die Wahrheit herauszufinden? Und wie ist denn eigentlich, ohne daß wir der Wahrheit auf die Spur kommen können, Gerechtigkeit gegenüber den Tätern und Gerechtigkeit gegenüber den Opfern möglich? Und welche Chance hat denn das Gericht wirklich, bei der Suche nach Wahrheit ein hohes Maß an Wahrheit zu ermitteln und die belastenden und — was ja auch seine Pflicht ist — die entlastenden Tatumstände festzustellen? Dies gehört doch wohl zu einem rechtsstaatlich geordneten Verfahren.
Was am Schluß für die Richter in einem solchem Prozeß übrigbleibt, kann ich Ihnen aus eigenem Erleben sagen: Es ist ein schlechtes Gewissen beim Urteil, ein schlechtes Gewissen in dem Bewußtsein, weder die Wahrheit gefunden zu haben noch in der Lage gewesen zu sein, dem, was dort geschehen ist, wirklich gerecht zu werden — ich sage noch einmal: gegenüber dem Täter und auch gegenüber dem Opfer.
Der Richter, dem wir das alles weiterhin zumuten wollen, erlebt und durchlebt die Begrenztheit menschlicher Wahrheitssuche und die Begrenztheit irdischer Gerechtigkeit. Er kann dabei eigentlich nur demütig werden.



Vogel (Ennepetal)

Es geht nicht darum, dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt — wie Adolf Arndt gesagt hat —, den Rücken zu kehren. Natürlich werden die Richter das ja noch viele Jahre tun müssen. Natürlich werden die Richter ihre Aufgabe weiterhin wahrnehmen. Und es ist auch ihre Pflicht, diese Aufgabe wahrzunehmen. Sie werden noch viele Jahre „kleine demütige Kärrner der Gerechtigkeit" sein.
Aber Ludwig Raiser — um ihn noch einmal zu zitieren — hat doch recht, wenn er unter Berufung auf Adolf Jahn die Verjährung eine Schutzvorkehrung gegen die Gefahr des Justizirrtums und ein Menetekel vor der Hybris irdischer Justiz genannt hat.
Meine Kolleginnen und Kollegen, uns steht es nicht zu, Jüngstes Gericht zu spielen. Justitia und Judicium, so hat Rainer Barzel 1965 in der Verjährungsdebatte hier gesagt, sind nicht dasselbe, und eine iustitia triumphans gibt es hier auf Erden schon gar nicht. Deshalb, meine Damen und Herren, lassen Sie uns auch bescheiden bleiben, lassen Sie uns auch die christliche Tugend der Demut in dieser Frage fühlen. Die Verjährung verzichtet der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens wegen auf die letzte Gerechtigkeit. Derjenige, der einen solchen Standpunkt einnimmt und vielleicht andere durch einen solchen Standpunkt provoziert, kann nur die, die er provoziert, um Verzeihung bitten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814502400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Waltemathe.

Ernst Waltemathe (SPD):
Rede ID: ID0814502500
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heutige Plenartag des Deutschen Bundestages müßte eigentlich eine Lehrstunde für parlamentarische Demokratie und gleichzeitig für den antifaschistischen Auftrag der Demokraten sein; denn hier stehen ja keine partei- oder fraktionsspezifischen Meinungen zur Debatte, wohl aber geht es um die demokratische Substanz.
Ich finde es in diesem Zusammenhang richtig und begrüße es, daß das Stichwort „Gewissen", das sicher nicht ohne Absicht gesprochen worden ist, schon lange vor Beginn dieser Debatte gefallen ist. Damit wurde klargestellt, es soll sich erstens nicht um einen juristischen Gelehrtenstreit, sondern um die persönliche politische Haltung eines jeden einzelnen von uns Abgeordneten handeln, und zwar zu einem Anlaß, der eine klare und gewissenhafte Entscheidung . dringend erfordert. Zweitens — auch der Bundeskanzler hat das heilte morgen bereits klargemacht — geht es nicht um vordergründige Machtfragen wie bei den meisten Debatten dieses Parlaments, es geht nicht darum, ob man einer Koalitionsvorlage zustimmt oder ihr ablehnend gegenübersteht, sondern ganz schlicht um das Selbstverständnis und das Selbstbewußtsein von Politikern, die der Freiheit und der demokratischen Grundordnung verpflichtet sind, mithin aus der braunen Diktatur gelernt haben sollten, Diktaturen in Zukunft zu verhindern.
Nun stimme ich zunächst einmal mir Herrn Vogel (Ennepetal) dahin überein, was den Anlaß dieser Debatte anlangt. Auch ich gehe davon aus, daß wir heute nicht debattiert hätten, ob und welche Verjährungsfristen für Mord im Strafrecht zu verankern sind oder auch nicht, wenn nicht, falls nichts geschieht, am 31. Dezember dieses Jahres ein Zustand entstehen würde, wo ein Mörder, der sich in der Zeit des deutschen Faschismus der Ermordung von Menschen schuldig gemacht hat und bislang unentdeckt oder unauffindbar geblieben ist, auf einmal herkommen und sagen könnte:,,Jawohl, ich habe Menschen umgebracht, soundsoviel waren es; ich habe damals nichts als meine Pflicht getan", und wir müßten hilflos zusehen, wie entsprechende Bilder auftauchen, möglicherweise Illustriertenserien erscheinen und neue Filme gedreht werden. Dies ist also der Anlaß, ob wir zulassen wollen, daß Teilnehmer am damaligen staatlichen Terrorismus davonkommen sollen, sich womöglich noch zu ihren Untaten bekennen dürfen, oder ob sie mit Feststellung ihrer persönlichen Schuld unabhängig von irgendwelchen Fristen rechnen müssen.
Auch wenn ein Gesetzentwurf beraten wird, der ganz allgemein die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung von Mordtaten postuliert, wir hätten keine Veranlassung, ein solches Gesetz zu diskutieren, gäbe es nicht das Problem der Nazi-Mörder. Dieses Problem ist nicht bloß ein Fertigwerden mit der Vergangenheit mit juristischen Mitteln, sondern vielmehr eine Bewältigung unserer Zukunft, um unserer eigenen demokratischen Glaubwürdigkeit willen. Deshalb werde ich, abgesehen davon, daß ich selbst während der nationalsozialistischen Zeit im Ausland aufgewachsen bin, nicht darauf eingehen, was wohl das Ausland von dieser Debatte und von dem Ergebnis hält, sondern nur darauf, was wir selber davon halten.
Unser Grundgesetz verpflichtet uns zu antifaschistischem Handeln. Da paßt nun schlecht eine Haltung hinein, die das, was damals Rechtens war, heute nicht als Unrecht ansehen will.

(Beifall bei der SPD)

Eine Doppelversion von Gewissen darf es doch wohl nicht ausgerechnet dann geben, wenn es um das höchste Recht des Menschen, nämlich um sein Leben geht. Dieses Menschenrecht ist unteilbar, entweder ja oder nein, ein Drittes gibt es nicht. Oder gibt es etwa doch zwei Wirklichkeiten unserer Geschichte, die' Geschichte der Opfer auf der einen Seite und die Geschichte der heimlichen Sieger, nämlich der Ja-Sager, der Heil-Rufer, der Beiseitegucker, der Pflichterfüller, der jedem Befehl Gehorsamen. Unter einem Mord ganz allgemein kann sich jeder etwas ganz Konkretes vorstellen. Es geht ja um Einzelschicksale, sowohl auf der Seite des Opfers als auch der des Mörders. Selbst bei terroristisch organisierten Morden ist noch eine Teilindividualität erkennbar, wenn auch Parallelen zu Mordtaten aus ideologischer Verblendung und damit zu einer gewissen Anonymität der daran beteiligten einzelnen Individuen gezogen werden könnten. Aber eine staatlich angeordnete, organisierte und staatlich durchgeführte Ausrottungspoli-



Waltemathe
tik ist dagegen so ungeheuerlich und so unvorstellbar, daß die Begriffe und die Paragraphen unseres täglichen Lebens offensichtlich versagen und nicht damit fertig werden. Denn was sagt uns schon eine Zahl von 6 Millionen oder einigen hunderttausend? Ist nicht das Nennen von Zahlen schon eine frevelhafte, ja eine gefährliche Abstraktion gegenüber einer Wirklichkeit, die für ganz konkrete Personen ganz konkretes Leiden bedeutete und auch heute noch bedeutet?
Da gab es diesen Film — „Holocaust" hieß er —, von dem offenbar eine tiefe Bewegung ausging, wahrscheinlich wohl in erster Linie deshalb, weil an Hand von gedachten Einzelschicksalen gezeigt wurde, wie es wohl so ungefähr gewesen ist. Wir aber wollen nicht und sollen auch gar nicht über einen Film reden, sondern über die Wirklichkeit von damals. Diese barbarische, grausame Wirklichkeit, das ist unser Thema heute, wenn wir auch „nur" eine Verjährungsdebatte auf der Tagesordnung unseres Parlaments haben.
Vielleicht muß man die Schrecken, Opfer staatlich organisierter, von größten Teilen der Bevölkerung schweigend und feige hingenommener Maßnahmen zu sein, in allernächster Nähe erfahren haben. Ich gestehe, daß es mir schwerfällt, Emotionen zu verbergen, wenn ich an das zurückdenke, was ich schon als Kind miterlebt habe. Das begann mit dem Aufdruck „J" im Personalausweis. Das ging weiter mit der Einführung des gelben Sterns. Dann kamen die Razzien. Was ursprüngliche, was existentielle Angst bedeutet, das wird man nicht vergessen, wenn man zurückdenkt an das Geklapper des SS-Stiefel auf der Treppe, an das Abholen des Großvaters aus der Wohnung, an die Hoffnung, die man hatte, daß die Mutter nicht auch noch mitgenommen würde, an die Ungewißheit, an das Wechselbad von Hoffnung und Schrecken. Man klammerte sich an die Hoffnung, schlichten Menschen, die sich doch nichts hatten zuschulden kommen lassen, und kleinen, unschuldigen Kindern werde doch sicherlich kein Haar gekrümmt, und wußte doch ganz genau — man wußte es damals schon —, daß der Transport, der da zusammengestellt wurde, in ein Vernichtungslager ging. Abholen, das war ein ganz schlichtes und harmloses Wort für das, was sich dahinter verbarg: die sogenannte Endlösung. Unter dem Begriff Endlösung wiederum verbarg sich der Tod von Millionen Menschen. Immer wieder muß man sich klarmachen, daß es hierbei nicht um einen Zahlenbegriff geht, sondern um unzählige einzelne, um Gute und Schlechte, um Sympathische und Unsympathische, Reiche und Arme, Fleißige und Faule, Junge und Alte, Kinder und Erwachsene, Deutsche und Ausländer, Kranke und Gesunde, aber in jedem einzelnen Fall um einen Menschen, um ein Individuum mit einem Recht auf sein eigenes Leben.
In diesem Zusammenhang will ich aber auch sagen, daß ich in Holland als Kind erfahren habe, was menschliche Solidarität und Widerstand konkret heißen. Jedenfalls gab es Menschen — es gab sie auch in Deutschland —, die nicht wegschauten, die nicht danach fragten, welche Karriere ihnen
wohl verlorengehen könnte, wenn sie sich gegen die Bewegung stellten, die nicht danach fragten, welcher Gefahr sie sich wohl selber aussetzen könnten, sondern 'die eine ganz schlichte Frage stellten — und durch Ihr Handeln auch beantworteten —: In welcher Not befinden sich Mitmenschen, und wie kann ich Ihnen helfen?
Heldentum hat sich für mich vielfach dargestellt als mitmenschliche Verantwortung, als ein unbewaffnetes Handeln gegen das Unrecht, als Unbeugsamkeit gegenüber der Versuchung des Mitmachens und des Hinnehmens. Mit dem Begriff Widerstand verknüpfe ich persönlich ganz besonders diejenigen Freunde und Nachbarn, die als einfache Menschen nicht um irgendeines öffentlichen Ruhmes willen den vom Terror Verfolgten geholfen haben. Sie fragten nicht, ob die Bedrängten Christen oder ' Konservative oder Kommunisten oder Sozialisten oder Gewerkschafter oder sonst irgend etwas waren.
Für die Beurteilung der Tapferkeit 'im Widerstand darf es andererseits auch heute keine Rolle spielen, was diejenigen, 'die sich dem Faschismus entgegenstellten, selbst gewesen sind.

(Beifall bei der SPD)

Im konkreten Widerstand spielten Vertreter der Kirche, spielten religiöse Menschen, 'spielten Sozialisten, spielten Kommunisten eine entscheidende Rolle. Wir haben allen Anlaß, diesen Menschen zu danken, auch dann, wenn uns • ihre politische oder religiöse Einstellung nicht passen sollte.
Kann man also wirklich sagen: Mord 'ist Mord, einerlei ob es sich um einen einzelnen handelt oder ob eine mit äußerster Perfektion und Präzision verfahrende unmenschliche Gesellschaft, ein barbarisches terroristisches System, eine staatliche Mordmaschinerie angebliche Volksschädlinge als „Ungeziefer" bekämpft?
1871, als das Strafgesetzbuch in Kraft trat, als die Mordparagraphen formuliert worden sind, kannte man wohl noch nicht die Greuel, die ein totalitäres verbrecherisches System im 20. Jahrhundert anrichten würde. Aber heute? Müssen wir heute um unserer Zukunft willen nicht differenziertere Vorkehrungen in unserem Recht treffen — zum Teil haben wir es ja auch 'schon getan, z. B. mit § 220 a —, damit sich bei Taten gegen die Menschlichkeit niemand darauf verlassen kann, die Zeit lösche den Strafverfolgungsanspruch? Ist es nicht so, daß der Individualmord normalerweise innerhalb weitaus kürzerer Zeit als in 30 Jahren aufgeklärt und der Mörder verurteilt wird, weil die Fahndung sofort einsetzt und zumeist sämtliche Beweismittel innerhalb einigermaßen kurzer Fristen nach der Tat gesichert werden können? Und ist es nicht ferner so, daß sowohl die Tätigkeit der 'staatlichen Instanzen als auch die Mitwirkung der Bevölkerung nach einem Individualmord sofort einsetzen, Gleichgültigkeit gegenüber der Tat keine 'Rolle spielt, anders als 'bei der nachträglichen Bemühung um die Aufklärung von staatlichen Massenmorden? Ich kann deshalb sehr wohl verstehen, daß es gute Gründe gibt, Strafverfolgungsverjährungsregeln für den „Normalfall" festzulegen bzw. beizubehalten.



Waltemathe
Es kommt aber folgende Überlegung hinzu. Wenn es bei der Verjährung der NS-Morde am 31. Dezember 1979 verbliebe, würden dann nicht alsbald zwei Forderungen nachgeschoben? Hier beziehe ich mich auch auf meinen Vorredner, den Kollegen Vogel — obwohl er es nicht ausdrücklich gesagt und möglicherweise nicht so gemeint hat; aber man könnte es so auffassen —, der von der bedrückenden Atmosphäre in Gerichtssälen sprach. Ich bestreite gar nicht, daß es gerade in solchen NS-Prozessen — Massentransport-, Konzentrationslager-
oder Einsatzkommandoprozessen — eine bedrückende Atmosphäre in Gerichtssälengibt. Aber ich habe noch nie gehört, daß diejenigen, die zu den Opfern zählten, oder deren Angehörige gefordert hätten: Nun macht mal Schluß mit den Prozessen. Jedenfalls könnte aus Ihrer Bemerkung über die bedrückende Atmosphäre in Gerichtssälen möglicherweise die etwas leichtfertige Schlußfolgerung gezogen werden: Nun machen wir doch damit gleich ganz Schluß.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU] : Das ist weit hergeholt!)

— Ich sage nur, daß es auch so verstanden werden könnte, und wollte jedenfalls darauf eingehen.
Ich ziehe also, was die NS-Morde betrifft, die Schlußfolgerungen, daß zwei Forderungen vielleicht nachgeschoben werden könnten, wenn am 31. Dezember 1979 die Verjährung einträte. Die erste Forderung, die schon bald erhoben werden könnte, würde lauten, Täter, die man bereits entdeckt und ergriffen hat, nicht mehr vor Gericht zu stellen oder auch laufende Prozesse abzubrechen. Dann käme zweitens wahrscheinlich die Forderung nach einer Generalamnestie der schon Abgeurteilten.

(Dr. Emmerlich [SPD] : Sehr wahr!)

Für mich wäre es nach wie vor — ich glaube, das habe ich in meinen . bisherigen Ausführungen deutlich gemacht — die beste Lösung, wenn es differenzierte Regeln für die Strafverfolgungsverjährung von Mordstraftaten gäbe. Ich bitte den Rechtsausschuß unseres Bundestages, dies zumindest zu prüfen bzw. in dem Bericht für das Plenum sorgfältige Ausführungen über eine solche Prüfung zu machen. Es ist ja in diesem Jahr das letzte Mal, daß wir uns, was NS-Mörder und NS-Morde angeht, im Bundestag anschicken, eine Änderung bestehender Verjährungsregelungen zu erarbeiten. Deshalb meine ich, daß dem Bericht des Rechtsausschusses eine große Bedeutung zukommt.
Mir als einem juristischen Laien ist bislang allerdings eine Überlegung juristischer Art überhaupt nicht klar. Wenn das Verfassungsgericht entschieden hat, daß man Verjährungsregeln als zum formellem Strafrecht zählend verändern kann, auch rückwirkend verändern kann, daß der •Gesetzgeber dazu also eine Vollmacht hat, dann müßte er von einer solchen Vollmacht auch eingeschränkt Gebrauch machen können. Ich bitte, auch diese Frage zu prüfen.
Die allgemeine Aufhebung der Verjährung ist für mich die zweitbeste Lösung. Es ist denkbar — für
mich jedenfalls —, daß in späteren Jahren, wenn aus rein zeitlichen und biologischen Gründen sich das Problem der NS-Mörder nicht mehr stellt, das Parlament für den Individualmord hinsichtlich des Strafverfolgungsanspruchs wieder Verjährungsfristen bestimmt. Das könnte so sein; ich weiß es nicht, denn keiner kann insoweit in die Zukunft sehen.
Die schlechteste Lösung bzw. in meinen Augen eine Nichtlösung wäre es, wenn dieser Bundestag sich nicht mehrheitlich bereit fände, die zur Zeit geltende Verjährungsregelung zu verändern. Ich werde mich deshalb vehement dafür einsetzen, daß NS-Mörder auch nach dem 1. Januar 1980 noch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.
Meine Damen und Herren, mir ist durchaus bewußt, daß es verfehlt wäre, darauf zu setzen, Vergangenheit und Zukunft ließen sich allein durch die Justiz bewältigen. Schon die Tatsache, daß lediglich noch diejenigen zur Verantwortung gezogen werden können, die nach § 211 Strafgesetzbuch abzuurteilende Taten ausgeführt haben, läßt es abwegig erscheinen, die Aufgabe der Beurteilung der nationalsozialistischen Zeit den Justizbehörden zuzuweisen. Es bleibt unbefriedigend, daß die geistigen Wegbereiter der nationalsozialistischen Endlösungs- und Verbrechenspolitik mit strafrechtlichen Mitteln offensichtlich nicht faßbar sind. Die Endlösung beispielsweise hätte es logischerweise wohl nicht gegeben, wenn es nicht seinerzeit Menschen gegeben hätte, die diskriminierende sogenannte Rassengesetze erarbeitet, erlassen und kommentiert haben oder sich auf andere Weise um nationalsozialistisches Gedankengut „verdient" gemacht haben.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Es bleibt ein finsteres Kapitel unseres Staates, daß wir es zugelassen haben, daß just solche Menschen prädestiniert sein sollten, in höchste Positionen einer freiheitlich-demokratischen und antifaschistischen Grundordnung zu gelangen.
Für unsere politische Zukunft muß über Regelungen im Strafgesetzbuch hinaus festgehalten werden: Hitler ist ja nicht vom Himmel gefallen. Er hat nicht 12 Jahre . ohne das Zutun anderer geherrscht und ist dann verschwunden, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Nicht nur die Opfer von damals, sondern insbesondere auch die heutige junge Generation haben einen Anspruch darauf, vermittelt zu bekommen, daß der Faschismus der Jahre 1933 bis 1945 nicht das Ergebnis einer Überrumpelung des deutschen Volkes durch einige wenige Fanatiker war, sondern das Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen und der Verquickung handfester wirtschaftlicher Interessen mit politischer Macht. Faschismus, das war der Bau einer Ordnung, in der der Zweck die Mittel heiligte und die einzelnen Menschen zu Befehlsempfängern degradiert wurden. Es waren die Gleichgültigkeit, das Wegsehen oder auch das Nicht-durchschauen-Wollen, trotz besseren Wissens, vieler Menschen. Es



Waltemathe
waren Perfektion und Feigheit, die dazu beigetragen haben, daß ein ganzes staatliches System sich schlimmster Verbrechen gegen die Menschlichkeit bediente. Wenn wir als Demokraten künftig bestehen wollen, müssen wir Widerstände gegen unmenschliches Handeln vermitteln, müssen wir mehr Achtung vor Minderheiten haben und entwickeln und auch gegen neofaschistisches Handeln heute konsequenter vorgehen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordnetender FDP)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814502600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Maihofer.

Dr. Werner Maihofer (FDP):
Rede ID: ID0814502700
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte des Parlaments, die wir heute führen, hat daran möchte ich eingangs erinnern, wie es auch zwei meiner Vorredner getan haben — einen einzigen Grund: die zum 31. Dezember dieses Jahres drohende Verjährung aller durch Mord begangenen nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und nichts sonst. Angesichts so vieler guter Worte über die Verteidigung des Rechtsstaats im allgemeinen und die Bewahrung der Rechtssicherheit auf der Seite derer, die für einen Verjährungsablauf selbst für diese Massenmordverbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eintreten, aber auch angesichts so vieler starker Worte über den Schutz des Lebens im allgemeinen und die Wahrung der Gerechtigkeit auf der Seite derer, die sich für eine Verjährungsaufhebung für Mord überhaupt einsetzen, muß man dies, glaube ich, zunächst wieder in den Mittelpunkt rücken. Denn mir scheint, daß wir uns auf die eine oder andere Weise von der Sache, um die es hier geht, eher entfernen, die sich in die schlichte Frage fassen läßt: Sollen die Mordverbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zum Ende dieses Jahres verjähren, nachdem wir ihre Verjährung mehr als 45 Jahre hinausgezögert haben: von den sogenannten Ahndungsgesetzen der neugebildeten Länder an, die bei Straftaten, deren Verfolgung der als Gesetz geachtete Führerwille entgegenstand, ein Ruhen oder doch eine Hemmung der Verjährung bis zum 8. Mai 1945 annahmen, über das sogenannte Berechnungsgesetz des Bundestages von 1965, das — auch das wird leicht vergessen — in seiner praktischen Konsequenz ebenfalls ausschließlich zu einer Erstreckung der Verjährung für die durch Mord begangenen NS-Verbrechen geführt hat, bis hin zum 9. Strafrechtsänderungsgesetz 1969, das uns nun diese NS-Morde — und ' ausschließlich sie! — zur erneuten Entscheidung 1979 überantwortet hat?
Ich will mich mit dieser Vorgeschichte der heutigen Verjährungsentscheidung nicht aufhalten. Sie ist ein beklemmendes Stück Nachkriegsgeschichte für sich, das nach nicht geschrieben ist. Ich will mich ausschließlich mit den Antworten beschäftigen, die heute von den beiden Seiten des Hauses auf die Frage nach der Verjährung von NS-Morden gegeben worden sind: Ablauf der Mordverjährung — damit auch für NS-Morde — auf der einen Seite
und Aufhebung der Mordverjährung — damit auch für NS-Morde — auf der anderen Seite. Ich halte beide bisher vorgetragenen Antworten auf die Verjährungsfrage 1979 — bei allem Respekt für die moralische Position, die ihnen zugrunde liegt und wie sie gerade auch Herr Kollege Graf Stauffenberg so eindrucksvoll dargetan hat — juristisch nicht für akzeptabel.
Da es eine schwierige Sache ist, die hier von jedem Abgeordneten nach seinem Gewissen zu entscheiden ist, können uns höfliche Worte nach allen Seiten nicht weiterhelfen. Da dieses Gewissen, nach dem hier jeder für sich entscheidet, nicht einfach ein blindes Gefühl, sondern denkende Vernunft ist, weil nur aus einem denkenden Gewissen eine vernünftige Entscheidung hervorgehen kann, die aus zureichenden und angebbaren Gründen gefällt wird, müssen diese Gründe für und gegen die eine wie die andere Lösung — und auch für eine weitere, von mir hier in die Debatte einzuführende Lösung — ohne alle vorschnellen Festlegungen sorgfältig erörtert und ernsthaft dahin abgewogen werden, ob sie nicht nur moralisch, sondern auch juristisch dauerhaft tragfähig sind. Insoweit unterstreiche ich voll den Beitrag des Kollegen Vogel, der auch von seiner Seite darauf abzielte, daß wir uns- hier nicht kurzschlüssig, überschnell festlegen.
Wenn ich dabei auch nur für eine bisher kleine Gruppe von sieben Abgeordneten sprechen kann, so bitte ich doch die sich ihrer Sache sicheren Mehrheiten dieses Hauses, unsere Gründe nicht nach Zahlen zu wägen. Es gibt auch außerhalb dieses Hauses nicht wenige — nicht nur unter den Fachkollegen, sondern auch im Laienpublikum —, die beide in diesem Hause bisher erörterten Lösungen nicht für verantwortbar halten. Die Gründe hierfür will ich Ihnen im folgenden mit schonungsloser Deutlichkeit offenlegen.
Läßt sich ein Ablauf der Verjährungsfrist für Mord und damit für alle NS-Morde verantworten? Das ist die erste Frage, die wir uns zu stellen haben. Meine klare Antwort ist: Nein. Dieses Nein beruht nicht auf irgendwelchen, sondern auf Rechtsgründen. Wenn Thomas Dehlèr recht hatte, als er in der Verjährungsdebatte 1965 so bewegt ausrief: „Wir können der Welt nur schlicht und fest unseren Willen zum Recht dartun; ein Mehr gibt es nicht", dann werden wir uns vor allem anderen auch heute fragen müssen, wie unsere Entscheidung vor dem Recht bestehen kann, das uns Gesetz und Verfassung vorgeben.
Ich nenne Ihnen vier der entscheidenden Gründe, warum ich zu der Überzeugung gelangt bin, daß ein Verjährungsablauf aus Rechtsgründen nicht zu rechtfertigen ist.
Erstens. Auch aus Rechtsgründen wäre eine Verjährung dann zu rechtfertigen, wenn bis zum 31. Dezember 1979 eine annähernd vollständige Unterbrechung der Verjährung durch richterlichen Akt im Einzelfall für die NS-Morde möglich gewesen wäre. Nun, hier ist schon mehrfach festgestellt worden: Diese noch 1969 gehegte Erwartung hat sich erneut als trügerisch erwiesen. Selbst 1978 ist es nach dem



Dr. Dr. h. c. Maihof er
vorliegenden Bericht des Leiters der Zentralstelle in Ludwigsburg allein auf Grund polnischen Aktenmaterials zu über hundert neuen Verfahren wegen solcher NS-Morde gekommen. Auch nach 1979 werden wir entsprechend mit einer noch nicht abschätzbaren Zahl solcher neuer Verfahren rechnen müssen, nicht wegen irgendwelcher Morde aus privaten Motiven, sondern wegen massenhafter Völkermordverbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Daran ist überhaupt nicht zu deuteln; dies ist die Ausgangslage.
Wie wollen es darum die Vertreter eines Verjährungsablaufs eigentlich aus Rechtsgründen rechtfertigen, wenn etwa — ich rede hier nicht ins Blaue — zum Jahresende 1979 noch Hunderte unentschiedener und in dieser Zeit gar nicht mehr entscheibarer NS-Mordfälle auf dem Tisch der Staatsanwaltschaften lägen? Wollen sie diese dann sehenden Auges verjähren lassen?
Wer dies will, muß auch wollen können, so meine ich, daß auch schwerste Taten in außergewöhnlicher Häufung, die erst nach 1979 bekannt oder deren Täter erst nach dieser Zeit erkannt werden, dennoch verjähren sollen. Wer dies will, muß auch wollen können — das ist für mich die logische Konsequenz —, daß wir mit den Mordprozessen gegen bisher erkannte NS-Täter bis über das Jahr 2000 hinaus fortfahren, die bisher unerkannten NS-Mörder dann aber nach 1979 nicht mehr auf die Anklagebank zu den wegen derselben Tat Angeklagten bringen können, sondern im Zuschauerraum Platz nehmen lassen. Wer das will — das muß man sich einfach auch mal in der praktischen Konsequenz vorstellen —, muß sich überlegen, ob es nicht besser wäre, nach 1979 mit den NS-Prozessen überhaupt Schluß zu machen und die noch nicht überführten Täter zu amnestieren. Denn wie wollen Sie dies eigentlich ertragen und verantworten: die einen auf der Anklagebank, die anderen im Zuschauerraum, die Kollegen und Komplicen aus denselben Mordtaten, die hier in Frage stehen?

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Zweitens. Das wird aber auch nach der Verjährungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 1969 mit Rechtsgründen ebensowenig gerechtfertigt werden können wie schon der Ablauf der Mordverjährung für diese NS-Verbrechen. Diese Entscheidung hat — was leider in der heutigen Parlamentsdebatte noch nicht voll gewürdigt worden ist — allen 1965, ja selbst noch 1969 vorgetragenen Rechtsgründen für einen Verjährungsablauf den Boden entzogen.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : 1969 nicht mehr!)

Denn diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat nicht nur festgestellt, Herr Kollege Mertes, daß auch eine nachträgliche Verlängerung oder Aufhebung von Verjährungsfristen weder gegen das Rechtsstaatsprinzip noch gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt. Das Gericht hat in seiner Begründung zugleich ausgeführt, daß alle Rechtsgründe gegen einen Eingriff in die Verjährungsvorschriften, von denen auch heute die Rede war, für die vom
damaligen Berechnungsgesetz erfaßten NS-Verbrechen — also schwerste Taten in außergewöhnlicher Häufung — nicht durchschlagen. So steht es da wörtlich zu lesen.
Dies gilt nicht nur für den Gedanken des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit im allgemeinen, sondern ebenso auch für die Gedanken — ich zähle sie auf, so steht es in der Begründung — des Persönlichkeitswandels, der Beweisvergänglichkeit, der Strafzweckvereitelung, des Justizirrtums genauso wie den der Prozeßökonomie. Mit all diesen Rechtsgründen kann bei unserer erneuten Verjährungsentscheidung niemand antreten, es sei denn, er will sich in Widerspruch zum Bundesverfassungsgericht setzen. Das ist sicher jedem unbenommen, eine moralische Position dieser Art, wer will sie jemandem verwehren? Aber als juristische Position hat sie in der heutigen Verjährungsdebatte kein Gewicht mehr. Wer daraus mit Rechtsgründen einen Verjährungsablauf für die heute in Frage stehenden NS-Morde rechtfertigen wollte — ich sage es noch einmal klar und deutlich —, der setzt sich mit den maßgebenden Begründungen der Verjährungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Widerspruch, die sich alle ausdrücklich mit den Vorlagebeschlüssen und ihrer juristischen Argumentation auseinandersetzen.
Drittens. Der Völkermord ist seit 1969 unverjährbar gestellt. Die letzte Verjährungsentscheidung durch das Neunte Strafrechtsänderungsgesetz enthielt nicht nur, wie häufig zu hören ist, in Art. 1 eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord von 20 auf 30 Jahre. Es enthielt unter demselben Vorzeichen einer Verjährungsentscheidung für die damals zur Verjährung anstehenden NS-Morde die Einführung der Unverjährbarkeit des Völkermords — § 66 Abs. 2, jetzt § 78 Abs. 2 unseres Strafgesetzbuches. Beide Entscheidungen in der Verjährungsfrage 1969 wurden ausdrücklich nicht nur für die Zukunft, sondern mit Rückwirkung für die Vergangenheit getroffen. Dazu heißt es in Art. 3 des Gesetzes unter der Überschrift „Anwendung auf früher begangene Taten" — ich zitiere —: § 66 Abs. 2, also Strafverfolgung wegen Völkermords, und § 67 Abs. 1, also Strafverfolgung wegen Mordes, in der Fassung des Art. 1 gelten auch für früher begangene Taten und früher verhängte Strafen, wenn die Verfolgung bei Inkrafttreten dieses Gesetzes noch nicht verjährt ist.
Man kann lange darüber rechten, was der Gesetzgeber subjektiv damit gemeint hat. Im Bericht ist von „kleiner Rückwirkung" die Rede. Das würde also wohl heißen: rückwirkende Anwendung der Unverjährbarkeit des Völkermords auf die seit dem 22. Februar 1955 begangenen Taten — eine im Gesamtzusammenhang einer Verjährungsregelung für die NS-Verbrechen, die das Neunte Strafrechtsänderungsgesetz darstellt, einigermaßen kuriose Konsequenz; das werden Sie wohl zugeben.
Sieht man sich einmal die Protokolle des Rechtsausschusses zur Endredaktion dieser Rückwirkungsregelung an, dann stellt man dabei nicht nur fest, daß die ausdrückliche Bezugnahme auch auf die



Dr. Dr. h. c. Maihofer
Nichtverjährbarkeit des Völkermordes keinesfalls ein Versehen ist — sie wurde damals in der Endberatung von seiten des Justizministeriums ausdrücklich beantragt —, sondern stellt mit einiger Überraschung auch fest, daß schon damals der frühere Generalbundesanwalt Güde eine Fassung des Art. 3 vorgeschlagen hatte, die uns eine neuerliche Verjährungsdebatte 1979 erspart hätte, hätte doch Art. 3 danach gelautet:
§ 66 Abs. 2 und § 67 Abs. 1 gelten auch für früher begangene Taten eines Mörders und die für sie verhängten Strafen, wenn die Verfolgung und Vollstreckung beim Inkrafttreten dieses Gesetzes noch nicht verjährt sind.
So ist es in den Protokollen des Rechtsausschusses nachzulesen.
Mit meinen Worten: Die Nichtverjährbarkeit des Völkermords gilt auch für früher begangene Verbrechen des Mordes, welche die Voraussetzungen des Völkermordes erfüllen, wenn sie noch nicht verjährt sind. Offenkundig hat der Bundestag damals zwar die Unverjährbarkeit des Völkermordes beschlossen, aber diese Grundsatzentscheidung nicht auf die noch unverjährten Mordverbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erstreckt, jedenfalls nicht ausdrücklich, obwohl diese doch allein der eigentliche Anlaß sowohl für die Schaffung des Völkermordtatbestandes als auch für seine Unverjährbarkeitserklärung waren und sind.
So wird sich jeder fragen müssen — und das ist an diejenigen gerichtet, die für einen Ablauf der Verjährungsfrist eintreten —, wie er entgegen dieser nach geltendem Recht bereits bestehenden Unverjährbarkeit des Völkermordes die früher begangenen Völkermordverbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einfach verjähren lassen will, ohne sich mit der getroffenen Grundentscheidung unseres eigenen Rechts in Widerspruch zu setzen. Denn klar ist nach der Verfassungsgerichtsentscheidung auch insoweit, daß das Rückwirkungsverbot eine solche rückwirkende Erstreckung der Verjährungsfristen grundsätzlich nicht ausschließt.
Viertens und letztens. Die Fragwürdigkeit eines Verjährungsablaufs zeigt sich aber nicht nur im Blick auf unser eigenes Strafrecht, sondern auch
und darauf kommt es mir noch mehr an — im Blick auf das allgemeine Völkerstrafrecht, wie es in der Genozid-Konvention der UNO von 1948 kodifiziert und durch den Völkermordtatbestand des § 220 a auch in unser Recht transformiert worden ist. Zwar enthielt die Völkermord-Konvention weder eine Vorschrift über die Unverjährbarkeit noch eine über die Rückwirkung auf früher begangene Taten; aber die Unverjährbarkeit des Völkermords steht, um nur ein Beispiel zu nennen, für einen so rechtsstaatlichen Nachbarn wie Frankreich so sicher fest, daß die entsprechenden Taten in einem noch von de Gaulle unterzeichneten Gesetz 1964 als ihrer Natur nach unverjährbare Verbrechen bezeichnet wurden.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Sie sind aber noch nie verfolgt worden! Es gibt bis jetzt keinen Prozeß!)

— Das ist doch hier nicht die Frage, ob Prozesse geführt werden, wir reden jetzt von der Unverjährbarkeit und von nichts sonst, Herr Kollege Mertes.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU] : Das gehört ja wohl zusammen!)

Entsprechend lautet auch das Votum einer vom Generalsekretär der Vereinten Nationen veranlaßten Studie, die bereits 1966 zu dem Ergebnis kommt, die Nichtverjährbarkeit von Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen sei ein schon geltendes Prinzip des allgemeinen Völkerrechts. Es heißt da, die Anwendung von Verjährungsvorschriften auf derartige Verbrechen wäre nur kraft ausdrücklicher völkerrechtlicher Bestimmung möglich; das Schweigen des Völkerrechts zur Verjährungsfrage müsse als Ausdruck des Prinzips der Nichtverjährbarkeit ausgelegt werden. Auch die Studie gibt zu, daß darüber unter Juristen Streit besteht. Deshalb schlägt sie vor, diese Rechtsfragen durch eine internationale Konvention fraglos klarzustellen. Das geschieht dann auch mit dem Versuch einer Verbindlicherklärung nicht nur der Unverjährbarkeit, sondern auch der Rückwirkung, wie er in den entsprechenden Folgekonventionen der UNO 1968 und nun auch des Europarates 1974 gemacht wird.
Ich frage hier wiederum die Kollegen, die gegenwärtig für einen Verjährungsablauf bei NS-Morden eintreten: Wie wollen Sie sich eigentlich angesichts dieser nun wiederum, zu Beginn dieses Jahres, auf den Tisch gekommenen Europaratskonvention verhalten, die von uns verlangt, daß wir die Völkermordverbrechen, soweit sie noch nicht verjährt sind — also ohne eine verfassungsmäßig unzulässige Rückwirkungsregelung —, für unverjährbar und verfolgbar erklären?
Ich meine, daß sich gerade die Kollegen, die gegenwärtig noch einem solchen Verjährungsablauf bei NS-Taten zuneigen, die Frage vorlegen müssen, ob wir uns mit dieser Haltung in der Völkerrechtsgemeinschaft nicht auch juristisch isolieren. Dadurch würden alle Möglichkeiten abgeschnitten, auch in Zukunft im Einklang mit dem allgemeinen Verständnis der Völkerrechtsgemeinschaft eben diese NS-Morde, die der eigentliche Anlaß für die Schaffung der Genozid-Konvention der UNO wie des entsprechenden Artikels der Menschenrechtskonvention des Europarates waren, unverjährbar und verfolgbar zu stellen.
Ich halte — um es ganz klar zu sagen — die Bundesrepublik Deutschland durch ihren Beitritt zur Menschenrechtskonvention für verpflichtet, in den Grenzen unserer Verfassung — und das bedeutet: des Rückwirkungsverbots des Art. 103 des Grundgesetzes — alles zu tun, um sicherzustellen, daß eine Verurteilung oder Bestrafung von Personen nicht ausgeschlossen wird, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht haben, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen, von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war, wie es in Art. 7 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention heißt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)




Dr. Dr. h. c. Maihofer
Ergebnis: Ich halte danach schon aus Rechtsgründen einen Verjährungsablauf für die durch Mord begangenen Völkermordverbrechen der NS-Zeit nicht für verantwortbar,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

weder nach der 1969 getroffenen Grundsatzentscheidung des innerstaatlichen Rechts, den Völkermord unverjährbar zu erklären, noch nach den sich aus der Völkermordkonvention der UNO und der Menschenrechtskonvention des Europarates ergebenden völkerstrafrechtlichen Verpflichtungen. Dies ist ein Ergebnis, das ich die Kollegen, die in ihrer Haltung zunächst festliegen, wirklich ernsthaft zu würdigen bitte; denn ich meine, daß wir aus Rechtsgründen in dieser Haltung nicht verharren dürfen.
Nun zum zweiten Teil der hier erörterten Fragestellung: Von der anderen Seite des Hauses — wenn auch die Meinungsfronten hier quer durch die Fraktionen laufen —

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Wen meinen Sie denn?)

wird vorgeschlagen, die Mordverjährung überhaupt aufzuheben. Zur Ablehnung dieses Vorschlags kann ich mich kürzer fassen, weil die Gründe dafür und dagegen in den bisherigen Debattenbeiträgen ausführlich erörtert worden sind. Ich meine, daß es auch zu der hier zunächst in Vorschlag gebrachten Lösung Fragen gibt, die noch einmal ernsthaft erörtert werden müssen und die nach meiner bisherigen Beurteilung ausschließen, daß man diesen Weg wählt, um zu einer Verjährungsentscheidung im Jahre 1979 zu gelangen. Ich will auch hier nur vier Gründe kurz und knapp herausgreifen.
Erstens. Ich meine, daß die Aufhebung der Verfolgungsverjährung für Mord sich aus keinem im Mordtatbestand selbst liegenden Grund rechtfertigen läßt.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Niemand wäre 1965 oder 1969 — und dies gilt auch für 1979 — auf den Gedanken verfallen, eine Aufhebung der Mordverjährung vorzuschlagen, wenn der Gesetzgeber nicht vor der Frage der Verjährung der NS-Morde gestanden hätte. Das sollte man ehrlich sehen und bekennen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: So ist es! Das ist ehrlich!)

Deshalb hat auch der Alternativentwurf — und er ist hier sicher ein unverdächtiger Zeuge — sowohl in seiner ersten Auflage im Jahre 1966 als auch in der zweiten Auflage im Jahre 1969 die Unverjährbarkeit Mordverjährung zwar auf 30 Jahre erstreckt, aber zugleich die Unverjährbarkeit ausschließlich für den Völkermord die Unverjährbarkeit vorgesehen, und zwar — wie es in der Begründung heißt — angesichts der bevorstehenden völkerrechtlichen Regelung dieser Frage.
Zweitens. Eben diesen wohlbegründeten Wertunterschied zwischen Völkermord und Mord, der auch unserem 1973 in Kraft getretenen neuen Strafgesetzbuch zugrunde liegt, würden wir mit der hier vorgeschlagenen Lösung einer Aufhebung der Mordverjährung nachträglich wieder einebnen. Unser geltendes Recht geht aus guten Gründen von einem grundsätzlichen Wertunterschied zwischen Völkermord und Mord aus. Deshalb kann auch die Formel „Mord ist Mord" hier nicht zutreffen. Wir reden hier von Völkermord auf der einen und von Mord auf der anderen Seite. Auf der einen Seite haben wir in allen Grundsatzentscheidungen, die der Gesetzgeber seit 1969 getroffen hat, uns zur Unverjährbarkeit bekannt, und nicht nur dazu, sondern auch dazu, das Weltrechtsprinzip für den Völkermord, Verbrechen mit ganz anderem kriminellen Charakter und ganz anderer internationaler Dimension, einzuführen. Das haben wir nicht nur bereits im Neunten Strafrechtsänderungsgesetz getan, sondern das haben wir auch im 2. Strafrechtsreformgesetz noch einmal bekräftigt, das die Grundlage unseres geltenden Rechts darstellt. Wenn Sie sich den Bericht zum 2. Strafrechtsreformgesetz darauf ansehen, finden Sie darin alle die auch heute noch maßgebenden und durchschlagenden Gründe aufgereiht, warum Völkermord etwas anderes ist als Mord. Er ist deshalb etwas anderes, weil er — so heißt es in der Begründung — als Staatsverbrechen konzipiert ist und damit ganz anderen Beweisüberlegungen unterliegt als der Typus der Straftaten einzelner gegen einzelne, was zugleich — so heißt es in der Begründung weiter — dazu führen müsse, die Verfolgbarkeit des Völkermordes von der Dauer eines verbrecherischen Regimes unabhängig zu machen.
Alle diese entscheidenden Unterschiede, die doch
— das muß ich auch in Entgegnung auf manche Debattenbeiträge sagen — nicht nur in der Schwere der Tat allein — dies ist gar nicht allein die Frage bei der Verjährung —, sondern auch in der Schwierigkeit der Verfolgung dieser Taten begründet sein müssen, würden mit der sachunangemessenen Gleichstellung von Mord und Völkermord wieder beseitigt, nur weil Sie glauben, allein auf diesem Wege die Frage der Unverjährbarkeit der NS-Morde lösen zu können.
Über Mord ist nun einmal nach Jahrzehnten Gras gewachsen. Das ist jedenfalls unsere Rechtsauffassung seit über 100 Jahren.

(Lachen des Abg. Wehner [SPD] — Wehner [SPD] : Wessen Rechtsauffassung ist das denn?)

— Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege Wehner, natürlich können Sie alles belächeln.

(Wehner [SPD] : Ich frage Sie nur!)

Das ist doch Tatsache, daß dies unsere Rechtsauffassung ist.

(Wehner [SPD]: Bei Ihnen offenbar!)

— Hierin können Sie mich durch Ihre Zwischenrufe nun überhaupt nicht beirren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU — Wehner [SPD] : Das ist aber nicht meine Rechtsauffassung! Sie bekommen den Beifall von der richtigen Seite!)

— Entschuldigen Sie, über Mord wächst irgendwann einmal Gras, und zwar im Regelfall schon nach



Dr. Dr. h. c. Maihofer
einer Generation. Über Auschwitz aber wächst kein Gras, noch nicht einmal in 100 Generationen.

(Beifall bei der FDP, bei Abgeordneten der SPD und bei der CDU/CSU)

Diesen Unterschied einzuebnen, einfach weil man hier nun plötzlich auf die völlig verfehlte Begründung „Mord ist Mord" verfällt, und zu glauben, das sei hier die Frage, ist ein Irrweg, der uns alle ins Abseits führen wird und der uns eine der besten Errungenschaften unseres Rechtsstaates, nämlich die Verjährbarkeit auch schwerster Taten unterhalb der Schwelle des Völkermordes, kosten wird. Ich muß Ihnen für mich sagen — ich weiß, wovon ich hier rede —: Als Strafrechtsreformer kann ich diesen Schritt nicht mitvollziehen.
Drittens. Ebenso führt aber die Aufhebung der Mordverjährung nicht nur zu sachunangemessenen, sondern auch zu unverhältnismäßigen Folgen — auch das kann ich Ihnen nicht ersparen, auch wenn Ihnen das unangenehm sein sollte —, nämlich dadurch, daß Sie für alle Zukunft auch jeden Mord aus privaten Motiven mit den Völkermorden der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auf eine Stufe stellen. Das ist mir ein ganz unerträglicher Gedanke. Diese Aufhebung der Mordverjährung führt aber auch in ihre Rückwirkung auf die Vergangenheit nicht etwa dazu, wie manche meinen, daß wir nun die Morde seit 1933 aus privaten Motiven auf der einen Seite und die NS-Morde seit 1933 auf eine Ebene stellen, sondern sie führt ausschließlich dazu, daß wir rückwirkend die NS-Morde seit 1933 mit den Morden aus privaten Motiven seit 1949 auf eine Stufe stellen; denn es ist unter Fachleuten schon vom Ahndungsgesetz an völlig unbestritten, daß sich die Verjährungserstreckung bis zum Berechnungsgesetz hin ausschließlich für die Verjährungsverlängerung bei den NS-Morden und für nichts sonst ausgewirkt hat.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Die anderen sind alle weiter so gelaufen!)

Niemand hat sich in den letzten Jahren mit irgendwelchen gemeinen Straftaten der Jahre vor 1949 beschäftigt; das ist alles längst verjährt und vergessen, soweit es sich nicht um NS-Morde handelt.
Viertens: Mit dieser Regelung würde der Gesetzgeber im Ergebnis aber auch — und das ist für mich nicht nur ein Schönheitsfehler — einen Rechtszustand wiederherstellen, den der nationalsozialistische Gesetzgeber 1943 eingeführt hat, wenn auch in der Form einer fakultativen Aufhebung der Mordverjährung nach dem sogenannten Opportunitätsprinzip. Ich meine, daß wir uns aber die Frage stellen müssen, ob der Gesetzgeber, dieser Bundestag, der 1953 diese Aufhebung der damaligen Aufhebung der Mordverjährung beschlossen hat, um aus rechtsstaatlichen Gründen die Errungenschaft der Mordverjährung wiederherzustellen, nun durch eine neuerliche Entscheidung des Bundestages total desavouiert werden soll. Denn wenn wir morgen den Vorschlag, wie er auf dem Tisch liegt, beschließen würden, die Mordverjährung aufzuheben, würden wir die Aufhebung dieser Aufhebung, nämlich 1953 der von 1943, jetzt im Jahre 1979 wiederaufheben. Das wäre für mich ein solcher Selbstwiderspruch des Gesetzgebers, daß hier von Kontinuität oder gar Autorität desselben Gesetzgebers gegenüber den Bürgern in einem Rechtsstaat keine Rede mehr sein kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich komme aus allen diesen Gründen zu dem Ergebnis — und es fällt mir nicht leicht, dies zu sagen —, daß die generelle Aufhebung der Mordverjährung, für die es keinen im Mordtatbestand selbst liegenden sachlichen Grund gibt, nicht nur sachunangemessene, sondern auch unmäßige Folgewirkungen hätte, zudem den wohlbegründeten Wertunterschied zwischen Völkermord und Mord einebnen und zu einem unerträglichen Selbstwiderspruch des Gesetzgebers führen würde.
Demgegenüber ist die differenzierte Anwendung der Nichtverjährbarkeit des Völkermords auf die Verbrechen des Mordes unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, die die Voraussetzungen des Völkermordes erfüllen, in den Wertentscheidungen des geltenden Rechts bereits vorgezeichnet, wie vorstehend, wie ich hoffe, gezeigt worden ist. Sie führt im Gegensatz zur Aufhebung der Mordverjährung zu einer ebenso sachangemessenen wie verhältnismäßigen Regelung, die allein auch der besonderen kriminellen Qualität und dem besonderen internationalen Charakter dieser völkerstrafrechtlichen Verbrechen des Völkermords gerecht wird.
Diese vorgeschlagene differenzierende Lösung, die von mir in einen Gesetzentwurf gefaßt worden ist und die von sechs weiteren Abgeordneten meiner Fraktion unterstützt wird, nämlich von Frau Matthäus-Maier, Herrn Grüner, Frau Schuchardt, Herrn Hoffie, Herrn Vohrer und Graf Lambsdorff, sagt klar, was sie will, und tut, was sie sagt: die Unverjährbarkeitserklärung der Verbrechen des Mordes, die unter die Voraussetzungen des Völkermords fallen.
Man hat gegen diese differenzierende Lösung eingewendet, daß sie alle Mordverbrechen, die nicht Völkermord sind, verjähren lasse. Das tut sie in der Tat.
Aber dieser Einwand unter dem Gesichtspunkt „Alles oder Nichts" übersieht nicht nur, daß auch unser geltendes Recht diese Unverjährbarkeit in Übereinstimmung mit der internationalen GenozidKonvention nur für diese Menschheitsverbrechen kennt und für nichts sonst. Ein solcher Einwand, man könne damit beispielsweise die Euthanasiefälle nicht erfassen, übersieht darüber hinaus nicht nur, daß diese Fälle mit am frühesten und vollständigsten erfaßt und abgeurteilt worden sind, sondern auch, daß im vergangenen Jahrzehnt nach Auskunft des Leiters der Ludwigsburger Zentralstelle überhaupt nur drei neue Fälle zur Anklage gebracht werden konnten — das wurde Ihnen sicherlich genauso wie uns in der Fraktion vorgetragen —, sämtlich Judenmorde durch einen KZ-Kapo und zwei SS-Unterführer, alles Verbrechen also, die eindeutig schon von der Unverjährbarkeit des geltenden Völkermords erfaßt werden.



Dr. Dr. h. c. Maihof er
Ich finde, wir sollten nicht in einem teutonischen Furor nun auch bei einer Verjährungslösung anfangen, mit all den Kommentarproblemen — gibt es nicht doch hier oder dort noch einen Grenzfall, der nicht erfaßt ist? — uns selber Fallstricke zu legen. Wir sollten für den Kernbereich eine handhabbare Lösung schaffen, die den völkerstrafrechtlichen Verpflichtungen der Genozid-Konvention entspricht, und auf dieser gesicherten Grundlage die Lösung der. Verjährungsfrage 1969 suchen.
Herr Kollege Vogel, Sie haben gefragt: Ist das nicht doch ein Sondergesetz? Auch Herr Kollege Wendig hat von einem Ausnahmegesetz geredet.
Ich bin genau gegenteiliger Überzeugung. Es ist ein streng rechtsstaatlich am geltenden Strafrecht und Völkerstrafrecht orientiertes Gesetz, das nicht Ungleiches gleich behandelt, wie die Verjährungsaufhebung für Mord, sondern grundsätzlich Ungleiches, nämlich Völkermord und Mord auch tatsächlich ungleich behandelt. Denn dies ist doch die Forderung der Gerechtigkeit: Gleiches gleich, aber auch Ungleiches ungleich zu behandeln.
Eine allerletzte Bemerkung. Nicht in den Anwendungsbereich des heutigen Völkermordtatbestands fällt, wie Sie alle wissen, die Zerstörung politischer Gruppen. Dies wird seit langem als eine erhebliche Lücke beklagt, obwohl gerade für diese politischen Gruppen, wie immer wieder betont wird, die Gefahr besteht, von Ausschreitungen und Verfolgungen betroffen zu werden.
Ich meine, nichts hindert die Bundesrepublik Deutschland daran, diese seit langem erkannte und von vielen beklagte erhebliche Lücke des Völkermordtatbestandes, und zwar eine solche gerade in seinem juristisch wie politisch empfindlichsten Anwendungsbereich, aus Anlaß der Verjährungsdebatte 1979 zu schließen. Die Bundesrepublik Deutschland würde damit zugleich, wie ich meine, über den Tag hinaus ein Zeichen ihres unbedingten Willens zum Recht setzen, jeden, nicht nur nationalen, rassischen, religiösen und ethnischen, sondern auch gegen politische Gruppen gerichteten Völkermord nach dem Völkermordtatbestand zu ahnden und unverjährbar zu stellen. Ein solcher Gesetzesvorschlag würde — das ist meine Überzeugung — der heute gestellten Entscheidung der Verjährungsfrage 1979 eine andere juristische wie politische Dimension verschaffen, nicht nur im Hinblick auf die Ahndung der unverjährbaren Verbrechen des Völkermordes in unserer Vergangenheit, sondern für alle Zukunft.
Ich komme zum Schluß. Ich möchte an Sie ähnlich wie Herr Kollege Vogel appellieren, an die Abgeordneten aller Fraktionen, sich durch keinerlei Festlegung auf zunächst eingenommene Standpunkte - das lasse ich auch für mich gelten — davon abhalten zu lassen, in der heute und erst heute beginnenden Sacherörterung dieses Parlaments als des einzigen Souveräns, der hier zur Entscheidung berufen ist, nach einer für eine größere Mehrheit des ganzen Hauses tragfähigen Lösung der Verjährungsfrage zu suchen. Kommt man, wie ich meine, aus Rechtsgründen unausweichlich zu einem klaren Nein gegen einen Verjährungsablauf bei NS-Morden, so werden
wir alle, über die bisherigen Meinungsfronten hinweg, nach einer eindeutigen Rechtsgrundlage für die Unverjährbarerklärung der durch Mord begangenen Völkermorde der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft suchen müssen. Sie ist mit dem bisher vorliegenden Vorschlag der Mordverjährung überhaupt, wie ich meine, noch nicht gefunden. Deshalb sollte unser aller Arbeit zur Lösung dieser schwierigen Frage von heute an ernsthaft über alle Fraktionsgrenzen hinweg beginnen.

(Beifall bei der FDP, bei Abgeordneten der SPD und bei der CDU/CSU)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814502800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mikat.

Dr. Paul Mikat (CDU):
Rede ID: ID0814502900
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Begründung, die dem Antrag, für den ich jetzt spreche, gegeben wurde, zeigt, daß dieser Antrag nicht Ausdruck einer neuen rechtspolitischen Diskussion ist, sondern daß mit ihm eine Diskussion fortgesetzt wird, die auch nach der Änderung der Verjährungsfrist für Mord, die im Jahre 1969 das Parlament beschlossen hat, niemals ganz verstummte.
Die Tatsache, daß sich das Parlament innerhalb kurzer Zeit erneut mit der Frage der Verjährbarkeit oder Unverjährbarkeit von Mord zu beschäftigen hat, mag auch als Indiz dafür gelten, wie schwer die Rechtsgüterabwägung auf diesem Felde ist. Es ist ja keineswegs so, als ginge es hier um eine leichte Entscheidung; davon könnte nur dann die Rede sein, wenn Gründe und Gegengründe in einem krassen Mißverhältnis stünden. Das jedoch trifft nicht zu; auch )diejenigen, die den Antrag hier vorlegen, wissen sehr wohl um 'die Gewichtigkeit der Gegengründe und haben sich mit ihnen auseinandergesetzt. Sie wissen darum, daß auch diejenigen, die anderer Meinung sind, das aus hoher moralischer Überzeugung sind. Weil sie dieses wissen, haben sie die Pflicht, angesichts der zahlreichen Stimmen, 'die insbesondere aus dem interessierten Ausland zu uns dringen, immer wieder Ideutlich zu machen, 'daß der Deutsche Bundestag als Ganzes einmütig in der Ablehnung von NS-Gewalttaten ist, auch wenn in der Frage der Verjährbarkeit oder Unverjährbarkeit von Mord verschiedene Standpunkte bezogen werden.

(Beifall bei 'der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Aber gerade weil hier nicht Moralität gegen Rechtspolitik steht, aber auch nicht rechtsstaatliches Denken gegen opportunistisches Zweckdenken, haben wir alle die Möglichkeit, in Respekt voreinander diese Debatte zu führen.
Die Alternativen Sind klar: Entweder wir entschließen uns für 'die generelle Unverjährbarkeit des Mordes oder wir belassen es bei der derzeitigen Regelung. Eine nochmalige Verlängerung der Frist wäre nichts anderes als eine Vertagung der Problemlösung, sie würde 'den Eindruck erwecken müssen, am Recht werde manipuliert. Davon aber kann nicht 'die Rede sein, wenn die Frage nach der generellen Unverjährbarkeit des Mordes gestellt wird,



Dr. Mikat
denn dann geht es nicht um ein Hinausschieben der Frist, sondern um das Aufheben der Frist angesichts der Schwere eines Delikts.
Es liegt nahe, daß, wenn die Schatten unserer Vergangenheit beschworen werden, auch Stimmen laut werden, die auf die Untaten anderer Staaten und Völker verweisen. Mehrere Zuschriften erreichten mich in den letzten Tagen, vorgefertigte Formulare, in denen es unter Hinweis auf die Untaten anderer hieß: „Wahren Sie die Interessen des deutschen Volkes und verteidigen Sie den Rechtsstaat!" Die will ich wahrlich wahren und den will ich wahrlich verteidigen, aber nicht im Sinne dieser Schreiber. In solchen Stimmen, aus welchen Motiven heraus sie auch laut werden mögen, wird eine gefährliche Geisteshaltung deutlich, nämlich die, als gelte es, Unrecht gegen Unrecht aufzuwiegen, als gelte es, die inhaltliche Ausfüllung unseres Rechtsstaates, für den man selbst Verantwortung trägt, vom Tun oder Unterlassen anderer abhängig zu machen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Wir würden das Unrecht nur verfestigen, würden wir so handeln. Wir sind aufgerufen, für unseren Teil und mit unseren Möglichkeiten unsere Rechtsordnung zu bestimmen. Es ist Unrecht, eigenes Unrecht mit fremdem Unrecht verrechnen zu wollen, so wie es ja auch Unrecht ist, das unrechte Tun, anderer mit eigenem unrechten Tun zu beantworten. Weder sittlich noch rechtsdogmatisch trifft das Argument zu, die Unverjährbarkeit des Mordes dürfe so lange nicht eingeführt werden, solange nicht andere Staaten vergleichbare Fälle vergleichbar behandeln würden. Hier gilt: tua res agitur. Sicherlich folgt auch daraus noch nicht, daß wir gezwungen sind, die Unverjährbarkeit des Mordes einzuführen, wohl aber folgt daraus, wenn wir die Unverjährbarkeit des Mordes für notwendig halten sollten, daß wir sie dann auch einführen müssen, ohne danach zu fragen, wie sich andere Staaten verhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Unwürdig diejenigen, die davon reden, wer die Unverjährbarkeit des Mordes fordere, habe die Opfer des eigenen Volkes vergessen. Ganz im Gegenteil: Auch in diesen Opfern begegnet uns Mord als generelle Verneinung des Lebens. Gerade darum aber kann nicht Mord gegen Mord aufgerechnet werden. Wer uns solches ansinnt — und auch noch unter Berufung auf den Rechtsstaat —, der mutet uns die Absage an den Rechtsstaat zu.
Zu warnen ist auch vor denen, die meinen, jetzt müsse endlich einmal ein „Schlußstrich" unter ein dunkles Kapitel unserer Geschichte gezogen werden. Die so reden, .wollen verdrängen, nicht überwinden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

In der Geschichte wird nicht bilanziert, wird nicht
Schuld verrechnet, wie uns die Bilanzbuchhalter
des Unrechts oft vorgaukeln wollen. Die Fehler der
Vergangenheit, für die ein Volk einzustehen hat, werden überwunden durch die positiven Leistungen. Wir können stolz darauf sein, nach dem Krieg die NS-Zeit durch positive Leistungen überwunden zu haben. Namen wie Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Schumacher und Theodor Heuss mögen stellvertretend dafür stehen.
Ich kann es mir versagen, auf die Arbeit der Ludwigsburger Zentralstelle einzugehen. Ich gehe davon aus, daß dem Hohen Hause bekannt ist, wie viele NS-Verfahren noch anhängig sind. Aber ich möchte in diesem Zusammenhang nicht versäumen, auch für die Antragsteller gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion an alle Staaten zu appellieren, eventuell noch vorhandenes Belastungsmaterial nicht zurückzuhalten, sondern den deutschen Stellen zugänglich zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU)

Staaten, die über belastendes Material verfügen, es aber bewußt zurückhalten, um es erst später zu einem ihrem politischen Kalkül entsprechenden Zeitpunkt vorzulegen, zeigen damit, daß sie nicht an Recht und Gerechtigkeit interessiert sind, sondern belastendes Material als Waffe gegen die Bundesrepublik Deutschland einsetzen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU: Leider wahr!)

Eine solche Haltung könnte nur auf sie selbst zurückschlagen, in ihr würde sich nicht die Achtung vor dem Recht, sondern die Mißachtung des Rechtes manifestieren.
Wenngleich die von uns zu treffende Entscheidung weder ausschließlich rechtsgeschichtlich noch rechtsvergleichend begründet werden kann, so können doch Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung für die rechtspolitische Entscheidungsfindung wichtige Kriterien liefern. Allerdings: Die bloße Berufung auf die Geschichte kann Ausdruck eines durchaus ungeschichtlichen . Denkens sein, und nicht derjenige zieht Lehren aus der Geschichte, der unreflektiert tradiert, sondern derjenige, der Geschichte als lebendigen Prozeß versteht, in dessen Verlauf wir, in bewußter Anknüpfung an die Überlieferung und die Bedingungen der Gegenwart, gestaltend zu wirken haben.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Zu einer Dokumentation „Die Verjährung im Strafrecht — rechtsgeschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung" heißt es einleitend, daß der tiefere Sinn der Verjährung insbesondere im rechtsgeschichtlichen Rückblick offenkundig werde. Und dann wörtlich:
Dabei zeigt sich, daß die Entwicklung der Strafverfolgungsverjährung zu einem umfassenden Rechtsinstitut eng verknüpft ist mit der Verbreitung und Verfestigung rechtsstaatlichen Gedankenguts. Diesen Kontext gilt es in der aktuellen Verjährungsdiskussion nicht aus dem Auge zu verlieren. Lehren aus der Geschichte zu ziehen, heißt auch, an bewährten Institutionen festzuhalten.



Dr. Mikat
Der Rechtshistoriker — und ich bin das nicht nur aus Neigung, sondern auch aus Profession — wird sich über das hier versuchte Lob seiner Disziplin freuen, aber er wird zugleich davor warnen müssen, rechtshistorische Befunde im Interesse eines gewünschten Ergebnisses zu verkürzen und somit ungeschichtlich zur Geltung zu bringen. Es ist wenig sinnvoll, auf die Geschichte zu verweisen, ohne im einzelnen darzutun, unter welchen Bedingungen und von welchen Voraussetzungen her eine rechtliche Norm zu einer bestimmten Zeit in Geltung war.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auf die Verjährungsfrage bezogen: Wer in aller Welt gibt nun schon „eine bewährte Institution" preis, wenn er die generelle Unverjährbarkeit des Mordes postuliert? Steht und fällt dann das Institut der Verjährung mit der Verjährbarkeit oder Unverjährbarkeit eines bestimmten Deliktes? Auf die zwingende Verjährbarkeit aller Delikte wird sich wohl niemand, der die Geschichte bemüht, berufen wollen, denn dann wären die Einführung der Unverjährbarkeit des Völkermordes ja zugleich auch die Preisgabe des Rechtsinstituts der Verjährung gewesen.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Wer im Zusammenhang mit der Verjährungsfrage die rechtshistorische Kontinuität bemüht, muß zunächst einmal angeben, welche Zeitspanne er meint. Legt man die Zeitspanne zugrunde, die wir gewöhnlich als „deutsche Rechtsgeschichte" bezeichnen, also einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren, so wird man schwerlich davon sprechen können, die Verjährung des Morddeliktes gehöre zur ungebrochenen rechtsgeschichtlichen Tradition. Noch das 19. Jahrhundert bietet zunächst entsprechend der territorialen Gliederung ein unterschiedliches Bild, erst mit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 erfährt das strafrechtliche Verjährungsrecht für Deutschland eine Vereinheitlichung. Wer also die Rechtstradition mit 1871 beginnen läßt, kann dann von „bewährter deutscher Rechtstradition" sprechen.
Dem differenzierten rechtshistorischen Befund entspricht der ebenfalls differenzierte rechtsvergleichende Befund. Von einer einheitlichen Praxis der Staaten kann nicht die Rede sein. Nicht einmal eine einheitliche kontinentaleuropäische Praxis läßt sich für die Strafverfolgungsverjährung bei Mord feststellen. Hier im einzelnen die verschiedenen staatlichen Regelungen darzulegen, ist nicht notwendig. Es mag genügen, wenn festgestellt wird, daß z. B. in allen Staaten des Common-lawGebietes Mord nicht verjährt. Andere Staaten wiederum kennen eine Verjährung des Morddelikts ähnlich wie die Bundesrepublik Deutschland, in der freilich Völkermord nicht verjähren kann. Wiederum andere Staaten haben nach dem letzten Kriege die Unverjährbarkeit nur für bestimmte Delikte, z. B. Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen Frieden und Menschlichkeit, gesetzlich verankert.
Gerade weil die rechtsvergleichende Betrachtung ein so unterschiedliches Bild bietet, vermag sie deutlich zu machen, daß vom Gedanken des Rechtsstaates her verschiedene Antworten auf die Frage, ob Mord verjähren soll oder nicht, möglich sind. Aus dem Rechtsstaatsgedanken kann keineswegs zwingend gefolgert werden, Mordtaten müßten unverjährbar sein.

(Zustimmung des Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] [SPD])

Die derzeit geltende Regelung unseres Strafrechts, wonach die Verjährungsfrist bei Mord 30 Jahre beträgt, steht also nicht im Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip. Aber andererseits gilt ebenso, daß aus dem Rechtsstaatsgebot nicht zwingend folgt, daß alle Straftaten verjähren müssen. Wäre dem so, dann hätte die Regierung Kiesinger im Jahre 1969 einen Antrag eingebracht, der dem Rechtsstaatsgedanken zuwiderlief, ja, dann wäre schließlich sogar die Unverjährbarkeit des Völkermordes, die in der Bundesrepublik Deutschland Bestandteil des geltenden Rechts ist, mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar. — Der Rekurs auf den Rechtsstaat entfällt.
Wenngleich der Forderung nach Unverjährbarkeit des Mordes nicht jene rechtsstaatliche Notwendigkeit eignet, wie z. B. dem Gebot des rechtlichen Gehörs oder dem Grundsatz „Nulla poena sine lege" — keine Strafe ohne Gesetz —, so eignet ihr doch eine von der Wertordnung unserer Verfassung her sinnvolle Angemessenheit, die sich aus der Tatsache ergibt, daß das Rechtsgut „Leben" so elementar ist, daß es von der Rechtsordnung umfassend geschützt werden muß.
Im Rahmen eines umfassenden Schutzes kommt auch der Unverjährbarkeit des Morddeliktes eine nicht geringe Bedeutung zu. Mit der Unverjährbarkeit des Morddeliktes unterstreicht dann die staatliche Rechtsordnung den hohen Rang des Wertes Leben, den der Mörder mit seiner Tat bewußt verneint.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sollte der Deutsche Bundestag die Abschaffung der Mordverjährung beschließen, dann mag es durchaus sein, daß in Zukunft einmal Kinder ihre Eltern, Schüler ihre Lehrer oder Studenten ihre Professoren fragen, warum nach deutschem Recht Mord nicht verjährt. Ich hoffe, ihnen wird dann als Antwort nicht nur der Hinweis auf die Schwere des Morddeliktes gegeben, sondern es wird ihnen auch gesagt, daß die Unverjährbarkeit des Mordes im deutschen Strafrecht zugleich eine bleibende Erinnerung daran ist, daß es in Deutschland einmal eine Zeit gab, in der Mord und Mordlust, Rassenwahn und Herrenmenschentum zu den Maximen eines Staates gehörten, der Recht in Unrecht verkehrt hatte.

(Lebhafter Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Die Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord soll auch das Bewußtsein im Volke dafür wachhalten, daß es schwerste Schuld gibt.
Nun könnten aber diejenigen, denen solche Antwort gegeben wird, fragen: Warum gibt es denn für die schwerste Schuld nicht auch die schwerste Strafe, die Todesstrafe, warum hat man zu einer Zeit, als



Dr. Mikat
die Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord beschlossen wurde, in der Verfassung festgeschrieben: „Die Todesstrafe ist abgeschafft", warum hat man damit eine Strafe verneint, die als Ausdruck schwerster Schuld in unserem Strafrecht geschichtlich tief verankert war?
Und ich hoffe, in der Antwort auf diese Frage wird dann nicht nur auf die Fehlbarkeit menschlichen Richteng und die Irreversibilität der Todesstrafe hingewiesen, sondern auch gesagt, daß die Aufhebung der Todesstrafe im deutschen Strafrecht zugleich eine bleibende Erinnerung daran ist, daß es in Deutschland einmal eine Zeit gab, in der die staatlichen Mörder die Todesstrafe verhängten, in der die Todesstrafe selbst zum Mord wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Die Abschaffung der Verjährung von Völkermord und Mord sowie die Abschaffung der Todesstrafe schließen einander nicht aus, in rechtsgeschichtlicher Sicht korrespondieren sie miteinander, drückt sich in ihnen auch das Fortwirken, das notwendige Fortwirken der Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft aus.
Auch wenn für die Rechtsprechung die Auswirkungen der Aufhebung der Mordverjährung in der Gegenwart gering und in der Zukunft noch geringer sein sollten, so wird doch die Aufhebung der Mordverjährung in Gegenwart und Zukunft von großer Bedeutung sein können, wenn sie von unserem Volke nicht nur im Hinblick auf Zahl und Durchführung einzelner Verfahren gesehen wird.
Schon nach geltendem Recht verjährt Völkermord nicht, und es wird niemand unter uns sein, der diese Bestimmung unseres Strafrechts nur unter dem Gesichtspunkt künftig möglicher Verfahren würdigt. Unerträglich die Vorstellung, daß es einmal notwendig werden sollte, vor einem deutschen Gericht ein Verfahren wegen Völkermord durchführen zu müssen. Ist der Straftatbestand des Völkermordes aber darum in unserem Strafgesetzbuch überflüssig? Ist die Bestimmung überflüssig, daß das Verbrechen des Völkermordes nicht verjährt' Keineswegs! Im Straftatbestand eines unverjährbaren Völkermordes drückt sich der Abscheu vor einem grausigen Verbrechen aus, das die Gerichte in unserem Volke hoffentlich niemals beschäftigen wird, das es aber in der Geschichte unseres Volkes als grausige Realität gegeben hat, als Realität der, Vergangenheit, die wir niemals vergessen dürfen, soll sie nicht doch wieder einmal unfaßbare, aber mögliche Realität der Zukunft werden, eine Realität, die wir nicht vergessen dürfen, damit uns bewußt bleibt, welche furchtbaren Möglichkeiten des Bösen es geben kann.
Daß wir in der Gegenwart bestimmte NS-Verbrechenskomplexe nicht wegen Völkermord ahnden können, ist durch das im Grundgesetz verankerte Rückwirkungsverbot bedingt, wonach eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbestimmung gesetzlich normiert war, bevor die Tat begangen wurde.
Gegen die Unverjährbarkeit von Mord wird insbesondere geltend gemacht, das Interesse der Rechtssicherheit gebiete den Eintritt der Verjährung; Beweisschwierigkeiten in bezug auf persönliche Beweismittel wie Zeugenaussagen und möglicherweise auch in bezug auf sachliche Beweismittel erschwerten eine reibungslose Prozeßführung, ja machten sie teilweise sogar unmöglich.
Der Einwand ist in der Tat schwerwiegend. So hat auch der Deutsche Richterbund erst kürzlich zu Recht noch einmal darauf hingewiesen, daß die Beweisschwierigkeiten, insbesondere bei NS-Verfahren, in Zukunft noch erheblich größer würden. Aber diese Schwierigkeiten — es ist schon darauf aufmerksam gemacht worden — bestehen bereits nach geltendem Recht. Denn in dem Fall, daß die Verjährung einer Mordtat nach 29 Jahren unterbrochen wird, müssen unter Umständen weitere 29 Jahre in Kauf genommen werden, und' das Verfahren müßte auch noch nach 58 oder 59 Jahren durchgeführt werden. Wer also auf den Beweisnotstand hinweist, müßte sich zunächst einmal Gedanken über die Probleme der Verjährungsunterbrechung machen. Darüber hinaus muß auch gesehen werden, daß der Angeklagte in zahlreichen Fällen lange Zeit nach seiner Straftat — sei es aus körperlichen oder geistigen Gründen — gar nicht mehr verhandlungsfähig ist. Gegen diese Angeklagten darf dann ohnehin kein Verfahren durchgeführt werden. Denn die Verhandlungsfähigkeit ist ja eine Prozeßvoraussetzung. Infolgedessen fällt auch das nicht unter den Problemkreis Verjährung.
Durch die Abschaffung der Todesstrafe als zwingende staatliche Reaktion auf die Begehung von Mord hat die Frage, ob Mord der Verjährung unterliegen soll, eine andere Bedeutung erhalten. Eine Rechtsordnung, die bei dem Morddelikt die Verhängung der Todesstrafe zwingend vorsieht, benötigt das Rechtsinstitut der Verjährung als Korrektiv zur Verhinderung irreversibler Entscheidungen.
Wir haben die Todesstrafe abgeschafft, und ich bejahe das. Wir werden uns auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts demnächst mit der Frage beschäftigen müssen, wie und wann lebenslängliche Freiheitsstrafen in faktisch begrenzte Zeitstrafen umzuwandeln sind. Auch das bejahe ich dem Grunde nach. Aber dann taucht doch die Frage auf Welcher Stellenwert kommt dann noch dem Morddelikt als dem schwersten Delikt unter allen Delikten zu?

(Katzer [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

Der Wegfall der Todesstrafe und die faktisch begrenzte Zeitstrafe werden dann dazu führen, daß Mord innerhalb der Delikte „eingeebnet" wird. Die rechtsgeschichtliche und auch die ethisch begründete Sonderstellung, die Mord unter den verschiedenen Delikten immer gehabt hat, wird, wie gesagt, „eingeebnet". Es darf nicht übersehen werden, daß die Strafe innerhalb der Rechtsordnung eines Volkes auch einen zeichenhaften Charakter besitzt. Das halte ich im Hinblick auf die strafrechtliche Bewußtseinsbildung in unserem Volk für wichtig.



Dr. Mikat
Hermann Lübbe hat sich in einem Beitrag „Gründe, über die man nicht spricht — wohlgemeinte Unglaubwürdigkeiten" in der ihm eigenen konsequenten Art mit den Gründen auseinandergesetzt, die für die Aufhebung der Mordverjährung angeführt werden. Lübbes Stimme, die Stimme eines politisch engagierten und problembewußten Philosophen, der zu den scharfsinnigen Kritikern unserer Zeit gehört, verdient Beachtung und hat Anspruch auf Auseinandersetzung.
Lübbe geht es um Ehrlichkeit. Sein Kampf gilt Scheinbegründungen. Er will juristische Finessen entlarven, will die Diskussion auf den Kern zurückführen und auf ihn begrenzen: auf die Behandlung der NS-Morde.
„Glaubwürdig" sind für Lübbe in der Verjährungsfrage „allein nicht-opportunistische Gründe, die sagen, warum wir, mit welchen allenfalls akzeptablen generellen gesetzlichen Folgen auch immer, speziell die Verjährung der NS-Morde verhindern sollten". Als einziger glaubwürdig vertretbarer Grund gilt für Lübbe die Berufung auf den durch die NS-Morde gestörten Rechtsfrieden. Er meint:
Das Rechtsinstitut der Verjährung setzt voraus, daß durch den Ablauf langer Zeit der durch ungesühnte Verbrechen gestörte Rechtsfriede auch ohne Bestrafung nicht greifbarer Schuldiger schließlich sich wiederherstellt, und eben diese Voraussetzung ist speziell bei den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nicht erfüllt.
Dem stimme ich ohne Einschränkung zu, und ich will auch seine nähere Begründung, der ich ebenfalls noch zustimme, ausdrücklich zitieren. Um zu erkennen, daß im Hinblick auf die NS-Gewalttaten der Rechtsfrieden noch nicht wiederhergestellt ist, darf man nach Lübbe nicht auf die Kräfte und Gruppierungen hören, die in dieser Frage ganz andere Interessen als die der Wiederherstellung des Reditsfriedens haben und denen zu folgen tatsächlich Opportunismus wäre.
Wohl aber hält Lübbe es für notwendig, im In-und Ausland auf die Betroffenen, die Hinterbliebenen der Opfer, die Entkommenen zu hören. Es heißt bei ihm:
Dann weiß man, daß von der Einkehr eines Rechtsfriedens, in den die Verfolgten auch noch ihre unentdeckten Verfolger eingeschlossen wissen könnten, nicht die Rede sein kann. Das liegt nicht an der herrschenden Rachsucht, sondern an der ununterdrückbaren Gegenwart einer Vergangenheit, deren besondere Verbrechen eben längere Zeit als Verbrechen der gewöhnlichen Art die Wiederkehr eines Zustands hindern, in welchem die straflosen Täter als Rechtsfriedensgenossen von jedermann anerkannt zu werden vermöchten.
Die Folgerung, die Lübbe dann zieht, liegt auf der Hand, auch wenn er sie nicht mehr so unmittelbar ausspricht: Entweder wird die Mordverjährung nur für NS-Morde aufgehoben, weil. hier und nur hier der Rechtsfrieden noch nicht wiederhergestellt ist, oder man verzichtet, da es gesetzlich verwehrt ist,
ein Sonderrecht für die Aufhebung der Verjährung von NS-Mord zu schaffen, auf die Aufhebung der Mordverjährung überhaupt. Ein anderer Weg ist nach ihm nicht gangbar, nicht ehrlich, und es bleibt, um die NS-Mörder zu strafen, „wirklich nichts als ihre Schuld".
Abschließend fügt er den Satz hinzu:
Das mag einigen orientierungslosen Progressisten unter unseren Strafrechtspolitikern zu denken geben.
Alle anderen Gründe für die Abschaffung der Mordverjährung verwirft er als Scheingründe, bestenfalls als „wohlgemeinte Unglaubwürdigkeiten". Besonders suspekt ist ihm der Hinweis darauf, daß Mord die Vernichtung des menschlichen Lebens aus besonders verabscheuungswürdigen Motiven sei und deshalb die Rechtsordnung auf diese schwerste Rechtsgutverletzung entsprechend reagieren müsse, indem sie die Verjährung ausschließe.
Um nicht mißverstanden zu werden: Lübbe will keineswegs die Schwere des Morddelikts relativieren. Aber er hält die Berufung darauf im Zusammenhang mit der Verjährungsfrage für eine Hilfskonstruktion, für unehrlich, da doch allein die Absicht, die NS-Mordtaten auch künftig verfolgen zu können, der eigentliche, wenngleich verschleierte Grund für diese Argumentation sei. Hier aber setzt mein Widerspruch ein.
Lübbe bedient sich zur Stützung seines Beweisgangs einer zunächst — aber eben doch nur zunächst — bestechenden Fiktion. Er stellt die Frage, wie es denn wohl um die Mordverjährung bestellt wäre, hätte es die nationalsozialistische Unrechtszeit nicht gegeben.
Es genügt, zu fingieren, — so heißt es bei ihm —
die politische Erbschaft nationalsozialistischer Verbrechen wäre nicht unsere Erbschaft. Keine Partei, keine Fraktion, kein Abgeordneter käme alsdann auf den Gedanken, in der zitierten Weise generell gegen Mordverjährung zu argumentieren.
Er fährt fort:
Im Gegenteil: Hätten wir diese Verjährung nicht, würde man eher fordern, sie endlich einzuführen. Man würde geltend machen, daß die Verjährung ein Institut aus der Tradition aufgeklärter Rechtspolitik ist. Man würde in Erinnerung rufen, daß gerade die Nationalsozialisten, und zwar auf dem Höhepunkt ihrer Gewaltherr schaft, die Verfolgbarkeit gesetzlich verjährter Verbrechen wiederhergestellt haben.
Sieht man einmal davon ab, daß hier einem ansonsten so streng logisch argumentierenden Denker der fundamentale Fehler unterläuft, seine Fiktion selbst dadurch aufzuheben, daß er bei der Frage, wie Wir uns wohl ohne vorausgegangene nationalsozialistische Erbschaft verhielten, just den Hinweis auf die NS-Praxis wieder einführt, wo doch gerade gedanklich von der NS-Zeit einmal abgese-



Dr. Mikat
hen wenden soll, sieht man also von diesem Lapsus des Philosophen einmal ab und kehrt zu seiner gedanklichen Strenge zurück, dann erweist sich doch seine Argumentation als ungeschichtlich — erstaunlich bei einem so geschichtsbewußten Denker.
Ist denn 'die Fiktion, die er voranstellt, überhaupt zulässig? Unterstellen wir einmal, es hätte die NS-Zeit nicht gegeben, so könnte auch nicht ausgeschlossen werden, daß es heute bei uns noch die Todesstrafe gäbe, deren Abschaffung ja auch auf dem Hintergrund der NS-Zeit zu sehen ist. Lübbes Fiktion hilft nicht weiter. Sie schärft nicht den Blick, sie verstellt ihn. Niemand wird bestreiten, daß die Verjährungsfrage mit der Frage der NS-Mordtaten in einem besonderen Zusammenhang steht. Das war 1965 so, 1969 so, und es ist auch 1979 so. Aber ist deshalb eine Ausweitung der Problemstellung unglaubwürdig? Darf deshalb nicht generell nach der Angemessenheit der Abschaffung der Mordverjährung gefragt werden?
Lübbe übersieht, daß ein geschichtlicher Anlaß sehr wohl dazu führen kann, über den eigentlichen Anlaß hinaus rechtspolitische Überlegungen grundsätzlicher Art anzustellen. Es mag durchaus sein, daß uns ohne die NS-Zeit und dieschrecklichen Erfahrungen dieser Zeit die Problematik der Verjährung von Morddelikten nicht so scharf bewußt wäre, wie sie es heute ist. Aber es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß gerade im Zuge einer Liberalisierung des Strafrechts auch ohne die NS-Erbschaft die Frage nach der Stellung .des Morddelikts im Kanon der Delikte aufgetaucht wäre, und damit die Frage, was die Rechtsordnung tun muß, damit auch vom Strafrecht her deutlich bleibt, 'daß es sich beim Morddelikt nicht um irgendein Delikt handelt, sondern um den schwersten Angriff auf das Rechtsgut Leben. Diese Frage stellt sich besonders dann, wenn die Todesstrafe generell abgeschafft worden ist und wenn die lebenslange 'Freiheitsstrafe auch bei Morddelikten faktisch in eine begrenzte Zeitstrafe gewandelt werden sollte.
Wer die Frage der Verjährbarkeit oder Unverjährbarkeit des Mordes nur im Zusammenhang mit der Strafverfolgung von NS-Verbrechen sieht, der richtet .den Blick ausschließlich in 'die Vergangenheit — sicherlich eine höchst gegenwärtige Vergangenheit —, aber er übersieht dann zugleich die Tatsache, daß, Mord auch in unseren Tagen als Ausdruck einer radikalen Lebensverneinung ein Delikt von besonderer Aktualität und gemeinwohlgefährdender Kriminalität ist, wie es die Terrormorde zeigen.
Will jemand 'ausschließen, daß 'bei diesen Mordfällen der Rechtsfriede in 30 Jahren nicht mehr als gestört empfunden werden kann? Gilt nicht auch hier, daß von der Einkehr eines Rechtsfriedens, in den die Verfolgten auch noch ihre unentdeckten Verfolger eingeschlossen wissen könnten, keine Rede sein 'kann? Gilt nicht auch hier, daß die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, daß nach Fristablauf der Täter sich seiner Tat rühmt?

(Katzer [CDU/CSU] : Leider wahr!)

Gilt nicht auch hier, daß wir mit einer ununterdrückbaren Gegenwart einer Vergangenheit rechnen müssen, deren besondere Verbrechen eben längere Zeit als Verbrechen der gewöhnlichen Art die Wiederkehr eines Zustandes hindern, in welchem die straflosen Täter als Rechtsfriedensgenossen von jedermann anerkannt zu werden vermöchten? Wird das Rechtsfriedensargument nicht nur auf die NS-Mordtaten bezogen, sondern auch auf die Mordtaten der Gegenwart, 'so erweist es sich als wichtige Mahnung an den Gesetzgeber, die Verjährbarkeit von Mord generell aufzuheben.
Im Gegensatz zu Lübbe gelange ich zu folgendem Schluß: Selbst wenn es nach unserer Rechtsordnung möglich wäre, mit einem Sondergesetz nur die Unverjährbarkeit von NS-Mordtaten zu dekretieren, so sollte doch die Verjährbarkeit von Mord generell aufgehoben werden — wegen einer neuen Dimension.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zum Schluß: Es wird nun eingewandt, die Aufhebung der Mordverjährung vergrößere nicht „die Gerechtigkeit", und eine Aufhebung der Verfolgungsverjährung für Mord wäre nur dann sinnvoll, wenn sie auf Dauer ein Mehr an Gerechtigkeit böte, dafür aber seien Anhaltspunkte nicht zu erkennen.
Ich will diesem Einwand nicht dadurch begegnen, daß ich mich mit 'der Feststellung begnüge, die Aufhebung der Mordverjährung werde aber wohl auch die Gerechtigkeit nicht verringern. Ich will vielmehr zurückfragen, in welchem Sinne hier von „der Gerechtigkeit" gesprochen wind. Wird unter „Gerechtigkeit" die gerechte Entscheidung in Strafverfahren wegen Mordes verstanden, so will ich nicht lange rechten, ob die Aufhebung der Mordverjährung „die Gerechtigkeit" nun vergrößert oder nicht. Aber geht es nur um gerechte Fallentscheidungen, wenn wir von „der Gerechtigkeit" sprechen? Die Hinordnung des Strafrechts auf die Gerechtigkeit erschöpft sich ja keineswegs in den gerechten Urteilen. Die Strafrechtsordnung als Ganzes soll auf Gerechtigkeit hin angelegt sein, und dazu gehört auch, daß sie auf entsprechend schwere Delikte adäquat reagiert. Im staatlichen Gesetz selbst muß sich die staatliche Gemeinschaft zur Gerechtigkeit bekennen, und die Aufhebung der Mordverjährung kann durchaus geeignet sein, in der staatlichen Gemeinschaft die Gewissen zu schärfen und insofern zu einem Mehr an Gerechtigkeit zu führen. In einer Zeit, in der das Rechtsgut „Leben" besonders bedroht ist, bedarf es gerade auch unter dem Gesichtspunkt 'des Gerechtigkeitsgedankens einer Überprüfung und Fortentwicklung überkommener Strafrechtsnormen.
Wer also unter „Mehr an Gerechtigkeit" nur die — ohne Zweifel wichtige — Gerechtigkeit des Richters versteht, nicht aber auch die Gerechtigkeit des Gesetzes, verfehlt letzten Endes das Wesen der Gerechtigkeit. Der Strafrichter wendet das Recht an, das über das Gerechte entscheidet. Wer im Zusammenhang mit unserem Thema von Gerechtigkeit spricht, sei an die Weisheit des Aristoteles erinnert, für den die Gerechtigkeit die gesam-



Dr. Mikat
te staatliche Rechtsordnung umgreift und der in seiner „Politik" schreibt:
Die Gerechtigkeit aber, der Inbegriff aller Moralität, ist ein staatliches Ding. Denn das Recht ist nichts anderes als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung, und eben dieses Recht ist es auch, das über das Gerechte entscheidet.
Meine Damen und Herren, eine höchst persönliche Bemerkung sei mir am Schluß nun noch gestattet. Ich 'bin in den letzten Tagen gefragt worden, ob ich idenn nicht als Christ verpflichtet sei, für die Verjährbarkeit selbst der schlimmsten Mordtat einzutreten, seien doch Vergebung und Versöhnung dem Christen aufgegeben.
Die Frage läßt sich nicht mit einer Handbewegung abtun; sie hat Anspruch auf Antwort, die sich am Neuen Testament muß messen lassen. Das Ethos des Neuen Testamentes wird nicht von dem Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn" bestimmt, es verweist vielmehr den einzelnen auf das Gebot der Liebe, auf die schöpferische Kraft der Liebe, auf die Agape des Neuen Testamentes. Da gilt es, alles zu vergeben, alles zu verzeihen, aber nicht vergeben und verzeihen in 20 oder 30 Jahren, sondern: sofort. Da gilt für den einzelnen die Mahnung des Römerbriefes: „Schafft euch nicht selbst Recht." Und auf die Frage, wie oft dem schuldig gewordenen Bruder zu vergeben ist, ergeht die Antwort: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal."
Gilt das aber auch für die staatliche Rechtsordnung? Paulus selbst gibt im Römerbrief die überzeugende Antwort, wenn er die staatliche Rechtsordnung eben nicht auf den Weg der den einzelnen verpflichtenden Liebe verweist, sondern sie als Ordnung der Gerechtigkeit bejaht. Da die staatliche Rechtsordnung den Schutz des Nächsten und die Verwirklichung der Gerechtigkeit zum Ziele hat, kann sie nicht dem Satz unterstellt werden: „Schafft euch nicht selbst Recht."
Eindrucksvoll hat der Bonner Moraltheologe Werner Schöllgen gezeigt, daß das Neue Testament, wenn es den einzelnen auf die Macht überwindender Liebe hinweist, das staatliche Strafrecht nicht verwirft, sondern daß gerade vom christlichen Liebesgebot her das staatliche Strafrecht als Element der Mitverantwortung gegenüber dem Nächsten verpflichtend gefordert ist. Zutreffend meint er:
Insofern staatliche Gerichtsgewalt den Schutz des Nächsten gegen Verbrechen verantwortlich trägt, wird auch sie von dieser Solidarität wirksamer und nicht etwa bloß sentimentaler Liebe legitimiert.
Ichglaube, meine Damen und Herren, das noch gesagt zu haben, war ich Ihnen schuldig. Und es hier an dieser Stelle gesagt zu haben, halte ich nicht für unpolitisch, sondern ganz im Gegenteil für sehr politisch, gilt es doch, anderen — aber auch sich selbst —, Klarheit zu verschaffen über den eigenen Standpunkt, also über jenes Fundament von ,dem her ich denke.
Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, jemanden zu überzeugen. Aber ich bin der Meinung, es ist schon viel gewonnen, einigen die Entscheidung nicht leichter, sondern schwerer gemacht zu haben, selbst wenn dann letztendlich ihre Entscheidung anders ausfällt als meine Entscheidung. Machen wir uns jedenfalls die Entscheidung nicht leicht. Dafür wiegt die Sache, um die es geht, zu schwer.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0814503000
Das Wort hat der Herr Herr Abgeordnete Dr. Lenz.

Dr. Carl Otto Lenz (CDU):
Rede ID: ID0814503100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will auf den Ursprung der jetzigen Debatte zurückkommen. Diese Debatte wurde von dem Kollegen Wehner ausgelöst. Er hat sie etwa wie folgt begründet: Mord ist Mord; das Leben ist das höchste Rechtsgut; deswegen sollte Mord nicht verjähren.
Meine Damen und Herren, ich will mich mit dieser Argumentation auseinandersetzen. Herr Wehner sagt: Das Leben ist das höchste Rechtsgut. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich ihm da folgen kann. Millionen von Menschen haben ihr Leben für andere Rechtsgüter eingesetzt: Freiheit des einzelnen, Freiheit des Vaterlandes, Freiheit der Religion. Millionen haben ihr Leben dafür verloren. Die Existenz der allgemeinen Wehrpflicht und die Existenz der Bundeswehr, meine Damen und Herren, sind der Ausdruck dafür, daß es in unserer Rechtsordnung jedenfalls auch andere, mindestens gleichwertige, wenn nicht höhere Rechtsgüter gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist wohl auch das, was der Dichter meint, wenn er sagt: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht."
Aber ohne Zweifel können wir alle dem zweiten Teil seines Ausspruches zustimmen: „Der Übel größtes aber ist die Schuld." Mord ist schwerste Schuld. Wer menschliches Leben unter den erschwerenden Bedingungen des Mordes vernichtet, lädt schwerste Schuld auf sich, weil er unwiderruflich menschliches Leben vernichtet.
Durch den millionenfachen Mord an Deutschen, • Juden, Polen, Russen, Zigeunern und Angehörigen anderer Nationalitäten zwischen 1933 und 1945 haben Deutsche millionenfach schwerste Schuld auf sich geladen. Dabei spreche ich nicht von Kriegsverbrechen, wie sie in jedem Krieg passieren, sondern ich spreche von Hitlers Massenmorden. Und diese erkennt man gerade daran, daß sie keine Kriegsverbrechen waren, sondern Massenmord, planmäßige Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen, „Ungeziefervertilgung", wie die damaligen Herrscher das selber verstanden haben. Herr Kollege Erhard hat das heute morgen im einzelnen begründet. Diese Massentötungen waren Massenmorde, die durch keinerlei militärische oder politische Überlegungen erklärt, geschweige denn gerechtfertigt werden können. Im Gegenteil, politische, militärische und rechtliche Gründe hätten es zwingend



Dr. Lenz (Bergstraße)

geboten, diese Morde zu unterlassen. Sebastian Haffner hat ganz recht, wenn er sagt: Hitler war ein Massenmörder in des Wortes wörtlicher Bedeutung. Und ich füge hinzu: Diejenigen, die ihm bei seinen Morden geholfen haben, waren es auch.
1933 wurde ein Film fertiggestellt, der nicht ' mehr aufgeführt werden durfte, ein beeindruckender Film, den anzusehen sich heute noch lohnt. Der Titel lautet „Die .Herrschaft des Verbrechens". Ich glaube, kürzer und prägnanter kann man das, was zwischen 1933 und 1945 passiert ist, nicht fassen. Es war die Herrschaft des Verbrechens. Diese Herrschaft zu beenden, war eines der Motive des deutschen Widerstandes, in dem sich Männer und Frauen vieler politischer und weltanschaulicher Richtungen zusammengetan hatten. Eine beachtliche Zahl von ihnen hat nach dem Kriege ihre politische Heimat in der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union gefunden. Manchmal traten die Söhne an die Stelle der Väter, die Opfer ihres Widerstandes geworden waren. Einer von ihnen hat heute in dieser Debatte gesprochen.
Das Erbe jener Männer und Frauen des deutschen Widerstandes lebt in der Union fort. Sie hat sich immer auch als die Partei des 20. Juli, des deutschen Widerstandes begriffen. Deswegen hat sich die Union auch der Einsicht nicht verschlossen, das Widerstandsrecht gegen Tyrannei in der Verfassung zu verankern. Deswegen hat niemand — weder im Inland noch im Ausland — das Recht, der Union zu unterstellen, sie wolle nationalsozialistische Verbrechen beschönigen, verdecken, entschuldigen oder rechtfertigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das gilt unabhängig davon, welche Position der eine oder andere von uns in der heute debattierten Frage vertreten mag. Nichts liegt uns ferner als das. Im Gegenteil, wir werden uns gegen solche Versuche, von welcher Seite auch immer, leidenschaftlich, nachdrücklich und wirksam zur Wehr setzen.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Von welcher Seite auch immer!)

Uns geht es, wie allen in diesem Hause, darum, die Wurzeln des Übels bloßzulegen, die Ursachen der Herrschaft des Verbrechens zu verstehen. Es hat millionenfach . Menschenopfer nicht nur in Deutschland gegeben, sondern auch in anderen totalitären Diktaturen. Deswegen verteidigen wir diesen Staat, den wir mit allen demokratischen Kräften unseres Volkes aufgebaut haben, mit solcher Leidenschaft nicht nur gegen die Bedrohung von außen, sondern auch gegen die Unterwanderung von innen. Wir wollen nicht, daß sich die Unfrei- ' heit und die Herrschaft des Verbrechens noch einmal in unserem Lande ausbreiten können. Wir sind uns alle, glaube ich, in der Beurteilung des Sachverhalts, um den es hier geht, einig. Die nationalsozialistischen Gewalttaten waren Mord und müssen wie Mord behandelt werden.
Nun sagen viele geschätzte Kollegen von uns, Mord solle nicht verjähren, weil die Verjährung den Schutz des menschlichen Lebens beeinträchtigen würde. Es gibt im Strafgesetzbuch zahlreiche Vorschriften, die direkt oder indirekt dem Schutz des menschlichen Lebens dienen, ohne daß etwa gefordert wird, sie alle unverjährbar zu machen.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Sehr gut!)

Dies gilt insbesondere für den Tatbestand des Totschlages, der von dem Mord ja nicht — wie zwei Welten voneinander — durch Abgründe geschieden ist, sondern nur durch eine dünne, durchsichtige Scheidewand von ihm getrennt ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Verfahren gegen nationalsozialistische Gewalttäter werden heute ja deshalb so massenfach eingestellt, weil es nicht genügt, daß man den Tätern die Tötung von Menschen nachweist. Hinzu kommen muß vielmehr noch, daß die Angeklagten — vereinfacht ausgedrückt — grausam oder aus niedrigen Beweggründen gehandelt haben. Dies ist heute nur noch schwer nachzuweisen. Der Schutz des Lebens oder die besondere Verwerflichkeit des Mordes reichen also im Gegensatz zu der Auffassung, die soeben hier vertreten wurde, zur Begründung der Unveijährbarkeit nicht aus.
Geht es eigentlich überhaupt um die Verjährung von Mord? Vor zwei Jahren sind schreckliche Verbrechen indiesem Lande verübt 'worden. Wir alle, auf allen Seiten des Hauses, haben damals viel darüber nachgedacht, was getan werden muß, um diese Verbrechen wirksamer zu verhindern oder zu verfolgen; aber niemand ist damals auf den Gedanken gekommen, die Verjährungsfrist für Mord aufzuheben. Es handelt sich hier nicht in erster Linie um die Verjährung von Mord allgemein, sondern es handelt sich in erster Linie um die Verjährung von NS-Morden. Dafür sprechen ,auch die Zeit und der Ort des auslösenden Diskussionsbeitrages des Herrn Kollegen Wehner.
Es war auch ganz natürlich, daß damals 1977 niemand auf den Gedanken gekommen ist, die Verjährung für Mord aufzuheben; denn die Verjährung von Mord gehört seit fast 150 Jahren zur Tradition modernen Rechtsdenkens in Deutschland. Niemand kommt unter normalen Umständen auf den Gedanken, von dieser Tradition abzuweichen. Daß der damalige Staatssekretär und spätere Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler aus dieser Tradition ausbrechen wollte, ist eher eine Bestätigung ihres liberalen und rechtsstaatlichen Charakters als ein Gegenbeweis dafür.
Verlangt nun der im Wortsinne außerordentliche Charakter der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen eine Ausnahme von dieser Regel? Diese Frage kann man nicht beantworten, ohne lauf den Zweck der Verjährung einzugehen. Die Verjährung dient nicht dem Schutze des Verbrechers — und deswegen kann von Amnestie, Gnadenerweis oder etwas ähnlichem in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rede sein —,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

sondern die Verjährung dient dem Schutz der
Rechtspflege vor Überforderung. Herr Kollege Er-
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 145: Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 11609
Dr. Lenz (Bergstraße)

hard hat das heute morgen mit einem Zitat aus dem frühen 19. Jahrhundert belegt, und bis heute hat sich daran nichts geändert. Der Deutsche Richterbund hat darauf in seiner Stellungnahme noch einmal eindringlich hingewiesen.
Man muß sich die Sache einmal praktisch vorstellen. Es steht gar nicht zur Verhandlung, ob in deutschen Konzentrationslagern Millionen Menschen getötet worden sind, sondern es steht ausschließlich zur Verhandlung, ob der jeweilige Angeklagte an bestimmten Vernichtungshandlungen beteiligt war, wobei Ort und Zeit genau bestimmt sein müssen. Soweit solche Beteiligungen heute bekannt sind, werden Verfahren in den kommenden Jahren noch möglich sein; allerdings werden sie wohl nur in den seltensten Fällen . zum Erfolg führen..
Dies hat gerade der Maidanek-Prozeß in Düsseldorf überzeugend bewiesen. In Maidanek sind nach den Feststellungen der Staatsanwaltschaft in den Gaskammern des Vernichtungslagers in den Jahren von 1942 bis 1944 mit Sicherheit eine halbe Million Juden getötet worden, und zwar — das war die besondere Scheußlichkeit dieses Lagers
auch zahlreiche Kinder. Drei der vier Angeklagten in diesem Prozeß, deren Freispruch jetzt beantragt worden ist, sollen an der Auswahl von Kindern für die Gaskammern beteiligt gewesen sein. Es gelang nicht, dies den Angeklagten nachzuweisen, weil die Zeugen keine präzisen Erinnerungen mehr hatten, vernehmungsunfähig oder inzwischen verstorben waren. Die Vorstellung, daß diese Angeklagten zu Unrecht freigesprochen werden, ist erschreckend. Die. Vorstellung aber, daß sie mangels sorgfältiger Würdigung der Beweise verurteilt würden, ohne an der Vergasung von Kindern beteiligt gewesen zu sein, ist in meinen Augen genauso erschreckend. .
Wir stoßen hier an die Grenzen der menschlichen Erkenntniskraft.

(Dr. Mertes IGerolstein] [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Ein Professor des. Strafrechts hat neulich in einer Diskussion über unser Thema gesagt: Wir glauben, daß wirr durch unsere Gesetze den Ablauf der Prozesse gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher bestimmen; aber das stimmt gar nicht; diese Verfahren werden nicht von den Prozeßgesetzen, sondern von den; Naturgesetzen bestimmt und diese Gesetze können wir nicht ändern, selbst wenn wir es wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit anderen Worten: Die Verjährung ist keine willkürliche oder nur durch die Tradition geheiligte Einrichtung, sondern die gesetzliche Schlußfolgerung aus einem Lebenssachverhalt. Wenn jemand mehr als 30 Jahre nach der Tat noch nicht entdeckt ist, dann ist es normalerweise nicht mehr möglich, den Beweis seiner Schuld zu führen. Dann sind Polizei, Staatsanwaltschaft, Zeugen und Richter bei dieser Aufgabe überfordert. Und nur deswegen gibt es eine Verjährung.
Nichts aus den Erfahrungen mit den NS-Prozessen beweist die Unrichtigkeit dieses Satzes. Im Gegenteil, er ist immer wieder in erschütternder Weise bestätigt worden. Von den in den beiden letzten Jahren neu eingeleiteten 168 Ermittlungsverfahren in NS-Sachen mußten fast alle mangels eines hinreichenden Verdachts gegen einen bestimmten Täter eingestellt werden.
Deswegen setzen wir gegen den Satz „Mord darf nicht verjähren„ den . Satz „Menschen dürfen auch nicht durch die Prozeßordnung vom Staat überfordert werden" .

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hier ist eingewendet worden, die Menschen würden auch durch die Fortsetzung der Verfahren ge- gen die schon bekannten Täter in jenen Fällen, wo die Verjährung, wie • die Juristen sagen, unterbrochen worden ist überfordert. Ich bekenne hier freimütig, daß das in vielen Fällen so ist. Trotzdem ist in diesen Fällen die Ausgangslage immer noch besser als in den Fällen, wo erst nach dem 1.. Januar 1980 die Ermittlungen aufgenommen werden können. In den Verfahren, in denen die Verjährung unterbrochen worden 'ist, sind die Täter bekannt; Beweismittel sind schon heute vorhanden. Man kann sich also schon auf etwas stützen. Im übrigen vermag das Prozeßgesetz der Unterbrechung der Verjährung das Naturgesetz der Unmöglichkeit oder Fast-Unmöglichkeit der Aufklärung nicht außer Kraft zu setzen. Die Schwierigkeiten können in diesen Fällen ebenso groß sein wie in den Fällen, in denen die Ermittlungen erst in Zukunft aufgenommen werden. Wir sehen das durchaus ein. Die bisherigen Änderungen des Verjährungsgesetzes haben das Naturgesetz nicht ärndern können.
Nun sagt man uns, wir sollten eine Amnestie vorschlagen. Wir wollen das nicht. Wir können das nicht. Wir wollen nur dies: NS-Mörder nicht anders behandeln als andere Mörder. Wir wollen für NS-Täter keine Ausnahme machen, weder in
dem einen noch in dem anderen Sinn.

(Erhard [Bad Schwalbach] Sehr richtig!)

Im übrigen hat der Kollege Mikat hier gefragt, ob wir aus der Schwierigkeit, die durch die massenhafte Unterbrechung der Verjährungsfristen in der Vergangenheit entsteht, denn nicht Schlußfolgerungen ziehen müßten. Herr Kollege Mikat, diese Schlußfolgerungen haben wir ja bereits gezogen.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU) So

ist es!)
Wir haben ja 1975 die entsprechenden Vorschriften der Strafprozeßordnung geändert so daß heute die Unterbrechung der Verjährung nicht mehr so leicht möglich ist, wie sie damals war. Wir haben also unsere Hausaufgaben auf diesem Gebiete schon gemacht.
Natürlich ist auch uns klar, meine Damen und Herren, daß ein historischer Unterschied zwischen den Taten Hitlers und denen eines gewöhnlichen Massenmörders besteht, wo die Opfer nach. Dutzenden oder höchstens nach Hunderten zählen. Aber



Dr. Lenz (Bergstraße)

darum geht es ja im Strafprozeß gar nicht. Im Strafprozeß geht es - und das hat der Kollege Graf Stauffenberg heute morgen sehr eindrücklich geschildert — ausschließlich darum, ob jemand rechtswidrig und schuldhaft unter den erschwerenden Bedingungen des Mordes Menschen getötet hat. Es nutzt auch gar nichts, daß Than weiß, daß der Angeklagte zu einet bestimmten SS-Einheit gehört hat, die in einem bestimmten Gebiet in einer bestimmten Zeit zahllose Russen, Juden oder Polen getötet hat, sondern es muß ihm nachgewiesen werden, dem jetzt konkret dastehenden Angeklagten, daß er an einer dieser Taten beteiligt war und nicht etwa auf Urlaub war oder im Lazarett oder in der Schreibstube gesessen hat zu der Zeit, als die Taten begangen wurden. Wir wollen das Strafgesetzbuch um der NS-Morde willen weder abschwächen noch verschärfen, sondern wir wollen es anwenden, so wie es für jedermann gilt.
Meine Damen und Herren, man hält uns entgegen, andere Rechtssysteme kennten die Einrichtung der Verjährung nicht. Das ist richtig, aber auch andere Länder führen nach 35 Jahren keine Strafprozesse mehr. In den Vereinigten Staaten, wo die Verjährung weitgehend unbekannt ist, hat der Staatsanwalt das Recht, zu entscheiden, ob er Anklage erheben will oder nicht. Er wird nur Anklage erheben, wenn er Aussicht auf einen Schuldspruch hat.
Die Aussicht auf einen Schuldspruch bei NS-
Verfahren ist denkbar gering. Im Jahre 1977 gab es drei Verurteilungen zu lebenslanger Freiheitsstrafe, vier Verurteilungen zu einer zeitigen Freiheitsstrafe und 2 709 Verfahren, die ohne Bestrafung abgeschlossen wurden. Meine Damen und Herren, das ist eine -- ich sage es in Anführungsstrichen —,,Erfolgsquote" von etwa einem Viertel Prozent, von 2,5 Promille. Aber in all diesen 2 709 Fällen wurde von Staatsanwälten, Gerichten und Zeugen gefordert, Beweis zu erbringen, der nicht mehr zu erbringen war.
Neulich wurde mir von einem Verteidiger be- richtet,' der auf NS-Verfahren spezialisiert ist. Er soll gesagt haben: „Ich bin für die Aufhebung der Verjährung; nirgendwo habe ich eine höhere Quote von Freisprüchen." Das .mag zynisch klingen, meine 'Damen und Herren, aber leider hat er recht. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diese Überforderung, die wir dort hinnehmen müssen, wo sie besteht, auch noch auszudehnen auf weitere Fälle.
Meine Damen und Herren, wir überfordern die Gerichte und die Staatsanwaltschaften. Wir überfordern aber noch mehr die Zeugen, vor allem diejenigen Zeugen, die Opfer des Verbrechens waren. Herr Oberstaatsanwalt Rückerl schildert in seinem Buch den Brief eines ehemaligen Konzentrationslagerhäftlings, der als Zeuge in einem solchen Verfahren aufgetreten war. Er sagt folgendes:
Man veriangt von uns, daß wir, wenn wir dabeigewesen sein sollen, auch alles gesehen und alles gehört haben müssen. Dabei waren wir vor Angst und Schrecken nahezu gelähmt, und unsere Sinne nahmen kaum mehr etwas wahr. Man fordert von uns, die Stunde, den
Tag zu nennen, aber wir besaßen im Lager keine Uhr, keinen Kalender. Wir wußten oft nicht einmal, ob es ein Sonn- oder Feiertag war. Wir sollen das Aussehen unserer Henker beschreiben. In ihren Uniformen sahen sie aber für uns alle gleich aus. Wenn wir uns dann, nachdem seit der Tat mindestens 20 Jahre vergangen sind, in einem Punkte irren, werden unsere Aussagen in Bausch und Bogen abgetan.
Meine Damen und Herren, es ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich, daß z. B. in den Vereinigten Staaten zahlreiche Zeugen gar nicht mehr bereit waren auszusagen.
Meine Damen und Herren, nun sagen Sie: Das müssen wir in Kauf nehmen. Meine Damen und Herren, das ist ' nicht das Problem. Wir -nehmen hier relativ wenig in Kauf. Für uns ist das Problem trotz aller seiner Schwere mit einigen Sitzungen des Plenums, der Ausschüsse und der Fraktionen entschieden. Gerichte und Staatsanwaltschaften müssen sich jahrelang damit abquälen. Die Dauer der Verfahren betrug im Jahre 1977 im Durchschnitt 18,8 Jahre, 1962 dagegen nur 3,6 Jahre. Wir fordern hier von der Justiz etwas Menschenunmögliches,' wenn wir verlangen, daß sie diese Taten noch aufklärt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der häufigste Weg, solche Prozesse zu vermeiden, d. h. solche, die nicht mehr zur Verurteilung führen können, ist die Einrichtung der . Verjährung. Die Frist beträgt in Belgien 10 Jahre, in Holland 18 Jahre, in der Schweiz 20 Jahre, in Norwegen und in Schweden 25 Jahre. Ich weiß, daß es andere Länder gibt, die Mordverjährung nicht kennen; aber ich kenne keines — und es ist in der heutigen Debatte auch noch keines zitiert worden —, wo nach 35 Jahren noch Strafprozesse durchgeführt werden. Wir haben genug Probleme mit den schon angelaufenen Verfahren. Wir wollen diese Probleme nicht durch eine Gesetzesänderung noch vermehren.
Man wird uns antworten: Viele Menschen im In-und Ausland werden diese Entscheidung nicht verstehen. Meine Dame n und Herren, ich wische dieses Argument nicht mit einer Handbewegung vom Tisch. Eine Welle der Kritik im In- und Ausland — vor allem im Ausland . kann Deutschlands Stellung schwächen. Es ist legitim und nicht illegitim, diesen Gesichtspunkt in die Beratungen mit einzubeziehen. Nur befürchte ich, wir werden durch eine Gesetzesänderung dieser Kritik nicht entgehen. Es wird in den NS-Verbrechen fast nur noch Freisprüche geben können, und jeder neue Freispruch wird zu neuer Kritik führen. Wir hätten uns schon viel Kritik erspart, wenn wir 1965 die Verjährungsfrist nicht mehr hinausgeschoben und sie 1969 nicht verlängert hätten. Ich war damals der Überzeugung, mit der Verlängerung der Verjährungsfrist um zehn Jahre sei das letzte Wort gesprochen, nachdem wir uns ja schon drei- oder viermal mit dieser Angelegenheit beschäftigt hatten.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Es ist hier ja auch so gesagt worden!)




Dr. Lenz (Bergstraße)

Ich bedaure es zutiefst, daß viele von denen, die damals mit mir gestimmt haben, heute ihre damalige Entscheidung wieder rückgängig machen wollen. Der prominenteste unter ihnen ist zweifellos der Kollege Wehner, der 1969 als einziges Mitglied des Kabinetts Kiesinger für die zehn Jahre Verlängerung im Deutschen Bundestag gestimmt hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das Recht war für ihn immer nur eine opportune Sache! — Dr. Ehmke [SPD] : Sehen Sie doch vorsichtshalber mal nach; das ist Unsinn, was Sie da sagen!)

— Ich habe das Protokoll, Herr Kollege Ehmke, für Ihren Zwischenruf wohl vorbereitet auf meinem Pult liegen. Wir können das gleich klären.

(Zuruf des Abg. Wehner [SPD])

Wir werden die ausländische Kritik tragen müssen, gleichgültig, was wir tun. Es hat mich tief betroffen, meine Damen und Herren, daß ein Mann wie Adalbert Rücken ins Schußfeld dieser Kritik geraten ist. Rückerl hat sich wohl mehr als irgendein anderer Verdienste um die Strafverfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen erworben.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Er mußte damit rechnen, daß er von mancher Seite im Inland dafür Haß und Verachtung erntet. Ich bewundere seinen Mut, daß er dies getragen hat. Die Dokumentation, die er kürzlich veröffentlicht hat, gibt eine nüchterne Schilderung der ungeheuren Aufgabe, der er sich unterzogen hat. Daß er deswegen von gewisser Seite gescholten wird, hat er nicht verdient.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Ich füge hinzu, auch die deutsche Justiz hat keine Schelte verdient. Sie hat unter schwierigsten Umständen ihre Pflicht getan. Alexander Solschenizyn ist einer der wenigen, die das anerkannt haben. Ich möchte ihm hier dafür danken.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0814503200
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Däubler-Gmelin?

Dr. Carl Otto Lenz (CDU):
Rede ID: ID0814503300
Nein, Frau Präsidentin. Das möchte ich heute nicht tun.
Meine Damen und Herren, hier handelt es sich nicht darum, daß die einen mehr für Selbstreinigung sind als die anderen oder die einen die antifaschistische Tradition der deutschen Nachkriegspolitik in Frage stellen wollen. Hier handelt es sich, wie der Kollege Mertes zu Recht formuliert hat, darum, daß sich die Befürworter der Mordverjährung, darunter namhafte NS-Opfer, von den Befürwortern einer erneuten Strafrechtsänderung nicht durch ein Mehr oder Weniger an Willen zur Selbstreinigung oder mangelnde antifaschistische Kontinuität unterscheiden, sondern ausschließlich durch eine andere Auffassung von den Möglichkeiten gerichtlicher Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit gegenüber den einzelnen Straftätern aus den Jahren der Zeit von 1933 bis 1945. Das ist der Punkt, um den es hier geht.
Die Bewältigung unserer Vergangenheit, die geschichtliche Besinnung auf die Ursachen der Herrschaft des Verbrechens darf nicht auf die Justiz abgeschoben werden. Wir wollen, wir können und wir dürfen keinen Schlußstrich unter die Geschichte ziehen, insbesondere unter die Geschichte Deutschlands und Europas der letzten 50 Jahre. Aber wir sollten einen Schlußstrich unter die Versuche ziehen, diese Geschichte mit den Mitteln der Justiz, mit den Mitteln einer abermaligen Verlängerung der Verjährungsfrist, d. h. mit ungeeigneten Mitteln bewältigen zu wollen.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0814503400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel (München).

Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD):
Rede ID: ID0814503500
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich komme an dieses Pult nicht mit der Sicherheit desjenigen, der eine unerschütterliche und durch nichts mehr zu korrigierende Meinung zu vertreten hat. Ich komme an das Pult als einer, der versucht, die Argumente zu wägen, zu beurteilen. Deswegen besteht mein Beitrag nicht in einem fertigen, in sich geschlossenen Gedankengebäude, sondern in Fragen und in Bemerkungen, die dem Wesen der ersten Lesung entsprechend zu den weiteren Beratungen im Rechtsausschuß und dann zur endgültigen Entscheidung in der zweiten und dritten Lesung beitragen können.
Ich möchte eingehen auf tatsächliche Bemerkungen, die gemacht wurden, auf rechtspolitische Aussagen und schließlich auch auf allgemein-politische, unsere Geschichte betreffende Aussagen. Zunächst Fragen — und, wenn es möglich ist, vielleicht auch der Versuch von Korrekturen — zu tatsächlichen Mißverständnissen: Man hat weit in die Rechtsgeschichte zurückgegriffen. Es ist gesagt worden, die Verjährbarkeit des Mordes habe schon für das römische Recht gegolten. Das römische Recht kannte eine Verjährungsfrist von 30 Jahren. Aber die Aussage ist doch unvollständig, so meine ich, wenn nicht hinzugefügt wird, daß die mittlere Lebenserwartung und Lebensdauer eines Menschen damals zwischen 25 und 28 Jahren lag.
Es- ist gesagt worden, das kanonische Recht, das Recht der katholischen Kirche, kenne eine Verjährungsfrist für Mord von zehn Jahren. Ist es nicht so, daß die Regel lautet: zehn Jahre nach dem Zeitpunkt, in dem der Verfolgungsbehörde die Tat und der Täter namentlich und in Einzelheiten bekannt sind und dennoch keine Verfolgungsmaßnahmen eingeleitet wurden? Ich glaube, das sind Mißverständnisse.
Zwei Redner haben in ihre historische Betrachtung eine Verordnung aus dem Jahre 1943 einbezogen und darauf hingewiesen, daß das, was da im



Dr. Vogel (München)

Jahre 1943 durch diese Verordnung vorgeschrieben wurde, Forderungen von Freisler entsprochen habe. Kann man dieses Argument, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, in die Diskussion einführen, ohne zweierlei deutlich zu sagen? Erstens war Anknüpfungspunkt dieser Regelung nicht die Tat des Mordes, sondern die für ein Delikt angedrohte Strafe, nämlich die Todesstrafe oder die lebenslange Freiheitsstrafe. Dies ist doch ein völlig anderer Bezugspunkt, wenn man weiß, welche Inflation von Drohungen der Todesstrafe und der lebenslangen Strafe es im Jahre 1943 in dem damaligen Unrechtssystem gegeben hat. Dies ist doch nicht aussagekräftig.
Vor allem aber: Wer will den Vorschlag, generell für Mord die Verjährung aufzuheben, wirklich auch ih einen zeitlichen Zusammenhang mit einer Regelung bringen, die' es in die Willkür der nationalsozialistischen Staatsführung gestellt hat, ob die Verjährung im Einzelfall beachtet wurde oder nicht?

(Beifall bei der SPD)

Ich bitte sehr herzlich darum, daß wir, gerade weil die Meinung- und Überzeugungsbildung auch in unserem Volke jeden nur denkbaren Ernst erfordert, die Dinge differenziert darstellen und der Versuchung der momentanen Assoziation widerstehen.
Von zwei Vorrednern ist gesagt worden, es gebe eine Unzahl von Ermittlungen und nur noch ganz wenig Verurteilungen. Ein Redner hat für ein Jahr die Zahl 2 700 Ermittlungsverfahren und 77 Verurteilungen genannt; einer nannte noch weniger.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, keiner wird bestreiten, daß dies auch an der Schwierigkeit der Aufklärung liegt. Aber kann man diese Zahlen in die Debatte einführen, wenn man nicht hinzufügt, daß die meisten dieser 2 000 Verfahren eingestellt werden mußten, weil die Täter tot sind, weil sie vermißt sind, weil ihr Aufenthaltsort nicht zu ermitteln ist oder aber weil korrekterweise die Staatsanwaltschaft, um die Verjährung zu vermeiden, ganze Einheiten, ganze Kompanien in das Ermittlungsregister eingetragen hat?

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD] : Sehr richtig!)

Sie können doch nicht in Kenntnis dieser Tatsachen, die Kollege Rückerl in seiner Dokumentation im einzelnen erläutert, 2 000 Ermittlungsverfahren in anderen Bereichen mit diesen begonnenen Ermittlungen gleichsetzen.
Meine Damen und Herren, wir wehren uns auch dagegen, wenn — nicht aus bösem Willen, sondern aus Unkenntnis dieser Zusammenhänge — der deutschen Justiz mit diesen Zahlen vom Ausland her der Vorwurf gemacht wird, sie betreibe die Verfolgung nicht konsequent; das sehe man ja, weil 86 000 eingeleiteten Ermittlungen nur einige tausend Verurteilungen gegenüberstünden. Sie öffnen damit eine Flanke, die Sie mit Tatsachen und Fakten nicht belegen können.
Es wird gesagt, es sei fast alles bekannt. Ich erinnere daran, daß dieselbe Aussage erstmals im Jähre
1960, dann wieder im Jahre 1965, dann wieder im Jahr 1969 von dieser Stelle aus für die Bundesregierung artikuliert wurde, subjektiv gutgläubig. Ich übe keine Kritik daran. Aber es gibt kein Argument, das mich im gegenwärtigen Zeitpunkt davon überzeugt, die Aussage, jetzt sei alles bekannt, sei sicherer und zuverlässiger, was die Täter im einzelnen und 'die Beweismittel angeht, als 1969, 1965 oder 1960.
Ich würde auch die Aussage, alle Euthanasieverbrechen seien schon Gegenstand von Verfahren und Aburteilungen, nicht mit Sicherheit wagen, wie es gelegentlich geschieht. Ich würde 'auch da eine vorsichtigere Aussage wählen.
Ich komme zu rechtspolitischen Bemerkungen und Fragen. Herr Kollege Erhard und — ihm folgend — andere Kollegen haben gesagt, die Verjährung 'diene doch dem Schutz vor Fehlurteilen, die Beweisschwierigkeiten seien fast unüberwindlich, 'die Wahrheit komme nicht mehr zutage. Dies ist ein sehr ernst zu nehmendes Problem. Aber dies gilt doch auch schon vor Ablauf der Verjährungsfrist von 30 Jahren oder
— im Falle der Unterbrechung — einer sogar noch längeren Frist. Die stärkste Sicherung dagegen ist doch der Grundsatz, daß Gerichte nur verurteilen dürfen, wenn sie von der Schuld des Täters mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausgehen können. Das gilt zuvor, und das gilt danach.
Außerdem: Wenn Sie recht haben, Herr Kollege Erhard, dann vermisse ich die Beantwortung einer weiteren Frage: ob Ihre Konsequenz nicht dazu führen müßte, das Institut der Unterbrechung der Verjährung aufzuheben? Denn wird die Erforschung der Wahrheit, die Überwindung dieser Schwierigkeiten dadurch erleichtert, daß der Bundesgerichtshof im 29. Jahr — wie oft geschehen — den Gerichtsstand für die weitere Durchführung der Ermittlungen bestimmt oder ein Durchsuchungsbefehl für die Suche nach einer Urkunde bei irgendeinem Zeugen erlassen wird?

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0814503600
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard?

Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD):
Rede ID: ID0814503700
Bitte sehr.

Benno Erhard (CDU):
Rede ID: ID0814503800
Herr Vogel
— ich habe jetzt nicht „Herr Minister" gesagt, weil Sie als Abgeordneter sprechen —, ist Ihnen wirklich entgangen, daß wir bei der Neuformulierung des Strafgesetzbuches — in Geltung ab 1. Januar 1975
— die Unterbrechungsvorschriften wesentlich gestrafft haben und daß von diesem Zeitpunkt an die Bestimmung des Gerichtsstandes nach § 13 a der Strafprozeßordnung kein unterbrechungswirksamer Akt mehr ist?

Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD):
Rede ID: ID0814503900
Herr Kollege Erhard, dies ist mir keineswegs entgangen. Mir ist aber sehr deutlich bewußt, daß man im Jahre 1969 — vor Eintritt der damals drohenden Verjährung — in Hun-



Dr. Vogel (München)

derten, vielleicht in Tausenden von Fällen von der damals bestehenden Möglichkeit der Unterbrechung durch Bestimmung des 'Gerichtsstandes Gebrauch gemacht hat mit der Folge, daß die Frist um 30 Jahre gestreckt worden ist. Außerdem: Auch die heutigen Unterbrechungsmöglichkeiten sind einfach zu nutzen: Eine Durchsuchungsanordnung genügt; die Bekanntmachung, daß ein Ermittlungsverfahren eingeleitet sei — auch wenn sie den Täter nicht erreicht —, genügt. Es sind zwölf Möglichkeiten, die den Bogen so weit wie nur möglich spannen.
Sie haben indiesem Zusammenhang, Herr Kollege Erhard, gesagt, die Erinnerung sei für die Zeugen quälend.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Das habe ich nicht gesagt!)

Wird sie weniger quälend, wenn eine Unterbrechung der Verjährung vorangegangen ist?
Ein anderer Diskussionsredner hat mit großem Ernst vorgetragen, der Täter sei nach 30, 40 Jahren ein anderer Mensch, die Schuld sei durch Zeitablauf vermindert oder erloschen.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Wer hat das gesagt? Ich habe das nicht gehört!)

Ich halte in Form einer Frage dagegen: Gehört nicht die Identität des Menschen für die Dauer seines Lebens zum Begriff der Menschenwürde?

(Wehner [SPD] : Wenn aber Gras darüber gewachsen ist, Herr Kollege?)

— Dies ist ein Punkt, Herr Kollege Wehner, auf den ich noch an einer anderen Stelle zurückkomme, an der zu untersuchen ist, wo das Gras nach den verschiedenen Vorschlägen wachsen soll und wo nicht.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU] : Wer hat das denn gesagt? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß nicht, ob es dem Ernst unserer Debatte angemessen ist,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU] : Das sagen Sie einmal Herrn Wehner!)

mit Zwischenrufen in der Art, wie sie heule morgen — auf die Person gezielt — gemacht worden sind, den großartigen Stil unseres Gesprächs zu gefährden und zu erschweren.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/ CSU]: Das ist die Verdrehung von Ursache und Wirkung!)

Ich komme zu meiner Frage zurück. Es ist gesagt worden, nach so langer Zeit sei man ein anderer Mensch, die Schuld schwinde mit dem Zeitablauf. Ja, meine Damen und Herren, wird dies denn durch die Unterbrechung der Verjährung verhindert? Gilt dann dieser Gedanke nicht? Die Logik •all der Argumente ist doch, daß man die Unterbrechung abschafft und spätesten nach 30 Jahren alle Verfahren
beendet. Dies ist doch nicht gewollt, wohl aber die zwangsläufige Folge, zu der diese Argumente führen.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Dann weiß ich nur nicht, warum die alle anders gestimmt haben!)

Es ist gesagt worden, die Alliierten hätten zum Tode Verurteile begnadigt. Das ist wohl wahr. Die Zahl ist aus dem Bericht von Herrn Rücken zu entnehmen. Aber welche Folgerungen wollen Sie denn aus dieser Tatsache ziehen? Wir haben heute Entscheidungen vorzubereiten, die wir in unserer Verantwortung treffen müssen. Dort waren es aber Entscheidungen, die andere zu verantworten haben.
Außerdem fürchte ich, auch hier setzen wir eine Automatik der Argumente in Gang, wenn Sie sagen, die Verjährung könne nicht aufgehoben werden, weil es Leute geben, die von den Alliierten zum Tode verurteilt, dann aber im Wege der Begnadigung von ihnen freigesetzt worden seien. Denn welche Folgerung ergibt sich dann nach eingetretener Verjährung für diejenigen, die infolge der Unterbrechung noch im Jahre 1990 oder 1995 zur Verantwortung gezogen werden?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und bei der FDP)

Ich weiß, Sie wollen dies nicht. Aber ich fürchte, diese Argumentation entfaltet einen Selbstlauf.
Es wird versucht, einen Gegensatz zwischen der Aufhebung der Verjährung und dem vom Verfassungsgericht als verfassungsrechtlich geboten bezeichneten Vorgang der Verrechtlichung der Entscheidung über die Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafen herzustellen. Aber ist es denn nicht so, daß die Frage „Verjährung oder nicht" die Frage des Unrechts und der Tat betrifft, während die Frage, welche Strafe ich verhänge und wie lange ich sie vollstrecke, den konkreten Menschen, den Täter, seine spezielle Situation betrifft? Dies ist doch
ich glaube, darüber gibt es in der rechtlichen Auseinandersetzung kaum Meinungsverschiedenheiten —die Zuordnung zwischen Unrecht und Schuld, das Unwerturteil über die Tat und die Antwort auf die Frage, welche Strafe den konkreten Menschen treffen soll.
Ich glaube, der Kernpunkt für die Entscheidung, die hier getroffen werden muß, ist die Auseinandersetzung mit dem von Thomas Dehler im Jahre 1965 in besonders anschaulicher Weise entwickelten Gedanken der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Thomas Dehler hat gesagt, Verjährung sei notwendig, damit das Vertrauen in das Recht nicht leide und nicht geschwächt werde. Manche der Diskussionsredner haben eine Reihe von Erwägungen vorgetragen, aus denen sie ableiten, daß nur der Eintritt der Verjährung dieses Vertrauen in das Recht erhalte.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : „Nur"? Wer hat denn „nur" gesagt?)

Herr Kollege Erhard, wir reden von Verjährung oder Nichtverjährung von Mord. Es ist vorgetragen



Dr. Vogel (München)

worden, daß der Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit die Verjährung auch bei Mord erforderten.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Ich habe nach dem Wörtchen „nur" gefragt!)

— Ja, sicher; denn die andere Lösung, die Aufhebung der Verjährung, lehnen Sie doch ab. Ich setze gegen die Erwägungen, die Sie angestellt haben, fragend und zur Prüfung ausbreitend folgende Erwägung.
Wir sprechen von dem Vertrauen dessen, der in dem Verdacht steht, gemordet zu haben. Auch er hat ein Recht darauf, sich auf das Recht verlassen zu können. Aber es gibt doch auch andere Zugänge zur Vertrauensfrage. Wäre es nicht für den Rechtsfrieden und das Vertrauen in das Recht eine schlimme Sache, wenn nach dem Eintritt der Verjährung, also im Jahre 1980, Täter, die wir namentlich nicht kennen, bei denen nicht unterbrochen werden konnte, aus anderen Kontinenten — lesen Sie es bei Herrn Rücken auf Seite 78; er nennt ja die Bereiche und die Länder — Mörder, die sich dorthin geflüchtet hatten und dort untergetaucht sind, zurückkehren, um die letzten Jahre ihres Lebens, wie sie sagen, wieder in ihrem Geburtsland zu verbringen? Wäre dies nicht eine Erschütterung des Vertrauens unserer Gemeinschaft in das Recht? Es geht meistens um den Fall, daß einer sich gar nicht einmal des Mordes rühmt, sondern seine Mordtaten im einzelnen schildert, ohne daß man ihn zur Verantwortung ziehen kann. Ich fürchte, der Versuchung, das zu publizieren, wird jedenfalls dann nicht widerstanden, wenn er es mit halb-heuchlerischem Bedauern verbindet.

(Wehner [SPD]: Die Illustrierten-Presse!)

Dann frage ich: Ist das keine Erschütterung des Vertrauens?
Ich stelle eine weitere Frage. Wir haben den Tatkomplex eines KZ-Mordes an einem bestimmten Tag; hundert sind ermordet worden; den Täter A kennen wir; die Verjährung ist unterbrochen; er wird ausgeliefert und kommt 1981 vors Gericht. Der ebenso Beteiligte, dessen Namen wir nicht kannten, kann nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ist dies nicht ein Zustand, der das Vertrauen in das Recht erschüttert?
Das folgende möchte ich eher zurückgenommen sagen: haben nicht auch die Opfer, auch die Todesopfer und ihre Hinterbliebenen, die ich auch als Opfer bezeichne, haben die nicht auch ein Recht, auf das Recht vertrauen zu können, daß der Staat wenigstens die Antwort gibt und sagt: Dies war Mord?

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Ich lasse mich nicht in eine Debatte verstricken, die rechthaberisch aussieht; das wäre dem Thema wenig angemessen. Ich bitte Sie — ich beschwöre Sie fast —, neben die Argumente und die Fakten, die Sie gesetzt haben, auch die meinen zu setzen, diese einzubeziehen. Jeder sollte an die Prüfung dieser Fakten mit der alten Mahnung herangehen: Bedenke, daß deine eigene Meinung falsch sein könnte!
Es ist gesagt worden, die staatliche Gewalt müsse Grenzen haben. Es sei ein Kennzeichen des Rechtsstaates, daß er nicht alles könne, daß er sich selber Schranken auferlegen müsse. Das ist wohl wahr. Ich stimme zu. Ich sage es wieder ganz zurückgenommen und eher leise: das wäre wohl ein Gedanke, der bei manchem Vorschlag, die Befugnisse des Staates zu erweitern, seine Eingriffsmöglichkeiten auszudehnen, seine Reaktionen schärfer zu gestalten, auch einen Augenblick durch das Bewußtsein derer hätte ziehen sollen, die diese Vorschläge in großer Zahl gemacht haben.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Hier frage ich: wo steht denn, bitte, daß die Grenze zwischen Rechts- und Unrechtsstaat dann tangiert ist, wenn für Verbrechen des Mordes die Möglichkeit, den Betreffenden zur Verantwortung zu ziehen, sein Leben lang erhalten bleibt? Für Völkermord haben wir die Verjährung aufgehoben, alle miteinander, einstimmig. Darüber hat Herr Kollege Maihofer Ausführungen gemacht. Das sind nicht nur Tötungsverbrechen. Darunter fällt schön die Zwangsadoption, wenn ich Kinder einer ethnischen Gruppe wegnehme und der anderen einverleiben will.
Osterreich hat nicht nur für Mord, sondern für alle Taten, die mit „lebenslang" bedroht sind, keine Verjährung. Können wir im ernst sagen: dies ist die Grenze, die sich selbst auf dem Hintergrund des Nationalsozialismus und seiner furchbaren Gewalttaten — ich komme noch darauf — als unübersteigbar erweist? Ich weiß, Thomas Dehler hat es so formuliert. Aber man darf sich doch mit dieser Meinung fragend auseinandersetzen.
Es ist gesagt worden, die Kontinuität der Rechtsetzung sei in Gefahr. Erstens. Haben wir nicht schon aus geringerem Anlaß als diesem Gesetze oft und oft geändert? Ist die Frage, ob eine Änderung erlaubt ist, nicht auch in der Relation zu den auslösenden Ereignissen und Momenten zu sehen?

(Beifall bei der SPD)

Ein weiteres, und dies möchte ich eher leise sagen, schon deswegen, weil ich 1965 und 1969 nicht in der Verantwortung stand. Ich hätte wahrscheinlich auch, wenn das eine nicht zu erreichen gewesen wäre, für das andere gestimmt; ich spreche mich da nicht frei. Aber ist denn bezüglich der Kontinuität nicht die Frage erlaubt, ob man in Wahrheit nicht nur 1965 — da liegt es auf der Hand —, sondern auch 1969 die Entscheidung nicht getroffen, sondern im Grunde vertagt hat.

(Dr. Ehmke [SPD] : Weil es dafür keine Mehrheit gab!)

— Richtig. Das habe ich gerade ausgeführt. Ich wäre auch dabeigewesen. Ich setze mich nur mit dem Einwand auseinander, hier bestehe eine Kontinuität, die eine neue Entscheidung dieser Frage verbiete. Dem widerspreche ich.
Es ist gesagt worden — Herr Kollege Vogel, was Sie gesagt haben, hat mich sehr beeindruckt, weil Sie gerade auch als Richter gesprochen haben —, daß diese Prozesse quälend sind. Das empfinden nicht nur diejenigen, die sie führen, diejenigen, die




Dr. Vogel (München)

als Zeugen teilnehmen müssen, diejenigen, um deren Anverwandte und Freunde es sich handelt, sondern auch wir, die das beobachten und die Völker, die davon betroffen sind. Das ist quälend.
Aber jeder, 'der hier an das Pult tritt, weiß doch, daß eine gar nicht abzusehende Anzahl von Prozessen dieser quälenden Art noch kommen wird, weil die Verjährung mit unser aller Zustimmung im weitestmöglichen Umfange unterbrochen wurde. Gerade wenn argumentiert wird, man kenne ja schon alles, dann kann sich ja die Zahl dieser Prozesse nicht mehr wesentlich vermehren. Im übrigen ist es auch nicht so, daß die Staatsanwaltschaft anklagt, ohne die Verdachtsschwelle zu prüfen.
Aber jetzt komme ich zu einer Frage, die, glaube ich, einen Augenblick über das Juristische hinausführt. Sind denn diese quälenden Prozesse eine Folge unserer Rechtsordnung, oder sind diese quälenden Prozesse eine schreckliche Erbschaft einer furchtbaren Vergangenheit?

(Beifall bei der SPD)

Wer kann denn glauben — keiner glaubt es; aber ich spreche es aus, weil es in den Zusammenhang gehört —, daß man mit den unsäglichen Verbrechen der Jahre von 1933 bis 1945 innerhalb bestimmter Zeit mit Prozessen normaler Art fertig werden könne? Dies ist doch eine Überforderung dessen, was Gesetze und was Gerichte zu leisten vermögen. Wer dies ernsthaft meint — ich unterstelle es keinem, aber die Argumente führen dahin —, der wird doch zu der Schlußfolgerung getrieben: Wenn er diese quälenden Prozesse nicht haben will, dann muß er alle Prozesse am 31. Dezember 1979 zu einem Ende bringen. Aber das können wir doch nicht. Das will ja hier niemand; das will wohl auch draußen niemand.
Lassen Sie mich einige abschließende Bemerkungen machen. Ich weiß nicht, wieso sich in dieses Gespräch und in die gute Diskussion in unserem Volk, die meiner Ansicht nach eine sehr positive Seite hat, nämlich daß wir über die Grundfragen einmal ohne Häme im gegenseitigen Verstehen quer durch die Fraktionen — von Banknachbar zu Banknachbar — diskutieren, das Argument eingeschlichen hat, hier werde Falschmünzerei getrieben; man verschweige, daß es um die NS-Zeit und um die NS-Morde geht. Natürlich hat diese Diskussion diesen elementaren Charakter, natürlich fordert sie uns so, nein, ich gehe weiter: Natürlich wird sie geführt, weil wir die Jahre von 1933 bis 1945 hatten und weil es eben in dieser Zeit millionenfache Morde gab, deren Aufklärung besonderen Schwierigkeiten begegnet. Dies bestreitet doch niemand. Rechtspolitik wird doch nicht im luftleeren Raum betrieben. Rechtspolitik muß sich doch auch mit der Geschichte auseinandersetzen.

(Beifall bei der SPD)

Es ist doch um Gottes willen nicht wahr, daß Recht ein starres Gerüst von Elementen ist, die keiner Entwicklung und keiner Bewegung fähig sind.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Natürlich hat Recht seinen eigenen Wert. Ich werde
mich immer wieder der Auffassung widersetzen, Recht
sei nur der Ausdruck irgendwelcher Machtverhältnisse und wandere an der Oberfläche mit. Nein, das hat Wertbezug, aber doch nicht starr, nicht unveränderlich in dem Sinne, daß man blind in der Geschichte lebt!
Dann frage ich: Liegt denn nicht diese Anknüpfung und Verbindung auf der Hand? Was war denn das Verwerflichste, das Furchtbarste am Nationalsozialismus? Es war schlimm, daß er die Demokratie abgeschafft hat. Es war schlimm, daß er Menschen in ihrem Willen vergewaltigt hat. Es war schlimm, daß Menschen körperlich mißhandelt wurden. Aber das Furchtbarste, was ihn am stärksten brandmarkt, ist doch die massenhafte Vernichtung von menschlichem Leben!

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Hätten wir denn diese Diskussion — damit komme ich auch schon ein wenig auf die Argumente von Kollegen Maihofer —, wenn der Nationalsozialismus alles getan hätte, was er getan hat, aber nicht Leben vernichtet hätte, nicht Menschen zu Dingen und Objekten durch Tötung erniedrigt hätte, so, wie man noch nicht einmal mit Tieren umgeht? Dies ist doch ein Anknüpfungspunkt! Das Zeichen, das von uns gefordert wird, ist doch durch die massenhafte Vernichtung dessen, was man nicht wiederherstellen kann, nämlich des Lebens, notwendig geworden!
Herr Kollege Maihofer hat gemeint, man müsse die Grenze für die Aufhebung der Verjährung enger ziehen. Er hat gesagt, die Grenze „Mord" geht zu weit. Er meint, man solle es einschränken auf einen allerdings von ihm dann ergänzten und abgewandelten Tatbestand des Völkermords. Er hat gesagt, dies sei eigentlich schon geltendes Recht. Er hat aber hinzugefügt, daß dies bestritten ist und daß es jedenfalls von der Rechtspraxis nicht so gesehen wird.
Ich verweise dazu auf den Ausschußbericht im Jahre 1969. Da heißt es hierzu ausdrücklich:
Die 30jährige Verjährungsfrist für NS-Mordverbrechen ist also vom Ablauf des 31. Dezember 1949 an zu rechnen.
Der Ausschuß war sich völlig sicher, daß er nicht rückwirkend die Verjährung für noch nicht abgelaufene Fälle von Völkermord aufheben und beseitigen wollte. Ich fürchte, diese Diskussion führt uns nicht weiter.
Außerdem muß ich — viele Kolleginnen und Kollegen werden es nicht gegenwärtig haben — ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß Völkermord eben nicht nur Tötung von Menschen ist. Dies ist einer von fünf Tatbeständen des Völkermords. Dazu gehören — ich will nicht alle Ziffern aufführen — auch vier Fälle, wo nicht getötet wird. Dazu gehört auch gewaltsames Überführen der Kinder einer Gruppe in eine andere Gruppe, also beispielsweise Zwangsadoptionen in größerem Umfang in der Absicht, eine Volksgruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Niemand ist bisher der Meinung gewesen, daß etwa solche Verbrechen aus der NS-Zeit nicht der Verjährung unterlägen. Diese rechtliche Konsequenz, Herr Kollege Maihofer, fürchte ich, führt uns nicht weiter. Aber dies mag im Ausschuß näher beraten werden.



Dr. Vogel (München)

Ich wende mich dem Punkt zu, von dem ich wirklich meine, daß er immer wieder überdacht werden muß. Hier sehe ich ja, daß auch Redner, die sich an sich für das Eintreten der Verjährung ausgesprochen haben, zu erkennen gegeben haben, daß sie darüber noch einmal nachdenken wollen. Aber ich frage: Kann man wirklich sagen, es werde der qualitative Wesensunterschied zwischen Völkermord und Mord durch die Aufhebung der Verjährung für Mord eingeebnet? Tötung ist ja gar nicht das Spezifikum des Völkermordes. Wenn Sie den Tatbestand lesen, gehören ja auch ganz andere Dinge dazu!

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU] : Eben deshalb!)

Dies ist furchtbar genug, aber dies ist nicht der Zugang.
Dann frage ich: Gibt es eine Abgrenzung, die uns die Überlegungen, die ich für noch viel quälender halte, erspart? Euthanasie ist schon erwähnt. Ist das Völkermord? Die Gerichte haben gesagt: Nein! In den Konzentrationslagern gab es zu Tausenden Menschen, die man als sogenannte Asoziale mit einem bestimmten Winkel versehen hat. Asoziale, Berufsverbrecher nannte man sie. Die fallen nicht unter den Völkermord-Tatbestand, sie sind auch keine politische Gruppe. Man hat auch Schwierigkeiten zu sagen: Wer zehn oder 20 Priester ermordet hat, habe dies in der Absicht getan, die katholische Glaubensgemeinschaft zu zerstören. Vergessen Sie bitte nicht, daß zum Völkermord die Absicht gehört; Sie müssen dem einzelnen nachweisen, daß er deswegen gehandelt hat.
Ich fürchte, jede Grenzziehung, die nach solchen Elementen sucht, wird auf große Schwierigkeiten stoßen. Ich füge freimütig als meine Meinung hinzu: Ich finde den Einzelmord im Konzentrationslager ohne jede Absicht dieser Art, einfach weil der Betreffende jemanden auf Grund seiner Mordgelüste umgebracht hat, genauso verwerflich und bin nicht bereit zu sagen: darüber soll Gras wachsen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Das Opfer hatte auch eine Mutter, hatte Eltern und wollte wieder nach Hause.
Darum bitte ich, darüber nachzudenken, ob nicht der wirkliche Anknüpfungspunkt das Leben ist. Mord und Totschlag sind überkommene, wirklich weit in die Vergangenheit zurückreichende Unterscheidungen. Darum drückt das Wort „Mord ist gleich Mord" das Empfinden der Menschen nicht nur besser aus als manche juristische Darstellung, sondern ist auch vom Unrechts- und .Schuldgehalt her zu bejahen.
Schließlich ist gesagt worden — das ist meine letzte Bemerkung —, die Aufhebung der Verjährung bedeute, daß man die Bewältigung unserer Vergangenheit an die Justiz verweise und ihr etwas aufbürde, was sie nicht leisten könne. Verehrte Anwesende — ich wende micht vor allem auch an den Kollegen Erhard, der dieses Argument ebenso wie der Kollege Lenz vorgetragen hat —, ist es denn richtig, hier von einem Entweder-Oder
zu sprechen? Selbstverständlich haben wir noch sehr viel nachzuholen, um den Jungen unsere Vergangenheit darzustellen, aber mehr noch, um ihnen zu erklären, wieso es dahin gekommen ist. Denn die Darstellung der Verbrechen — das merke ich selber bei jungen Menschen, mit denen ich spreche
— ist erst eine Seite. Die eigentliche Aufgabe ist, ihnen zu erklären, warum das mitten in diesem Jahrhundert in unserem Land möglich war.

(Beifall bei der SPD — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das ist richtig!)

Nur, wird denn diese Aufgabe erschwert oder ihre Erfüllung verhindert, wenn wir sagen: Mord soll nicht verjähren?

(Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Sie wird dadurch nicht berührt!)

Ich habe eine ganz andere Meinung. Ich glaube, es wird schwieriger, den jungen Menschen, der jungen Generation, das Furchtbare dessen, was damals geschehen ist, nahezubringen und zu erklären, wenn wir gleichzeitig sagen: am 1. Januar 1980 tritt aber die Verjährung ein.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dies ist ein Widerspruch, auf den junge Menschen uns mehr als einmal anreden.
Ich möchte mit einem Zitat von Fritz Erler aus der Debatte des Jahres 1965 schließen, das in der präzisen Art, die ihm eigen war, den Kern der Sache trifft. Er hat, nicht allzuweit von seinem Tod entfernt, in seinem Debattenbeitrag am Schluß gesagt:
Wir alle
— dieses „wir" ist weiß Gott Wahrheit; wir alle —
gehören zur ganzen deutschen Geschichte und bemühen uns darum, daß unser Volk mit sich selbst ins reine kommt, sich mit sich selbst aussöhnt. Daher spüren wir die Verantwortung dafür, daß die Schrecken der Vergangenheit sich nicht wiederholen dürfen, daß nicht vom deutschen Boden einen neue Drachensaat gesät werden kann. Da gilt es, Zeichen aufzurichten. Eines dieser Zeichen ist, daß Morde nicht verjähren.

(Beifall bei der SPD)

Die Abschaffung der Todesstrafe — darin stimme ich Herrn Kollegen Mikat ausdrücklich zu — war eines dieser Zeichen, die Fritz Erler in Erinnerung hatte, als er dies sagte. Die Aufhebung der Verjährung, um den Wert des Lebens nach dieser geschichtlichen Epoche deutlich zu machen, ist ein anderes Zeichen.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie uns darüber diskutieren, ob wir dieses Zeichen nicht in möglichst großer Gemeinsamkeit, aber mit ungebrochenem Respekt vor dem, der ein non possumus — ich kann nicht, wir können nicht
— spricht, bis zur Entscheidung führen!

(Beifall bei allen Fraktionen)





Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0814504000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engelhard.

Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID0814504100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich beginne mit einem Zitat von Thomas Dehler:
Jeder von uns steht in der Qual seines Gewissens, unter dem Druck einer fürchterlichen Erbschaft dieser verbrecherischen nationalsozialistischen Zeit, die als Schuld und als Scham auf uns allen lastet, und unter der Verantwortung vor dem Recht, vor unserem Recht.
Müssen wir sagen, daß wir in der Abscheu vor dem Geschehen mit der Welt einig sind?
Mit diesen Sätzen begann Thomas Dehler seine Rede in der Verjährungsdebatte am 10. März 1965. Aber weil wir so empfinden, wie Thomas Dehler empfand, müssen wir um der moralischen und politischen Hygiene dieser Debatte und unserer Entscheidungen willen etwas anderes sagen. Ich denke, man kann es nicht oft genug wiederholen.
Niemand, welchen Standpunkt' er auch immer einnimmt, ist davor gefeit, in der Öffentlichkeit Beifall von der falschen Seite zu erhalten. Meine politischen Freunde und ich distanzieren uns jedenfalls mit aller Deutlichkeit und allem Nachdruck von jenen, die vom „Schlußstrich" reden und Generalamnestie meinen oder, was weit schlimmer ist, die ganz einfach ihre Augen verschließen, ihre Ohren verstopfen, das Herz und das Gehirn abschalten und damit glauben, die fürchterliche Erbschaft der Vergangenheit heute noch ausschlagen zu können.
Wir alle wären heute — ich sage dies, weil es heute häufig auf Widerspruch stieß, in aller Deutlichkeit — zu diesem Thema hier nicht zusammengekommen, wenn uns nicht das Problem der Verjährung von NS-Morden umtriebe. Hätte es die Morde der nationalsozialistischen Zeit nie gegeben, wären die uns vorliegenden Anträge nicht gestellt worden.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : So ist es!)

Lieber Herr Kollege Dr. Emmerlich, es erscheint mir nicht unfair, dies zu sagen. Wir sollten darüber auch keinen großen Streit entfesseln; ich wende mich hierbei auch an Herrn Kollegen Dr. Vogel. Aber es ist notwendig, dies zu sagen, weil es so ist.
Hierzu hat — in allem Respekt gesagt — Herr Professor Mikat eine große Dimension der Argumentation vor uns aufgetan. Aber sie war, so grandios sie erschien, in diesem Punkt nicht überzeugend. Ich gebe ihm recht: Man kann umdenken, und der Feuerschein der Hochöfen aus den Konzentrationslagern kann ein Grund dafür sein, die Dinge generell anders zu sehen, als man sie ehedem gesehen hat. Aber um der Wahrhaftigkeit der Debatte willen — ich fände es nicht gut, wenn man es vertiefen würde —, will ich jetzt keine Rede und Gegenrede darüber entfesseln, warum dies im
Jahr 1979, 35 Jahre vom Zusammenbruch des Dritten Reichs entfernt, debattiert wird, wenn es nicht eben darum ginge: Werden NS-Gewalttaten am 31. 12. 1979, sofern nicht unterbrochen, verjähren oder nicht?

(Wehner [SPD]: Ist das kein Grund? Ist das kein Einschnitt?)

Aber da die Antragsbegründungen auf Mord schlechthin lauten,

(Wehner [SPD] : Ja!)

wird es nötig sein, sich zunächst einmal mit der Frage der Unverjährbarkeit von Mord ganz allgemein auseinanderzusetzen. Und erst dann, wenn man eine solche Notwendigkeit verneint, ist zu beurteilen, ob die NS-Morde, vielleicht sogar unter Inkaufnahme von Nachteilen ansonsten, eine andere Regelung gebieten.
Die Verjährung von 20 Jahren gab es im preußischen Recht — das ist des öfteren gesagt worden
seit 1851 ; sie wurde 1871 ins Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs übernommen.
Ich habe an den Wissenschaftlichen Dienst dieses Hauses die Frage gerichtet, ob und wann — die Zeit des Dritten Reichs ausgeklammert — jemals relevante Bestrebungen bestanden haben, die Strafverfolgungsverjährung von Mord aufzuheben. Nach der mir erteilten Auskunft war ein solches Bedürfnis weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik vorhanden.
Die Frage wurde, wie wir wissen, erstmals 1965 auf Grund einer Gesetzesinitiative der Abgeordneten Benda und Genossen diskutiert. Es waren die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, die zu dieser Initiative führten. Vor dem Dritten Reich bestand dafür kein Bedürfnis. Ohne die NS-Morde bestände es angesichts einer sich ständigen verbessernden Kriminaltechnik und der dadurch erzielten höchstmöglichen Aufklärungsquote auch heute nicht.
Umgekehrt zu argumentieren, daß die gute Kriminaltechnik es ja genau ermögliche, die Verjährung von Mord aufzuheben, erscheint mir nicht schlüssig, weil die hohe Aufklärungsquote auf Grund ausgezeichneter Kriminaltechnik es fast in allen Fällen des Mords allgemein in unserem Land ermöglicht, die Täter längst vor Ablauf der alten Verjährungsfrist von 20 Jahren zu ermitteln und zu überführen.
Aber selbst — und daran können wir auch bei dieser Debatte nicht vorbeigehen — unter dem Eindruck der fürchterlichen Verbrechen der NS-Zeit hat der Deutsche Bundestag in den letzten 30 Jahren keine Notwendigkeit der Aufhebung der Mordverjährung gesehen.
Die . Daten sind bekannt: 1965 und 1969. 1960 stand diese Frage überhaupt nicht zur Entscheidung an. Incidenter wurde eine Entscheidung auch mit der Einführung des Völkermordparagraphen getroffen, weil der Gesetzgeber mit seiner Entscheidung zu erkennen gab, daß er im Völkermord das eine und im Mord allgemein das andere sieht. Um hier jetzt in die Details einzutreten, was si-



Engelhard
cherlich reizvoll wäre, ist leider nicht genug Zeit vorhanden.
Heute morgen ist — ich glaube, von dem Herrn Kollegen Erhard — die Entscheidung von 1953 eingeführt worden. Ich halte dies für so wichtig, daß man es noch einmal sagen sollte. Dies war ja bis vor kurzem weithin unbekannt, und davon hat ja niemand gesprochen, daß nur acht Jahre vom Zusammenbruch des Dritten Reichs entfernt im Jahr 1953 der Deutsche Bundestag einmütig bekundet hat, an der Mordverjährung festhalten zu wollen.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Eben der Zeitpunkt; er hatte die volle Zuständigkeit der deutschen Strafjustiz gebracht!)

Im Jahre 1943 hatten die Nationalsozialisten im Zuge der Rechtsvereinheitlichung zwischen dem Deutschen Reich und Osterreich, das die Mordverjährung nicht kannte, einen Absatz 2 an die entsprechende Bestimmung angefügt, die neben der Zufügung typisch nationalsozialistischen Gedankenguts die Verjährung aufgehoben hat. Der Deutsche Bundestag hatte mehrere Möglichkeiten. Selbstverständlich mußte nationalsozialistisches Gedankengut aus unserem Strafgesetzbuch entfernt werden; aber niemand, nicht die Verfassung, nichts stand entgegen, die einmal beseitigte Mordverjährung beizubehalten.
Ich habe mir aus dem Archiv die Unterlagen kommen lassen, um dieses einmal nachzulesen. Es ist interessant, daß damals schon der Bundesrat den Vorschlag unterbreitet hatte, daß man nach Abschaffung der Todesstrafe doch eine Verjährung von 30 Jahren vorsehen solle. Die Bundesregierung ist diesem Vorschlag des Bundesrates damals nicht entgegengetreten, trotzdem hat das Parlament einmütig im Plenum ohne Aussprache beschlossen, wie geschehen, und damit an der Mordverjährung von damals 20 Jahren festgehalten.
Ich weiß, daß dieser historische Abriß der Verjährungsentscheidungen von manchem heute als eine Kette versäumter Gelegenheiten gesehen wird, zur Unverjährbarkeit von Mord zu kommen. Wir — und ich spreche hier auch für die Mehrheit meiner Fraktionskollegen — sehen dies ganz anders: Alle diese Entscheidungen waren ein ganz bewußtes Votum für das Rechtsinstitut der Verjährung auch bei Mord.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Niemand hier im Hause ist rechtlich an seine Vorentscheidungen gebunden. Ich sage deutlich, es wäre unfair, und ich beabsichtige dies nicht, auch nur den Versuch zu unternehmen, hier jemand festnageln zu wollen. Aber diese Chronik der Vorentscheidungen, die wir, wenn wir demnächst wieder zu entscheiden haben werden, heute vorfinden, muß aufgeblättert werden.
Es ist die Kontinuität angesprochen worden. Trotz ihrer Bemerkungen, Herr Dr. Vogel, sage ich bewußt: Kontinuität wohl erwogener politischer Entscheidungen ist nicht alles, aber gerade in der
Rechtspolitik bedeutet Kontinuität sehr viel. Ob wir jetzt, 1979, den Boden bisheriger Überzeugungen verlassen und die Aufhebung der Verfolgungsverjährung von Mord beschließen wollen, das ist im Grunde genau der Punkt, um den es in unserer Entscheidung geht, um sonst nichts.
Diese Beratung werden wir auch in den folgenden Wochen führen müssen, mit Leidenschaft, mit Verantwortungsbewußtsein, mit Augenmaß, mit jenen drei vornehmlichen Eigenschaften und Qualitäten, die Max Weber in seinem „Der Beruf zur Politik" dem politisch Handelnden abverlangt. Von uns wird eine politische Entscheidung gefordert, aber wir wissen, was wir hier beraten und was wir dann verabschieden werden, das ist nicht Rechtstechnik, das ist auch kein Votum beliebiger Opportunität, sondern es ist vor allem und zutiefst eine moralische Entscheidung.
. Nun werden viele Menschen draußen im Inland wie im Ausland überhaupt nicht verstehen können, wie denn eine moralische Entscheidung, um die insgesamt ja nur Gutwillige hier ringen, in dieser oder jener Richtung überhaupt streitig sein kann. Die Menschen verstehen dies nicht. Ich will versuchen, einen kleinen Hinweis zu geben. Ich weiß nicht, ob dies sticht, ob dies zutrifft. Vielleicht liefert uns auch hier Max Weber einen kleinen Schlüssel zum großen Schloß der Antwort auf diese ungeklärte Frage, warum es so schwierig ist, in der Verjährungsfrage miteinander einig zu werden. Weber sagt uns, daß alles ethisch orientierte Handeln des Politikers unter zwei voneinander grundverschiedenen Maximen möglich ist. Es kann gesinnungsethisch oder es kann verantwortungsethisch orientiert sein.
Um Mißdeutungen vorzubeugen: ich sage dies nicht rechthaberisch oder gar polarisierend. Ich merke auch gleich mit Webers eigenen Worten an:
Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit oder Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede.
Beide handeln also ethisch orientiert, aber bei dem einen steht der unbedingte Wille, das Gute durchzusetzen, im Vordergrund, während bei dem anderen dieser Wille stärker eingebettet ist in die bedenkende Frage nach den voraussehbaren Folgen seines Handelns.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Hervorragend!)

Nun wird hier gar niemand bestreiten wollen, daß ein jeder von uns die Folgen seines Tuns nach eben seiner Einsicht bedenkt. Ich kann hier für meine Freunde und mich nur aus unserer Sicht deutlich machen, welche Erwägungen im Kern unsere Absicht — so und nicht anders zu handeln — bestimmen.
Ich brauche die Zahlen, die genannt worden sind, nicht zu wiederholen, die große Zahl der Ermittlungsverfahren und die beträchtlichen, aber in der Relation nicht so zahlreichen Verurteilungen. Im Jahre 1977 betrug das Durchschnittsalter der Ange-



Engelhard
klagten zur Zeit der Hauptverhandlung in NS-Verfahren 64,8 Jahre. Wären diejenigen Angeklagten, gegen die aus Krankheitsgründen nicht mehr verhandelt werden konnte, in die Statistik mit einbezogen worden, so läge, teilt uns Dr. Rückerl mit, das Durchschnittsalter erheblich höher. Diesem Altersschnitt korrespondiert naturgemäß das Lebensalter der in den Verfahren auftretenden Zeugen. Es wächst von Jahr zu Jahr und von Tag zu Tag beinahe galoppierend die Zahl der ohne Bestrafung abgeschlossenen Verfahren. Immer weniger Verurteilungen sind möglich.
Um dies ganz klarzumachen: Wir sehen dies keineswegs unter irgendwelchen vordergründigen Gesichtspunkten. Dies wird auch niemand unterstellen wollen. Die zuweilen draußen gehörte Frage, ob sich denn der Aufwand an Zeit und Geld angesichts solcher Ergebnisse überhaupt lohne, richtet sich selbst und verbietet sich schlechthin. Ich bin im Gegenteil der Meinung: Wenn eines Tages Verfahren überhaupt nicht mehr möglich sein sollten — unabhängig von der Frage, die wir hier zu entscheiden haben werden —, dann werden wir darangehen müssen, über das bisher Geschehene hinaus, etwa durch eine Stiftung, die zeithistorische Aufarbeitung und Forschung noch stärker als bisher zu ermöglichen und zu fördern.
Ich sehe die Entwicklung der Verfahren gegen NS-Täter in der Gegenwart und die voraussehbare Entwicklung in der Zukunft einzig und allein qualitativ von ihren Folgen her. Was immer — und das ist ja ein Hauptpunkt der Debatte — die Strafverfolgungsverjährung bezwecken und bewirken mag — ich rechte da nicht mehr; mag dies alles sinnlos sein —, ein Punkt aber bleibt, den man nicht wird leugnen können: daß die Verjährung der Endlichkeit und der Grenze irdischer Gerechtigkeit Rechnung trägt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das dürfen wir nicht übersehen. Hier scheint mir ein Bruch vorzuliegen, und darüber sollte noch einmal nachgedacht werden.
Das Ziel materieller Gerechtigkeit kann sich auf Dauer ja niemals in der Abstraktion verwirklichen, auch nicht in der Abstraktion des guten Willens. Das ist nicht möglich. So wie der Unschuldige vor Gericht die Gewißtheit haben muß, in einem Rechtsstaat mit Sicherheit freigesprochen zu werden, so muß gegenüber dem schuldigen Täter und zur Genugtuung seiner Opfer und dessen überlebenden Angehörigen zwar nicht die Sicherheit, ja nicht einmal die Wahrscheinlichkeit, stets aber zumindest die reale Chance einer Verurteilung gegeben sein. Wo auch die Chance, die geringe Chance für eine Verurteilung fehlt und immer wieder fehlt, da zerstört sich die Justiz als die Hüterin der Gerechtigkeit selbst. Daraus folgend nimmt dann der Staat Schaden.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Summum jus, summa injuria!)

Schon immer konnten doch Verurteilungen in Verfahren gegen NS-Täter angesichts der ungeheuren Zahl der Opfer, angesichts der Vielzahl der eingestellten Verfahren nur beispielhaften und symbolischen Charakter haben. Wo aber jetzt zunehmend der Freispruch zwingend zum Symbol dieser Prozesse wird, da ist die Bewältigung einer schrecklichen Vergangenheit mit den Mitteln des Rechts eben nicht mehr möglich.
Man wird fragen, ob das Resignation sei. Ich bestreite das nicht und sage: Sicher, es ist Resignation. Es ist die Resignation des Juristen, der um die Grenzen des Rechts und seiner Möglichkeiten weiß. Aber die Politik ist damit nicht in die Resignation entlassen. Politik in der Bewältigung des Gestern und in der Gestaltung des Morgen ist mehr, als die Justiz in feststellender Rückschau zu geben und zu leisten vermag.

(Beifall bei der FDP, bei der CDU/CSU und vereinzelt bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0814504200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Weber (Köln).

Dr. Hubert Weber (SPD):
Rede ID: ID0814504300
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte hat mir einen Auspruch, den der Sprecher der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Herr Galinski, vor wenigen Tagen getan hat, ins Gedächtnis zurückgerufen: daß es in der fast 30jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nur wenige Probleme gegeben habe, die so viele kontroverse Diskussionen hervorgerufen hätten wie jetzt die Frage der Verjährung nationalsozialistischer Mordtaten. Gleichwohl, meine ich, wäre es falsch, unsere Entscheidung nur unter diesen Gesichtspunkt zu stellen. Müssen wir nicht vielmehr fragen — und zwar aus dem Verständnis unseres Grundgesetzes heraus —, ob uns das Leben nicht so heilig ist, daß Mord — gleichgültig ob es sich um den Kindermörder oder um den Mörder eines Taxifahrers oder um den terroristischen Mörder oder um den Nazi-Mörder handelt —, durch Berufung auf Verjährungsvorschriften nicht einfach ungesühnt bleiben darf?
Wir können rechtlich nicht unterscheiden — damit komme ich gleich zu Ihnen, Herr Professor Maihofer — zwischen Mord, begangen durch Nationalsozialisten, und Mord, begangen von anderen. Es geht uns doch nicht um Rache, sondern es geht darum, daß wir das höchste Rechtsgut des Menschen, nämlich das Leben, entsprechend diesem Rang auch in das Bewußtsein unseres Volkes hineintragen.
Deswegen, Herr Kollege Lenz, möchte ich Sie bitten, einmal Ihre Frage von vorhin zu überlegen, ob es in unserer Rechtsordnung noch höhere Rechtsgüter als das Leben gibt. Sie haben die Freiheit des einzelnen, die Freiheit der Religion erwähnt. Aber ist denn diese Freiheit nicht überhaupt erst dann möglich, wenn es die Freiheit des Menschen gibt?
Herr Kollege Engelhard, wenn wir schon die absolute Gerechtigkeit nicht erreichen können, wie Sie eben betont haben, müssen wir dann nicht wenigstens danach streben, die größtmögliche Gerechtigkeit zu erreichen? Dürfen wir denn bei dem Streben nach diesem Ziel resignieren, wenn wir das Ziel einer größtmöglichen Gerechtigkeit z. B. durch dieses Gesetz jetzt wenigstens mitgestalten können?



Dr. Weber (Köln)

Meine Damen und Herren, ich habe die Debatten vor 15 Jahren hier in diesem Hause nicht miterleben können. Aber ich war entsetzt über ein Wort des damaligen Justizministers Dr. Ewald Bucher, der gesagt hat: „Wir müssen uns daran gewöhnen, mit Mördern zu leben." Ich fand das ein schreckliches Wort, weil dieser Zustand unerträglich war und ist.
Deshalb, Herr Kollege Erhard, ist es für mich genauso erschreckend, daß Sie heute vormittag gesagt haben: besser ein Schuldiger, der frei herumläuft, als 50 Freisprüche. Nein, und wenn nur ein Schuldiger nach Ablauf der Verjährungsfrist sich hier frei bewegen und sich vielleicht noch seiner Taten rühmen könnte, wäre es für unser Land eine Schande und für uns alle eine defätistische Einstellung, wenn wir glaubten, wir könnten nicht mehr tun und einfach einen Schlußstrich darunter ziehen.
Kurt Schumacher hat — in völlig anderem Zusammenhang — auf dem zweiten Parteitag nach der Wiederbegründung der Sozialdemokratischen Partei gesagt — ich zitiere —:
Demokratie beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und Ehrlichkeit. Aber die technokratische und geradezu kriegswissenschaftliche Handhabung der politischen Mittel führt zum Gegenteil.
Ich will damit sagen, daß wir uns in dieser Verjährungsfrage doch nicht im kriegswissenschaftlichen Stil auf formale oder vermeintliche rechtsstaatliche Positionen zurückziehen sollten, daß wir nicht sagen dürfen: Es gibt ein Rechtsinstitut der Verjährung seit 100 Jahren, das ist für uns unantastbar, wenn wir davon überzeugt sind, daß unser Grundgesetz und unser Gewissen eine andere Regelung von uns fordern.
Was soll denn der Hinweis — wiederum von Herrn Kollegen Erhard — auf die Zahl der Verurteilungen und die unterschiedliche Rechtsanwendung zwischen deutschen Gerichten und früheren Besatzungsgerichten? Darum geht es doch nicht. Wir können doch nicht sehenden Auges Unrecht ungesühnt lassen, bloß weil andere etwas anderes oder, Falsches getan haben.
Es geht doch auch nicht darum, Herr Kollege Engelhard, ob die Angeklagten 64 oder 65 Jahre alt sind, sondern es geht einfach darum, Schuld festzustellen und Schuld zu sühnen. Es geht darum, daß wir uns nicht auf vermeintliche Rechtspositionen zurückziehen dürfen, wenn wir davon überzeugt sind daß unser Grundgesetz, daß unser Gewissen, unser Gerechtigkeitssinn von uns eine Regelung erfordern, die dem unsäglichen Leid auch heute noch, soweit das mit irdischen Mitteln möglich ist, den Schuldigen eine Sühne angedeihen läßt.
Meine Damen und Herren vom Rechtsausschuß: Vor wenigen Tagen hatten wir eine Diskussion mit einer Gruppe jüdischer Mitbürger, die zum größten Teil aus den Vereinigten Staaten auf eigene Kosten hier in die Bundesrepublik gekommen sind. Die haben uns nicht haßerfüllt angesehen, die haben auch keinen kollektiven Schuldvorwurf gegen uns erhoben. Im Gegenteil, sie haben den Willen zur Aussöhnung beschworen, dabei aber auch ein sichtbares Zeichen für unseren Aussöhnungswillen, nämlich den Verzicht auf die Verjährung, gefordert. Deswegen ist Ihre Schlußfolgerung falsch, daß das Ausland eine Nichtaufhebung der Verjährung möglicherweise mißverstehen könne. Nein, das Ausland muß eine solche Entscheidung von uns, wenn sie anders ausfallen würde, als der Antrag meiner politischen Freunde es fordert, mißverstehen. Es muß davon ausgehen, wir wollten das, was man als Vergangenheit bezeichnet, nicht bewältigen.
Meine Damen und Herren, weil Sie gesagt haben, dieses Gesetz berühre Rechtstraditionen, an denen nicht gerüttelt werden sollte, möchte ich ein Wort des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann anführen, das dieser am. 24. Mai 1974 anläßlich des 25jährigen Bestehens des Grundgesetzes gesagt hat. Er sagte:
Es wäre das Ende aller Politik, wenn Bestehendes nur noch verwaltet, aber nicht mehr verbessert würde.
Deshalb sind auch diese amerikanisch-jüdischen Bürger zu uns gekommen: um uns zu sagen, daß wir unsere Gesetze notfalls auch ändern müssen, um dem außerordentlichen Charakter dieser Verbrechen Rechnung zu tragen, wenn die Rechtsordnung ihre zentrale Funktion nicht verlieren soll. Die Ansicht, Herr Kollege Vogel von der Opposition, 1965 und 1969 seien alle Argumente ausgetauscht worden und wir könnten das Ergebnis von damals heute nicht mehr ändern, ist doch nicht, wie Sie es bezeichnet haben, der Weisheit letzter Schluß. Wir haben uns in anderen Fällen, in denen uns das Handeln von außen, von Terroristen in viel stärkerem Maße aufgezwungen worden ist, ja auch nicht gescheut, mit strafrechtlichen und strafprozessualen Sanktionen zu reagieren.
Lassen Sie mich aus der Enzyklika von Papst Johannes Paul II. „Redemptor hominis" einen Satz zitieren. Es heißt da:
Die Menschenrechtserklärung hat gewiß nicht nur das Ziel, sich von den furchtbaren Erfahrungen des letzten Weltkrieges zu distanzieren, sondern sollte auch eine Grundlage für eine solche ständige Revision der Programme, Systeme und Regime schaffen, die unter diesem einzigen grundlegenden Gesichtspunkt zu geschehen hat: dem Wohl des Menschen, d. h. der Person in der Gesellschaft.
Aber, meine Damen und Herren, wie wollen wir denn zu dieser Revision kommen, wenn wir nicht bereit sind, diese Person in der Gesellschaft als oberstes Gut zu schützen? Wollen wir denn, weil es Morde, auch politische Morde auch in anderen Ländern heute noch gibt, nicht sagen, daß wir die menschliche Würde bei allem unserem Handeln obenanstellen? Wollen wir das nicht durch ein sichtbares Zeichen zum Ausdruck bringen?
Ich meine, wir sind verpflichtet, einen Beitrag zu leisten, damit sich solche entsetzlichen Vorgänge und Zeiten, in denen Menschen nur noch als verwert-



Dr. Weber (Köln)

bare oder vernichtbare Masse angesehen wurden, nicht wiederholen. Wir würden eine Chance versäumen, wenn wir nicht den Mut hätten, eine Lösung anzustreben, die unsere Vorstellungen von der Würde des Menschen dauerhaft schützt und diese Würde auch nicht durch Zeitablauf weniger wert sein läßt. Es geht also nicht um die Bewältigung der Vergangenheit, sondern darum, wie dieses Volk, wie wir alle zu uns selbst stehen.
Meine Damen und Herren, es ist angeführt worden, es sei mit unserer Rechtsordnung, mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht vereinbar, die Verjährungsvorschriften für Mord in Wegfall kommen zu lassen. Darf ich Sie fragen, ob es für den Mörder einen Vertrauensgrundsatz gibt, ob der Mörder, der auf die Verjährung vertraut, ein Recht darauf hat, in seiner Kalkulation nicht enttäuscht zu werden? Eine solche Kalkulation kann doch nicht schutzwürdig sein, wenn jemand für 20 oder 30 Jahre untertaucht, außer Landes geht, in der Erwartung, der Strafverfolgung zu entkommen. Am allerwenigsten aber verdient dieser Mörder den Schutz der Verfassung.
Deswegen hat der Bundesgerichtshof völlig zu Recht ausgeführt — ich darf hierzu zitieren —:
Die Länge der gesetzlichen Verjährungsfrist ist nichts, worauf der Täter, der das Strafgesetz verletzt, einen unabänderlich verfechtbaren Anspruch gegen den Staat besäße. Ihre spätere gesetzliche Verlängerung verletzt das Gebot rückwirkender Bestrafung nicht.
An anderer Stelle heißt es:
Durch eine Verlängerung der Verjährungsfrist würde die Strafbarkeit nicht neu begründet, sondern nur ein der Durchsetzung des fortbestehenden Strafanspruchs entgegenstehendes Hindernis beseitigt.
Hier geht es also gar nicht um ein unzulässiges Rückwirkungsverbot, sondern lediglich um die Beseitigung eines Prozeßhindernisses.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU] : Das ist unbestritten, Herr Kollege!)

Wenn wir die Verjährungsvorschriften bei Mord aufheben, dann nutzen wir nur den Spielraum aus, den uns das oberste Gericht in Strafsachen selber aufgezeigt hat.
Es wäre falsch, meine Damen und Herren, wenn wir leugneten, daß bei unserem Gesetzentwurf auch weltanschauliche oder moralische Vorstellungen Einfluß nehmen konnten. Dürfen wir uns denn aber wundern, wenn der polnische Justizminister noch am Tag vor dieser Debatte auf die Leiden seines Volkes hingewiesen hat? Und dürfen wir uns wundern, daß er die unbefristete Verfolgung der hitlerfaschistischen Verbrechen verlangt? Ich meine, nicht. Vielmehr haben all diese Menschen bei uns und im Ausland einen Anspruch darauf, daß wir nicht ermüden, Mörder zu verfolgen und als den Mittelpunkt unserer Rechtsordnung diese Gerechtigkeit auszubilden versuchen.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Verjährung für Mord aufheben, dann deckt sich die rechtsstaatliche Betrachtungsweise, wie sie von den obersten Bundesgerichten für zulässig erachtet worden ist, mit den Anforderungen der Gerechtigkeit, mit der das Recht só weit wie möglich in Einklang gebracht werden muß.
Diejenigen, die sagen, die Aufhebung • der Verjährung für Mord störe den Rechtsfrieden, müssen doch umgekehrt fragen, ob wir selber und besonders die Opfer von Mördern in Frieden leben können, wenn sie wissen, daß die Mörder noch unter uns sind. Das bedeutet nicht, daß wir den Resozialisierungsgedanken aus dem Strafrecht verdrängen. Aber die Strafe verfolgt auch den Zweck, die Rechtsordnung, die wir uns durch das Grundgesetz selber gegeben haben, zu verteidigen und allgemein der Begehung von Straftaten entgegenzutreten.
Auch der Zeitablauf darf entgegen der Meinung der Opposition kein Hinderungsgrund sein, Verfahren gegen Mörder durchzuführen. Die Zeit zwischen Tat und Verurteilung steht vor allem der Sühne nicht entgegen. Auch Dauer und Umfang der Verfahren dürfen keinen Hinderungsgrund für die Abwicklung von NS-Verfahren sein. Wir haben auch in anderen Bereichen Mammutverfahren. Wollen wir davor denn kapitulieren? Wir wissen genau, daß den wegen Zeitablaufs manchmal' schwer aufklärbaren Verbrechen zahlreiche andere, sehr gut aufklärbare gegenüberstehen, zumal durch Fortschritte in der Technik in den letzten Jahrzehnten die Methoden der Kriminalistik ständig verbessert worden sind. Gerade die großen Prozesse der letzten Jahre zeigen, daß Zeugenaussagen auch nach langer Zeit noch durchaus verläßlich erscheinen. Umgekehrt können Straftaten schon nach kurzer Zeit völlig unaufklärbar sein. Alle denkbaren Fälle liegen zu verschieden, als daß die Frage der Aufklärbarkeit im Einzelfall zu einer allgemeinen, vernünftigen Bestimmung der Verjährungsfrist auch nur einen entscheidenden Punkt beitragen. könnte.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch auf zwei Punkte eingehen. Unser Staat hat eine Verpflichtung, auch die Opfer und Hinterbliebenen zu schützen, die gebrandmarkt von dieser Verfolgung leben. Der Hinweis, sie wollten sich nicht mehr als Zeugen zur Verfügung stellen, um das Unrecht zu sühnen, ist falsch. Für jeden Betroffenen, auch für das Mädchen, das geschändet worden ist, ist es natürlich eine Qual, im Strafverfahren seinem Täter gegenüberzutreten und das Schreckliche erneut zu erleben. Genauso ist es für diese Zeugen in NS-Verfahren auch. Deswegen können wir auf die Durchführung dieser Verfahren nicht verzichten.
Ein Wort noch zu Herrn Professor Maihofer! Herr Professor Maihofer, Ihr Vorschlag — ich bitte Sie, das zu überlegen —, zu einer differenzierten Verjährungsregelung zu kommen, wirft erhebliche Bedenken auf, nicht nur bezüglich des Art. 3 des Grundgesetzes. Denn die Ahndung des Mordtatbestandes schützt das Leben schlechthin. Der Rechtsgüterschutz ist doch qualitativ und nicht quantitativ. Auch eine Häufigkeit von Rechtsgutverletzungen in der NS-
Zeit kann nicht zu einer unterschiedlichen Schwere



Dr. Weber (Köln)

einer Mordtat führen. Die Häufigkeit mag ein Argument für die Verfolgungsintensität und die Verfolgungsfrist sein, sie kann aber kein Argument für den Tatbestand selber sein. Hier gilt: Mord ist Mord. Mord kann nach der Tendenz unseres Grundgesetzes nicht verjähren, wenn wir den Menschen als den Mittelpunkt ansehen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0814504400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wissmann.

Matthias Wissmann (CDU):
Rede ID: ID0814504500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Jahren ist viel über Parteienverdrossenheit, über Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus, auch in der jungen Generation, gesprochen worden. Ich möchte als Neuling in diesem Parlament feststellen, daß nach meinem Eindruck die moralische und politische Qualität dieser Debatte gezeigt haben, daß das Parlament sehr wohl auch kritisch fragenden jungen Leuten mit den sehr unterschiedlichen Positonen, die hier vertreten worden sind, überzeugende Antworten geben kann.
Ich möchte hier nicht in erster Linie unter rechtspolitischen oder juristischen Gesichtspunkten sprechen. Für meine eigene Urteilsbildung war die entscheidende Frage maßgebend: Was müssen wir tun, um sicherzustellen, daß es nie wieder einen Unrechtsstaat — von unserem Boden aus geschaffen — gibt? Wir sind uns einig im Abscheu gegenüber jenen Verbrechen, die damals geschehen sind. Wir sind uns darin einig, daß nie wieder ein Willkürstaat geschaffen werden darf und daß der Staat nie wieder die Möglichkeit haben darf, Menschenrechte mit Füßen zu treten. Aber die Frage ist doch: Wie wollen wir erreichen, daß wir möglichst vielen jungen Leuten, die ja das Glück haben, in einem freien Staat aufzuwachsen, die die Bedingungen einer Diktatur nie aus eigener Erfahrung erahnen konnten, klarmachen, daß man für diesen freien Staat kämpfen muß? Meine große Sorge ist, daß wir die große politische Aufgabe der Aufarbeitung unserer Geschichte, des Lernens aus den Erfahrungen unserer Vergangenheit auf die Justiz abladen und damit verdrängen könnten.
Die Bestürzung über Holocaust hat doch gezeigt, daß erst die Schilderung eines Einzelschicksals Menschen aufrührt und bewegt, und die Reaktion auf Holocaust hat auch gezeigt, daß hier ganz offensichtgelungen ist, was Tausende von Verfahren trotz der intensiven Arbeit zur Vorbereitung dieser Verfahren, trotz einer 10- bis 12jährigen Dauer nicht bewirkt haben. Meine Damen und Herren, im Blick auf die junge Generation frage ich mich, ob in einer Situation, zu der hier heute eigentlich von allen Seiten gesagt wurde, daß eine Aufhebung der Verjährungsfrist in den dann noch zur Ermittlung anstehenden Fällen aller Voraussicht nach aus Mangel an Beweisen zum Freispruch oder zur Einstellung führen würde, ein Freispruch aus Mangel an Beweisen oder eine Einstellung des Verfahrens — wie gesagt, gerade im Blickwinkel junger Leute, juristisch ungeschulter Menschen — nicht eher den Eindruck der Rechtfertigung, nicht eher den Eindruck eines Freibriefs als den Eindruck der Verarbeitung unserer Geschichte erweckte. Ich frage mich daher, ob Prozesse mit 70- oder 80jährigen, vielleicht sogar Mitleid erheischenden Angeklagten die unmenschliche Brutalität der Geschichte nicht eher vernebeln als offenbaren.
Meine Damen und Herren, deswegen meine ich, daß es ganz wichtig ist, daß wir, wie immer wir zum Institut der Verjährung stehen, darüber aufklären, daß Verjährung nicht etwa Begnadigung heißt, nicht Verzeihen heißt, nicht Amnestie heißt, sondern nur heißt: Grenze der Strafverfolgung dort, wo das Risiko neuen staatlichen Unrechts beginnt.
Wir alle sind uns doch, glaube ich, ebenfalls darin einig, daß Vergessen und Verharmlosen niemals eintreten dürfen. Wir müssen im Gegenteil dafür sorgen, daß niemand verharmlost oder vergißt. Aber das beste Mittel gegen Vergessen und Verharmlolung ist doch ein waches Geschichtsbewußtsein. Wenn Golo Mann davon spricht, wir hätten es gerade auch in der jungen Generation mit einer wachsenden Geschichtsmüdigkeit zu tun, wenn vor kurzem ein Gymnasiallehrer anläßlich einer Unterrichtsstunde über die 40jährige Wiederkehr der Reichskristallnacht erzählte, daß nur ein Drittel seiner Schüler eine Vorstellung von dem damals Geschehenen gehabt habe, oder wenn wir, um einen anderen Bereich totalitärer Herrschaft zu nennen, aus einer Umfrage wissen, daß rund 50 % der Menschen, vor allem der jungen, überhaupt nicht mehr wissen, was der 17. Juni eigentlich bedeutet, meine ich, viel wichtiger als die Diskussion um dieses Rechtsinstitut ist es, seitens aller Parteien und gerade auch in den Ländern dafür zu sorgen, daß Jugendlichen die Zusammenhänge, die Ursachen unserer Geschichte wieder verdeutlicht werden. Ich fürchte, daß ein Abladen auf die Gerichte das Gegenteil bewirkt, nämlich Verdrängung und nicht Verarbeitung.

(Beifall bei der CDU/CSU — Matthöfer [SPD] : Das eine schließt das andere doch nicht aus!)

Meine Damen und Herren, ich bin dafür, daß wir — gemeinsam, Herr Matthöfer — diese geschichtliche Aufarbeitung vornehmen, und ich persönlich meine, daß ein Abladen auf die Justiz, die ihre Aufgabe kaum bewältigen könnte — wir sprachen vorhin von den Beweisschwierigkeiten, wir sprachen von den überlangen Prozessen, wir sprachen von dem Alter der Angeklagten —, daß eine solche Verdrängung eher das Gegenteil dessen bewirkt, was wir gemeinsam wollen.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Wir müssen deshalb dafür sorgen, daß unsere Geschichte in den Schulen, durch bessere Informationen in den Massenmedien, durch ein Darstellen der Einzelschicksale so verabeitet wird, daß wir ge meinsam aus den Erfahrungen lernen; denn nur ein Volk, das seine Geschichte kennt, kann seine Zukunft in Freiheit gestalten.

(Beifall bei der CDU/CSU)





Wissmann
Deswegen möchte ich diese Debatte bewußt dazu benutzen — damit mit dieser Debatte und der Diskussion über die Verjährung der Themenzusammenhang nicht verdrängt wird —, uns gemeinsam auf die Notwendigkeit anzusprechen, gerade auch in den Schulen mehr für eine vorurteilsfreie Information über unsere Geschichte zu tun. Mehr und besserer Geschidrtsunterridit, das ist eine Aufgabe.
Ein Zweites und Bundespräsident Scheel hat es
1976 vor dem Historikertag gesagt —: Gerade auch die Geschichtswissenschaft sollte einsehen, daß sie sich viel mehr als bisher um die Gestaltung der Schulbücher kümmern muß und dabei deutlich machen muß, daß Geschichte nicht nur die- zwölf bösen Jahre umfaßt, sondern daß deutsche Geschichte helle und dunkle Seiten hat und daß man aus den Erfahrungen beider Seiten unserer Geschichte für die Zukunft lernen muß.
Meine Damen und Herren, ich will noch einen Punkt ansprechen, der die Glaubwürdigkeit unseres Argumentierens in die junge Generation hinein betrifft. Wenn wir überzeugend für den Wert des Rechtes in einem freien Land wirken wollen, meine ich, ist es besonders wichtig, daß wir ein mit guten Gründen gesetztes Recht ernst nehmen und nicht den Eindruck zulassen, daß dieses Recht unter Gesichtspunkten der Opportunität geändert werden kann.
Ich respektiere jeden, der hier und anderswo aus moralischen und rechtlichen Gründen für die Aufhebung der Verjährung eintritt. Aber, meine Damen und Herren — und gelegentlich, nicht heute, aber anderswo, ist dies der Fall gewesen —, wer im Gegensatz dazu nur unter Gesichtspunkten der Wirkung nach außen gesetztes Recht ohne gute Gründe ändert, muß sich fragen lassen, ob er durch eine solche Verhaltensweise der Glaubwürdigkeit dieses Rechtsstaates und seines Parlaments gerade in der jungen Generation dient.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814504600
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jahn?

Matthias Wissmann (CDU):
Rede ID: ID0814504700
Gerne.

Gerhard Jahn (SPD):
Rede ID: ID0814504800
Herr Kollege, aus welchem Argument der heutigen Debatte glauben Sie eigentlich diese eben von Ihnen dargelegte Unterstellung herleiten zu können? .

Matthias Wissmann (CDU):
Rede ID: ID0814504900
Herr Kollege Jahn, ich habe bewußt gesagt, daß ich mich nicht auf die Debatte beziehe. Ich weiß, daß in der Argumentation außerhalb dieses Parlaments die Frage, wie das Ausland reagiert, eine entscheidende Frage in diesem Zusammenhang war.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen habe ich gesagt: Ich respektiere jeden, der aus moralischen und politischen Gründen für die Aufhebung eintritt. Wer aber die Wirkung im Ausland zum entscheidenden Kriterium der Beurteilung
dieses Sachzusammenhangs macht, der dient nicht dazu, die Grundlagen dieses freien Rechtsstaats auch im Bewußtsein der jungen Generation zu stärken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich sage das auch im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um jene kleine Gruppe Rechtsradikaler oder mit den Gefahren des Entstehens eines neuen Nationalismus. Wer keinen neuen Nationalismus will, muß den Eindruck vermeiden, aus Opportunität Recht zu verändern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen bin ich froh, daß die Debattenbeiträge heute diesen Gesichtspunkt, der in der außerparlamentarischen Diskussion eine große Rolle spielt, nicht mit herangezogen haben.
Meine Damen und Herren, noch etwas, was für die Glaubwürdigkeit wichtig ist: Ich achte jeden im Ausland, der uns ernsthaft mahnt und fragt, der zu einem anderen Ergebnis kommt als etwa wir in der Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion. Aber eines muß auch klar gesagt werden, nachdem eben der polnische Justizminister zitiert wurde — und wir wissen alle um die schrecklichen Leiden des polnischen Volkes unter nationalsozialistischer Herrschaft —: Funktionäre von Regimen, die selbst Menschen versklaven, haben kein Recht, uns, einem frei gewählten Parlament, moralische Belehrungen zu erteilen. Auch das sollten wir mit allem Selbstbewußtsein sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein weiteres. Ich achte jeden, der für die Aufhebung der Verjährung von Mord eintritt, weil er damit zum Ausdruck bringen will, daß Sühne trotz aller Beweisschwierigkeiten auch nach 30 Jahren ein Grund für Strafverfolgung ist. Ich frage mich nur, ob es glaubwürdig ist — dies sage ich wieder bezogen auf einen Teil der Diskussion —, wenn auf der einen Seite auf dem Felde des materiellen Strafrechts dem Mord der Ausnahmecharakter genommen werden soll, im Zusammenhang mit der Verfahrensvorschrift über Verjährung aber dafür eingetreten werden soll, auf alle Zeit zu verfolgen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Auch dies ist für die Glaubwürdigkeit unserer Diskussion wichtig.
Zum Abschluß lassen Sie mich ein Wort zitieren, das viele Jahrhunderte zurückliegt und doch in die jetzige Diskussion hineinpaßt. Papst Innozenz I. hat am 13. Dezember 414 an die mazedonischen Bischöfe einen Brief mit folgendem Inhalt gerichtet:
Wenn von Völkern oder von großen Gruppen gesündigt wird, dann pflegt das oft ungesühnt durchzugehen, da wegen dieser großen Zahl nicht gegen alle vorgegangen werden kann. Deshalb, sage ich, muß das Vergangene dem Urteil Gottes überlassen bleiben und für die Zukunft mit äußerster Anstrengung vorgebeugt werden.
Hier liegt unsere — bei allen Unterschieden in
dieser Diskussion — gemeinsame Aufgabe, durch
das Wecken des Geschichtsbewußtseins, durch enga-



Wissmann
gierten Kampf für die Menschenrechte, gleich unter welcher Form totalitärer Herrschaft, dafür Sorge zu tragen, daß sich das Geschehene nie wiederholt.
Zum Thema Menschenrechte möchte ich auch sagen, daß es für unsere Glaubwürdigkeit draußen nicht gut ist, wenn wir unterteilen, wenn die Sozialisten und Sozialdemokraten für Rudolf Bah-ro eintreten und die Christdemokraten für Nico
Hübner, um auch dort noch zu teilen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Wir sollten in der Glaubwürdigkeit unserer politischen Arbeit und der Gestaltung der Zukunft in Freiheit vorurteilsfrei und gemeinsam für ein waches Geschichtsbewußtsein und für eine offensive Vertretung de Menschenrechte eintreten.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814505000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Oostergetelo.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID0814505100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute in diesem Hause eine Änderung des Strafgesetzbuches; fragend und in Demut, nicht besserwisserisch oder in Rechthaberei, sondern im Wissen um die Begrenzung unserer Möglichkeiten und in dem Wissen auch um die Begrenzung unseres Wissens.
Jeder einzelne von uns ist hier in die Pflicht genommen. Man kann sich nicht davonstehlen. Viele Beiträge meiner verehrten Vorredner verdienen Respekt und Anerkennung. Ich betrachte es als Verpflichtung, auch als Nichtjurist einige Gedanken in diese Debatte einzubringen, um so vielleicht einige Bereiche zu erwähnen, die sich dem Zugriff bestehender juristischer Formeln entziehen. Mir ist klar, daß ich dazu nur in der Lage bin, weil viele meiner Vorredner die juristischen Aspekte im wesentlichen abgedeckt haben.
Trotzdem komme ich um einige juristische Bemerkungen nicht herum, die die Basis meiner Überlegungen bilden.
Zum ersten kann ich mich denen anschließen, die darlegten, daß es keine zwei Sorten des Mordes geben kann. Gewöhnlicher Mord — ein schreckliches Wort! Menschliches Leben ist unantastbar. Eine Verletzung dieses Gebotes ist nicht teilbar.
Zweitens nehme ich zur Kenntnis, daß die Änderung des Strafgesetzes, über die wir heute beraten, verfassungsrechtlich möglich ist, d. h., daß es keine Bedenken dagegen gibt, Verjährungsfristen durch den Gesetzgeber zu ändern.
Zum dritten habe ich für mich zur Kenntnis genommen, daß eines der wichtigsten Argumente für die Verjährung, die sogenannte Prozeßökonomie, sicherlich ihre Berechtigung im Bereich der Alltagskriminalität hat, aber bei der Beurteilung schwerster Verbrechen versagt. Die Einsicht in das Versagen dieses Arguments hat uns ja schon keine Verjährungsfrist für den Tatbestand des Völkermordes schaffen lassen. Von daher setzt die Nichtgewährung einer Verjährungsfrist auch kein neues Recht oder eine unbillige Verschärfung des alten Rechts.
Wir diskutieren heute die Verjährung von Mord. Der Mord ist sicherlich das abscheulichste Verbrechen, das wir kennen. Mit einem Mord — hier sei ausdrücklich auf die qualifizierenden Merkmale des Strafgesetzes verwiesen lädt. der Täter unter allen Verbrechen die größte Schuld auf sich, eine Schuld, die er sowohl gegenüber dem menschlichen Leben als auch gegenüber der menschlichen Gesellschaft hat.
Es besteht deshalb ein schutzwürdiges gesellschaftliches Interesse, gerade den Mörder zu fassen und sinnvoll zu strafen. Wo das nicht möglich ist oder war, muß die Gesellschaft die Möglichkeit haben, durch ihre gesetzgebenden Körperschaften die Instrumentarien des Staates so auszustatten, daß man den Mörder fassen und bestrafen kann. Wenn es in der Vergangenheit nicht so war, darf man dazulernen. Die Instrumentarien, die uns zur Verfügung stehen, reichen heute nicht aus. Auch aus diesem Grunde diskutieren wir ja heute. Zu viele Mörder sind noch unentdeckt.
Der Mangel in unserem System liegt nun aber ganz sicher nicht auf der Seite des Strafens, also in einer zu geringen Strafandrohung. Der Ruf nach ganz allgemeinen Haftverschärfungen, ja sogar der Ruf nach der Todesstrafe werden vereinzelt wieder laut, und das, meine Damen und Herren, 30 Jahre, nachdem wir aus gutem Grund im Grundgesetz diese Ultima ratio des menschlichen Strafens für abgeschafft erklärten.

(Zustimmung bei der SPD)

Der Ruf nach dieser Strafe muß aus vielen Gründen ungehört bleiben, auch deshalb, weil ein möglicher Irrtum furchtbar und irreparabel wäre. Im übrigen lehrt uns die Geschichte, daß Strafen allein — und mögen sie im Einzelfall noch so hart und unmenschlich gewesen sein — nicht ausreichen, um Verbrechen zu verhindern. Unter diesem Aspekt sollten wir zum Bereich der Strafverfolgung zurückkehren.
Nahrung finden diese Überlegungen durch die mögliche Verjährung der NS-Morde. Die Tatsache, daß bei einer Beibehaltung der bisherigen Regelung am 1. Januar 1980 alle NS-Morde, die noch nicht verfolgt werden, verjährt wären, ist unerträglich, denn noch immer müssen wir befürchten, daß diese Mörder unter uns sind. Vollends unerträglich wäre der Gedanke, wenn auch nur ein einziger Mörder sich frei und ungehindert seiner Taten rühmen dürfte. Hier würde nicht nur ein gesellschaftlicher Anspruch, nämliche Mörder zu fassen und ihrer Strafe zuzuführen, aufgegeben, nein, dieses Nichteinhalten eines gesellschaftlichen Anspruchs wäre bei den Befürchtungen, die ich habe, eine schallende Ohrfeige ins Gesicht dieser Gesellschaft. Überdies wäre es ein Schlag ins Gesicht aller Opfer, die unter den NS-Verbrechen schrecklich gelitten haben. Dieser Punkt spielt bei aller objektiver Betrachtung des Problems eine wichtige Rolle, denn wir dürfen uns nicht in das Schneckenhaus einer nur juristischen Betrachtung zurückziehen. Der Respekt vor dem



Oostergetelo
höchsten Rechtsgut, dem menschlichen Leben, legt nahe, die Ahndung der schwersten Schuld in Ausnahme zu anderen Vergehen nicht verjähren zu lassen.
Da ich es aber dabei nicht bewenden lassen will, nur für den Wegfall der Verjährungsfrist für Mord einzutreten, möchte ich mir Wiederholungen sparen und von der besonderen Chance dieser Debatte sprechen. Ich sehe in dieser Diskussion die Möglichkeit, weitergehend nach Art und Sinn von Strafe und Strafverfolgung zu fragen.
Der demokratische Staat ist in der Entwicklung menschlicher Gesellschaft eine recht hochstehende Organisationsform. Bleibt diese Organisation eine technische, geht das verloren, was uns erst menschlich macht, mit allen Vorzügen und Nachteilen. Der demokratische Staat hat deshalb die Aufgabe und die Verpflichtung, neben der technisch-zivilisatorischen auch für die kulturell-menschliche Entwicklung der Menschen zu sorgen. Die angestrebte Beteiligung aller an den Abläufen gesellschaftlicher Prozesse oder der Ruf nach dem mündigen Bürger und die Achtung vor dem Menschen muß sich deshalb auch in seinen Strafgesetzen widerspiegeln.
In der Erkenntnis, daß wir die Rechtsordnung nicht durch Rache und Vergeltung wiederherstellen können, haben wir darauf verzichtet, die alttestamentarische Vorstellung „Wie du mir, so ich dir" oder „Auge um Auge, Zahn um Zahn" zur Grundlage unseres Richtens zu machen.
Strafe soll nach meiner Vorstellung unter dem Grundgedanken des Schutzes und der Wiedergewinnung für die Gesellschaft stehen. Wir sollten den Menschen verfolgen und strafen, um ihn durch die Strafe hindurch wieder zu gewinnen, allerdings auch, um die Gesellschaft vor solchen Mitmenschen zu schützen, die sich in ihr Recht nicht fügen und den Frieden unter den Menschen gefährden. Diese Sicht von der Möglichkeit des Neuanfangs, von der Wiedergewinnung für die Gesellschaft hat ihre Tradition in der neutestamentarischen Kernaussage von der Versöhnung. Ihre soziale Funktion ist auch nach 2 000 Jahren noch aktuell.
Die Möglichkeit der gerichtlichen Unterbrechung der Strafaussetzung folgt der Bestrafung, kann also nicht an deren Stelle treten.
Ich begrüße deshalb in diesem Zusammenhang außerordentlich, daß dieses Parlament über lebenslange Freiheitsstrafen mit dem Ziel einer Verkürzung diskutieren will, daß sich dieses Parlament mit dem Thema Hafterleichterung, Neuordnung des Gnaden- und Bewährungsrechts und der gerichtlichen Aussetzung der Strafe zur Bewährung beschäftigen will.
Meine Forderung ist ganz allgemein, daß Strafe nur soweit angewandt werden darf, wie durch sie Gewalt abgebaut und Wiedergutmachung durch den Rechtsbrecher und seine Resozialisierung ermöglicht wird. Strafe ist aber andererseits da notwendig, wo ohne sie Wiedergutmachung und Resozialisierung nicht möglich ist. Dazu gehört auch die Verantwortung und das Verantworten-Müssen vor dem menschlichen Richter.
Eine Aufhebung der Verjährungsfrist muß deshalb nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer sicherlich notwendigen politischen Entscheidung gesehen werden, sondern sie könnte ein weiterer Baustein in dem Gebäude einer humanen und der demokratischen Gesellschaft angepaßten Strafrechtsordnung sein. Das gilt es hier einmal zu betonen, und ich möchte Sie bitten, mir hierin zu folgen.
Was wir gewähren können und sollten, ist die Resozialisierung, die Wiederaufnahme in die menschliche Gesellschaft, und nicht die Aussetzung der Verfolgung nach Verjährung. „Verheimlichte Schuld verwirkt Vergebung" — ein Wort von Präses Scharf, schon 1965 hier im Bundestag zitiert.
Aus meinem christlichen Verständnis und Bekenntnis heraus halte ich es für keinen Widerspruch, wenn ich für die Möglichkeit der lebenslangen Strafverfolgung bei Mord eintrete und gleichzeitig einem großzügigen Gnaden- und Bewährungsrecht das Wort rede. Zum Beispiel möchte ich es einem sicherlich mit Recht verurteilten und bestraften Rudolf Heß ermöglichen, nicht in -seiner Zelle sterben zu müssen.
Ich möchte zum Abschluß allen in diesem Hause Versammelten einen Satz in Erinnerung rufen, den der Vorstand der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland bereits vor zehn Jahren in einem Beschluß zur Frage der Verjährung von Mord geschrieben hat: „Der Weg der Gnade kann erst beschritten werden, wenn zuvor Recht gesprochen wurde."

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Das ist klar!)

Das ist nur möglich, meine Damen und Herren, wenn keine Verjährung es verhindert.

(Beifall bei der SPD)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814505200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Klein (Göttingen).

Prof. Dr. Hans Hugo Klein (CDU):
Rede ID: ID0814505300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Graf Stauffenberg hat heute morgen bereits darauf hingewiesen, daß sich der Deutsche Bundestag, wenn richtig gezählt worden ist, zum vierten Male mit der Frage der Verjährung beschäftigt. Es ist nicht leicht, wenn nicht unmöglich, angesichts der umfassenden Diskussionen, die in den Debatten der 60er Jahre in diesem Hause geführt worden sind — ich erinnere an die heute zum Teil schon erwähnten Reden von Adolf Arndt, Thomas Dehler, Richard Jaeger, um nur einige zu nennen —, den damals genannten neue Argumente hinzuzufügen, ja, es ist schwierig, selbst alte Argumente neu zu akzentuieren.
Die heute vielleicht ist diese vorläufige Bilanz
zu diesem Zeitpunkt schon erlaubt — in eindrucksvoller Weise geführte neue Debatte über die Frage der Verjährung von Mord wird dadurch nicht einfacher, daß in den zurückliegenden Jahren oder Monaten in zahllosen Gesprächen und eigenen Überlegungen der Standpunkt eines jeden zu weit-



Dr. Klein (Göttingen)

gehender Festigkeit gediehen ist, so daß es kaum noch möglich erscheint, einander zu überzeugen.
Was bleibt, ist die Darstellung der eigenen Position, deren Redlichkeit wechselseitig nicht in Zweifel gezogen werden darf und heute ja auch nicht bezweifelt worden ist. Auch in der heutigen Diskussion sind bereits fast alle Argumente ausgetauscht worden. Dennoch erscheint es nicht falsch, das eine oder andere zu wiederholen; denn das Problem ist schwierig, die Motive der Entscheidung für die eine oder andere Lösung sind vielschichtig. Es kann daher nicht schaden, den einen oder anderen tragenden Gesichtspunkt neuerlich hervorzuheben.
Das Problem, mit dem wir uns beschäftigen, ist deshalb ein so ernstes, ein uns alle tief ergreifendes Problem, weil es die Auseinandersetzung mit einem Abschnitt unserer Geschichte bedeutet, an dem wir alle schwer zu tragen haben. Es liegt mir daran, noch einmal zu sagen, daß niemand, auch und gerade diejenigen, die für die Beibehaltung des geltenden Rechts eintreten, mit der vor dem Hohen Hause liegenden Entscheidung, wie immer sie ausfallen möge, einen Schlußstrich unter diese unselige Vergangenheit des deutschen Volkes zu ziehen beabsichtigt.
Dieses Haus ist sich einig im Abscheu vor dem damals Geschehenen, ist sich aber auch einig in der Einsicht, daß es notwendig ist, alles zu tun, um eine Wiederholung des Geschehenen hier und anderswo zu vermeiden. Denn, meine Damen und Herren, 34 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt uns ja nur die mit Trauer zu treffende Feststellung, daß das Genozid, der Völkermord, keineswegs ein einmaliges historisches Ergebnis war, daß es ihn vor 1933 gegeben hat und daß er sich auch unter unseren Augen, in unserer Gegenwart ereignet.
Die Frage, mit der wir uns heute und hier zu beschäftigen haben, ist doch die, ob Strafverfahren etwas ,dazu beizutragen vermögen, daß wir der auf uns in besonderem Maße lastenden Verantwortung für das Nicht-sich-Wiederholen dieses Geschehens dadurch gerecht werden können, daß weitere Verfahren gegen die Täter eingeleitet werden, die im Jahre 1980 erstmals bekanntwerden. Denn nur darum geht es.
In einem Memorandum, das am 31. Dezember des vergangenen Jahres vom Internationalen Auschwitz-Komitee publiziert worden ist, heißt es -ich zitiere aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" —, es gehe nicht so sehr darum, einzelne Personen, die an diesen Verbrechen beteiligt waren, zu verfolgen, zu ergreifen und zu bestrafen, sondern in erster Linie darum, daß das politischmoralische Prinzip, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit verbietet, allseits erfüllt und durchgesetzt wird. — In der Tat! Aber der Zweck des Strafverfahrens ist es — um den Herrn Bundeskanzler von heute morgen zu zitieren —, der irdischen Gerechtigkeit zu genügen, ein Tatgeschehen zu rekonstruieren und die Verantwortlichkeit einzelner für dieses Tatgeschehen nachzuweisen.
Eben dies erweist sich — es ist heute vielfach dargetan worden — in zunehmendem Maße als unmöglich. Im Jahre 1978 hat die Zahl der Verurteilungen im Vergleich zur Zahl der eingeleiteten Verfahren 0,3 % betragen. Die Verjährungsfrist, die Frist der Verfolgungsverjährung auf 10 Jahre, 20 Jahre oder 30 Jahre zu bemessen, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Aber daß den Bemühungen um irdische Gerechtigkeit Grenzen gesetzt sind, ist unbestreitbar. Jede humanen Grundsätzen verpflichtete, jede liberale Rechtsordnung hat ihre Folgerungen daraus gezogen, auch diejenigen, die das Institut der Verjährung nicht kennen.
Herr Kollege Mikat hat recht, wenn er sagt, daß sich vom Gedanken des Rechtsstaates her kein zwingendes Argument für die Verjährung in der unserer Rechtsordnung bekannten Form ergibt. Das ist zuzugeben. Aber ein anderer Schluß ergibt sich in der Tat, wie ich meine, zwingend aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, nämlich daß ein der Rechtsstaatlichkeit verpflichtetes Recht anzuerkennen hat, daß menschliches Bemühen um Gerechtigkeit endlich und von einem' gewissen Zeitpunkt an letztlich wohl auch vergeblich ist. Die Rechtsordnungen, die das Institut der Verjährung in unserem Sinne nicht kennen, haben aus dieser Erkenntnis zwar andere, aber zum gleichen Ergebnis führende Konsequenzen gezogen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es geht um die Anerkennung der Fehlbarkeit menschlichen Richtens, wie es Herr Mikat formuliert hat.
Ich kann Herrn Mikat auch darin nicht zustimmen, daß er — so habe ich ihn verstanden, auch in seinen früheren Äußerungen — die Unverjährbarkeit offensichtlich als ein tatbestandsqualifizierendes Merkmal ansieht. Die Verjährung ist weder ein täter- noch ein tatbezogenes Merkmal. Ihr Zweck ist der Schutz des Unschuldigen — um mit Adolf Arndt zu formulieren — und der Schutz der Allgemeinheit davor, daß eine von Menschen verspätet geübte Justiz um jede Glaubwürdigkeit gebracht wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Die deutsche Gerichtsbarkeit hatte es, was die Verwirklichung von Gerechtigkeit in diesem Bereich angeht, von allem Anfang an schwer, . um nicht zu sagen: es war von allem Anfang an unmöglich, in diesem Bereich Gerechtigkeit zu üben, jedenfalls dann, wenn man Gerechtigkeit in jenem umfassenden, hier von Herrn Mikat definierten Sinn versteht, nämlich sowohl als .Einzelfallgerechtigkeit als auch als Gerechtigkeit' im System des Rechts, als Gerechtigkeit des Gesetzes, wie er formulierte. Insbesondere die Gerechtigkeit im letztgenannten Sinn des Wortes ist — schon Adolf Arndt hat es festgestellt — unheilbar zerstört sowohl durch den Überleitungsvertrag, dessen Folgen mehrfach beschrieben worden sind, als auch — und das liegt in unserer sehr eigenen Verantwor-



Dr. Klein (Göttingen)

tung — durch § 50 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs in der Fassung von 1968,

(Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

der zur Folge hatte, daß insbesondere hoch angesiedelte Täter — Schreibtischtäter, wie man sie oft genannt hat — nicht mehr verfolgt werden konnten.
Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr wird der Zufall zum entscheidenden Moment. Zufall kann kein Prinzip des Rechts, der Gerechtigkeit sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Warum nehmen wir diese Fragen so ernst? Weil sich dieser Staat auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, aber auch auf dem Hintergrund der Erfahrungen, die wir bis zum heutigen Tage im anderen Teil unseres Vaterlandes machen, dafür entschieden hat, sich der Gerechtigkeit zu verpflichten und sich damit auch jenen strengen Prinzipien des Rechtsstaats, seinen Verfahrensgrundsätzen zu unterwerfen, die uns Beschränkungen auferlegen, die wir gelegentlich als sehr schmerzlich empfinden. Das gilt besonders für den Fall, der immer wieder beschworen worden ist, ein neuer Täter könne bekanntwerden und lasse sich dann nicht mehr verfolgen.
In der Tat, dieser Gedanke ist schwer erträglich, wenngleich natürlich zu bedenken ist — daran sei einmal erinnert —, daß wir es vor der rechtskräftigen Verurteilung nie mit Schuldigen, sondern immer nur mit Verdächtigen zu tun haben. Dennoch bleibt der Tatbestand. Aber es bleibt auch abzuwägen, daß auf der anderen Seite in die Strafverfolgung unabdingbar jenes unerträgliche Element der Zufälligkeit gerät, und zwar mit wachsendem Abstand zur Tatzeit in immer stärkerem Maße.
Die Verjährung erspart dem Tatverdächtigen, d.h. demjenigen, dem bis zur Verurteilung die Vermutung der Unschuld zur Seite steht, den Strafverfolgungsbehörden und den Gerichten, vor allem aber den Zeugen — gerade auch den Zeugen aus der Reihe der Opfer — die Qual eines jahrzehntelangen, meist zur Erfolglosigkeit verurteilten Verfahrens. Die Verjährung bewahrt sie darüber hinaus vor der proportional zum Zeitablauf wachsenden 'Gefahr des Irrtums, eines Irrtums, der ja gleichermaßen fatal ist, gleichgültig ob er sich zuungunsten oder zugunsten des Täters auswirkt. Das gilt jedenfalls in diesem Falle.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In eben diesem Sinne — ich kann es leider nicht mehr länger ausführen — ist natürlich auch der Hinweis auf die Störung des Rechtsfriedens ein ambivalentes Argument.
In die Diskussion des Jahres 1965 hat der heutige Präsident des Bundesverfassungsgerichts ein Wort eingeführt, das in der Gedenkstätte Yad Waschem in Jerusalem zu lesen ist, in einer Gedenkstätte, angesichts deren jedermann von uns Gefühle beschleichen, überfallen, die sich in Worte nicht fassen lassen. Scham, Trauer, Zorn, das Gefühl der Hilflosigkeit, der Ohnmacht — dies alles sind nur sehr unzureichende Beschreibungen dessen, was gerade den deutschen Besucher dieser Gedenkstätte bewegt. Das Wort heißt „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung".
Wenn wir dafür eintreten, daß die Verjährung nach fast 35 Jahren eintritt, dann hat das mit Vergessenwollen nichts zu tun. Die Erinnerung aber, die Erlösung verheißt, muß so lange Zeit nach dem Ende des nationalsozialistischen Verbrecherregimes vorzüglich auf andere Weise als durch Strafverfahren, die zur Gerechtigkeit immer weniger beizutragen vermögen, ja in der Gefahr sind, die Ungerechtigkeit zu vermehren, wachgehalten und weitergereicht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814505400
Das Wort hat Frau Abgeordnete Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID0814505500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mord, der zugleich die Voraussetzungen des Völkermords erfüllt, darf nicht verjähren. Ich halte das für diejenige Lösung, die einerseits der besonderen Dimension der Ausrottungsaktionen des Dritten Reiches und den internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deuschland entsprechend dafür sorgt, daß auch nach dem 31. Dezember 1979 bisher noch unbekannte NS-Täter verfolgt werden können — der Anlaß für unsere heutige Debatte —, die aber andererseits den schon in unserem' geltenden Recht enthaltenen Wertunterschied zwischen diesen Ausrottungsaktionen und dem sonstigen Mord nicht unzulässig einebnet. Aus diesem Grunde trete ich dafür ein.
Ich glaube, daß diese Lösung, eine differenzierte Lösung, am ehesten in das geltende Recht hineinpaßt. Sie benötigt auch die geringsten juristischen Änderungen dieses Gesetzes. Herr Vogel hat Verschiedenes gegen diese Lösung eingewandt. Herr Vogel, ich glaube, man kann zu Recht politisch mit unterschiedlicher Argumentation über diese Lösung wie über alle anderen Lösungen auch diskutieren.
Aber Sie haben auch juristische Bedenken geltend gemacht. Das ist das erste Mal; deswegen muß ich kurz darauf eingehen. Denn juristische Argumente stehen dieser Lösung nicht entgegen.
Sie haben gesagt, Herr Maihofer habe heute nachmittag hier gesagt, diese Lösung bedürfe keiner Änderung des geltenden Rechts. Dies hat Herr Maihofer nicht gesagt. Dies wäre ein Mißverständnis, denn selbstverständlich haben auch wir einen Gesetzentwurf formuliert, der genau das, was ich eben gesagt habe, vorsieht, nämlich exakt den Satz: „Mord, der zugleich die Voraussetzungen des Völkermordes nach § 220 a StGB erfüllt, wird unverjährbar gestellt". Das Gesetz müßte selbstverständlich geändert werden.
Sie sagen aber, dagegen spräche aus juristischer Argumentation, daß der heutige Völkermordtatbe-



Frau Matthäus-Maier
stand weiter gefaßt sei: er umfasse ja nicht nur Tötungsaktionen, Mordaktionen, sondern z. B. auch die Zwangsadoption von Kindern oder die Zwangssterilisation von bestimmten Bevölkerungsgruppen. Dies ist aber kein Gegenargument. Ich darf für die Zuhörer, die mit der Materie nicht ganz so vertraut sind wie diejenigen, die sich hier seit Wochen damit beschäftigen, darauf hinweisen: Der heutige § 220 a des Strafgesetzbuches, dessen ersten Teil ich auszugsweise zitieren möchte, lautet wie folgt:
Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören,
1. Mitglieder der Gruppe tötet,
2. Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche ... Schäden ... zufügt, ..., wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
Wir schlagen vor, daß aus der Menge aller Mordtaten, die es nicht nur im NS-Reich, sondern auch danach gegeben hat, diejenigen unverjährbar gestellt werden, die zugleich den Völkermord-Paragraphen — selbstverständlich nur in seiner ersten Alternative; denn das andere wird hier gar nicht relevant erfüllen. Dies ist juristisch sehr klar und eindeutig.
Politisch kann man darüber zwar diskutieren, aber ich meine, daß auch rechtspolitisch und politisch sehr viel dafür spricht. Warum? Ich meine, daß wir zu einer Aufhebung der Verjährung für Völkermordverbrechen zunächst auf Grund internationaler Verpflichtungen verpflichtet sind. Nicht nur die UN-Konvention über die Nichtverjährung von Kriegsverbrechen aus dem Jahre 1968, sondern auch Art. 7 der Menschenrechtskonvention von 1948 sowie das Abkommen des Europarates über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen von 1974 verpflichten die Bundesrepublik Deutschland zur Aufhebung der Verjährungsfrist für Morde, soweit sie die Voraussetzung des Völkermordes erfüllen. Ich darf daran erinnern, daß unter dem Tagesordnungspunkt, den wir heute behandeln, auch ein Antrag aus dem Europäischen Parlament angeführt wird, nämlich ein Antrag, den das Europäische Parlament erst vor wenigen Wochen mit der Aufforderung an alle seine Mitgliedstaaten, also auch an uns, verabschiedet hat, nämlich — ich zitiere wörtlich —... alle politischen und juristischen Vorkehrungen zu treffen , um eine Verjährung in diesen Fällen
— gemeint sind Kriegsverbrechen und Völkermord —
nicht eintreten zu lassen.
Wir greifen hier den Völkermord heraus, weil Kriegsverbrechen in unserem Strafgesetzbuch tatbestandsmäßig nicht erfaßt sind.
Meine Damen und Herren, Herr Wissmann sprach von der mangelnden Glaubwürdigkeit, die bei Aufhebung der Verjährung z. B. gegenüber der
Jugend eintreten würde. Ich frage umgekehrt: Wie wollen wir glaubwürdig dastehen — nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland —, wenn wir unserer Jugend und auch den übrigen Bevölkerungsgruppen nicht erklären können, warum wir trotz dieser internationalen Verpflichtungen, trotz der Entschließung des Europäischen Parlaments, der Aufforderung nicht nachkommen, die Mordverjährung aufzuheben?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und bei der SPD — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Nun ja, dazu fiele mir schon etwas ein!)

Unabhängig von der völkerrechtlichen Lage wäre es, glaube ich, für das Rechtsempfinden unerträglich, wenn von 1980 an Verbrechen und Verbrecher bekannt würden — und das würde mit Sicherheit der Fall sein —, die ihre Teilnahme an den Massenmordaktionen nicht nur zugäben, sondern die sich — und damit ist angesichts der Uneinsichtigkeit sehr vieler NS-Täter, die wir aus den Prozessen kennen, doch zu rechnen — ihrer Taten auch noch rühmten.

(Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Dazu hat Herr Kollege Kleinert Vorzügliches gesagt!)

Sie wissen, daß es bestimmte Presseorgane und auch Gruppen in unserem Lande gibt, die dieses begierig aufgreifen würden. Ich glaube, da würde die Glaubwürdigkeit wiederum außerordentlich beeinträchtigt. Mit welchem Recht könnten wir kleine Betrüger, kleine Diebe noch strafrechtlich zur Verantwortung ziehen, wenn wir nicht bereit sind, die Ausrottungsaktionen des Dritten Reiches durch Aufhebung der Verjährung auch über den 31. Dezember dieses Jahres hinaus weiter zu verfolgen? Deshalb muß die Verjährung aufgehoben werden.
Es gibt meiner Ansicht nach ein einziges gewichtiges Argument gegen diese Argumentation, nämlich die Position, die Thomas Dehler vor mehr als zehn Jahren beeindruckend bezogen hat. Aber dieser Argumentation ist meiner Ansicht nach die Grundlage entzogen: zum eine formell, weil das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1969 eine andere Entscheidung getroffen hat. Zum anderen aber auch, wie ich glaube, materiell: Verjährung ist nämlich nicht ein Kernstück liberaler Rechtspolitik, sondern ein Verfahrensinstrument, das in verschiedenen Ländern, die unserer Rechtsordnung vom Prinzip her sehr nahestehen — ich denke hier nicht etwa an' totalitäre Länder —, aber auch in verschiedenen geschichtlichen Phasen, sehr unterschiedlich oder gar nicht angewandt worden ist.
Schließlich — drittens — meine ich hinsichtlich der Argumente von Thomas Dehler, daß all die Gesichtspunkte, die man für eine Verjährung üblicherweise heranzieht, in dem vorliegenden Problembereich der NS-Verbrechen nicht zum Tragen kommen. Argumente wie Beweisschwierigkeiten, als unangemessen empfundene Freisprüche, Schutz der Rechtspflege vor Überforderung, mangelndes Bedürfnis nach Verfolgung, Rechtsfrieden und ähnliche Gesichtspunkte ziehen hier doch einfach



Frau Matthäus-Maier
nicht. Denn die Alternative ist ja nicht — darauf hat der Justizminister dankenswerterweise hingewiesen —: ab dem 1. Januar 1980 entweder neue Prozesse durch Aufhebung der Verjährung oder keine Prozesse. Das ist nicht die Alternative. Wir werden auch über das Jahr 1979 hinaus noch massenhaft, nämlich in Hunderten von Fällen, Anklagen und Prozesse haben.

(Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Und Freisprüche!)

— Völlig richtig: auch Freisprüche! - Das heißt: All die genannten Gesichtspunkte, die üblicherweise zu Recht für eine Verjährung sprechen, ziehen in dem vorliegenden Problembereich nicht, da die ohnehin bis zum Jahr 2000 zu führenden Prozesse mit diesen Problemen werden kämpfen müssen.
Im Gegenteil! Ich denke da an das Argument des Rechtsfriedens. Abgesehen davon, daß es Rechtsfrieden im Sinne eines abnehmenden Bedürfnisses nach strafrechtlicher Verfolgung solcher Taten wie in Auschwitz nicht geben darf,

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Gibt es denn jemanden von den Auschwitz-Leuten?)

tut die Justiz doch alles, keinen Rechtsfrieden eintreten zu lassen, indem sie sich in dem uns verbleibenden letzten halben Jahr ernsthaft bemüht, durch Verjährungsunterbrechung dafür zu sorgen, daß wir auch noch nach 1980 zusätzliche Prozesse durchführen können.
Es läuft also alles darauf hinaus, daß wir einen Rest von einigen wenigen NS-Verbrechern haben werden — wahrscheinlich 4 oder 5 oder auch 10 % —, bei denen eine Verjährung eintritt, während in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle eine Strafverfolgung auch nach 1980 erfolgt. Ich halte dies aber für eine durch den puren Zufall entstandene Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte und gleicher Täter. Ich glaube, daß die Öffentlichkeit diese willkürliche Ungleichbehandlung auch als solche empfinden würde.
Diese willkürliche Ungleichbehandlung würde unter Umständen bis in einen konkreten Prozeß hineinwirken. Ich darf daran erinnern, daß Völkermord ein kollektives Verbrechen ist. Nicht einzelne können aus eigenem Antrieb Völkermord begehen, sondern nur kriminelle Herrschaftssysteme, an deren Aktionen sich einzelne als Initiatoren, eigenmächtig Handelnde oder Befehlsempfänger beteiligt haben, sind dazu imstande.
Wegen dieser organisatorischen und ideologischen Verflechtungen der einzelnen Taten miteinander kann Völkermord nur als einheitliches Geschehen beurteilt und abgeurteilt werden.
Nun kann es passieren, daß in einem Prozeß, der einen Tatkomplex betrifft, einige Täter auf der Anklagebank sitzen, deren Taten behandelt werden, aber auf der anderen Seite — dies hat uns Herr Rückerl in der Anhörung der FDP-Fraktion deutlich gesagt — in dem gleichen Komplex 12 oder 15 Täter vorhanden sind, von denen man weiß, daß es sie gibt, deren Taten man kennt, deren Namen man
jedoch nicht kennt. Diese Namen könnten ja ab 1980 bekanntwerden. Dann führen wir den Prozeß gegen die angeklagten Täter zu Ende, während die anderen, vielleicht 12 oder 15 Täter, die wir dann nicht nur kennen, sondern derer wir dann habhaft werden • können, frei davonkommen. Meine Damen und Herren, ich glaube, das wäre eine unerträgliche Belastung für die noch laufenden NS-Prozesse.
Dies erfordert, wie ich finde, aber nicht eine generelle Aufhebung der Verjährung von Mord. Organisierte Massenmordaktionen, die unter Ausnutzung des staatlichen Herrschaftsapparats an ganzen Bevölkerungsgruppen begangen worden sind, haben eine andere Qualität als sonstige Mordtaten. Bereits die Zerstörungsdimension, die Größenordnung der Verbrechen, ist mit derjenigen anderer Straftaten nicht vergleichbar. Nicht einzelne sind ihre Opfer, sondern die Existenz ganzer Bevölkerungsgruppen ist bedroht. Das verleiht solchen Verbrechen für die Völkergemeinschaft insgesamt, nicht etwa nur für uns, eine Bedeutung, die individuelle Straftaten nicht haben.
Genau das war es, Herr Kollege Wehner, was Herr Kollege Maihofer mit seinem Satz meinte: Über Auschwitz darf kein Gras wachsen.
Dem entspricht es im übrigen, daß Völkermord in unserem Strafgesetzbuch schon heute eine Sonderstellung einnimmt. Wir greifen also mit unserem Entwurf nur die heute schon vorhandene Sonderstellung des Völkermordes auf und knüpfen daran die Tatsache der Unverjährbarkeit. Es ist eine Sonderstellung in zwei Punkten: Der Völkermord ist nicht nur in einem speziellen Tatbestand außerhalb des Mordparagraphen geregelt, nämlich in § 220 a, er ist außerdem das einzige Delikt, für das heute bereits für zukünftige Taten die Unverjährbarkeit durch dieses Parlament festgeschrieben worden ist. Es geht also nach unserem Entwurf einfach darum, diese ohnehin vorhandene Unverjährbarkeit auch rückwirkend festzuschreiben, und zwar für Mordtaten, die zugleich den Völkermordtatbestand erfüllen. Dies ist weder eine unzulässige Rückwirkung noch eine unangemessene Ausweitung.
Wir glauben, die generelle Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord würde diese Sonderstellung, die Ausdruck der ganz besonderen, andersartigen kriminellen Qualität und der internationalen Dimension des Völkermordes ist, nachträglich wieder einebnen.
Nun wird eingewandt — das wäre, falls zutreffend, sicher ein schwerwiegendes Argument —, gegen die Aufhebung der Verjährung spreche das gerade von Liberalen als Zweck des Strafrechts immer wieder genannte Resozialisierungsprinzip. Dem ist zweierlei entgegenzuhalten. Zum einen sind die meisten NS-Täter nicht im echten Sinne resozialisiert. Das möchte ich klar und deutlich sagen. Wenn sie, ohne neue Straftaten zu begehen, unter uns leben, ist das allein ja noch keine Resozialisierung.



Frau Matthäus-Maier

(Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Was verlangen Sie denn eigentlich?)

— Wie das Verhalten der meisten Angeklagten in zahlreichen Prozessen zeigt, haben sie doch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht einmal bei den erschütterndsten Schilderungen von Vorgängen, z. B. im KZ, so etwas wie Betroffenheit oder Distanzierung von der Tat oder auch nur Mitgefühl oder Reue oder eine sonstige menschliche Regung zum Ausdruck gebracht.
Zum anderen aber muß bei der Strafbarkeit des Völkermordes meiner Ansicht nach die Generalpräventive, d. h. die abschreckende Wirkung, im Vordergrund stehen. Um es ganz deutlich zu sagen: niemand, der sich in welchem Land auch immer und mit welcher Ideologie auch immer unter Ausnutzung des staatlichen Machtapparates an Verbrechen des Völkermordes beteiligt, darf darauf hoffen können, daß er, wenn er sich nur erfolgreich 20 oder 30 Jahre lang im Ausland verborgen hält, danach wieder auftauchen kann, ohne für seine Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Herr Erhard hat heute Eugen Kogon mit dem Satz zitiert: „Totalitäre Regime können nur so 'lange bekämpft werden, solange sie nicht etabliert sind." Ich finde es sehr gut, daß dies hier zitiert worden ist. Ich meine aber, es spricht gerade auch für diese Lösung, nämlich für die negative Heraushebung des Völkermordes. Wir müssen für die Zeit, die vor der Etablierung eines solchen Regimes liegt, bei. allen potentiellen Tätern das Bewußtsein wachhalten: Auch wenn sich dieses Regime, z. B. das NS-Regime, hier etabliert, dann kann ich nicht unter dem Schutz dieser Ideologie Verbrechen begehen, die irgendwann einmal der Verjährung anheimfallen. Vielmehr muß die internationale Achtung solche Verbrechen ohne zeitliche Begrenzung verfolgen.
Nun wird von Herrn Vogel entgegengehalten — das 'greife ich als letzten Punkt noch auf —, nicht alle Gruppen von NS-Morden würden durch die Aufhebung der Verjährungsfrist für Völkermord erfaßt. Dies ist richtig. Allerdings stehen nicht alle von Ihnen genannten Beispiele hier entgegen. Sie nennen z. B. Priester. Diese kann man durch die „Absicht der Vernichtung religiöser Gruppen" einbeziehen. Oder nehmen sie z. B. die Euthanasie-Fälle! Diese fallen zwar 'in der Tat nicht unter den Tatbestand des Völkermordes, aber ich darf darauf verweisen, daß Herr Rückerl in der Anhörung in unserer Fraktion gesagt hat: Die Euthanasiefälle sind praktisch abgeschlossen — ich zitiere nur Herrn Rückerl —, so daß dort faktisch keine Probleme mehr liegen. Es gibt sicher noch andere NS-Morde, die nicht unter § 220 a fallen.
Ich darf hier ein Beispiel nennen - ich habe lange darüber nachgedacht, wie man dieses Problem lösen könnte —, nämlich die Homosexuellen, die das NS-Regime ja auch zu Zigtausenden in die KZs gesperrt und zu Tode gebracht hat.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU] : Und die keine Entschädigung kriegen!)

— Und die auch keine Entschädigung kriegen, höre ich gerade. Das ist noch ein Sonderproblem, das sehr viel Unverständnis gegenüber dieser Bundesrepublik Deutschland hervorruft.
Ich darf Ihnen sagen: Dies ist zweifellos etwas, was an unserem Entwurf ungenügend ist. Da gebe ich Ihnen recht. Doch wenn man die Alternativen abwägt, einerseits einen vorhandenen, in unserem Strafgesetzbuch schon existierenden Tatbestand, nämlich .den des Völkermordes, als Anknüpfungspunkt für die Aufhebung der Verjährung aufzugreifen, andererseits sich aber in die Gefahr zu begeben, daß man, wenn man die Verjährung generell aufhebt, den Unterschied im Unwertgehalt zwischen Völkermord und sonstigen Mord einebnet, halte ich diesen Nachteil für eher hinnehmbar als die generelle Lösung, die da sagt, wir heben die Verjährung generell auf. •

( V o r si t z : Vizepräsident Stücklen)

Sie, Herr Vogel, sagen: Wer ein Exzeßtäter ist, wer also nicht selber in der Absicht des Völkermordes gehandelt hat, kann nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dies ist nicht richtig. Es ist anerkannt und ausdiskutiert, daß ein Exzeßtäter, der einen Mord begeht, gleichzeitig Gehilfe im Sinne des Völkermordtatbestandes sein kann, wenn er zwar nicht in eigener Absicht der Vernichtung 'einer bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppe gehandelt hat, die Völkermordabsicht eines anderen aber unterstützt hat; er ist dann Gehilfe des Völkermordes, würde also nach unserer Lösung materiell als Mordtäter verurteilt werden und formell als Gehilfe des Völkermordes unverjährbar stehen.
Ein letztes, was Herr Professor Maihofer schon ansprach: Mit Sicherheit wäre der Völkermordtatbestand dann als unzureichend anzusehen, wenn er nicht, wie wir es ja vorsehen, um ein Tatbestandsmerkmal erweitet würde, nämlich um das Tatbestandsmerkmal der Vernichtung politischer Gruppen. Der Anwendungsbereich des Völkermordtatbestandes hat nämlich heute eine Lücke, eine Lücke übrigens, die er bei der Schaffung dieses Tatbestandes international nicht hatte. Ursprünglich war in der Genozid-Konvention nämlich vorgesehen, daß auch die Absicht der Vernichtung politischer Gruppen unter „Völkermord" einzuordnen ist, und es war — das zitiere ich hier ausdrücklich — die UdSSR, die darauf gedrungen hat, daß diese Einbeziehung politischer Gruppen nicht in die endgültige Fassung der Genozid-Konvention aufgenommen worden ist.
Wir meinen, es steht der Bundesrepublik Deutschland gut an, diesen seit langem als eine erhebliche Lücke in der Genozid-Konvention empfundenen Mangel zu beseitigen. Die Bundesrepublik Deutschland würde damit zugleich über den Tag hinaus ein Zeichen setzen, ein Zeichen ihres unbedingten Willens, jeden, auch den gegen politische Gruppen gerichteten Völkermord nach ihrem Völkermordtatbestand zu ahnden und unverjährbar zu stellen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der SPD)





Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0814505600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Blumenfeld.

Erik Bernhard Blumenfeld (CDU):
Rede ID: ID0814505700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich ergreife zu dieser Stunde nur sehr zögernd das Wort, erstens deshalb, weil ich am heutigen Tage zu den wenigen gehöre, die
neben unseren hochrangigen Juristen, deren hochqualifizierte Beiträge wir gehört haben — als Nichtjuristen hier sprechen, zweitens deswegen, weil ich eigentlich der Auffassung bin, daß es, wie vorhin auch von meinem Kollegen Klein vermerkt wurde, kaum noch ein neues Argument gibt, das in die Debatte eingeführt werden kann. Gleichwohl stehe ich hier, well ich eine Berechtigung verspüre, doch noch etwas beizutragen, und zwar nicht nur als Unterzeichner unseres Gruppenantrages, sondern auch weil ich im September des vergangenen Jahres nach einer mich und meine Kollegen aus dem Bundestag tief bewegenden Aussprache mit Mitgliedern der Knesset und mit israelischen Bürgern, die zu einem deutsch-israelischen Symposium zu uns nach Bonn gekommen waren, die Notwendigkeit verspürte, den Herrn Bundestagspräsidenten über unsere Beratungen und das Ergebnis unserer Aussprache zu informieren und dann auch die Herren Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen entsprechend zu unterrichten. Daraus ergab sich ja auch eine Initiative des Herrn Kollegen Wehner. Ich stehe nicht an, zu sagen, daß ich froh bin, daß wir so frühzeitig diese Diskussion begonnen haben; denn unsere Debatte heute — wie auch in den vergangenen und in den kommenden Wochen — erfährt ihre besondere Bedeutung vor dem Hintergrund, daß Mordtaten aus der nationalsozialistischen Vergangenheit, soweit die Verjährung noch nicht unterbrochen ist, nach dem 31. Dezember dieses Jahres strafrechtlich nicht mehr verfolgbar wären, falls es bei der derzeitigen gesetzlichen Frist bleiben sollte.
Viele Menschen in unserem Lande, insbesondere aber auch diejenigen, die politische Verantwortung tragen, sind darüber mit Recht — und nicht erst seit der Fernsehsendung „Holocaust" — nachdenklich geworden. Dies ist gut so, weil sich zeigt, daß das Gewissen im freien Teil Deutschlands heute lebendig ist und nicht nur eine schöne politisch-moralische Vokabel.

(Zustimmung des Abg. Wehner [SPD])

Die Diskussion um das Für und Wider der Verjährung bei der schlimmsten Verbrechensart, die unser Recht kennt, der brutalen Mißachtung allen menschlichen Lebens, wird hier im Hause zwar kontrovers, aber mit großem Ernst und auf einem rechtspolitisch wie moralpolitisch hohen Niveau geführt. Jeder in diesem Hause, gleich auf welcher Seite er bei der Entscheidung, die wir zu treffen haben, stehen wird, ist sich mit mir in der Verurteilung der Verbrechen der Nazi-Zeit und der Notwendigkeit der Sühne dieser schwersten Mord- und Gewalttaten unserer Geschichte einig.
Auch wenn die Lösung dieses speziellen Problems eine Frage — wenn man sie rein formal betrachtet — des Strafgesetzbuches und der Strafprozeßordnung ist, hat die Aufhebung der Verjährung einen noch wesentlich höheren Rang als etwa nur — und ich sage das „nur" nicht abqualifizierend — rechtspolitische Bedeutung.
Ausgelöst — ich wiederhole es — und überlagert werden unsere heutige Debatte und die Entscheidung durch die NS-Verbrechen, die keinen historischen Vergleich in bezug auf die Einmaligkeit ihrer verbrecherischen Tragweite und deren Unerträglichkeit und Grausamkeit kennen.
Ich stehe sicherlich nicht alleine, sondern wohl in der Reihe aller Mitglieder dieses Hohen Hauses, wenn ich erkläre, daß es für uns unvorstellbar wäre, wenn Verbrecher aus der NS-Zeit, Menschen, die schwere Schuld auf sich geladen haben und die nach dem Stichtag am 31. Dezember 1979 auftauchen, ungeschoren und unbestraft davonkämen, nur weil ein bestimmtes Datum maßgeblich gewesen wäre.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich sage das als einer der wenigen, die heute noch diesem Hause als Abgeordnete angehören und die die NS-Zeit als Verfolgte überlebt haben, als Insasse des Konzentrationslagers Auschwitz und des Konzentrationslagers Buchenwald und von Gestapo-Gefängnissen, Prinz-Albrecht-Straße und anderen, als einer, der das Inferno Auschwitz durch Glück und Zufall überlebt hat. Da ein Teil meiner Familie und meiner Freunde ausgerottet worden ist, weiß zumindest ich, wovon ich spreche, wenn ich von den Opfern spreche, die hier heute so beredt beschworen worden sind. Deswegen kann auch ich nicht anders, als hier eine sehr klare Position zu beziehen.
Meine Damen und Herren, diese Freveltaten wider die Menschlichkeit haben — und das sage ich als ein Betroffener — schwere Schatten auf unser Land geworfen. Und ich stehe mit Ihnen allen in derselben Verantwortung unserer Geschichte und stehle mich nicht aus dieser Verantwortung hinaus.
Es ist von niemandem in dieser Debatte — und ich vermerke das mit großer Genugtuung — verschwiegen worden, daß wir für diese Freveltaten geradezustehen haben. Deswegen kommt auch unserer Debatte ein so stark zu beachtendes politisches Moment zu.
Mein Kollege Gradl und die übrigen Freunde, die mit mir zusammen den Gruppenantrag eingebracht haben, haben aber nicht nur auf die Vergangenheit abgestellt,

(Katzer [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

sondern auch auf die Gegenwart und die Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben etwa auf die brutalen Gewalttaten sogenannter politischer Terroristen und auch auf die Gewalt- und Mordtaten abgestellt, mit denen die Deutschen jenseits der Grenze überzogen werden,



Blumenfeld
Auch für diese Taten gilt, daß es keine Verjährung geben darf.
Wenn die Todesstrafe bei uns aus guten Gründen abgeschafft worden ist, gibt es für mich — Herr Kollege Mikat hat das gesagt — umgekehrt auch keinen durchschlagenden Grund, die Strafverfolgbarkeit von Schwerstverbrechen, d. h. Mord, zu beschränken, also eine Verjährung zuzulassen. Die von meinen Kollegen und mir bejahte Aufhebung der Verjährung von Mord hat nichts mit dem Strafmaß, nichts mit dem Strafvollzug im Einzelfall zu tun. Es geht mir und den Kollegen, die für die Aufhebung der Verjährung plädieren, darum, eine einmal ermittelte Mordstraftat grundsätzlich noch ahnden zu können, gleichgültig, wann sie begangen worden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)

Der Herr Kollege Kleinert und, wie ich glaube, auch der Kollege Erhard haben heute früh in ihren Darlegungen die auch von mir respektierte Konsequenz angesprochen, daß das menschliche Streben nach Gerechtigkeit nicht nur im Irdischen allgemein, sondern auch im strafrechtlichen Bereich irgendwo eine Grenze haben müsse. Meine Antwort darauf ist, daß wir mit der Aufhebung der Verjährung eben den Weg zum ordentlichen Gerichtsverfahren offenhalten wollen, um dann im demokratischen Rechtsstaat im Gerichtsverfahren ein Urteil sprechen zu lassen, und zwar mit all den Schwierigkeiten, die hier vorgetragen worden sind und die ich nicht klein ansetze.
Die Frage einer etwaigen Begnadigung ist ein anderes Kapitel, das mit der Vorfrage der Verjährbarkeit von Mord nach meiner persönlichen Auffassung wenig zu tun hat. Ich halte es nicht für zweckmäßig, diese Frage mit der Verjährbarkeit zu verknüpfen. Der Gnadenerlaß und die Frage des Rechtsfriedens müsse hiervon gesondert erörtert und entschieden werden.
Der Herr Kollege Stauffenberg hat heute in seiner beachtlichen Rede dargetan, daß wir der Justiz zuviel an Aufgaben aufbürden und damit ihre eigentliche Position schwächen, daß wir, wenn ich es richtig verstanden habe, die Rechtsautorität und den Rechtsfrieden schwächen, wenn wir immer weitere Prozesse anlaufen lassen, die dann mit einem Freispruch enden. Dazu muß ich Ihnen sagen, daß es heute schon — bei der Unterbrechung der Verjährung — zu Freisprüchen kommt und diese Unterbrechung der Verjährung durch richterliche Verfügung schon besteht. Nach meiner Auffassung wird sich also bei einer Aufhebung der Verjährung überhaupt kein qualitativer Unterschied im Hinblick auf die Autorität, die Sie angesprochen haben, ergeben.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang bitte einige wenige Anmerkungen zu dem Spannungsverhältnis von Recht und Gnade. Ich erlaube mir, dies als jemand zu sagen, der zu der Kategorie der Menschen gehört, die so etwas unwidersprochen aussprechen dürfen, weil sie zu den Opfern gehören. Diejenigen unter uns, die Opfer zu beklagen haben, wissen, .was ich damit sagen will. Ebensowenig wie schlechthin Gnade vor Recht gehen kann, weil damit unser gesamtes Rechtssystem entscheidend beeinträchtigt würde, kann und darf gelten, daß sich Lebensläufe im Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat ausschließlich nach strengen rechtlichen Maßstäben zu richten haben. Dies wäre zu schroff, zu kalt, zu schematisch. Gerade um unsere Rechtsordnung voll zur Wirkung kommen zu lassen und dafür zu sorgen und von staatlicher Seite aus mit dazu beizutragen, daß die Bürger die Rechtsordnung als ihre eigene anerkennen, müssen sich die Kanten und Eckén des Rechts durch Gnade, allerdings zur rechten Zeit und am richtigen Ort, abschleifen lassen. Recht ohne Gnade wäre kein menschenwürdiges Recht, auf das letztlich alle Rechtsordnungen in den meisten europäischen Ländern aufgebaut sind. Aber die Mörder, die unter uns sind, dürfen niemals, solange sie noch unter uns sind, in diesem Sinne hoffen. Sie müssen der Gemeinschaft gegenüber für schwerstes kriminelles Unrecht verantwortlich bleiben. Darum geht es.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie bei der SPD)

Das ist der Unterschied zu dem meiner Meinung nach nicht statthaften Vergleich, der heute von einem Redner im Hinblick auf den Freislerschen Volksgerichtshof zur Nazizeit gezogen wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)

Das geht nicht, hier leben wir im Rechtsstaat, dort war das Sonderrecht, das Gewaltrecht der Nazis, wo niemand, der angeklagt war, das Recht finden konnte.
Jeder einzelne von uns wird nach seinem Gewissen entscheiden. Hierbei ist es für mich besonders wichtig, daß unsere Verfassung, unser Grundgesetz kein anderes Rechtsgut so hoch wie das menschliche Leben einschätzt und es allen anderen Gütern deutlich voranstellt. Mord darf deswegen keinen Verjährungsschranken unterworfen sein, das Strafrecht darf den Schutz des menschlichen Lebens unter keine wie auch immer geartete Zeitgrenze stellen. Leben ist unteilbar, und Mord ist unverjährbar.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)

Schon 1965 und 1969 — ich habe in diesem Hohen Hause an den Beratungen teilgenommen — galt für uns, daß einmal begangener Mord seinen Unrechtscharakter nicht verliert, wenn er aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht mehr verfolgt wird oder nicht mehr verfolgt werden kann. Eine mögliche Verjährung macht eine einmal begangene Mordtat nicht ungeschehen, lediglich ungesühnt. Mord ist keine von vielen Straftaten im Katalog der tausend Straftatbestände, sondern das schwerste Unrecht überhaupt. Deswegen hatte die Bundesregierung schon 1969 vorgeschlagen, Mordverjährung gänzlich aufzuheben. Der Bundeskanzler hat heute früh gesagt, wir kennten ja das Schicksal dieser Bundesregierungsvorlage. Wir kennen sie, und wir wissen auch, warum wir damals anders entschieden



Blumenfeld
haben. Ich bedaure, daß wir damals so entschieden haben.
Ich will dem Bundeskanzler eine Antwort auf die Frage geben, die er an den Kollegen Gradl, mich und andere gerichtet hat. Für uns ist der erste Satz unseres Antrages entscheidend: „Die Strafverfolgung von Mord unterliegt nicht der Verjährung." Wie dies im parlamentarischen Verfahren verläuft, ist für mich jedenfalls im Moment nicht vorrangig.
Zum Abschluß möchte ich noch ein ganz kurzes Wort zu den Reaktionen im Ausland anfügen. Ich habe sowohl im Europäischen Parlament als auch in Israel, in Osteuropa, in den Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahren und Monaten immer wieder erklärt, daß diese von uns hier im Bundestag zu treffende Entscheidung nicht durch irgendwelchen politischen Druck oder durch irgendwelche Pressionen seitens des Auslandes beeinflußt oder gar bestimmt werden kann und wird. Es geht hier ausschließlich um die eigenverantwortliche Entscheidung jedes einzelnen von uns, um die freie Gewissensentscheidung des politisch Verantwortlichen. Wenn dabei Stimmen des Auslandes mit der Mehrheit der deutschen Entscheidungsträger übereinstimmen, können wir dies freilich nur begrüßen.
Die Resolution des Europäischen Parlaments, dem ich angehöre, zwingt uns aber, uns mit dieser Meinung der großen Mehrheit des europäischen und des außereuropäischen demokratischen Auslandes nicht nur auseinanderzusetzen, sondern darauf zu hören; denn die Verbrechen von damals sind in Europa begangen worden, und auch heute schaut Europa auf uns, wie wir uns beim Ende der Beratungen entscheiden werden. Ich hoffe, die Entscheidung wird richtig und vertretbar sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0814505800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hartmann.

Klaus Hartmann (CSU):
Rede ID: ID0814505900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zwei Feststellungen möchte ich angesichts des absehbaren Endes dieser Debatte treffen.
Erstens. Die „FAZ" schreibt heute:
Man sagt Mord, aber in Wahrheit meint man allein die NS-Morde. Ginge es nicht aufrichtiger?
Es ist erfreulicherweise im Lauf dieser Debatte hinreichend deutlich zutage getreten, daß diese Debatte hic et nunc nicht stattfände, wenn das Datum des Verjährungseintritts am Ende dieses Jahres nicht in konkretem Bezug zu NS-Verbrechen stünde.
Zweitens. Auch diese Verjährungsdebatte 1979 wird mit großem Respekt vor der jeweils anderen Meinung geführt. Indessen: Viel Neues außer der Variante des Herrn Kollegen Professor Maihofer habe ich, der ich die Debatten von damals sehr genau nachgelesen und gedanklich nachvollzogen habe, heute nicht gehört. Neu ist allenfalls, daß die Grenzen zwischen den verschiedenen Auffassungen
heute etwas anders als damals durch dieses Haus verlaufen, und anders als damals ist, so scheint mir, die Argumentation derer, die die Mordverjährung ganz aufheben wollen, heute von mehr Emotionalität geprägt. Vielleicht ist dies eine Folge der unbestreitbaren Tatsache, daß wir Ausmaß und Abscheulichkeit der unter dem Nationalsozialismus begangenen Massenverbrechen heute besser ermessen können als noch vor zehn Jahren. Vielleicht — das sage ich, ohne damit ein Werturteil zu verbinden — soll Emotionalität aber auch bewirken, was strikte Rationalität über die Entscheidungen von 1965 und 1969 hinaus nicht mehr zu begründen vermag.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ist der Deutsche Bundestag, wie heute mehrmals behauptet, der gebotenen letzten Konsequenz nur ausgewichen, als er 1965 das Berechnungsgesetz beschloß und 1969 die 20jährige Verjährungsfrist um zehn Jahre verlängerte? Ich meine: Nein. Denn schon damals stand die Aufhebung der Verjährung von Mord — nicht nur von Völkermord — zur Diskussion. Als einer, der dem Bundestag damals noch nicht angehört hat, glaube ich vielmehr, daß der Gesetzgeber es seinerzeit bei einer Grundentscheidung unseres Strafrechts bewußt und abschließend hat bewenden lassen wollen,

(Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

die lautet: Auch Mord verjährt.
Ich habe nach gewichtigen Stimmen gesucht,. die die Entscheidung von 1969 damals kommentiert haben. Gewichtig erscheint mir die Stellungnahme des ehemaligen stellvertretenden US-Hauptanklägers in den Nürnberger Prozessen, Dr. -Robert Kempner. Ich zitiere:
Das Neunte Strafrechtsänderungsgesetz über die Aufhebung der Verjährung für Völkermord und die Verlängerung der Verjährungsfristen für Mord auf 30 Jahre ist eine Art Rahmenordnung. Dieser Rahmen ist von verschiedenen Parteien gezimmert und gebaut worden. Darüber hinaus ist er aber nicht allein im deutschen Raum errichtet worden; diese Gesetzgebung hat selbstverständlich frühere Gesetze verschiedenster Grundhaltungen berücksichtigen müssen, die im Laufe der Zeit über die Verfolgung der NS-Verbrechen verkündet worden sind. Da sind deutsche Gesetze und alliierte Gesetze noch aus der früheren Besatzungszeit. Mit dem Neunten Strafrechtsänderungsgesetz wurde gleichsam ein Verjährungs-Schlußgesetz geschaffen. Dieser Schlußstein der Verjährungsgesetzgebung enthält viele Elemente des Ausgleichs. Auf der einen Seite werden Forderungen an die Justiz gestellt, die in Wirklichkeit überirdisch sind, Forderungen, die nicht erfüllt werden können, und auf der anderen Seite solche, die eine Justiz wirklich leisten kann.
Das Ergebnis ist — ich möchte es mit einem Wort sagen — befriedigend. Diese Lösung kann nicht alle zufriedenstellen, aber sie genügt der Mehrzahl aller gut und gerecht denkenden
11634 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag,, den 29. März 1979
Hartmann
Menschen nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Kulturwelt.
Die früheren Besatzungsmächte, aber auch darüber hinaus die verschiedenen anderen alliierten Mächte haben, jede für sich und ganz und gar nicht übereinstimmend, in der Frage der Verjährung und der Verfolgung von NS-Verbrechen besondere Bestimmungen geschaffen, die heute noch fortwirken. Ich muß allerdings sagen, daß die Rechtssicherheit und Rechtsklarheit dadurch alles andere als positiv beeinflußt worden sind. Die heute mehrfach dargestellten praktischen Konsequenzen der bis 1969 getroffenen Verjährungsentscheidungen hat Robert Kempner nach 1969 für hinnehmbar und befriedigend gehalten, und ich meine, dabei kann man es bewenden lassen.

(Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Da waren noch andere, die haben das getan, die wollen heute nichts mehr davon wissen!)

— So ist es. Ich könnte eine ganze Reihe anderer Zitate aus der damaligen Zeit anfügen. Ich muß dies leider aus Gründen der Zeit unterlassen.
Im Falle der Einstellung eines Verfahrens wegen Verjährung, so meinte Kempner, müßten und könnten die Entscheidungen der Justiz so begründet werden, daß die Öffentlichkeit im In- und Ausland sehen werde, daß die Justiz das Mögliche an Verfolgungshandlungen getan und gute Arbeit geleistet habe, auch wenn eine mit einem Urteil endende Hauptverhandlung gegen den Täter nicht mehr stattfinden kann.
Meine Damen und Herren, die Verjährung ist kein Rechtsinstitut ad favorem rei — zur Begünstigung eines Missetäters durch Zeitablauf, durch zufälligen Zeitablauf. Sie soll vielmehr für die Justiz die Grenzen der Sühnbarkeit individueller Schuld markieren. Die Frage, wo diese Grenze zeitlich zu ziehen ist, kann keineswegs allgemeingültig beantwortet werden, aber irgendwo muß sie gezogen werden, und der Bundestag hat sie • nach Maßgabe seiner Entscheidungen von 1965 und 1969 gezogen.
An dieser Stelle möchte ich erwähnen, daß das Rechtsinstitut der Verjährungsunterbrechung in der gesamten Verjährungsdiskussion meines Erachtens nicht ausreichend in Rechnung gestellt, sondern unterschätzt wird. Es handelt sich dabei durchaus um ein Instrument, mit welchem einer möglichen unbilligen Begünstigungswirkung der Verjährung wirksam entgegengetreten werden kann.
„Wehe dem Staat, der nicht genügend von seinen Mördern abrückt", hat der Schriftsteller Maximilian Harden in den 20er Jahren gesagt. Professor Süsterhenn hat 1969 von dieser Stelle aus festgestellt, daß es für unser Volk unerträglich wäre, mit erkannten, überführten, für verantwortlich erklärten Massenmördern auf rechtsgleicher Basis innerhalb unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates zusammen zu leben. Auf der anderen Seite aber sind der tatsächlich zu verwirklichenden Gerechtigkeit gewissermaßen biologische Schranken gesetzt. Darin liegt ein Zielkonflikt. Verfolgt, gerecht verurteilt kann eben nur werden, wenn dies entsprechend den rechtsstaatlichen Prinzipien unserer Rechtsordnung
eben noch möglich ist. Es geht nicht um die Durchführung eines Strafverfahrens unter jedweden. Umständen, sondern um gerechte Sühne für das schwerste aller Verbrechen, für Mord. Dies steht bei Abschaffung der Verjährung in Frage.
Dabei kann nach meinem Dafürhalten auch kein Unterschied gemacht werden zwischen der Verjährung von NS-Morden und anderen Morden, so wie es Herr Kollege Professor Maihofer vorschlägt. So immens die Unterschiede im Tatbestand und im Unrechtsgehalt auch sein mögen, die Erkenntnisfähigkeit der Gerichte ist nicht um so größer, je scheußlicher die zu verfolgende Tat ist.

(Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

Ich meine auch, daß der Gleichheitssatz unserer Verfassung dem Vorschlag des Herrn Kollegen Professor Maihofer entgegensteht.
Mit allen Vorrednern stimme ich darin überein, daß der Eintritt der Strafverfolgungsverjährung weder mit Tabula rasa oder Schlußstrich oder Amnestie noch mit Begnadigung oder Verzeihung oder gar Heilung begangenen Unrechts zu tun hat. Wir sollten es uns auch nicht so einfach machen, die Bewältigung unserer Vergangenheit den zuständigen Staatsorganen, nämlich der Justiz zu überbürden, denn dies würde im Endeffekt möglicherweise, wahrscheinlicherweise dazu , führen, daß die Bewältigung der Vergangenheit letztlich als eine Staatsangelegenheit angesehen wird und nicht mehr als eine Last, die unser ganzes Volk zu tragen und aus der jeder von uns seine eigenen Konsequenzen zu ziehen hat. Jeder Deutsche muß von sich sagen können: Ich, ganz persönlich, stehe in meinem Lebenskreis dafür, daß in Deutschland Unrecht wie unter dem Nationalsozialismus nie mehr begangen wird. Und niemand soll sagen: Die Bewältigung der Vergangenheit ist Sache der Justiz und geht mich persönlich nichts an.
Unsere letztgültige Antwort auf das Unrechtsregime des Dritten Reiches ist der freiheitliche demokratische Rechtsstaat. Es war Ewald Bucher, Freier Demokrat und ehemaliger Justizminister unseres Landes, der sagte, daß gerade diejenigen ausländischen Staaten, die durch ihren militärischen Sieg über den Nationalsozialismus es erst ermöglicht haben, daß bei uns ein freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat entsteht, es uns nicht ansinnen sollten, bewährte Prinzipien unserer Rechtsordnung zur Disposition zu stellen.
Blättert man in den alten Protokollen von 1965 und 1969, so findet man Sätze, wie diese — ich mache sie mir vollinhaltlich zu eigen —:
Wir sind uns einig im Abscheu vor den vom NS-Regime veranlaßten und unter ihm begangenen Untaten; wir sind uns einig in dem gemeinsamen Bestreben, durch Entwicklung des Rechtsstaates ähnliche unheilvolle Entwicklungen auch für die Zukunft unmöglich zu machen. Wir bekennen uns zu der moralisch wie rechtlich begründeten Wiedergutmachung an den Opfern des NS-Regimes, soweit dies überhaupt möglich ist. Daß das nicht nur schöne Worte



Hartmann
sind, hat die Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren durch praktisches Handeln bewiesen. Dies ist auch von den Betroffenen anerkannt worden. Ebenso entschieden wenden wir uns aber auch gegen jedes Unrecht ähnlicher Art, mag es begangen worden sein oder noch begangen werden, durch wen immer und an wem immer. Ich glaube
— so sagte Professor Süsterhenn 1969 weiter —,
daß wir uns zu dem Gedanken von der unteilbaren Gerechtigkeit bekennen müssen. Man kann nicht die Gerechtigkeit partiell sehen und die Gerechtigkeit — oder auch die Ungerechtigkeit — nur für ein Volk konstatieren und dieses Problem im übrigen für die Gesamtheit der Völker innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft als nicht existent betrachten. Das hat mit Aufrechnung nichts zu tun, sondern es ist eine Forderung der objektiven, unteilbaren Gerechtigkeit, daß man schuldhaftem Handeln in aller Welt gleiche Beachtung schenken sollte.
Meine Damen und Herren, niemand in unserem Lande, niemand unter denjenigen, die die Mordverjährung nicht abschaffen wollen, denkt daran, einen Mörder seiner verdienten Strafe zu entziehen. Aber — dieser Satz von Rainer Barzel wurde heute bereits zitiert — wir sind nicht das Jüngste Gericht. Die Forderung nach absoluter und letzter Gerechtigkeit gegenüber irdischer Justiz oder die Anmaßung der Justiz, noch jenseits aller zeitlichen und biologischen Grenzen gerecht urteilen zu können, wäre Hybris.
Lassen Sie mich schließen mit einem Wort von Friedrich Zimmermann, ebenfalls aus der Verjährungsdebatte 1969:
Wir hoffen auf den freien und souveränen Spruch der Geschichte, die nicht nach einer fast mechanisch gewordenen Abwicklung von Prozessen fragt, sondern die einem Volk, das sich von einer bösen Vergangenheit abkehrt, und einer neuen Generation, die entschlossen den Weg des Friedens geht, auch die Chance gibt, ohne verewigte Demütigung seine Aufgaben in dieser Welt zu erfüllen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0814506000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hansen.

Karl-Heinz Hansen (SPD):
Rede ID: ID0814506100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte über die Verjährung von Mord darf nicht beim Austausch vorwiegend juristischer Argumente stehenbleiben. Vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit, endlich Schluß zu machen mit der individuellen und kollektiven Verharmlosung und Verleugnung unserer nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Reaktionen auf Holocaust haben bewiesen,wie diese Vergangenheit verdrängt ja, mehr noch, weggelogen sein muß, wenn ein eher banaler, den tatsächlichen faschistischen Terror und seine Ursachen untertreibender Film so viel Betroffenheit auslösen konnte und so viele Fragen, vor
allem der jüngeren Generation: Warum haben wir das alles nicht gewußt? Es stimmt ja: Die Bundesregierung, der Bundestag, die Parteien, die Kirchen — sie alle haben sich immer wieder heftig vom Nationalsozialismus distanziert. Und doch haben gerade diejenigen, die sich mit moralischer Verve distanzierten, oft so getan, als sei da 1933 ein Irrer namens Hitler durch unglückliche Unistände an die Macht gekommen, habe 12 Jahre lang das deutsche Volk und ein paar andere Völker tyrannisiert, terrorisiert und sei 1945 samt seinem kleinen brutalen Anhang vom Erdboden verschwunden. Wenn man uns selbst glauben wollte, so hat es seit 1945 in Westdeutschland und später in der Bundesrepublik lauter aufrechte Demokraten gegeben, von denen alle anderen europäischen Staaten nur lernen könnten.
Wer bei uns allerdings daran erinnert, daß es in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens nach 1945 keine einschneidenden Veränderungen und fast gar keinen moralischen Neubeginn gegeben hat, für den wurde ein reibungslos funktionierendes Ritual des Rufmords eingeführt: Er ist Kommunist, Kommunistenfreund, Linksradikaler, inzwischen Sympathisant. Eine ehrliche, umfassende und kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat niemals stattgèfunden, weil sie nicht stattfinden durfte.

(Zurufe bei der CDU/CSU)

Die ehemaligen Nazis wurden nach dem Krieg für den Wiederaufbau gebraucht. Sollte sich noch einer schuldig gefühlt haben, so wurde ihm beim Nachweis seines aufrechten Antikommunismus der Ablaß erteilt.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU] : Für welche Gruppe sprechen Sie?)

Mitscherlich beschreibt diesen, wie er ihn nennt, „emotionellen Antikommunismus" so:
Er ist die offizielle staatsbürgerliche Haltung, und in ihm haben sich ideologische Elemente des Nazismus mit denen des kapitalitschen Westens amalgamiert.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ist ja ungeheuerlich!)

Und er schreibt weiter:
Mindestens, was den Bolschewisten betrifft, ist das Bild, das von ihm im Dritten Reich entworfen wurde, in den folgenden beiden Jahrzehnten kaum korrigiert worden.
Aber das faschistische Axiom „Der Feind steht links", das von der bundesdeutschen Rechten wiederbelebt wurde, wirkt bis heute nach, wenn mit der Formel „Freiheit oder Sozialismus" demokratische Sozialisten aus dem Staat ausgruppiert werden.
Man muß schon mehrfach lesen, was Konrad Adenauer auf dem CDU-Bundesparteitag 1950 in Goslar gesagt hat, um es wirklich zu glauben.

(Zuruf von der FDP)

— Ich tue eigentlich nur das, werter Kollege, was
der Herr Kollege Wissmann -eben anempfohlen hat,
11636 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode —145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979
Hansen
nämlich waches Geschichtsbewußtsein herzustellen und den geschichtlichen Ursachen näherzukommen, die die Gegenwart bestimmen, aus der wir die Zukunft zu bauen haben!

(Beifall bei der SPD)

Nur ich ende nicht bei den Leerformeln eines irgendwie gearteten Gesamtgefühls von Demokraten. Meine Antwort darauf heißt, und die kann angesichts des Themas, das wir diskutieren, nur heißen: Solidarität der Antifaschisten! Das ist mein Standpunkt — weil Sie mich eben gefragt haben.

(Beifall bei der SPD — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Ich würde sagen: Beziehen Sie die Antikommunisten mit ein! Dann geht es!)

Ich zitiere, was Adenauer 1950 in Goslar gesagt hat:
Ich wollte, die Bewohner der Ostzonen-Republik könnten einmal offen schildern, wie es bei ihnen aussieht. Unsere Leute würden hören, daß der Druck, den der Nationalsozialismus durch Gestapo, durch Konzentrationslager, durch Verurteilungen ausgeübt hat, mäßig war gegenüber dem, was jetzt in der Ostzone geschieht.
Maidanek war mäßig. Treblinka war mäßig. Auschwitz war mäßig. Und der ist ein Bolschewist, der daran erinnert, daß etwa im Freundeskreis des Reichsführers SS, dessen Kontrolle die Vernichtungslager unterstanden, die Creme der deutschen Industrie saß, der an die Filialen erinnert, die führende — noch heute führende — Unternehmen rund um Auschwitz betrieben mit Häftlingen, die man dort ausbeutete, bis sie reif waren für die Gaskammern und durch neues „Menschenmaterial" — wie es im Wörterbuch des Unmenschen hieß — aus den KZs ersetzt werden konnten. Wer sich bei uns nicht damit abfinden kann, daß in den Generalsrängen der Bundeswehr, in den Chefetagen großer Konzerne, in Landes-, Oberlandes-, Bundesgerichtssenaten, in Parteien, Kabinetten der Länder und des Bundes, in der Villa Hammerschmidt und im Palais Schaumburg Leute saßen, sitzen und sitzen werden, die nationalsozialistischen Organisationen angehörten, der ist Kommunist, Sympathisant oder Einflußagent Moskaus.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wen meint er denn jetzt?)

So einfach war das für Adenauer, und so einfach ist das heute noch.

(Zuruf des Abg. Kleinert [FDP])

Die Tochter eines kommunistischen von der Französischen Republik ausgezeichneten Widerstandskämpfers darf in der Bundesrepublik ihren Beruf als Lehrerin nicht ausüben. Ein Postbote soll nach 25 Jahren untadeliger Arbeit aus seinem Beruf geworfen werden, weil er der DKP angehört. Doch ein NPD-Mitglied darf in Schleswig-Holstein Schulleiter sein. Der Vorsitzende des Kampfbundes Deutscher Soldaten behauptet in Flugblätern, das „Tagebuch" der Anne Frank sei eine „Fälschung" — so wörtlich — und das „Produkt einer jüdischen antideutschen Greuelpropaganda, um die Lüge von den sechs Millionen Juden zu stützen".

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU] : Wann gründen Sie eine neue Partei?)

Er wird von der Anklage der Volksverhetzung von einem bundesdeutschen Gericht im März 1979 freigesprochen. In der Urteilsbegründung heißt es, er hätte wegen Beleidigung nur dann verurteilt werden können, wenn die betroffenen Personen Strafanzeige gestellt hätten. So bewältigen wir juristisch unsere Vergangenheit. Was wir moralisch, politisch und historisch niemals aufgearbeitet haben, erledigen wir juristisch korrekt und dabei mit einem Zynismus, der die Opfer noch nachträglich verhöhnt.
Wir debattieren heute zum vierten Male im Deutschen Bundestag darüber, ob es juristisch vertretbar ist, die unbeschreiblichen, weil jede menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Verbrechen der Nationalsozialisten weiterhin zu verfolgen oder für alle Zeiten verjähren zu lassen. Wir sind der UNO-Konvention von 1968 über die Nichtanwendbarkeit gesetzlicher Verjährungsfristen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht beigetreten.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU] : Dann müssen Sie natürlich auch sagen, warum nicht!)

Die Bestimmungen dieser Konvention sollten auch für „Repräsentanten der staatlichen Macht" gelten, die diese Verbrechen „dulden". Nur, in der Bundesrepublik ist die Verjährungsfrist für darin aufgeführte Taten bereits abgelaufen.
Wir haben mit dem 1968 in Kraft getretenen § 50 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs die Verfolgung von NS-
Verbrechen weiter erschwert. Begünstigt wurden durch rückwirkende Verjährung die an NS-Mordtaten beteiligten Angehörigen des Reichssicherheitshauptamtes und anderer oberster Reichsbehörden.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Wer war wohl damals Justizminister?)

Sie können nur noch verurteilt werden, wenn ihnen auch persönlich Rassenhaß als Tatmotiv nachzuweisen ist. Dabei haben wir noch niemals den Versuch gemacht, die intellektuellen Wegbereiter, die Ideologen des Rassenhasses, die Ideologen des Freund-Feind-Schemas zur Rechenschaft zu ziehen, alle diejenigen, die mit oft verbrecherischen Thesen und Theorien in Doktorarbeiten, Aufsätzen und Vorträgen den millionenfachen Mord an Völkern und Volksminderheiten „geistig" vorbereitet haben.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Wen meinen Sie denn?)

Wenn es richtig ist, daß mit steigender Einsichtsfähigkeit auf Grund von Herkunft, Bildung und Beruf die Widerstandspflicht gegenüber Unrecht und Gewalt wächst, dann verhalten sich Sühne und Strafe für die Beteiligten an den NS-Verbrechen umgekehrt .zum Ausmaß von Schuld und Verantwortung. Wo sind diejenigen bestraft worden, die vom Schreibtisch aus die Mordmaschinerie erst organisiert und den Massenmord dann verwaltet haben?
Wenn wir einerseits beklagen, daß wir unsere Vergangenheit weitgehend juristisch bewältigen
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung: Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 11637
Hansen
wollen, dann müssen wir uns auch fragen, was wir denn eigentlich nach 1945 juristisch getan haben, un den Verantwortlichen der NS-Verbrechen rechtzeitig und gründlich den Prozeß zu machen.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU] : Das können Sie bei Herrn Rückerl nachlesen!)

Von einer systematischen Verfolgung kann überhaupt erst seit 1958 gesprochen werden.
Ich will hier gar nicht ausführlich auf das traurige Kapitel eingehen, das unverhältnismäßig wenige Naziverbrecher in den letzten 20 Jahren effektiv angeklagt und verurteilt wurden. Ich will mich auf die Kritik beschränken, die der 46. Juristentag 1966 geübt hat. Er hat u. a. bemängelt: die häufigen Verurteilungen wegen Beihilfe zum Mord statt wegen Täterschaft, die auch dann noch milden Strafen und die Tatsache, daß sich gegenüber der sonst üblichen Strafrechtspraxis unverhältnismäßig viele Beklagte und Verurteilte auf freiem Fuß befinden. Wer glaubt, sich dieser Kritik nicht anschließen zu können, den möchte ich auffordern, sich über den Verlauf und die beschämenden Vorgänge während des Majdanek-Prozesses zu informieren.
Wir werden demnächst den 30. Geburtstag unseres Grundgesetzes feiern, unseres auf Antifaschismus angelegten Verfassungstextes. Aber wie sieht denn die politische Wirklichkeit noch aus? „Der Feind steht links" bei uns — wie eh und je. Trotz des Rituals, von ,dem ich zu Anfang gesprochen habe, möchte ich ganz deutlich sagen: Demokratische Sozialisten haben die Pflicht, sich mit Kommunisten klar und unmißverständlich auseinanderzusetzen. Doch Sie haben, gerade weil sie Demokraten sind, gerade in Deutschland eine weitere Pflicht, nämlich jeder Politik entgegenzutreten, die den politischen Söhnen und Töchtern der von den Nazis abgeschlachteten Kommunisten wieder mit gesellschaftlicher Ächtung und Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz droht. Wir haben außerdem die Pflicht, alle neonazistischen Tendenzen in unserem Land entschieden und mit allen Möglichkeiten unseres Rechtsstaates zu bekämpfen und die in weiten Bereichen unseres öffentlichen Lebens noch ungebrochene nationalsozialistische Kontinuität aufzudecken. Da erscheint Woche für Woche die „Deutsche Nationalzeitung", über die Adolf Arndt in der Verjährungsdebatte 1965 sagte:
Wenn es je etwas Ehrenloses gab, etwas bis in den letzten Winkel des Schmutzes der eigenen Seele Verlumptes, dann ist das diese ehrlose Haltung solcher Blätter.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Aber es sind ja nicht nur solche alt- und neufaschistischen Produkte. In der „Welt", die die Ausgliederung per Anführungszeichen betreibt, karikiert der Pseudonym-Zeichner Hicks linke Politiker mit einem Strich, den er unter den Nazis an der Produktion von Judenfratzen geübt hat. Da gibt es das „Deutschland-Magazin", dessen Spiritus Rector in der NS-Zeit seine Köchin ins KZ bringen wollte, weil sie etwas gegen die Nazis gesagt hatte. An den Preisverleihungen dieses Herrn nehmen Leute teil,
die gern die Hüter der Demokratie spielen, darunter einer, der damals die „Entjudung" der deutschen Wirtschaft lobte. Aus der gleichen Ecke ertönt heute wieder der Ruf nach Aufrechnung der NS-Morde mit den Opfern der Vertreibungen — in konsequenter Verleugnung der Ursachen dieser Vertreibungen. So sehr wir alle Opfer des Krieges betrauern, so sehr sind wir als Volk für unsere Taten verantwortlich. Das nimmt den anderen ihre Verantwortung für ihre Taten nicht ab.
Warum sind bei uns immer noch Schulen nach Nazi-Dichtern, Kasernen nach Steigbügelhaltern Hitlers benannt? Warum ist es bei uns dagegen nicht möglich, einer Universität den Namen Heinrich Heines oder Carl von Ossietzkys zu geben?

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Wenn man die Liste der durch Bundesverdienstkreuze ausgezeichneten Bürger durchsieht, wird man auf Hunderte alter Nazis, aber auf kaum einen Verfolgten des NS-Regimes stoßen. Ich denke dabei weniger an die vielen, die ihren Widerstand so sehr im Stillen übten, daß nur sie selbst davon Kenntnis nehmen konnten, oder an diejenigen, denen erst die drohende militärische Niederlage die Augen geöffnet hat, sondern an alle, die den Faschismus von 1933 an oder schon vorher bekämpften und die, wenn sie nicht in den KZs starben, ihre Gesundheit verloren. Ich denke an die Überlebenden, in denen das Lager weiterlebt. Ich denke an die Verfolgten des Nazi-Regimes, die heute unter uns leben und denen wir, weil uns ihre mahnende Existens eher lästig ist, nicht nur die gebotene Achtung versagen, sondern die unser Staat schäbig und oft gar nicht entschädigt — etwa deshalb, weil ihr Lager vor der Ausschlußfrist noch nicht auf der Liste stand. Für eine Wiedergutmachung dieser Fehler ist es nicht zu spät.
Zu spät scheint es allerdings inzwischen für eine Regelung zu sein, die die Verjährung für die vom NS-Staat angeordneten und organisierten Mordtaten endgültig und eindeutig aufhebt. Weil politische Versäumnisse auch juristische Folgen haben, wird nun zu dem Hilfsmittel der allgemeinen Verjährung von Mord gegriffen. Dabei unterscheidet sich der eine Komplex von dem anderen. Ich nenne nur ein Beispiel. NS-Verbrecher hatten nach 1945 mindestens über ein Jahrzehnt genügend Gelegenheit, unterzutauchen und unbehelligt zu bleiben, während 'Gewaltverbrecher damals wie heute in der Regel gefaßt und verurteilt wurden.
Noch einmal: Trotz der Versäumnisse, die Urheber, Befehlsgeber, Verwalter und Nutznießer der Untaten des NS-Systems rechtzeitig aufzuspüren und zu bestrafen, und trotz der zunehmend schwierigeren Beweisführung muß die Strafandrohung für die Ausführer von Mordbefehlen bestehen 'bleiben. Die Vorstellung ist, unerträglich, daß sich nach dem 31. Dezember dieses Jahres bislang unentdeckte NS-Mörder ohne Furcht vor Strafe ihrer Verbrechen rühmen dürften, wie das schon zu Zeiten galt, als die Verjährung noch nicht aufgehoben war und sich Herr Studienrat Zind, der sich später ins Ausland absetzte, rühmte, Juden mit dem Spaten erschlagen



Hansen
4 zu haben, und ihn der ihm vorgesetzte Oberstudiendirektor später damit entschuldigte, er habe nur Russen gemeint.
Die Aufhebung der Strafverfolgungsverjährung von NS-Verbrechen ist nicht nur eine juristische, sondern auch eine historisch-politische Notwendigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0814506200
Das Wort hat Herr Abgeordneter Heimrich.

Herbert Helmrich (CDU):
Rede ID: ID0814506300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schwer, nach der insgesamt sehr fair geführten Debatte nach dem Kollegen Hansen in dem vorherigen Stil der Debatte fortzufahren. Niemand hat seit heute früh um 9 Uhr mit einer derart unverschämten Rechthaberei gesprochen wie Herr Kollege Hansen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU] : Das war pharisäische Selbstgerechtigkeit!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0814506400
Herr Abgeordneter, ich darf bitten! Wir wollen uns doch in dieser letzten halben Stunde der für den Deutschen Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit so weittragenden und im vollen Bewußtsein der Entscheidungen geführten Debatte mäßigen.

Herbert Helmrich (CDU):
Rede ID: ID0814506500
Herr Präsident, ich tue das.
Er hat hier gefordert, daß Ideologen, die ein Freund-Feind-Verhältnis aufbauen, streng zur Rechenschaft gezogen werden müßten. Ich glaube, er hat das für alle Ideologen hier gesagt. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich spreche hier in dem Bewußtsein, daß wir uns in der ersten Lesung befinden. Die Entscheidung über den Antrag fällt heute nicht, sondern in den Ausschüssen wird das zur Entscheidung anstehende Thema intensiv diskutiert werden.
Heute ist überwiegend über die Verjährung von Mord generell gesprochen worden. Ich vertrete den Standpunkt, daß wir es möglichst erreichen sollten, daß Mord generell auch in Zukunft in der Bundesrepublik verjährt und daß es insoweit bei dem Rechtszustand bleibt, den wir heute haben.
Wenn ich hier stehe, frage ich aber in erster Linie, ob darüber hinaus nicht doch eine Differenzierung zwischen Mord generell und Mord im Rahmen der NS-Verbrechen gerechtfertigt ist. Ich glaube, daß eine solche Differenzierung ehrlicher ist und auch besser verstanden wird. Ich komme darauf noch im einzelnen zurück.
Ich bin der Auffassung, daß Mord nicht gleich Mord ist. Mord aus Eifersucht in einem Ehedrama ist etwas anderes als Mord im Rahmen einer staatlich organisierten, staatlich sanktionierten Tötungsmaschinerie. Mord an Massengräbern ist etwas anderes als der Mord, den ein einzelner, vielleicht sogar zufällig durch persönliche Konflikte hineingetrieben, begeht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte deshalb in den Beratungen später insbesondere den Vorschlag von Herrn Professor Lange in Köln aufgreifen, der im Rahmen der Verjährungsvorschrift in § 78 Abs. 2 vorschlägt, nicht nur die Nichtverjährung für Völkermord auszusprechen, sondern auch die Nichtverjährung für Mord im Zusammenhang mit Völkermord festzuschreiben. Wir werden im einzelnen darüber zu diskutieren haben, ob diese Formulierung ausreichend ist oder ob man, wie Herr Professor Maihofer vorgeschlagen hat, die Zerstörung politischer Gruppen mit aufnehmen muß.
Die Kollegin Matthäus-Maier hat noch die Euthanasie-Verbrechen erwähnt. Hierzu meine ich, daß Oberstaatsanwalt Dr. Rückerl in seinem Bericht zutreffend sagt, daß diese Dinge hinreichend geklärt seien. Ich möchte auf die einzelnen juristischen Argumente, die insbesondere zwischen Herrn Professor Maihofer, Herrn Justizminister Vogel und Frau Kollegin Matthäus-Maier schon gewechselt werden sind, nicht eingehen.
Nur einen Akzent, der in dieser Debatte zum Teil schon angesprochen worden ist, möchte ich noch etwas verdeutlichen. Die Besonderheit dieser Debatte besteht meines Erachtens darin, daß wir über einen Komplex sprechen, in dem eine Verstrickung' sowohl für den einzelnen als auch für das Volk besteht, für unser jetzt lebendes Volk, und eine Verstrickung für unseren Staat mit unserer nationalsozialistischen Geschichte besteht. Die Verstrickung des einzelnen in nationalsozialistisches Unrecht als Täter oder Opfer hat heute in der Diskussion die überwiegende Rolle gespielt. Aber auch das Volk ist nach wie vor in seine Geschichte verstrickt. Eine zu große Zahl hat mit gehandelt, ist mitgelaufen oder hat geduldet. Allein die Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Partei kann heute noch in der Bundesrepublik die gesamte Bevölkerung aufwühlen. Aber auch der Staat als solcher ist verstrickt. Denn einerseits tragen wir ständig vor, diese unsere Bundesrepublik sei der Nachfolger des Deutschen Reiches. Wenn wir diesen Anspruch erheben, dann muß auf der anderen Seite auch im Handeln dieses Staates deutlich werden, wie der Staat sich zu dem Geist und zu den Handlungen des nationalsozialistischen Staates stellt.
Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen sehr deutlich darauf hingewiesen, daß wir in dieser Spannung der Verstrickung stehen, die wir wohl in alle Richtungen zureichend und befriedigend kaum werden auflösen können. Aber — und darauf möchte ich besonders hinweisen — alle Argumente dafür und dagegen in der heutigen Debatte sind auf diesen drei Ebenen zu beleuchten.
Ich möchte zunächst sagen, daß es mir nicht genügt, in erster Linie die Ebene der Verstrickung des einzelnen zu behandeln. Alle Argumente, die sich heute mit dem Gerechtigkeitsprinzip befaßt



Helmrich
haben, leuchten mir sehr ein, aber das Recht ist nicht teilbar; diese Ebene reicht — so frage ich zumindest — wohl nicht aus, um das Thema abschließend zu behandeln.
Zu der Ebene der Verstrickung dieses Volkes in seine Geschichte hat Herr Graf Stauffenberg sicherlich sehr richtig gesagt, daß wir durch das Strafrecht keine Vergangenheitsbewältigung betreiben können. Wir sollten nicht glauben, daß wir das ganze Thema auf die Justiz abwälzen können, die damit — wir haben von der längsten Dauer eines Verfahrens von 18 Jahren gehört — kaum, noch fertig wird. Ich frage aber, ob nicht auch die Justiz, einen Teil der Vergangenheitsbewältigung mitzutragen hat und ob es deshalb nicht möglicherweise gerechtfertigt erscheint, die Verjährung für NS-
Verbrechen nicht eintreten zu lassen.
Schließlich zur Verstrickung des Staates: Es ist im Zusammenhang mit dieser Ebene viel von der Glaubwürdigkeit des Staates gesagt worden, die darunter leidet, wenn die Justiz mit den Verfahren nicht fertig wird und es im Endergebnis zu mehr Freisprüchen oder Einstellungen als zu Verurteilungen kommt. Das ist ein gewichtiges Argument, aber ich frage auch, ob es nicht auch um die Glaubwürdigkeit des Staates geht und sie darunter leiden kann, wenn ich sage: Ich bin nicht gewillt, in einem Rechtsetzungsverfahren zu diesem Zeitpunkt die totale Absetzung von dem Geist und den Handlungen des nationalsozialistischen Staates nach außen und offen für alle Welt deutlich zu machen.
Ich möchte hinzufügen, daß diese Verstrickungen, in denen sich einzelne, das Volk und der Staat befinden, bei uns dadurch eine besondere Dimension erlangen — und auch das ist mir heute zu wenig angesprochen worden —, daß in dieser Bundesrepublik ein ganz spezifischer Unterschied zwischen Älteren und Jüngeren besteht. Der Herr Kollege Erhard hat darauf heute früh hingewiesen und mit einem Zitat gesagt, daß bei den Älteren wohl überwiegend die Vergangenheit verdrängt worden ist und daß die Jüngeren davon nichts wissen. Meine Damen und Herren, all die, die 45 Jahre und jünger sind, haben zu 95 oder zu 98 0/o in dieser Bundesrepublik keinen oder nur unzureichenden Unterricht in Geschichte über das Jahr 1920 hinaus erhalten. Angesichts dessen, daß wir hier Recht setzen, muß ich fragen, ob es einer von denen, die keinen Geschichtsunterricht erhalten haben und auch die Schrift von Herrn Dr. Rückerl nicht kennen, also nicht wissen, was an nationalsozialistischen Verbrechen passiert ist, heute aber den Film „Holocaust" gesehen haben, ertragen kann, daß in diesem Falle eine Verjährung möglich ist.
Meine werten Kollegen, das ist ein rechtssoziologisches Argument. Aber ich glaube, auch darüber müssen wir uns in den folgenden Auseinandersetzungen Gedanken machen.
Mein Petitum geht dahin, die Debatte in einer moderaten Form zu führen und Zwischentöne, so, wie sie zum Teil heute morgen angeklungen sind, in der folgenden Debatte zu unterlassen. Sie würde uns sonst nicht weiterbringen. Wenn es zu einer
Spaltung in diesem Parlament in dieser Debatte käme, würde sie die Spaltung der Bevölkerung vorzeichnen. Dann würden wir mit dieser Frage nicht auf die richtige Art und Weise fertig werden. Das wäre ein Ausgang dieses Rechtsetzungsverfahrens, den ich nur als tragisch bezeichnen könnte.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0814506600
Das Wort hat der Abgeordnete Schwencke.

Dr. Olaf Schwencke (SPD):
Rede ID: ID0814506700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Politische und rechtspolitische Überlegungen für oder gegen die Aufhebung der Verjährung von Mord sind hier in großem Umfang und sehr diffizil sowie rechtskundig vorgetragen worden. Ich könnte den Argumentationen für die Aufhebung der Verjährung keine weiteren neuen juristischen oder politischen hinzufügen.
Und auch das, was in anderen Parlamenten zur Verjährungsproblematik zu sagen notwendig war, wurde, etwa im Januar dieses Jahres in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und dann ein Monat später im Europäischen Parlament, von unseren Kollegen und mir selber vorgetragen in europäischen Parlamenten übrigens, in denen unter den älteren Kollegen noch immer Repräsentanten der Opfer Nazi-Deutschlands sitzen. Diese haben — und das machte die besondere Würde der Debatte im Europarat aus —, wenn sie das Wort ergriffen haben, über Partei- und nationale Grenzen hinaus irgendwie verständliche antideutsche Töne unterdrückt. Sie haben aber mit großem Ernst und in sehr eindringlicher Mahnung uns darum gebeten, die Verjährung von Nazi-Verbrechen aufzuheben.
Ich sehe auch gar keinen Grund, darin eine Einmischung in unsere ureigensten Dinge zu sehen und ihnen meine — und unsere — Solidarität nicht ausdrücklich zuzusichern. Schon das begründet meines Erachtens die Verneinung der Verjährung von Nazi-Morden.
Beide europäischen Parlamente forderten, und zwar mit großer Mehrheit, alle Mitgliedsländer auf, das Europäische Übereinkommen über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen aus dem Jahre 1974 endlich zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Das an dieser Stelle bei der Bundesregierung anzumahnen, ist nur ein Punkt, der mich motiviert hat, hier das Wort zu ergreifen.
Ein anderer Punkt ist mir aber viel wichtiger. Ich möchte dem Bündel von bemerkenswerten und bedenkenswerten Überlegungen, die hier bereits vorgetragen wurden, im Hinblick auf die generelle Aufhebung der Verjährung von Mord noch ein paar theologisch-ethische, vielleicht noch weiter differenzierende Überlegungen hinzufügen.
Lassen Sie mich meine Argumentation — anders als andere Theologen — mit einem Satz beginnen, der manchem von Ihnen wenig christlich erscheinen mag: Mord ist nicht gleich Mord. Sicher, der Respekt vor dem höchsten Gut, dem menschlichen Le-



Dr. Schwencke (Nienburg)

ben, gebietet es, vor allem im Blick auf das eine oder die vielen Opfer, das eine nicht geringer als die vielen Opfer zu achten: den Täter mit Schuld zu belegen und seine Sühne zu fordern. Das ist die „gute Ordnung" des Staates, von der Luther spricht, jeden gleichermaßen betreffend.
Und der politische Kontext? Ich will literarisch unterstreichen, was unser Freund Erik Blumenfeld über sein Inferno gesagt' hat:
... der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith
Auch „nach Auschwitz" wurde gedichtet. Ich zitierte den Schluß von Paul Celans „Todesfuge".
Mord ist gleich Mord? Die Motive zum Mord müssen doch mindestens für die moralische Dimension des Verbrechens gegen die Menschlichkeit auch in ihrem politischen Kontext gesehen und beurteilt werden: das sogenannte gemeine Verbrechen einerseits und das ideologisch motivierte, zwischen 1933 und 1945 staatlich abgesicherte Massenverbrechen andererseits. Danach gibt es kein Zurück mehr zur Tagesordnung des Alltags.
Die von den Nationalsozialisten betriebene Politik der Ausrottung der Juden und politischen Feinde — im Schatten dieser Politik, und, mehr noch: im „Dienst" dieser Politik handelten die Nazimörder — hat jedenfalls ethisch und damit meines Erachtens konsequenterweise auch rechtspolitisch einen anderen juridischen Stellenwert als der individuelle Mord. Hierbei zählt selbstverständlich nicht vor allem die Quantität der Mordtaten — diese ist für die ethische Einschätzung von geringerer Bedeutung —, sondern die „Qualität" der Motive: hier die Unmenschideologie und dort die gemeine Individualtat.
Das höchste Gut, Leben, zu vernichten, ist die größte Schuld, die ein Mensch auf sich laden kann. Dürfen wir aber Schuld, wie sie aus individueller Tat erwächst oder massenhaft geschieht oder geschah, wie sie herrschende Ideologie a priori ermöglichte — für diejenigen, denen jetzt die Grundlage dafür nicht einfällt, füge ich hinzu: man konnte „Mein Kampf" lesen und daraus lernen —, auf einen gleichen Nenner bringen? Das sollte — auch rechtspolitisch — nicht möglich sein. Wenn das geschähe, würden sich die Opfer des Faschismus
auf die Ebene der außergesetzlichen Normalitäten gesetzt sehen. Ich glaube, wir müssen achtgeben, damit das nicht eintritt: es würde würdelos sein.
Mir ist die „Stuttgarter Schulderklärung" meiner Kirche von 1945 noch gut im Ohr und noch besser im Bewußtsein: auch die Angst vor der „billigen Gnade" einer „kollektiven Schuld", derzeit von denen formuliert und öffentlich gesprochen, die — wie namentlich Martin Niemöller — jedenfalls politisch „schuldlos" waren.
Mord ist gleich Mord? Woraus erwächst Schuld? Schuld erwächst nicht allein aus dem persönlichen Tun des einzelnen, sondern geschieht auf dem Hintergrund existierender Strukturen und gesellschaftlicher Institutionen: Für den millionenfachen Mord zunächst innerhalb der NSDAP — Röhm-Putsch —, dann auf der Straße, dann in den Gestapo-Gefängnissen und schließlich in den KZs haben die faschistische Ideologie die Grundlage und ein kriminell korrumpierter Staat die Voraussetzung geboten. Das minimiert zwar nicht die subjektive Schuld des einzelnen — jedenfalls nicht nach meinem theologischen Verständnis —, läßt jedoch den besonderen Kontext zu einem politischen und moralischen Faktor sui generis werden. Ich glaube, nicht als mildender Umstand, sondern als ein straferschwerender Faktor; und dies muß auch den Gesetzgeber beschäftigen.
In einer möglichen unterschiedlichen Behandlung von Nazimorden und gemeinen Morden würde ich
— ebenso wie Professor Eugen Kogon und andere
— den Gleichheitsgrundsatz unserer Verfassung nicht verletzt sehen. Diese sogenannte Ungleichheit haben wir ja schon — im Laufe der Debatte wurde daran erinnert — in § 220 a des Strafgesetzbuchs, der Unverjährbarkeit von Völkermord, und zwar bereits seit 25 Jahren.
Gerade wenn wir dabei bleiben wollen und rechtstraditionell wohl auch müssen, daß der Mörder auch unter dem Vorzeichen einer herrschenden Ideologie für seine Tat voll verantwortlich gemacht werden muß, darf dies nicht zu mildernden oder gleichmachenden Umständen führen, sondern muß auch unter Berücksichtigung der „herrschenden Strukturen und politischen Institutionen", wie ich das nennen möchte, grundsätzlich und verschärfend gerichtet werden. Am Rande gefragt: Wie wollen wir einer jungen Generation, einer zeitkritischen, einer wachsend kritischeren Generation, die uns nach unserer politischen Moral fragt, eine Antwort geben, wenn wird Mord gleich Mord behandeln? Ich fürchte, wenn wir „egalisieren", also die Nazimörder wie gemeine Mörder behandeln, wird der Anstoß zum politischen Denken, zum Nachdenken, zum moralischen Handeln, dort, -wo wir sensibilisieren wollen, bei den jungen Leuten durchschlagen. Schon gar nicht dürfen wir es uns einfach leisten, die Verjährung aufzuheben. Das ist ein Appell, der breit genug an uns ergangen ist.
Ich möchte uns noch einmal einen Schriftsteller in Erinnerung rufen: Der Jude Jean Amery hat vor zehn Jahren über eine Reise durch Deutschland folgendes geschrieben:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode —145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 11641
Dr. Schwencke (Nienburg)

Das Reich Hitlers wird zunächst weiter als ein geschiditlicher Betriebsunfall gelten. Sdiließlich aber wird das Geschichte schlechthin sein, nicht besser und nicht übler, als das dramatische und historisdie Epochen nun einmal sind, blutbefleckt vielleicht, aber doch auch ein Reich, das seinen Familienalltag hatte. Das Bild des Urgroßvaters in SS-Uniform wird in der guten Stube hängen, und die Kinder in den Schulen werden weniger von den Selektionsrampen erfahren als von einem erstaunlichen Triumph über allgemeine Arbeitslosigkeit ...
Einen „Schlußstrich unter die Vergangenheit" ziehen: Nein, um der Zukunft unseres Volkes, unserer Kinder und Kindeskinder willen. Nein
Nachdem von Deutschland aus die Welt zertrümmert wurde und audi die „Ordnung", haben unsere Väter mit dem Grundgesetz Konsequenzen aus den Lehren der Vergangenheit gezogen; das ist auch für diese Debatte von Relevanz. Sie haben Konsequenzen daraus gezogen, daß es einen, wenngleich nur kleinen, Bevölkerungsteil gab, der Widerstand leistete. Heute steht, nicht zuerst, der andere weitaus größere Teil zur Debatte, der sich in den „Dienst" des Mörderstaates stellte. Auf das eine wurde im Grundgesetz recht sensibel reagiert; wir haben das Widerstandsrecht — so etwas hat es vorher in einer Verfassung nicht gegeben — in Artikel 20 Art. 4 des Grundgesetzes festgeschrieben.
Aus. theologischer Erkenntnis ist eine Rechtsposition geworden. Die Banner Thelogisdie Erklärung von 1934, insbesondere in ihrer wichtigen These 5, wurde in Verbindung mit den Bonhoefferschen Widerstandstheorien zum politischen Ergebnis eines theologischen Erkenntnisprozesses. In dieser Debatte muß das seinen Stellenwert haben.
Männer und Frauen haben durch die Arbeit der Bekennenden Kirche den weitgehend demokratiefeindlichen Entwicklungsprozeß der zwanziger Jahre innerhalb der Kirche korrigiert. Für den Protestantismus in Deutschland war die These 5 von Barmen ein unerhörtes Novum und eine Wende im gesellschaftlichen Selbstverständnis der Kirche; das, nachdem Christengemeinden noch 1927 deutsch-christlich z. B. so sangen:
Wir heben unsere Hände aus tiefster bittrer Not, Herrgott, den Führer sende, der unseren Kummer wende mit mächtigem Gebot.
Jetzt hieß es über Staat und Kirche bzw. Kirche und Staatsaufgaben in „Bannen" :
Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt ... nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens
. unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohlfahrt dieser seiner Anordnung an._ Sie erinnert an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.
Und dann folgt ein Satz, der mir für diese Debatte wichtig ist, der Verwerfungssatz:
Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden.
Das war nicht bloß eine innerkirchliche Formulierung. Sondern dieser Satz regelte verbindlich das Christ-Sein -- wollte es jedenfalls in jenen Jahren — und definierte das Verhältnis zwischen dem christlichen Bürger und seinem Staat. Wer davon abwich — die „Deutschen Christen" beispielsweise —, hing, von der Kirche her gesehen, einer Irrlehre an; das galt, auch wenn das nur wenige so deutlich gesagt und noch wenigere begriffen hatten, aber einige danach and' gehandelt haben.
Der ,totale Staat des Nationalsozialismus war die Inkarnation dieser falschen Lehre. Er hat nicht nur ignoriert, was christlich überliefert wurde, sondern pervertiert, was vergangene Jahrhunderte an humanen Erkenntnissen gewonnen haben.
Unser Grundgesetz hat, um solche Gefahren ein für allemal bekämpfen zu können -. ich .hebe das noch einmal hervor —, nicht nur den Grundwertekatalog aufgestellt, sondern in Art. 20 festgestellt:
Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Da diese Konsequenz verfassungsrechtlich gezogen wurde — offensichtlich nicht allein auf der Grundlage des politischen Widerstands, sondern auch des evangelisch-theologischen Widerstands, insbesondere auf Grund der Erkenntnisse Bonhoeffers - frage ich heute mich und uns, ob daraus nicht - wenn auch spät — die Konklusion zu ziehen wäre, daß Individualmord und der ideologische Massenmord der Nazis auch rechtlich nicht gleich behandelt werden sollten.
Ich kann nicht verhehlen, daß mir gegenwärtig theologische Überlegungen in diesem Zusammenhang wichtiger als rechtliche sind. Diese Gesellschaft ist eine offene, plurale; aber keine „moralisch" neutrale. Ich verweise auf Karl Jaspers, der mit großem Ernst die deutsche Situation so analysierte:
Die Pflicht gegen das Vaterland geht viel tiefer, als ein blinder Gehorsam gegen jeweilige Herrschaft reicht. Das Vaterland ist nicht mehr Vaterland, wenn seine Seele zerstört wird.
Widerstand, so gesehen, muß heißen: auch das. Instrument der. Verjährung von Mord muß als ein sehr viel mehr zu differenzierendes Rechtsinstrument behandelt werden. Ob aus dieser. „Erkenntnis" Konsequenzen rechtstechnischer Art gezogen werden können, weiß ich nicht. Professor Maihofer und seine Freunde haben dazu ein paar Hinweise gegeben.
Fragen über Fragen schon in der ersten Lesung: Ist es politisch richtig, um der Nichtverjährung der Nazi-Morde willen generell Mord nicht verjähren zu lassen? Ich frage mich das, bin aber wie viele andere mit meinem Nachdenken noch nicht zum Schluß gekommen.



Dr. Schwencke (Nienburg)

Die Verjährung der Nazi-Morde wäre nach meiner Einschätzung ein zutiefst amoralischer Akt. Die Verjährung wäre eine Verhöhnung der Opfer: der Toten und der Lebenden, die jedenfalls in ihren Träumen — wie wir lesen — von ihrer Vergangenheit immer wieder eingeholt werden. Sie wäre auch unhistorisch: mit Blick auf den Widerstand von Sozialdemokraten und Kommunisten in der Nazi-Zeit, von Bekennenden Christen und anderen im Kampf gegen den Faschismus. Ich hoffe, daß die Verjährung nicht ohne Differenzierung eintritt. Da — weiß Gott: nicht ohne Grund — das Widerstandsrecht in unserem Grundgesetz steht, also Verfassungsqualität erlangt hat, darf nach meiner Einschätzung heute nicht resümiert werden: Mord ist gleich Mord.
„Holocaust" hat viele sensibilisiert, vor allem junge Menschen, die in diesem 30. Jahr der Existenz unserer Republik auf eine Antwort zur „Vergangenheitsbewältigung" von uns warten. Ich glaube, daß diese Stunde der Verjährungsdebatte ein Beispiel dafür sein könnte, daß wir diese Herausforderung für andere und für uns selber begriffen haben. Wir sind, denke ich, miteinander der Auffassung, daß diese Stunde zu den ganz wesentlichen für das Parlament zählt, da sie unsere Dialogfähigkeit gezeigt hat.
Lassen Sie mich meinen Schlußsatz so formulieren: Es bleibt die Erkenntnis, daß Schuld individuell und kollektiv der lebenslangen Sühne bedarf — dieses im Sinne des Bibelwortes: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk, die Sünde ist der Leute Verderben." Aber „Gerechtigkeit" kann nicht ohne Gnade geschehen. Aber die „Gnade" Ist nicht unsere Sache.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0814506800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schwarz-Schilling.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU):
Rede ID: ID0814506900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst eine Vorbemerkung: Für einen Abgeordneten, der in dieser Legislaturperiode zum erstenmal diesem Hause angehört und im dritten Jahr hier ist, ist es ein Erlebnis, diesem heutigen Tag in diesem Hause beiwohnen zu können; denn bei allen scharfen Auseinandersetzungen, die wir ansonsten zwischen Fraktionen erleben, kommt hier etwas zum Durchbruch, was sonst oft als der „Konsens der Demokraten" gefeiert wird, nämlich der Respekt vor der Meinung des anderen, der diesmal nicht nur beschworen wird, sondern der bei Respektierung subjektiver Wertungen, Erfahrungen und Erkenntnisse durch gemeinsame Werthaltungen deutlich zum Ausdruck gebracht wird.
-(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dafür möchte' ich mich bei allen Mitgliedern dieses Hauses bedanken.
Gerade die letzten Redner haben sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß das, was in der nationalsozialistischen Zeit an Gewalttaten vorgekommen ist, eine Dimension hat, die über den früher bekannten Mordbegriff hinausgeht. Die geplante, bewußt gesteuerte, den Herrschaftsapparat des Staates miteinsetzende Gewalt zur Tötung von Menschen, denen das Menschsein abgesprochen wird und die dadurch in eine Behandlung geraten, die unterhalb der Tierebene liegt, das ist in seinem qualitativen und quantitativen Ausmaß ein historisch einmaliger Tiefpunkt unserer Geschichte, der gegenüber dem, was sich sonst in Jahrtausenden der Geschichte ab- gespielt hat, eine andere Dimension hat.
Aus diesem Grunde ist auch die Frage nach der Antwort der Rechtsordnung auf diese Herausforderung mit Sicherheit eine andere, als sie der Normalfall des Mordes beinhaltet. Wenn man im vollen Besitz des Machtapparates des Staates in der Lage ist, kollektiv andere Gruppen zu töten, bewußt zu töten ohne jede individuelle Anklage, nur weil sie irgendwelchen rassischen oder politischen oder nationalen Gruppen angehören, dann erfordert das von der Rechtsordnung eine andere Antwort, als sie 1871 bei Schaffung des Strafgesetzbuches gegeben wurde. Diese Furchtbarkeit der Entmenschlichung, die sich im 20. Jahrhundert herausgestellt hat, konnte damals nicht gesehen werden. Aus diesem Grunde, so möchte ich ganz klar sagen, sollen wir auch gar nicht darum herumreden: Der Anlaß ist heute und hier die Frage der Verjährung der nationalsozialistischen. Verbrechen, die meiner Auffassung nach nicht stattfinden darf.
Die Wertordnung und die Rechtsordnung dürfen sich im Laufe der Zeit nicht auseinanderentwickeln. Rechtsordnung ist nur solange für die Bevölkerung tragbar und verstehbar, als sie ein Spiegelbild sittlicher Normen und Werte ist. Wenn über zu lange Zeit kulturelle Ordnungsbereiche auseinanderfallen, dann wird die Frage an die Wertordnung gestellt, wieso die Rechtsordnung nicht in entsprechender Weise reagieren kann. Professor Mikat hat in einem anderen Zusammenhang einmal davon gesprochen, „die Rechtsordnung habe einen zeichenhaften Charakter" . Wir sind uns sicherlich darüber im klaren, daß wir hier keinen Gottesstaat im Sinne von Augustinus herstellen können, daß wir uns aber jeden Tag neu bemühen müssen, die Gerechtigkeit auf dieser Welt anzustreben, uhd daß aus diesem Grunde, wenn neue Tatbestände in so massiver Weise eintreten, auch die Rechtsordnung eine entsprechende Antwort finden muß.
Nun wird gesagt, daß der Rechtsfriede gestört wird, wenn wir die Verjährung für Mord anders beurteilen als bisher. Ich möchte zunächst eins ganz klar sagen: Wenn von den bis 1977 über 84 000 Verdächtigen nur etwa 6 400, also 7,6 %, verurteilt worden sind, und wenn diese Quote heute unter 1 % liegt, dann ist das überhaupt kein Beweismittel dafür, daß damit das Recht, die Rechtssicherheit oder der Rechtsfriede gestört wird. Die Frage ist ja: Wie sähe dieser Rechtsfriede aus, wenn es nicht zu diesen Anstrengungen gekommen wäre? Ganz im Gegenteil, möchte ich sagen, ist der Rechtsstaat hier gerade zu bewundern, daß er bei dieser ungeheuren Schwere der Aufgabe an seinem Prinzip, nämlich „in dubio pro reo" = im Zweifel für den Angeklagten —, eisern festgehalten hat. Er hat sich auch nicht irgendwelchen emotionalen Einflüssen vom Aus-



Dr. Schwarz-Schilling
land oder Inland gebeugt, in dem Sinne, daß eine höhere Verurteilungsquote herauskommen sollte. Nein, er muß natürlich individuell, nach den Umständen, gemäß der individuellen Erforschung der Schuld und des Tatbestandes handeln; sonst wäre er kein Rechtsstaat.
Insofern möchte ich hier das, was Kollege Lenz heute morgen gesagt hat, doch etwas korrigieren. Wenn Freisler die Abschaffung der Verjährung feierte, dann ist das noch kein Grund für oder gegen die Verjährung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)

Denn, wie schon Professor Mikat gesagt hat, die Verjährung oder Nicht-Verjährung folgt nicht zwingend aus dem Prinzip des Rechtsstaates. Das Entscheidende ist, was Herr Freisler zur Begründung und als Handlungsmaxime des Staates zur Verjährung gesagt hat: „Der Gedanke, der Verlust der Beweismittel dränge zur Einführung der Verjährung, ist meines Erachtens abwegig. Sind dem Täter die Beweismittel verlorengegangen, durch die er sein Alibi nachweisen könnte, dann muß ich davon ausgehen, daß er der Täter ist, und dann ist er dafür verantwortlich, daß sein Alibi verlorengegangen ist." — Das ist der Unrechtsstaat der Menschenverachtung und Verhöhnung der einzelnen Person, der dem Nationalsozialismus zugrunde lag! Das hat mit Verjährung oder Nicht-Verjährung überhaupt nichts zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)

Ganz abgesehen davon — das hat der Justizminister hier gesagt —, was für neue Unsicherheiten im Rechtsfrieden entstehen, wenn dann diejenigen Prozesse weitergeführt werden, die auf Grund der Aussetzung der Verjährung auch in den nächsten Jahrzehnten weiterlaufen werden, währenddessen Mörder, die erst später, nach 1979, erkannt werden, weiter frei herumlaufen. Ich kann das nicht als einen Beitrag zum Rechtsfrieden oder zur Rechtssicherheit sehen.
Es wurde dann auf die Konvention der Vereinten Nationen hingewiesen. Die Bundesrepublik ist ihr 1954 beigetreten. Im Strafgesetzbuch haben wir im Jahre 1969 eine entsprechende Schlußfolgerung für die Zukunft gezogen, nicht jedoch betreffend die Vergangenheit. Berufungen auf Thomas Dehler, daß wir eine Rückwirkung auf die Nazi-Verbrechen rechtlich in diesem Punkt nicht einwandfrei durchführen können, sind nicht mehr korrekt; denn er ist ja von einer anderen Verfassungslage ausgegangen. Das Verfassungsgericht hat ja am 26. Februar 1969 klar den Weg gewiesen, wie man, ohne das Grundgesetz zu verletzen, diese Frage lösen kann. Ich darf hier zitieren: „Die Aufhebung noch nicht abgelaufener Verjährungsfristen bei Verbrechen, die mit lebenslangem Zuchthaus bedroht sind, verstößt weder gegen das Rechtsstaatsprinzip noch gegen den Gleichheitsgrundsatz." — Thomas Dehler ist hier in seiner Rede von einer anderen Voraussetzung ausgegangen.

(Kleinert [FDP]: Das waren mehrere!)

— Ich war ja nicht dabei. Ich spreche nur davon, weil diese Rede als eines der Beweismittel zitiert worden ist.
Es sollte kein Sondergesetz gemacht werden. Ich glaube, das ist ein guter Satz unserer Rechtstradition. Wenn die Verfasser des Strafgesetzbuches von 1871 jedoch gewußt hätten, wie die gesamte Entwicklung unserer Geschichte weiterlaufen würde, hätte man sich wahrscheinlich anders entschieden. Mord ist heute ein Delikt, dessen Zahl laufend gestiegen ist. Die Versuchung scheint um so größer, je freier Gesellschaften organisiert sind. Ich glaube, daß man damals in zu starkem Maße an den moralischen Fortschritt der Menschheit geglaubt hat. Man meinte, daß die Menschen nach einer bestimmten Zeit eines freien Rechtsstaats immer besser würden. Tatsächlich ist eine völlig andere Entwicklung eingetreten, als man damals im 19. Jahrhundert vorhergesehen hat. Das gilt seit der Aufklärung, als man meinte, Menschen seien rationale Wesen, die das Leben durch zunehmende Erkenntnis immer besser gestalten könnten. Von dieser Warte her gesehen, aber auch unter dem Gesichtspunkt, daß in einem Rechtsstaat, wenn es um die Strafzumessung geht, nur die einzelne Person und nicht irgendeine Gruppe kollektiv zur Verantwortung gezogen werden kann, ist das Problem eben doch wieder auf den Kern zurückzuführen: Mord des einzelnen, d. h. Mord als Verbrechen schlechthin.
Aus diesem Grunde bin ich der Meinung, daß die allgemeine Mordverjährung heute zwar nicht akut zu unserer Aussprache geführt hat — wir hätten dieses Problem auch gestern lösen können, und wir könnten es auch im Jahre 1980 oder 1981 lösen —; aber hinsichtlich der Verjährung der Nazi-Verbrechen geht es tatsächlich akut um die rechtsstaatlich einwandfreie Problemlösung, wobei wir eine Lösung finden müssen, die im Gesamtkontext unserer Rechtsordnung steht. Und auf Grund der Entwicklung halte ich es eben für einen Irrtum — insoweit muß ich Herrn Kollegen Gradl voll zustimmen —, wenn gesagt wird, daß die Frage des Mordes um so geringer zu veranschlagen ist, je weiter entwickelt, je freier die Gesellschaft ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Gegenteil: Ich glaube, das diese Frage in Zukunft in dieser Welt ganz allgemein von einer Dimension sein wird, die andere Staaten sehr, sehr schnell veranlassen wird, auf das Problem zurückzukommen, das wir heute erörtern.
Lassen Sie mich aber noch einen weiteren Punkt anschneiden. Im Zusammenhang mit der Tatbestandserfassung des Völkermords hat Professor Maihofer, wie ich finde, sehr interessante und auch überzeugende Ausführungen gemacht. Über die Entstehung der Deklaration der UNO ist schon gesprochen worden. Im Entwurf ist sie ja viel weitergehender gewesen. Er sprach nämlich nicht nur von „religiösen", „rassischen" oder „nationalen" Gruppen, sondern auch von „politischen" Gruppen, die jedoch auf Grund der Intervention der Sowjetunion wieder gestrichen worden sind. Die Abgrenzungsschwierigkeiten sind hier sehr, sehr groß.



Dr. Schwarz-Schilling
Ich möchte sagen: Selbst wenn in die Deklaration der UNO „politische" Gruppen aufgenommen würden, hielte ich das für nicht ausreichend, um das abzudecken, was heute jeden Tag geschieht. Ich spreche jetzt nicht von der Sowjetunion, von China, von dem, was dort in den letzten Jahrzehnten millionenfach an Morden geschehen ist. Wie wollen Sie mit dieser Deklaration z. B. die Vorgänge in Kambodscha erfassen, wo eine ganze kulturtragende Schicht liquidiert und ausgerottet wurde, und zwar vor dem Hintergrund der ideologisch fixen Idee, man könne dann eine „neue Gesellschaft" aufbauen? Eben das haben die dortigen Kommunisten auf Grund einer Wahnidee, die wiederum ganz allgemein auf kommunistisches Ideengut zurückgeht, praktiziert. Man sollte ja geglaubt haben, so etwas könne in Zukunft gar nicht mehr geschehen!
Was in Kambodscha geschehen ist und noch geschieht, genauso in afrikanischen Staaten, wird von dieser Deklaration überhaupt nicht erfaßt. Es handelt sich um keine „religiöse" Gruppe, um keine „nationale" Gruppe, um keine „rassische" Gruppe, sondern um eine kulturtragende Schicht. Ebenso fanden sich am Anfang des Vietnamkrieges in bestimmten Dörfern der Lehrer und der Bürgermeister am nächsten Morgen am Baume erhängt wieder. Das wurde systematisch gemacht, um eine bestimmte Schicht zu verunsichern und eine entsprechende Wirkung politischer Art zu erzielen. Es war nicht dieser Lehrer und dieser Bürgermeister , sondern es waren d i e Lehrer des Dorfes und d i e Bürgermeister, die erhängt wurden. In dieser Frage wird die Deklaration in keiner Weise ausreichend sein, um diese unmenschlichen brutalen Verbrechen zu erfassen.
Ich sage deswegen: Die Liquidierung von Klassen — wir wollen auch das einmal sagen; ich beziehe das jetzt nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Zukunft — steht auf Programmen politischer Kräfte auf dieser Welt. Wenn das der Fall ist, dann sage ich: Das ist über diese Konvention nicht abdeckbar, weil sie schon damals auf Intervention der Sowjetunion eingeschränkt wurde. Selbst wenn der Begriff „politische Gruppe" enthalten wäre, wäre eine bestimmte Kulturschicht davon gar nicht erfaßt, weil sie gar nicht „politisch" handelt. Denn die Ermordeten waren nur normale Bürger in einer bestimmten Schicht — manche mögen auch „Elite" oder etwas anderes dazu sagen — einer Kultur, die sie getragen haben und die sie verkörpert haben.
Wahnsinnstaten, die ideologisch begründet sind, sind so vielfältig, daß man sie gar nicht speziell unter „Völkermord" definieren kann. Aber das führt im letzten wieder auf die einzig klare Tatbestandserfassung, nämlich des Mordes schlechthin. Aus diesem Grunde ist heufite die rechtsstaatliche und moralische Antwort, den Mord nicht verjähren zu lassen.
Lassen Sie mich zum Schluß in fünf Punkten meine Auffassung klarstellen.
Erstens. Für unsere moralische Wertordnung ist die Verjährung von Naziverbrechen unerträglich. Das mag jeder mehr oder weniger aus eigener Erfahrung, aus eigenem Erleben oder aus eigenem
Denken wissen. Der bewußt organisierten, ideologisch bestimmten Tötung liegt ein unmenschliches Menschenbild zugrunde. Das ist eine Frage, die gerade für uns in Europa, die wir uns bemüht haben, ein anderes Menschenbild zu entfalten, zur größten Tragödie geworden ist.
Zweitens. Das philosophische und . religiöse Gegenbild gegen diese Unmenschlichkeit ist die unantastbare Würde des Menschen in der Einzelperson. Deswegen ist es eben keine Unehrlichkeit, wie in manchen Zeitungen steht, wenn im Zusammenhang mit dem Nazi-Mord auch der Mord schlechthin diskutiert wird; denn die Antwort auf alle ideologisch-kollektiv verübten Taten gegen irgendwelche Gruppen — gar nicht gegen Individuen — ist die Würde des einzelnen Menschen, die in allen Dingen zú beachten ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)

Aus diesem Grunde ist der Ansatzpunkt für unsere Rechtsordnung die Frage des Mordes schlechthin; und daher eben auch keine Verjährung für den Mord. Das ist der richtige Weg und meines Erachtens die notwendige Korrektur der Rechtsordnung, wenn sie nicht mit unserer moralischen Wertordnung auseinanderfallen will.
Drittens. Die Verpflichtung des Rechtsstaates ist es nunmehr, die individuelle Strafzumessung nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" vorzunehmen. Da müssen wir eben ertragen, daß wir nur noch weniger als 1 % Verurteilungen haben. Meine Damen und Herren, wie wenig bedeutet dieses Ertragen, gegenüber dem, was die Opfer ertragen haben! Wollen wir doch bitte nicht die Wertmaßstäbe verlieren.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)

Wir werden daran erinnert, was Furchtbares passiert ist und wie unzulänglich menschliches Tun, auch menschliches Richten ist. Jetzt trifft es eben einmal die Justiz, das zu ertragen. Zu anderen Zeiten gibt es andere Berufsgruppen, die anderes ertragen müssen. Ich meine also: Für unser Recht, unseren Staat und unsere Freiheit müssen wir das ertragen können. Wir dürfen keinem Druck in irgendeiner Weise weichen, auch wenn er vom Ausland kommt, etwa in dem Sinne: Warum gibt es nur so wenig Verurteilte? Da müssen wir den Rechtsstaat verteidigen, mit allen Konsequenzen, die damit verbunden sind.
Viertens. Der Tatbestand des Völkermords ist nach der hiesigen Definition zu unscharf und meines Erachtens auch nicht ausreichend, um das zu erfassen, was heute in anderen Teilen der Welt geschieht. Ich möchte etwas sehr Schlimmes sagen: Ich glaube, daß der Gesetzgeber gar nicht genug Phantasie hat, um sich das Böse in den verschiedenen Menschen so vorstellen zu können, daß er es durch eine Definition erfassen könnte. Der einzige Orientierungspunkt ist der Mord selbst. Wenn Sie hier anfangen zu definieren „bei einer solchen Gruppe so, bei der anderen so", dann glaube ich,



Dr. Schwarz-Schilling
daß bestimmte Tatbestände einfach durch das Netz fallen. Aus diesem Grunde gibt es nur den individuellen Ansatz des Mordes.
Fünftens : die Glaubwürdigkeit. Meine Damen und Herren, Versöhnung ist ein individueller Gesinnungsakt. Den Christen steht dieser Akt gut an. Aber es gibt die gesellschaftliche Gerechtigkeit, die der Staat herstellen muß. Das ist der Verantwortungsakt der Gemeinschaft durch eine entsprechende Rechtsordnung. Versöhnung kann nur der einzelne aussprechen. Das ist keine Frage des Rechtsschemas, das ist keine Frage von Jahren oder eines Datums. Man kann nicht sagen: nach 30 Jahren bin ich versöhnt. Das kann auch •schon nach Tagen sein, selbst wenn mir der Täter gegenübersteht. Das ist keine Frage eines Datums.
Die Verantwortung für die Herstellung von Gerechtigkeit ist um so größer, je kollektiver geplant Ungerechtigkeit in der Weise hergestellt werden kann, wie das in der Nazi-Zeit geschehen ist. Aus diesem Grunde muß die Anforderung, die wir an unsere Rechtsordnung stellen, um so größer sein. Deswegen kann Mord in unserer Zeit nicht mehr so behandelt werden, daß er verjährt.
Es ist jedoch nicht nur die Vergangenheitsbewältigung, die hier mit zur Debatte steht. Wenn wir heute die Frage der Menschenrechte sehen, dann ist das nicht eine Frage der Opportunität. Wir Deutschen können uns in Gegenwart und Zukunft nur dann überall unteilbar für Menschenrechte einsetzen, wenn wir für unsere eigene Vergangenheit bis zu dem bitteren Ende, das wir heute gerichtlich durchführen müssen, und für unsere Geschichte einstehen. Dann darf es dort auch keine Selektionen in der Art geben, daß ich die Verletzung der Menschenrechte dort beklage, wo es aus Gründen der Opportunität einfach ist, weil alle draufhauen, während ich dort, wo man meint, es könnte gefährlich sein, weil hier wichtige Interessen von Großmächten auf dem Spiele stehen, eine andere moralische Dimension habe. Das kann nicht sein. Politisch kann ich anders handeln, aber bitte dann nicht mit moralischen Ansprüchen!
Aus diesem Grunde glaube ich, daß Deutschland nur glaubhaft sein kann, wenn es zu seiner eigenen Geschichte steht, auch zu den dunkelsten Zeiten, die es durchlebt hat. Wenn wir dann auch die entsprechende Konsequenz bis zur Korrektur, d. h. der Annäherung unserer Rechtsordnung an unsere Wertordnung, daraus ziehen, werden wir in der Lage sein, Menschenrechte unteilbar auch in allen anderen Gegenden und für alle Zukunft zu verteidigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0814507000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stark.

Dr. Anton Stark (CDU):
Rede ID: ID0814507100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Offenbar braucht dieses Parlament Verjährungsdebatten, uni in Sachlichkeit und Ruhe quer durch alle Fraktionen diskutieren zu
können, wie das jetzt mehrmals bei den Debatten über dieses uns alle bedrängende Problem geschehen ist.
Im Gegensatz zum Kollegen Schwarz-Schilling war ich 1969 dabei. Ich habe auch 1965, obwohl ich erst danach in den Bundestag kam, die Debatte sehr aufmerksam verfolgt. Es gibt Dinge, sagt ein Philosoph, wenn man über die nachdenkt, könnte man den Verstand verlieren, soweit man einen hat. Ich glaube, das spüren wir alle, wenn wir uns diese Zeit vor Augen führen, in der Dinge geschehen sind, die wir, die relativ jüngeren, die nicht mehr unmittelbar den Anfechtungen ausgesetzt waren, uns kaum mehr vorstellen können. Trotzdem lassen Sie mich einiges sagen, was mich in dieser Debatte bedrängt: nämlich mit welcher Selbstgerechtigkeit und Selbstsicherheit einige jüngere Kollegen, die in dieser Zeit nicht Verantwortung trugen, die nicht den Anfechtungen dieses Systems ausgesetzt waren, heute hier auftreten und sagen, was jetzt zu geschehen habe.

(Frau Matthäus-Maier [FDP]: Beispiele!)

Ausgangspunkt unserer Debatte — das wurde heute klar, ich freue mich darüber; daran wurde kaum vorbeigeredet — ist die Frage, ob die schrecklichen Verbrechen der NS-Zeit so, wie es das Parlament dreimal beschlossen hat, am 1. Januar 1980 -verjähren sollen und damit nicht mehr verfolgt werden können. Die Frage, ob der gemeine Mord verjähren soll, wurde von manchem bewußt mit hereingenommen, um besser ihre Argumente vertreten zu können. Von anderen wurde ganz offen gesagt: Darauf käme es Ihnen nicht an, da würden sie eventuell eine andere Meinung vertreten. Hier setzen meine Bedenken ein; hier fühle ich mich beschwert. Ich glaube, ich bin der erste, der sich dazu äußert; sonst hätte ich gar nicht gesprochen, weil zu den Argumenten rechtspolitischer und allgemeiner Art gar nicht mehr viel Besseres gesagt werden kann, als heute hier geäußert wurde.
Ich bin der Meinung, daß, wenn wir heute darüber abstimmen würden oder darüber entscheiden müßten, ob Verjährung für gemeinen Mord abgeschafft werden soll, 70 bis 80°10 dieses Parlaments — ich weiß es nicht genau — nicht dafür wären. Davon gehe ich aus. Damit würden diese Kolleginnen und Kollegen anerkennen, daß die Verjährung ein Institut nicht des Mittelalters oder sonst eine veraltete Einrichtung, sondern ein Institut des aufgeklärten, sich seiner Grenzen bewußten modernen Rechtsstaats ist, ein durchaus liberales Institut, das es in einem totalen oder absoluten Staat nicht geben kann, weil diese Staaten sich alles zutrauen.
Die Verjährung erfolgt nicht im Interesse des Verbrechers. Das sollten wir bei aller Erregung und Emotion über die schrecklichen Taten des Dritten Reiches nicht vergessen, und ganz nüchtern fragen: Was ist der Sinn der Verjährung? Die Verjährung ist, wie Adolf Arndt und Thomas Dehler in hervorragender Weise gesagt haben, ein Institut, um den Staat vor der Hybris zu bewahren, durch verspätete, von Menschen getätigte Rechtsprechung Fehlurteile, Falschurteile zu fällen, Justizirrtümer zu begehen und zu glauben, er könnte wie das jüngste Gericht



Dr. Stark (Nürtingen)

sozusagen die letzte Gerechtigkeit verwirklichen. Das zu vermeiden, ist der Sinn: der Verjährung die Justiz vor der Unglaubwürdigkeit zu schützen. Dazu wurden Zahlen und Daten vorgetragen, die meines Erachtens unwiderlegbar sind.
Jetzt kommt aber für mich der entscheidende Punkt. Während das also für gemeinen Mord weithin anerkannt wird, wird hier von vielen Kollegen — auch meiner Fraktion — mit Überzeugung, mit guter Absicht und aus ehrlichen Motiven gesagt: Ja, aber die NS-Taten — das ist etwas ganz anderes, das ist so exorbitant, da darf das nicht gelten! Hier stocke ich. Wenn wir ehrlich sind, meine Damen und Herren, wenn wir nicht selbstgerecht sind, dann müssen wir hier nachdenken. Strafrecht hat nur über individuelle Schuld des einzelnen zu urteilen und nicht kollektiv über die Verurteilung des Nationalsozialismus, dieses Teufelsstaates und dieser Maschinerie — da sind wir uns doch alle einig! Ich glaube, keiner wird hier im Hause behaupten, er sei mehr dagegen gewesen und jener weniger. Das sollten wir uns alle zubilligen, ganz gleich, wie wir in dieser Frage denken. Aber es geht jetzt um die individuelle Schuld — verstehen Sie das nicht falsch! — eines Menschen, der von 14 an im Elternhaus ideologisch getrimmt wurde, mit 17 in der Napola war — ich war es nicht; zu Ihrer Beruhigung! —, dann beeinflußt wurde von morgens bis abends im Freundeskreis mit Rassenwahn, mit Ideologie, mit „Führer befiehl, wir folgen", der gar nichts anderes mehr gehört hat und dann in die Maschinerie des Dritten Reiches geriet: Er ging zum SS-Reiterverein, weil er reiten wollte, oder er ging zum NSKK, weil er Motorrad fahren wollte, und plötzlich wurde er abgeordnet — das ist geschehen, wie mir heute ein Kollege gesagt hat — als KZ-Wächter. Dann war er in der Maschine drin, und er hat unter Umständen schreckliche Taten begangen.
Jetzt aber zur individuellen Schuld! Ist diese Schuld individuell, nicht kollektiv, und ethisch gesehen größer als diejenige eines Menschen, der hier in einer freiheitlichen Demokratie in Frieden und Freiheit, durch gute Schulen ging und dann zum Mörder wird wegen 50 DM oder auch aus ideologischer Verblendung, als Terrorist? Warum sollten wir hier die Dinge anders behandeln? Ich frage das, und darauf möchte ich eine Antwort: ob hier die individuelle Schuld eines einzelnen etwas völlig anderes ist und ob man deshalb NS-Taten und gemeine Mordtaten verschieden behandeln kann. Ich persönlich bin der Überzeugung: Wenn man ehrlich ist, kann man das nicht.
Ich verstehe Sie, die Sie die Verjährung abschaffen wollen, so: Sie wollen — das habe ich aus dieser Debatte entnommen; insofern war die Debatte wirklich nicht umsonst, wie man zunächst vielleicht gemeint hat: warum noch einmal über alles das diskutieren?
noch einmal zum Ausdruck bringen, daß wir das, was da alles geschehen ist, zutiefst verurteilen, daß wir das nicht vergessen wollen und nicht — wie es manchmal heißt — einfach Schluß machen und nichts mehr davon wissen wollen. Das unterstelle ich Ihnen, und dabei stehe ich voll zu Ihnen. Jüngste Ereignisse, „Holocaust" und andere Dinge, haben uns gezeigt, daß sich unsere Bürger draußen — ich hoffe, nicht wir, die Abgeordneten; ich war etwas betrübt, als ich von einem Abgeordneten hörte, ihm sei erst jetzt aufgegangen, was im Dritten Reich passiert sei; das fand ich etwas bedenklich, weil er seine Informations- und Sorgfaltspflicht dann vernachlässigt hat — auf Grund dieses Films, der offenbar in der modernen Art an die Seele der Menschen herangekommen ist, trotz Tausender von Prozessen vorher mit diesem Problem auf einmal anders beschäftigen.
Jetzt dürfen wir keinem Trugschluß und keinem Kurzschluß erliegen, indem wir sagen: wir dürfen die Verjährung unter keinen Umständen beibehalten. Wir stehen vor einer rechtspolitischen Frage grundsätzlicher Art, die man so oder so lösen kann. Ich arbeite hier gar nicht mit verfassungsrechtlichen Argumenten. Aber wir sollten nicht aus einer Stimmung heraus ein Institut abschaffen, mit dem wir 150 Jahre, d. h. in der Neuzeit, meine Damen und Herren, gelebt haben. Heute hat mein Kollege Mikat gesagt: Das ist ja noch nicht tausend Jahre alt. Sonst argumentieren wir immer: das, was tausend Jahre alt ist, muß abgeschafft werden. Wir schaffen jetzt Rechtsinstitute ab, die noch keine 50 Jahre alt sind. Hier ist also ein Bruch in der Argumentation, wobei ich allen Kollegen guten Willen unterstelle.
Es geht allein darum, ob wir das, was wir gemeinsam wollen, mit der Abschaffung der Verjährung erreichen können. Ich bin nach reiflicher Prüfung — ich habe mich in dieser Sache sehr engagiert, ich habe versucht, alles zu lesen, und habe die Debatten verfolgt -- der festen Überzeugung: Es wäre nicht die richtige Entscheidung, weder im Hinblick auf das, was wir alle wollen, noch auf das, was diejenigen wollen, die noch einmal klar zu dokumentieren wünschen, daß wir das Dritte Reich nicht vergessen und darüber nicht zur Tagesordnung übergehen wollen.

(Wehner [SPD] : Es geht nicht um das Vergessen! Es geht darum, die Größenordnung des Problems klarzumachen!)

— Wir wollen es bewältigen, Herr Wehner. Aber der Weg dahin ist ganz bestimmt falsch, wenn man 10000 Verfahren durchführen muß, die acht bis zwölf Jahre dauern, und dann 0,3 % der Beschuldigten verurteilt werden. Das ergibt keinen Sinn mehr. Damit bewältigen Sie nicht die Vergangenheit, sondern damit zerstören Sie das Vertrauen in den Rechtsstaat, in unsere Zuverlässigkeit.
Dieses Parlament hat hier dreimal in aller Sachlichkeit und Ruhe, mit Engagement und unter Abwägung aller Argumente diese Frage entschieden. Herr Dr. Schwarz-Schilling, lieber Kollege, lesen Sie es doch bitte einmal nach. Damals wurde mindestens so ernsthaft, so ausführlich und so gut argumentiert wie heute. Der Bundestag kann doch in einer so entscheidenden Frage nicht alle paar Jahre so oder so beschließen. Das wollte ich noch sagen.
Wenn ich Ihre Geduld zu lange . in Anspruch genommen habe, bitte ich um Verzeihung.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)





Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0814507200
Das Wort hat der Abgeordnete Sieglerschmidt.

Hellmut Sieglerschmidt (SPD):
Rede ID: ID0814507300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich bemühen, zu dieser späten Stunde möglichst wenig von dem zu wiederholen, was andere schon gesagt haben, sondern mich mit dem auseinanderzusetzen, was Kollegen von mir erörtert haben.
Ich möchte, Herr Kollege Maihofer, mit einer Maxime — ich darf das einmal so nennen — beginnen, die Sie aufgestellt haben. Sie lautete — ich hoffe, ich zitiere sinngemäß ungefähr richtig —, es wäre für Sie ein unerträglicher Gedanke, wenn man den gemeinen Mord und den Völkermord bzw. den NS-Mord auf die gleiche Stufe stellte. Dem liegt letztlich auch die Überlegung zugrunde, daß man das Verhalten der Täter verschieden bewerten müßte, so wie es insbesondere auch der Kollege Schwencke ausgeführt hat.
Ich kann mich hier nur dem anschließen, was kurz vor mir — zu diesem Punkt, sage ich ausdrücklich — der Kollege Stark erklärt hat. Zwar würde ich davor warnen, nun etwa zu sagen, die schicksalhafte Verstrickung bei den NS-Tätern sei in der Regel größer gewesen, als sie es bei anderen Mördern ist, aber das Umgekehrte ist, wenn man die menschlichen Schicksale kennt, die diesen Prozessen zugrunde liegen, sicherlich genauso falsch.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU] : Das ist auch nicht geschehen! — Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU] : Außerdem habe ich es so nicht gesagt, Herr Sieglerschmidt!)

— Ich habe Sie eben gerade lobend erwähnt, Herr Kollege Stark. Wenn Sie richtig hingehört hätten, hätten Sie das genau gemerkt.
Deswegen, Herr Kollege Maihofer, möchte ich in allem Ernst die umgekehrte Maxime aufstellen: Es wäre für mich ein unerträglicher Gedanke, wenn nach dem 1. Januar 1980 am Tage X an der einen Stelle in der Bundesrepublik jemand verhaftet würde, der eines NS-Mordes verdächtigt wird, und an einer anderen Stelle in der Bundesrepublik ein anderer, eines „gemeinen" Mordes Verdächtiger, und der eine würde seiner Verurteilung entgegensehen und mit lebenslanger Haft bestraft, während der andere frei dahergehen könnte.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dies wäre für mich ein unerträglicher Gedanke.
• Ich verstehe ja das Bemühen derjenigen, die hier differenzieren wollen; ich verstehe es ja. Es ist ja auch — das muß ich jedenfalls für mich sagen — richtig, was hier von verschiedenen Rednern gesagt worden ist: Wenn wir nicht den Anlaß der anstehenden Verjährung von NS-Gewaltverbrechen hätten, würden wir über die Verjährung von Mord allgemein hier nicht diskutieren.

(Zuruf von der FDP: So ist es!)

Wenn ich auch einmal auf die Debatten der Jahre 1965 und 1969 zurückblicken darf, möchte ich das unterstreichen, was heute in der Debatte schon einmal gesagt worden ist: Ich will da niemandem Vor-
würfe machen, aber man hat danach die eigentliche Entscheidung vertagt, und jetzt, meine Damen und Herren, kommt die Stunde der Wahrheit, in der wir uns entweder für die Verjährung von Mord allgemein oder für die Unverjährbarkeit von Mord allgemein entscheiden müssen.

(Beifall bei der SPD)

Nun sind für das Rechtsinstitut der Verjährung viele Gründe angeführt worden, und es sind in dieser Debatte auch eine Reihe von meiner Überzeugung nach wirklich einleuchtenden Gegengründen angeführt worden, die ich hier jetzt nicht wiederholen will. Ich meine, diese Gegengründe lassen sich im wesentlichen dahin gehend zusammenfassen, daß die Begründung für die Verjährung von Mord allgemein, die ihre Verfechter hier gegeben haben, nur dann richtig wäre, wenn diese Verfechter bereit wären, auch im wesentlichen oder ganz die Möglichkeit der Unterbrechung der Verjährung durch richterliche Handlung abzuschaffen. Dann würden all die Argumente gelten; sonst gelten sie meiner Auffassung nach nicht.

(Kleinert [FDP] : Ich war so frei, das auszuführen!)

— Ja, Herr Kleinert, in diesem Punkt sind wir uns ganz einig.
Erlauben Sie mir nun, daß ich mich als jemand, der sich nun schon seit sieben Jahren und länger mit der Rechtsvereinheitlichung in Europa ein bißchen beschäftigt hat, mit der Frage befasse, wie es denn nun in den Staaten um uns herum hinsichtlich der Verjährung aussieht. Ich will nicht alles, was hier schon dazu gesagt worden ist, wiederholen; ich möchte daraus nur diese Feststellung ableiten: Die bei uns im Zusammenhang mit einer Unverjährbarkeit geäußerten Befürchtungen werden von diesen Staaten nicht bestätigt. Man kann, wenn man über den Grenzzaun schaut, auch nicht sagen, daß die Verjährung von Mord unbedingt eine Errungenschaft des liberalen Rechts sei. Wie wollte man etwa einem Land wie Dänemark absprechen, daß es eine ausgeprägte liberale Rechtsentwicklung hat?
Es ist eben nicht richtig — ich möchte das noch einmal sehr deutlich sagen —, in diesem Zusammenhang immer auf die Länder des angelsächsischen Rechtskreises zu verweisen, wo es andere Voraussetzungen gibt.
Ich mehme einmal ein großes Nachbarland wie Frankreich als Beispiel. In dem steht die Verjährung nicht im Gesetz, sie ist aber faktisch durch die Rechtsprechung sanktioniert. Die Rechtsprechung dort hat gesagt: Die Verjährung kann durch richterliche Handlung unterbrochen werden, und zwar unbegrenzt — damit ist faktisch. Unverjährbarkeit eingetreten. Man kann also nicht sagen, daß es hier nicht andere Möglichkeiten gebe.
Ich komme zu der Schlußfolgerung, daß die Frage „Verjährung oder Nichtverjährung" nicht eine Frage der Liberalität, nicht eine Frage des Schutzes des Rechtsstaates, sondern eine Frage der jeweiligen Rechtstraditionen in den verschiedenen Ländern ist.



Sieglerschmidt
Nun kann man gewiß sagen: Wir haben die hier immerhin seit über hundert Jahren. Aber ich meine, man wird nicht sagen können, daß der Rechtsstaat Schaden nimmt, wenn die Verjährung für Mord, nur für dieses eine Delikt, abgeschafft würde.
Soweit man die Frage der Verjährung als Grundsatzfrage ansieht, spricht ja doch viel für die Unverjährbarkeit. Ich will das Viele, was hier dazu gesagt worden ist, nicht wiederholen. Ich will nur dem Kollegen Lenz — ich sehe aber, daß er nicht mehr da ist — in aller Freundschaft sagen, daß er bei, seinen Ausführungen zu der Frage des Lebens als höchstes Gut doch wohl ein wenig übersehen hat, daß er, als er Schiller zitierte, zwei Ebenen der Argumentation in unzulässiger Weise vermischt hat. Das kann man nun wirklich nicht machen. Ich will im Augenblick nicht noch mehr dazu sagen, zumal Herr Lenz nicht mehr da ist. .
Hier ist schon mehrfach auf den Zusammenhang der Unverjährbarkeit von Mord einerseits und einer gesetzlich geregelten Überprüfung des Vollzugs der lebenslangen Freiheitsstrafe andererseits hingewiesen worden. Ich will auch hier nicht wiederholen, sondern nur feststellen, daß für mich dies nicht nur ein Gegensatz ist, sondern daß für mich zwischen beiden Schritten ein notwendiger Zusammenhang besteht.
Ich möchte ausdrücklich sagen, daß ich das, was der Kollege Graf Stauffenberg — ich weiß nicht, ob er noch im Saal ist — dazu ausgeführt hat, ein wenig bedauere. Er hat so getan, als wenn er nicht wüßte, daß die lebenslange Freiheitsstrafe schon jetzt in aller Regel nicht lebenslang vollzogen wird und daß nur eine zum Teil fragwürdige Gnadenpraxis durch ein geregeltes Verfahren abzulösen ist.
Im übrigen sollten wir uns alle darüber klar sein, daß der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe von einem bestimmten Punkt an — das sagen uns die Ärzte, die Psychologen —

(Glocke des Präsidenten)

— Wieso? Es hat doch bisher für niemanden eine Redezeitbegrenzung gegeben.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814507400
Herr Kollege, für Sie sind zehn Minuten Redezeit angemeldet.

Hellmut Sieglerschmidt (SPD):
Rede ID: ID0814507500
Das hat mir aber niemand gesagt. Ich finde das sehr bedauerlich. Ich muß sagen, daß hier — —

(Erhard [Bad Schalbach] [CDU/CSU] : Das ist das unterschiedliche Empfinden!)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814507600
Herr Kollege, fahren Sie zunächst einmal fort.

Hellmut Sieglerschmidt (SPD):
Rede ID: ID0814507700
Ich sehe nicht ein, daß man hier zweierlei Maß einführt.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : 15 Minuten Redezeit haben wir die ganze Zeit gehabt!)

— Gut.
Meine Damen und Herren, man muß erkennen, daß der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe von einem bestimmten Punkt an unmenschlich wird. Ich sage hier ausdrücklich: Das gilt für mich auch für NS-Verbrecher, wo immer sie derzeit, in Deutschland oder anderswo, einsitzen.
Hier ist verschiedentlich über die Fragwürdigkeit der Verfahren bei wachsendem zeitlichen Abstand von der Tat gesprochen worden. Ich komme darauf nur noch einmal zurück, weil der Kollege Lenz in diesem Zusammenhang geäußert hat, die Justiz habe bei diesen NS-Gewaltverbrechensprozessen ihre Pflicht getan. Ich will weiß Gott nicht das Gegenteil behaupten. Aber verehrte Kollegen, man muß, wie ich meine, doch ein wenig differenzierter an eine solche Behauptung herangehen. Wir haben uns an eine ganze Reihe von Prozessen zu erinnern, bei denen erst der Bundesgerichtshof am Ende repariert hat, was die zuständigen Schwurgerichte zum Teil in einer — wie auch aus den Urteilsbegründungen des Bundesgerichtshofes hervorgeht — unglaublichen Weise judiziert hatten. Daß solche Entscheidungen in der Bundesrepublik möglich waren, wie sie zum Teil getroffen worden sind, schmälert ein bißchen den Ruhm der Justiz in diesem Zusammenhang. Man sollte dies an einem solchen Tage wie heute nicht verschweigen.
Sicher ist auch das richtig, was über die Belastung der Zeugen in diesen NS-Gewaltverbrechensprozessen gesagt worden ist. Wer Gelegenheit gehabt hat, mit ihnen zu tun zu haben — ich habe zwar nicht als Anwalt, aber persönlich in vielen Fällen diese Gelegenheit gehabt —, weiß, wie schlimm es für diese Menschen, die ja ihr ganzes Leben lang von dem schrecklichen Geschehen, das sie erlebt haben, gezeichnet sind, ist, wenn die Wunde wieder aufgerissen wird. Aber gerade diese Menschen wären doch in der Regel die allerletzten, die sagen würden: Nun macht Schluß und laßt Verjährung eintreten!
Sicherlich — das ist jedenfalls meine Überzeugung — werden nur wenige Verfahren nach Eintritt der Verjährung hinzukommen, und wahrscheinlich werden es noch weniger sein, die erfolgreich, d. h. mit einer Verurteilung abgeschlossen werden können. Weder die Verjährung noch die Unverjährbarkeit würden hier also zu einem nennenswert anderen Ergebnis führen. Wenn jemand so argumentiert, wie ich es hier getan habe, stellt sich die Frage: Warum dann das Eintreten für die Unverjährbarkeit von Mord? Vielleicht doch — ich nehme das ganz bewußt noch einmal auf — wegen des Drucks aus dem Ausland? Ich möchte feststellen, weil das in der öffentlichen Diskussion — nicht hier und heute in diesem Hause — eine Rolle gespielt hat, daß diese Unterstellung für die Verfechter der Unverjährbarkeit von Mord genauso beleidigend ist, wie es die Unterstellung gegenüber den Vertretern der Verjährung ist, sie wollten Nazimörder schützen. Nein, es darf keinen Druck geben bzw. man darf, wenn es einen Druck geben sollte, ihm nicht nachgeben.
Man muß aber natürlich verstehen, daß insbesondere in den Ländern, in denen Menschen von NS-



Sieglerschmidt
Gewaltverbrechen betroffen worden sind, diese Frage mit großer Anteilnahme, ja, mit Leidenschaft diskutiert wird. Ich will hier eine Bemerkung zu dem machen, was der Kollege Stauffenberg und andere Kollegen gesagt haben, nämlich daß man einigen dieser Länder das Recht absprechen müsse, mit dieser Sorge und Leidenschaft zu diskutieren. Ich möchte diejenigen Kollegen, die so denken, dringend davor warnen, sich die Sache zu einfach zu machen.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Wir lesen Solschenizyn!)

— Auch der macht es sich manchmal zu einfach. Wir wissen alle von Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern. Wir wissen aber auch, daß dort in einem unglaublichen Ausmaß Morde stattgefunden haben, gerade auch in Polen und in der Sowjetunion. Wir können weder den Vertretern dieser Länder noch gar ihren Bürgern das Recht absprechen, ihre Anteilnahme an dieser Diskussion hier zu zeigen.

(Beifall bei der SPD — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Wenn es um die Anteilnahme geht, haben wir auch nichts dagegen!)

Schließlich ist das auch in den Diskussionen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und des Europäischen Parlaments sehr deutlich zum Ausdruck gekommen.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Über Kriegsverbrechen wurde dort geredet!)

— Dabei ging es nicht nur um Kriegsverbrechen, Herr Kollege Erhard

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Aber auch!)

— Sie müssen die Entschließung einmal genau lesen —,

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Das habe ich!)

sondern auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, was in der in Europa üblichen Umschreibung das mit umgreift, was bei uns geschehen ist, auch wenn es bei uns rechtlich so nicht verwendbar ist.
Ich bedauere sehr, daß ich zum Schluß kommen muß; aber ich beuge mich natürlich der Entscheidung des Präsidenten.
Bei dieser Situation, wie ich sie beschrieben habe, ist für mich ein moralisches Argument entscheidend, nämlich die Situation der Opfer und der Hinterbliebenen. Man kann diesen Menschen — ich habe viele Verbindungen mit ihnen gehabt und habe auch heute noch welche — sagen: Ob Verjährung eintritt oder nicht, ändert an der Verurteilung von NS-Gewaltverbrechern kaum etwas, oder wenig. Dies ist nicht der entscheidende Punkt. Es geht darum, daß sich die übergroße Anzahl dieser Menschen tief verletzt fühlen würde, wenn Verjährung einträte. Dies ist für mich Grund genug, um für ein Gesetz einzutreten, das rechtlich einwandfrei verhindert, daß diesen Menschen das zugefügt wird, was ich soeben beschrieben habe. Das gilt nicht nur für jene Älteren, die wie ich jene Zeit erlebt und manche von uns auch durchlitten haben, sondern auch die Jüngeren, die diese Zeit nicht bewußt erlebt haben, sind hier in der Pflicht.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814507800
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Josten.

Johann Peter Josten (CDU):
Rede ID: ID0814507900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir haben insgesamt heute eine gute Aussprache gehabt. Ich glaube auch, daß das Niveau dieser Aussprache ein Gewinn für unser Parlament ist.
Ich möchte noch auf einige Aussagen von Kollegen und damit auch auf die erste Beratung der hier vorliegenden Anträge eingehen. Wir alle gehen davon aus, daß es sich hier um eine Gewissensentscheidung handelt. Der Respekt vor der Meinung des anderen — das wurde heute öfter betont — sollte zwar immer selbstverständlich sein; manche Zuschriften, die wir erhalten haben, zeigten jedoch mangelndes Verständnis bei Bürgern unseres Volkes. In vielen Fällen stellte ich fest, daß es an der mangelnden Information lag.
Wie bereits Dr. Gradl heute vormittag bei der Begründung des Gruppenantrags erwähnte, darf kein Unterschied zwischen verschiedenen Morden gemacht werden, also auch nicht zwischen Mord an Juden oder Mord an irgend jemand anderem. Leider sind die Kollegen, die für eine Verjährung sind, kaum auf diesen Punkt eingegangen. Ein ehemaliger Parlamentarier schrieb mir vor Wochen u. a. — ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten —:
Wenn vor vielen Jahren auch der Mord in die Verjährung von 30 Jahren einbezogen wurde, so waren damals andere Verhältnisse. Mord, gemessen an den heutigen Morden, war eine Vereinzelung, während ja heute der Mord zum täglichen, ja, man kann fast sagen: zum stündlichen Geschehen gehört. Die Begründungen, die einzelne Abgeordnete und auch sonstige Politiker für die Beibehaltung der Verjährung angeben, sind durchweg abwegig und treffen nicht zu.
Der Mord an seinem Mitmenschen ist etwas so Furchtbares, daß eine Verjährung für diese Tat nicht menschlich, sondern sogar unmenschlich ist. Nur diese Strafandrohung auch noch nach 30 oder 40 Jahren unterstreicht dieses furchtbare Geschehen und bleibt ein Unruheherd, der sicherlich in manchen Fällen zur Besinnung, zur Reue und zur Umkehr führt. Die Verjährung bewirkt genau das Gegenteil.
Soweit dieser Brief.
Mir wurde in vielen Gesprächen besonders seit den furchtbaren Terroranschlägen der letzten Jahre oft die Frage gestellt: Will das Parlament nicht die Todesstrafe einführen? Ich habe wie fast alle meine Kollegen diese Frage verneint, bin jedoch mit vielen Bürgern der Meinung, daß ein Mord so



Josten
abscheulich ist, daß eine Verjährung dieses Verbrechen verwischt und verharmlost. Wir müssen daher durch eine klare Entscheidung auf die Ungeheuerlichkeit eines Mordes hinweisen, zumal es bei diesem Verbrechen keine Wiedergutmachung gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Kollege Dr. Gradl sprach auch von der Gewaltkriminalität und den Gefahren, die durch viele Druckerzeugnisse entstehen. Ich möchte hier unsere Aufmerksamkeit auch auf • verschiedene Fernsehsendungen richten. Es ist oft furchtbar und schrecklich, was wir heute an schlechten Fernsehprogrammen bis in die letzte Stube erleben, und viele von uns wissen um den ungeheuren Schaden, der durch schlechte Filme, besonders durch Gewalt zeigende Filme entsteht. Ich glaube, darüber müssen wir uns bei einer anderen Gelegenheit noch einmal unterhalten.
Die heute von einzelnen Kollegen aufgeführten Schwierigkeiten, die bei Gerichtsverfahren bestehen, die erst nach vielen Jahren stattfinden, bestreitet niemand, auch niemand von unserer Gruppe. Da gibt es keine Meinungsverschiedenheit. Nur ist es für viele Bürger unvorstellbar, daß sich etwa ein Mörder nach 30 Jahren ungestraft seiner Verbrechen rühmen kann.
Ich habe in der Fraktionssitzung der CDU/CSU am 6. Februar 1979 an folgendem Beispiel auf diese unmögliche Situation hingewiesen, so wie es viele Mitbürger sehen: Ein Mörder, der überführt wird, erhält seine verdiente Strafe. Ein Mörder, der sich freiwillig stellt, wird ebenfalls bestraft. Der unbekannte Mörder, der bereits 30 Jahre in Freiheit lebt, könnte sich nach der Verjährung seiner Untat noch rühmen. Das darf nicht sein.
Nur wenn Mord generell nicht verjährt, werden solche peinliche Situationen vermieden. Es ist nicht auszuschließen, daß unbekannte Mörder sich auf Grund dieser gesetzlichen Regelung besinnen und dem Richter stellen.
Mehrere Kollegen erwähnten die früheren Abstimmungen. Ich gehören zu den Kollegen, die 1965 und auch im Juni 1969 einer Verlängerung der Verjährungsfrist bei Mord zugestimmt haben. Sicherlich wäre es besser gewesen, schon vor 15 Jahren die Entscheidung zu treffen, die wir jetzt anstreben. Zu dieser konsequenten Haltung konnten wir uns damals noch nicht durchringen. Das gebe ich offen zu. Nun hat jeder von uns die Möglichkeit, nach sorgfältiger Prüfung zu einer Gewissensentscheidung zu kommen, deretwegen er sich später keinen Vorwurf zu machen braucht.
Ein Wort zur Vergangenheit. Zu der heutigen sachlichen Aussprache muß man, glaube ich, diesen Gedanken noch vortragen. Wir alle in diesem Hause verurteilen die Verbrechen des Dritten Reichs. Dr. Klein sprach von der Gedenkstätte in Jerusalem. Jeder ist erschüttert, der diese Gedenkstätte kennenlernt. 1961 besuchte ich mit einer Schar junger Menschen Israel und auch diese Gedenkstätte für die ermordeten Juden. Wir legten Blumen auf die Gußplatten mit den Namen ehemaliger Konzentrationslager. Ich sprach für unsere Gruppe nur einen Satz: „Wir bitten die Lebenden und die Toten um Verzeihung". Junge Israelis sagten uns: „Wir haben verziehen, aber wir können nicht vergessen" — welche menschliche Größe angesichts der schrecklichen Taten, die sie oder ihre Eltern erlebten!
Wir müssen aus der Vergangenheit lernen. Hier möchte ich ein Wort bezüglich der Zukunft sagen. Graf von Stauffenberg sagte viele Sätze, denen wir — wie auch bei vielen anderen Rednern selbstverständlich — alle im Bundestag zustimmen. Aber Kollege Stauffenberg hat auch auf eine Zukunftsaufgabe hingewiesen, zu der uns die Ermordeten verpflichteten, nämlich ja zu diesem demokratischen Rechtsstaat zu sagen. Dazu sagen wir alle ja. Nur glaube ich, daß wir auch die Aufgabe haben, alles zu tun, damit Mörder, die in der Vergangenheit oder in unserer Zeit so viel Leid über Mitbürger brachten, ihre verdiente Strafe bekommen.
Kollege Benno Erhard sagte heute vormittag: „Letzte Gerechtigkeit wird es auf Erden nicht geben." Dr. Schwarz-Schilling sprach vorhin mit Recht: „Glaubhaft kann Deutschland nur sein, wenn es zu seiner Geschichte steht."

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Tun wir alle!)

— Wir alle, lieber Herr Dr. Mertes, können nur hoffen, daß in der Schule nicht nur von den Griechen und von den Römern, sondern auch von unserer neuesten Geschichte mehr gelehrt wird. Dann entsteht mehr Verständnis auch für das, was wir jetzt anstreben.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich möchte mit einem Satz des sozialen Priesters Adolf Kolping schließen:
Wohlan, wenn es heißt, eintreten für das Recht, selbst wenn wir nichts gewinnen sollten als die Ehre und das Bewußtsein erfüllter Pflicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814508000
Meine
und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich möchte aber nicht versäumen, allen Kolleginnen und Kollegen, die heute dazu beigetragen haben, eine gute Grundlage für die Ausschußberatungen zu finden, sehr herzlich zu danken. Ich würde mich freuen, wenn wir auch die weiteren Plenarberatungen später in diesem Geiste führen würden.

(Beifall)

Ich bitte, damit einverstanden zu sein, daß wir entsprechend den Vorschlägen des Ältestenrates die Vorlagen auf den Drucksachen 8/2539, 8/2653 (neu) und 8/2616 an den Rechtsausschuß überweisen. Ich frage, ob das Haus damit einverstanden ist. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt zur heutigen Tagesordnung auf:




Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europaabgeordnetengesetz — EuAbgG)

— Drucksache 8/362 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/2708 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Riedl (München)

b) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 8/2707 —
Berichterstatter: Abgeordnete Krey, Bühling, Wolfgramm (Göttingen)


(Erste Beratung 29. Sitzung)

Ich frage zunächst die Herren Berichterstatter, ob das Wort zur Ergänzung des Berichts gewünscht wird. — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich danke den Herren Berichterstattern.
Wir treten in die allgemeine Aussprache ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krey.

Franz Heinrich Krey (CDU):
Rede ID: ID0814508100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst bitten, in der Beschlußempfehlung auf Drucksache 8/2707 noch eine kleine Korrektur vorzunehmen. In § 5 Abs. 1 Satz 1 der Beschlußempfehlung, Seite 6 rechte Spalte, muß das Wort „Abgeordneten" durch das Wort „Mitglieder" ersetzt werden. Ich bitte, diese Berichtigung zu Protokoll zu nehmen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Leider ist es zu dieser späten Stunde nicht mehr möglich, auf die gesamten politischen Aspekte einzugehen, die mit dem Europäischen Parlament, der Wahl seiner Abgeordneten und ihrem Status verbunden sind. Ich möchte deshalb versuchen, in gebotener Kürze das Wesentliche aus unserer Sicht in diese Debatte einzuführen.
Der kühne Traum Adenauers, Alcide de Gasperis und Robert Schumans von einem politisch geeinten Europa soll durch die ersten Direktwahlen des Europäischen Parlaments' seiner Verwirklichung ein großes Stück nähergebracht werden.
Der Weg bis zu diesem Datum war schwer und — darüber müssen wir uns im klaren sein — wird auch in den kommenden Jahren keineswegs frei von Gefahren, Risiken, Rückschlägen und Enttäuschungen verlaufen. Um so größer sind die Erwartungen, die wir alle und mit uns viele Millionen Menschen in allen Völkern unseres Erdteils in jene Frauen und Männer setzen, die sich in diesen Wochen und in den kommenden zweieinhalb Monaten um das Vertrauen der wahlberechtigten Bürger in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bewerben. Um so bedeutungsvoller ist ihr Beitrag zu dem
Weg, den dieses unser Europa in seine gemeinsame Zukunft gehen soll. Der europäische Wahlkampf muß dazu beitragen, daß sich die Bürger entscheiden können, daß sie wählen können zwischen den alternativen Angeboten in der politischen Sachaussage und aus dem personellen Angebot der Kandidaten.
Der uns heute zur abschließenden Entscheidung vorliegende Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Europaabgeordneten aus der Bundesrepublik Deutschland kann und soll nur vorläufig regeln, was das Europäische Parlament als frei gewählte Volksvertretung einmal für alle seine Mitglieder festlegen soll.
Das uns vorliegende Gesetz regelt den Status der direkt gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments. Es enthält die Bestimmungen zur freien Mandatsausübung, zur Indemnität und Immunität und regelt das Verhältnis von Amt und Mandat im Europaparlament. Die getroffenen Regelungen sind im Zusammenhang mit dem Europawahlgesetz zu sehen und basieren auf den Rechtsgrundsätzen, die auch den Status" der Mitglieder unseres Hohen Hauses bestimmen.
Meine Freunde und ich bedauern es sehr, daß auf Grund der Haltung im Rat der Europäischen Gemeinschaft nicht schon jetzt mehr Gemeinsamkeit der Staaten möglich war, hoffen aber sehr, daß dies bald der Fall sein wird.
Beschäftigung mit Diäten und Versorgungsfragen, der Amtsausstattung und der Altersversorgung der Parlamentarier ist alles andere als populär. Vielleicht hat dies auch unsere Beratungen so schwierig gemacht. Aber wir haben angesichts der nicht zustande gekommenen europäischen Regelung die Pflicht, durch eine nationale Übergangsregelung dafür zu sorgen, daß unsere Abgeordneten, die nach Europa gehen, auch in der Lage sind, ihren großen Auftrag zu erfüllen. Dem dient dieses Gesetz, dessen Einzelregelungen wir für notwendig halten, wenn die Gewählten von Anfang an als freie, unabhängige, an Aufträge und Weisungen nicht gebundene Abgeordnete die Völker Europas politisch vertreten, ihren Willen formulieren und die komplizierten Apparaturen, die mächtigen Bürokratien und vielfältigen Instanzen kontrollieren und schließlich — das halte ich für besonders wichtig — sich volle Parlamentsrechte erkämpfen sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will nicht verhehlen, daß angesichts der europäischen Wirklichkeit dieses Gesetz in manchen Bereichen sogar erhebliche Mängel aufweist. So bleibt leider offen, welche Hilfsmittel den Europaabgeordneten insgesamt zur Verfügung stehen, die heute für eine parlamentarische Arbeit und ihre politische Tätigkeit im Lande unerläßlich sind.
In der heute ebenfalls zur Beratung und Beschlußfassung anstehenden Entschließung legen wir unsere Absicht fest, diese Mängel zu beseitigen, wenn für das Europäische Parlament nicht bald eine befriedigende Lösung erfolgt sein wird. Hier geht es eben nicht um Pfründe, um die Mehrung von Ein-



Krey
kommen und die Aussicht auf ein gesichertes Leben. Hier geht es um die Sicherung einer für alle Menschen in Europa entscheidenden Aufgabe, die denen, die sie übernehmen und ernst nehmen, viel Kraft, Opfer und Leistung abverlangen wird.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Sehr viel!)

Es kann nicht im Interesse der Menschen in unserem Lande und in ganz Europa liegen, wenn nur diejenigen etwa über ein Büro verfügen, die als Vertreter großer und •mächtiger Organisationen und Verbände in das Europäische Parlament einziehen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

während die anderen ihre Schreibtischarbeit in einem Hotelzimmer am jeweiligen Tagungsort — mal in Straßburg, mal in Luxemburg, in Brüssel oder gar in Rom — abwickeln müssen. Es kann nicht im Interesse der Völker liegen, wenn die Abgeordneten nur als Sendboten ihrer politischen Gruppierungen oder gar als „gebriefte Sonderbotschafter" ihrer Regierung fungieren. Das neue Europa, wie wir es wollen, bedarf der freien Abgeordneten, die die ganze Fülle europäischer Lebenswirklichkeit einbringen und in der lebendigen Wechselbeziehung zu den Wählern ihres Amtes walten. Wer das anders sieht, hat eine total andere Vorstellung von der europäischen Zukunft als ich und — davon bin ich überzeugt — als die Mehrheit der Bürger unseres Kontinents. Ich habe es daher bei der Beratung des Europawahlgesetzes schon sehr bedauert — ich möchte .das noch einmal zum Ausdruck bringen —, daß wir damals keine Übereinstimmung gefunden haben, die Europaabgeordneten nach den Prinzipien der Persönlichkeitswahl zu wählen, statt dessen vielmehr nur die Listenwahl praktizieren. Ich hoffe sehr, daß das Europäische Parlament das ändern wird, daß es auch diese im Interesse der europäischen Wähler liegende Aufgabe lösen wird.
Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Gesetz in der vorliegenden Fassung trotz ihrer Bedenken zu. Wir stimmen gleichzeitig der Ihnen vorliegenden Entschließung zu. Wir begrüßen es, daß noch in letzter Minute ein Kompromiß zustande gekommen ist; denn auch diesen letzten notwendigen Schritt in der Vorbereitung der Direktwahlen wollen wir nicht im Gegeneinander, sondern im Miteinander gehen. Wir werden aber darauf achten, daß das Ziel, das wir mit dem neuen Kapitel in der Geschichte des Europäischen Parlaments verfolgen, 'nicht aus dem Blickfeld des Deutschen Bundestages verschwindet, nämlich die politische Zukunft eines geeinten, freien, sozialen, demokratischen Europas freier Bürger in all ihrer Vielfalt und Eigenart.
Die CDU/CSU will ein direkt gewähltes Parlament, das in der Lage sein wird, dem freien Willen der Völker wirkungsvoll Ausdruck zu verleihen. Dafür werden wir arbeiten, werben und, wo immer es not-tut, auch kämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814508200
Das 'Wort hat der Abgeordnete Bühling.

Reinhard Bühling (SPD):
Rede ID: ID0814508300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich ebenso wie mein Vorredner auf das Wesentlichste dessen beschränken, was heute entschieden werden muß. Ich möchte allerdings im Gegensatz zu Herrn Krey nicht noch einmal ausdrücklich auf das zurückkommen, was schon bei der Verabschiedung des Europawahlgesetzes an grundsätzlichen Erwägungen in diesem Hause angestellt worden ist.
Das Gesetz, das heute in der letzten denkbaren Minute verabschiedet werden soll, heißt Europaabgeordnetengesetz und nicht — oder nicht nur — Europaabgeordneten-Entschädigungsgesetz. Es erscheint mir doch wesentlich, darauf hinzuweisen, daß zunächst einmal die Rechtsstellung der vom deutschen Volk gewählten 81 Europaabgeordneten umfassend geregelt wird. Ursprünglich sollten ja nach dem Entwurf .der Bundesregierung überhaupt nur Bestimmungen über die Rechtsstellung der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments verabschiedet werden, ohne jede Diätenoder sonstige materielle Regelung. Darauf wird in der Begründung des Entwurfs ausdrücklich hingew iesen.
Wenn nun doch einige solche Regelungen über materielle Fragen zur Beschlußfassung vorliegen, so geschieht das nachträglich, weil in den europäischen Gremien, genauer gesagt: im Rat der Gemeinschaft, bedauerlicherweise keine Einigung zustande gekommen ist. Das hat zuletzt der Präsident des Europäischen Parlaments mit seinem Schreiben vom 21. März dieses Jahres im einzelnen dargelegt. So bedauerlich das ist, so können wir doch nichts daran ändern, sondern müssen nun die notwendigste, aber auch nur die notwendigste Vorsorge auf nationaler Ebene treffen. Wir haben bis zum letzten Augenblick gewartet und gehofft, daß noch eine Einigung im europäischen Maßstab zustande käme.
Wir haben uns auch bis zuletzt — und glücklicherweise mit Erfolg — um ein Einvernehmen mit der Opposition bemüht. Deshalb sind wir auch zeitlich etwas in Verzug; denn die Wahlen zum Europäischen Parlament sollen schon am 10. Juni 1979 stattfinden. Der Zeitdruck ist um so größer, als den Bewerbern für das Europäische Parlament ein Wahlurlaub von zwei Monaten zusteht und dieser mithin schon am 10. April dieses Jahres beginnt.
Ich glaube, wir sind auch dem Bundesrat ein Wort des Dankes dafür schuldig, daß er unter Verzicht auf jede ihm an sich zustehende Frist das Gesetz seinerseits schon am 6. April 1979 beraten will.
Wenn wir nun auch weitgehend national tätig werden, so entbindet dieser Umstand das Europäische Parlament und den Ministerrat nicht für immer von der Pflicht, zu einer einheitlichen Regelung des Status aller europäischen Abgeordneten zu kommen. Es erscheint mit dem Begriff des Parlaments, auf welcher Ebene es auch tätig sei, schwerlich vereinbar, daß alle seine Abgeordneten zwar gleiche Rechte und Pflichten haben, aber einem neunfach verschiedenen rechtlichen Status unterliegen und für die gleiche Arbeit nach neun ver-



Bühling
schiedenen Diätensätzen entschädigt werden. Daran müssen wir festhalten, so schwierig auch eine einheitliche Regelung erscheint, so viele Hindernisse aller Art auch einer einheitlichen Regelung entgegenstehen mögen und wie lange der Weg dahin auch dauern mag.
Insofern ist das Gesetz, das wir heute beschließen müssen, nur ein vorläufiges. Es soll die Regelungen, die zur Wahrnehmung des Mandats der 81 deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments unbedingt benötigt werden, treffen, mehr nicht. Was nicht unbedingt jetzt und hier gesetzlich bestimmt werden muß, soll zunächst dem Europäischen Parlament überlassen bleiben. Ihm soll nicht die Gelegenheit gegeben werden, sich selbst von dem Sachzwang und der Pflicht zur Regelung seiner eigenen Angelegenheiten zu dispensieren. Zu den ureigensten Angelegenheiten eines jeden Parlaments gehört nun einmal die Regelung der Rechtsverhältnisse seiner Mitglieder einschließlich ihrer Entschädigung und ihrer materiellen Arbeitsbedingungen. Das mag in mancher Beziehung unbequem sein und ist in der Regel auch von kritischer Anteilnahme der Öffentlichkeit begleitet. Indessen liegt das in der Natur der Sache. Auch der Deutsche Bundestag hat sich seit 1949 mehrfach über diese Fragen schlüssig werden müssen. Es ist nicht einzusehen, warum sich nicht auch das Europäische Parlament nach seinem Zusammentritt diesen Problemen zuwenden sollte.
Wenn nun aber schon — hoffentlich nicht allzu lange — zunächst neun verschiedene nationale Regelungen für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments gelten werden, erschien es um so mehr geboten, wenigstens die Einigung in diesem Hause zwischen allen Fraktionen herbeizuführen. Die Schwierigkeiten der Materie, ihre Vielschichtigkeit und der Zeitdruck, unter dem der Innenausschuß stand, haben diesen notwendigen Kompromiß sehr schwer gemacht. Um so mehr möchte ich meiner Befriedigung darüber Ausdruck geben, daß Ihnen der Ausschuß nun doch einen einvernehmlichen Gesetzesvorschlag vorlegen kann. Es erschien manchmal fast unmöglich, die verschiedenen gedanklichen Ausgangspunkte auf einen Nenner zu bringen. Es ist um so besser, daß nun ein einstimmiger Beschluß vorliegt.
Um diesen einstimmigen Beschluß zustande zu bringen, haben meine Freunde viele Zugeständnisse gegenüber ihren ursprünglichen Vorstellungen und Beschlüssen machen müssen. Wir haben aber das Ziel einer einvernehmlichen Regelung wenigstens im Deutschen Bundestag auch über solche Gesichtspunkte gestellt, die uns an sich durchaus wichtig erschienen. Damit will ich natürlich diese Haltung keineswegs allein für uns in Anspruch nehmen; denn ich will nicht in den Fehler verfallen, nach erfolgter Einigung noch über die Vorgeschichte zu polemisieren. Entsprechende Äußerungen im heutigen CDU-Pressedienst möchte ich deshalb einfach zurückweisen und im einzelnen dazu keine Ausführungen machen.
Maßgeblich ist allein das einvernehmliche Ergebnis. Jeder vernünftige Mensch freut sich darüber.
Wer auch immer sich darüber geärgert hat, daß auch er zur Hälfte hat nachgeben müssen, und nicht einsieht, daß dieses das Wesen des Kompromisses ist, ist daran selbst schuld und soll sich allein mit seinem Unmut auseinandersetzen.
Ich will mich nun den wichtigsten Einzelbestimmungen zuwenden. Zunächst hervorzuheben ist die Statuierung des freien Mandats in § 2 des Gesetzes. Dort ist genau das bestimmt, was auch in Art. 38 im Grundgesetz steht: daß die Abgeordneten des Europäischen Parlaments an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und- nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Bedeutsam sind weiterhin der Schutz des Mandatsbewerbers gemäß § 3 des Gesetzes, der insbesondere im Arbeitsrecht seine Bedeutung hat, der in anderem Zusammenhang schon erwähnte Wahlurlaub von zwei Monaten und das Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten.
Nun zum dritten Abschnitt des Gesetzes, den wir nachträglich haben einfügen müssen — ich betone: müssen —, der die Leistungen an die Mitglieder des Europäischen Parlaments behandelt. Im Vordergrund der Diskussion steht erfahrungsgemäß die Höhe der Grundentschädigung. Gerade hier wäre es am nötigsten gewesen, eine einheitliche europäische Regelung zu treffen. Wenn aber die entsprechenden Vorschläge leider nicht durchgedrungen sind, die ich jetzt nicht mehr im einzelnen behandeln will, dann erschien uns von allen in Betracht zu ziehenden Gesichtspunkten ein Argument das wichtigste: Der Abgeordnete des Europäischen Parlaments soll dieselbe Grundentschädigung erhalten wie ein Bundestagsabgeordneter. Jede andere Regelung, möge sie auch noch so geringfügige Abweichungen bringen, würde nur eine abwegige Wertdiskussion auslösen. Es würde dann nämlich auf unabsehbare Zeit darüber gestritten, welches Mandat und welche Aufgabe höher- oder geringerwertig sei. Damit wäre dem Europaparlament sicher nicht gedient. Auch den nationalen Parlamenten könnten solche Auseinandersetzungen wohl nichts nützen.
Aber in diesem Zusammenhang gilt es noch, eine oft gestellte Frage zu beantworten bzw. einen viel verbreiteten Irrtum zu widerlegen. Ein Doppelmandatar, der zugleich einen Sitz im Europäischen Parlament und im Bundestag innehat, bekommt den Entschädigungsbetrag nur einmal. — Die Freifahrt im ganzen Bundesgebiet braucht der Europaabgeordnete, weil er ja jeweils ein großes Gebiet betreuen muß und auch im ganzen Bundesgebiet tätig werden soll.
Schließlich haben wir uns entschlossen, eine Regelung über Zuschüsse in Krankheitsfällen und über Unterstützungen entsprechend §§ 27 und 28 des Abgeordnetengesetzes mit einzufügen. Es wird dem Europäischen Parlament damit bedauerlicherweise wiederum etwas von seiner eigenen Verantwortung abgenommen. Dies haben wir aus den grundsätzlichen Erwägungen, die ich vorhin dargelegt habe, nur sehr ungern getan. Auf der anderen Seite war aber nicht zu verkennen, daß der bisherige Krankheitsschutz für die Europaabgeordneten nur am jeweiligen Sitz des Parlaments wirksam



Bühling
wird, also offensichtlich unzulänglich ist. Um hier keine Härtefälle, vermeintlichen Härtefälle oder Zweifelsfälle aufkommen zu lassen, haben wir uns schließlich damit einverstanden erklärt, die entsprechende Bundestagsregelung für den Krankheitsfall zu übernehmen. Es ist also auch auf diesem Gebiet allen Beschwerden vorgebeugt, daß etwa ein Abgeordneter für Europa gegenüber einem Bundestagsabgeordneten benachteiligt werden könnte.
Verhältnismäßig leicht ist es uns dagegen gefallen, die Regelungen des Abgeordnetengesetzes über die Unterstützung bei Notfällen auch für frühere Abgeordnete und die Hinterbliebenen von Abgeordneten entsprechend zu übernehmen. Die Erfahrung hat erwiesen, daß „in besonderen Fällen", wie das Abgeordnetengesetz sagt, eine solche Hilfe durchaus nötig ist. Nicht immer sind gesetzliche Ansprüche vorhanden, und dann muß der Präsident des Deutschen Bundestages über angemessene Unterstützungen entscheiden. Hier hat sich eine verhältrismäßig strenge, aber dennoch wohl ausreichende Praxis gebildet. Diese kann der Präsident des Deutschen Bundestages auch für die Mitglieder des Europäischen Parlamentes bzw. ihrer Hinterbliebenen anwenden.
Selbstverständlich gehen wir bei den Bestimmungen des Sechsten Abschnitts des Abgeordnetengesetzes hinsichtlich der Europaparlamentarier ebenfalls davon aus, daß das Europäische Parlament auch diese nationalen Vorschriften möglichst bald durch eine eigene einheitliche Regelung ersetzt.
Nun zu den Punkten, die offenbleiben und offenbleiben müssen, um das Europäische Parlament wenigstens in hinreichendem Umfang an seine Rechtssetzungspflicht für seine eigenen Mitglieder zu erinnern. Es sind dies im wesentlichen die Altersversorgung, das Übergangsgeld und die Amtsausstattung mit Personal und Büro.
Hinsichtlich des letzten Punktes besteht begründete Absicht, daß das Europäische Parlament bald selbst tätig wird. Seine Überlegungen sind schon sehr konkret geworden. Man kann hoffen, daß sie bald nach der Konstituierung des Parlaments in Kraft gesetzt werden. Sie wären auch ein erstes Beispiel dafür, daß das Europäische Parlament die eigenen Angelegenheiten und Rechtsverhältnisse seiner Mitglieder regeln kann, und könnten dann zu weiteren Fortschritten auf anderen Gebieten führen.
Eine Regelung betreffend die Altersversorgung und das Übergangsgeld kann zunächst ohne Bedenken offenbleiben. Wenn das Europaparlament hier bedauerlicherweise untätig bleiben sollte, kann der Bundestag die entsprechenden Regelungen nachholen und sie eventuell rückwirkend in Kraft setzen, so daß mithin keinem Europaabgeordneten ein Schaden entstehen würde. Um den Betroffenen die Sorge zu nehmen, daß diese beiden wichtigen Probleme zu ihrem Nachteil verschleppt werden könnten, haben wir Ihnen gleichzeitig die Entschließung vorgelegt, mit der sich der Deutsche Bundestag selbst durch die Setzung einer Frist bis zum 31. Dezember 1981 binden soll. Diese Frist erscheint
ausreichend für die Erkenntnis, ob das Europäische Parlament nun eine entsprechende Regelung zustande bringt oder nicht.
Der letzte Satz des Gesetzentwurfes, wonach der Wahlurlaub der Bewerber für das Europaparlament möglicherweise verkürzt werden muß, wird allenfalls, so hoffe ich, einige Tage betreffen. Wir rechnen damit, daß alle verfassungsmäßig und technisch Beteiligten für eine möglichst schnelle Verkündung des Gesetzes Sorge tragen werden, so daß kein größerer Zeitverlust für die Bewerber eintritt. Es wird dies dann mehr oder minder ein bloßer Schönheitsfehler bleiben, der sich aus der komplizierten Entstehungsgeschichte des Gesetzes erklärt.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch eine dringende Hoffnung und eine feste Erwartung aussprechen: Wir hoffen dringend, daß wir uns heute in diesem Hause zum letzten Mal mit den Rechtsverhältnissen der europäischen Abgeordneten befassen müssen, weil das Europäische Parlament alle weiteren Regelungen selbst treffen und die national bereits getroffenen Regelungen durch eigene ersetzen wird. Wir wären dann ein für allemal der widersprüchlichen Pflicht enthoben, nationale Beschlüsse über Abgeordnete eines internationalen Parlaments zu fassen. Sollte diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen, so können wir uns darauf verlassen, daß wir mit dem vorliegenden Beschluß einen allgemeinen Konsens erzielt haben. Bleiben wirklich weitere Fragen offen und müssen wir oder unsere Nachfolger des 9. Deutschen Bundestages erneut gesetzlich entscheiden, so können wir nach meiner festen Überzeugung darauf bauen, daß auch dann wieder — ebenso, wie das heute der Fall sein wird — eine einvernehmliche und angemessene Regelung auf dem Boden der vorgelegten Entschließung zustande kommen wird.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814508400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Klepsch.

Dr. Egon Alfred Klepsch (CDU):
Rede ID: ID0814508500
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich sollte ein paar kurze Anmerkungen zu Fragen machen, die wir bisher nicht behandelt haben, von denen ich aber meine, daß sie es wert wären, zur Kenntnis genommen zu werden.
Wir haben uns die Frage zu stellen — und darauf ist eine Antwort gegeben worden —: Was rechtfertigt eigentlich die Wahl des Europäischen Parlaments? Darüber ist debattiert worden. Aber es ergibt sich natürlich auch die Frage: Was wollen wir speziell von diesem Parlament?
Ich möchte sagen, daß wir drei entscheidende, wichtige Aufgaben dieses Parlaments kennen.
Es soll erstens neue Anstöße für die Fortführung der leider in Stagnation befindlichen europäischen Einigungpolitik geben.
Zweitens erwarten wir von ihm, daß es die Kontrolle der Macht in der Europäischen Gemeinschaft vornimmt. Leider haben wir gegenwärtig einen Zu-



Dr. Klepsch
stand, bei dem die Macht in der Europäischen Gemeinschaft durch demokratische Kontrollen nur sehr ungenügend im Zaum gehalten wird. Die Omnipotenz der Räte und des Rates der Regierungschefs ist eigentlich eines so großen demokratischen Gemeinwesens wie der Europäischen Gemeinschaft unwürdig. Eben aus diesem Grunde meinen wir, daß das Europäische Parlament, das nun von den Bürgern der Gemeinschaft bestellt werden wird, die große Aufgabe hat, entscheidend daran mitzuwirken, daß diese gewaltige Macht unter demokratische Kontrolle gestellt wird. Für uns ist ganz klar, daß dies in enger Zusammenarbeit des Europäischen Parlaments mit den nationalen Parlamenten geschehen muß. Wir sind auch davon überzeugt, daß es zumindest für die erste Wahlperiode unwahrscheinlich ist, daß es in der sogenannten Kompetenzfrage zu Konflikten zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament kommt. Um die Kontrolle der Macht geht es, die der Kontrolle der nationalen Parlamente heute längst entzogen ist.
Deshalb muß man sehen, welch große und entscheidende Bedeutung dieses direkt gewählte Europäische Parlament haben wird.
Aber man muß noch eine dritte Aufgabe sehen, die bis jetzt durch die allumfassenden Doppelmandate der Parlamentsmitglieder etwas verhüllt gewesen ist. Durch diese erste Direktwahl schaffen wir ein neues Verhältnis zwischen Europäischen Abgeordneten und Wählern, den Bürgern dieser Gemeinschaft, ebenso wie ein neues Verhältnis zwischen den entsendenden politischen Kräften und diesen Abgeordneten. Nunmehr ensteht die Notwendigkeit der fortgesetzten und unmittelbaren Information von Bürgern, Verbänden, Parteien, Organisationen aller Art durch die europäischen Abgeordneten. Sie werden deshalb für fünf Jahre gewählt, damit sie nach diesem Zeitraum, wie es auch bei anderen Parlamenten üblich ist, den Bürgern — nicht den nationalen Parlamenten — Rechenschaft über das geben, was sie in ihrem Auftrag im Europäischen Parlament für die und in der Europäischen Gemeinschaft geleistet haben.
Ich möchte noch eine weitere Anmerkung machen. Welche Arbeitslast erwartet eigentlich die Abgeordneten im Europäischen Parlament, und wie ist sie schon heute zu bewerten? Man muß ganz nüchtern sehen, daß die Frage der Arbeit des Europäischen Parlaments aufs engste damit verschränkt ist, daß die gegenwärtig noch von den nationalen Parlamenten dorthin entsandten, in Zukunft aber direkt gewählten Abgeordneten die Aufgabe haben, eine Integration der Willensbildung vorzunehmen, die die verschiedenen Strukturen der neun Mitgliedsländer der Gemeinschaft berücksichtigt.
Gerade das ist der Grund, wieso an der Oberfläche nur ein begrenzter Teil der Arbeit des Parlaments sichtbar wird. Wir müssen heute von zwölf Plenarsitzungswochen des Europäischen Par- laments im Jahr ausgehen. Es sind deshalb nur zwölf Plenarsitzungswochen, weil ihnen zwölf Fraktionssitzungswochen vorausgehen müssen, damit die Standpunkte abgeklärt werden und man zu
einer gemeinsamen Willensbildung kommt, die dann im Parlament kompromißfähig zu machen ist. Selbstverständlich muß man außerdem sehen, daß vor den Fraktionssitzungswochen noch bis zu zwei Ausschußsitzungswochen liegen, in denen die ,Vorbereitungsarbeit geleistet wird.
Es handelt sich um eine außerordentliche Arbeitslast. Ich möchte sagen, daß sie in Zukunft nicht kleiner, sondern größer wird, weil die Aufgabe der Information der Bürger hinzukommt. Jeder Abgeordnete dieses Hohen Hauses weiß, einen wie großen Teil seiner Zeit die Erfüllung dieser Aufgabe verschlingt. Nicht übersehen werden darf, daß wir in der Zukunft auch die Zusammenarbeit der ins Europäische Parlament gewählten Abgeordneten mit denen, die im nationalen Parlament sind, zu regeln haben; das ist eine Aufgabe, die noch vor uns steht. Auch das wird zusätzliche Arbeitsaufgaben bringen.
Diese Fülle der zu leistenden Aufgaben macht verständlich, warum hier, eingehend über die Notwendigkeit der Ausstattung dieser europäischen Abgeordneten gesprochen werden mußte. Ich habe mit Freude während der Beratungen festgestellt, daß in diesem Hause über drei Punkte in vollem Umfang Einigkeit besteht.
Erstens besteht Übereinstimmung darüber, daß die Arbeitsmöglichkeiten und die dafür erforderliche Ausstattung denen eines Bundestagsabgeordneten vergleichbar sein müssen. Wenn Sie die großen Entfernungen berücksichtigen und sich deutlich machen, welche zusätzlichen Probleme durch die unterschiedlichen Strukturen der Mitgliedstaaten entstehen, werden Sie erkennen, daß es eine große Zahl von Arbeitsbedingungen zu regeln gilt.
Zweitens. Die gegenwärtigen Mitglieder des Europäischen Parlaments haben mit Freude zur Kenntnis genommen — ich habe es den Worten des Abgeordneten Bühling noch einmal besonders entnommen —, daß in diesem Hohen Hause die übereinstimmende Auffassung besteht, daß das direkt gewählte Europäische Parlament die Kompetenz hat, alle seine Angelegenheiten, die es selber angehen, zu entscheiden. Ich bedaure, daß kein Vertreter der Bundesregierung im Augenblick hier ist. Das wäre ein Fragepunkt gewesen.

(Zurufe von der SPD)

— Ach so, es ist einer hier. — Herr Bühling, da waren Sie ein ganz klein bißchen widersprüchlich; deshalb will ich das ein bißchen klären.

(Wehner [SPD] : Sie können nicht alles klären!)

— Herr Kollege Wehner, ich erinnere mich an manches Gesetz, wo wir die diffizilsten Einzelheiten sorgfältig geklärt haben.

(Wehner [SPD] : Es gibt kein Gesetz! Da müssen Sie noch lange warten!)

— Herr Kollege Wehner, Sie wollen doch nicht den Kollegen Bühling, der im Namen Ihrer Fraktion gesprochen hat, Lügen strafen. Das glaube ich nicht. Ich bin mir bewußt gewesen, daß die Vertre-



Dr. Klepsch
ter der Bundesregierung sich um diesen Standpunkt bemüht haben. Ich wollte gerade ein anerkennendes Wort in die Richtung von Herrn Genscher und von Herrn von Dohnanyi sagen, wenn sie sich auch mit dieser Auffassung nicht haben durchsetzen können. Das scheint mir die Frage zu sein, die es in Zukunft auszutragen gilt. Ich wollte nur feststellen, daß dieses Haus in der Position, die Herr Bühling beschtieben hat, übereinstimmt. Das wird jetzt denjenigen Mitgliedern des Europäischen Parlaments, die wir in der Bundesrepublik Deutschland wählen, den Rücken stärken.
Drittens. In diesem Hause besteht Übereinstimmung darüber, daß für die Fragen, die das Europäische Parlament nicht regeln kann — aus welchen Gründen auch immer, das will ich jetzt mal nicht so sehr vertiefen —, der Bundestag entsprechende Regelungen treffen wird, wenn in einem angemessenen Zeitraum aus sichtbar werdenden Gründen die Regelung nicht erfolgen kann. Beispielweise hat sich die Frage der Ausstattung der europäischen Parlamentarier bis zum heutigen Tage nicht gestellt, weil sie alle über eine nationale Ausstattung infolge des Doppelmandats verfügten. Das wird in Zukunft anders sein. Herr Kollege Krey hat mit Recht darauf verwiesen, daß es darum geht, einen unabhängigen Abgeordneten zu haben und nicht jemanden, der davon abhängig ist, ob er von einem Verband oder irgendeiner anderen Gruppierung mit den entsprechenden Arbeitsmöglichkeiten versehen wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber auf zwei Punkte noch einmal besonders hinweisen.
Als wir die Neuregelung der Diäten für die Bundestagsabgeordneten beschlossen, folgten wir einem Urteil unseres höchsten Gerichts, des Bundesverfassungsgerichts. In diesem Urteil ist eindeutig festgelegt, daß zum Gehalt auch die Frage der Altersversorgung gehört. Ich habe gern gehört, daß nach übereinstimmender Auffassung alle Fragen, die Herr Bühling und Herr Krey im einzelnen aufgezählt haben, durch den Text der Entschließung abgedeckt werden. Ich darf Ihnen freimütig sagen: Bisher war die Praxis des Ministerrats aus seiner Sicht der Dinge so, daß das Europäische Parlament in gewissem Umfange die Zuständigkeit habe, nicht aber gerade in der Frage der Regelung der Diäten mit allen damit zusammenhängenden Fragen.
Es ist einfach nicht wahr, daß es das gegenwärtige Europäische Parlament versäumt habe, eine europäische Lösung zu erarbeiten und vorzuschlagen, ganz im Gegenteil. Alle Fraktionen haben gemeinsam dem Ministerrat einen Lösungsvorschlag unterbreitet. Nur hat dieser ihm nicht folgen können, weil eine der Mitgliedsregierungen der Aufassung war, es sei zu viel, und eine andere Mitgliedsregierung, es sei zu wenig. Deshalb wurde keine Regelung getroffen, so daß wir heute gezwungen sind, eine nationale Regelung zu treffen.
Kolleginnen und Kollegen, deshalb möchte ich nur folgendes sagen: Es handelt sich bei der Vorlage um einen Kompromiß zwischen dem Standpunkt, daß man jetzt eine umfassende Regelung vornehmen solle, die jeweils dann außer Kraft tritt, wenn das Europäische Parlament oder die európäischen Organe eine entsprechende Regelung erlassen, und der Vorstellung, daß man nichts regeln solle, damit ein stärkerer Druck für den Erlaß einer solchen Regelung besteht. In dem Bemühen, zu einem für die Gewählten erträglichen Kompromiß zu kommen, ist man zwischen diesen beiden Positionen zu der gegenwärtig vorliegenden Lösung gelangt.
Aber ich verhehle nicht, daß es schmerzlich ist, daß so mancher Kollege angesichts der hohen Erwartungen, die an ihn und an das Parlament als Ganzes gestellt sein werden, unter außerordentlich schlechten Arbeitsbedingungen seine Tätigkeit im Europäischen Parlament wird aufnehmen müssen. Ich verhehle auch nicht die Sorge, daß es in der Öffentlichkeit nicht so gesehen werden wird, wie in diesem Hohen Hause, wo man mit Recht der Auffassung ist, daß es das vornehmste Recht des Parlaments ist, seine Angelegenheiten selbst zu regeln, sondern daß es eine Hypothek sein wird, daß die Anfangszeit seiner Tätigkeit mit der Regelung solcher Fragen belastet ist. Dessenungeachtet erkenne ich gern den guten Willen auf allen Seiten an, eine für alle erträgliche Lösung zu finden.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Wir wählen ja nicht irgend etwas, sondern wir wählen das erste direkt gewählte Europäische Parlament. Das möchte ich deshalb mit besonderem Nachdruck sagen, •weil dieses erste direkt gewählte Europäische Parlament ja der Vertreter der Bürger der Europäischen Gemeinschaft sein wird und weil es die Aufgabe haben wird, dieser Gemeinschaft aus der Stagnationsperiode, in der sie sich heute befindet, herauszuhelfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814508600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wolfgramm.

Torsten Wolfgramm (FDP):
Rede ID: ID0814508700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist ja schon ein bißchen mühsam gewesen mit diesem Gesetz, wenn ich das einmal so rekapituliere. Seit 1977 beschäftigen wir uns damit. Nachdem es mehrfach zurückgestellt worden ist und nachdem mehrfach versucht wurde, zu einer gemeinsamen Lösung" zu gelangen, liegt uns heute nun endlich diese gemeinsame Lösung vor. Ich meine, daß sie gemeinsam gefunden worden ist, hilft uns hier im Bundestag, und es hilft auch Europa und den europäischen Abgeordneten. Europa soll seine Rechte erkämpfen, auch gegen den Ministerrat. Dazu ist es aufgefordert, Herr Kollege Klepsch. Es muß seine Angelegenheiten selbst regeln. Es muß seine ureigensten Angelegenheiten — zu denen zählen nun einmal auch die Diätenfrage und die Sachausstattung und die ganzen Versorgungsrechte — in die Hand nehmen und versuchen, sie selbst zu regeln.



Wolfgramm (Göttingen)

Wir Freien Demokraten meinen, daß das Zusammenwachsen der Fraktionen mit unterschiedlichen Rechten, mit unterschiedlichen Entschädigungen, mit unterschiedlichen Diäten sonst schwierig werden wird. Die Gemeinsamkeit, die wir wünschen und die schon durch die geographischen und Sprachpositionen und auch durch die größeren Fraktionen bedingt, sich nicht ohne weiteres von vornherein und gottgegeben einstellen wird, wird durch eine solche unterschiedliche Regelung stark belastet: Wir hoffen sehr, daß diese Gemeinsamkeit hergestellt werden kann. Ich stelle mir einmal vor, daß hier im Deutschen Bundestag unterschiedliche Regelungen bestünden, je nachdem, wer von Hamburg oder von Bayern kommt. Das würde unserer Zusammenarbeit hier im Deutschen Bundestag nicht förderlich sein.
Wir regeln gleiche Diäten, weil wir hier niemanden diskriminieren wollen. Wir regeln die Beihilfe im Kranheitsfall, weil diese Dinge nötig und aktuell sein können. Wir regeln die Fahrtkosten innerhalb der Bundesrepublik, damit auch die Umsetzung der Arbeit innerhalb der Bundesrepublik deutlich werden kann und dem Wähler vorgetragen werden kann. Diese Regelung setzt, meinen wir, die Kollegen, die in das neue Parlament zu wählen sind, in den Stand, ihre Aufgaben zu erfüllen. Es ist also nicht ganz so, wie Wilhelm Busch, den ich als Niedersachse in diesem Falle zitieren darf und der ja in seinen Briefen europäische Gedanken vorgetragen hat, sagte:
Indessen ist ein enges Stübchen
sein ungeheizter Aufenthalt.
Er hat kein Geld,
er hat kein Liebchen,
und seine Füße werden kalt.
So schicken wir unsere Kollegen nicht nach Brüssel und Straßburg.
Wir meinen, daß die Dinge, die Europa nicht regelt, von uns übernommen werden sollten. Es steht in dem Entschließungsantrag, daß der 31. 12. 1981 der Endtermin sein wird. Ich habe auch im Innenausschuß mehrfach erklärt, daß wir uns dann ähnliche Regelungen und Anrechnungen vorstellen wie bei den Landtagszeiten.
Der Colombo-Brief — ich meine, er ist es wert, hier zitiert zu werden — zeigt ja, daß jedenfalls in der Frage der Sachausstattung begründete Hoffnung besteht, schon bald zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Ich zitiere aus dem Brief des Präsidenten:
Was Kostenerstattung für mandatsbedingte Aufwendungen angeht, so besteht innerhalb der jetzigen Fraktionen des Hauses die Tendenz, ein System der Vergütung von Reise-
und Aufenthaltskosten, Bürokosten und Sekretariatshilfen anzuwenden.
Dabei darf ich anmerken, daß es dies alles in Europa auch' schon in einem bescheidenen Umfang gibt.
Es gehen bei unserer Regelung keine Rechte verloren, sondern sie werden, wenn wir voll regeln sollten, natürlich auch entsprechend voll angerechnet. Wenn Europa regelt, wird es diese Rechte entsprechend berücksichtigen müssen.
Die Diätenfrage ist kein ganz neues Problem. Ich habe einmal aus Meyers Lexikon, 6. Auflage, herausgezogen, was dort unter diesem Passus steht:
Werden Beamte im Vorbereitungsdienst ohne festes Gehalt beschäftigt und lediglich mit Diäten entlohnt, so bezeichnet man einen solchen zeitweisen Angestellten als „Diätar" oder „Diätarius".
Weiter heißt es:
Die einzige Vergütung für die Reichstagsabgeordneten besteht gegenwärtig in freier Eisenbahnfahrt. Die Anträge des Reichstages auf Einführung der Diäten, die immer und immer wiederkehren, sind bisher stets durch den Bundesrat abgelehnt worden.
Wir hoffen und wünschen, daß der Bundesrat, der seine Bereitwilligkeit bekundet hat, dieses Gesetz ohne Fristeneinrede auf die Tagesordnung zu nehmen, dies rasch beschließen wird.
Wir Freien Demokraten wünschen den Europäern Kraft und Mut, die Abgeordnetenrechte rasch, endgültig und angemessen zu regeln.

(Beifall bei der FDP und der SPD)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814508800
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung.
Ich rufe die §§ 1 bis 6, 8, 9, 9 a bis 9 e, 10, 11 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Ich weise auf die Berichtigung des Herrn Kollegen Krey hin. Wer dem Gesetz in zweiter Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei zwei Stimmenthaltungen stelle ich Annahme des Gesetzes in zweiter Beratung fest.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Zu einer kurzen persönlichen mündlichen Erklärung nach § 59 der Geschäftsordnung hat sich der Herr Abgeordnete Luster gemeldet.

(Zurufe von der SPD)

— Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Luster hat mir vorhin — ich habe mich vergewissert
— ausdrücklich versichert, daß er es kurz machen werde.

Rudolf Luster (CDU):
Rede ID: ID0814508900
Herr Präsident, das vorliegende Gesetz erscheint mir rechtlich angreifbar. Ich kann ihm deshalb nicht zustimmen und begründe das folgendermaßen.
Das Gesetz verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz. Es stellt diejenigen, die neben dem Europamandat ihr Mandat als Abgeordnete des Deutschen Bundestages beibehalten, erheblich besser als die künftigen Europaabgeordneten ohne ein solches Doppelmandat. Das Gesetz stellt aber auch Mitglie-



Luster
der des Europäischen Parlaments als solche erheb- I lich schlechter als die Mitglieder des Deutschen Bundestages. Ein hierüber nicht auszuschließender, wahrscheinlicher Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht stellt in sich einen nicht unerheblichen politischen Nachteil dar, nicht nur dadurch, daß allgemein das Abgeordnetenrecht wiederum zum Gegenstand öffentlicher Kontroversen gemacht würde, sondern es kann auch nicht verkannt werden, daß die Folge eines Richterspruchs eine nochmalige Änderung der Statusbestimmungen der deutschen Parlamente insgesamt und das Wiederaufleben abgeklungener Emotionen sein könnten.
Ich stelle daher fest: Die, vorliegende gesetzliche Regelung für den Status der Europaabgeordneten ist unvollkommen, sie verstößt mehrfach gegen den Gleichheitsgrundsatz, sie sichert dem künftigen Mitglied des Europäischen Parlaments nicht die erforderliche Unabhängigkeit, sie wird für eine unabsehbare Zeit die praktische Arbeit des Europäischen Parlaments behindern. Damit schafft dieses Gesetz den Parlamentariern nicht die Voraussetzungen, unter denen sie die von ihnen geforderten Aufgaben mit ganzer Kraft wahrnehmen können, nämlich den europäischen Einigungsprozeß zügig vorwärtszutreiben, die Rechte und Zuständigkeiten des Parlaments zu stärken, damit den Demokratisierungsprozeß in der Gemeinschaft zu beschleunigen und schließlich als verfassunggebende Versammlung zu wirken.
Ich danke, Herr Präsident, und hoffe, daß ich kurz und bündig genug war.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814509000
Ich bedanke mich, Herr Kollege, daß Sie Ihre Zusage
eingehalten haben.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen zur dritten Beratung liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung.
Wer dem Gesetz in dritter Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Eine Gegenstimmen. Stimmenthaltungen? — Zwei Stimmenthaltungen. Damit ist das Gesetz in dritter Beratung angenommen.
Es liegen nun noch • zwei Beschlußempfehlungen vor, über die ich wahrscheinlich gemeinsam abstimmen lassen kann, zunächst unter Ziffer 2, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen und Eingaben für erledigt zu erklären, und dann eine Entschließung, die Sie, unter Ziffer 3 finden und die hier nicht wiederholt zu werden braucht, sondern die nur zur Abstimmung steht.
Wer beiden Ziffern zuzustimmen wünscht, den bitte .ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Das ist einstimmig so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bunregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung
Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr
— Drucksache 8/2453 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/2697 — Berichterstatter: :
Ageordneter Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß)

— Drucksache 8/2696 —
Berichterstatter: Abgeordneter Hölscher (Erste Beratung 128. Sitzung)

Ich stelle fest, daß hierzu eine Kurzdebatte vereinbart ist. Es gelten die Regeln für die Kurzdebatte. Ich bitte die verehrten Kolleginnen und Kollegen, bei den Wortmeldungen danach zu verfahren.
Das Wort hat der Berichterstatter des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, Herr Abgeordneter Hölscher.

Friedrich Hölscher (FDP):
Rede ID: ID0814509100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Beschlußempfehlung und zum Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung muß ich infolge eines redaktionellen Versehens um folgende Berichtigung bitten. Auf dem Vorblatt im Abschnitt D. Kosten auf Seite 2 der Drucksache 8/2696 muß es in der ersten Zeile statt „Mehraufwendungen gegenüber dem geltenden Recht" richtig heißen: „Mehraufwendungen gegenüber dem Regierungsentwurf" . Die dort aufgeführten Kostenschätzungen für Bund und Länder in den Jahren 1979 bis 1982 betreffen lediglich die Mehrkosten, die durch die Ausschußbeschlüsse gegenüber dem Regierungsentwurf hinzukommen-. Die Mehraufwendungen des Gesetzentwurfes in der Fassung der Ausschußbeschlüsse gegenüber dem geltenden Recht sind in dem Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung aufgeführt, auf den ich insoweit hinweise.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814509200
Vielen Dank, Herr Berichterstatter.
Wir treten in die allgemeine Aussprache ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Burger.

Albert Burger (CDU):
Rede ID: ID0814509300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Neuregelung der Vergünstigungn im öffentlichen Personennahverkehr will der Deutsche Bundestag den am schwersten betroffenen Behinderten helfen, besser am Leben der Gesellschaft teilnehmen zu können. Erwachsene und Kinder, die in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, die wegen einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von

Burger
Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit behindert sind, sollen nunmehr kostenlos öffentliche Verkehrsmittel im Nahverkehr benutzen können. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt diese Verbesserungen, weil sie gezielt für Mitmenschen gelten sollen, die durch Dauerbehinderung vom Schicksal besonders betroffen sind. Die bisher gewährten Freifahrtvergünstigungen basierten auf der Grundlage unterschiedlicher Vorschriften. Nunmehr werden für alle Behinderten gleiche Rechte gelten. Ob durch Kriegseinwirkung, Unfall, Krankheit oder angeborene Leiden geschädigt, alle Schwerbehinderten werden in Zukunft die gleichen Vergünstigungen erhalten.
Auch der Begriff Nahverkehr wird erweitert und den modernen Verkehrsgegebenheiten angepaßt. Künftig sind praktisch alle Bus- und Staßenbahnlinien sowie die Bundes- und Eisenbahnstrecken im Umkreis von 50 km einbezogen. Freifahrt sollen auch Begleitpersonen erhalten, sofern eine ständige Begleitung notwendig ist.
Der zunächst vorgesehenen Altersgrenze von vier Jahren hat der Ausschuß nicht zugestimmt. Damit wird erreicht, daß Eltern oder andere Begleitpersonen ihre behinderten Kinder kostenlos zur Behandlung oder in ,den Sonderkindergarten bringen können.
Einstimmig beschloß der Sozialausschuß auch, daß Schwerbehinderte, die in ihrer Erwerbsfähigkeit um wenigstens 80 °/o gemindert sind, in ihrer Bewegungsfähigkeit als erheblich beeinträchtigt gelten sollen. Das heißt, daß diese Gruppe ohne besondere Prüfung in den Genuß der Vergünstigung kommen wird. Diese Regelung kostet mehr, bringt aber eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung und damit auch Einsparungen von Verwaltungskosten. Da auch das Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz bei 80 % Minderung der Erwerbsfähigkeit erhebliche Geh- und Stehbehinderung unterstellt, ist es meiner Auffassung nach sinnvoll, diese auch bei dem vorliegenden Gesetz anzunehmen.
Die Fahrgeldausfälle durch die unentgeltliche Beförderung sollen den Unternehmen nach einem Vomhundertsatz der nachgewiesenen Fahrgeldeinnahmen erstattet werden.
Der Ausschuß hat mit großer Sorgfalt die Stellungnahmen der Behindertenorganisationen und der Verkehrsträger beraten. Wegen der besonderen Bedeutung dieses Gesetzes hat der Ausschuß einstimmig wesentliche Verbesserungen ,beschlossen.
Zwischen Opposition und Koalition war die Finanzierung der Aufwendungen für die unengeltliche Beförderung strittig. Die Bundesländer müssen die Mehraufwendungen nach diesem Gesetz fast ausschließlich allein tragen. Für die Kriegsbeschädigten leistet der Bund Kostenersatz, für die anderen Behindertengruppen sind die Bundesländer kostenpflichtig. Ein Antrag der CDU/CSU, wonach der Bund die Kosten des unentgeltlichen Nahverkehrs von Bundesunternehmen übernehmen sollte, wurde von der Koalition abgelehnt. Die Bundesregierung hatte darauf hingewiesen, daß gemäß Art. 104 a Abs. 1 des Grundgesetzes eine weitergehende Kostenbeteiligung durch den Bund ohne gleichzeitige Änderung der Zuständigkeitsregelungen zur verwaltungsmäßigen Durchführung des Gesetzes nicht zulässig sei.
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU erwartet, daß dieses Gesetz nicht aus finanziellen Gründen scheitert. Sie fordert deshalb auch die Bundesregierung auf, im Bundesrat zu berücksichtigen, daß es sich hier um eine neue Aufgabe für die Länder handelt und diese nicht nur mit Mehrausgaben aus diesem Gesetz rechnen müssen, sondern weitere Gesetzentwürfe mit erheblichen finanziellen Auswirkungen, wie z. B. das Jugendhilferecht, derzeit beraten werden.
Ich möchte ein offenes Wort auch an die Fraktionen der SPD und der FDP richten. Die CDU/CSU hat nicht gezögert, sinnvolle Änderungsanträge mit wesentlichen finanziellen Folgen im Interesse der Behinderten mitzutragen. Sie empfiehlt dieses gute Beispiel den Koalitionsfraktionen, die oft allzu leicht geneigt sind, ausgabenwirksame Anträge der Opposition als unseriös abzuqualifizieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dieser Gesetzentwurf ist ein großer und guter Fortschritt für die Eingliederung behinderter Menschen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Es konnten nicht alle Wünsche der Betroffenen berücksichtigt werden, z. B. die Wünsche der Blinden nach Vergünstigungen im Flugverkehr. Hier sollen Verhandlungen mit den Fluggesellschaften zu einem besseren Ergebnis führen. Es gibt sicher eine Gruppe von Behinderten, die gar nicht in der Lage sind, öffentlichen Verkehrsmittel zu benützen. Ihnen muß durch öffentliche Fahrdienste, die von den örtlichen Stellen organisiert werden müssen, ebenfalls geholfen werden, ihre Isolation zu überwinden. Wie gesagt, es konnten nicht alle Wünsche berücksichtigt werden. Aber es wurden Verbesserungen erreicht, die den Behinderten im Rahmen der Möglichkeiten den Alltag erleichtern werden.
Die CDU/CSU wird dem Gesetzentwurf zustimmen.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814509400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kratz.

Paul Kratz (SPD):
Rede ID: ID0814509500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus manchmal schier unerklärlichen Gründen läuft hier eine zwischen den Fraktionsgeschäftsführern vereinbarte Regie ab, die nunmehr uns veranlaßt — auch der Kollege Vorredner war schon betroffen —, das, was wir zu einem für unsere Menschen .draußen sicherlich wichtigen Gesetzentwurf zu sagen haben, in aller Kürze vorzutragen. Nach der vorherigen Plauderrunde der Europäer kommt es vielleicht gar nicht so schlecht an.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt selbstverständlich diesen Gesetzentwurf, wie er uns heute zur zweiten und dritten Lesung und zur Schlußab-



Kratz
Stimmung vorliegt. Mein Kollege Vorredner hat schon darauf hingewiesen, daß wir den Gesetzentwurf wohl einstimmig verabschieden werden.
Dieser Schritt, den wir jetzt gehen, ist lange überfällig. Daß wir diesen Gesetzentwurf erst im Jahr 1979 verabschieden können, haben die Fraktionen dieses Hauses nicht zu verantworten. In den Fragen dieses Gesetzentwurfs besteht Einigkeit zwischen den Fraktionen, und in wesentlichen Punkten bestand sie schon in der Vergangenheit. Diese Verzögerung geht eindeutig zu Lasten des Bundesrates.
Ich will nicht noch einmal auf die einzelnen strittigen Punkte und auch nicht auf die Anträge eingehen. Das würde die vereinbarte Zeit sprengen. Aber bitte berücksichtigen Sie, daß es aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Mischfinanzierung nicht geben kann. Sie wissen das ja ganz genau, Herr Burger.
Erfreulich ist, daß die Opposition mit der Koalition zusammen die Änderungsanträge mitgetragen hat und wir so einmütig im Auschuß den Gesetzentwurf zu Ende beraten konnten und ihn hier und heute ebenso einmütig verabschieden können.
Ich will auch nicht wiederholen, was mein Vorredner zu den Verbesserungen in einzelnen wesentlichen Punkten, die wir in der Ausschußberatung und durch die Änderungsanträge erreicht haben, gesagt hat; ich will Ihnen das auch wegen der späten Stunde ersparen.
Es liegt nun — und damit komme ich schon zum Schluß — am Bundesrat, dem Gesetz, auf das die Behinderten in unserem Land fünf Jahre warten mußten, zum Erfolg zu verhelfen. Denn — der Vorredner hat ebenfalls darauf hingewiesen — dieses Gesetz ist zustimmungsbedürftig. Die Erwartungen unserer behinderten Mitbürger dürfen nicht enttäuscht werden. Es geht nicht an, daß unterschiedliche Auffassungen über die Kostenverteilung auf dem Rücken unserer behinderten Bürger ausgetragen werden. Ich denke, auch darin besteht Einigkeit unter den Fraktionen dieses Hauses.
Nur noch ganz wenige Sätze zu einer Anregung an die Bundesregierung, die Vielzahl der jetzt noch gängigen Schwerbehindertenausweise doch bitte möglichst kurzfristig in einer Verordnung zu erfassen, damit wir auch hier zu einer einheitlichen Regelung kommen. Ich will es uns auch hier ersparen, die einzelnen jetzt noch gültigen Ausweise und die besonderen Farben, die für die Ausweise gelten, alle aufzuzählen. Ich meine, es muß möglich sein, auf die Vielzahl dieser Ausweise zu verzichten, wenn dieses Gesetz in Kraft getreten ist. Wir wollen eine Differenzierung insoweit, als wir es selbstverständlich begrüßen, wenn weiterhin durch Zeichnung im Ausweis der Kriegsbeschädigte, NS-
Verfolgte oder der Blinde erkennbar ist. Dazu braucht man aber die Vielfalt der jetzigen Ausweise nicht.
Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu. Ich darf noch einmal sagen, wir begrüßen es, daß es gelungen ist, auch die Anträge im Ausschuß einmütig zu behandeln, und daß dieses Gesetz hier im Deutschen Bundestag einstimmig verabschiedet wird.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814509600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hölscher.

Friedrich Hölscher (FDP):
Rede ID: ID0814509700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht zum Verplaudern, aber zum Nachlesen wollte ich meinen Beitrag leisten. Ich glaube, das ist das Entscheidende zu dieser späten Stunde.
Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfs zur unentgeltlichen Beförderung von Schwerbehinderten im öffentlichen Personenverkehr beenden wir praktisch den zweiten Anlauf eines Gesetzes, das nach dem Mehrheitswillen des Bundestages eigentlich schon 1974 in Kraft treten sollte. Damals scheiterte es am Widerstand des Bundesrates. Heute liegt die Verantwortung wiederum bei der Länderkammer, ob das, was im Interesse der Gleichbehandlung aller Schwerbehinderten zur Regelung längst überfällig ist, nun Wirklichkeit wird oder nicht.
Wenn es nach unserem Willen, dem Willen des Bundestages einschließlich der Opposition dieses Hauses geht, wird das neue Schwerbehindertenrecht in Zukunft auch im öffentlichen Personenverkehr unabhängig von der Ursache der Behinderung angewandt. Die kostenlose Beförderung im Nahverkehr und die kostenlose Fahrt für Begleitpersonen im Fernverkehr gilt dann nicht, wie heute, z. B. nur für Kriegsbeschädigte, sondern für alle Behinderten.
Ich begrüße, daß es bei den Ausschußberatungen in einigen Punkten noch Verbesserungen gegeben hat. Ich freue mich besonders, daß auch einige Anregungen, die ich für meine Fraktion bereits in der ersten Lesung machen konnte, verwirklicht wurden.
In den Auschußberatungen wurde noch einmal eindeutig festgestellt, daß unter die Anspruchsvoraussetzungen des § 58 auch geistig Behinderte fallen, wenn sie infolge ihrer Behinderung auf ein öffentliches Verkehrsmittel angewiesen sind. Darüber hinaus wurde der Regierungsentwurf dahin gehend ergänzt, daß alle Schwerbehinderten, die um wenigstens 80 % in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind, in den begünstigten Personenkreis einbezogen werden. Diese Regelung trägt nicht nur zur Verwaltungsvereinfachung bei, sondern geht auch mit Recht von der Annahme aus, daß bei einem so hohen Behinderungsgrad die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als erheblich beeinträchtigt gelten muß.
Meine Damen und Herren, eine wichtige Verbesserung des Gesetzentwurfes ist auch darin zu sehen, daß nunmehr die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr auch dort erfolgt, wo z. B. noch kein Verkehrsverbund besteht. Hätten wir es beim Regierungsentwurf belassen — hier zeigt sich, daß die 'parlamentarischen Korrekturen manchmal von sehr großer Wichtigkeit sind —, so wäre es z. B. einem Karlsruher Schwerbehinderten nicht möglich gewesen, die Bundesbahn im Nahverkehr zu benutzen, nur weil es dort keinen Verkehrsverbund gibt,



Hölscher
während die kostenlose Beförderung mit der Bundesbahn für einen Stuttgarter Schwerbehinderten selbstverständlich geworden wäre, weil dort ein Verkehrsverbund einschließlich Bundesbahn besteht. Im geänderten Gesetzentwurf sind jetzt alle Nahverkehrszüge der Deutschen Bundesbahn einbezogen.
Ich glaube, es ist nicht notwendig, daß ich auf alle Änderungen hier eingehe. Das haben die Vorredner zum großen Teil schon getan. Ich bedaure allerdings, daß sich der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung aus Kostengründen nicht in der Lage sah, meiner Anregung zu folgen, die Regelungen, die für die unentgeltliche Beförderung der Begleitperson im Fernverkehr vorgesehen sind, auch auf den innerdeutschen Linienflugverkehr auszuweiten. Herr Kollege Burger sprach hier u. a. mit Recht die Blinden an. Alerdings bestand im Ausschuß Einvernehmen darüber, daß die Bundesregierung bei der Deutschen Lufthansa darauf hinwirken soll, bei ihren Sondertarifen das Finalprinzip zu beachten und die zur Zeit noch für Kriegsbeschädigte bestehenden Sondertarife auch auf Zivilbehinderte auszudehnen. Darüber hinaus waren wir im Ausschuß einvernehmlich der Auffassung, die Bundesregierung solle bei den ausländischen Fluggesellschaften darauf hinwirken, daß im Berlin-Verkehr ebenfalls entsprechende Vergünstigungen für Schwerbehinderte eingeführt werden. Es sollte sich bei dem durch Bundesmittel geförderten Berlin-Flugverkehr eine gleiche Regelung einführen lassen, so denke ich, wie sie bei der Deutschen Lufthansa bereits gilt bzw. noch ergänzt werden muß.
Ich werde mir mit Ihrer Zustimmung als Berichterstatter erlauben, den verantwortlichen Stellen hier die einvernehmliche Meinung des Arbeits- und Sozialausschusss noch ausdrücklich mitzuteilen.
Von den öffentlichen Verkehrsunternehmen wurde in den letzten Tagen noch einmal die Erstattungsregelung für die Fahrgeldausfälle kritisiert mit dem Argument, daß die im Gesetzentwurf vorgesehene Erstattungsregelung keinen gerechten Ausgleich schaffe, u. a. deshalb, weil sich das neue Erstattungssystem am Fahrverhalten der übrigen Bevölkerung orientiert, während man — so die Verkehrsverbände — eine höhere Inanspruchnahme durch schwerbehinderte Fahrgäste vermutet. Meine Damen und Herren, diese Argumentation kann zwangsläufig nur auf Vermutungen gestützt werden, weil ja bis jetzt keine Erfahrungen mit dem neuen Ausgleichsverfahren vorliegen. Selbstverständlich ist es dem Gesetzgeber freigestellt, später eine andere Regelung einzuführen, wenn sich etwa durch unbestreitbare Erhebungen der Verkehrsträger herausstellen sollte, daß tatsächlich keine gerechte Erstattung der Fahrgeldausfälle erfolgt. Aber zur Zeit kann ich nur auf die sehr eingehenden und meines Erachtens auch fundierten Darlegungen in der Regierungsbegründung verweisen. Hiernach berücksichtigt das neue System durchaus die Tatsache, daß freifahrtsberechtigte Behinderte zwar wegen ihrer Behinderung und angesichts der kostenlosen Beförderung öffentliche Verkehrsmittel häufiger in Anspruch nehmen als die übrige Bevölkerung, jedoch wird diese Tatsache — und das leuchtet ein — mehr als ausgeglichen
durch diejenigen Schwerbehinderten, die öffentliche Verkehrsmittel wegen Art und Schwere ihrer Behinderung nicht in Anspruch nehmen können, weil sie ans Bett gebunden sind, in Rehabilitationseinrichtungen oder Pflegeheimen oder sonstigen Anstalten untergebracht sind oder besondere Fahrdienste von Einrichtungen und Kommunen benutzen. Schließlich müssen auch die vielen Schwerbehinderten berücksichtigt werden, die ein eigenes Kraftfahrzeug führen. Ihr Anteil dürfte höher liegen als der der übrigen Bevölkerung, da ihre Motorisierung infolge zahlreicher finanzieller Förderungsmöglichkeiten besonders hoch ist.
Strittig blieb im Ausschuß die Frage der Kostenverteilung zwischen Bund und Land, auch wenn wir es Gott sei Dank in der Schlußabstimmung zu einer einvernehmlichen Haltung gebracht haben. Ich habe schon in der ersten Lesung ausführlich darauf hingewiesen, daß sich die Länder der gesetzlichen Pflicht nicht entziehen können, in ihren Zuständigkeitsbereichen auch die Kosten für die unentgeltliche Beförderung zu tragen. In den Ausschußberatungen wurde noch einmal — auch durch Vertreter der Bundesregierung — überzeugend klargemacht, daß eine anderweitige Kostenverteilung aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zu vertreten ist. Ich kann im Interesse der Schwerbehinderten nur hoffen, daß die Länderkammer diesmal die Hürde nimmt und das Gesetz nicht noch einmal aus Kostengründen scheitern läßt. Ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß wir auch unter einem Gebot des Bundesverfassungsgerichts stehen, welches dem Gesetzgeber bereits 1975 auferlegt hat, in angemessener Zeit die Begünstigungen nach dem Schwerbehindertenrecht für alle Schwerbehinderten, unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung, einzuführen. Will der Bundesrat, so möchte ich fragen, wirklich die Verantwortung dafür tragen, daß in Karlsruhe etwa eine Anfechtung durch Sozialgerichte erfolgt? Diese haben es bereits angekündigt. Ich kann es nicht glauben, sondern ich hoffe, daß die Länderkammer Einsicht zeigt und den schwerbehinderten Zivilgeschädigten nicht noch einmal das Recht vorenthält, das für die Kriegsbeschädigten schon lange selbstverständlich ist.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814509800
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

Dr. Herbert Ehrenberg (SPD):
Rede ID: ID0814509900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich herzlich dafür bedanken, daß dieses Gesetz über alle Fraktionsgrenzen hinweg so sorgfältig beraten und einhellig verabschiedet und damit die sozialpolitische Dringlichkeit, die die Bundesregierung diesem Gesetzentwurf beigemessen hat, so nachdrücklich unterstrichen worden ist.
Alle Änderungswünsche, die interfraktionell und. auch übereinstimmend eingebracht worden sind, sind mit dem Ziel gestellt worden, noch mehr für die behinderten Bürger zu tun, die vorgesehenen Leistun-



Bundesminister Dr. Ehrenberg
gen zu erweitern und zu verbessern. Als Sozialpolitiker begrüße ich die vom federführenden Ausschuß vorgenommenen Verbesserungen. Ich hoffe sehr, daß sich die in der Öffentlichkeit lautgewordenen Stimmen, mit diesen Verbesserungen würde es noch schwieriger werden, das Gesetzesvorhaben durch den Bundesrat zu bringen, nicht bewahrheiten werden. Wir hoffen — in diesem Zusammenhang unterstreiche ich das, was meine Vorredner gesagt haben daß der Bundesrat dieser geänderten Fassung zustimmen wird, daß er sich von der Einstimmigkeit im Deutschen Bundestag beeindrucken läßt. Die Tatsache, daß Bund und Länder in der Vergangenheit in Fragen der Rehabilitation so vorbildlich zusammengearbeitet haben, sollte dazu beitragen, diesem Gesetzentwurf auch im Bundesrat zu einem Erfolg zu verhelfen.
Natürlich sind die finanziellen Mehraufwendungen nicht zu übersehen. Aber sie scheinen angesichts des Ziels, um das es hier geht, tragbar zu sein. Richtig eingesetzt sind es Mittel, die von Bund und Ländern guten Gewissens getragen werden können. Für die Betroffenen, für unsere behinderten Mitbürger wäre es schlicht unverständlich, wenn das Gesetz an gegensätzlichen Meinungen zwischen Bund und Ländern über die Kostenverteilung ein zweites Mal scheitern würde.
Die Bundesregierung kann darauf verweisen — das ist sorgfältig geprüft worden —, daß der vorliegende Gesetzentwurf in seiner Kostenverteilung eindeutig der Zuständigkeitsregelung des Grundgesetzes folgt. So darf man auch von den Bundesländern erwarten, daß sie die anfallenden Mehraufwendungen in der Größenordnung von 75 Millionen DM im Jahre 1980 und 111 Millionen DM im Jahre 1982 tragen. Es ist ja auch nicht so, daß der Bund die Absicht hätte, Verbesserungen zu Lasten der Länder durchzusetzen. Es geht darum, die Aufgabenverteilung so vorzunehmen, wie sie das Grundgesetz vorschreibt. Es geht um das gemeinsame Zusammenwirken von Bund und Ländern in der Rehabilitation.
Ich möchte die Länder an dieser Stelle auch noch daran erinnern, daß der Bund alleine in den Jahren 1970 bis 1978 für die finanzielle Förderung von Einrichtungen der Rehabilitation in den Ländern rund 500 Millionen DM aufgebracht hat. Nimmt man hinzu, daß im Jahre 1980 für die Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze für Schwerbehinderte, für die Verbesserung des Kindergeldes und für den Mutterschutzurlaub insgesamt rund 3,7 Milliarden DM aus der Bundeskasse aufgebracht werden, dann sollten die im Zusammenhang mit diesem Gesetz für die Länder anfallenden Belastungen in den von mir vorhin genannten Größenordnungen zumutbar und tragbar sein.
Seit Inkrafttreten des Schwerbehindertengesetzes im Mai 1974 sind fast fünf Jahre vergangen. Fünf Jahre ist es her, daß sich Bundestag und Bundesrat gemeinsam selbst dazu verpflichtet und angekündigt haben, die Vergünstigungen für Schwerbehinderte „final" zu gestalten und die „kausale" Ausrichtung der Hilfen für Behinderte Schritt für Schritt zu überwinden. Dabei muß es auch das gemeinsame Anliegen
von Bund und Ländern sein, alles daranzusetzen, das im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs zu erreichen. Mit dem Kraftfahrzeugsteuergesetz und mit dem Gesetz über die Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze ist uns das schon gelungen. Das jetzt vorliegende Gesetz folgt. Wir wissen alle, wie dringlich die Einlösung des gemeinsam vom Bundestag und Bundesrat abgegebenen Versprechens ist.
Dieses Gesetz wird auch, Herr Kollege Kratz, Grundlage dafür sein, Ihrer Anregung zu folgen. Die entsprechende Ausweisverordnung ist schon in Vorbereitung und wird in Kürze erlassen werden.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Lassen Sie mich abschließend zum Ausdruck bringen, daß mit diesem Gesetzentwurf, wie er heute hier verabschiedet werden wird, das Kapitel „Rehabilitation Behinderter" und das Kapitel „Arbeitsmarkt und Sozialpolitik für Behinderte" keineswegs abgeschlossen sind. Die Bundesregierung wird weiterhin an dieser großen Aufgabe, die Lage der Behinderten ständig zu verbessern, weiterarbeiten. Das Dritte Sonderprogramm für Schwerbehinderte wird ab 1. April in Kraft treten, und die Fortschreibung des Aktionsprogramms „Rehabilitation" wird einer der nächsten Schritte sein.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814510000
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe Art. i bis 5, 5 a, b und c, Art. 6 und 7 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung unter Berücksichtigung der Ausführungen des Herrn Berichterstatters auf. Wer diesen Bestimmungen zustimmt, gebe bitte das Zeichen. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Stimmenthaltungen? — Das Gesetz ist in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Wortmeldungen liegen nicht vor. Wer dem Gesetz in der dritten Beratung zustimmt, möge sich erheben. — Ich danke Ihnen. Gegenprobe! —Stimmenthaltung? Das Gesetz ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Ich gehe davon aus, daß das Haus der Empfehlung zustimmt, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen und Eingaben für erledigt zu . erklären. — Ich danke Ihnen.
Wir kommen zú Punkt 4 der heutigen Tagesordnung:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie (17. Ausschuß) zu dem
Antrag der Fraktionen der SPD und FDP
Enquete-Kommission „Zukünftige EnergiePolitik"



Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Antrag der Abgeordneten Lenzer, Pfeifer, Dr. Probst, Benz, Engelsberger, Gerstein, Dr. Hubrig, Dr. Riesenhuber, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Laufs, Pfeffermann, Dr. Stavenhagen, Frau Dr. Walz, Dr. Narjes und der Fraktion der CDU/CSU
Enquete-Kommission „Zukünftige Kernergiegie-Politik"
— Drucksachen 8/2353, 8/2374, 8/2628 —
Berichterstatter:
Abgeordnete
Lenzer, Stockleben, Dr.-Ing. Laermann
Wünscht einer der Herren Berichterstatter eine Ergänzung der vorgelegten Berichte? — Das ist nicht der Fall.
Ich darf noch hinzufügen, daß ich Sie bitten möchte, bei der Beschlußempfehlung unter Punkt II einzutragen, daß die Kommission grundsätzlich aus sieben Abgeordneten der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und acht nicht dem Deutschen Bundestag oder der Bundesregierung angehörenden Sachverständigen besteht. Ich gehe davon aus, daß das Haus dieser Berichtigung zustimmt.
Ich danke den Herren Berichterstattern. Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Spies von Büllesheim.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814510100
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/CSU wird der vorliegenden Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie zustimmen. Wir geben der Enquete-Kommission unsere guten Wünsche mit auf den Weg.

(Unruhe)

Möge ihre Arbeit und mögen doch . ihre Ergebnisse mit dazu beitragen, das Vertrauen der Bürger zu den Entscheidungen der Politiker im Energiebereich zu stärken.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814510200
Meine
Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Platz nehmen würden. Vielleicht wird das auch die Redner ermuntern, sich kurz zu fassen. Dann kommen wir vielleicht ganz gut zu Ende.
Bitte, Herr Kollege.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0814510300
Wir dürfen der Überzeugung sein, daß die große Mehrheit der Bevölkerung die Problematik unserer künftigen Energieversorgung nüchtern sieht, sowohl die im Grundsatz nicht zu leugnenden Gefahren der Kernenergie als auch die Gefahren und Auswirkungen eines möglichen und denkbaren Versuchs ohne Kernenergie auszukommen.
Wir erhoffen uns von den Beratungen der Enquete-Kommission und ihren Ergebnissen eine Versachlichung der bisher so leidenschaftlich geführten Diskussion und eine Verringerung der gegebenen Polarisierung in dieser Frage.
Die Zahl der Kernkraftgegner ist schwer abschätzbar. Sie ist auch vielschichtig. Da gibt es zunächst die Gruppen jener, die den Widerstand gegen die Kernenergie als eine politische Aufgabe zur Veränderung unseres Systems ansehen. Dieser Gruppe wird die Enquete-Kommission nicht helfen können.
Da gibt es die Gruppe derjenigen, die die Frage der Kernenergie aus der rationellen Betrachtung herausgehoben haben, die sich an einer Art Glaubenskrieg beteiligen, ohne jede politische Absicht, aber die Kernenergie einfach als solche ablehnen, ganz gleichgültig, welches die Folgen einer solchen Ablehnung sein können. Auch für diese Gruppe ist von den Erkenntnissen der Enquete-Kommission letztlich nichts zu erhoffen.
Aber da gibt es auch die wichtigste und zahlenmäßig größte dritte Gruppe' der um unsere Zukunft ehrlich besorgten und diskussionsbereiten Menschen. Diese waren und sind bereit, zu diskutieren, Erkenntnisse aufzunehmen. Diese besorgten Bürger wollen auch unsere freie Ordnung und — wenn auch vielleicht eingeschränkt — die Annehmlichkeiten unseres modernen Lebens erhalten.

(Stahl [Kempen] [SPD] : Das wollen wir alle !)

Sie wollen die unter vielen Gesichtspunkten abzuwägende beste Entscheidung. Für diese Gruppe können die Beratungen und Ergebnisse der Kommission große Bedeutung erlangen.
Zu dieser Gruppe, Herr Kollege Ueberhorst — es ist sicher überflüssig, das zu sagen, aber ich möchte es dennoch einmal ausdrücklich tun —, zähle ich auch Sie selbst.

(Dr. Steger [SPD] : Wozu zählen Sie sich denn?)

Eigentlich gehören wir alle, die wir uns in diesem Hohen Hause seit Jahren mit Energiefragen und mit der Kernenergie befassen, zu dieser Gruppe. Denn mit der Kernenergie verbindet uns nichts als der Wunsch, für uns und für unsere Kinder eine lebenswerte Zukunft zu sichern. Dies schließt natürlich ein, die offenbare und grundsätzliche Gefährlichkeit der Kernenergie zu sehen, zu wägen und sich zu fragen, ob das Risiko hinnehmbar ist, bestrebt zu sein, die Gefahren zu minimieren oder — besser — die Sicherheit zu optimieren und auch abwägend mit einzubeziehen, welche Gefahren, Umweltbelastungen und Folgen sich ergeben würden, wenn wir uns als einziges hochentwickeltes Industrieland dieser Erde der Nutzung dieser Energiequelle versagen würden. Wir alle wissen, daß sich heute morgen in den USA ein Kernkraftwerksunglück ereignet hat. Ich glaube, wir dürfen mit Befriedigung auf unsere, von allen Parteien bisher eingehaltene Linie „safety first" zurückblicken, wenn sie in anderen Ländern manchmal auch als Ausdruck eines sinnlosen deutschen Perfektionismus angesehen worden ist.

(Schäfer [Offenburg] [SPD] : Und auch in Kreisen Ihrer Partei!)




Dr. Freiherr Spies von Büllesheim
Es ist doch eine Mär und ein Irrglaube, es ist ein Zerrbild all dessen, was wir hier tun und erstreben, wenn angenommen wird, wir Politiker würden mehr auf die Befürworter und weniger auf die Gegner der Kernenergie hören. Natürlich kann man bei der Abwägung durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Aber ich meine, daß es dem Bürger draußen im Lande zu denken geben sollte, daß die übergroße Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses, und zwar aller Parteien, die Nutzung der Kernenergie für vertretbar und für notwendig hält.
Wenn dies aber die Erkennnis ist, dann muß diese Erkenntnis auch nach außen hin klar vertreten werden, dann geht es nicht an, aus Gründen politischer Opportunität ein Versteckspiel zu treiben, die Verantwortung hin- und herzuschieben und von einem notwendigen Restbedarf zu sprechen, der nun einmal — so mit_ bedauerndem Unterton — gedeckt werden müsse. Dieser Restbedarf wechselt wegen unserer internationalen Abhängigkeit ständig. Bedarf es denn eines Ayatollah Chomeini oder irgendeines anderen möglichen Geschehens in einem Erdöllieferland,

(Stahl [Kempen] [SPD] : Nicht überspitzen!)

um das öffentliche Bewußtsein so 'zu ändern, daß die Bundesregierung es wagen kann, für eine von ihr — jedenfalls mehrheitlich — für richtig gehaltene Politik auch offensiv einzutreten?
Die CDU/CSU-Fraktion hat sich hier nichts vorzuwerfen. Sie hat in dieser unpopulären Frage stets eine klare und eindeutige Position bezogen,

(Stahl [Kempen] [SPD] : Sie machen die Augen dabei zu!)

während sich die Regierungsparteien — jedenfalls Einzelpersonen — innerparteilich und auch außen an diesem Versteckspiel beteiligt haben.
Dazu gehört auch — ich muß einiges überschlagen — der Beschluß des Hamburger Parteitags der SPD von 1977, der die Option Kernenergie offenhalten und gleichzeitig die Option einer kernenergielosen Energieversorgung öffnen will. Herr Bundesminister Hauff, ich habe Ihre sehr kluge und scharfsinnige Studie, die Sie für den SPD-Parteivorstand gefertigt haben, gelesen. Ich habe festgestellt, daß Sie selbst schon in den ersten Sätzen zu dem Ergebnis kommen, daß beide Optionen nicht offenzuhalten sind, jedenfalls nicht auf längere Dauer. Daraus ergibt sich, daß entschieden werden muß. Ihre Studie läßt keinen Zweifel daran, in welche Richtung diese Entscheidung nach Ihrer Auffassung gehen muß.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Wo ist denn da ein Widerspruch zum Parteitagsbeschluß?)

Wir begrüßen diese Enquete-Kommission, weil wir alles begrüßen, was einer sachlichen Auseinandersetzung mit Argumenten und einer von gegenseitigen — gegenseitigen! — Unsachlichkeiten bereinigten Information des besorgten Bürgers dient. Hier ist in der Vergangenheit leider manches versäumt worden — wir alle in diesem Parlament sind dafür ebenso verantwortlich wie die Versorgungswirtschaft und die Industrie —, was jetzt mühsam aufgearbeitet werden muß.
Auf den ersten Blick sind unsere beiden Anträge gleich, aber eben nur auf den ersten Blick. Die Unterschiede in den Anträgen ergeben sich daraus, daß wir nicht wollen, daß diese Kommission zu einem Alibiverein wird,

(Zuruf von der SPD: Wer will das denn überhaupt?)

zu einem Gremium, hinter dem sich die Regierung verstecken kann, um notwendige klare Entscheidungen noch auf unabsehbare Zeit hinausschieben zu können.
Wir werden aber innerhalb und außerhalb der Kommission nicht dulden, daß diese als eine Art von Nebelwand benutzt wird, hinter der die Regierung den von ihr zu treffenden Entscheidungen ausweichen kann. Die Regierung hat in diesem Land noch die Mehrheit

(Lachen bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

und deswegen auch die Verantwortung. Sie darf
sich aus dieser Verantwortung nicht herausstehlen.

(Zuruf von der SPD: Mit wem wollen Sie denn gewinnen? Mit dem blanken Busen oder mit Kohl?)

— Das paßt Ihnen wohl nicht.
Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir alle in diesem Hohen Hause haben Respekt vor der Meinung des anderen, Respekt vor der ehrlichen Sorge des Bürgers, der Gefahren fühlt und sieht, der die Sicherungen und die Alternativen aber nicht so überblickt, wie wir es in diesem Parlament auf Grund unseres besseren Informationsstandes können.

(Zuruf von der SPD: Na, da haben wir aber manchen Zweifel!)

Das kleine Schiff der Kommission wird in rauhem Wind segeln. Es ist mit Hoffnungen von Befürwortern und Gegnern der Kernenergie so befrachtet, daß es fast beängstigend wird. Wir alle geben der Kommission unsere besten Wünsche mit. Möge ihre Arbeit in dieser für unsere Zukunft wesentlichen Frage weiterführen. Möge sie dazu beitragen, die sich in dieser Frage ehrlich und ernsthaft sorgenden Menschen wieder mehr zusammenführen. Und möge sie zu der besten Erkenntnis und Einsicht in der Kernenergiefrage führen, die Gott uns Menschen erlaubt.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0814510400
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ueberhorst. Vorsorglich mache ich darauf aufmerksam, daß natürlich auch in der Kurzdebatte niemand gezwungen ist, die Redezeit voll auszuschöpfen.

(Heiterkeit)


Reinhard Ueberhorst (SPD):
Rede ID: ID0814510500
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde mir die beste Mühe geben. Vielleicht spreche ich etwas schneller.



Ueberhorst
Ich darf feststellen, daß wir heute im Gegensatz zu der ganztägigen Debatte am 14. Dezember, die durch Konflikte, durch Auseinandersetzungen zur Brütertechnologie charakterisiert war, hier einvernehmlich einen Antrag einbringen. Das möchte ich nicht mit einem Initiatorenstolz für die SPD-Fraktion, sondern schlicht und einfach mit Genugtuung feststellen. Wir können hier heute als Parlament einvernehmlich eine Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergiepolitik" einsetzen. Das ist gut für diesen Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Wir wissen, daß wir mit dieser Gemeinsamkeit nicht etwa alle Gegensätze wegpoliert hätten. Ganz im Gegenteil, die Gegensätze, die bei jedem sachlichen Thema der Diskussion zur Kernenergie hier wieder deutlich werden, bleiben bestehen. Aber wir haben uns auf ein demokratisches Verfahren einigen können. Es ist wichtig, diese Einheit hier im Parlament zu unterstreichen.
In dieser Kurzdebatte möchte ich noch ein paar Worte zu der Situation sagen, in die wir dadurch jetzt gekommen sind. Auf die Konflikte, die wir haben, sind wir im Gegensatz zu totalitären östlichen Gesellschaften, wo sie wegpoliert werden müssen, stolz. Wir bewähren uns darin und wollen uns darin bewähren, daß wir diese sachlichen Konflikte in fairen Verfahren austragen können, daß wir sie transparent machen können, daß wir die Anliegen der Bürger, wie es Herr Spies von Büllesheim hier angesprochen hat, ernst nehmen und nicht abqualifizieren.
Im Zusammenhang mit dieser Diskussion sollten wir uns in dieser Debatte vielleicht fragen, ob wir nicht ganz besonders in der Kernenergiepolitik in unserem Lande zuviel Kraft für Polarisierung und zuwenig Kraft, Zeit und Mut für Alternativen haben. Ich muß Ihnen sagen, daß dies in der Tat meine Überzeugung ist. Diese Polarisierung kann niemals zu einem Konsens führen. Aber ohne einen breiten Konsens in der Bevölkerung können wir, wie wir alle wissen, solche Technologien wie die, um die es jetzt geht, überhaupt nicht verwirklichen. Das ist doch das Problem.
Wir wissen, daß es naiv wäre, zu glauben, daß über die Diskussion der Alternativen über das intensive Ausleuchten nun quasi automatisch der Konsens hier zustande kommen könnte. Aber die Diskussion der Alternativen ist für den Konsens, den wir hier anstreben, unabdingbar. Deshalb vereinbaren wir das heute. Wir haben, wie auch Herr Spies von Büllesheim es gesagt hat, hier heute den Wunsch, uns in der Festlegung auf dieses Verfahren bei dem treffen zu können, was die Bürger erwarten, und zwar die Menschen in Gorleben wie die Kollegen von der KWU, die alle Sorgen haben und die wir nicht unterschiedlich abqualifizieren, sondern gleichermaßen hier aufnehmen wollen.

(Zustimmung bei der SPD)

In dem Zusammenhang möchte ich als Replik auf Ihre Ausführungen sagen: Sie sollten sehr vorsichtig sein, wenn wir hier die Bevölkerung sozusagen klassifizieren, Gruppe A, Gruppe B, Gruppe C. Das ist analytisch möglich. Aber es wird gefährlich, wenn wir einige Gruppen abschreiben. Niemanden bitte abschreiben! Selbst diejenigen, von denen wir glauben, daß sie sich völlig verrannt haben, müßten ' wir durch diese Arbeit wieder heranholen können und einladen können, mitzudiskutieren. Bitte, niemanden abschreiben!
Ich möchte noch ein paar Worte zu der praktischen Situation sagen, in der wir jetzt mit der Kommission stehen. Wir sind kurz davor, sie einzusetzen, und zwar einvernehmlich, mit einem Arbeitsauftrag. Wir müssen jetzt Sachverständige berufen. Über diese Sachverständigen ist ja öffentlich schon sehr viel diskutiert worden. Es ist, glaube ich, richtig, daß wir hier heute abend auch etwas dazu sagen.
Unser Wunsch ist es, als SPD-Fraktion, diese Sachverständigen genauso einvernehmlich einzusetzen, wie wir in harter intensiver Arbeit den Arbeitsauftrag jetzt einvernehmlich formulieren können. Wir wollen verschiedene Aspekte, Kompetenzen, Anliegen berücksichtigt sehen: Von dem Aspekt der Arbeitsplätze in der Energiepolitik über die Reaktorsicherheit, über die speziellen Kenntnisse zu Einsparungen, über die Frage der sozialen Verträglichkeit bis zu den außenpolitisch bedeutsamen Proliferationsproblemen. Dafür müssen und werden wir auch ganz sicher Experten finden, die wir hier einladen mitzuarbeiten. Dabei ist es, wenn wir das einvernehmlich tun, sehr gut und auch wichtig, daß niemand von den Experten den Stempel aufgedrückt bekommt, von der Fraktion A, B oder C zu sein, sondern alle Experten werden uns allen zuarbeiten, mit uns allen mitarbeiten.
Wir wissen auch, daß die Experten bei uns nicht als Neutrum erscheinen. Wenn wir zehn Professoren einladen, haben wir nicht unbedingt immer eine Meinung, auch wenn es alles Sachverständige sind. Die Herren, die wir als Experten bitten werden, werden auch Anwälte für bestimmte alternative Konzeptionen sein. Das ist nicht schlecht. Schlecht wäre es, wenn wir jetzt einseitig nur die Experten einer Richtung einladen könnten. Es muß ein ausgewogenes Bild geben. Es ist nicht so wichtig, ob es sieben oder acht oder neun Experten sind. Wichtig ist, daß wir uns zur Ausgewogenheit dieser Mannschaft, die wir dazu laden, bekennen können, daß wir sie dann deshalb auch gemeinsam tragen können. Wir werden ohnehin nicht all die Experten in die Kommission hereinholen können, die wir brauchen. Das heißt: die Kommission muß offen arbeiten; sie muß auch offen sein, noch weitere Experten ad hoc dazuzuladen.
Die Kommission sollte auch deutlich machen, daß alle Wissenschaftler in Zentren, aber auch alle Mitarbeiter in kreativen Unternehmen aufgefordert sind, Vorschläge in unsere Diskussion einzubringen. Diese Kommission wird eben nicht als Hinterstubenkommission des Parlaments arbeiten. Wir werden auch für die Bürger, die Anliegen haben, einen großen Briefkasten haben.

(Vor sitz : Vizepräsident Frau Funcke)




Ueberhorst
Die Kommission wird das Ohr dort haben, wo Wünsche, wo Anliegen, wo Hoffnungen zwischen Mülheim und Gorleben und anderswo ausgesprochen werden.
In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird sich das Parlament dann nach Abschluß der Arbeiten daran messen lassen, ob es gelungen ist, mit diesen Arbeiten — das ist unsere gemeinsame Hoffnung — mehr Konsens in den energiepolitischen Fragen zur Kernenergie zustande zu bringen und damit einen Beitrag auch zum sozialen Frieden in unserem Lande zu leisten. Deshalb bitte ich um Zustimmung für diesen Antrag.

(Beifall bei der SPD)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814510600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Laermann.

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID0814510700
Frau Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kollege Spies von Büllesheim, ich habe mit sehr viel Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß wir, worauf wir uns ja auch im Ausschuß geeinigt hatten, hier nun gemeinsam eine Beschlußempfehlung zur Einsetzung einer Enquete-Kommission, die sich mit den Fragen der zukünftigen Entwicklung auf dem Gebiet der Kernenergie zu befassen hat, verabschiedet haben. Ich vermag allerdings Ihren Ausführungen nicht dahin gehend zu folgen, daß Sie — fast möchte ich sagen, erwartungsgemäß — den Versuch unternommen haben, bereits das Ergebnis der Arbeit dieser Kommission vorwegzunehmen. Ich möchte davor warnen, daß wir dies schon im Vorfeld tun.
Diese Kommission soll unter dem Titel ,,Zukünftige Kernenergiepolitik" die Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsnotwendigkeiten des Parlaments in der Zukunft unter Berücksichtigung aller ökologischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Aspekte darstellen. Der Kommission fällt die gewiß nicht als leicht einzuschätzende Aufgabe zu, die sich derzeit in der Öffentlichkeit — auch im politischen Raum, in der politischen Öffentlichkeit — immer stärker polarisierenden Meinungen und Haltungen gegenüber der friedlichen Nutzung der Kernenergie durch ihre Beurteilungen und Empfehlungen zusammenzuführen, die Probleme, Risiken und Alternativen aufzuzeigen und die Folgen und Auswirkungen dieser gewaltigen, revolutionierenden und in bezug auf ihre Nutzung noch relativ jungen Technologie zur Erzeugung von Energie in allen politisch relevanten Bereichen gegeneinander abzuwägen.
Dabei müssen notwendigerweise über die rein kerntechnischen Bereiche der Reaktoren, des Brennstoffkreislaufs, der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente und der Endlagerung radioaktiven Abfalls hinaus insbesondere auch die Fragen der Nichtweiterverbreitung, das Plutonium-Management, der Strahlenschutz, die soziale Verträglichkeit, die Sicherung kerntechnischer Anlagen vor unbefugten Zugriffen und der Katastrophenschutz berücksichtigt werden. Außerdem wird es unerläßlich sein, daß in der Arbeit der Kommission allgemeine energiepolitische Gesichtspunkte, mittel- und langfristige Entwicklungstendenzen in der Energiesicherung unter. globalen Aspekten, also nicht beschränkt auf den nationalen oder auch den europäischen Raum, in die Betrachtungen einbezogen werden.
Über dieser ansich schon sehr komplexen Themenstruktur darf aber nicht der eigentliche Anlaß für die Einsetzung der Enquete-Kommission, nämlich die Beurteilung der Entwicklung der Technologie des Schnellen Brüters, vergessen werden. Allein schon die intensive Befassung mit diesem sehr speziellen Thema wird die Mitglieder der Enquete-Kommission, Abgeordnete und Sachverständige, mit Sicherheit in jeder Beziehung, zeitlich und inhaltlich, stark fordern. Sieben Abgeordnete und, nach neuestem Beschluß, acht Sachverständige werden sich in monatelanger, u. U. jahrelanger Arbeit mit den aufgeworfenen Fragen befassen müssen. Es muß als selbstverständlich unterstellt werden, daß diese 15 Kommissionsmitglieder allein — ohne Hinzuziehung einer Vielzahl von Ad-hoc-Sachverständigen — ihre Aufgaben nicht werden lösen können.
Die in die Kommission zu berufenden Sachverständigen sollen nach Möglichkeit die wichtigsten Teilbereiche des Aufgabenkatalogs der Beschlußempfehlung abdecken. Sie sollen aber gleichzeitig — dies ist mir ganz besonders wichtig — die unterschiedlichsten Positionen und Einstellungen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie in die Kommissionsarbeit einbringen. Denn diese Kommission
darf — hier stimme ich auch dem Kollegen Ueberhorst zu — nicht von vornherein als reine Befürworter-Kommission abgestempelt werden, genauso wenig, wie sie von vornherein und a priori als eine Kommission, die die Kernenergie total ablehnt, abgestempelt werden darf.

(Dr. Steger [SPD] : Aber den Biedenkopf ficht das nicht an, der hat schon die Parole ausgegeben: So -viel Kernergie wie möglich!)

— Ich möchte davor warnen, daß wir schon im Vorfeld die Arbeitsergebnisse der Kommission präjudizieren.
Nur in der Ausgewogenheit, in der Abgewogenheit wird die Kommission ihre Aufgabe erfüllen können, die heutigen und die zukünftigen Diskussionen um die Kernenergie in der politischen und auch der allgemeinen öfffentlichen Auseinandersetzung zu versachlichen. Nur so wird die Kommission dem Bürger ihre Objektivität glaubhaft machen können.

(Zustimmung bei der FDP)

Meine Fraktion geht daher davon aus, daß im Interesse einer wirkungsvollen, fruchtbaren Arbeit ein zwischen allen Fraktionen dieses Hauses einvernehmlicher Besetzungsvorschlag unter den vorgenannten Aspekten zustande kommt, und zwar nunmehr unverzüglich.
Die Arbeit der Kommission — das möchte ich noch einmal besonders betonen — sollte nicht bereits im Vorfeld mit Konfliktstoff belegt und der Gefahr einer Polarisierung ausgesetzt werden. Das



Dr.-Ing. Laermann
Parlament und die Öffentlichkeit, 'die Bürger unseres Landes, insbesondere die beunruhigten und verunsicherten Bürger, hätten gewiß kein Verständnis dafür, daß schon vor Beginn der Kommissionsarbeit deren Objektivität und Neutralität, ihre Glaubwürdigkeit beeinträchtigt oder in Zweifel gezogen werden müßten.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Auch deshalb, meine ich, werden wir einen einvernehmlichen Besetzungsvorschlag machen müssen, und wir sollten den Experten nicht bereits von vornherein einen Parteistempel aufdrücken.

(begrüßt insbesondere die nunmehr vorgesehene Erweiterung auf acht Sachverständige, die meines Erachtens zu einer besseren Ausgewogenheit in der Sachkompetenz und im Hinblick auf die Einstellung der Sachverständigen führt. Wir erwarten die Zustimmung zu dieser Beschlußempfehlung und möchten gleichzeitig die Hoffnung auf eine gute und erfolgreiche Arbeit der Kommission ausdrücken. . Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Wir kommen zur Abstimmung über' die Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 8/2628. Wer zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — ,Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen. Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf: Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie Antrag der Abgeordneten Lenzer, Dr. Riesenhuber, Dr. Probst, Pfeifer, Benz, Engelsberger, Gerstein, Dr. Hubrig, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Stavenhagen, Frau Dr. Walz, Pfeffermann und der Fraktion der CDU/CSU Einrichtung einer Prognoseund Bewertungskapazität zur Begutachtung technologischer und forschungspolitischer Entwicklungen beim Deutschen Bundestag — Drucksachen 8/1241, 8/2629 Bericht des Vorsitzenden: Abgeordneter Dr. Probst Interfraktionell sind Kurzbeiträge vereinbart worden. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnet Riesenhuber. (Dr. Spöri [SPD]: Wo sind denn die anderen Antragsteller? — Marquardt [SPD] : Probst kneift wieder!)


(Beifall bei der FDP und der SPD)

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814510800

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID0814510900
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU/ CSU-Fraktion hat nach § 60 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages diese Debatte heute erreicht.

(Wehner [SPD] : Da sollten Sie wenigstens dabei sein!)

Es geht um unsere weitere Arbeit zur Technologiefolgenabschätzung.
Wir hatten einen Antrag eingebracht. Dieser Antrag war auf Grund der Geschäftsordnung hier leider nicht durchzubringen.
Der Bericht den der Vorsitzende des Ausschusses für Forschung und Technologie vorgelegt hat, liegt der Debatte zugrunde. Die Bilanz, die wir heute zu ziehen haben, ist einigermaßen blamabel. Seit fünf Jahren diskutieren wir über ein Instrument zur Technologiefolgenabschätzung — im Ausschuß, im Plenum, im Ausschuß und wieder im Plenum.
Sämtliche. Fraktionen des Deutschen Bundestages haben nachdrücklich erklärt, daß wir ein derartiges Instrument brauchen. Das Modell, das der Ausschuß für. Forschung und Technologie gemäß dem Bericht des Vorsitzenden einstimmig verabschiedet hat, liegt nunmehr wiederum seit einem Dreivierteljahr in den Ausschüssen. Die Koalitionsfraktionen haben es abgelehnt, gemäß § 60 Abs. 4 der Geschäftsordnung einen gemeinsamen Bericht einzubringen, der eine Beschlußfassung erlaubt hätte.
Wir haben durch Gutachten, durch Hearings, durch zahllose Diskussionen, durch wissenschaftlichen Rat, durch eine umfassende. Fachliteratur inzwischen einen Stand der gemeinsamen Kenntnis erreicht, der eine Entscheidung erlauben sollte.
Die SPD hat im Ausschuß durch ihren Obmann, den Kollegen Stockleben, ausdrücklich erklärt, daß sie nach wie vor zu diesem gemeinsamen Beschluß des Ausschusses stehe. Ich möchte dem Herrn Kollegen Stockleben für diese Aussage sehr danken. Entscheidend wäre jedoch, daß wir jetzt hier schnellstmöglich einen Weg fänden, von dieser Aussage her zu einer Entscheidung im Plenum zu gelangen, die weiterbringt. Diese Entscheidung ist überfällig, und es ist auch möglich, sie zu treffen.
Wir haben von Anfang an all die Jahre hindurch erklärt, daß wir zu jeder Debatte über jedes Modell bereit sind. Wir haben am Anfang der 7. Legislaturperiode ein Konzept eingebracht und es nach allen Vorschlägen, die inzwischen in die Debatte eingebracht worden waren, zu Beginn der 8. Legislaturperiode modifiziert. Wir haben im gemeinsamen Antrag des Forschungsausschusses sämtliche Einwände und Anregungen aufgenommen, die in der Diskussion von den anderen Fraktionen eingebracht worden waren. Dies ist durch den einstimmigen Beschluß des Ausschusses hinreichend belegt.
Es ist notwendig, zu begründen, warum wir die Angelegenheit wirklich für so dringlich halten. Nicht nur die Tatsache, daß wir die Entscheidung seit fünf Jahren vor uns herschieben, ist einigermaßen provozierend. , Auch die Probleme, die anstehen, gewinnen im Laufe der Zeit zunehmend an Gewicht. Zum ersten gibt es keinen Bereich im Bundeshaushalt, in dem das Parlament die Regierung



Dr. Riesenhuber
so wenig handfest zu kontrollieren imstande ist wie in der Forschungspolitik. Dies ist keine Frage der Einsatzbereitschaft des Abgeordneten. Ich kenne kein Mitglied des Ausschusses, das nicht mit aller Kraft an der Lösung der Probleme arbeitet.
Es ist aber offensichtlich eine Überforderung der Möglichkeiten eines jeden einzelnen Abgeordneten, zugleich umfassend kompetent zu sein für Probleme der Genforschung und der Telekommunikation, der Reaktorsicherheitsforschung und der Mikroelektronik und hierüber verantwortliche und die Regierung tatsächlich kontrollierende Entscheidungen zu treffen.
Hinzu kommt, daß es die erklärte Politik der Regierung ist, die direkte Forschungsförderung einzelner Projekte zu Lasten der indirekten Forschungsförderung zu steigern. Dies hat im Laufe der Jahre zu einem ständig wachsenden Übergewicht der direkten Forschungsförderung im Haushalt des Bundesforschungsministers geführt. Dies bedeutet nichts anderes, als daß diese Projekte der Kontrolle des Marktes weitgehend entzogen sind, denn in dem Maße, in dem durch direkte Forschungsförderung Einzelprojekte bevorzugt werden, ist die Kontrolle des Marktes, die ja hier darüber entscheiden könnte, was dringender, wichtiger und besser ist, eben einfach nicht mehr wirksam.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Es wäre uns lieber und wir hielten es für richtig, wenn das Maß der indirekten Forschungsförderung so gesteigert würde, daß diese Fehlentwicklung endlich zurückgedreht wird. Solange dies aber nicht der Fall ist, ist es schon aus diesem Grunde erforderlich, ein Instrument zu schaffen, das dem Parlament hilft, sachkundig zu kontrollieren, was von der Regierung getan und vorgelegt wird, d. h. in der Tat die Kontrolle zu ermöglichen, die der Markt nicht mehr zu leisten imstande ist.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814511000
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Steger?

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID0814511100
Wenn sie kurz ist!

Dr. Ulrich Steger (SPD):
Rede ID: ID0814511200
Herr Kollege Riesenhuber, mich wundert Ihre Marktlyrik, denn bislang bestand doch, wenn ich Sie richtig verstanden habe, im Ausschuß Einmütigkeit darüber, daß Technologiefolgenabschätzung deswegen notwendig sei, weil eben der Markt ein sehr unzureichender Selektionsmechanismus für diese Fragen ist.

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID0814511300
Lieber Herr Kollege Steger, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Anregung, die mich unmittelbar zu dem zweiten Punkt meiner Begründung führt. Ich habe Ihnen drei verschiedene Punkte angedroht, und ich werde alle drei Punkte hier abhandeln.
Der zweite Punkt ist, daß es die Aufgabe dieser Arbeitsgruppe sein sollte - hier zitiere ich den Bericht des Vorsitzenden —, wissenschaftliches Material für die technologiepolitische Entscheidungsfindung aufzuarbeiten. Wir gehen nämlich davon aus, daß das Parlament in der öffentlichen Debatte bisher nicht die Rolle gespielt hat, die es eigentlich zu spielen hätte. Die Sorgen und Ängste der Bürger aufzugreifen, sie im Parlament zu artikulieren und zugleich auch die Notwendigkeiten der Politik gemäß der parlamentarischen Entscheidungen, die wir gefällt haben, in der Öffentlichkeit zur Sprache zu bringen und akzeptabel zu machen — dies wäre Aufgabe des Parlaments.
Die Dringlichkeit unseres Antrags erweist sich auch darin, daß diese Aufgabe in der Öffentlichkeit uns zunehmend nicht abgenommen wird. Die öffentliche Diskussion ist zwiespältig geworden. Es gibt eine offizielle Diskussion über Modelle, die von der Politik und der Wirtschaft entwickelt worden sind und als rationale Lösung konkreter Probleme aufgefaßt werden. Es gibt eine zweite grundsätzliche Diskussion, die davon ausgeht, daß die Ängste und die Sorgen der Bürger, daß diese Technik über sie hinwegwachsen könnte, einfach nicht mehr zu kontrollieren sind.
In dieser Diskussion hat das Parlament eine entscheidende Mittlerfunktion. Es muß uns gelingen, in dieser Diskussion tatsächlich beides wieder zusammenzuführen: die diskutierende Öffentlichkeit und die offizielle Politik. Um dies zu erreichen, genügt es nicht, mit gutem Willen und Fleiß zu arbeiten. Wir brauchen vielmehr auch Sachverstand in einem höheren Maße, als wir ihn' bis jetzt einbringen konnten. Deshalb haben wir für einen bestimmten Bereich auch der Enquete-Kommission zugestimmt und diesen, Antrag selbst vorgelegt.
Auch deshalb bedauern wir dies ist der zweite
Punkt —, daß wir in diesem Fall nicht zu einem gemeinsamen Bericht des Ausschusses und zu einem gemeinsamen Antrag gemäß dem einstimmigen Beschluß des Ausschusses gekommen sind.
Dritter Punkt. Herr Steger, hier greife ich das Problem auf, das Sie soeben angesprochen haben. Zum dritten ist es natürlich ein Kernproblem, wie wir überhaupt die Zukunft gestalten, ob sich die Technik verselbständigt, ob sie Eigendynamik entwickelt, dit wir nicht mehr kontrollieren können, oder ob wir rechtzeitig erkennen, welche Risiken, Gefahren und Entwicklungen auf uns zukommen und was wir zu tun haben, um sie zu beherrschen.
Der große Vorwurf in der kernenergiepolitischen Diskussion ist doch der, daß die Parlamente nicht rechtzeitig genug gesagt haben, wo die Risiken tatsächlich liegen und daß nicht rechtzeitig genug über die Folgen nachgedacht worden sei.
Mit der Regierung sind auch wir der Überzeugung, daß Kernenergie notwendig ist. Dies ist eine erklärte Politik. Die Bedingungen, unter denen sie verantwortet werden kann, sind von der Regierung erklärt worden. Aber die Öffentlichkeit hat es uns bis jetzt nicht als bewiesen abgenommen, daß wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, die Folgen unseres Handelns rechtzeitig zu prüfen. Die Öffentlichkeit hat uns nicht abgenommen, daß wir rechtzeitig die Instrumente geschaffen haben, die uns



Dr. Riesenhuber
wirklich ein unabhängiges, kundiges und kompetentes Urteil neben dem Sachverstand der Regierung ermöglichen.
Dies gilt nicht nur für die Kernenergie, dies gilt für die Fülle der Gebiete, die wir zu verantworten haben. Die Telekommunikation und die Mikroprozessoren werden einen einschneidenden Einfluß auf die Entwicklung unserer Gesellschaft haben. Aber ob sie zu mehr Nachbarschaftlichkeit und zu mehr Gespräch führen oder ob sie schließlich zu weiterer Vereinsamung führen, ist eine Frage, die bei uns nicht ausdiskutiert ist.
Wir wissen, daß es eine entscheidende Frage sein wird, ob wir eine lebendige und eine lebenswerte Zukunft gestalten können. Dies hängt selbstverständlich von der Beherrschung der Technik ab. Wir wissen aber zu wenig, wieweit Kohlendioxyd aus Verbrennungsprozessen das Klima beeinträchtigt oder wieweit Verunreinigungen der Luft Krebs hervorrufen können. Wir müssen hier mehr wissen. Wir brauchen den Sachverstand.
Dieses Parlament steht in den Fragen der Forschung und Technologie vielleicht vor größeren Aufgaben als Parlamente in früheren Jahren. Wir könnten an einem Entwurf arbeiten, in dem materieller Wohlstand Mittel, nicht aber Maßstab und Ziel einer geglückten Lebensgestaltung ist. Wir könnten an der Gestaltung einer Technik in einer verletzbaren Welt mit Rücksicht auf diese verletzbare Welt arbeiten. Wir könnten an einem Konzept arbeiten, das Schönheit und Reichtum der Erde bewahrt, nicht als Residualfaktoren einer sonstigen Technik, und sie nicht als kostenlose Güter beliebiger Inanspruchnahme und Vergeudung anheim gibt. Wir könnten dies alles tun, und wir tun es auch mit allen unseren Kräften, aber offensichtlich reicht das nicht aus.
Wir fordern die Koalitionsfraktionen dringend auf, mit uns zusammen jetzt den Antrag einzubringen, den wir gemeinsam im Ausschuß verabschiedet haben, so daß endlich das Konzept, das wir gemeinsam erarbeitet haben, zu einem Instrument reift, mit dem wir in der Tat dann such in der Praxis arbeiten können.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814511400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stockleben.

Adolf Stockleben (SPD):
Rede ID: ID0814511500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was Herr Riesenhuber hier zum Schluß vorgetragen hat, können sicherlich nicht fünf Beamte — gesteuert durch einen Lenkungsausschuß —, die dem Präsidenten des Deutschen Bundestages zugeordnet sind, leisten. Ich erkläre dazu auch hier wieder, sehr verehrter Herr Riesenhuber, daß wir selbstverständlich zum Inhalt des Antrags stehen, daß wir aber der Meinung sind, daß diese Aufgaben nicht allein durch mehr finanzielle Mittel und fünf Beamte, die beim Präsidenten des Deutschen Bundestages angesiedelt sind, geleistet werden können. Forschungs- und Technologiepolitik ist nicht nur eine Frage von Experten, Intellektuellen und Bürokraten, sondern Forschungs-
und Technologiepolitik müssen Gegenstand eines breiten Dialoges sein. Hier müssen wir auch mit denjenigen in einen Dialog eintreten — so, wie wir es mit den Bürgerinitiativen getan haben —, die unmittelbar davon betroffen sind, nämlich die Menschen, für die wir diese Forschungs- und Technologiepolitik leisten. Dazu gehören in erster Linie auch die Arbeitnehmer, die von diesen neuen Techniken unmittelbar betroffen sind. Dies können nicht die fünf Bürokraten für uns leisten. Hier müssen wir mit den Tarifvertragsparteien und mit den Sozialpartnern in einen breiten Dialog eintreten, so, wie wir Sozialdemokraten dies mit unserem Forum in Essen begonnen haben.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin der festen Überzeugung, daß, wenn Herr Riesenhuber nicht so schnell Wasser gelassen hätte,

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

wir sehr wohl auch noch im Ausschuß zu einer vernünftigen, akzeptablen Lösung gekommen wären.

(Beifall bei der SPD)

Aber Sie haben uns doch hier vorführen wollen. Sie haben dieses auf die Tagesordnung genommen und haben gesagt: Wir wollen eine Bestandsaufnahme machen.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Dann sind Sie mit diesem Geschäftsordnungstrick gekommen. Was ist denn das für eine Art? Ich habe mich immer angeboten, auch außerhalb des Ausschusses, mit dem Kollegen Steger, darüber in aller Freundschaftlichkeit und aller Sachlichkeit zu reden. Wir wollen diese Technologiefolgen abschätzen. Nur: Dieses kann so ein kleiner Apparat hier nicht leisten, sondern hier hat sich im Grunde genommen die Forschungs- und Technologiepolitik konkret an den Forschungsprogrammen zu orientieren. Hier hat sich der Minister bereit erklärt, das unter dem Begriff „Technologiefolgenabschätzung" zu vergebende Gutachten zu ergänzen, dieses auch thematisch im Ausschuß entsprechend zu behandeln und dann die Wunschvorstellungen und die Modifikationen der Ausschußmitglieder, der Mehrheit dieses Ausschusses, mit in die Programme aufzunehmen. Das heißt, jeder Teil des Forschungsprogramms muß auch die sozialen, die ökonomischen, die ökologischen Folgen zum Inhalt haben und darstellen. Dieses müssen wir als Parlamentarier aufarbeiten.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir es nicht selber tun, die Experten werden das nicht für uns tun. Wir müssen das tun, auch wenn es uns schwerfällt! Notfalls müssen wir auch den Ausschuß in der nächsten Legislaturperiode noch um einige Mitglieder erweitern — wir sind ja im Grunde genommen ein sehr kleiner Ausschuß und haben Doppelbesetzung —, damit die breite Palette der Forschungspolitik entsprechend angegangen werden kann.
Herr Riesenhuber, wissen Sie: Wenn Sie über Forschungs- und Technologiepolitik sprechen — da



Stockleben
gibt es ja nicht nur den Bereich der technischen Forschung — müssen Sie auch einmal Ihr Selbstverständnis von der sozialen Forschung zeigen. Auch das, was die Menschen betrifft, wovon sie unmittelbar betroffen sind, müssen wir beurteilen. Das werden wieder nicht die Experten tun. Da können wir nicht mit Lenkungsausschüssen kommen. Hierüber müssen wir mit den Arbeitnehmern reden, um zu erfahren, wie sie dieses empfinden und was wir dort zu tun haben. Lassen Sie uns einmal dieses Programm „Humanisierung der Arbeit" nehmen! Das gilt für Bildschirmtexte, das gilt für die Schwerindustrie, das gilt fast für alle Bereiche der industriellen Forschung. Deswegen haben wir auch dieses Programm „Humanisierung der Arbeit". Ich habe manchmal das Gefühl, wenn ich darüber rede, daß Sie sagen: Das ist ein Thema für Stockleben und vielleicht noch für einige, und im Grunde genommen geht das niemand anders etwas an. Herr Riesenhuber, wir haben hier ein anderes Verständnis von Grundwerten, die auch ihren Niederschlag in der Forschungspolitik finden. Ich bitte Sie sehr herzlich: Lassen Sie uns hier einen neuen Ansatz finden! Aber ich weiß heute schon: Machen wir zunächst diesen bürokratischen Apparat und meinen, das wäre das Instrument, dann erreichen wir nicht das, was wir wollen. Vielleicht wird das ein Hilfsinstrument der Opposition sein, eine Art Gegenbürokratie.

(Dr. Riesenhuber [CDU/CSU] : Sie haben es doch selbst beschlossen!)

— Ich habe doch gesagt: Vielleicht soll es auch das Instrument der Opposition sein! Ich bin der Meinung, daß die vorhandenen wissenschaftlichen Institute uns als Forschungsausschuß verstärkt zuarbeiten sollten. Hierüber müssen wir im Ausschuß reden und insbesondere das Angebot des Forschungsministers annehmen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Pfeifen Sie doch nicht die Flöte des Ministeriums!)

in jeden Teil der Forschungsprogramme diesen einen Schwerpunkt mit aufzunehmen. Dann lassen Sie uns beispielsweise, wie wir es hier getan haben, im Bereich der Energiepolitik, mit der Enquete-Kommission ähnlich kritische Punkte herausgreifen und ganz konkret versuchen, diese im Ausschuß zu erarbeiten, Stück für Stück da dran bleiben, aber nicht polemische Konflikte dort zu fahren, die dann irgendwann im luftleeren Raum verharren. Vielmehr sollten wir an konkreten Objekten wie beispielsweise der Datenverarbeitung oder neuer Kommunikationstechnologien versuchen, einen Ansatz zu finden. Wenn dann das, was an zusätzlichem Sachverstand dort notwendig ist, nicht vorhanden ist und die Parlamentarier da zusätzliche Unterstützung brauchen und wir dies deutlich machen können, kann ich mir vorstellen, daß wir von allen Seiten die entsprechende wissenschaftliche Begleitung bekommen, von den wissenschaftlichen Instituten bzw. von denen, die diese Forschungsarbeit in den einzelnen Bereichen selber leisten.
Mir scheint aber hierbei ganz besonders wichtig zu sein, daß wir, wenn wir das angehen, dies nicht
ohne breiten Dialog mit den Gewerkschaften als Organisation tun können. Aber das reicht nicht aus, sondern wir müssen in die Betriebe hineingehen, dort, wo diese Forschungspolitik umgesetzt wird. Wir setzen sie doch nicht um. Es gibt zwar einige konkrete Projekte, wo Sie immer meinen, sie seien nicht so gut, man sollte mehr indirekte Forschungsförderung betreiben. Die indirekte Forschungsförderung können Sie noch weniger steuern, können Sie noch weniger abschätzen, sondern diese werden andere abschätzen, werden andere umsetzen, damit werden wir wenig zu tun haben.

(Beifall bei der SPD)

Es geht darum, die Arbeitnehmer, die Mitbestimmungsträger, dafür zu gewinnen. Dazu braucht man eine breitere Öffentlichkeit. Jawohl, auch das führt zu Rede und Gegenrede und zu Anregungen.
Zum Schluß meine ich, daß wir insbesondere auch die schon jetzt bewilligten Mittel, die bisher von uns noch in Anspruch genommen wurden, die 100 000 DM, die uns zur Verfügung stehen, für die Aufträge so einsetzen sollten wie ich es formuliert habe. Wir sollten sie sinnvoll nutzen, um deutlich zu machen, daß zunächst einmal die Parlamentarierer im Ausschuß ihren Auftrag mit Unterstützung durch diese 100 000 DM erfüllen und versuchen, sich auf diesem Wege in Sachen Forschung und Technologie sowie Abschätzung der Folgen weiter zu bewähren, und zwar hier im Parlament, im Ausschuß, aber auch draußen, dort, wo Forschungs- und Technologiepolitik im Dialog mit den Bürgern betrieben werden muß.

(Beifall bei der SPD und der FDP)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814511600
Das Wort hat der Abgeordnete Laermann.

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID0814511700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Anbetracht der vorgerückten Stunde möchte ich versuchen, mich kurz zu fassen.

(Wehner [SPD] : Hört! Hört! — Dr. Freiherr Spies von Büllesheim [CDU/CSU] : Hoffentlich erfolgreich!)

Herr Riesenhuber, es ist schon ein eigenwilliges Verfahren, nach der Geschäftsordnung einen Bericht durchzusetzen, ohne daß die angeforderten Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse vorliegen, ohne die Äußerung des Präsidiums abzuwarten und ohne den Themenkomplex der Technikfolgenbewertung völlig und erschöpfend im Ausschuß auszudiskutieren. Sie, verehrte Kollegen von der Opposition, haben unser Angebot, eine geschlossene Konzeption, ein Paket von Maßnahmen zu entwickeln, bisher nicht aufgegriffen. Sie haben statt dessen hier den Bericht durchgesetzt. Ich frage mich nun: was bringt uns denn dieser Bericht? Er hat uns keinen Schritt weitergebracht.

(Gerstein [CDU/CSU] : Im Ausschuß waren wir uns doch schon einig!)




Dr.-Ing. Laermann
— In der Beurteilung des Problems, Herr Kollege Gerstein — ich stimme Ihnen zu —, sind wir uns auch einig; hier gibt es keinen Dissenz.

(Dr. Riesenhuber [CDU/CSU] : Sie haben den Beschluß doch mitgefaßt!)

Deshalb lassen Sie uns doch versuchen, auch in bezug auf die Maßnahmen eine gewisse Einigkeit zu erzielen, damit wir dann dieses Maßnahmenpaket auch gemeinsam und geschlossen durchsetzen können.

(Dr. Freiherr Spies von Büllesheim [CDU/ CSU] : Das ist in der letzten Wahlperiode schon abgeschlossen worden!)

— Die Beurteilung des Problems, Herr Kollege Spies von Büllesheim — ich betone das noch einmal — —

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814511800
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Riesenhuber?

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID0814511900
Aber gern!

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID0814512000
Herr Kollege Laermann, sind Sie nicht der Ansicht, daß wir im Ausschuß dieses Konzept gemeinsam beschlossen haben, das heute im Bericht des Vorsitzenden vorgelegt worden ist, d. h. also auch mit den Stimmen Ihrer Fraktion?

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID0814512100
Herr Kollege Riesenhuber, ich möchte die Ausschußdiskussionen nicht vor dem Plenum fortsetzen.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Aber ich möchte doch feststellen dürfen, daß wir insbesondere auch in der Diskussion, in der es um die Geschäftsordnungsfrage ging, betont haben, daß wir das nur als einen Teilaspekt betrachten und daß es ergänzt werden muß. Ich darf noch darauf zurückkommen.

(Abg. Dr. Riesenhuber [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)

— Herr Kollege Riesenhuber, ich bitte um Verständnis dafür, daß ich in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit keine weiteren Zwischenfragen zulasse.
Herr Kollege Riesenhuber, die Forderung des Staates an die Wissenschaft, einerseits neue Erkenntnisse für politische Entscheidungen, für politische Machtansprüche zu gewinnen, sowie die zunehmende Größe und die Kostspieligkeit der Forschungsprojekte und der dazu erforderlichen Einrichtungen andererseits machen die Wissenschaft nun einmal zunehmend vom Staat abhängig und verpflichten sie diesem. Schon aus diesem Grunde werden wir eine Ausweitung, eine überproportionale Steigerung der direkten Forschungsförderung hinnehmen müssen,
Die enormen finanziellen Aufwendungen für Forschung und technologische Entwicklungen, aus Steuergeldern aufgebracht, machen es zudem zwingend notwendig, daß der Staat und seine Institutionen, vor allem die Parlamente, der Öffentlichkeit gegenüber diese Aufwendungen begründen und verantworten müssen. Damit werden Entscheidungen hinsichtlich der Ziele der Forschungsförderung, der Prioritäten, der Erfolgskontrolle, der Bewertung der Ergebnisse und ihrer Verfügbarkeit, ihrer ökonomischen Umsetzung, aber auch hinsichtlich ihrer Auswirkungen und Folgen in anderen Bereichen, wie z. B. den ökologischen, den sozioökologischen und gesellschaftlichen wie den strukturellen Auswirkungen notwendig. Zu Recht haben Sie das Beispiel der Kernenergie angeführt. Ich meine, dies ist symptomatisch für Versäumnisse in der Vergangenheit, ist symptomatisch dafür, daß wir uns im politischen Raum — nicht irgendeine Organisation oder Mini- bürokratie —, wir, die politisch Verantwortlichen, mit den Fragen politisch nicht genügend auseinandergesetzt haben. Deswegen meine ich, daß die Einrichtung einer Minibürokratie allein das Problem nicht löst.
Herr Kollege Riesenhuber, Sie haben einen Katalog aufgelistet von: wir könnten, wir könnten, wir könnten. Sie haben das Verhältnis der direkten zur indirekten Forschungsförderung angesprochen. Alles politische Entscheidungen!

(Beifall bei der SPD)

Nur zur Aufbereitung und Vorbereitung solcher Entscheidungen könnten wir sicherlich noch gewisse ergänzende Hilfestellung gebrauchen. Darüber sind wir uns einig. Aber dies allein, betone ich noch einmal, genügt nicht. Mit so einer Minibürokratie und einer weiteren Zahl von Sachverständigen, wobei das Problem der unabhängigen Sachverständigen schon ein Problem an sich ist, könnte im Gegenteil eine zusätzliche, neue Gefahr entstehen, die wir nicht übersehen dürfen. Unser demokratisches System könnte sich in eine Sachverständigendemokratie verwandeln.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Es muß unser aller gemeinsames Bestreben sein, dafür zu sorgen, daß der demokratische Entscheidungsprozeß und die Verantwortung im Parlament bleiben

(Gerstein [CDU/CSU] : Dann könnten Sie sich aber viele Enquete-Kommissionen sparen!)

und daß das Parlament nicht durch die Eigenständigkeit und Verselbständigung, 'durch die Herauslösung technischer Entwicklungen aus dem demokratischen Willensbildungsprozeß entmachtet wird. Das Parlament darf sich hier nicht enthaltsam geben. Es darf nicht in einer Minibürokratie ein Alibi für weitere und gesteigerte Enthaltsamkeit suchen und sehen.

(Beifall bei der SPD — Pfeifer [CDU/CSU]: Eben war er doch für die Enquete-Kommission!)




Dr.-Ing. Laermann
— Ich komme noch auf die Enquete-Kommission zu sprechen, Herr Kollege Pfeifer.
Wenn wir ein Gesamtkonzept vorlegen, verehrte Kollegen von der Opposition, dann wird, davon bin ich überzeugt, auch der Haushaltsausschuß die für ein solches Konzept erforderlichen Haushaltsmittel bewilligen.
Angesichts der tiefreichenden Wirkungen von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen nicht nur in wirtschaftlicher, sondern zunehmend auch in ökologischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht muß es Aufgabe der Parlamentarier sein, die Entscheidungen ausreichend zu diskutieren und mitzugestalten und eine breite öffentliche Diskussion, wie schon der Kollege Stockleben ausgeführt hat, herbeizuführen. Ich sage noch einmal, es sollten deshalb zukünftig Forschungs- und Entwicklungsprogramme, die unser Leben zunehmend beeinflussen, im Parlament ausführlich diskutiert und beschlossen werden. Gleichzeitig sollte es zur selbstverständlichen Übung werden, daß bei der Vorlage solcher Programme die bereits absehbaren oder möglichen Folgewirkungen für die Gesellschaft dargestellt und alternative Überlegungen kritisch aufgenommen werden. Zu diesen Punkten könnten und müßten wir, ohne daß ich das jetzt im einzelnen ausdiskutiere, auch das Instrument einer Enquete-Kommission ergänzend hinzufügen; es gehört, Kollege Pfeifer, in dieses Konzept und in diesen Zusammenhang, so wie möglicherweise auch Ad-hoc-Kommissionen, die dann nicht gerade als Enquete-Kommissionen deklariert werden müssen, zu anderen, bestimmten aktuellen Themen eingerichtet und eingesetzt werden könnten.
Wir sollten einmal überlegen und Maßnahmen vorschlagen, wie wir den Wissenschaftlichen Dienst und seine Ausstattung im Hinblick auf Technik und Naturwissenschaften verbessern und eventuell eine Umorientierung und Erweiterung seines Aufgabenbereiches durchsetzen. Wir sollten, wie hier schon angesprochen, die bestehenden Institutionen der Wissenschaft — auch die Großforschungseinrichtungen — in die parlamentarische Arbeit stärker als bisher einbeziehen, eventuell darüber nachdenken, ob es hier zu einer direkten Zuarbeit und Berichtspflicht der Großforschungseinrichtungen an das Parlament kommen kann. Oder nehmen wir die MaxPlanck-Gesellschaft oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Ich darf wiederholen — ich habe schon einmal darauf aufmerksam gemacht —, daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft in § 1 ihrer Satzung — Zweck des Vereins — formuliert hat: Sie berät Parlamente und Behörden in wissenschaftlichen Fragen. Wo aber, frage ich Sie, haben wir bisher von § 1 dieser Satzung Gebrauch gemacht?
Auch das Instrument nichtöffentlicher Anhörungen in den Ausschüssen mit begrenzter Zahl von Sachverständigen, nicht zuletzt aus den fachlichen Randbereichen, sollte benutzt werden. Schließlich ist eine Änderung unserer Einstellung, der Einstellung der Parlamentarier, erforderlich, derjenigen — ich meine, das ist ganz wichtig die im Forschungsausschuß tätig sind. Der politische Entscheidungsfindungsprozeß muß die systemanalytischen Zusammenhänge stärker berücksichtigen. Wir sollten uns im Parlament und in den Ausschüssen, insbesondere in unserem Ausschuß, weniger mit speziellen fachlichen Detailfragen als vielmehr mit den grundsätzlichen politischen Bedeutungen der anstehenden Problembereiche auseinandersetzen. Wir sollten uns von der Rolle nach Nachfrager freimachen.
Für meine Fraktion erkläre ich: Wir halten es für unverzichtbar und längst überfällig, uns viel stärker als bisher mit der Bewertung und Abschätzung von Folgen wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen in Politik und auf die Gesellschaft zu befassen. Es ist unstreitig, daß wir willens und bereit sind, mit allen Fraktionen, auch mit Ihnen, verehrte Kollegen von der Opposition, ein gemeinsames Konzept zu erarbeiten und es auch durchzusetzen. Wir meinen aber, daß administrative Einzelaktionen nicht der richtige Ansatz sind. Wir sehen uns außerstände, diese administrativen Einzelaktionen mitzutragen.
Wir nehmen den Bericht zur Kenntnis.

(Beifall bei der FDP und der SPD)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0814512200
Das Wort wird nicht mehr gewünscht? — Ich schließe die Aussprache.
Das Haus hat den Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie gemäß § 60 Abs. 3 der Geschäftsordnung zur Kenntnis genommen.
Ich rufe nunmehr Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom
17. November 1977 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Bau einer Autobahnbrükke über den Rhein zwischen Steinenstadt und Ottmarsheim sowie über den Bau einer Straßenbrücke über den Rhein zwischen Weil am Rhein und Hüningen
— Drucksache 8/2437 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/2686 —
Berichterstatter: Abgeordneter Müller (Nordenham)

b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post-
und Fernmeldewesen (14. Ausschuß)

- Drucksache 8/2642 —
Berichterstatter: Abgeordneter Milz (Erste Beratung 128. Sitzung)

Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.



Vizepräsident Frau Funcke
Das Wort zur Aussprache wird nicht gewünscht? — Das ist ebenfalls nicht der Fall.
Ich rufe in zweiter Beratung die Art. 1, 2, 3, 4, Einleitung und Überschrift auf. Wir verbinden die Abstimmung in zweiter Beratung mit der Schlußabstimmung. Wer dem Vertrag in der Schlußabstimmung seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den gewerblichen Binnenschiffsverkehr
— Drucksache 8/2366 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen (14. Ausschuß)

— Drucksache 8/2640 —
Berichterstatter: Abgeordneter Paterna (Erste Beratung 128. Sitzung)

Wünscht der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? — Das ist ebenfalls nicht der Fall.
Ich rufe in zweiter Beratung die Art. 1, 2, 3, Einleitung und Überschrift auf. Dabei ist zu beachten, daß der Entwurf der Bundesregierung in Art. 1 um eine Nr. 5 ergänzt worden ist, die sich aus dem Bericht des Ausschusses ergibt. Wer dem Gesetz in zweiter Beratung in der geänderten Fassung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen.
— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wer dem Gesetz in dritter Beratung seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben.
— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Auf Grund interfraktioneller Vereinbarung ist Punkt 8 von der Tagesordnung abgesetzt worden.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. Februar 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über den Luftverkehr
— Drucksache 8/2436 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen (14. Ausschuß)

— Drucksache 8/2669 —
Berichterstatter: Abgeordneter Peiter (Erste Beratung 128. Sitzung)

Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? — Das ist ebenfalls nicht der Fall.
Ich rufe in zweiter Beratung die Art. 1, 2, Einleitung und Überschrift auf. Wir verbinden die Abstimmung in zweiter Beratung mit der Schlußabstimmung. Wer dem Abkommen in der Schlußabstimmung seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe die Punkte 10 und 11 der Tagesordnung auf:
10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Viehseuchengesetzes
— Drucksache 8/2646 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend)

Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
11, Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. Juli 1978 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Großherzogtums Luxemburg über verschiedene Fragen der Sozialen Sicherheit
— Drucksache 8/2645 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Das Wort zur Begründung und zur Aussprache wird nicht gewünscht.
Sie ersehen die Überweisungsvorschläge des Altestenrats aus der Tagesordnung. Können wir über die Überweisung gemeinsam abstimmen? — Ich sehe keinen Widerspruch. Wer ist für die vorgeschlagenen Überweisungen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung der Sammelübersicht 43 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 8/2665 —
Das Wort dazu wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Beschlußfassung über die Sammelübersicht. Wer zustimmen möchte, gebe bitte das



Vizepräsident Frau Funcke
Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 13 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Veräußerung von Teilflächen des ehemaligen Standortübungsplatzes Bad Vilbel an die Stadt Frankfurt
— Drucksachen 8/2478, 8/2648 — Berichterstatter: Abgeordneter Grobecker
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Aussprache wird ebenfalls nicht gewünscht.
Wer der Vorlage zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Verbilligte Veräußerung von • bundeseigenen Grundstücken
— Drucksachen 8/2558, 8/2649 — Berichterstatter: Abgeordneter Grobecker
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort ? —Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Aussprache wird ebenfalls nicht gewünscht.
Ich darf bitten, die Unterrichtung zur Kenntnis zu nehmen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der zustimmungsbedürftigen Verordnung der Bundesregierung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs (Nr. 3/79 — Zollkontingent für Walzdraht 1. Halbjahr 1979)
Drucksachen 8/2536, 8/2632 —
Berichterstatter: Abgeordneter Zeitler
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Aussprache wird ebenfalls nicht gewünscht.
Wer der Verordnung zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. - Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 und 17 auf:
16. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für
das Post- und Fernmeldewesen (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Anpassung der Kapazität für den gewerblichen Güterkraftverkehr zwischen den Mitgliedstaaten
— Drucksachen 8/2357, 8/2641 — Berichterstatter: Abgeordneter Dreyer
17. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 816/70 zur Festlegung ergänzender Vorschriften für die gemeinsame Marktorganisation für Wein
— Drucksachen 8/2513 Nr. 3, 8/2670 — Berichterstatterin:
Abgeordnete Frau Dr. Riede (Oeffingen)

Wünscht einer der Herren Berichterstatter das Wort? Das ist nicht der Fall. Von anderer Seite wird das Wort ebenfalls nicht gewünscht. Ist das Haus damit einverstanden, daß wir über beide Vorlagen gemeinsam abstimmen? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wer den Beschlußempfehlungen der Ausschüsse zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 18 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts der Bundesregierung über Möglichkeiten zur Umstellung des § 7 b EStG auf ein anderes Förderungssystem
— Drucksache 8/2554 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß
Das Wort dazu wird nicht gewünscht.
Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrats ersehen Sie aus der Tagesordnung. Wer damit einverstanden ist, gebe bitte das Handzeichen. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts der Bundesregierung über die Auswirkungen des Gesetzes über steuerliche Vergünstigungen bei der Herstellung oder Anschaffung bestimmter Wohngebäude auf das geltende Grunderwerb-



Vizepräsident Frau Funcke
steuerrecht und die Überlegungen, die zur Reform des Rechts der Grunderwerbsteuer angestellt worden sind — Grunderwerbsteuerbericht
— Drucksache 8/2555
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Wird dazu das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrats ersehen Sie aus der Tagesordnung. Sind Sie einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Sitzung. Ich berufe das Haus für morgen, Freitag, den 30. März, um 8 Uhr zu einer Fragestunde ein.
Die Sitzung ist geschlossen..