Rede:
ID0814500400

insert_comment

Metadaten
  • insert_drive_fileAus Protokoll: 8145

  • date_rangeDatum: 29. März 1979

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:45 Uhr

  • fingerprintRedner ID: Nicht erkannt

  • perm_identityRednertyp: Präsident

  • short_textOriginal String: Präsident Carstens: info_outline

  • record_voice_overUnterbrechungen/Zurufe: 1

  • subjectLänge: 11 Wörter
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 11
    1. Ich: 1
    2. eröffne: 1
    3. nunmehr: 1
    4. die: 1
    5. Aussprache.: 1
    6. Das: 1
    7. Wort: 1
    8. hat: 1
    9. der: 1
    10. Abgeordnete: 1
    11. Erhard: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/145 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 145. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 Inhalt: Gedenkworte zum 130. Jahrestag der Verabschiedung der Frankfurter Reichsverfassung 11559 A Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Dr. Schachtschabel und Dr. Gradl . . 11560 C Wahl des Abg. Müller (Nordenham) zum ordentlichen Mitglied und des Abg. Dr. Enders zum stellvertretenden Mitglied im Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt 11560 C Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 11560 C Erweiterung der Tagesordnung 11561 C Absetzung eines Punktes von der Tagesordnung 11673 B Beratung des Antrags der- Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Erste Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines 18. Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Gradl CDU/CSU 11561 D Dr. Emmerlich SPD 11565 C Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 11569 D Kleinert FDP 11575 C Schmidt, Bundeskanzler 11579 A Graf Stauffenberg CDU/CSU 11581 A Dr. Wendig FDP 11585 D Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 11590 B Waltemathe SPD 11593 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP 11596 A Dr. Mikat CDU/CSU 11601 C Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 11607 C Dr. Vogel (München) SPD 11611 C Engelhard FDP 11617 A Dr. Weber (Köln) SPD 11619 C Wissmann CDU/CSU 11622 A Oostergetelo SPD 11624 A Dr. Klein (Göttingen) CDU/CSU 11625 D Frau Matthäus-Maier FDP 11627 C Blumenfeld CDU/CSU 11631 A Hartmann CDU/CSU 11633 B Hansen SPD 11635 B Helmrich CDU/CSU 11638 A Dr. Schwencke (Nienburg) SPD 11639 C Dr. Schwarz- Schilling CDU/CSU 11642 B Dr. Stark (Nürtingen) CDU/CSU 11645 B Sieglerschmidt SPD 11647 A Josten CDU/CSU 11649 C Präsident Carstens 11575 A Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europaabgeordnetengesetz) — Drucksache 8/362 — Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 8/2708 — Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses — Drucksache 8/2707 — Krey CDU/CSU 11651 A Bühling SPD 11652 C Dr. Klepsch CDU/CSU 11654 D Wolfgramm (Göttingen) FDP 11656 D Luster CDU/CSU 11657 D Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr — Drucksache 8/2453 — Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 8/2697 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung — Drucksache 8/2696 — Hölscher FDP 11658 C, 11660 C Burger CDU/CSU 11658 D Kratz SPD 11659 D Dr. Ehrenberg, Bundesminister BMA . . 11661 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP Enquete-Kommission „Zukünftige Energie-Politik" und dem Antrag der Abgeordneten Lenzer, Pfeifer, Dr. Probst, Benz, Engelsberger, Gerstein, Dr. Hubrig, Dr. Riesenhuber, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Laufs, Pfeffermann, Dr. Stavenhagen, Frau Dr. Walz, Dr. Narjes und der Fraktion der CDU/CSU Enquete-Kommission „Zukünftige Energie-Politik" — Drucksachen 8/2353, 8/2374, 8/2628 — Dr. Freiherr Spies von Büllesheim CDU/CSU 11663 B Ueberhorst SPD 11664 D Dr.-Ing. Laermann FDP 11666 A Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie gemäß § 60 Abs. 3 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Lenzer, Dr. Riesenhuber, Dr. Probst, Pfeifer, Benz, Engelsberger, Gerstein, Dr. Hubrig, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Stavenhagen, Frau Dr. Walz, Pfeffermann und der Fraktion der CDU/CSU Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 III Einrichtung einer Prognose- und Bewertungskapazität zur Begutachtung technologischer und forschungspolitischer Entwicklungen beim Deutschen Bundestag — Drucksachen 8/1241, 8/2629 (neu) — Dr. Riesenhuber CDU/CSU 11667 B Stockleben SPD 11669 B Dr.-Ing. Laermann FDP 11670 D Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom 17. November 1977 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Bau einer Autobahnbrücke über den Rhein zwischen Steinenstadt und Ottmarsheim sowie über den Bau einer Straßenbrücke über den Rhein zwischen Weil am Rhein und Hüningen — Drucksache 8/2437 — Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 8/2686 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post-und Fernmeldewesen — Drucksache 8/2642 — 11672 D Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den gewerblichen Binnenschiffsverkehr — Drucksache 8/2366 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen — Drucksache 8/2640 — 11673 A Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. Februar 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über den Luftverkehr — Drucksache 8/2436 — Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen — Drucksache 8/2669 — 11673 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Viehseuchengesetzes — Drucksache 8/2646 — 11673 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. Juli 1978 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Großherzogtums Luxemburg über verschiedene Fragen der Sozialen Sicherheit Drucksache 8/2645 — 11673 D Beratung der Sammelübersicht 43 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen — Drucksache 8/2665 11673 D Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Veräußerung von Teilflächen des ehemaligen Standortübungsplatzes Bad Vilbel an die Stadt Frankfurt — Drucksachen 8/2478, 8/2648 — 11674- A Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Verbilligte Veräußerung von bundeseigenen Grundstücken — Drucksachen 8/2558, 8/2649 — 11674 A Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der zustimmungsbedürftigen Verordnung der Bundesregierung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs (Nr. 3/79 — Zollkontingent für Walzdraht 1. Halbjahr 1979) — Drucksachen 8/2536, 8/2632 — 11674 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Anpassung der Kapazität für den gewerblichen Güterkraftverkehr zwischen den Mitgliedstaaten — Drucksachen 8/2357, 8/2641 — 11674 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung VI Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 816/70 zur Festlegung ergänzender Vorschriften für die gemeinsame Marktorganisation für Wein — Drucksachen 8/2513 Nr. 3, 8/2670 — . . 11674 C Beratung des Berichts der Bundesregierung über Möglichkeiten zur Umstellung des 7 b EStG auf ein anderes Förderungssystem — Drucksache 8/2554 — 11674 D Beratung des Berichts der Bundesregierung über die Auswirkungen des Gesetzes über steudrliche Vergünstigungen bei der Herstellung oder Anschaffung bestimmter Wohngebäude auf das geltende Grunderwerbsteuerrecht und über die Überlegungen, die zur Reform des Rechts der Grunderwerbsteuer angestellt worden sind — Grunderwerbsteuerbericht — Drucksache 8/2555 — 11674 D Nächste Sitzung 11675 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 11677* A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. März 1979 11559 145. Sitzung Bonn, den 29. März 1979 Beginn: 9.01 Uhr
  • folderAnlagen
    Berichtigung 144. Sitzung, Seite 11 405 A: In den Zeilen 10 bis 13 ist statt „ ... an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend —" zu lesen: ,,... an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend —, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — mitberatend —" ; Seite 11 526 * D: In der Zeile 8 von unten ist statt „36" zu lesen: „38". Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Aigner * 30. 3. Dr. Althammer 30.3. Dr. Bangemann* 29. 3. Dr. Becher (Pullach) 30. 3. Frau Berger (Berlin) 30. 3. Blumenfeld ** 30. 3. Dr. Corterier ** 30. 3. Frau Erler 30. 3. Fellermaier * 30. 3. Frau Fischer 30. 3. Friedrich (Würzburg) 29. 3. Genscher 30. 3. Dr. Hornhues 30. 3. Horstmeier 29. 3. Dr. Jahn (Braunschweig) * 30. 3. *) für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments *5) für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung ***) für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. h. c. Kiesinger 30. 3. Klinker 30. 3. Koblitz 30. 3. Lange * 30. 3. Leber 30.3. Lemp * 30.3. Lenzer 30.3. Dr. Müller *** 29.3. Müller (Mülheim) * 30. 3. Müller (Remscheid) 30. 3. Sauer (Salzgitter) 30. 3. Schmidt (München) * 30. 3. Schreiber* 30. 3. Dr. Schröder (Düsseldorf) 30. 3. Dr. Schwencke (Nienburg) *** 29. 3. Dr. Schwörer * 29. 3. Seefeld * 30. 3. Spitzmüller 30. 3. Stahlberg 30. 3. Dr. Starke (Franken) * 30. 3. Frau Tübler 30. 3. Dr. Vohrer *** 29. 3. Frau Dr. Walz 30. 3. Baron von Wrangel 30. 3. Wuwer 30.3. Ziegler 30. 3.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Alfred Emmerlich


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 31. Dezember 1979 verjähren die Mordtaten, die in Ausübung oder unter Ausnutzung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begangen worden sind, sofern die Verjährung nicht unterbrochen worden ist. Nach allen vorliegenden Informationen ist die Unterbrechung der Verjährung gegen alle Mordverdächtigen herbeigeführt worden, die der Person nach bekannt sind. Die großen Massenvernichtungsaktionen des NS-Regimes dürften den Strafverfolgungsbehörden bekannt sein, viele der kleineren Vernichtungsaktionen ebenfalls, wahrscheinlich aber nicht alle. Davon, daß die Strafverfolgungsbehörden alle Mordtaten der NS-Zeit kennen, dürfen wir aber keineswegs ausgehen.
    Schließlich dürfen wir nicht annehmen, daß die Strafverfolgungsbehörden alle diejenigen kennen, die als Täter in den bekannten Mordtaten beteiligt waren.
    Das bedeutet: Wenn wir den Eintritt der Verjährung nicht verhindern, nehmen wir in Kauf, daß NS-Mörder strafrechtlich nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können, daß sie ohne Furcht vor Strafe unter uns leben und ihren Geschäften nachgehen dürfen. Wir müssen damit rechnen, daß sie und andere ihre Taten relativieren, entschuldigen und rechtfertigen. Wir müssen sogar damit rechnen, daß das Leben und die Taten dieser Mörder vermarktet werden.
    Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie immer der Nationalsozialismus zu definieren sein mag — das, was ihn vor allem anderen kennzeichnete, ist, daß er die Wertbezogenheit staatlichen und politischen Handelns beseitigte, daß er als Maßstab für Politik nicht ethische Kategorien ansah, daß er die Orientierung der Politik auf Gerechtigkeit und moralische Prinzipien abgestreift hatte und statt dessen die Politik zu einer bloßen Machtfrage degradierte.
    Von daher war es nur folgerichtig und unvermeidbar, daß der Einzelmensch, seine Würde und seine Lebensbedingungen im Nationalsozialismus zu einem bloßen Mittel der Politik, zu ihrem Objekt wurden. Die Versklavung von Menschen und die Vernichtung von „lebensunwertem" Leben, dessen, was die damaligen Machthaber in ihrer Verblendung und Verrohung als lebensunwertes Leben glaubten ansehen zu dürfen, waren keine Auswüchse und Verwilderungen des Nationalsozialismus. Im Gegenteil, gerade darin kommen sein Wesen und sein



    Dr. Emmerlich
    Charakter zum Ausdruck. Der politische und geistige Terror, die Gestapo, der SD, die sogenannte Euthanasie, die Konzentrationslager, die Einsatzgruppen und die Vernichtungslager sind keine Randerscheinungen des Nazisystems.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Sie sind das, was das Nazisystem schlechthin charakterisiert. Der Nationalsozialismus lief also auf die Beseitigung der zivilisatorischen und kulturellen Bedingungen hinaus, die das Zusammenleben der Menschen erst ermöglichen. Die abgrundtiefe Menschenverachtung und der sadistische Zynismus sind ein Rückfall in die Barbarei und infolgedessen ein verbrecherischer Anschlag auf den Menschen als Individuum und auf die Menschheit.
    Deshalb — und nicht nur weil er sich im Zweiten Weltkrieg mit militärischer Gewalt über große Teile Europas ausbreiten konnte — geht der Nationalsozialismus nicht allein das deutsche Volk an, sondern alle Menschen und alle Völker. Der Nationalsozialismus ist eine Gefahr für die gesamte Menschheit. Der Kampf gegen den Nationalsozialismus und ihm gleichartige Gewaltsysteme ist daher eine Sache aller Menschen und aller Völker.
    Wir Deutsche tragen in diesem Kampf eine besondere Verantwortung, weil der Nationalsozialismus in unserem Lande entstanden und an die Macht gekommen ist, sich der Machtmittel des deutschen Staates bedient und seine Verbrechen gegen die Menschheit in unserem Namen begangen hat. Unsere Verantwortung ist auch deshalb eine besondere, weil der Nationalsozialismus jedenfalls in den Anfangsjahren seiner Herrschaft Zustimmung bei großen Teilen unseres Volkes gefunden hatte, wenngleich diese Zustimmung zum größten Teil darauf beruhte, daß sein verbrecherischer Charakter von den meisten verdrängt oder verkannt wurde.
    Das Bekenntnis zu dieser unserer besonderen Verantwortung, das keineswegs eine Bejahung der These von der Kollektivschuld war, sondern wesentliche Voraussetzung dafür, daß sie abgewehrt und widerlegt werden konnte, und die Übernahme der sich aus dieser besonderen Verantwortung ergebenden Verpflichtungen, das war es, was nach dem Ende des Nationalsozialismus Politik für Deutschland durch Deutsche wieder ermöglicht hat. Das Ja zu unserer Verantwortung war und ist die moralische und die politische Voraussetzung für deutsche Politik.
    Von dieser Einsicht hat sich das deutsche Volk in seiner übergroßen Mehrheit in der Nachkriegszeit leiten lassen. Diese Einsicht hat die politisch Verantwortlichen im Parlamentarischen Rat, im Deutschen Bundestag, in den Parlamenten der Länder und Kommunen getragen. Diese Einsicht hat das Handeln aller deutschen Bundesregierungen und aller Landesregierungen bis heute bestimmt.
    Neben diesen allgemeinen Erwägungen, die für unsere Beratungen und unsere Entscheidung der Hintergrund, und die Grundlage sein müssen, halte ich bei dieser erneuten Verjährungsdebatte vor dem Deutschen Bundestag und damit vor der Welt drei Feststellungen für geboten.
    Erstens. Das deutsche Volk hat sich vom Nationalsozialismus entschieden abgewandt. Es verabscheut ihn und seine Verbrechen in gleicher Weise wie andere Völker. Diese Feststellung wird dadurch nicht aufgehoben oder relativiert, daß es — wie in manchem anderen Land — auch bei uns einige neofaschistische Kleinstgruppen gibt. Wir unterschätzen diese Gruppierungen keineswegs, zumal sich in ihnen in der letzten Zeit eine zunehmende Bereitschaft zur Militanz und Gewalttätigkeit breitmacht. Wir sind entschlossen, mit allen uns zur Verfügung stehenden politischen und auch rechtlichen Mitteln zu verhindern, daß diese neonazistischen Sektierer Einfluß in der Bundesrepublik gewinnen. Wir wissen uns darin mit allen demokratischen Parteien einig, wir wissen auch, daß dabei die Bürger unseres Landes mit überwältigender Mehrheit hinter uns stehen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Zweitens. Das deutsche Volk hat aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus die richtigen Folgerungen gezogen. Es hat sich, soweit dazu die Möglichkeit bestand,. für Freiheit und Demokratie entschieden. Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland manifestiert sich diese Entscheidung für Freiheit und Demokratie. Der erste Artikel des Grundgesetzes lautet in seinen ersten beiden Absätzen:
    Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
    Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
    Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und der Menschenwürde, die Menschenrechte und die Unverbrüchlichkeit des 'Rechts sind 'die tragenden Grundlagen unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Diese freiheitliche und demokratische Ordnung ist heute in unserem Land, in unserem Volk fest verankert und zum unbestrittenen Fundament unseres Gemeinwesens geworden.
    Drittens. Abkehr vom Nationalsozialismus hat für uns Deutsche in der Bundesrepublik immer bedeutet, alles zu tun, damit ein menschenfeindlicher Unrechts- und Terrorstaat wie der des Nationalsozialismus sich nicht wiederholen kann, und hat zugleich auch — im Rahmen des Menschenmöglichen — Wiedergutmachung des Unrechts bedeutet, das der Nationalsozialismus angerichtet hat.
    Herr Kollege Mertes und andere haben in der Diskussion über die Verjährung darauf hingewiesen, die Entscheidung des Deutschen Bundestages im Jahre 1979 müsse in der Kontinuität der Rechtspolitik unseres Landes stehen. Dabei ist insbesondere auf die Beschlüsse der Jahre 1965 und 1969 Bezug genommen worden. Ich nehme diese Mahnung gern auf. Nach meiner Auffassung muß die Entscheidung des Jahres 1979 nicht nur die Kontinuität der Rechtspolitik, sondern die Kontinuität der deut-



    Dr. Emmerlich
    schen Nachkriegspolitik insgesamt wahren und sich in sie einfügen.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das läßt sich nicht trennen, Herr Kollege!)

    Das heißt, wir müssen eine Politik fortsetzen, deren Fundamente die Abkehr vom Nationalsozialismus und die Wiedergutmachung, die Begründung einer freiheitlich-demokratischen Ordnung und der Respekt vor den unveräußerlichen Menschenrechten und vor der Unverbrüchlichkeit des Rechts gewesen sind und bleiben müssen.
    Diese Politik der Jahre nach 1945 ware unglaubwürdig gewesen, wenn sie über die Verbrechen des Nationalsozialismus hinweggesehen hätte, wenn sie sie ignoriert oder verdrängt hätte, wenn nicht erkannt worden wäre, daß die Ahndung dieser Verbrechen eine der Voraussetzungen und Bedingungen für deutsche Politik nach Hitler gewesen ist.
    Diese Einsicht war es, die die SPD-Fraktion schon 1960 und 1965 sowie 1969 veranlaßt hat, der damals jeweils drohenden Verjährung schwerster Verbrechen aus der NS-Zeit entgegenzuwirken. Von dieser Einsicht, sehr geehrter Herr Kollege Mertes, hat sich der Deutsche Bundestag 1965 und 1969 leiten lassen, als er dafür sorgte, daß es nicht zu einer Verjährung der Mordtaten der NS-Zeit gekommen ist. Diese Einsicht müssen wir zur Grundlage der Entscheidung machen, die wir in diesem Jahr zu treffen haben.
    Wir müssen dabei auch an den präjudizierenden Charakter unserer Entscheidung denken. Mörder dürfen nicht darauf spekulieren können, daß sie nach Ablauf einer Verjährungszeit strafrechtlich nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können. Das gilt insbesondere für solche Mordtaten, die in Ausübung oder unter Ausnutzung staatlicher Gewalt- und Terrorherrschaft begangen werden. Auch dadurch leisten wir einen, wie ich finde, unverzichtbaren Beitrag dazu, Barrieren zu errichten, damit sich eine. Gewalt- und Terrorherrschaft wie die des Nationalsozialismus nicht wiederholt.
    Wenn ich, meine sehr geehrten Damen und Herren, die bisherige Diskussion richtig verstanden habe, werden die Bedeutung und das Gewicht dieser Argumente von niemandem im Deutschen Bundestag verkannt. Das war auch 1960, 1965 und 1969 schon so.
    Daß viele Abgeordnete damals gleichwohl einer Änderung der Verjährungsvorschriften nicht zuzustimmen vermochten, lag im wesentlichen daran, daß sie glaubten, einer Änderung der Verjährungsfristen für bereits begangene Straftaten stünden verfassungsrechtliche Bedenken, insbesondere das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 des Grundgesetzes entgegen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : 1969 war das nicht mehr so!)

    Nachdem das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, daß die Verlängerung oder Aufhebung noch nicht abgelaufener Verjährungsfristen bei Verbrechen, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, nicht gegen das Rückwirkungsverbot und auch nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip und den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, sollten diese Argumente für unsere Entscheidung nicht länger bestimmend sein.
    Bleibt der Gesichtspunkt der Beweisnot. Diese, wer wollte das bestreiten, ist in sehr vielen Fällen gegeben — übrigens nicht erst seit gestern und heute, sondern seit Beginn der sogenannten NS-Prozesse und auch nicht nur in diesen, sondern in sehr vielen Strafverfahren. Richtig ist auch, daß die Beweisschwierigkeiten mit dem Zeitablauf in der Regel zunehmen und infolgedessen der Anteil der Fälle, in denen es mangels Beweises zu keiner Verurteilung kommt, kontinuierlich ansteigt. Das Argument der Beweisnot trägt aber schon deshalb nicht, weil zur Zeit noch gegen rund 3 000 Personen Strafverfahren laufen und über den 31. Dezember 1979 hinaus durchgeführt werden, weil in diesen Verfahren die Verjährung unterbrochen worden ist. Die Zahl der Strafverfahren, die erst durch eine Aufhebung der Verjährung für Mord eingeleitet und durchgeführt werden könnten, wird dagegen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ganz erheblich geringer sein.
    Konsequent zu Ende gedacht müßte das Argument von der Beweisnot auf die Forderung nach einer Amnestierung der noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten hinauslaufen. Eine solche Forderung ist im Deutschen Bundestag bisher nicht erhoben worden — zu Recht; denn eine solche Amnestie käme einem Generalpardon sehr nahe. Sie würde jedenfalls zur Trägerrakete für die uns allen sattsam bekannten Versuche zur Leugnung, Relativierung, Entschuldigung und Rechtfertigung der Verbrechen des Nationalsozialismus werden.
    Herr Carl-Friedrich von Weizsäcker hat im Rahmen einer Veranstaltung zur Woche der Brüderlichkeit unter Bezug auf die Verjährungsdebatte darauf hingewiesen, daß Gerechtigkeit ohne Gnade keinen Bestand habe. Gewiß ist das richtig und gewiß verdient diese alte Rechtsweisheit generell Beachtung. Gnade kann vor allem bei Mord aber erst dann in Betracht kommen, wenn der Gerechtigkeit wenigstens dadurch Genüge getan ist, daß der Mörder vor Gericht gestellt und seine Tat abgeurteilt worden ist.

    (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zu den Morden der NS-Zeit: Bei ihnen handelt es sich keineswegs um Kriegsverbrechen, um solche strafbaren Handlungen also, die im Kampf zur Niederwerfung des Gegners und zur Erringung des Sieges begangen worden sind, im Gefolge von Kriegshandlungen, aus Empörung oder aus Rache z. B. für Unterdrückung und Drangsalierung. Die Morde im Zusammenhang mit dem, was Hitler zynisch als
    „Röhm-Putsch" zu bezeichnen pflegte — Herr Kollege Gradl hat dankenswerterweise insbesondere .darauf hingewiesen; ich erinnere nochmals an die Ermordung des Generals Schleicher und seiner Frau, des Generals von Bredow, des Führers der Katholischen. Aktion Ministerialdirektor Klausener, und



    Dr. Emmerlich
    des früheren bayerischen Ministerpräsidenten von Kahr —, die Morde der sogenannten Euthanasie, die Verbrechen und die Morde in den Konzentrationslagern, der Massenmord in den Vernichtungslagern, die Morde der Einsatzgruppen insbesondere in Polen und in der UdSSR — das alles hat mit Kriegsverbrechen nicht das geringste zu tun.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Theodor Heuss hat gesagt, diejenigen, die im Zusammenhang mit den Verbrechen des NS-Staates glauben, sich damit begnügen zu können, auf andere zu zeigen, seien die moralisch Anspruchslosen. Ich bin sicher — Ihr Beifall zu den Ausführungen, die Herr Gradl zu diesem Punkt gemacht hat, beweist das —, daß im Deutschen Bundestag niemand ist, der sich an die Seite dieser Aufrechner stellt.
    Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Problem der Morde aus der NS-Zeit wirft zugleich auch die Frage der Verjährung von Mord überhaupt auf. Das ist auch 1965 und 1969 gesehen worden und hat dazu geführt, daß die SPD-Fraktion und Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion schon 1965 die generelle Aufhebung der Verjährung von Mord vorgeschlagen haben. Die Abgeordneten, die den Ihnen vorliegenden Entwurf eines 18. Strafrechtsänderungsgesetzes unterzeichnet und eingebracht haben, sind nach neuerlicher sorgfältiger Abwägung des Für und Wider zu dem gleichen Ergebnis gelangt. Das Leben ist das höchste Gut des Menschen. Nach unseren jüngsten geschichtlichen Erfahrungen, auch nach den Erfahrungen unserer Tage ist das menschliche Leben zunehmend von der vorsätzlichen Vernichtung durch Menschen bedroht. Es ist daher geboten, den strafrechtlichen Schutz des Lebens dadurch zu verstärken, daß Mord nicht verjährt. Mord ist nicht nur die vorsätzliche Vernichtung menschlichen Lebens; hinzu treten muß auch, daß die Tötung entweder aus besonders niedrigen Beweggründen oder auf besonders verabscheuungswürdige Art und Weise geschieht. Der außerordentlichen Schwere des Unrechtsgehalts und der Schuld bei einem Mord entspricht die außerordentliche Strafandrohung: lebenslange Freiheitsstrafe. Dem entspricht es auch, daß die Vollstreckung einer solchen Strafe nicht verjährt. Zu der Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe und zu der Unverjährbarkeit der Strafvollstreckung bei Mord steht im Widerspruch, daß die Strafverfolgung von Mordtaten nach geltendem Recht nur zeitlich begrenzt möglich ist, nämlich 30 Jahre lang. Dieser Widerspruch wird dadurch verschärft, daß bei Mordverdächtigen, die der Person nach bekannt sind, die Strafverfolgungsverjährung unterbrochen wird — mit der Folge, daß die Strafverfolgung faktisch so lange durchgeführt werden kann, wie der Verdächtige lebt. Im Ergebnis läuft dies darauf hinaus, daß derjenige, der seine Tat besonders gut zu verschleiern versteht, dafür mit der Strafverfolgungsverjährung belohnt wird, während gegen andere die Strafverfolgung bis an das Ende ihrer Tage durchgeführt wird.
    Mit der Aufhebung der Verjährung für Mord würde — um einem noch immer weit verbreiteten Irrtum entgegenzutreten — das Rechtsinstitut der Verjährung insgesamt nicht in Frage gestellt. Die strafrechtliche Verjährung an sich ist aus mehreren Gründen unverzichtbar, z. B. weil auch bei strafbaren Handlungen im allgemeinen ein Ausgleich für den gestörten Rechtsfrieden dadurch eintreten kann, daß die Straftat lange Zeit zurückliegt, weil die Strafe an Sinn verliert, je länger die Tat zurückliegt, und weil der staatliche Strafanspruch überdehnt werden würde, wenn er angesichts des das Strafrecht beherrschenden Legalitätsprinzips von den Strafverfolgungsbehörden zeitlich unbegrenzt durchgesetzt werden soll. Ist somit das Rechtsinstitut der Verjährung für das Strafrecht unverzichtbar, so folgt daraus nicht, daß jede Straftat verjähren muß. Die strafrechtlichen Verjährungsfristen laufen je nach Schwere der Tat von drei bis zu dreißig Jahren. Schon aus dieser Staffelung der Verjährungsfristen folgt, daß es zulässig ist, die Verjährung von Straftaten ganz außerordentlichen Unrechts- und Schuldgehalts gänzlich auszuschließen. Diese Notwendigkeit des Ausschlusses der Verjährung ist bisher bei Verbrechen nach. § 220 a StGB bejaht worden, der bekanntlich nicht nur die Tötung von Mitgliedern einer national, rassisch, religiös oder durch ihr Volkstum bestimmten Gruppe, sondern auch andere gegen solche Gruppen gerichteten Verhaltensweisen umfaßt, z. B. die Geburtenverhinderung.
    Es ist richtig, daß die Verjährung auch den Sinn hat zu verhindern, daß Bürger lange Zeit nach einer Straftat mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren überzogen werden können. Das hat allerdings Fehlurteile zu Lasten des Beschuldigten infolge des Grundsatzes in dubio pro reo nicht zur Folge. Damit möchte ich einem weiteren Irrtum entgegenwirken.
    Bei Morden kommt neben dem zunächst genannten relevanten Gesichtspunkt dem für das Strafrecht entscheidenden anderen Ansatz, nämlich der Notwendigkeit der Verfolgung strafbarer Handlungen, ausschlaggebende Bedeutung zu. Rechtsfrieden und Rechtssicherheit nehmen in schwer erträglicher Weise Schaden, wenn Mörder allein wegen der seit ihrer Tat verstrichenen Zeit nicht mehr vor Gericht gestellt werden können und straflos bleiben.
    Die Annahme, für die Verjährung von Mord gebe es in unserem Land eine gesicherte Rechtstradition, erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht stichhaltig. Bis zum 19. Jahrhundert verjährte Mord nicht. Erst das Deutsche Reichsstrafgesetzbuch von 1870 hat die Strafverfolgungsverjährung für Mord generell eingeführt. Dabei muß aber beachtet werden, daß der Mordtatbestand des Reichsstrafgesetzbuchs nicht nur die Tötungsdelikte umfaßte, die unter den heutigen, erst seit 1941 existierenden Mordtatbestand fallen, sondern auch solche, die nach heutigem Recht als Totschlag zu qualifizieren sind.
    Zu Unrecht wird eingewandt, die Unverjährbarkeit von Mord stehe im Widerspruch zu den auf Resozialisierung des Täters ausgerichteten Zieles des modernen Strafrechts. Die Unterzeichner des



    Dr. Emmerlich
    Ihnen vorliegenden Gesetzentwurfs bekennen sich nachdrücklich zum Resozialisierungsstrafrecht.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Befürworter des Resozialisierungsstrafrechts sind jedoch nie dem Trugschluß verfallen, daß die Spezialprävention, die Sozialisation und die Resozialisierung der ausschließliche Strafzweck sind. Das Strafrecht hat selbstverständlich auch eine generalpräventive Funktion. Darüber hinaus stellen die Verurteilung und die Strafvollstreckung einen unverzichtbaren Ausgleich für den in einer Straftat liegenden schweren Rechtsbruch und für die infolgedessen eingetretene schwere Störung des Rechtsfriedens dar. Selbst wenn bei Mördern die Notwendigkeit oder die Möglichkeit einer Resozialisierung nicht bestehen sollte, so darf das keineswegs dazu führen, daß der Mörder in einem solchen Fall nicht bestraft wird.
    Hier und da wird vorgebracht, zwischen der Aufhebung der Verjährbarkeit für Mord und der Absicht, auch bei lebenslangen Freiheitsstrafen nach langjähriger Strafverbüßung die Strafaussetzung zur Bewährung zuzulassen, bestehe ein Widerspruch.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : In der Tat!)

    Das trifft nicht zu.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Doch!)

    Bei der Mordverjährung handelt es sich um die Frage, ob ein Mörder, wenn die Tat sehr lange zurückliegt, noch vor Gericht gestellt und bestraft werden kann. Bei lebenslangen Freiheitsstrafen soll nach Verurteilung und nach langjähriger Strafverbüßung nicht länger im Gnadenwege, sondern durch unabhängige Gerichte geprüft werden, ob eine Strafaussetzung mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsentwicklung des Verurteilten verantwortet werden kann. Die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung bei lebenslangen Freiheitsstrafen ist eine dem Resozialisierungsgedanken entsprechende Ergänzung unseres Strafrechts und wird die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht voll befriedigende Gnadenpraxis weitgehend ablösen.
    Es trifft zu, daß die Aufhebung der Verjährung für Mord wie .1965 und 1969 im Zusammenhang mit der Diskussion über die Verjährung der Morde der NS-Zeit vorgeschlagen wird. Das ist keineswegs ein Umstand, der die Initiatoren der Gesetzesvorlage oder ihr Vorhaben ins Zwielicht zu bringen vermöchte. In der Politik ist es oft so, daß erst ein besonderer Anlaß die Notwendigkeit einer allgemeinen Maßnahme ins Bewußtsein hebt und erst dadurch die Chance eröffnet wird, sie zu realisieren. Die Behauptung, die generelle Aufhebung der Verjährung für Mord werde von uns nur angestrebt, um die Nichtverjährung der sogenannten NS-Morde zu erreichen, ist eine ungerechtfertigte und, wie ich meine, nicht faire Unterstellung.
    Die Beratung und die Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Verjährung werden vom deutschen Volk, von den Völkern, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben, von den überlebenden Opfern des Naziterrors, ihren Angehörigen und
    ihren Freunden und von weiten Teilen der Weltöffentlichkeit mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Wir alle sind uns dessen bewußt. Wir wissen, daß die Entscheidung, vor der wir stehen, schwer und von erheblicher Tragweite ist. Alle drei Fraktionen des Deutschen Bundestages stimmen darin überein, daß es sich um eine Entscheidung handelt, bei der das Gewissen eines jeden einzelnen Abgeordneten den Ausschlag geben muß. So sehr ich um Unterstützung unserer Gesetzesinitiative werbe und so sehr ich für sie eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag erhoffe, so sehr liegt mir daran, schon heute zu erklären, daß jede vom Gewissen getragene Entscheidung zu respektieren ist.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Um etwaigen Mißverständnissen deutlich entgegenzutreten, erkläre ich auch und wiederholend: Bei unserer Entscheidung geht es nicht um ein Ja oder ein Nein zum Nationalsozialismus, geht es nicht darum, ob seine Verbrechen zu verurteilen sind oder nicht. In der unzweideutigen Ablehnung des Nationalsozialismus und im Abscheu vor seinen Verbrechen stimmte der Deutsche Bundestag stets überein. Darin ist er sich auch heute einig.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Lassen Sie mich, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen mit den Sätzen schließen, mit denen Adolf Arndt am 10. März 1965 seine Rede beendet hat. Ich zitiere:
    Was haben wir zu tun? Wir haben nicht nur daran zu denken, daß der Gerechtigkeit wegen, auf die wir uns berufen, die überführten Mörder abgeurteilt werden sollen, sondern wir haben auch den Opfern Recht zuteil werden zu lassen, schon allein durch den richterlichen Ausspruch, daß das hier ein Mord war. Schon dieser Ausspruch ist ein Tropfen, ein winziger Tropfen Gerechtigkeit, der doch zu erwarten ist zur Ehre aller derer, die in unbekannten Massengräbern draußen in 'der Welt liegen. Nicht daß wir Jüngstes Gericht spielen wollen; das steht uns nicht zu. Nicht daß es hier eine iustitia triumphans gäbe! Es geht darum, eine sehr schwere ... Last und Bürde auf uns zu nehmen. Es geht darum, daß wir dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, nicht den Rükken kehren, sondern daß wir uns als das zusammenfinden, was wir sein sollen: kleine, demütige Kärrner, Kärrner der Gerechtigkeit, nicht mehr.

    (Beifall)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich eröffne nunmehr die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Erhard (Bad Schwalbach).

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Benno Erhard


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorsätzliche Tötung und Mord sind beides schreckliche Verbrechen. Jeder Mord verlangt nach Sühne und Vergeltung. Der Staat übt durch die Strafe Vergeltung. Voraussetzung dafür aber ist .der Wahrspruch, .das Urteil. Das Datum 31. Dezember 1979



    Erhard (Bad Schwalbach)

    gibt ins für heute einen Hinweis, worum es heute wirklich geht.
    Als die Begleiter von Hanns Martin Schleyer, von Herrn Buback und auch Herr Buback auf offener Straße hingemordet wurden, hat niemand verlangt, die Verfolgungsverjährung für Mord zu ändern. Unsere nationalsozialistische Vergangenheit ist der eigentliche Grund für den Vorschlag, die Verjährungsvorschriften aufzuheben. Das wurde auch in den beiden Vorreden vor mir sehr deutlich.

    (Wehner [SPD] : Eine schlimme Unterstellung!)

    Wenn es das Europäische Parlament in seiner Entschließung zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord für unerträglich hält, daß Kriegsverbrechen auf Grund der Verjährung ohne Bestrafung bleiben, dann wird hier etwas zum Thema gemacht, was heute nicht Thema ist; denn sogenannte Kriegsverbrechen gab es in mehr oder minder schwerer Form auf allen Seiten und nicht nur bis 045 und nicht nur auf deutscher Seite, aber auch sicher an Deutschen.
    Herr Emmerlich meint, Mord, die NS-Tat darf nie verjähren. Wenn ich ihn richtig verstehe, so glaubt er, dies sei auch ein Gebot der Gerechtigkeit. Wir sind uns einig — auch das hat er gesagt — in der Verurteilung aller Mordtaten und selbstverständlich der 'Greueltaten, die in unserem Lande im Namen des Volkes, ja, im Namen des Führers begangen wurden. Auf diesem Hintergrund in dieser breiten Übereinstimmung der Meinungen ist der Streitpunkt das Wort und der Begriff und die Institution Verjährung.
    Verjährung der Strafverfolgung ist gemeint. Das hat nichts zu tun mit Vergessen, mit Strich-unter-dieVergangenheit-Ziehen, Verzeihen, Amnestie oder Gnade. Verfolgungsverjährung kennen wir in der Rechtsgeschichte seit dem römischen Kaiserreich. Verfolgungsverjährung im Strafrecht besteht mit unterschiedlichen Fristen je nach der Schwere der Tat. Es ist die Frage gestellt, ob es für Mord beim geltenden Recht bleibt, einer Verjährungsfrist von 30 Jahren. Für nationalsozialistische Verbrechen sind das mindestens 35 Jahre.
    Meine Damen und Herren, bisher ist der Deutsche Bundestag jedenfalls der Meinung gewesen, er müsse generell auch für Mord bei der Strafverfolgungsverjährung bleiben. 1953 wurde das in diesem Punkt andere nationalsozialistische Recht, das dem „Führer" nach Belieben die Möglichkeit ließ, alle schweren Verbrechen unbegrenzt oder überhaupt nicht zu verfolgen, aufgehoben und eine Mordverjährung — ich wiederhole: Mordverjährung — von 20 Jahren als feste Grenze bestätigt; 1953 durch den Bundestag! 1960 wurde ein Antrag, schwere NS-
    Verbrechen unterhalb der Mordschwelle — die, von denen Herr Gradl sprach — mit einer längeren Verjährungsfrist auszustatten, abgelehnt. 1965 verlängerte der Deutsche Bundestag die Verjährungsfrist praktisch um fünf Jahre für Mord und Teilnahme an Mordhandlungen. 1969 war die große Mehrheit des Bundestages für eine Verlängerung der Frist auf 30 Jahre.
    Die vorsätzliche Tötung eines Menschen – wir nennen es Totschlag — unterliegt der 20jährigen Verfolgungsverjährung. Das zerstörte Leben des Opfers ist das gleiche hohe Rechtsgut. Das neue, jetzt geltende Strafgesetzbuch trat erst am 1. Januar 1975 in Kraft. Es enthält die gleichen Verjährungsfristen.
    An dem bewährten Institut der Verjährung hat der Deutsche Bundestag nunmehr über 2 1/2 Jahrzehnte festgehalten. Denn die Verfolgungsverjährung dient der Strafrechtspflege, meine Damen und Herren, bewahrt die Strafrechtspflege vor Leerlauf, vor Willkür und Fehlurteilen in beiden Richtungen. Beständigkeit der Rechtssetzung aber ist ein wichtiges Element der Rechtssicherheit.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Schon vor 150 Jahren schrieb Unterholzner in seinem zweibändigen Werk über die gesamte Verjährungslehre aus den gemeinen in Deutschland geltenden Rechten:
    Es liegt dem Staat daran, daß die peinlichen Gerichte nicht mit fruchtlosen Untersuchungen beschäftigt werden. Auch ist es dem Ansehen der peinlichen Rechtspflege nicht günstig, wenn allzuoft die Untersuchungen mit dem Geständnis endigen, daß man über die Wahrheit nicht ins klare haben kommen können.
    Deshalb Verfolgungsverjährung auch für Mord.
    Herr Emmerlich will mehr Gerechtigkeit, ich auch. Mehr Wahrheit aber gehört zu mehr Gerechtigkeit.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Stimmt es denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß allzuoft Strafverfahren mit dem Geständnis enden, man habe über die Wahrheit nicht ins klare kommen können? Oder ist das nur eine Prognose von damals gewesen? Was lehrt uns denn unsere Erfahrung heute, nicht 1965, nicht 1960, nicht 1969, sondern heute im Jahre 1979? Schauen wir hin! Entgegen einer bemerkenswerten Legendenbildung haben die deutschen Strafgerichte NS- und Mordtaten schon ab 20. November 1945 verfolgt. Bis 1950 wurden von deutschen Strafgerichten gegen 16 120 Verdächtige Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bis Ende 1950 waren bereits 5228 Personen als NS-
    Täter verurteilt.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Hört! Hört!)

    In der gleichen Zeit haben auf deutschem Boden im Gebiet der Bundesrepublik die amerikanischen, britischen und französischen Militärgerichte 5133 Personen abgeurteilt, davon 668 zum Tode. Nur wenige der Angeklagten waren freigesprochen worden.
    Übrigens sind Verurteilte vor deutschen Gerichten vor Inkrafttreten des Grundgesetzes zum Teil auch zum Tode verurteilt worden, und an 12 ist die Todesstrafe vollstreckt worden.
    In Frankreich, Belgien, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen und Polen wurden ca. 7960 Deutsche wegen NS- bzw. Kriegsverbrechen abgeurteilt. Auch hier gab es nur wenige Freisprüche.



    Erhard (Bad Schwalbach)

    Die Verfahren in der Sowjetunion, in Jugoslawien und der Tschechoslowakei muß ich aus diesen Betrachtungen auslassen. Aber dort wurden auch Deutsche, möglicherweise NS-Täter, verurteilt oder hingerichtet.
    In der Folgezeit nahmen die Verurteilungen stetig ab. Ab 1965 bis zum 31. Dezember 1977 wurden von deutschen Gerichten noch 317 Personen verurteilt — ich spreche nur von den NS-Tätern —, davon 77 zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Das bedeutet für den Kundigen: also als Mörder.
    Im Jahre 1977 endeten die Verfahren mit sieben Verurteilungen, aber bei 2709 Verdächtigen endeten die Verfahren ohne Bestrafung. In der Zeit von 1965 bis Ende 1977 sind Verfahren gegen 33 051 Personen ohne Bestrafung abgeschlossen worden. Die Verurteilungsquote liegt also unter 1 %.
    Die Untersuchungen ab 1965 endeten fast durchgängig mit dem Geständnis, daß man über die Wahrheit nicht hat ins klare kommen können. Doch Herr Kollege Emmerlich meint, mehr Gerechtigkeit sei, wenn man das Ganze besehe, auch bei immer weniger Wahrheitsfindung möglich. Ich meine, es sei besser, e i n wahrscheinlich Schuldiger wird nicht mehr verfolgt, als 50 wahrscheinlich Schuldigen wird durch Einstellung des Verfahrens oder Freispruch ein amtlicher Freibrief erteilt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Leider wird die Auffassung verbreitet, als ob die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern begangenen Verbrechen nicht strafrechtlich verfolgt und die Täter nicht zur Verantwortung gezogen worden wären. Es scheint vergessen, daß gegen sogenannte Hauptverantwortliche alliierte Gerichte vorgegangen sind. Es scheint vergessen, daß die amerikanischen Gerichte das erreichbare Personal der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald, Mauthausen, Mittelbau-Dora, Flossenbürg abgeurteilt haben. Es scheint vergessen, daß die britischen Militärgerichte gegen die Angehörigen der Konzentrationslager Auschwitz, Bergen-Belsen, Natzweiler und daß die französischen Militärgerichte gegen das Personal der Lager Neue Bremme und Natzweiler mit allen Nebenlagern Strafverfahren durchgeführt haben. Es scheint vergessen, daß die umfangreichen Ermittlungen dazu führten, daß die von alliierten Gerichten nicht erfaßten Personen vor deutsche Gerichte gestellt wurden und weiterhin vor deutsche Gerichte gestellt werden. Das wird auch nach dem 1. Januar 1980 so sein.
    Hat der Film „Holocaust" Neues gebracht? Sind durch diesen Film neue Taten bekanntgeworden, die der Verfolgung bisher vorenthalten waren? Die Antwort kann schlicht lauten: Nein. Das grausige Geschehen in Auschwitz, die fast über ganz Europa organisierte, kontinuierliche Erfassung und Verhaftung jüdischer Menschen, Zigeuner, ihre zielstrebige, fabrikmäßige Vernichtung ist in Urteilen deutscher Gerichte in allen Einzelheiten beschrieben. Es ist seit langem bekannt, wie diese entsetzliche, auf Rassenwahn und blindem Haß beruhende Vernichtungsmaschinerie funktionierte. In echt deutscher Gründlichkeit wurden die einzelnen Menschen wie Sachen
    registriert: Jeder, der in die Gaskammern ging, wurde als Ziffer festgehalten. Darüber wurde buchhalterisch exakt berichtet unter dem Decknamen „gesondert untergebracht" oder „Sonderbehandlung".
    Die Prozesse vor deutschen Gerichten haben die verschiedenen Vernichtungsmethoden offenbart. Alle nennenswerten Tatkomplexe dieser furchtbaren Zeit des verbrecherischen Geschehens sind erforscht. Soweit Täter bekanntgeworden sind, werden sie auch nach dem 1. Januar 1980 strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, wenn es beim geltenden Recht bleibt, wenn also vom Bundestag keine Aufhebung der Verjährung beschlossen wird.
    Aber wie soll ein Gericht nach so langer Zeit den Täter überführen? Der Leiter der zentralen Stelle in Ludwigsburg schrieb kürzlich: „Die Chancen, einen erst nach dem 31. 12. 1979 entdeckten NS-Täter auf die Anklagebank zu bringen, sind jedoch nur äußerst gering", geschweige denn — füge ich hinzu — ihn zu verurteilen.
    Herr Emmerlich will mehr Gerechtigkeit. Ist das möglich mit dem Geständnis, man habe über die Wahrheit nicht ins klare kommen können? Das Ansehen der deutschen Justiz nimmt Schaden, meine Damen und Herren, „deutsche Justiz" ist ein Teil unseres Staates, dahinter steht unser Staat. Die Kritik an den deutschen Gerichten, an der deutschen Justiz, an unserem Staat nimmt zu und ist unüberhörbar. Lassen Sie mich einige Beispiele anführen.
    Herr Friedmann, der Leiter des Dokumentenzentrums in Haifa, erklärte, die Prozesse bei uns in der Bundesrepublik dürften höchstens drei Monate dauern. Die bundesdeutsche Justiz habe die Naziverbrecher wiel zu spät vor Gericht gestellt. Das ist der doppelte Vorwurf.
    Das Internationale Buchenwaldkomitee schrieb, man solle der Komödie der Freisprüche oder höhnenden Verurteilungen ein Ende bereiten. Diese Verfahren seien eine Beschimpfung der Opfer und Hinterbliebenen. Meine Damen und Herren, ich wiederhole: die Gerichtsverfahren seien eine Beschimpfung der Opfer und Hinterbliebenen.
    Auch Herr Rückerl stellte fest,' daß die noch durchgeführten Hauptverhandlungen mehr und mehr auf das . Unverständnis der Zeugen und Angehörigen, d. h. auch der Opfer, stießen.
    Die kommunistische VVN meinte im Januar dieses Jahres, die Männer aus der Rassenschandejustiz oder der SS-Polizei seien auch heute noch als Richter tätig. Es wird der Eindruck vermittelt, deshalb würden die Konzentrationslagerprozesse über Jahre hingeschleppt. Die ganze Welt empöre sich darüber.
    Ein anderer Verfolgtenverband unterstellt der deutschen Justiz die Absicht, die Strafverfahren so schleppend und ohne Verurteilung zu betreiben, um die „biologische Amnestie" zu erreichen.
    Es bewahrheitet sich, meine Damen und Herren, danz deutlich, daß es dem Ansehen unserer Justizorgane und unseres Staates schadet, wenn die Verfahren allzuoft mit dem Geständnis enden, daß man über die Wahrheit nicht habe ins klare kommen können. Dies wirkt wie ein Hohn auf die Gerechtig-



    Erhard (Bad Schwalbach)

    keitserwartung aller. Das ist eben keine Erhellung der zwölf schlimmen Jahre bis in den letzten Winkel, Herr Kollege Gradl, sondern das Gegenteil tritt ein: Weil man es nicht mehr feststellen kann, gibt es Freisprüche, obwohl die Taten feststehen.
    Wie recht hatte doch Adolf Arndt, der Kronjurist der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, als ei schon 1965 wie folgt feststellte — ich zitiere —:
    Kein Zufall, daß heute schon Urteile gefällt werden, die in entsetzlicher Weise wie ein Hohn wirken müssen. Darin offenbaren sich nicht Unverständnis oder Böswilligkeit, sondern tiefe Unsicherheit in der Frage der Wahrheit,

    (Dr. Ritz [CDU/CSU] : Sehr gut!)

    die zwar offenkundig vor uns liegt, was die Taten angeht, aber dunkel und verworren ist, was die individuelle Teilnahme und das höchstpersönliche Maß an Schuld des einzelnen Angeklagten betrifft.
    Soweit Adolf Arndt 1965.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Es kommt hinzu — nicht von ungefähr, meine Damen und Herren —, daß sogar das kanonische Recht, das katholische Kirchenrecht, für Mord seit 1918 eine Strafverfolgungsverjährung von zehn Jahren eingeführt hat und das damit begründet, es sei eine „nützliche Frist".
    Mit dem Verlust des Ansehens unserer Justizorgane — ich wiederhole es — ist unserem Staat Schaden zugefügt. Ich wäre, meine Damen und Herren — wie Sie wahrscheinlich alle — glücklich, wenn die Naziverbrecher längst überführt und abgeurteilt wären und wir über die Frage der Strafverfolgungsverjährung unbeschwerter urteilen könnten. Für unsere heutige Wirklichkeit kommt hinzu, daß bei einer Aufhebung der Verjährungsfrist nicht mehr Gerechtigkeit, sondern noch mehr Ungerechtigkeit und Zufall entstehen müssen. Gerechtigkeit ohne Gleichheit ist nicht möglich.
    Es war und ist für mich unerträglich, daß Hauptverantwortliche, die von den alliierten Strafverfolgungsbehörden in einem abgeschlossenen Verfahren freigesprochen oder auch verurteilt wurden, seit Anfang der 50er Jahre auf freiem Fuß und für die
    deutsche Justiz unerreichbar sind. Der sogenannte Überleitungsvertrag bestimmte ausdrücklich, daß alle Personen, gegen die ein Verfahren vor den allierten Behörden oder Gerichten abgeschlossen wurde, der deutschen Justiz nicht unterliegen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Hört! Hört!)

    In Verfahren gegen die letzten in der Befehlskette treten sie, wie Oberstaatsanwalt Rückerl schreibt, als Zeugen auf! Mit keiner Strafe wurde je der Vorgesetzte von Adolf Eichmann, Albert Hartl, Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt, belegt. Zu seiner Abteilung gehörte nicht nur das Referat Eichmann, zuständig für die Judenfrage, sondern dazu gehörten drei weitere Referate, zuständig für die katholische Kirche, für die evangelische Kirche
    und für die Zeugen Jehovas. Niemand aus dieser Gruppe ist in ein Konzentrationslager gekommen, ohne daß seine Unterschrift unter der Einweisungsverfügung stand.
    Meine Damen und Herren, werfen Sie doch einen Blick in die Broschüre von Adalbert Rückerl, in der das Schicksal der Führer der Einsatzgruppen und Einsatzkommandos dargestellt ist. Das waren die Gruppen, die hinter der Front im Osten tätig waren und fast alle, die irgendwie im Verdacht standen, nicht arisch zu sein, erschossen haben. In einem einzigen Abschnitt, im Südabschnitt, waren es 150 000 Menschen, die eine solche Gruppe erschossen hat. Die dafür Verantwortlichen sind alle bekannt. Ich nenne Ihnen hier folgende Namen: Sandberger: zum Tode verurteilt, entlassen 1953; Blume: zum Tode verurteilt, entlassen 1953; Steimle: zum Tode verurteilt, entlassen 1954; Professor Dr. Sicks: 20 Jahre Freiheitsstrafe, entlassen 1952. Es handelt sich bei den Entlassenen, meine Damen und Herren, um insgesamt rund 2300 Personen, die alle nicht mehr vor deutsche Gerichte gestellt werden können. Sie sind der deutschen Justiz, dem deutschen Staat entzogen. Verdächtigt aber, wir hätten hier die Verfahren hinausgeschoben, wird unsere deutsche Justiz.
    Schon Adolf Arndt sprach von der unheilbaren Zerstörung der Gleichheit und damit einer schweren Belastung aller Elemente der Gerechtigkeit. Recht und Gerechtigkeit gehören zusammen. Auf gleiches Unrecht muß eine mehr oder weniger gleiche rechtliche Antwort gegeben werden. Andernfalls muß bei allen Beteiligten der Eindruck von 'Willkür, Zufall und Ungerechtigkeit entstehen.
    Wir, meine Damen und Herren, haben alliierte Rechtsetzung nicht zu verantworten. Wir haben sie aber in unsere Betrachtungen mit einzubeziehen.

    (Wehner [SPD] :. Aber wir haben uns auch nicht dahinter zu verstecken!)

    - Wir verstecken uns nicht dahinter, Herr Wehner.

    (Wehner [SPD] : Ich habe gesagt: Niemand soll sich dahinter verstecken! Ich habe nicht gesagt, daß Sie sich dahinter verstecken!)

    — Aber der Zwischenruf kam ja mir gegenüber.

    (Wehner [SPD] : Natürlich, weil Sie mir Anlaß geben! — Dr.. Zimmermann [CDU/CSU] : Der einzige, der hier Terror macht, sind wieder Sie!)

    — Ich halte mich zurück. Sie werden gleich Gelegenheit haben, noch einen Zwischenruf zu machen.
    — Ich wiederhole: Wir haben alliiertes Recht und alliierte Rechtsetzung nicht zu verantworten. Wir haben aber diese Rechtsetzung in unsere Betrachtungen mit einzubeziehen. Wenn aber die Justiz schon heute die ihr gestellten Aufgaben nicht in befriedigender Weise lösen kann — ich glaube, ich habe dies deutlich gemacht —, dann wird sie dies in Zukunft immer weniger können. Dabei entsteht dann eine noch viel größere Gefahr.
    Wir haben uns 1965 und 1969 im Zusammenhang mit der Verjährung über Rechtsstaatsprinzipien, über rechtliche Elemente in aller Breite ausgespro-



    Erhard (Bad Schwalbach)

    chen. Damals wie heute mußte und muß uns allen klar sein, daß es letzte Gerechtigkeit auf Erden nicht geben kann. Gerade diesen Gesichtspunkt macht die Verfolgungsverjährung deutlich. Denn mit ihr gibt der Gesetzgeber zu, daß die Erkenntnisschwäche des Menschen der Verwirklichung irdischer Gerechtigkeit Grenzen setzt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mit dem Eintritt der Verfolgungsverjährung werden nicht die kriminelle Tat und ihr Unrecht geleugnet. Es geht eben nicht um die Verjährung von Schuld, sondern um die rechtsstaatlichen Grenzen der Verfolgbarkeit. Wer das Recht will, muß auch die Grenzen des Menschen annehmen.
    Ganz offensichtlich steht für diejenigen, die die Verjährung aufheben wollen — wir haben es heute von zwei Sprechern gehört —, der Gedanke Pate, wir könnten so für unser Volk, unsere Jugend und für alle Zeit deutlich machen und sicherstellen, daß eine Wiederholung von Verbrechen durch den Staat, wie das NS-Regime sie beging, künftig verhindert wird:

    (Dr. Emmerlich [SPD] : So einfach machen wir uns das nicht!)

    Sühne durch die Täter, Abschreckung für die Zukunft. Nach dieser Vorstellung soll die Justiz die Vergangenheit klären und aufarbeiten. Diese Vorstellung verdrängt und verdeckt nach meiner Ansicht aber den eigentlichen Grund, aus dem heraus es zu diesen Verbrechen kommen konnte, und sie verstellt den Blick für die möglichen Gefahren in der Zukunft. Die Justiz kann nicht politische und allgemeine Umstände der Geschichte aufarbeiten. Sie muß die persönlichen Taten der Täter und deren Schuld feststellen. Dies gilt natürlich nicht im totalitären Machtstaat, in dem der Rechtsprechung die Durchsetzung der ideologischen Machtansprüche als politische Aufgabe zugewiesen ist.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Auch in der Sowjetunion!)

    — In allen diesen Staaten. — Es entsteht die Gefahr, daß man in unserem Volk, vielleicht sogar in diesem Hause glaubt, damit habe man die Vergangenheit aufgearbeitet und für die Zukunft sei alles gesichert. Das ist eine verhängnisvolle Fehlentwicklung!
    Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß „Holocaust" nichts Neues gebracht hat, daß aber ganz offensichtlich „Holocaust" Millionen von Bürgern neue Erkenntnisse geliefert hat.
    In Urteilen deutscher Gerichte ist die Vernichtung der polnischen Intelligenz, bedeutender Teile des polnischen Klerus, die Vernichtung der Zigeuner und vor allem die Vernichtung der Juden nach öffentlichen Verhandlungen festgestellt. Gutachten wurden publiziert. Das Kalendarium in den Heften von Auschwitz in deutscher Sprache gibt Auskunft über die Geschehnisse dort: Tag für Tag. Dennoch Unkenntnisse darüber in weitesten Teilen unseres Volkes!
    So ist es möglich, daß Herr Dr. Seichter von der Hamburger FDP in einer Stellungnahme in einer
    Zeitung mitteilen konnte, ihn beschleiche bodenlose Beschämung, er sehe — wörtlich — „keine Möglichkeit, diese Vorgänge überhaupt erklären zu können".
    Meine Damen und Herren, die justizförmlichen Verfahren haben also nicht bewirkt, daß ein jüngerer Mensch mit Doktorgrad solche Zusammenhänge in den Ursachen erkennen konnte. Die Feststellung der individuellen Schuld eines Täters, eines Verbrechers durch ein Gericht erklärt eben nicht, wie es zu diesen vom Staat organisierten Verbrechen überhaupt kommen konnte. Der Justiz dürfen nicht Aufgaben zugeschoben oder zugedacht werden, die wir Politiker, die die Regierung allein im Zusammenwirken mit den Massenmedien und den Bildungseinrichtungen lösen müssen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Wehner [SPD] : Na, na!)

    Wir müssen uns dieser Aufgabe stellen und sollten uns nicht der Justiz als Alibi bedienen.

    (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU)

    Sebastian Haffner schließt sein Buch „Anmerkungen zu Hitler" mit der Feststellung, die Erinnerung an Hitler sei von den älteren Deutschen verdrängt, die meisten Jüngeren wüßten rein gar nichts mehr von ihm.
    Die uns so bewegenden fabrikmäßigen Vernichtungshandlungen an ganzen Volksgruppen zwingen uns, nach dem Grund zu fragen und unseren Mitbürgern — wie Herrn Seichter — eine Antwort zu geben. Solche vom Staat organisierten Verbrechen machten die Beteiligung von Hunderttausenden von Menschen notwendig. Dies war mit Sicherheit auch nicht unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers 1933 möglich. Aber es war programmiert. Eine Weltanschauung mit grenzenloser Überheblichkeit und ebenso großem Haß war und ist eine der Ursachen. Ich wiederhole: eine Weltanschauung.
    Ich darf daran erinnern, daß der ganze totalitäre Führerstaat Stufe um Stufe etabliert, propagiert und von allen Ebenen staatlichen Daseins mehr und mehr getragen wurde. Die Einheit von Partei und Staat war nichts typisch Nationalsozialistisches, aber sie ist typisch für alle totalitären Einparteiensysteme, auch wenn sie nicht auf deutschem Boden bestehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das weltanschauliche Element war unauflösbar mit der Staatsidee verknüpft. Das Volk war das eigentliche Lebewesen, der einzelne war nichts. Das Lebewesen handelte durch den Führer. Der Führer war mit dem deutschen Volk identisch. Des Führers Wille war Gesetz. Deshalb wurde bis in das letzte Dorf hinein von allen Parteigliederungen und dem NS-Staat gelehrt und verbreitet: „Führer, befiehl, wir folgen!" Nur so konnte der Mord an Röhm und vielen anderen, auch an Klausener, die gleichzeitig bei dieser Gelegenheit ermordet wurden, mit einem Gesetzesakt im Reichsgesetzblatt für rechtens erklärt werden. Und über Klausener konnte gehöhnt werden — ich weiß es noch aus meiner Kindheit, weil meine Eltern es mir erzählt haben —, daß er



    Erhard (Bad Schwalbach)

    aufgeschrien hat, als ihm die Augen ausgestochen wurden; dann hat man ihn erst umgebracht. Nur so war es möglich, Menschen ohne Verurteilung und ohne jedes Gerichtsverfahren in Konzentrationslager einzusperren und nach Belieben dort umzubringen. Internationale Kommissionen haben die Konzentrationslager besucht und für gut befunden.

    (Zurufe von der SPD)

    — Das ist die Wahrheit, leider.

    (Wehner [SPD] : Eine sehr eigenartige!)

    Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums waren schon 1933 alle Unliebsamen aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden. Auch mein Vater wurde 1933 aus dem Notariat als Freiberufler hinausgeworfen. Ich weiß, was man in der Zeit erlebt hat.
    Es mutet heute schier unfaßbar an, daß viele Professoren des Staatsrechts und des Rechts diese Theorien aufnahmen, das Unrecht theoretisch befürworteten und rechtfertigten und so den Tätern ein gutes Gewissen vermittelten und sie in ihrem Mordwillen bestätigten. Die Lehre dieser Theoretiker und Rhetoren des Unrechts gipfelte in der aus Rassenwahn geborenen Feststellung: Der Jude ist kein Mensch, er ist Ungeziefer, ja, Ungeziefer an eben diesem Lebewesen „Deutsches Volk".
    Von daher versteht man auch manche Doktorarbeit, weil jemand den Doktorgrad nicht erhalten hätte, wenn er sich nicht angepaßt hätte. Heute tut es weh. Nur so war es möglich, daß auch weite Teile der Rechtsprechung und vor allem der Strafjustiz diesen Vorstellungen folgten. Nur so war es möglich, die jüdischen Mitbürger deutscher Staatsangehörigkeit zu entrechten, außer Landes zu jagen und ihnen dabei mit der Reichsfluchtsteuer das Vermögen abzunehmen.
    Nur so war es möglich, die Polen-Strafrechtsverordnung zu erlassen und durch Polizei, Strafverfolgung und Gerichte zu praktizieren, nicht nur durch die Schergen in Konzentrationslagern. Wem stockt nicht noch heute das Blut in den Adern, wenn er solche Urteile in die Hand nimmt, wo beispielsweise ein polnisches Mädchen, das gegen eine körperliche Mißhandlung durch eine deutsche Frau seine Hand zur Abwehr erhoben hatte, dafür von einem deutschen Gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden ist? Tausende von solchen Urteilen sind auf Grund dieser Polen-Strafrechtsverordnung ergangen — ,,im Namen des deutschen Volkes".
    Eine Orientierung über etwas anderes als das, was der Staat wollte und zuließ, gab es nicht. Keine Informationsmöglichkeit, totale Gleichschaltung aller Presseorgane, totale Kontrolle der Druckereien. Ausländische Rundfunksendungen' wurden so gestört, daß man sie kaum abhören konnte.
    Als im Jahr 1937 das päpstliche Rundschreiben „Mit brennender Sorge" auf dem Kurierwege in die deutschen Diözesen gelangte und heimlich gedruckt wurde, um es an die Pfarreien zu verteilen, wurden zwölf festgestellte Druckereien sofort geschlossen und entschädigungslos enteignet. In diesem Rundschreiben von Pius XI. hieß es:
    Wer die Rasse oder das Volk oder den Staat oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt oder andere Grundwerte menschlicher Gemeinschaft aus ihrer irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und verfälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge.
    Götzenkult, das war der Führerkult. Das Volk vergöttern, das ist die religiöse, die weltanschauliche Grundkomponente mit der Hybris der gottgegebenen Herrenrasse. Das war die Staatsideologie. Dieses zusammen ist die tiefere Ursache für die schamlosen Verbrechen.
    Wie schrieb doch der Franzose Le Bon 1895 — lange vor Hitler — in seinem berühmten Buch „Psychologie der Massen", ich zitiere:
    Der Held, dem die Masse zujubelt, ist in der Tat ein Gott für sie.
    Und an anderer Stelle:
    Ein ganzes Volk kann bisweilen ohne sichtbare Zusammenscharung unter dem Druck gewisser Einflüsse zur Masse werden.
    Mit Recht hat Eugen Kogon geschrieben, totalitäre Ideen könnten nur so lange bekämpft werden, solange sie nicht etabliert seien. Die Deutsche Bischofskonferenz bemerkte ganz kürzlich, daß das Dilemma zwischen Erfüllung der staatsbürgerlichen, patriotischen Pflichten einerseits und der Ablehnung des Nationalsozialismus andererseits allenfalls in der Gewissensentscheidung des einzelnen auflösbar war. Und, meine Damen und Herren, ich füge hinzu: Die Gewissensentscheidung im totalitären Weltanschauungsstaat bedeutet in aller Regel — und bedeutete unter Hitler ganz besonders — das unmittelbare Risiko der Verhaftung und der Tötung. Das aber kann niemand von einem anderen verlangen. Zum Martyrium ist der Mensch normalerweise weder geboren noch fähig. Nicht umsonst bezeichnet die katholische Kirche das Martyrium als moralisches Wunder.
    Meine Damen und Herren, aus diesen Quellen sind die Erkenntnisse für unser heutiges Grundgesetz und unseren heutigen Staat entstanden. Alle — ich wiederhole: alle — totalitären weltanschaulichen Ideen führen zum Unrechtsstaat, wenn sie sich mit der Staatsgewalt verbinden. Ich weise für meine Person darauf hin, daß hinreichend Anlaß besteht, hier einen Vergleich anzustellen, wenn „Rasse" durch „Klasse",

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    „Volk" durch „Proletariat" ersetzt wird. Dies, so meine ich, gehört in die Aufarbeitung unserer Geschichte und unserer Erfahrungen. Der Blick dafür darf nicht durch die Ableitung der Problematik auf die Justiz verstellt werden!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sorge von damals brennt auch heute noch in mir,



    Erhard (Bad Schwalbach)

    die Sorge, daß wir die Lehren aus dem ideologischen Zwangsstaat unserer jungen Generation nicht deutlich machen könnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Wehner [SPD] : Nein, so nicht!)

    — Sie meinen, durch Urteile, aber wir wissen bereits, daß das durch Urteile nicht geht.

    (Dr. Ritz [CDU/CSU] gegen Abg. Wehner [SPD] : Abenteuerlich! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Der Mann ist schamlos!)

    Ich meine die Sorge, daß wir uns unserer eigenen Vergangenheit — soweit wir sie damals schon mit Verstand erlebt haben — nicht stellen;

    (Dr. Kohl [CDU/CSU] : Und das bei dieser Debatte! Er sollte sich schämen! — Franke [CDU/CSU] : Einer, der Stalin gedient hat!)

    die Sorge, wir könnten verschweigen,

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD] : Herr Präsident, haben Sie das gehört? — Weitere Zurufe von der SPD: Unverschämtheit! — Das ist doch übel!)

    könnten verschweigen, welche Faszination — —